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German Pages 100 [112] Year 1977
Jutta Limbach Der verständige Rechtsgenosse
Jutta Limbach
Der verständige Rechtsgenosse
1977
^P
J. Schweitzer Verlag • Berlin
Jutta Limbach ist Professorin am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin und Mitglied des Instituts für Grundlagen und Grenzgebiete des Rechts, Fachrichtung Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung
CIP-Kurztitelaufnähme
der Deutschen
Bibliothek
Limbach, Jutta Der verständige Rechtsgenosse: Ernst E. Hirsch zum 75. Geburtstag. - 1 . Aufl. - Berlin: Schweitzer, 1977. ISBN 3-8059-0478-9 © 1977 by J. Schweitzer Verlag, Berlin. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Druck: Color-Druck, Berlin. - Bindearbeiten: Dieter Mikolai, Berlin. Printed in Germany
Ernst E. Hirsch zum 75. Geburtstag
Inhalt
Die Frage
1
I. Das Argument v o m verständigen Rechtsgenossen in der Literatur
9
1. Die Auskunft der Methodenlehre
9
2. Der Katalog der Fragen
15
II. Die Analyse der Rechtsprechung
18
1. Das typische Rechtsgebiet und der methodische Standort im richterlichen Denkvorgang
18
2. Welche Aufgabe versuchen die Richter mit Hilfe dieser Rechtsfigur zu lösen?
26
a) Das sachliche Anliegen
27
b) Der methodische Beitrag
30
3. Die sprachlogische Eigenart und der Informationsgehalt der Redeweise v o m verständigen Rechtsgenossen
33
a) Das Tun und Lassen des verständigen Rechtsgenossen
34
b) Der verständige Rechtsgenosse - ein künstliches Wesen?
46
c) Die Logik des Wortes "verständig"
77
4. Warum gebrauchen die Richter das Argument v o m verständigen Rechtsgenossen? III. Der verständige Rechtsgenosse als Vermittler widerstreitender gesellschaftlicher Interessen
83
90
Die Frage
Die Frage, welche Verhaltensweise von mehreren denkbaren in einer Situation die richtige ist, wird sowohl in ethischen Reflexionen, wie im Rahmen wissenschaftlicher Beweisverfahren als auch im alltäglichen Gespräch gern mit dem Hinweis auf dasjenige Tun und Lassen beantwortet, das ein vernünftiger und verständiger Mensch verwirklichen würde. Die Jurisprudenz kennt eine Vielzahl solcher Mustermenschen, wie etwa den "gebildeten Durchschnittsmenschen", den "verständigen Durchschnittsgewerbetreibenden" oder den "verständigen Verbraucher", deren Urteil als Maßstab richtigen Sich-Entscheidens und -Verhaltens dient. Die verschiedenen Erscheinungsformen des "verständigen Menschen" in der Jurisprudenz werden hier in der Formel vom "verständigen Rechtsgenossen" sprachlich zusammengefaßt. Mit der gewählten Redeweise vom "verständigen Rechtsgenossen" - statt vom "verständigen Menschen" - soll nicht eine ursprünglich rechtliche Tüchtigkeit behauptet, sondern nur das Problemfeld näher bezeichnet werden, dem die Aufmerksamkeit gilt: Der Bereich des Zivilrechts ist gemeint, in dem sich die Bürger als Rechtsgenossen gegenübertreten.
2 Wenn der Richter in einem privatrechtliehen Streit in die Verlegenheit gerät, beurteilen zu müssen, ob eine der Parteien das gebotene Maß an Sorgfalt, Rücksichtnahme oder Gemeinsinn gezeigt hat, beruft er sich ebenfalls gern auf das hypothetische Tun eines verständigen Menschen. So dient diese Figur beispielsweise im Rahmen des § 276 BGB dazu, bei dem Bestimmen der "im Verkehr erforderlichen Sorgfalt" die Verhaltensanforderungen zu objektivieren. Nicht die individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten des jeweiligen Schuldners bemessen die Verantwortlichkeit. Die allgemein an den Rechtsgenossen zu stellenden Anforderungen sollen maßgebend sein, weil - anders als im Strafrecht - nicht allein auf den Handelnden, sondern zugleich auf die Interessen des Betroffenen (des Vertragspartners oder des Geschädigten) Rücksicht zu nehmen ist'\ Der Maßstab soll nicht allein aus dem Gesetz geschöpft, sondern durch Bedachtnahme auf eine soziale Urteils- und Handlungsweise gebildet werden. Doch erschöpft sich der Reiz der Denkfigur vom verständigen Rechtsgenossen offenbar nicht darin, dem Richter als Hilfsmittel für das Denken über die Wirklichkeit zu dienen. Dieses Richtbild scheint überdies einen Weg zu weisen, wie das Allgemeine von dem Individuellen abgehoben und darüber hinaus das Übliche zum Vorbildlichen verfeinert werden kann. Ein solcher Erkenntnisvorgang verspricht
1) Henkel, Recht und Individualität, Berlin 1958, S. 76 f.
3 - über den Anwendungsbereich des § 276 BGB hinaus - überall dort Gewinn, wo die Richter auf sich wandelnde
sozia-
le Sachverhalte und Interessengegensätze Bedacht zu n e h m e n haben. Die zunächst sehr hoffnungsfreudig begonnene Diskussion 2) über das Thema "Was nützt die Soziologie dem Recht?" wird seit einigen Versuchen allzu direkter Werbung u m die Erkenntnisse der Nachbarwissenschaft mit bemerkenswerter Bescheidenheit fortgeführt. D e m Ratschlag, unbestimmte Rechtsbegriffe mit Hilfe von Repräsentativbefragungen zu • • 3) konkretisieren
, ist nicht nur kaum Beifall zuteil ge-
worden, sondern dieser hat gerade denjenigen als Zielscheibe der Kritik gedient, die bereit waren, die Frage der Anwendbarkeit soziologischer Erkenntnisse in der 4) Rechtspraxis ernsthaft zu erörtern
. Die Durchschnitts-
wertung, so heißt es in einem Plädoyer für die Meinungsforschung im Recht, sei "ein angemessener, objektiv feststellbarer, ohne selbständige richterliche Wertung anwendbarer Maßstab, der zugleich der Forderung Rechnung trägt, daß alle Staatsgewalt v o m Volke auszugehen 2) Th. Raiser, JZ 1970, 665 ff. Vgl. den Auftakt des Themas bei E.E. Hirsch, in: Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, Berlin 1966, S. 38 ff. 3) Birke, Richterliche Rechtsanwendung und gesellschaftliche Auffassung, Köln 1968, S. 51 ff. 4) Vgl. die beispielhafte Auseinandersetzung mit dem Wertempirismus bei Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, Tübingen 1974, S. 186 ff., 190, und Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln, Frankfurt am M a i n 1971, S. 112 ff.
4 hat"
. Die Bedenken, denen eine solche Demoskopie und
die unmittelbare Rezeption ihres Ergebnisses als Entscheidungsregel begegnet, liegen auf der Hand: Daß nämlich eine scheinbare Objektivität auf Kosten der Vernunft den Maßstab für die richterliche Entscheidung bilde. Scheinbar: Weil die Sittenordnung nicht schlechthin mit der Anschauung des Volkes identifiziert werden könne ^
und
weil das rechtspolitische Werten auch das empirische V e r fahren v o n Anfang an durchziehe
Auf Kosten der Ver-
nunft: Weil die Gründe, die die Meinungen bestimmten, und die Frage, ob die Meinungen richtig oder irrig seien, Q \
nicht diskutiert würden
. Die Frage, ob die Vertrautheit
des Richters mit d e m gesellschaftlichen Handeln, Denken und Wissen Gewinn verspricht, ist denn im wesentlichen aus drei Gründen negativ beschieden worden: Zum ersten, weil die Demoskopie stets bemüht sei, d e n Menschen zu n e h men wie er ist und nicht wie er sein sollte; zum zweiten, weil sich im Zeitalter des Pluralismus
einheitliche
Richtlinien des Verhaltens nicht aufweisen ließen; zum dritten, weil auch der denkbare Konsensus der Rechtsgenossen nicht Richtigkeit verbürge. 5) Birke, Fn. 3, S. 59. 6) Esser, Wertung, Konstruktion und Argument im Zivilurteil, Karlsruhe 1965, S. 13. 7) Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, Berlin 1967, S. 108, 113. 8) Kriele, Fn. 7, S. 109, 112.
5 Als eine der Techniken, mit deren Hilfe der Richter der Interessen- und Wertgespaltenheit der Gesellschaft zu begegnen vermag, wird die Bezugnahme auf das Meinen und Handeln der "billig
und gerecht Denkenden", des "reason-
able man", des "durchschnittlichen Rechtsgenossen" her9) . . . . ausgestellt
. Ein höheres Maß an Gleichsinnigkeit so-
zialer Wertungen werde im Zivilrecht bekanntlich dadurch erreicht, daß man den Kreis der Personen eingrenzt, deren Wertvorstellungen erheblich sein sollen. So sei mit dem in den §§ 138, 826 BGB aufgebotenen Maßstab der Guten Sitten - der schon von den Autoren des Bürgerlichen Gesetzbuchs in der amtlichen Begründung mit dem Hinweis auf das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden personell umformuliert worden ist'"^ - ein gruppenspezifisches Wertverständnis als relevant bezeichnet worden. Es sei anzunehmen, so liest man, "daß alle billig und gerecht Denkenden, eben weil sie billig und gerecht denken, über ein bestimmtes Problem einheitlicher denken als die Gesamtheit der Gesellschaft"*^. Der Autor dieses Satzes verhehlt seinen Zweifel nicht, daß die richterliche Er9) Streissler, Zur Anwendbarkeit von Gemeinwohlvorstellungen in richterlichen Entscheidungen, in: Zur Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften, Karlsruhe 1967, S. 1 ff., 12. Teubner, Fn. 4, S. 101. 10) Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Berlin 1899, Bd. 2, S. 727. 11) Streissler, Fn. 9, S. 12.
6
kenntnis mit dieser personellen Umdefinition der Guten Sitten "vielleicht doch gar nicht so leicht sein mag". Denn wo und wie findet der Richter den billig und gerecht Denkenden? Der Bescheid, die Antwort auf diese Frage sei wiederum aus der Bewertung des gesamten Volkes zu gewinnen, nährt bereits den Verdacht, daß hier die Empirie auf der Stelle tritt. Steht auch bei dem Vertrauen auf die Gemeinwohldefinition maßgeblicher Personen die Suche nach einem gemeinsamen sozialen Wertverständnis im Vordergrund, so schwingt doch die Erwartung mit, daß diese Bewußtseinsträger nicht nur Gemeinsamkeit, sondern auch Qualität verbürgen. Der Frage, ob das Beispiel einer vernünftigen Person oder eines maßgeblichen Personenkreises für alle verbindliche Maßstäbe aus dem Gegeneinander verschiedener Interessen und Ansichten hervorzubringen vermag, gilt die Aufmerksamkeit dieser Schrift. Oder anschaulicher formuliert: Vermag der verständige Rechtsgenosse die ihm zugedachte Vermittlerrolle zwischen der Welt der Realität und der des Normativen zu spielen? Eine Antwort auf die Frage, ob die Figur vom verständigen Rechtsgenossen derartige methodische Möglichkeiten eröffnet, verspricht die Auskunft, in welcher Weise dieses Argument in der Jurisprudenz verwendet zu werden pflegt. Der verständige Rechtsgenosse begegnet uns in zivilrechtlichen Richtersprüchen in vielerlei Gestalt. Zum Beispiel: Als der
e i n s i c h t i g e oder v e r n ü n f t i g e
E i g e n t ü m e r , der ein im Krieg zerstörtes, Wohnzwecken
d i e n e n d e s H i n t e r h a u s n i c h t w i e d e r h e r s t e l l e n würde Als d e r v e r s t ä n d i g e
12)
V e r b r a u c h e r , d e r d i e Werbung
f ü r e i n Produkt n i c h t a l s Zusage d e s P r o d u z e n t e n v e r s t e 13) hen würde, f ü r e t w a i g e Mängel h a f t e n zu w o l l e n
. Als
der
Fahr-
verständige,
wirtschaftlich
denkende
z e u g h a l t e r , d e s s e n Tun und L a s s e n a l s Maßstab f ü r d i e F r a g e d i e n t , w e l c h e Aufwendungen dem G e s c h ä d i g t e n zu e r 14) setzen sind ten
. In der
besonnenen
und
gewissenhaf-
H a u s f r a u , d i e während des Waschvorgangs
a u t o m a t i s c h e n Waschmaschine d i e Wohnung n i c h t
einer verlassen
würde, b e g e g n e t uns i n einem U r t e i l des OLG D ü s s e l d o r f ' schließlich eine weibliche Gestalt dieses
Leitbildes.
Mit i h r v e r l i e r t d i e s e r Mustermensch auch einmal
seine
U n b e d i n g t h e i t . Das OLG " b e r i c h t e t " , daß e i n T e i l
sorg-
fältiger
H a u s f r a u e n meine, daß man s o l c h e Wachsam-
k e i t von ihnen n i c h t v e r l a n g e n könne. D i e s e F r a g e n h ä t t e n "im S c h a d e n s f a l l a b e r a l l g e m e i n d u r c h a u s das B e w u ß t s e i n " , dann f ü r den Schaden aufkommen zu müssen. Die wenigen B e i s p i e l e z e i g e n , daß d e r v e r s t ä n d i g e R e c h t s g e n o s s e e i n e moderne G e s t a l t e i n e r t r a d i t i o n s r e i c h e n Denkf i g u r d e r J u r i s p r u d e n z d a r s t e l l t : Der sorgsame H a u s v a t e r 12) BGHZ 48, 193, 196 f . 13) BGHZ 51, 91,
100.
14) BGHZ 61, 346, 349 und BGH NJW 1975, 255, 256. 15) i n : NJW 1975,
171.
8 (dilligens pater familias) und der billig und gerecht Denkende sind seine Vorfahren. Ob das Argument v o m verständigen Rechtsgenossen auf Grund seines bisherigen Einsatzes in der Tat beanspruchen kann, die wertende und beschreibende Komponente des richterlichen Erkenntnisvorgangs rational zu vermitteln, soll v o r zugsweise an Hand der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dargelegt werden. Ein Katalog v o n Fragen soll die Lektüre leiten. Die Einsichten der zivilistischen Methodenlehre über den Umgang mit dem Argument v o m verständigen Rechtsgenossen sollen zunächst zu Rate gezogen werden, u m das Frag w ü r d i g e
dieser Figur bloßzulegen.
I. Das Argument vom verständigen Rechtsgenossen in der Literatur
1. Die Auskunft der Methodenlehre In der zivilistischen Methodenlehre wird der verständige Rechtsgenosse als ein Doppelwesen betrachtet, das sowohl eine normative als auch eine soziologische Dimension aufweist. Die Besonderheit unbestimmter Rechtsbegriffe, in deren Bereich diese Figur vorzugsweise ihren Gefechtsstand hat, besteht laut H i r s c h darin, daß die bestimmenden Merkmale "nicht oder nicht vollständig d e m Gesetzestext, sondern der jeweiligen typenmäßig erfaßbaren
sozia-
len Wirklichkeit zu entnehmen s i n d " ' ^ . Die empirische Dimension des verständigen Rechtsgenossen und seiner d u r c h die soziale Position konkretisierten Erscheinungsbilder wird mit der Denkform v o m Typus, "einem v o r z u g s weise mit Realität gesättigten Gedankengebilde"
(Engisch),
zu erfassen versucht. H i r s c h spricht v o n sog. D u r c h schnitts- oder Häufigkeitstypen, in denen
"Vorstellungen
davon, was in einer konkreten Kollektiveinheit als "üb-
16) Hirsch, Fn. 2, S. 161.
10 lieh", "gewöhnlich", "regelmäßig" angesehen und deshalb erwartet wird, zu "standards" des Verhaltens
gestempelt
w e r d e n " ' ^ . Auch Larenz verweist in diesem Zusammenhang auf den Häufigkeitstypus, der das "regelmäßig Geübte und zu Erwartende" erfasse, betont aber zugleich, daß dieser Typus nicht selbst schon Wertmaßstab, sondern ein 18) Mittel seiner Ausfüllung sei
. Auch Hirsch will nicht
den Realtypus als solchen zum Maßstab richterlichen E n t scheidens machen; denn er betont, daß das Recht unter dem Blickwinkel seiner Normativität einer kritischen Distanzierung v o n der Wirklichkeit bedarf - eine Aufgabe, die nach seiner Auffassung die Rechtsdogmatik und die Rechts19) philosophie zu meistern haben Die Denkform des Typus dient auch innerhalb der normativen Dimension des Leitbildes v o m verständigen Rechtsgenossen als heuristisches Prinzip. Dem quantitativen Typus der Häufigkeit oder des Durchschnitts wird ein qualitativer Typus im axiologischen Sinn des Vorbildlichen gegenübergestellt. Aus der Einsicht heraus, daß der Realtypus nicht beispielhaft über sich hinaus zu weisen vermag, wird er zu einem juristischen Typus in Beziehung gesetzt. Larenz' Antwort auf die Frage n a c h dem Verhältnis beider 17) Fn. 16. 18) Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. Berlin u.a. 1968, S. 427. Vgl. auch 3. Aufl. 1975, S. 448, in der die "personifizierten" Sorgfaltsmaßstäbe etwas bündiger abgehandelt werden. 19) Fn. 2, S. 17
11 zueinander kann als beispielhaft gelten, wenn er im H i n blick auf die in § 276 BGB "geforderte" Sorgfalt a u s führt, daß der "normative Standard", der als Bewertungmaßstab fungiere, zwar am empirischen Standard weithin orientiert, aber nicht identisch mit ihm 21) A u c h Strache
22) , der die Mustermenschen - Esser
fol-
gend - zu den Standards zählt, sieht die logische Eigenart dieser Wertbegriffe darin, daß sie Typenbezeichnungen seien. Er zeichnet von der Kategorie des Standards das folgende Bild: "er ist nicht definierbar und kann nicht im syllogistischen Schlußverfahren angewendet werden, er ist nicht starr, wie die begrifflich tatbestandsmäßig fixierte Rechtsregel, sondern von einer gewissen Beweglichkeit und Veränderlichkeit. Seine Anwendung als Beur23) teilungsmaßstab erfolgt im Wege der Typenzuordnung" Die Beschaffenheit des Standards wird negativ durch das Bemühen charakterisiert, ihn gegenüber der starren Regel abzugrenzen. Soweit die normative Komponente des Standards in Rede steht, w i r d die Kategorie des Typus im Grunde nicht als Instrument bemüht. Mit dem Gebrauch d i e ses Ausdrucks soll nur die Einsicht auf den Begriff ge-
20) Larenz, Fn. 18, 2.Aufl., S. 438, 437. 21) Strache, Das Denken in Standards, Berlin 1968, S. 68. 22) Grundsatz und Norm, 2. unveränd. Aufl., Tübingen S. 96. 23) Fn. 21, S. 65.
1964,
bracht werden, daß zum einen solche Wertbegriffe nicht mit den Mitteln der Begriffslogik, sondern nur an Hand von Musterbildern verdeutlicht werden können, und zum anderen der streitige Sachverhalt d e m Standard nicht im 24) Wege der Subsumtion zugeordnet werden kann Der Versuch, die logische Struktur des Standards positiv zu umschreiben, bleibt die Methode schuldig und führt nicht über Denkpostulate hinaus, die die Beweglichkeit und den Maßstabcharakter des Standards preisen. D e n n die Gefahr gelte es zu bannen, so liest man, daß die Denkform des Standards mit d e m Streben nach wissenschaftlicher Strenge des Denkens u m den ihr eigenen Vorzug gebracht werde: U m die Empfänglichkeit für die Eigenart des aktuellen Sachverhalts, die gemeinsam mit der Aufmerksamkeit für die in tradierten Leitbildern geborgene Erfahrung den 25) rechten Vollzug des Denkens m
Standards auszeichne
Aus d e m von Strache geschilderten Vorgang der mit Leitbildern operierenden Typeninklusion oder -exklusion läßt sich entnehmen, daß er jene Vorgehensweise weitgehend mit der Methode der Fallvergleichung und d e m Denkstil der T o pik gleichsetzt. Ein typologisches Denkverfahren im Sinne O £ \ Leenens
, bei d e m typologische Ähnlichkeiten unter d e m
jeweils typenbildenden Wertungsgesichtspunkt
analysiert
werden, hat er nicht im Sinn; d e n n es fehlt an zwei 24) Fn. 21, S. 69. 25) Fn. 21, S. 107. 26) Leenen, Typus und Rechtsfindung, Berlin 1971, S. 188.
13 Merkmalskomplexen, die unter einem bestimmten normativen Gesichtspunkt miteinander verglichen werden könnten. Die Ähnlichkeitsprüfung muß vor allem in den Fällen versagen, in denen kein Normaltypus des Verhaltens feststellbar ist. In einem solchen Falle ist laut Strache "von vorherein eine über ein bloß irrationales, negativ wertendes Gefühl 27) hinausgehende Evidenz gefordert" Die Einsichten des Schrifttums lassen sich dahin zusammenfassen: Die Figur v o m verständigen Rechtsgenossen vereint Realitätstüchtigkeit mit Vorbildlichkeit. Ihr Wert liegt in ihrem kritischen Verhältnis zur Realität begründet. Auf welche Weise man mit Hilfe dieser Denkfigur über das empirisch Gegebene hinausgelangen kann, bleibt weitgehend im Dunkeln. Die Form, in der ein solches Richtbild begründet wird, ist weder die einer logischen Gedankenoperation noch allein die einer Induktion. Zwar werden der Begriff des Typus und das typologische Denkverfahren nicht nur in deskriptiver, sondern a u c h in normativer Absicht bemüht. D o c h dient die Kategorie des Typus in der n o r m a tiven Ebene nicht als Werkzeug der Erkenntnis. Der Typusbegriff verdankt seinen Einsatz nur der mit ihm verbundenen Vorstellung von Offenheit und Beweglichkeit im Vergleich zu den wirklichkeitsscheuen Klassenbegriffen in den tatbestandsmäßig festgelegten Regeln. D e r Typus verwandelt
sich
bei dem Nachweis der Normativität des Standards unvermittelt v o m Instrument zum Maßstab, der allerdings nur leer27) Fn. 21, S. 96 28) Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft in unserer Zeit, Heidelberg 1953, S. 283.
14 formelhaft durch, seinen A n s p r u c h definiert wird, das Plebiszit oder die kollektive Gewohnheit von Irrtum, U n w i s senheit, Parteilichkeit und Nachlässigkeit gereinigt zu haben. D e r Beitrag der normativen Komponente für die Geburt des Leitbildes v o m verständigen Rechtsgenossen läßt sich offensichtlich schwer ausweisen und anscheinend nur mit der "Berufung des Rechts" thematisieren, unter Umständen auch "gegen den Strom zu schwimmen"
. In der Methoden-
lehre wird die Übernahme der Rolle v o m verständigen Rechtsgenossen schlicht d e m lebensklugen Richter 29) tragen
ange-
Wenn a u c h die Auskünfte der Methodenlehre bereits die Entdeckerfreude dämpfen, einem Verfahren auf der Spur zu sein, das empirische und normative Aussagen in ein durchschaubares Verhältnis zueinander zu bringen vermag, so soll d o c h für die Rechtsprechungsanalyse weiterhin v o n der Annahme ausgegangen werden, daß sich sowohl der Wert- als auch der Wirklichkeitsbezug in der Figur v o m verständigen Rechtsgenossen bloßlegen lasse.
28) Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht u n d Rechtswissenschaft in unserer Zeit, Heidelberg 1953, S. 283. 29) Larenz, Fn.18, S. 258, 265.
15
2. Der Katalog der Fragen Die Urteilsanalyse leiten die Fragen: Wann, wozu, wie und warum bedient sich der Richter der Redeweise v o m v e r ständigen Rechtsgenossen. Zu
diesem Zweck sind 14 Bände
der Amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, nämlich die Bände 51 bis 64 daraufhin durchgemustert worden, wie häufig, in welchem Zusammenhang und in welcher Funktion diese Figur in die Entscheidungsgründe eingeführt worden ist. Die Auswahl des Textmaterials ist in der Annahme zugunsten der Amtlichen Sammlung getroffen worden, daß bei diesem Publikationsorgan nicht bereits ein besonderes fachliches Interesse - wie etwa das am Wettbewerbsrecht - die Auslese aus dem Urteilsschatz des Bundesgerichtshofs einseitig gesteuert hat. Mitunter werden allerdings im Rahmen der Inhaltsanalyse zur Illustration oder als Argumentationshilfe
auch
Textproben aus anderen Quellen angeführt werden, zumal hier keine Frequenzanalyse beabsichtigt ist, d.h. nicht aus der Häufigkeit des Auftretens eines Textelements Schlüsse gezogen werden sollen. Da die Aufmerksamkeit der logischen Struktur des A r g u ments v o m verständigen Rechtsgenossen allgemein und nicht der Frage gilt, ob mit seiner Hilfe der einzelne Richter-
16
spruch. "geglückt" ist, w i r d hier nicht sondern
über
den Sprachgebrauch des
i n der Sprache, Bundesgerichtshofs
geredet werden. Zwar wird m a n sich angesichts der einseitigen Aufmerksamkeit für die Formel v o m verständigen Rechtsgenossen nicht der Einsicht verschließen dürfen, daß es
Sätze "nur im Zusammenhang der Rede, sinnvolle 30)
Wörter erst im Satz" gibt
. D o c h soll hier nicht das
Geschäft der juristischen Dogmatik betrieben, d.h. weder die Richtigkeit der jeweils getroffenen Entscheidung noch die Kunstgerechtigkeit der sie insgesamt
tragenden
Gründe diskutiert werden. D i e einzelnen Urteilstexte w e r den nicht kontrollierend oder korrigierend aus der in G e danken eingenommenen Position des Richters betrachtet. Die Frage n a c h d e m Warum des Gebrauchs der Formel v o m verständigen Rechtsgenossen ist daher nicht auf eine rechtfertigende oder mißbilligende, sondern auf eine erklärende Antwort
gerichtet.
Der folgende Fragenkatalog zeichnet den Weg der Analyse nur ungefähr vor. U m der Lesbarkeit dieses Textes willen wird b e z ü g l i c h der angewandten Definitionen und hinsichtlich der im einzelnen aufgefächerten und erläuterten Fragen auf die folgende Analyse verwiesen.
30) Bruno Snell, Der Aufbau der Sprache, 2.Aufl., Hamburg 1962, S. 13.
17 Die Fragen: 1. In welchem Rechtsgebiet und in welcher Phase des richterlichen Denkvorgangs beruft sich der Bundesgerichtshof auf das Tun und Lassen des verständigen Rechtsgenossen? 2. Welche Aufgabe versuchen die Richter mit Hilfe dieser Denkfigur zu lösen? 3. Welches sind die sprachlogische Eigenart und der Informationsgehalt der Redeweise v o m v e r s t ä n d i g e n Rechtsgenossen? 4. W a r u m bedienen sich die Richter des Arguments v o m v e r ständigen Rechtsgenossen?
II. Die Analyse der Rechtsprechung
1. Das typische Rechtsgebiet und der methodische Standort im richterlichen Denkvorgang In den Bänden 51 bis 64 der Amtlichen Sammlung der E n t scheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen findet sich in 34 Urteilen ein Hinweis auf das Handeln, Denken und Verständnisvermögen des verständigen Rechtsgenos31) sen . Angesichts des Umstandes, daß in jenen Bänden 31) BGHZ 51, 41, 43; 51, 91, 100; 51, 236, 246; 51, 356, 361; 51, 396, 400; 52, 17, 20; 52, 51, 54; 52, 61, 63; 53, 315, 322; 53, 369, 377; 54, 82, 85; 54, 106, 109 f.; 54, 188, 190; 55, 217, 220; 56, 18, 19; 56, 142, 143; 56, 264, 265; 59, 30, 40; 59, 296, 302; 59, 317, 319; 60, 28, 33; 60, 126, 138; 60, 206, 210; 60, 353, 361; 61, 195, 198; 61, 240, 250; 61, 312, 314; 61, 325, 328; 61, 346, 349; 62, 151, 152-4; 63, 14, 21 f.; 63, 182, 188; 63, 295, 296; 64, 366, 380f. Wohl findet mannoch in vier weiteren Urteilen H i n weise auf Mustermenschen. Doch handelt es sich in drei Fällen u m wörtliche Zitate aus den Urteilen der Vorinstanz (BGHZ 63, 38 1, 386; 56, 1, 3) und d e m K o m mentar von P r ö l 9 s zum W G (BGHZ 58, 96, 98), die sich der Bundesgerichtshof in seiner Begründung nicht zu eigen macht. In einem anderen Urteil, das die Genehmigung einer Sozietät von Notaren zum Gegenstand hat, wird nicht an die Handlungs- und Urteilsweise eines unparteiischen und gewissenhaften Notars appelliert, sondern das Bestreben, nur solche Notare für die Rechtspflege zu gewinnen, als Zweck des § 9 Abs.2 BNotO herausgestellt (BGHZ 59, 274, 277).
insgesamt 824 Entscheidungen veröffentlicht sind, scheint das Leitbild von geringer Prominenz zu sein. Doch hat sich kein Senat des Bundesgerichtshofs dem Reiz dieser Figur gänzlich verschlossen. War der VIII. Senat mit einem Zitat äußerst zurückhaltend im Umgang mit diesem Argument, so haben der I. (7mal), der III. (6mal) und der VI. Senat (7mal) des öfteren ihre Zuflucht zu diesem Argument genommen. Der verständige Rechtsgenosse erscheint in verschiedenen Positionen und sprachlichen Formen als verständig denkender Mann, als verständiger, wirt schaftlich denkender Mensch oder Fahrzeughalter, als billig und gerecht Denkender, als verständiger
Beurteiler
als verständiger und redlicher Vertragspartner, als verständiger Geschäftsmann, als verständiger
Geschädigter,
als verständig und wirtschaftlich denkender Eigentümer, als umsichtiger und verantwortungsbewußter
Grundstücks-
eigentümer, als verständiger Verbraucher, als redlicher und verständiger Mitbewerber, als umsichtiger und gewissenhafter Versicherungsnehmer, als vernünftig denkender Rechtsuchender, als ein auf d e m Boden des Grundgesetzes stehender Staatsbürger, als vernünftiger Lizenzgeber oder -nehmer, als redlicher und verständiger D u r c h schnittsgewerbetreibender, als anständiger Kaufmann, als anständig und gerecht denkender Notar, als ordentlicher Frachtführer und als verständiger Verleger. In drei Urteilen ist nicht von einem Mustermenschen, sondern von dem Anstandsgefühl der beteiligten Verkehrskreise, d e m
20 redlichen kaufmännischen Verkehr und dem anständigen 32) Geschäftsverkehr die Rede ' . Mit Ausnahme der Formel vom "billig und gerecht Denkenden", die nur im Zusammenhang mit dem in den §§ 138, 826 BGB und § 1 UWG gebrauchten Begriff der Guten Sitten verwendet wird, scheint die Wahl der Eigenschaftswörter, die die Figur auszeichnen, weitgehend beliebig zu sein. So werden sie in mehreren Urteilen miteinander verknüpft oder - vermutlich aus stilistischen Gründen - ne33) beneinander verwendet
. Das Adjektiv "verständig" er-
scheint häufiger als die Ausdrücke "vernünftig" oder 34) "redlich" und hat die früher - auch in Gesetzestexten - gebräuchlichen Prädikate "anständig", "ordentlich" und "umsichtig" weitgehend verdrängt. Diese Vorliebe für das Eigenschaftswort "verständig" könnte andeuten, daß der Mustermensch den Sprung von den Sekundärtugenden der Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit zu den Kardinaltugenden des Wohlwollens und der Gerechtigkeit gewagt hat. Doch ob diese Wortwahl tatsächlich als Bedeutungs- und Funktionswandel der Figur vom vorbildlichen Rechtsgenossen 32) BGHZ 56, 18, 19; 52, 51, 54; 52, 61, 63. 33) Vgl. etwa BGHZ 56, 142-145; 60, 126, 138. 34) So wird im Handelsgesetzbuch beispielsweise auf die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns (§ 347), Frachtführers (§ 429), Reeders (§ 497) und Schiffers (§ 511) und in § 93 AktG auf die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters verwiesen.
21
im Sinne einer stärkeren Bedachtnahme auf die Belange des oder der anderen gedeutet werden darf, kann erst die Antwort auf die Frage lehren,-worin die Eigenschaften und Fähigkeiten des verständigen Rechtsgenossen liegen. Wenngleich wir in allen Rechtsgebieten, für die der Bundesgerichtshof in Zivilsachen zuständig ist, Wert- und Interessengegensätze vermuten dürfen, so hat doch der verständige Rechtsgenosse seine Domäne im Recht der Schuldverhältnisse. Vierzehn der 34 Urteile, die Hinweise auf das Tun und Lassen eines Mustermenschen enthalten, sind - ungeachtet des Rückgriffs auf Vorschriften des Allgemeinen Teils des BGB - dem Schuldrecht zuzuordnen. Fünfmal findet sich eine solche Bezugnahme in Fällen aus dem Recht des Unlauteren Wettbewerbs, je zweimal in erbrechtlichen, verfahrensrechtlichen und standesrechtlichen Streitigkeiten. Je einmal wird im Bereich des Sachen-, Familien-, Handels-, Wertpapier-, Versicherungs-, Kartell- und Bergrechts auf die Verhaltensweise des verständigen Rechtsgenossen verwiesen. Zwei Urteile, die einen solchen Hinweis kennen, sind dem Bereich des öffentlichen Rechts, nämlich dem Bau- und Enteignungsrecht zuzuordnen, für das der Bundesgerichtshof nur kraft Zuweisung zuständig ist. Zwar ist der Widerpart des Recht suchenden in diesen Streitfällen nicht ein anderer Bürger, auf dessen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen ist. Er sieht sich vielmehr dem öffentlichen Wohl konfrontiert. Doch der in diesem Zusammenhang zu erörternde Gesichtspunkt der Sozialpflichtigkeit läßt das uns in-
22 teressierende Problem des Wertewandels und der Erkenntnis des gegenwärtig Richtigen besonders deutlich hervortreten. Man erinnere sich beispielsweise des Urteils, in dem der Bundesgerichtshof auf die völlig gewandelte Baugesinnung verweist, die eine Bebauung von städtischen Grundstücken und Hinterhäusern zu Wohnzwecken aus gesundheitlichen . 35) Gründen mißbilligt Um den eigentümlichen Gefechtsstand des verständigen Rechtsgenossen genauer zu orten, muß die Entscheidungssituation formal gekennzeichnet werden, in der der Richter zu diesem Argument seine Zuflucht nimmt. Vorzugsweise begegnet man der Redensart in der Phase des juristischtechnischen Denkvorgangs,der der Präzision des Rechtssatzes im Hinblick auf den zu beurteilenden Sachverhalt gewidmet ist. In den dargestellten Entscheidungsgründen erscheint der Hinweis auf das Tun und Lassen des verständigen Rechtsgenossen als ein Kunstgriff.mittels dessen der Normtext "zu der für die Beurteilung dieses Sachverhalts hinreichend konkretisierten Norm umgeformt wird" In dreizehn Fällen appellieren die Richter an jene Autorität in dem Bemühen, die Generalklauseln der §§ 138, 242, 826 BGB und § 1 UWG zu konkretisieren, die auf die außerrechtlichen Maßstäbe der Guten Sitten, der Verkehrs37) sitte und Treu und Glauben verweisen . So soll zum Bei35) BGHZ 48, 193, 196 f. 36) Larenz, Fn. 18, 3.Aufl., S. 265. 37) BGHZ 51, 41; 51, 236; 51, 396; 52, 17; 52, 61; 53, 369; 54, 106; 54, 188; 56, 18; 56, 264; 59, 317; 60, 28; 60, 353.
23 spiel die Urteilsweise verständiger Verleger "wertvolle Rückschlüsse" für die Frage erlauben, ob die unentgeltliche Abgabe von Anzeigenblättern mit redaktionellem OQ\
Teil wettbewerbswidrig im Sinne des § 1 UWG ist Vergleichbar ist der richterliche Denkvorgang in den zwei Fällen des Enteignungs- und Baurechts, wo im Rahmen der Art. 14 Abs.2 GG und § 44 Abs.l BBauG auf die notwendigen Erfordernisse der Gemeinschaft und die allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhält39) m s s e verwiesen wird
. Die Frage, ob ein geplantes Bau-
vorhaben jenen Anforderungen entspricht, soll aus der Betrachtungsweise des vernünftigen und wirtschaftlichen Eigentümers beantwortet werden. Fünfmal wird das Richtbild vom verständigen Rechtsgenossen bemüht, um zu konkretisieren, welcher Geldbetrag im Sinne des § 249 Satz 2 BGB "erforderlich" ist, um den Schaden zu beseiti40) gen
. Ob etwa die Kosten für die kosmetische Opera-
tion einer nur geringfügig entstellenden Unfallnarbe erforderlich seien, soll die hypothetische Verhaltensweise eines verständigen, wirtschaftlich denkenden Menschen in der Lage des Geschädigten lehren. In der Mehrzahl aller übrigen die Redensart vom verständigen Rechtsgenossen enthaltenden Urteile geht es den Richtern darum, ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen wie dem der 38) 51, 236, 246. 39) 60, 126; 64, 366. 40) BGHZ 54, 82; 61, 325; 61, 346; 63, 182; 63, 295.
24 Obliegenheit, des Mangels einer Ware, der erforderlichen Sorgfalt, der gleichartigen Ware, des Schadens, der Kenntnis im Sinne des § 1594 Abs.2 BGB, der erforderlichen K o sten einer Rechtsverfolgung, der angemessenen Höhe der Versicherung eines Notars und des angemessenen Umfangs des Auskunftsverlangens des Gewerken einer bergrechtli41) chen Gewerkschaft Konturen zu verschaffen
. In einem
anderen Urteil wird der M i ß b r a u c h einer Ermessensvorschrift, n a c h der die Zulassung als Anwalt versagt w e r den kann (§ 20 Abs.l Nr. 1 BRAO), d a n a c h beurteilt, "ob verständige Rechtsuchende annehmen können, der Bewerber werde auf Grund seiner früheren dienstlichen Tätigkeit erworbene Beziehungen zu Richtern oder Beamten der Gerichte, bei denen er die örtliche Zulassung erstrebt, für 42) seine demnächst ige Anwaltstätigkeit ausnutzen
. In
diesem Falle hat der Bundesgerichtshof den Sinn der V o r schrift zunächst durch den unbestimmten Rechtsbegriff der "abstrakten Gefährdung" herausgestellt und diesen durch die Bezugnahme auf das Denken verständiger Rechtsuchender zu konkretisieren versucht. In einem Fall 41) BGHZ 51, 356; 52, 51; 55, 217 (In diesem Fall hat schon der Gesetzgeber in § 429 HGB die erforderliche Sorgfalt durch den Hinweis auf den ordentlichen Frachtführer personell umschrieben.)59, 30, 40; 59, 294; 60, 206; 61, 195; 61, 240; 61, 312; 63, 14. 42) BGHZ 56, 142.
25 liegt der Schwerpunkt in diesem Stadium des richterlichen Denkens, das gern mit Engisch als ein "Hin- und Herwandern 43) des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt"
charakterisiert wird, nicht in der Präzision
des Obersatzes, sondern in der rechtlichen Artikulation des Sachverhalts. Der verständige Rechtsgenosse figuriert als eine Instanz, die die Rechtserheblichkeit von Indizien, d.h. von Tatsachen kontrolliert, die möglicherweise einen Schluß auf einen unmittelbar subsumtionsfähigen Sachverhalt gestatten. Als Beispiel sei auf das Urteil des Bundesgerichtshofs verwiesen, in dem der Schluß, ob von dem Ehemann für glaubhaft gehaltene Vorgänge Zweifel an der ehelichen Abstammung des Kindes ergeben, dem 44) Denken eines verständigen Mannes überantwortet wird In den letzten drei Fällen wird auf das Verständnisvermögen des verständigen Rechtsgenossen verwiesen, um den rechtserheblichen Inhalt von Werbepraktiken oder Allge45) meinen Geschäftsbedingungen zu deuten
. Der verständi-
ge Verbraucher, so konstatiert der BGH in einem Falle, begreift die Werbung für ein Produkt nicht als Haftungszusage für ihre mangelfreie Beschaffenheit. Der methodische Einstiegspunkt des verständigen Rechtsgenossen liegt demnach in der Phase des richterlichen 43) Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 2. Aufl. 1960, S. 15. 44) BGHZ 61, 195, 198 ff. 45) BGHZ 51, 91, 100; 53, 315, 322; 62, 251 ff.
26 Denkvorgangs, in der es allgemein gehaltene oder deutungsbedürftige Rechtssätze, Rechtsbegriffe, Geschäftspraktiken oder Allgemeine Geschäftsbedingungen im Hinblick auf den zu entscheidenden Streitfall zu konkretisieren oder zu deuten gilt. Vornehmlich wird das Musterbild im Rahmen von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen zitiert, die außerrechtliehe gesellschaftliche Handlungsund Urteilsweisen autorisieren. Ob der verständige Rechtsgenosse jedoch das methodische
Objektiv ist, durch
welches der Richter jeweils hindurchblickt, wenn sein geistiges Auge zwischen Rechtssatz und Sachverhalt hinund herwechselt, vermag erst eine Analyse seiner spezifischen Leistung im richterlichen Denkprozeß zu beantworten.
2. Welche Aufgabe versuchen die Richter mit Hilfe dieser Rechtsfigur zu lösen? Ehe erkundet wird, was das Argument vom verständigen Rechtsgenossen tatsächlich leistet, soll zunächst vordergründig gefragt werden, was die Redeweise nach der Ansicht der Richter leisten soll. Die Frage, welche Aufgabe der Richter mit Hilfe der Figur vom verständigen Rechtsgenossen zu lösen versucht,
zielt in zwei verschiedene
Richtungen. Zum einen soll das sachliche Anliegen, die Eigenart des Rechtsbedürfnisses festgestellt werden, auf
27 das jene Figur eine Antwort bereithält. Zum anderen soll der methodische Beitrag näher in Augenschein genommen werden, den diese Figur zu erbringen beansprucht, a) Das sachliche Anliegen Schlagwortartig kann man die sachliche Leistung, die dieses Richtbild offeriert, mit der "Abwehr des Rechtsmißbrauchs" auf einen juristischen Begriff bringen. Das Argument vom verständigen Rechtsgenossen wird von den Richtern als eine Art Korrektiv gebraucht, das den Rahmen eines "vernünftigen" Rechtsgebrauchs oder einer "vernünftigen11 Rechtsverfolgung absteckt. Der zu Gunsten der Geliebten testierende Ehemann, der sich mit Bauplänen tragende Grundstückseigentümer, der den "König Kunde" umwerbende Gewerbetreibende, der Schadensersatz begehrende Geschädigte, der ein Vertragsmuster entwerfende Unternehmer, sie alle nehmen rechtlich anerkannte Rechtsbefugnisse oder -ansprüche wahr; seien es die aus der Privatautonomie, dem Privateigentum, der Gewerbefreiheit oder dem Restitutionsprinzip unseres Schadensersatzrechts fließenden Rechte. Doch sie alle müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie bei ihrem Vorgehen oder Begehren die schutzwürdigen Belange ihrer Partner oder der Rechtsgemeinschaft mitbedacht haben. Beantworten soll diese Frage der verständige Rechtsgenosse als der Mann, der über sich selbst hinauszudenken vermag. In der Mehrzahl aller Entscheidungen, die einen Hinweis auf das
28 Tun und Lassen eines verständigen Rechtsgenossen enthalten, fordert der streitige Sachverhalt ein Urteil d a r über heraus, ob der Inhaber einer Befugnis oder der P r ä tendent eines
Rechts sein eigenes Interesse unverhält-
nismäßig überbewertet habe. Das gilt sowohl für die d r e i zehn RiehterSprüche, in denen die Generalklauseln der §§ 138, 242, 826 BGB und § 1 UWG aufgeboten worden sind, als a u c h für die fünf richterlichen Erkenntnisse zu 46) § 249 S. 2 BGB
. Hier sei nur beispielhaft aus der Ent-
scheidung des Bundesgerichtshofs zitiert, die sich mit der Frage befaßt, ob die Kosten für die kosmetische Operation einer nur geringfügig entstellenden Unfallnarbe verlangt werden können: D a n a c h darf der Verletzte "den Schadensfall nicht schrankenlos wirtschaftlich ausnutzen. Grenzen werden etwa dort ü b e r schritten, wo das Verlangen n a c h Herstellung ausnahmsweise sich als eigensinniges, an Schikan e grenzendes Beharren auf einer Rechtsposition darstellt ..." 47). Aber a u c h jene Urteile, in denen ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe zu konkretisieren waren, hatten überwiegend Fragen n a c h der rechten Proportion eines Verlangens oder Meidens zum Gegenstand. So soll aus der Perspektive des verständigen Rechtsgenossen eine Überspannung der an das Erkenntnisvermögen des Beklagten zu stellenden Anforderungen geprüft, die Angemessenheit einer Lizenz beurteilt, die Kosten einer zweckentsprechenden 46) Fn. 37 und 40. 47) BGHZ 63, 295, 300 f.
Rechtsverteidigung
29 ermittelt, sowie die angemessene Höhe d,er Versicherung eines Notars festgestellt werden und darf die Bekanntgabe der von d e m Gewerken begehrten Auskunft der "Gewerkschaft nicht einen unverhältnismäßigen Schaden zufü48) . ; . Ein richterliches Erwägungsspiel, das zwischen
gen"
dem Zuviel und dem Zuwenig das Mittlere herausfinden will, mag auch ein Zitat aus d e m BGH-Urteil andeuten, das über eine Entschädigung n a c h § 44 BBauG befindet. D a n a c h braucht der Eigentümer "die Schwelle, bis zu der sein Vorhaben den allgemeinen Anforderungen an gesunde W o h n und Arbeitsverhältnisse n o c h entspricht, nicht allzuweit unterhalb der Polizeigefahr anzusetzen" 49). Auf Grund der vorstehenden richterlichen Zeugnisse ist der den verständigen Rechtsgenossen als Vorbild empfehlende Vorzug sein maßvoller Bürgersinn. Die Tugend der Mäßigkeit ist bei ihm mit dem Gemeinsinn gepaart; denn seine Kunst des Maßhaltens zeichnet sich durch ihre "Be~ zogenheit auf den Mitbürger" aus. Der verständige Rechtsgenosse wird geprägt d u r c h eine Haltung, die Aristoteles als "Güte in der Gerechtigkeit" umschrieben hat, die demjenigen eigen ist, der "nicht in kleinlicher Genauigkeit sein Recht solange verfolgt bis es zum Unrecht wird, sondern, obwohl das Gesetz auf seiner Seite 48) BGHZ 59, 30, 40; 60, 206, 210; 61, 240, 250; 61, 312, 314; 63, 14, 22. 49) BGHZ 64, 366, 381.
30 stünde, geneigt ist, mit einem bescheidneren Teil zufrieden zu sein"^°^. Die Güte oder Billigkeit in der G e rechtigkeit ist laut Aristoteles selber ein Gerechtes. Sie ist jedoch eine höherrangige Erscheinungsform derselben, weil sie die Gerechtigkeit des Gesetzes berichtigt, das die Fälle "sozusagen en bloc" nimmt, d.h. sich n o t w e n dig allgemein a u s d r ü c k t " ^ . Als Personifikation einer solchen Korrektivfunktion erscheint der verständige Rechtsgenosse
im Rahmen jener Generalklauseln oder Gemeinwohl-
formeln, die einer einseitigen, übersteigerten
Interessen-
verfolgung Einhalt gebieten sollen.
b) Der methodische Beitrag Allerdings darf die metaphorische Redeweise im letzten Satz nicht dahin mißdeutet werden, daß der Richter den verständigen Rechtsgenossen als eine sehende Justitia anrufe, die ihm und d e m Rechtsuchenden die Grenzmarke zeige, jenseits der es nur ein Zuviel oder ein Zuwenig
50) Aristoteles, Nikomachische Ethik, 6. Aufl., Darmstadt 1974, S. 119. 51) Fn. 50 S. 118 f.
31 geben könne. Dieses Richtbild wird nicht als eine n o r m spendende Autorität befragt, wenn auch die mitunter apodiktische Redeweise der Richter diesen Eindruck erwecken mag. Mit d e m impliziten
Eingeständnis der Fragwürdig-
keit des in der besonderen Situation angemessenen Verhaltens empfiehlt der Richter dem ein Recht verfolgenden oder ein Verlangen abwehrenden Bürger die Auffassung, das A n standsgefühl, den Standpunkt oder die Sichtweise eines 52) verständigen Rechtsgenossen
. Zur Frage des erforderli-
chen Aufwands zur Beseitigung eines Schadens (§ 249 S. 2 BGB) lesen wir: "Maßgebend ist auch hier die Sicht eines verständigen Geschädigten in der besonderen Lage der K l ä 53) gerin"
. Da es sich bei dieser Sicht eines verständigen
Geschädigten wohl nicht u m ein Orakel, einen Wahrspruch handeln kann, muß das einleitende Wort "maßgebend" im Sinne von "wegweisend" verstanden werden. Die Übernahme der Denkweise eines verständigen Rechtsgenossen soll dem Bürger im Verkehr mit den Mitbürgern das angemessene Tun und Lassen finden helfen. Ein
"Mit-Sich-zu-Rate-gehen"
(Aristoteles) ist gemeint, das das Verständnis für den oder die anderen einschließt. Als Beispiel diene ein Urteil zur Auslegung Allgemeiner
Geschäftsbedingungen:
52) Vgl. etwa BGHZ 51, 41, 43; 51, 236, 246; 51, 396, 400; 52, 61, 63; 61, 240, 250; 61, 312, 314; 61, 325, 328. 53) BGHZ 61, 325, 328.
32 "Auszulegen ist die Klausel nach dem Willen verständiger und redlicher Vertragspartner unter Abwägung der Interessen der normalerweise an solchen Geschäften beteiligten 54) Kreise"
. Ein weiteres Zitat zu diesem Problemkreis
macht die eigentliche Aufgabe dieser Argumentationsfigur deutlich, nämlich die zu verallgemeinern - eine Wirksamkeit, die sich hier als Abwehr des individualistischen Mißverständnisses der Vertragsfreiheit darstellt: "Die Sonderbehandlung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen besteht in der Auslegung nach objektiven Gesichtspunkten (nach dem Willen verständiger und redlicher Vertragspartner, nicht nach dem individuellen Willen der konkreten Vertragschließenden
Der verständige Rechtsge-
nosse hat demnach keine anweisende, sondern eine urteilende Funktion"^ . Von der allgemeinen richterlichen Urteilsweise unterscheidet sich die seine durch die Situationsverhaftetheit; denn es soll auf das Tun und Lassen ankommen, das ein verständiger Rechtsgenosse in der Lage des Betroffenen verwirklichen würde. - Das richterliche Argument vom verständigen Rechtsgenossen verweist demnach auf das Erwägungsspiel einer gesellschaftlichen Vorbildfigur, dessen Vollzug Gesichtspunkte produziert, die die Angemes54) BGHZ 62, 251, 254. 55) BGHZ 62, 251, 252 f. 56) Aristoteles, Fn.50, S. 134.
33 senheit oder Unangemessenheit eines Begehrens oder Unterlassens dartun.
3. Die sprachlogische Eigenart und der Informationsgehalt der Redeweise vom verständigen Rechtsgenossen Welchen Beitrag die Formel vom verständigen Rechtsgenossen im Prozeß der Rechtsgewinnung tatsächlich leistet, soll eine Analyse der sprachlogischen Eigenart der Aussage klären helfen. Da diese Figur ein kritisches Verhältnis zur Realität prätendiert, richtet sich die Aufmerksamkeit darauf, inwieweit die Sprechweise neben dem normativen auch einen realen soziologischen Aussagewert beanspruchen kann. Die Frage, ob es sich um eine empirisch oder normativ relevante Redeweise handelt und in welchem Verhältnis beide Komponenten zueinander stehen, soll nicht allein an Hand der Sprachform beantwortet werden. Erst der Nachweis des Informationsgehalts der in ein bestimmtes sprachliches Gewand gekleideten Aussage gestattet ein Urteil über das Leistungsvermögen des Argumentationsmusters. Das sprachliche Gebilde vom verständigen Rechtsgenossen wird zu diesem Zweck entsprechend den Wortarten Verb, Substantiv und Adjektiv beziehungsweise Partizip aufgegliedert und diese werden jeweils hinsichtlich ihrer Bedeutungselemente analysiert. Hier wird sich allerdings sehr bald zeigen, daß auf diese Weise nur ein grobschlächtiges Aufbauschema gewonnen worden ist, weil das analysierte Durchmustern der einzelnen Wortklassen
34 in jener Redeweise nicht streng durchführbar ist. So ist die Auskunft beispielsweise, die das Tätigkeitswort "begreifen" zu geben vermag, abhängig von dem Begriffsvermögen und damit von der Eigenschaft einer Person.
a) Das Tun und Lassen des verständigen Rechtsgenossen Der Indikativ oder der Eindruck des Tatsächlichen Die Aufmerksamkeit gilt zunächst der Handlung und damit der Wortform des Verbs. In welchem Sinn der Sprecher m i t tels des Satzes wirken will, läßt sich im allgemeinen aus den unterschiedlichen Modi des Tätigkeitswortes a b l e sen. Ist der Imperativ der Modus des Wirkens, so ist der Indikativ der Modus des D a r s t e l l e n s " ^ . Als ein Indiz dafür, daß die Aussage v o m Tun und Lassen des v e r s t ä n d i gen Rechtsgenossen einen Sachverhalt wiedergibt, der wahr oder falsch sein kann, darf an sich der Gebrauch des Indikativs, der Wirklichkeitsform gewertet werden. D o c h diese Einsicht der Sprachlehre bewahrheitet sich nicht bei der Redensart v o m verständigen Rechtsgenossen. Eine Passage aus einem Urteil des Bundesgerichtshofs zu der Frage, ob der Werbung für eine Ware haftungsbegründende Kraft für ihre fehlerhafte Beschaffenheit beizumessen sei, mag als 57) Bruno Snell, Fn.30, S. 57.
35 Paradebeispiel dafür dienen, daß ein Satz, dessen Prädikat im Indikativ steht, gleichwohl empirischer Kritik u n zugänglich sein kann: "Daß sie (die Werbung) im Ringen u m den "König K u n de" immer umfangreicher und, betriebswirtschaftlich gesehen, immer bedeutungsvoller geworden ist, b e sagt n o c h nicht, daß ihr rechtlich die Bedeutung einer Haftungszusage zukäme. So versteht sie ein verständiger Verbraucher auch nicht. Lorenz hat denn auch seinen Gedanken - den vor allem Markert ... und Rehbinder ... aufgenommen hatten - nicht weiterverfolgt ..." 58). Der durch den Gebrauch der Wirklichkeitsform und des P r ä sens 1
erweckte Eindruck von Tatsächlichkeit verflüchtigt
sich alsbald, w e n n m a n fragt, ob sich die von d e m Bundesgerichtshof formulierte Aussage empirisch überprüfen läßt. Die schlichte Behauptung, daß der Verbraucher auch die beredtsamste Werbung nicht als Bereitschaft des Produzenten deute, für die fehlerfreie Beschaffenheit der a n gepriesenen Waren haften zu wollen, w i r d m a n mit Hilfe einer Meinungsumfrage überprüfen können. D o c h so leicht macht es uns der Bundesgerichtshof nicht, d a er den in Betracht kommenden Personenkreis d u r c h das
Adjektiv
"verständig" eingrenzt und den Demoskopen mit der Schwierigkeit konfrontiert, herauszufinden, was diese Eigenschaft meint. Die Aussicht, auch diese Eigenschaft als ein beschreibbares Phänomen zu formulieren u n d der Frage aussetzen zu
58) BGHZ 51, 91, 100.
36 können, ob dieses vorliegt oder nicht, ist schnell zunichte gemacht. Ob eine Person sich durch den Vorzug der Verständigkeit auszeichnet oder nicht, wird man - stellte man die Frage als reine Tatsachenfrage - nur nach der Art und Weise ihres Verhaltens beantworten können. Denn wir beurteilen einen Menschen als verständig im Hinblick auf die Art, wie er handelt, und nicht auf Grund der Art, wie 59) . er die möglichen Weisen des Handelns zuvor abwägt
. Hier-
bei handelt es sich um innere Vorgänge, die nicht unmittelbar wahrnehmbar sind. Die moralische Bedeutsamkeit von Handlungsdispositionen und Charaktereigenschaften soll nicht geleugnet werden
. Doch wird ihr die Aussagekraft
für die empirisch gemeinte Frage nach der Handlungsweise des verständigen Rechtsgenossen bestritten. Die soziologische Einsicht, daß es das Kennzeichen
einer Person (im
soziologischen Sinne) sei, "daß sie Eigenschaften besitzt, die ihr nicht aufgrund einer artgemäßen oder naturalen Ausstattung inhärieren, sondern die ihr nach Maßgabe ihres Verhaltens in einer menschlichen Gemeinschaft zugebilligt werden" 61) , gilt in unserem Zusammenhang auch für 59) Ryle, Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1973, S. 59. 60) Vgl. zu der Frage, ob das Wesen der Moral in den Prinzipien oder in der Ausbildung von Dispositionen oder Charaktereigenschaften zu erblicken ist, Frankena, Analytische Ethik, 2. Aufl., München 1975, S. 79 ff. 61) Ambros, Über den Begriff der Person in soziologischer Sicht, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 1 17, 1961, S. 535 ff., 538.
37 die Jurisprudenz. Wenngleich die Frage nach spezifischen - etwa beruflichen - Qualifikationen erheblich werden kann, geht es dem sich auf die Denkfigur vom verständigen Rechtsgenossen berufenden Richter nicht um Menschen- oder Charakterkunde, sondern um Fragen richtigen Handelns. Doch die Einsicht, daß auf die Tat zu achten ist, führt bei der Suche nach den Kriterien der Verständigkeit nicht weit voran: Denn werden wir von den Charaktervorzügen der Person auf ihr sichtbares Tun und Lassen verwiesen, so bleibt offen, auf welche Weise die Frage zu beantworten ist, ob die Handlung verständig ist oder nicht. Der Rückverweis auf die Eigenschaften des handelnden Menschen bleibt uns jede Auskunft schuldig, da diese Eigenschaften ihrerseits nur aus der Art und Weise des beobachtbaren Verhaltens dargetan werden könnte. Versuche, das Wort "verständig" als einen erfahrungsgesättigten Begriff zu definieren, führen stets in den Bereich der Tautologie
,
in dem die Empirie keinen Gefechtsstand hat. Der Bundesgerichtshof läßt sich denn auch nach der oben zitierten Textstelle auf einen neuen Diskussionspunkt ein, ohne jener apodiktischen Aussage einen Hinweis darauf folgen zu lassen, woher er sein Wissen darüber hat, was ein verständiger Verbraucher denkt. Die Annahme erscheint erlaubt, daß die fünf Richter des 6. Zivilsenats die Rolle 62) Vgl. hierzu Hare, Die Sprache der Moral, Frankfurt am Main 1972, S. 64, der den vergleichbaren Ausdruck "vernünftig" zutreffend als Wertwort bezeichnet. Hierauf wird bei der Analyse der sprachlogischen Eigenart des Wortes "verständig" eingegangen werden.
38 des verständigen Verbrauchers gespielt haben. - In einem Urteil, das sich mit der Verkehrsbedeutung des Firmenbestandteils "Euro" beschäftigt, stellt der Bundesgerichtshof fest: "Für die Entscheidung der Frage, welchen Sinn der Verkehr einer bestimmten Werbebehauptung beilegt, ist der Richter in der Regel dann ausreichend sachkundig, wenn er selbst zu d e m angesprochenen Verkehrskreis gehört und es sich u m Angaben über Gegenstände des allgemeinen Bedarfs handelt"
. Zwar ging es hier u m die Vorstellungen
der Verkehrsteilnehmer und nicht u m diejenigen der als verständig ausgezeichneten Verbraucher. D o c h wer will den Richtern diese Eigenschaft absprechen? In d e m Bericht des Bundesrichters Kullmann über die "Produzentenhaftung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs" wird denn auch zu dieser Entscheidung referiert: "Nach der im "Hühnerpest"-Urteil vertretenen Meinung des BGH versteht ein verständiger Verbraucher auch die Werbung nicht s o " ^ ^ .
-
Zumindest hat die d e n Reaktionsweisen der Verbraucher gewidmete Aufmerksamkeit der Richter den Bereich der juristischen Fachöffentlichkeit nicht überschritten. Die F r a ge, wer die verständigen Verbraucher seien, scheint der Bundesgerichtshof -
ermutigt durch die Resignation des
Wortführers des Vertrauensgedankens - m e h r zählend denn wägend nach dem Prinzip "one m a n - one v o t e " zu Ungunsten der rechtswissenschaftlichen Autoren entschieden zu haben. 63) BGHZ 53, 339, 341. 64) in: BB 1976, Heft 24, S. 1085, 1086. D i e Unterstreichungen stammen v o n der Verfasserin.
39 Ein weiterer in den Indikativ Präsens gekleideter Satz, der den Eindruck eines gegenwärtigen Bildes vermittelt, findet sich in einem Urteil, das sich mit der Haftung für Demonstrationsschäden beschäftigt. Anläßlich der Frage, ob einer der beklagten Initiatoren der Demonstration in einem unvermeidlichen Verbotsirrtum gehandelt habe, stellt der Bundesgerichtshof fest: "Daß aus dem Recht zu friedlicher Versammlung kein Recht zur Auslieferungssperre gegen ein bestimmtes Druckereiunternehmen hergeleitet werden kann, ist für einen auf dem Boden des Grundgesetzes stehenden Staatsbürger erkennbar. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß die Auffassung des Beklagten, eine sogenannte "begrenzte Gewaltanwendung" - was immer unter diesem Begriff zu verstehen sein und wo er seine Grenze finden mag - werde unter gewissen Voraussetzungen vom Demonstrationsrecht noch gedeckt, inzwischen auch von Juristen geäußert worden ist." (Dieser Textstelle folgt in einem neuen Absatz diesen Punkt abschließend - nur noch ein Satz, in dem eine vermeintliche Notwehr des Beklagten wegen des Fehlens eines Verteidigungswillens ausgeschlossen wird) 65) Die Gleichgültigkeit gegenüber juristischen Gegenstimmen ließe sich noch verschmerzen, erführe man, wie der Bundesgerichtshof auf Anhieb den rechten Standpunkt des Bürgers auf dem
Grundgesetz festgemacht hat. So spricht jemand,
der sich im Besitz der Wahrheit weiß und ein Vorbild von unumstrittener Geltung aufstellt. Selbst derjenige Leser, der das von dem Bundesgerichtshof gewonnene Ergebnis billigt, fühlt sich versucht, jener Passage die von Kindern gern gebrauchte Karl-May-Formel nachzuschicken: 65) BGHZ 59, 30, 40.
40 "Howgh, ich habe gesprochenl". - Wie bei der Frage nach der rechtlichen Bedeutsamkeit der Werbung wird mit dem Hinweis auf das Denken und Wissen des verständigen Rechtsgenossen nicht ein neues Erwägungsspiel eröffnet, sondern die richterliche Überzeugungsarbeit augenblicklich abgebrochen - ein Umstand, der uns noch bei dem mehr sozialpsychologisch ausgerichteten Nachdenken über die Funktion der Argumentationsfigur beschäftigen wird. Der Gebrauch bestimmter Redewendungen in einigen wenigen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs läßt trotz der Wirklichkeitsform des Verbs erkennen, daß die Richter selbst sich in ein Modell des verständigen Menschen hineindenken und von diesem vorgestellten Standpunkt her über die gebotene Urteils- und Handlungsweise raisonieren. Das verraten Formeln wie "Es spricht viel dafür, daß ...", "Erfahrungsgemäß werden ..." oder "...den Vertragsehließenfift
den (wird) schwerlich in den Sinn kommen"
. Ein solches
stellvertretendes Raisonement der Richter liegt bei jenen Entscheidungsproblemen nahe, die ihren Tätigkeitsbereich oder Erfahrungsschatz berühren. So wird in einer Entscheidung die Frage, "ob ein verständiger Rechtsuchender vernünftigerweise auf den Gedanken kommen kann", daß der sich um eine Zulassung als Anwalt bemühende ehemalige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Beziehungen zu Richtern oder Beamten des Landgerichts habe und darum die Ge66) BGHZ 53, 315, 322
41 fahr bestehe, daß er diese zu Gunsten seiner Mandanten und zum Schaden ihrer Gegner ausnutzen werde, in folgender F o r m beantwortet: "Der Senat ist ... der Überzeugung, daß kein v e r nünftig denkender Mensch auf diesen Gedanken komm e n kann. Es kann zwar nicht erwartet werden, daß jeder Bürger mit den Einzelheiten des Behördenaufbaus vertraut ist. Dennoch darf davon ausgegangen werden, daß einem verständigen Menschen die völlige Verschiedenheit der Aufgabenbereiche eines beamteten Staatssekretärs im Bundesministerium der F i nanzen in B, und von Richtern a m A m t s - und Landgericht in B. bewußt ist. Die Befürchtung, daß ... ist so abwegig, daß mit ihr praktisch nicht gerechnet zu werden braucht." 67) In diesem Urteil setzt sich der Bundesgerichtshof im Grunde nur mit der abweichenden Ansicht des Ehrengerichtshofs auseinander, der die Gefahr bejaht hatte, daß ein "nicht völlig unbeachtlicher Teil der Bevölkerung" aus der früheren Spitzenstellung des Staatssekretärs auf eine irgendwie geartete Einflußnahme auf das Gerichtshof personal schließen werde
. Spekulationen über die V e r -
trautheit des deutschen Bürgers mit d e m Behördenaufbau sind hier müßig. Die Gefahr eines stellvertretenden Rollenspiels in einem Bereich, in dem die Richter kraft Ausbildung und Beruf die umstrittene Sachkunde besitzen, wird an diesem Richterspruch offenbar. 67)
BGHZ 56, 142, 145.
68)
BGHZ 56, 142, 144.
In einigen richterlichen Hinweisen auf das Handeln und Denken des verständigen Rechtsgenossen ist dieser Mustermensch schon allein deshalb wenig beredt, weil er nur verneinend - die Urteilsgründe abrundend oder bekräftigend - angerufen wird. Wie etwa in dem Satz: "Das ist -eine unverständliche und unangemessene Regelung, mit der ein redlicher Geschäftspartner nicht zu rechnen b r a u c h t " ^ ^ . Die Funktion des Argumentationsmusters schöpft sich hier darin, einseitige und
er-
individualisti-
sche Interpretationen zu denunzieren.
Der Konjunktiv, das Konditional oder die Sprechweise des Zu-Recht-Weisens Die Mehrzahl der Hinweise auf das Tun und Lassen des verständigen Rechtsgenossen zeichnet sich durch ein k o n ditionales Satzgefüge oder den Gebrauch des Konjunktivs aus. Die Formel wird hier des öfteren als eine Art Obersatz an den Anfang gestellt. Ein Beispiel: "Eine Erstattung von Aufwendungenfür die Inanspruchnahme eines Kredits n a c h § 249 Satz 2 BGB kommt, ..., dann, aber auch nur dann in Betracht, wenn und soweit sie ein verständiger, wirtschaftlich denkender Halter in der besonderen Lage des
69) BGHZ 60, 353, 361. Weitere Beispiele: BGHZ 52, 61, 63: 56. 264. 265: 60. 28. 34.
43 Geschädigten gemacht haben würde"'^ . Neben den Konjunktionen "wenn" und "daß" ist auch das Bindewort "ob" ein gebräuchliches Mittel, um die Formel vom verständigen Rechtsgenossen in das Satzgefüge einzuführen. So lesen wir: "Indessen erfordert es eine sachgerechte Auslegung des § 96 BBauG, die Erstattungsfähigkeit der dem Enteigneten erwachsenen Aufwendungen für das Verwaltungsverfahren in erster Linie davon abhängig zu machen»ob die Kosten vom Standpunkt eines vernünftigen Eigentümers aus für die zweckentsprechende Wahrnehmung seiner Rechte erforderlich waren.71). Wird im "Indikativ ... ein verbaler Denkbestand 'gesetzt''^ so wird er "im Konjunktiv ...
'ergriffen', ohne Rück-
sicht auf Wirklichkeit oder NichtWirklichkeit des sprach72) lieh 'bezeichneten' Tatbestandes"
. Auffällig an den
voranstehenden und ihnen ähnlichen Formulierungen ist der tastende und fragende Stil, der unabhängig von der Argumentationsfigur vom verständigen Rechtsgenossen für 70) BGHZ 61, 346, 349 f. Weitere Beispiele: BGHZ 54, 82, 85; 54, 188, 190; 56, 142, 143; 52, 294, 302; 61, 312, 314 f.; 61, 325, 328; 62, 251, 254; 63, 14, 22; 63, 182, 188; 63, 285, 286. 71) BGHZ 61, 240, 250. Weitere Beispiele: BGHZ 51, 41, 43; 56, 142, 143, 145; 60, 28, 33; 64, 366, 381. 72) So Emil Winkler, zitiert nach Wilhelm Schneider, Stilistische Deutsche Grammatik, 2.Auf1Freiburg 1960, S. 241 f.
44 den Auftakt richterlicher Urteilsgründe eigentümlich ist. Jene konjunktivischen Redeweisen vom verständigen Rechtsgenossen, die mit den Konjunktionen "wenn", "soweit", "daß" und "ob" eingeleitet werden, formulieren Fragen oder Annahmen, die ein Ergänzen durch die Antwort oder den Bericht verlangen. Da nur in fünf Urteilen über das Denken und Handeln einer Personengruppe berichtet oder wenigstens stellvertretend aus der in Gedanken eingenom73) menen Rolle eines Mustermenschen raisoniert wird , regt sich der Verdacht, daß es sich um rhetorische Fragen handelt, die keine Antwort erwarten. Die Annahme erscheint erlaubt, daß es sich vielmehr um eine Aufforde74) rung oder - wie Arzt
für die Formel vom billig und ge-
recht Denkenden festgestellt hat - um einen Appell der Richter an die Rechtsuchenden handelt, ihre Gedanken mitzuvollziehen^"^ . Genauer charakterisiert, handelt es sich um einen Aufruf an die Leser des Urteils, sich auf eine andere Ebene des Nachdenkens zu begeben und von dorther das Erwägungsspiel mitzuvollziehen. Für diese These läßt sich schnell Nahrung finden, wenn man das Fragwürdige jener konjunktivischen Redeweisen nicht 73) BGHZ 60, 28, 32 f.; 61, 312, 314; 53, 315, 322; 56, 142, 145; 64, 366, 380 f. 74) in: Die Ansicht aller billig und gerecht Denkenden, Diss.Tübingen 1962, S. 100. 75) Wilhelm Schneider, Fn. 39, S. 426.
darin sieht, daß sie weder auf einen Beweis n o c h auf eine Antwort angewiesen scheinen. Des Fragens wert dürf te eher sein, warum eigentlich das jeweilige Entscheidungsproblem zu d e m Denken und Handeln eines Mustermenschen in Beziehung gesetzt wird. Ein Studium der übrigen Entscheidungen in den Bänden 51 bis 64 der Amtlichen Sammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen zeigt, daß es offensichtlich nicht zwingend ist, jene für den Gebrauch der Formel typischen Entscheidungsprobleme zu personifizieren. Sowohl der Begriff der Guten Sitten, von Treu und Glauben, der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt als a u c h des für die Schadensbeseitigung erforderlichen Geldbetrags wird häufig diskutiert, ohne daß in den Urteilsgründen auf das Tun und Lassen eines verständigen Rechtsgenossen hingewiesen wird. Andererseits w i r d der Gebrauch der Formel in den betreffenden Entscheidungen weder begründet n o c h überhaupt reflektiert. Gebührt dem Argument vom verstän digen Rechtsgenossen aber kein fester Platz in der richterlichen Gedankenoperation, ist er eher eine Figur der Parenthese^*^ , so dürfte es weniger auf den Gehalt dieser Figur ankommen als auf ihre Wirkfunktion, d.h. auf die mit der Formel beabsichtigte Wirkung auf den Leserkreis des Richterspruchs.
76) Beiläufig, in der Parenthese angesiedelt, erscheint der sorgfältige Kraftfahrer in d e m Urteil des BGH v o m 30.11.59, in: NJW 1960, 432, 433.
46 Die Losung "Die anschauliche Seite der Gemütsbewegung ist die Tat, in der sie sich a u s d r ü c k t . h a t
uns auf der
Suche nach den Eigenheiten des verständigen Rechtsgenossen nicht weit vorangebracht. Diese Redeweise läßt sich, betrachtet man vornehmlich den Gebrauch des Tätigkeitswortes, nicht als ein informativer Aussagesatz,
sondern
als eine appellative Redensart charakterisieren. Sie erscheint als eine Redefigur des Zu-Recht-weisens und zwar eher im Sinne eines Wegweisens als eines Tadeins verstanden.
b) Der verständige Rechtsgenosse - ein künstliches Wesen? Im folgenden soll das Substantiv in der Redeweise v o m verständigen Rechtsgenossen als Bedeutungsträger b e trachtet werden. Die richterlichen Hinweise auf die A u f fassung des billig u n d gerecht Denkenden oder das T u n und Lassen eines verständigen Rechtsgenossen sind wiederholt als ein Fingerzeig auf eine empirisch auffindbare Person oder Personengruppe verstanden worden. Zumindest hat der der Formel anhaftende Eindruck von Konkretheit Nachdenken über die Beschaffenheit der Person ausgelöst.
77) Ludwig Reiners, Stilkunst, München 1961, S. 313.
Sonderausgabe
47 Doch selbst für den wichtigsten Einsatzbereich der Figur, nämlich das Recht des Unlauteren Wettbewerbs, wurde jüngst entmutigt konstatiert, daß es noch "keinen Versuch des Bundesgerichtshofs gegeben (habe), das Anstandsgefühl des redlichen und verständigen Durchschnittsgewerbetreibenden oder der beteiligten Verkehrskreise im 78) Einzelfall konkret ermitteln zu lassen" Die oberen Zehntausend Mit dem Gebrauch des Indikativs und des bestimmten Artikels ("... ob es den Anschauungen der billig und ge79) recht Denkenden widerspricht"
) und mehr noch des eine
Gemeinschaft andeutenden Wortes "alle" (billig und gerecht Denkenden)
ist die Person oder die Personengrup-
pe so eindringlich vor das geistige Auge des Lesers gestellt, daß selbst Ryffel der Formel das empirische Element konzedieren zu müssen meint. Die Anstandsformel ist, so liest man bei ihm, "auf die oberen Gesellschaftsschichten bezogen"81) 78) So Nordemann, Der verständige Durchschnittsgewerbetreibende, in GRUR 1975, 625, 626. 79) BGHZ 51, 41, 43; 59, 294, 302. 80) BGHZ 51, 396, 400; 52, 17, 20. 81) in: Rechtssoziologie, 1974, S. 212. Man darf allerdings diese Bemerkung Ryffels nicht in der Weise mißverstehen, daß er meine, daß es sich um einen empirisch vorfindbaren Mustermenschen handele. Vgl. seine Darlegungen auf den Seiten 212, 213.
48 In den Urteilen des Bundesgerichtshofs fehlen Hinweise, daß die Auswahl der vorbildlichen Person oder Personengruppe vom sozialen Oben und Unten geleitet wird. Sozial relevante Merkmale, d.h. solche, die das gegenseitige Verhalten der Menschen beeinflussen
, werden nur in
einer standesrechtlichen Entscheidung erwähnt, in der von den angesehenen und erfahrenen Standeskollegen oo\ die Rede ist
(Notare)
. D o c h gilt die Anerkennung hier weniger
dem Platz der Notare in der sozialen Rangordnung, als ihrer Sachautorität, insbesondere ihrer Vertrautheit mit den Grundsätzen, die sich über die Berufsausübung der N o 84) tare herausgebildet haben
. Häufig werden die funktio-
nal bedeutsamen Positionen in den RiehterSprüchen angeführt. Die Angabe des Berufs oder der Stellung als Grundstückseigentümer oder Verbraucher soll aber nur die besondere Konfliktsituation kennzeichnen. A u c h der Berufsposition wird nicht ohne weiteres Achtung gezollt,
sondern
auch hier wird mit Hilfe des Kriteriums der Verständigkeit differenziert; denn nicht die Tatsache, daß die Beruf sangehörigen die mit der Position verbundenen Aufgaben wahrnehmen, sondern
wie
sie ihre Pflichten erfüllen,
gibt Anhaltspunkte für das sozial Schätzenswerte. Das mit d e m Wohlstand, der Herkunft oder d e m Beruf verknüpfte Sozialprestige als Kompaß1967, für die Suche n a c h 82) René König dürfte (Hrsg.),kaum Soziologie, S. 266. 83) BGHZ 61, 312, 314. 84) BGHZ 61, 312, 313 f.
49 dem Träger sozialer Tugenden taugen. Da es in der gegenwärtigen Gesellschaft keine - zumindest für unsere jurisprudentielle Frage - einheitlichen Ansichten über die geQC\ seilschaftliche Schichtung gibt
, kann die Zugehörig-
keit zu der Orientierung verheißenden "oberen" gesellschaftlichen Schicht nur am gegenseitigen Verhalten der Menschen abgelesen werden. Gliedert man aber das soziale Oben und Unten im Schichtenaufbau - getreu der Auskunft der Urteilstexte - nach dem Handeln und Denken der Geseltschaftsmitglieder, so verfährt man schlicht tautologisch; denn man benutzt für die Selektion ein Merkmal als Wegweiser, nämlich das der Verständigkeit, das zu suchen man ausgezogen war. Die Richter pflegen den Gebrauch des Arguments vom verständigen Rechtsgenossen nicht zu reflektieren. Nur in drei Urteilen - zweimal bei dem Aufgebot der empirisch völlig unterernährten Figur des billig und gerecht Denkenden - scheint das richterliche Wissen durch, daß es sich um ein künstliches Wesen handelt, das es in der Wirklichkeit nicht gibt; denn in diesen Richtersprüchen werden on die Sprachgestalten in Anführungsstriche gesetzt . Die Anführungszeichen dienen hier als Metaphoritätsanzeiger
, durch deren Gebrauch behutsam angedeutet wird,
85) René König, Fn. 82, S. 276. 86) BGHZ 51, 396, 400; 53, 369, 377; 64, 366, 381. 87) Werner Ingendahl, Der metaphorische Prozeß, 1971, S. 32.
50 daß das Sprachgebilde anderes meint als es sprachlich besagt. Die Antworten auf die Fragen nach der Handlungsweise, dem Da-Sein und dem Was-Sein des verständigen Rechtsgenossen haben uns belehrt, daß der Inhalt des Begriffs in der Wirklichkeit nicht unmittelbar, also existentiell erkannt werden kann. Der verständige Rechtsgenosse könnte daher wie der homo oeconomicus und der homo sociologicus ein theoretisches Gedankengebilde sein. Zu einem Vergleich unserer Vorbildfigur mit diesen "personifizierten" Handlungs- und Entscheidungsproblemen der Ökonomie und der Soziologie lädt die These ein, daß jene Modellmenschen durch Verhaltensmerkmale gekennzeichnet sind, "die mit dem Begriff des R a t i o n a l e n
in Zusammenhang ge-
OQ\
bracht werden können
. W e n n auch von vornherein zu be-
denken ist, daß entsprechend den unterschiedlichen E r kenntniszielen und -weisen der verschiedenen Wissenschaften die Kategorie des Modellmenschen eine jeweils eigentümliche Aufgabe erfüllt, ist doch die Hoffnung nicht unberechtigt, daß aus der Konfrontation mit den anderen Denkfiguren die Funktion des verständigen Rechtsgenossen verdeutlicht werden könnte. Der Wirtschaftsmensch Betrachten wir eine Textprobe zu der Frage, ob der für einen Unfallschaden verantwortliche Schädiger die Kosten 88) Hartfiel, Wirtschaftliche und soziale Rationalität, Stuttgart 1968, S.9.
51 £ür die Miete eines Ersatzfahrzeugs auch dann in voller Höhe zu ersetzen hat, wenn die von d e m Geschädigten b e auftragte Werkstatt die Reparatur des Unfallwagens
schuld-
haft verzögert hat: "Auch für diesen Betrag ist v o n den Kosten auszugehen, die ein verständiger, wirtschaftlich denkender Mensch in der Lage des Geschädigten zum A u s gleich des Gebrauchsentzugs seines Fahrzeugs für erfor89) derlich halten durfte"
. D i e Redewendung folgt in
ähnlicher Form häufig - w e n n auch nicht ausnahmslos d e m einleitenden Zitat des § 249 Satz 2 BGB. Im Rahmen der Urteile zu § 249 Satz 2 BGB wird der verständige Rechtsgenosse immer auch zugleich als ein wirtschaftlich denkender Mensch apostrophiert. In einem Urteil wird k o n kretisierend festgestellt: Sind d e m Geschädigten mehrere zumutbare Reparaturmöglichkeiten zugänglich, so sei der "erforderliche Geldbetrag" an den Kosten für 90) die w i r t schaftlichere Instandsetzungsweise zu messen
. Der ho-
mo oeconomicus scheint hier in das Bild zu treten, der definitionsgemäß ein Maximum an Einkommen zu erzielen und seine Bedürfnisse auf die billigste Weise zu befriedigen trachtet. D o c h ein Seitenblick auf den Modellmenschen der Ökonomie wird uns weniger die Wesenszüge des verständigen Rechtsgenossen entdecken helfen als das Auge dafür schärfen, was dieser nicht sein kann und nicht zu leisten vermag. 89) BGHZ 63, 182, 188. 90) BGHZ 54, 82, 85.
52 Erfährt m a n auf der einen Seite, daß sich der homo oeconomicus durch Verhaltensmerkmale auszeichne, "die mit dem Begriff des Rationalen in Zusammenhang gebracht w e r den können", so wird man doch alsbald belehrt, daß weder der Begriff des Nutzens von seiner Zirkularität befreit noch die Präferenzen des wirtschaftenden Menschen empi91) risch aufgedeckt werden können
. Die mit d e m ökonomi-
schen Rationalprinzip implizierte festgefügte Präferenzordnung, Allwissenheit und vollkommene Voraussicht des Handelnden zeigt, daß mit diesem Denkmodell keine 92) gewöhnliehen Menschen erfaßt werden, sondern Halbgötter Der Wirtschaftsmensch ist als ein vereinfachtes und vor allem einseitiges Abbild der Wirklichkeit konzipiert, das v o n den Besonderheiten der jeweiligen Situation a b sieht. Solche übersteigerten Annahmen, wie sie das ökonomische Rationalprinzip impliziert, kann m a n in der T h e o rie machen, aber nicht in der Praxis. Mag a u c h der u t o p i sche Charakter dieses Mustermenschen seine heuristische 91) Vgl. Robinson, Doktrinen der Wirtschaftswissenschaft, München 1965, S.60 und 63: "Nutzen ist diejenige Eigenschaft der Güter, die d e n Individuen ihren Erwerb wünschenswert erscheinen läßt, und die Tatsache, daß die Individuen Güter zu kaufen wünschen, zeigt w i e derum, daß sie N u t z e n haben." 92) Morgenstern, Vollkommene Voraussicht u n d wirtschaftliches Gleichgewicht, in Zeitschrift für N a t i o n a l ökonomie, Bd. VI, 1935, S. 337 ff., 342.
53 Bedeutung für die ökonomische Analyse menschlichen Verhaltens nicht beeinträchtigen, für eine auf das Menschenmögliche bedachte richterliche Rechtsgewinnung taugt er nicht. Wenn die Richter für die wirtschaftliche
Betrach-
tung einer Streitfrage plädieren, wenden sie sich gerade gegen die Herrschaft abstrakter Prinzipien oder L e i t sprüche. Schicken sich die Richter an, wirtschaftlich zu denken, dann wollen sie praktisch und der besonderen 93) Situation des Streitfalles gemäß denken Partizip "wirtschaftlich denkend" das
. Daß mit d e m
situationsgemäße
Denken gemeint ist, läßt sich aus einigen Wendungen in den Urteilen zu § 249 Satz 2 BGB schließen. So lesen wir beispielsweise: "So ist billigerweise der Ersatzbetrag höher anzusetzen,wenn wegen der örtlichen Verhältnisse ein Reparaturbetrieb von üblicher Leistungsfähigkeit nicht oder nur unter Aufwendung hoher Transportkosten in Anspruch genommen werden kann, ..." 94). "Ob und inwieweit sie (die Inanspruchnahme einer Finanzierungshilfe) gerechtfertigt ist, hängt v i e l mehr weitgehend von der Art und d e m Ausmaß der B e schädigung des Fahrzeugs sowie v o n den Umständen ab, in denen der Geschädigte d u r c h den Schaden betroffen wird, insbesondere von seinen wirtschaftlichen Verhältnissen" 95). 93) Vgl. Emge, Über den Unterschied zwischen "tugendhaftem", "fortschrittlichem" und "situationsgemäßem" Denken, ein Trilemma der "praktischen Vernunft", Mainz 1950, S. 4$0, der v o n d e m situationsgemäßen Denken, das die Erfahrung verwertet, feststellt, daß es ebenso verantwortlich wie "menschlich" ist. 94) BGHZ 54, 82, 85. 95) BGHZ 61, 346, 350.
54 "Doch kommt alles auf die besonderen Umstände des Einzelfalles an, wobei insbesondere Ausmaß und Bedeutung des Verzichts auf eine Herstellung für den Verletzten, aber auch der Grad der Verantwortlichkeit des Ersatzpflichtigen für den haftungsbegründenden Eingriff sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse beider Beteiligten und allgemeine Lebensgewohnheiten und Anschauungen Bedeutung gewinnen können." 96) Auch in anderen Urteilen außerhalb des Anwendungsbereichs des § 249 Satz 2 BGB lassen sich Hinweise finden, daß die Formel vom verständigen Rechtsgenossen für situationsgemäßes Denken bürgt. Das verraten unter anderem 97) Formeln, daß es auf die "Umstände des Einzelfalles" , auf die Erwartungen der Käufer sowie auf den Zeitfaktor 98) und die Aktualität des konkreten Wettbewerbs ankommt , eine Ansicht den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen 99) gerecht wird
, die sich aus der gesetzlichen Lage er-
gebenden unbilligen Härten zu berücksichtigen""*^ und währungspolitische Bedenken zu prüfen sind'0'^. Der homo oeconomicus verdient auch wegen seines eigensüchtigen Charakters nicht viel Zutrauen. Fragwürdig ist an diesem Konzept rationalen wirtschaftlichen Handelns 96) BGHZ 63, 295, 301. 97) BGHZ 51, 41, 47; 60, 28, 33 98) BGHZ 51, 41, 48. 99) BGHZ 61, 312, 315. 100) BGHZ 52, 61, 63. 101) BGHZ 56, 264, 265.
55 Vor allem seine moralische Abstinenz. D e n n "Präferenz" steht hier lediglich für das, was der homo oeconomicus vorzieht; "ein Werturteil ist nicht
eingeschlossen"t
Für die Jurisprudenz, die das Kriterium der Vorzugswürdigkeit des verständigen Rechtsgenossen nicht zu bezeichnen vermag, ist das hedonistische Prinzip der Wahl des homo oeconomicus ohne paradigmatischen Wert. Ist zum einen der Glaube längst nicht mehr ungetrübt, daß der Eigennutz das Gemeinwohl im Gefolge haben werde, so g e hört zum anderen die Rücksichtnahme auf die Rechte anderer zu den Grundbedingungen rechtlich rationalen Sichentscheidens und Handelns. Eine "Verkürzung der Persönlichkeit auf ihre wirtschaftlich relevanten Funktionen", so liest m a n in einer der vorgenannten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, entspricht nicht d e m ihr v o n der Rechtsordnung zuerkannten Rang. Das schutzwerte Interesse an der körperlichen Integrität könne nicht am Maßstab der Wirtschaftlichkeit gemessen werden. Eine Unfallnarbe lasse sich daher - auch haftungsrechtlich - nicht einem wirtschaftlich zu Buche schlagenden Lackschaden an einem Unfallfahrzeug
gleichsetzen'.
102) Robinson, Fn. 91, S. 63; Hartfiel, Fn. 8 8 , S.52,281. 103) BGHZ 63, 295-298, 300, 302. D e m v o m Kläger aufgebotenen "Erst-recht"-Argument, daß nämlich die Kosten für das Entfernen der Unfallnarbe schon deshalb ersetzt werden müßten, weil "jeder Beulen, Kratzer und Dellen am Auto auf Kosten des Schädigers b e h e ben lassen dürfe", hält der BGH auch das in § 251 Abs.2 BGB zum Ausdruck gelangende Prinzip der V e r hältnismäßigkeit entgegen.
56 Läßt sich nun aber ein richtunggebendes Prinzip angeben, an dem sich der wirtschaftlich denkende verständige Rechtsgenosse orientiert? In den Urteilsgründen, die jener eingangs zitierten Formel zu § 249 Satz 2 BGB folgen, werden keine Stellungnahmen oder Verhaltensschemata m i t geteilt, die eine Person oder Personengruppe in entsprechenden Situationen zu beachten pflegt. Die Richter, mit der Methode der Fallvergleichung arbeitend, stellen vielmehr fest, daß die obige Frage (nach der Ersetzbarkeit der Mietwagenkosten bei Verzögerung der Reparatur durch die Werkstatt) nach denselben Gesichtspunkten zu beurteilen sei, wie die, ob auch unangemessen hohe Reparaturkosten zu ersetzen seien. Diese Frage hat der Bundesgerichtshof in demselben Urteil zuvor bejaht, ohne jedoch n a c h dem Auftakt mit § 249 Satz 2 BGB die Formel v o m verständigen
Rechtsgenossen aufzubieten. Allerdings ist dort
auch von einem wirtschaftlich vernünftigen Vorgehen die R e d e ' ^ ^ . "Zumal Umfang und Dauer der Reparatur eng zusammenhängen", meint der Bundesgerichtshof, müsse m a n b e i de Fragen gleich beantworten. Das scheinen unmittelbare Einsichten der Richter des VI. Zivilsenats zu sein, die sie genauso wenig ihrem vermeintlichen Gewährsmann verdanken wie die, daß den "Erkenntnis- und Einwirkungsmöglichkeiten (des Geschädigten) bei der
104) BGHZ 63, 182, 185.
Schadensregulie-
57 rung regelmäßig Grenzen gesetzt sind" J 0 5 ) . Hit diesem Bereich der Alltagswelt, der mit dem Gebrauch eines Kraftfahrzeugs zusammenhängt, sind offenbar auch die Richter wohl vertraut und vermögen sie darum aus eigener Erfahrung Einsichten zu formulieren, die eines verständigen Rechtsgenossen würdig wären'^^. Auch in den übrigen vier Urteilen zu § 249 Satz 2 BGB, die sich ausnahmslos mit Unfallschäden auseinandersetzen, werden im Kontext der Formel vom verständigen Rechtsgenossen keinerlei Stellungnahmen oder vorbildliche Verhaltensweisen aus zweiter Hand kolportiert. Die Richter diskutieren vielmehr in eigener Kompetenz Zumutbarkeitsfragen, die sich um andere allgemeine Maximen ranken wie, daß der Geschädigte den Schadensfall nicht schrankenlos wirtschaftlich ausnützen dürfe, daß der begehrte Aufwand wirtschaftlich vertretbar sein m ü s s e ^ ^ . 105) Anm. 104. 106) Vgl. die Äußerung des Vorsitzenden des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs anläßlich der Frage eines Rundfunkkorrespondenten, warum die Gerichte einem Kläger, der seine Mutter durch einen Verkehrsunfall verlor, nur 150 DM im Monat für entgangene mütterliche Dienste zugesprochen hätten: "Bedenken Sie, wir sind doch alle Autofahrer und müssen Kraftfahrzeug-Versicherungsprämien bezahlen.", zitiert in: Die Zeit, Nr. 11, 5.März 1976, S. 20. 107) BGHZ 61, 325, 328 f.; 63, 295, 300 f.
58 Will m a n jenen Entscheidungen zu § 249 S.2 BGB überhaupt ein die verschiedenen Fälle übergreifend allgemeines regulatives Prinzip entnehmen, so wäre es der in § 254 Abs. 2 BGB zum Ausdruck gelangte Rechtsgedanke, daß auch der Beschädigte mitwirken muß, u m den Schaden zu m i n d e r n ' ^ ^ . Wohl ließe sich auch die Strategie aller aus der Rechtsprechung aufgebotenen Beispielsfiguren des verständigen Rechtsgenossen mit der Maxime "Alterum neminem laedere" auf eine einheitliche Formel bringen. Doch gewinnt m a n damit weder eine sach- noch eine normhaltige Aussage. Denn dieser Satz, der nicht jede, sondern nur die rechtswidrige Schädigung des Mitmenschen verbietet, teilt uns nicht mit, was die Rechtswidrigkeit der Handlung ausmacht ^ ^ . Der Verdacht der Leerformel würde auch auf eine Devise fallen, die mehr dem Geist der Zeit gemäß den Schwerpunkt von der Strategie auf die geistige Haltung verlagert und etwa auf den mündigen oder wägenden Bürger verweist. Diese zwar anspruchsvolle, aber nichtsdestoweniger
informationslose
Aussage entbehrt zwar im Gegensatz zur erstgenannten des Geruchs der "emotional getönten Verhaltenssteuerung"
(To-
pitsch). Doch ist sie wegen ihres totalen Spielraums in 108) So ausdrücklich in BGHZ 54, 82, 85. 109) Topitsch, Sprachlogische Probleme der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, in: Logik der Sozialwissenschaften, 1. Aufl., Köln, Berlin 1965, S. 17 ff., 28. Entsprechendes gilt für die Charakterisierung des "einsichtigen Menschen" als'Modell des gemäß der Rechtsnorm Handelnden", die aber v o n Lorenz wohl nicht als Definition gemeint ist. So in: Der Maßstab des einsichtigen Menschen, Bad Homburg u.a. 1967, S. 74.
59 gleicher Weise dem Prozeß von Projektion und Reflektion, d.h. dem Versuch ausgeliefert, dem Modell gewünschte Verhaltensmuster zu unterlegen und sodann wieder aus ihm ab, HO) zulesen
Der verständige Rechtsgenosse als Träger von Rollen Die Erwartung, daß uns die Soziologie mit ihrem methodischen Postulat des
h o m o
s o c i o l o g i c u s
eher
etwas zu sagen weiß, ist insofern berechtigt, als diese Disziplin die wechselseitige Bezogenheit und Bestimmtheit des menschlichen Handelns zu ihrem Thema macht. Im Gegensatz zu dem "auf sich gestellten und nur sich selbst verantwortlichen
Wirtschaftsmenschen"
zeichnet sich die von
Dahrendorf für die deutsche Soziologie aus der Taufe gehobene Idealgestalt dadurch aus, daß allein soziale Normen Richtschnur und Ziel ihres Verhaltens bilden' Die Soziologie geht von der alltäglichen Erfahrung aus, daß Menschen einander in gewissen Eigenschaften oder als Inhaber bestimmter Positionen gegenübertreten. "Zu jeder Position gehört eine soziale Rolle, d.h. eine Menge von Verhaltensweisen, die dem Träger der Positionen in einer
110) Topitsch, Das Verhältnis zwischen Sozial- und Naturwissenschaften, Fn. 109, S. 57 ff., 59 111) Hartfiel, Fn. 88, S. 154
60 1 12) bestimmten Gesellschaft aufgegeben sind"
. Die den
homo sociologicus auszeichnende Strategie ist die der Sanktionsvermeidung. Eingedenk der Tatsache, daß die G e sellschaft über Sanktionen verfügt, u m sozialen Normen G e folgschaft zu erzwingen, verhält sich der homo cus rollengemäß.
sociologi-
Gerät er in einen Widerstreit unver-
einbarer Normen, so wird er der Verhaltensanforderung den Vorzug geben, deren Sanktion ihn am empfindlichsten trä1 13) fe
. "Ging es der wirtschaftlichen Rationalität des
utilitaristischen homo oeconomicus u m die Herstellung eines nach Maßgabe individuell entwickelter möglichst hohen Lust-Nettos, so ist der homo
Strebungen sociologicus
in seinen Entscheidungen u m ein möglichst geringes Sank— tionen-Netto besorgt, das im Endeffekt einem entsprechend hohen sozialen Status-Netto entspricht" 1 1 4) Die Kategorie der Rolle, als Verbindungsstück zwischen Individuum und Gesellschaft gedacht, muß d e m Juristen als taugliches Instrument erscheinen, der versucht,
individu-
elles Verhalten nach objektiven Kriterien zu beurteilen. Und in der Tat begegnen sich in dieser Einsicht, daß der Mensch als Handelnder in der Sozialwelt seine Individual-
112) Dahrendorf, Homo Sociologicus, 1974, S. 98 f. 113) Dahrendorf, Fn. 112, S. 100. 114) Hartfiel, Fn. 88, S. 155.
14. Aufl., Opladen
61
gestalt weitgehend abstreift und eine Sozialgestalt
an-
nimmt, die soziologische und die juristische Denkweise''"^. Der Jurist, vornehmlich der Ziviljurist, ist geübt, entsprechend der Funktion, die der Handelnde im Sozialleben - etwa als Käufer, Verkehrsteilnehmer oder
Sorgeberechtig-
ter - jeweils versieht, bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten zu isolieren und die Persönlichkeit im übrigen weitgehend abzublenden. Die Partner der verschiedenen Schuldverhältnisse - etwa Käufer und Verkäufer - , so illustriert Henkel diese These - treten lediglich im Raum des sie zusammenführenden Sozialverhältnisses in Kommunikation. "Sie gehen in diesen Sozialgestalten einander nur insoweit an, als der gemeinsame Bezug reicht; im übrigen aber bleiben sie, sowohl hinsichtlich der anderen Rollen, die sie im sozialen Leben ausfüllen, wie auch vor allem in d e m Kern ihrer Individualität, einander unerschlos116) sen"
. In aller Deutlichkeit sieht Henkel, daß sich
die Rollen nach der ontologischen Struktur des menschlichen Zusammenlebens aus der ständigen Wiederkehr des Gleichartigen als Typenerscheinungen
herausbilden''^'
Der Typusbegriff steht für die Ebene des Allgemeinen und kennzeichnet damit nur eine Komponente des "soziologischen 115) Henkel, Fn.l, S. 8 f. und Ernst E.Hirsch, Fn. 2, S. 31 ff. 116) So Henkel (Fn. 1, S. 9) ein Jahr vor d e m erstmaligen Erscheinen des Homo Sociologicus v o n Dahrendorf. 117) Fn. 116.
62 Menschen". Zur Existenz der gemeinsamen Typisierungsschemata muß die Wechselbezüglichkeit der Perspektiven 118) Erwartungen) hinzukommen
(der
- ein Tatbestand, der in sei-
ner Vielschichtigkeit nicht mit dem Begriff des Typus zu erfassen ist, sondern durch den der Rolle repräsentiert wird. Die richterlichen Hinweise auf das Tun und Lassen des verständigen Rechtsgenossen zeichnen sich durch das für den Begriff der Rolle eigentümliche Abstandnehmen von d e m individuellen Begehren aus. In der Mehrzahl der 34 Richtersprüche, die an den Mustermenschen appellieren, soll das "egozentrische, für den Partner völlig erblindete 119) Pochen auf Rechte"
abgewehrt werden. Lassen sich nun
über diese überindividuelle Orientierung der Modellfiguren hinaus in den Urteilen Gemeinsamkeiten aufdecken, die d e n Schluß erlauben, daß die Richter der Argumentationsfigur v o m verständigen Rechtsgenossen mit Hilfe der Kategorie der Rolle Substanz zu verschaffen
suchen?
In mehreren Urteilen ist die gesellschaftliche Vorbildfigur durch die Angabe der Position, des Berufs oder der in der fraglichen Situation ausgeübten Tätigkeit
anschaulich
118) Vgl. Dreitzel, Das gesellschaftliche Leiden und das Leiden an der Gesellschaft, Stuttgart 1972, S. IX (Vorwort). 119) Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, Tübingen 1956, S. 34.
63 bezeichnet. So ist von dem verständigen Grundstückseigentümer, dem verständigen Gewerbetreibenden, dem verständigen Verleger oder dem verständigen Fahrzeughalter die Rede. In 10 der 34 Urteile wird auf die wechselseitige Abhängigkeit von Rollenspieler und Bezugsgruppe hingewiesen'
So ist in den Urteilen von den Erwartungen der
Käuferkreise, bei der Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen von den Interessen der normalerweise an solchen Geschäften beteiligten Kreise und bei den Urteilen zu § 1 UWG von den Auffassungen der Allgemeinheit und der umworbenen Verkehrskreise die Rede. Ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit für die Erwartungen, die die Mitglieder einer Berufsgruppe oder die auf die Dienste des Berufsstandes angewiesenen Bürger an den Inhaber einer Position richten, offenbaren die Richter in Urteilen, die Amts- und Standespflichten der freien Be121) . . rufe zum Gegenstand haben . In dem Urteil, das sich mit der Standespflicht eines Notars (Höhe der Haftpflichtversicherung) befaßt, werden die von der Bundesnotarkammer aufgestellten "allgemeinen Richtlinien übung
für die Berufsaus-
der Notare" als Erkenntnisquelle dafür genutzt,
"was im Einzelfall nach Auffassung angesehener und erfahrener Standeskollegen dar Meinung aller anständig und ge120) BGHZ 51, 41, 48; 54, 106, 109; 54, 188, 190; 56, 18, 19; 56, 142, 145; 59, 317, 319; 60, 126, 139; 60, 206, 210; 61, 312, 314; 62, 251, 254. 121) BGHZ 43, 148 ff.; 56, 142 f.; 60, 28, 33; 61, 312, 314.
64 recht denkenden Notare sowie der Würde des Amtes ent— 122) spricht"
. Bemerkenswert ist hier die Verdoppelung
der gesellschaftlichen Vorbildfigur: Die angesehenen und erfahrenen Standeskollegen geben Auskunft über die Denkweise aller anständig und gerecht denkenden Notare. Während die angesehenen und erfahrenen Kollegen Menschen von Fleisch und Blut zu sein scheinen - denn diese sind offenbar die Autoren der "allgemeinen Richtlinien für die Berufsausübung der Notare" - handelt es sich bei den anständig und gerecht denkenden Notaren um ein Modell, um eine Kunstfigur, mit deren Hilfe die dem Notar zugedachten Eigenschaften und Verhaltensweisen leitbildartig zusammengefaßt werden. Da hier ohne Rücksicht auf konkrete Träger eines Amtes die Art und Weise umschrieben wird, in der ein gegebener Status von seinem123) jeweiligen Inhaber eingenommen und ausgefüllt werden muß
, scheint sich
tatsächlich der soziologische Begriff der Rolle als eine Möglichkeit anzubieten, nach realistischen Komponenten des Arguments vom verständigen Rechtsgenossen zu fahnden. Die Rücksichtnahme auf das verständige Gruppenmitglied, das bestimmten Verkehrs- und Berufskreisen angehört, soll 124) .. Sachgerechtigkeit bewirken . Uber das Verhältnis die-
122) BGHZ 61, 312, 314. 123) Schoeck, Kleines Soziologisches Wörterbuch, 2.Aufl., Freiburg 1970, S. 283. 124) Vgl. BGHZ 60, 353, 361, wonach ein verständiger Vertragspartner offenbar nur mit sachgerechten Allgemeinen Geschäftsbedingungen rechnet.
65 ser
bestimmte Positionen innehabender Mustermenschen zur
erfahrbaren Realität gibt es jedoch auch nur wenig zu berichten. Die Redewendung vom verständigen Rechtsgenossen wird etwa durch allgemeine Grundsätze von der Art bereichert, daß "es zur Sorgfaltspflicht eines ordentlichen Frachtführers gehöre, Schaden abzuwenden, der dem Beför] 25) derungsgut drohe"
. Die mit dem Feststellen der Tat-
sachen betrauten Gerichte pflegen sich zumeist nur, wenn es Sorgfaltspflichten zu konkretisieren gilt, durch Sachverständige oder Umfragen über die Erfordernisse der jeweils in Betracht kommenden Berufsgruppe unterrichten zu lassen. Da in diesem Bereich das besondere Wissen und Können bestimmter Berufsangehöriger zu beurteilen war, ließ sich der Sachverstand leicht in der Gestalt von Fachleuten, berufsständischen Institutionen und Fachbüchern ausfindig machen'^^ . Die Beispiele eines solchen Realitätssinns stammen - mit zwei Ausnahmen - durchweg aus früheren Entscheidungen des 125) BGHZ 55, 217, 220. 126) So in BGHZ 1, 383, 387 (medizinischer Sachverständiger); BGHZ 43, 148 ff. (Auskunft der Bundesrechtsanwaltskammer, die ihrerseits eine Umfrage über die aktuelle Praxis und Pflichtvorstellungen der Anwälte durchgeführt hat); BGHZ 8, 138, 141 (Einsicht in die "maßgeblichen" Lehrbücher der konservierenden Zahnheilkunde); BGHZ 60, 28, 32 (Verlautbarungen verschiedener Standesorganisationen der Architekten) und BGHZ 61, 312, 314.
66 Bundesgerichtshofs. Sofern sich das Gericht in den hier ausgewählten Entscheidungen überhaupt bemüht, die Denkweise dieser Musterfigur inhaltlich zu bestimmen, handelt es sich vorzugsweise u m richterliche Gedankengänge, die sich an Grenz- oder Vergleichsfällen zu orientieren versuchen, oder u m zirkuläre Argumentationen. Aristotelisches Erwägungsspiel, das zwischen den beiden Extremen der Unzulänglichkeit und des Übermaßes zur rechten Mitte sich vortastet, bieten die folgenden Passagen: "... Denn die Anforderungen an die Betrachtungsweise eines 'vernünftigen Eigentümers 1 dürfen nicht überdehnt werden. Zwar w i r d er nicht erst dann von einem Bauvorhaben Abstand nehmen, wenn dadurch ein polizeiwidriger Zustand herbeigeführt würde ... Andererseits wird er die Schwelle, bis zu der sein Vorhaben den allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und A r beitsverhältnisse noch entspricht, nicht allzuweit unterhalb der Grenze zur Polizeigefahr anzusetzen brauchen. So betrachtet kann nicht schlechthin und unter allen Umständen angenommen werden, daß ein vernünftiger Eigentümer im Mischgebiet ... v o m W i e deraufbau des abgebrannten Sägewerks Abstand genommen hätte." 127) Ein
Beispiel für ein zirkelhaftes Denkverfahren bietet
eine Empfehlung des Bundesgerichtshofs an die Vorinstanz, die Ansicht verständiger Verleger für die Frage zu berücksichtigen, ob die unentgeltliche Abgabe von Anzeigenblättern mit redaktionellem Teil wettbewerbswidrig sei. M a n liest:
127) BGHZ 64, 366, 381.
67 "Sollte nämlich nach Auffassung verständiger Verleger die umfangreiche, regelmäßige und kostenlose Verteilung von Anzeigenblättern mit redaktionellem Teil als standeswidrig zu mißbilligen sein, dann wäre dies für die wettbewerbsrechtliche Beurteilung jedenfalls dann von Bedeutung, wenn durch diese Standesauffassung schädlichen Auswirkungen für das Pressewesen vorgebeugt werden soll, die anderenfalls nach dem sachkundigen Urteil der Beteiligten ernstlich befürchtet werden müßten". 128) Die Beweisführung bewegt sich im Kreis und läuft ersichtlich auf ein Verdikt hinaus, das das eigentlich Wissenswerte vorenthält, nämlich sachliche Anhaltspunkte für die unterstellte Befürchtung. Da die Gerichte ihr methodisches Vorgehen im allgemeinen nicht überdenken, sondern mehr oder minder apodiktisch mit der Denkfigur des verständigen Rechtsgenossen operieren, geraten sie unversehens in den Bereich der stets fragwürdigen juristischen Eviden129) zen
. Souveräne Dogmatiker wie beispielsweise Flume
gebrauchen die Figur des verständigen Menschen denn auch ganz schlicht als Evidenzargument. "Der Mißbrauch" der Vollmacht, so führt er aus, "ist evident, wenn ein 'reasonable man' ihn erkennen würde oder das Handeln des Vertreters doch so fragwürdig erscheint, daß ein 'reasonable man'
sich auf das Geschäft nicht einlassen würde"
Der Rechtsanwender sieht sich auf die Intuition verwiesen und gerät über die Hilfskontruktion seiner 128) BGHZ 51, 236, 246 129) Vgl. Scheuerle, Juristische Evidenzen, in ZZP 1971, Bd. 84, S. 241 ff., 296. 130) in: Das Rechtsgeschäft, 2. Aufl., Berlin u.a. 1975, § 45 II 3, S. 790.
68 Phantasie in den Gefahrenbereich der Tautologie. Kehren wir die Aufmerksamkeit noch einmal den beiden Urteilen zu, in denen sich der Bundesgerichtshof mit den Auffassungen bestimmter Berufsgruppen auseinandersetzt. Bemerkenswert ist in beiden Fällen die Distanz, die die Richter gegenüber dem gruppenspezifischen Denken und Handeln wahren. In dem "Notar"-Urteil, das sich mit der angemessenen Haftpflichtversicherung der Notare beschäftigt, stellt der Bundesgerichtshof fest: "Allerdings enthalten die Richtlinien über die Berufsausübung der Notare und dieser Beschluß der Bundesnotarkammer keine für alle denkbaren Fälle ausnahmslos geltende Regelung. Auch der Senat ist jedoch der Auffassung ..." 131). Die beiden Zeugnisse der Bundesnotarkammer werden als Erkenntnismittel, als gewichtiges Beweisanzeichen dafür gewertet, " was nach Auffassung angesehener und erfahrener Notare für den Regelfall als Standespflicht anzusehen ist". In einer anderen Entscheidung heißt es, daß aus der Ansicht einer Standesorganisation, daß eine bestimmte Geschäftspraxis (Architektenbindung in Grundstückskaufverträgen) standeswidrig sei, nicht ohne weiteres auf 132) deren Sittenwidrigkeit geschlossen werden könne Es folgt jeweils ein richterliches Für- und Wider-Denken, das eigene Erfahrungen und wirtschaftliche Einsichten verwertet. Die Kundgaben beider Standesorganisationen dienen 131) BGHZ 61, 312, 315. 132) BGHZ 60, 28, 32 f.
69 d e m Bundesgerichtshof als ein gewichtiger - aber n i c h t s destoweniger
unverbindlicher - Gesprächsbeitrag
in
einem Dialog, der ein letztlich v o n der richterlichen Autorität getragenes Urteil über die gebotene Verhaltensweise produziert. Hier bestätigt sich die Einsicht oder Hoffnung? - Röhls, daß die "Erkenntnis von Tatsachen Druck (ausübt), der sich als Begründungszwang für abwei133) chende Entscheidungen äußert" Zwischen den beiden Modellfiguren des homo
sociologicus
und des verständigen Rechtsgenossen besteht demnach bei aller Gemeinsamkeit ein Unterschied. Der Rollenmensch der Soziologie weiß, was
man
tut, er lehrt uns aber
nicht, über die richtige Handlungsweise nachzudenken. Die für den Juristen der Sache nach bereits vertraute Erkenntnis, daß Rollen eine Möglichkeit der Normidentifikation, d.h. einen veräußerlichten Anknüpfungspunkt 134) für das Erwarten von Erwarten bieten
, darf daher nicht
zu d e m Kurzschluß verleiten, daß der Argumentationsfigur v o m verständigen Rechtsgenossen mit Hilfe der Kategorie der Rolle Substanz verschafft werden könnte. Selbst das von Dahrendorf herausgearbeitete "juristische" Verständnis v o n Rolle verspricht d e m Richter wenig Erkenntnishilfe, der sich auf der Suche nach Handlungs- und Urteilsprinzipien befindet. Was nicht ausschließt, daß 133) in: Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, S. 43.
1974,
134) Luhmann, Rechtssoziologie, Bd.l, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 85.
70 diese Kategorie im Rahmen v o n Rechtswissenschaft,
insbe-
sondere Rechtssoziologie und Jurisprudenz wertvolle Ein135) . D o c h die Aufgabe die-
sichten zu vermitteln vermag
ser soziologischen Kategorie würde verkannt, w e n n m a n sich als Frucht ihres Gebrauchs konkrete Handlungsanleitungen erhoffte. Mit der bewußt unrealistischen Annahme, daß sich der Mensch immer rollengemäß verhält, hat Dahrendorf die deutsche Soziologie nicht mit einer deskriptiven, sondern mit einer analytischen Kategorie bereichern wollen. Mit d e m Begriff "Rolle" soll nicht das Verhalten der Menschen realistisch beschrieben w e r den. Als stilisierende, "tatsächlich wohl empirisch beinahe willkürliche Konstruktion" soll das Modell den E n t wurf erklärungskräftiger Theorien des sozialen Handelns gestatten 136) Diese Erkenntnisabsicht läßt sich mit der Eigenart der richterlichen Fragestellung nicht auf einen Nenner b r i n gen; denn der Richter will
- wenn auch in sachgerechter
Weise und nicht ohne empirische Information -
eine E n t -
scheidung treffen. "Realisiert" der Richter die Figur des verständigen Rechtsgenossen mit Hilfe der Kategorie
135) Ernst E. Hirsch, Fn. 2, S. 35. Vgl. auch Wüstmanns sich allerdings meist mit der ahnungsvollen Illustration begnügender Versuch für d e n Bereich der Jurisprudenz, Rolle und Rollenkonflikt im Recht, Berlin 1972. 136) Dahrendorf, Fn. 112, S. 104.
71
der Rolle, gerät er in Gefahr, dort, wo ein Strukturprinzip der Gesellschaft aufgezeigt werden soll, sachhaltige Aussagen, d.h. mit den Rollen identifizierte Verhaltensweisen "zu entdecken". Der künstliche Mensch der Soziologie könnte so dem verständigen Rechtsgenossen den Schein einer Existenz verleihen, obwohl dies er bleibt, was er im juristischen Einsatz zumeist war: eine Funktionsmetapher, die ein Erwägungsspiel schlagwortartig kennzeichnet oder mitunter nur vortäuscht. Der praktische Jurist darf sich durch metaphorische Redeweisen wie die folgende nicht verführen lassen, die der andersgearteten Problemsicht der Nachbarwissenschaft zu verdanken ist: "Mit ihrem Ensemble 'programmierter' Handlungen ist sie (die Rqlle) so etwas wie ein ungeschriebenes Textbuch eines Dramas, dessen Aufführung von der immer wiederkehrenden Darstellung vorgeschriebener Rollen durch lebendige Akteure abhängt"
137)
. Die Einsicht ist zu beherzigen, daß
bei vielen Rollen so gut wie nichts definiert ist, so138*} bald man von der konkreten Situation absieht Eine Ausnahme bilden hier nur die Berufsrollen, die sich zumeist durch einen Grundbestand an Kenntnissen, Wissen 137) Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt anj Main 1974, S. 74. Man beachte, daß sich die Autoren selbst der Anführungsstriche als Metaphoritätsanzeiger bedient haben! 138) Steinert (Hrsg.), Symbolische Interaktion, Stuttgart 1973, S. 27.
72 und erprobten Verhaltensmustern auszeichnen. Das gilt vor allem für die freien akademischenBerufe, deren Standesorganisationen häufig die erwarteten Urteils- und Verhaltensweisen schriftlich festzulegen pflegen. Hier werden sich Möglichkeiten aufweisen lassen, das mit der jeweiligen Rolle verknüpfte Entscheidungsproblem in Opp1scher Art und Weise daraufhin zu überprüfen, ob es Komponenten enthält, Annahmen impliziert oder Fragen abzuwehren trachtet, die mit Hilfe der Soziologie beschrieben, erklärt 139) oder vorausgesagt werden können
. Beispiele bieten
etwa die Fragen, ob die unentgeltliche Abgabe von Anzeigenblättern mit redaktionellem Teil zu schädlichen Auswirkungen für das Pressewesen führt, ob die Rechtsuchenden bestimmte behördliche Zuständigkeiten zu unterscheiden vermögen oder ob eine Werbung den Keim zu einem immer weiteren Umsichgreifen in sich trägt und damit zu einer Verwilderung der Wettbewerbssitten führen werde. Durch die schöpferische Indienstnahme soziologischer Verfahrensweisen könnte der Richter selbst bei stark institutionalisierten Berufen, Wertprobleme zu lösen versuchen. Hier empfiehlt sich das Tiefeninterview als nachahmenswerte Frageform, das nicht an standardisierten Fragen, sondern an einem Gesprächleitfaden orientiert ist und daher leicht einen diskursiven Charakter annehmen 139)
Vgl. Opp, Soziologie im Recht, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 16 ff., S. 26 f., S. 30 ff.
73 k a n n ' ^ ^ . So könnte der Richter die Antwort auf die Frage nach der in einer bestimmten Situation empfehlenswerten Verhaltensweise mit dem sachkundigen Mitglied einer beruf sständischen Organisation zusammen erarbeiten. Sich wie Sokrates unwissend zu stellen, dürfte dem Richter angesichts der Unbestimmtheit der von ihm zu konkretisierenden Normen (§§ 138, 242, 826 BGB oder § 1 UWG) nicht schwerfallen. Eine solche Methode, einen Standard zu bilden, empfiehlt sich gerade wegen der mit dem Argument vom verständigenRechtsgenossen postulierten
Bereitschaft, in
einer bestimmten Weise an ein Entscheidungsproblem heranzugehen. Doch auch bei diesen in ihren Leistungskriterien und Handlungsbereitschaften näher umschriebenen Berufsrollen dient die Kategorie der Rolle nicht als ein Instrument der Erkenntnis, das einen inhaltlichen Lösungsvorschlag hervorbringt, sondern als eine heuristische A n n a h me . Die in dem Rollenkonzept unterstellte Harmonie komplementärer Erwartungen, die das rollengemäße Gefüge der Gesellschaft konstitutieren, dürfte jedoch in allen den Fällen fragwürdig geworden sein, in denen der Inhaber einer Position und sein Gegenüber ihr Rollenspiel rich-
140) Scheuch, Das Interview in der Sozialfcrschung, in René König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd.2, 3, umgearbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart 1973, S. 121 ff., 123.
74 terlicher Streitentscheidung empfehlen. Der unter Entscheidungszwang arbeitende Richter darf sich der ihm gestellten Aufgabe nicht in der Attitüde eines Wissenschaftlers entledigen, d.h. die Parteien nicht mit der zutreffenden Auskunft abspeisen, daß für die in Rede stehende Situation keine
Verhaltenserwartung herausgebildet wor-
den sei. Will man den verständigen Rechtsgenossen als ein Denkmuster "am Leben halten", so muß man bei dem Versuch, von der Soziologie zu lernen und aus ihrem Kategorienschatz Anleihen zu machen, der Gefahr entgegenwirken, die umworbenen Grundbegriffe als Präsentation eines Faktums zu verdinglichen. Die Soziologie als Erfahrungswissenschaft ist paradoxerweise viel weniger konkret als die Jurisprudenz, d.h. die juristische Handlungs- und Entscheidungs141) lehre
. Das Prinzip des Erkenntnisfortschritts durch
Versuch und Irrtum gilt für den auf den konkreten Entscheidungsfall verwiesenen und zur Entscheidung des Konflikts verpflichteten Richter nur in beschränktem Maße. Das Nichtwissen oder die Ratlosigkeit vor der Vielfalt der Möglichkeiten - für den Sozialforscher durchaus vertraute Ergebnisse seines Forschens 142) - muß der Richter
141) Vgl. die im Sinne im Sinne Ballweg, 1970, S.
Gegenüberstellung von Rechtswissenschaft einer Grundlagendisziplin und Jurisprudenz einer Handlungs- und Entscheidungslehre bei Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, Basel 90 ff.
142) Luhmann, Funktionale Methode und juristische Entscheidung, in AöR 94, S. 1 ff., S. 8 ff.
75 durch den Rückzug auf das Plausible zu überwinden trach143) ten
. Das Bemühen um Objektivität konzentriert sich
daher für den Richter, dem das Eingeständnis der Ignoranz verwehrt ist, mehr auf die Methode als auf das Erkenntnisziel. Der verständige Rechtsgenosse ist eine 144) Plausibilitätsfigur
, mit der der Richter nicht etwa
Theorien über die Realität produzieren und überprüfen, sondern zurechtgesetzte Realität einfangen will, um die Sachgerechtigkeit seiner Entscheidung zu reflektieren. Der Versuch, aus dem Substantiv als Bedeutungsträger zu erfahren, wer oder was der verständige Rechtsgenosse ist, hat den bereits bestehenden Verdacht bestätigt, daß es sich nicht um die realistische Beschreibung eines empirisch auffindbaren Menschen handelt. Der Vergleich mit der Modellfigur des homo sociologicus hat Gemeinsamkeiten aber auch Trennendes erkennen lassen, das die verschiedene Problemsicht von Soziologie und Rechtswissenschaft widerspiegelt. Gemeinsam ist beiden Denkfiguren zum einen die überindividuelle Orientierung, die Bedachtnahme auf 143) Viehweg, Zur Geisteswissenschaftlichkeit der Rechtsdisziplin, in: Studium Generale ]], 3 958, S. 334 ff. 144) Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, Frankfurt am Main 1970, S. 64.
76 den anderen oder die Bezugsgruppe, zum zweiten - allerdings nur hinsichtlich einiger Erscheinungsformen des verständigen Rechtsgenossen - eine gewisse Ordnungs g ä b e
vor-
(Ciaessens), d.h. die Identifikation einer Person
mit einer sozialen Kategorie wie die des Berufs oder des Verkehrsteilnehmers gewährleistet eine gewisse Verhaltenssicherheit oder erleichtert doch zumindest das Sich-Zu145) Recht-Fmden
. Beide Modellmenschen unterschieden sich
in ihrer Strategie. Der homo sociologicus, von "gegebenen" Handlungszielen ausgehend, paßt sich den rollengemäßen Erwartungen an, um Sanktionen zu vermeiden. Die Frage nach dem Werden und Wandel von Handlungsmaximen wird bewußt ausgespart, Fragen der Anthropologie, Psychologie und Philosophie werden abgeblendet'^^. Der verständige Rechtsgenosse dagegen tritt in Aktion, wenn keine Verhaltensmuster erprobt oder überkommene fragwürdig geworden sind, und leistet Denkhilfe. Er beobachtet eine reflexive Haltung insoweit, als er sich in die Situation des betreffenden Handelnden (Kläger oder Beklagter) hineinversetzt und mit Rücksichtnahme auf dessen Gegenüber das Problem der Wahl der richtigen Handlungsweise zu lösen sucht. Die Figur vom verständigen Rechtsgenossen symbolisiert einen reflexiven Denkprozeß. 145) Jakobus Wössner, Soziologie, 7. unveränd.Aufl., Wien, Köln, Graz 1976, S. 78. 146) Hartfiel, Fn. 88, S. 274 f., 281.
77 c) Die Logik des Wortes "verständig" Der Vorschlag der Sprachlehre, den Sinn eines Adjektivs auf die Weise zu erhellen, daß man es mit seinem Widerpart konfrontiert, mag seinen Inhalt im allgemeinen verdeutlichen. Dieses Verfahren mag auch noch in der philosophischen Tugendlehre eine gewisse Beredsamkeit verbürgen. In der Jurisprudenz jedoch, die präzise Handlungsanweisungen zu erarbeiten versucht, bietet eine solche Methode eine zu allgemeine und darum unbestimmte Auskunft. Versucht der Richter dem verständigen Rechtsgenossen dadurch Konturen zu verschaffen, daß er ihn dem selbstsüchtigen Rechtsgenossen gegenüberstellt, so hat er sein Entscheidungsproblem mit dem Anschein der Lebendigkeit lediglich umformuliert. Der Kampf mit der Leerformel wird auf der nächsten Etappe fortgeführt. Wir wollen darum der Aufforderung der sprachanalytischen Philosophie folgen: Anstelle die Bedeutung des Wortes "verständig" zu ergründen, dessen Funktion festzustellen. Das Wort "verständig" entstammt dem Alltagswortschatz, so daß die Frage berechtigt erscheint, wie dieses Wort in der
Umgangssprache verwendet wird und welche Mindestbe-
dingungen für seinen rationalen Gebrauch beobachtet werden müssen. Wir pflegen im Alltag mit dem Wort "verstän-
78 dig" sowohl Menschen als auch Handlungen auszuzeichnen. Der Ausdruck wird als Eigenschaftswort für Menschen verwendet, die uns wegen ihres überlegten Verhaltens als vorbildlich erscheinen, oder als Prädikat für Handlungen, die wir wegen der sich in ihr äußernden Bedachtsamkeit als empfehlenswert erachten. Mit der Einsicht, daß der verständige Mann wohlüberlegt handelt, ist nicht viel gewonnen. Es gibt nicht die verständige Handlung an sich. Ob eine Verhaltensweise verständig ist oder nicht, läßt sich nur an Hand der gegebenen Umstände beurteilen. Denken wir an ein Beispiel des Straßenverkehrs. Ein verständiger Bürger wird die Signale einer Verkehrsampel beachten. Doch kann es durchaus verständig sein, diese Signale zu mißachten, um etwa einem Notarztwagen die freie Fahrt zu ermöglichen. Angesichts dieser Situationsgebundenheit ist es wenig wahrscheinlich, daß in einem alltäglichen Lehrgespräch die Bedeutung des Prädikats "verständig" ohne Bezug auf eine bestimmte Art und Weise des Sichverhaltens erklärt wird. Dieser Umstand rechtfertigt
den Schluß, daß es offenbar unmöglich ist,
eine gemeinsame Eigenschaft für alle Klassen von Verhaltensweisen zu finden, die als verständig bezeichnet werden. Aus dieser Einsicht folgt aber nicht, daß es unmöglich sei, die Bedeutung des Wortes "verständig" für alle seine Anwendungsfälle auf einmal zu erklären. Hier gilt im wesentlichen das Gleiche, was Hare an dem Wert-
79 prädikat "gut" demonstriert hat
: Um die Bedeutung des
Wortes "verständig" zu erklären, müssen wir dartun, welche Rolle die Person spielt, auf die es sich bezieht. In der Umgangssprache dient die Auszeichnung eines Menschen als "verständig" dazu, diesen als nachahmenswertes Beispiel zu empfehlen. Die Funktion des Adjektivs
ver-
ständig besteht hier - wie die des Wortes gut - darin, zu empfehlen. "Wenn wir etwas empfehlen oder mißbilligen, dann tun wir das immer, um zumindest uns oder andere Leute beim Wählen zu leiten, jetzt oder in der
Z u k u n f ,
Auch mit dem Wechsel ihres sozialen Einsatzbereichs behält die Redeweise vom verständigen Menschen eine verwandte Aufgabe. Auch als
juristische Sprachform
sie etwas Empfehlens- und Nacheifernswertes. Denn das Tun und Lassen des verständigen Rechtsgenossen wird ausdrücklich als Muster treffenden Wählens in den Richtersprüchen empfohlen. Doch erfährt die Formel einen Wandel in ihrem Verhältnis von wertender und beschreibender Bedeutung. Wider Erwarten gewinnt sie mit ihrer Aufnahme in den juristischen Argumentationsschätz gerade nicht die eine echte Fachsprache auszeichnenden Merkmale, wie etwa Rationalität, Eindeutigkeit, Ökonomie und Variationsar-
147) Hare, Die Sprache der Moral, Frankfurt am Main 1972, S. 123 ff. 148) Hare, Fn. 147, S. 162.
80 j 49") armut
. Im Gegenteil: Die Sprechweise wird weitgehend
ihrer beschreibenden Bedeutung entleert. Diese Tatsache wirkt sich häufig auch auf die wertende Komponente der Formel vom verständigen Rechtsgenossen aus. Der Mangel an Beredsamkeit, d.h. der Verlust ihres informierenden Gehalts wird durch einen Gewinn an Nachdrücklichkeit wettgemacht. Die Redeweise beschränkt sich nicht immer auf das Empfehlen, sondern nimmt mitunter einen kategorischen Zug an. Diese Deformation der Figur v°m verständigen Rechtsgenossen dürfte sich aus der Eigenart der richterlichen Aufgabe unschwer erklären lassen. Der Richter beurteilt ein zurückliegendes Geschehen; wenn auch nicht ohne Bedacht auf die beispielgebende Kraft und die Folgen seiner Entscheidung. Und er muß ein Urteil fällen, gleichgültig, ob für die zu beurteilende Situation bereits ein Verhaltensmuster herausgebildet worden ist oder nicht. Die richterliche Feststellung beispielsweise, daß eine verständige Hausfrau die Wohnung während des Waschvorgangs einer automatischen Waschmaschine nicht verlassen, würde, hat zwar für die in diesen Rechtsstreit, nicht verwickelten Hausfrauen und Hausmänner - schon unter dem Eindruck der yon dem Gericht bejahten Schadensersatzpflicht - eine empfehlende Funktion. Doch welche beispielgebende Kraft hat das Bild von der verständigen Hausfrau für die Beklagte, die bereits gewählt oder ge149) Vgl. Dieckmann, Sprache in der Politik, 2. Aufl., Heidelberg 1975, S. 52.
81 handelt hat? Möglicherweise hat sie der Werbung des H e r stellers vertraut, daß sie w e g e n der Automatik und Z u v e r lässigkeit der Maschine unbesorgt außerhäuslichen Geschäften nachgehen könne. Die Einsicht, daß der Gebrauch des Ausdrucks
"verständig"
dazu diene, ein nachahmenswertes Beispiel zu empfehlen, gilt für die Figur v o m verständigen Rechtsgenossen nur in seinem sehr vermittelten Sinne; denn er ist k e i n b e o b achtbares
menschliches Vorbild, sondern eine Denkfigur.
Erst d u r c h das richterliche Verdikt im konkreten Fall gewinnt die Denkfigur für spätere gleichgelagerte
Situa-
tionen paradigmatische Aussagekraft, weil sie mit einer bestimmten Verhaltensweise verknüpft wird. D a das Substantiv "Rechtsgenosse"nichts objektiv Gegebenes, d.h. weder einen Menschen noch einen Sachverhalt bezeichnet, verkürzt sich der kognitive Aspekt der Formel auf die aktuelle Situation. Diese Situationsverhaftetheit verschafft der Redeweise den Eindruck von Realitätsgerechtigkeit
und
Wandelbarkeit entsprechend den jeweiligen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen. Dennoch wird nur derjenige diese Vorzüge der Formel überschwenglich preisen, der sich nicht klar macht, daß der
situationsbezogene
Bestandteil des Argumentationsmusters lediglich die Randbedingungen, aber nicht die Prinzipien des Urteils des verständigen Rechtsgenossen bezeichnet. Die Bedeutung des Wortes "verständig" bestimmt auch mit Bezug auf die k o n krete Situation nicht, was zu tun oder zu lassen ist. D i e ser Ausdruck hat im Rahmen der richterlichen Argumentation mehr hinweisenden als bezeichnenden Charakter. Die
82 Vokabel "verständig" ist nicht hinweisend im Sinne eines Empfehlens oder Mißbilligens einer bestimmten Verhaltensweise. Sie zielt nicht auf das Ergebnis des Wählens, sondern auf den davor liegenden Denkprozeß. Für dessen glücklichen Vollzug empfiehlt sie eine bestimmte Denkungsart, nämlich die der gegenseitigen Rücksichtnahme. Der Sprachgebrauch der Richter deutet das indirekte Verhältnis des verständigen Rechtsgenossen zu der empfehlenswerten Verhaltensweise zumeist auch durch die allgemein gehaltene, offene Frage danach an, wie sich ein verständiger Rechtsgenosse in dieser Situation verhalten würde. Solche unbedingten Zeugnisse nachträglicher V o r aussicht, wie sie das Oberlandesgericht Düsseldorf' mit der verständigen Hausfrau aufgeboten hat, also V e r knüpfungen der Formel vom verständigen Rechtsgenossen mit der richtigen Verhaltensweise, sind selten. Fragt m a n mit H a r e ' ^ ' \
ob das Wort "verständig" in der
juristischen Sprachform v o m verständigen Rechtsgenossen eine beschreibende Bedeutung hat, das heißt, wissen läßt, "nach welchen Maßstäben der Sprecher urteilt", so ist auf dessen für die gegenseitige Rücksichtnahme
emp-
pfängliche Sinnesart zu verweisen. Mit Rücksicht auf diese Bereitschaft, in Verständigung mit einem anderen, also auch v o n dessen Vorstellungen und Interessen her zu 150) in NJW 1975, 171. 151) Fn. 147, S. 183.
denken, kann m a n den verständigen Rechtsgenossen als eine einheitliche Figur begreifen.
4. W a r u m gebrauchen die Richter das Argument v o m verständigen Rechtsgenossen? Mit Rücksicht auf die Gehaltlosigkeit des Substantivs kann die Funktion des Wertwortes "verständig" nicht liert betrachtet werden. Die Frage muß vielmehr
iso-
lauten,
worin die Funktion der Redeweise v o m verständigen Rechtsgenossen besteht. Hier drängt sich zunächst die Frage auf, w a r u m die Richter überhaupt diese Redensart in den Urteilsgründen gebrauchen. Denn auffällig ist, daß die Richter in einer Vielzahl vergleichbarer
Entscheidungs-
situationen sich nicht dieser Formel bedienen. In den Urteilen andererseits, in denen sie die Redensart gebrauchen, bieten sie im Anschluß an die Formel häufig Gründe auf, die sich nicht als Frucht eines reflexiven Erwägungsspiels deuten lassen. Die Urteile werden v i e l . . 152) mehr mit dem Hinweis auf Prinzipien der Rechtsordnung 153) auf Judikatur und Literatur
begründet oder mit
Hilfe der Methode der Fallvergleichung plausibel ge152) Vgl. BGHZ 51, 41, 48; 51, 396, 400; 54, 106, 110; 54, 188, 190; 56, 18, 20; 61, 346, 351; 63, 295, 298 - f.; 64, 366, 381. 153) BGHZ 51, 91, 100; 52, 17, 20; 56, 18, 19; 56, 264, 265: 60. 206. 210: 61. 346. 350.
84 154) macht abwägung
.
.
.
.
. Die Billigkeitsargumentation und Interessensowie die Rücksichtnahme auf soziale Konse-
quenzen'"*^ und wirtschaftliche B e d e n k e n ' " ^ , die m a n als Frucht eines reflexiven Denkprozesses deuten könnte, findet m a n auch in Urteilen, die den verständigen Rechtsgenossen unerwähnt lassen; es sei denn, die Richter denken ihn im Geiste immer mit. Die Unzuverlässigkeit seines Erscheinens beweist n o c h nicht seine Funktionslosigkeit. W e n n das Argument v o m verständigen Rechtsgenossen auch offensichtlich keinen notwendigen Beitrag für die Begründung des Urteils leistet, so darf m a n daraus noch nicht voreilig darauf schließen, daß die Richter ihr
Entscheidungsproblem nur
aus stilistischen Gründen personifizieren; denn das Bem ü h e n u m Bildhaftigkeit und Lebendigkeit der Sprache ist gemeinhin k e i n Anliegen der Juristen. 154) BGHZ 51, 41, 45 f.; 53, 369, 377 f.; 55, 217, 220 f.; 59, 317, 319; 60, 240, 250 f.; 62, 251, 254; 63, 182, 188. Das hat Haberstumpf für "die Formel vom Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs", Berlin 1976, S. 42 ff., S. 63, anschaulich dargetan. 155) BGHZ 51, 41, 46 f.; 52, 17, 20, 24; 52, 61, 63; 51, 82, 85; 54, 106, 110; 56, 264, 266; 59, 317, 320; 60, 206, 210; 60, 353, 361; 61, 325, 330; 63, 14, 22; 63, 295, 297. 156) BGHZ 51, 236, 246; 54, 188, 192; 59, 317, 322; 61, 195, 199; 61, 312, 317; 63, 366, 381. 157) BGHZ 51, 31, 49; 52, 61, 63; 56, 264, 265 f.; 60, 28, 34; 60, 206, 211; 61, 312, 315; 61, 325, 329.
85 Der Richter gebraucht die Redeweise vornehmlich in den Fällen, in denen er v o n dem Gesetzgeber auf die Suche nach dem sachgerechten Standard geschickt worden ist. Die Blickrichtung auf ein urteilendes Subjekt stellt sich offenbar häufig dann ein, w e n n das Entscheidungsproblem darin besteht, eine neue Situation rechtlich zu begreifen und über die Angemessenheit der von dem betreffenden Akteur gewählten Reaktionsweise nachzudenken. Es kommt deshalb nicht von ungefähr, daß der u m eine N o r m verlegene Richter wie der Sprecher im Bereich der M o 158) ral
seine Entscheidungsprobleme - etwa in der Ge-
stalt des billig und gerecht Denkenden (§ 138 BGB) oder des gewissenhaften Berufsangehörigen (§ 276 BGB) - zu personifizieren pflegt. Daß der einen Standard bildende Richter auf eine urteilende Person verweist, läßt sich zunächst vordergründig damit erklären, daß eine solche Redeweise das Schwergewicht mehr auf den menschlichen Wahlakt legt als auf dessen Resultat. Die Ratlosigkeit angesichts des unbestimmten Obersatzes ist eine beiderseitige. Sie trifft den Richter sowohl als auch die Prozeßparteien. Aus dem ihm berufsmäßig
eigenen
Bedürfnis heraus zu verallgemeinern, denkt sich der Richter selbst in ein Modell des verständigen Rechtsgenossen hinein, u m von diesem vorgestellten Standpunkt her über die gebotene U r t e i l s - und Handlungsweise nachzudenken. 158) Hare, Fn. 147, S. 182.
86 Wir sind heute nicht mehr bereit,
den Richter gleich der 159)
Pythia als einen "rituell Entrückten"
zu begreifen.
Auch die Richter sind Verbraucher oder Fahrzeughalter und daher, gesamtgesellschaftlich gedacht, auch immer ein wenig Partei. Dennoch dürfte die Technik des Verfremdens dem Richter weniger dazu dienen, Abstand von seinem privaten Dafürhalten zu gewinnen als vielmehr seine Probleme auf der Basis des "gesunden" Menschenverstandes zu lösen. Von der Warte des nach Anhaltspunkten in einer unbestimmten Situation suchenden Richters hat die Formel v o m verständigen Rechtsgenossen eine heuristische Funktion. Sie dürfte eher einen - schwer nachprüfbaren - Beitrag bei dem "Zustandekommen des Einfalls" (Popper), also bei der Urteilsfindung als bei der Urteilsrechtfertigung
lei-
s t e n ' ^ ^ . Das belegt ihre dürftige Beredsamkeit in den Urteilsgründen. Als Personifikation des richterlichen Judizes, welches ein offizielles Leistungskriterium richterlicher Arbeit ist'^'^, dürfte der verständige Rechts159) Hofstätter, Die Entwicklung des Rechtsgefühls in sozialpsychologischer Sicht, in: Hessische H o c h schulwochen 32 (1962), S. 94 ff., S. 116. 160) Vgl. die Unterscheidung Wasserstroms (The Judicial Decision, Stanford, Calif. 1961, S. 26 f.) zwischen d e m Prozeß der Urteilfindung (process of discovery) und dem Prozeß der Urteilsrechtfertigung (process of justification); und Berkemann, Gesetzesbindung und Fragen einer ideologiekritischen Urteilskritik, in Festschrift für Willi Geiger, Tübingen 1974, S. 299 ff., S. 306. 161) Vgl. BGHZ 57, 344, 348.
87
genösse eine weitaus bedeutendere Rolle spielen als es die veröffentlichten Urteilsgründe erkennen lassen. Darum ist mit dem gutgemeinten Vorschlag, derartige Formeln 162) zu vermeiden
, nur vordergründig Rationalität gewon-
nen. Doch soweit die Argumentationsfigur v o m verständigen Rechtsgenossen Eingang in den Urteilstext gefunden hat, interessiert mehr ihre an die Rechtsuchenden adressierte Botschaft. Die vornehmliche Aufgabe der Redeweise dürfte darin bestehen, an die Bildsamkeit und Lernfähigkeit desjenigen Rechtsuchenden zu appellieren, der in egozentrischer Weise sein Recht verfolgt. Der Richter muß bedenken, daß das Schweigen oder die Zurückhaltung des Gesetzgebers nicht nur ihn, sondern auch die Parteien des Rechtsstreits in Verlegenheit versetzt. Er muß dem Einwand des betreffenden Akteurs zu begegnen versuchen, daß man ihn nicht zur Verantwortung ziehen oder kostenpflichtig in seine Schranken weisen könne, w e n n er nicht in der 163) Lage war, sich vor sich selbst "vorauszuverantworten" In dieser Situation vermag der Richter dem Rechtsuchenden schwerlich weiszumachen, daß ihm das der schwierigen Situation angemessene Handeln ohne eigene Denkarbeit möglich war. Das Argument v o m verständigen Rechtsgenossen impliziert aber die richterliche Annahme, daß es ihm als erwachsenen Menschen möglich gewesen sei, "die Situation 162) So Haberstumpf, Fn. 154, S. 113. 163) Ciaessens, Rolle und Verantwortung, in Soziale Welt, 1963, S. 13.
88 im Lichte früherer Erfahrungen abzuschätzen und sich eine als geeignet antizipierte Handlungsweise auszudenken"' Der Richter will mit dieser Sprechweise an die "vorrechtliche" Erfahrung anknüpfen und den betreffenden Akteur auf eine Wissensquelle verweisen, die ihm anläßlich der von ihm zu treffenden Auswahl der erforderlichen Handlungsweise als "Ordnungs v o r g ä b e "
hätte dienen
können. Als eine solche Ordnungsvorgabe, "vermittels derer Zukunft vorweggenommen werden kann", haben wir bereits die Kategorie der Rolle k e n n e n g e l e r n t D i e
allgemeine
sozial-anthropologische Hilfsinstanz, an die die Richter appellieren, ist der "verallgemeinerte Andere" im Sinne 166) Meads
, die personalisierte Bezugsinstanz sozial gel-
tender Normen. Diese sozial-anthropologische Figur beruht auf der Einsicht, daß der Mensch bildsam ist und eine reflektive Intelligenz besitzt. Im Prozeß des Heranwachsens beobachtet er die für sein Leben bedeutsamen Anderen (Eltern, Lehrer, Spielkameraden) und reflektiert deren Bewertungen in seiner Selbsteinschätzung. Die von einer Person integrierten Bewertungen und Werte der bedeutsamen Personen bilden 167 J T3 ) den inneren "verallgemeinerten Anderen" der Person 164) Ralph Linton, Gesellschaft, Kultur und Individuum, Frankfurt am Main 1974, S. 83. 165) Ciaessens, Fn. 163. 166) Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1973, S. 194. 167) Mead, Fn. 166, S. 131, 194 ff., 198; und Gerth/Mills, Individuum und Gesellschaft, die Psychologie sozialer Institutionen, Frankfurt am Main 1970, S. 87 ff.
89 Die richterliche Herausforderung an den Rechtsuchenden, die Haltung des verallgemeinerten Anderen gegenüber sich selbst einzunehmen, "vermag - w e n n es erst zum Prozeß gekommen ist - auf die bereits getroffene Wahl nicht mehr einzuwirken. Die v o n dem Richter im Anschluß an den Appell demonstrierte prospektive Weisheit ist im Grunde nichts anderes als nachträgliche Voraussicht. Die Rechtsuchenden eines anhängigen Rechtsstreits sind nicht so verblendet, daß sie wie die alten Hexen oder die bösen Kammerfrauen in den Grimmschen Märchen bereit wären, sich akusativisch als Fremden zu betrachten und sich das Urteil über die 168} eigene Schandtat als Rätsel aufgeben zu lassen
. Der
Richter erwartet darum auch nicht die aus den Märchen vertrauten apodiktischen Antworten in dem Stil: "Diese ist nichts Besseres wert, als daß m a n sie ...". Der Richter führt ein Gespräch im Konjunktiv. Die richterliche Frage n a c h d e m Tun und Lassen des verständigen Rechtsgenossen ist insoweit eine im besten Sinne rhetorische. Sie verlangt keine Antwort, sondern will die Bereitschaft des Rechtsuchenden erwecken, den richterlichen Gedankengang mit dem Blick für das Interesse seines P a r t ners mitzuvollziehen. Die Argumentationsfigur v o m v e r ständigen Rechtsgenossen will
Zustimmungsbereitschaften
erzeugen. Sie ist eine Rechtfertigungsstrategie, mit der der Richter vornehmlich dem Problem des Nichtwissens, der Unbestimmtheit und Fragwürdigkeit einer K o n f l i k t situation begegnen will. 168) Vgl. den Hinweis v o n Streißler, Fn. 9, S. 14, der diese Möglichkeit der Generalisierung erwähnt.
III. Der verständige Rechtsgenosse als Vermittler widerstreitender gesellschaftlicher Interessen
Das bescheidene Material, das hier gesichtet worden ist, rechtfertigt nicht das Vertrauen, daß m i t Hilfe der Denkfigur v o m verständigen Rechtsgenossen ein W i d e r streit gesellschaftlicher Interessen geschlichtet werden, könnte. Wohl begegnet man dieser Redeweise auch in E n t scheidungen, die sich mit der materialen Vertragsgerechtigkeit und den sozialen Einschränkungen privater Rechte beschäftigen - mit Fragen also, die Wieacker als Hauptfragen des Privatrechts der Gegenwart
gekennzeichnet
hat. So findet sich der Hinweis auf das Verständnis oder das T u n und Lassen eines verständigen Rechtsgenossen im Zusammenhang mit der Inhaltskontrolle und Auslegung A l l gemeiner G e s c h ä f t s b e d i n g u n g e n ^ ^
und im Rahmen v o n
Urteilen, die sich m i t der Sozialgebundenheit des Eigentums
auseinandersetzen'^^.
D o c h tritt der verständige Rechtsgenosse in jenen U r t e i len, die den Inhalt Allgemeiner Geschäftsbedingungen b e treffen, im besten Falle als Zeuge, nicht jedoch als W e g 169) Vgl. die grundlegende Entscheidung in BGHZ 41, 150, 155 und BGHZ 60, 353, 361; 62, 251 ff. 170) Vgl. die grundlegende Entscheidung in BGHZ 48, 193, 197; 64, 366, 380 f.
91 bereiter eines Wendepunkts der Rechtsentwicklung
in
das Bild. Die gesellschaftliche Vorbildfigur bleibt unerwähnt bei der die Inhaltskontrolle
rechtfertigenden
Einsicht des Bundesgerichtshof, daß Allgemeine
Geschäfts-
bedingungen "ihre Rechtswirksamkeit nicht von einer (nicht bestehenden) Privatautonomie, sondern nur von der Unterwerfung des anderen Vertragsteils ableiten können, Aus diesem Umstand schließt das Gericht, daß solchen Regeln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Respekt versagt werden müsse, die mit den Grundsätzen von Treu und Glauben nicht zu vereinbaren seien. Die grundsätzliche Frage nach dem
0 b
einer Inhaltskon-
trolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen ist gelöst, allein die Frage nach dem
W i e
im individuellen Streit-
fall ist zu beantworten. Hier soll das Urteil des billig und gerecht denkenden Menschen den Rahmen des Angemesse1 72) nen abstecken
. Seine Aufgabe ist es, die Pflöcke
in einem Austauschverhältnis zurechtzusetzen,
dessen
Grenzen grundsätzlich als fragwürdig erkannt worden sind. Die Redeweise v o m verständigen Rechtsgenossen erscheint in all den Urteilen, die sich mit dem Recht Allgemeiner Geschäftsbedingungen auseinandersetzen, seltsam formelhaft, inhaltsarm und stereotyp. Das Zitat des A r g u m e n t a tionsmusters ist zufällig und scheint für die eigentli171) BGHZ 41, 150, 154. 172) BGHZ 41, 150, 155.
92 1 73) che richterliche Wertungsaufgabe entbehrlich Funktion erschöpft
sich in den der
des Bundesgerichtshofs
. Seine
Grundsatzentscheidung
folgenden Richtersprüchen
darin, rückschauend ein bereits gerichtlich
zumeist
"erstrittenes
Einverständnis" in einer Grundfrage des Verbraucherschutzes zu signalisieren. Die anderen Urteile, in denen jeweils
Grundstückseigen-
tümer eine Entschädigung wegen eines
enteignungsgleichen
Eingriffs begehrten, stützten sich zwar auf das Wohl der Allgemeinheit, nämlich auf die allgemeinen Anforderungen 174) an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse
. Doch wird
auch in diesen beiden Urteilen nicht mit Hilfe der Figur vom verständigen Rechtsgenossen ein Fortschritt
der
Rechtsentwicklung gedanklich vorweggenommen. Vielmehr deutet das Zitat die Denkweise an, in der der in Art. 14 GG und § 44 BBauG bereits statuierte Kompromiß zwischen Eigentumsgarantie und Sozialpflichtigkeit
im Einzelfall
konkretisiert werden soll. Das Argument vom verständigen Rechtsgenossen wirkt auch hier auf dem bereits Boden gesetzlicher
gewonnenen
Rechtsfortbildungen,
Wird aber die rechtspolitische Diskussion eines
gesamt-
gesellschaftlichen Konflikts, der den individuellen L e benssachverhalt der Prozeßparteien überschreitet, noch ge-^ 173) Vgl. zwei Urteile in BGHZ 62, 251 ff. einerseits und 62, 323 ff. andererseits, wo verwandte Themen mit und ohne Hinweis auf die gesellschaftliche Vorbildfigur behandelt werden. 174) BGHZ 48, 193, 197; 64, 366, 380 f.
93 führt, so gewinnt die Vorbildfigur einen Zug von Absolutheit. Die Redeweise verliert die sie auszeichnenden Merkmale der Fragwürdigkeit und der Verständigungsbereitschaft. Das in der fraglichen Situation erwünschte Verhalten wird als fraglos vorgegeben gesetzt. Der Richter gebraucht die Redensart suggestiv. Erinnert sei hier an die beiden Urteile des Bundesgerichtshofs, in denen die in einer Konfliktsituation für angemessen erachtete Reaktionsweise schlicht mit der Formel vom Tun und Lassen des verständigen Rechtsgenossen als wirklich gesetzt worden ist: Ein verständiger Verbraucher
versteht die Werbung nicht als eine Haftungszusa-
ge^^} Und: "Daß aus dem Recht zu friedlicher Versammlung kein Recht zur Auslieferungssperre gegen ein bestimmtes Druckereiunternehmen hergeleitet werden kann, ist für einen auf dem Boden des Grundgesetzes stehenden Staatsbürger erkennbar"^^ . Die Redeweise vom verständigen Rechtsgenossen wirft hier keine Frage mehr auf, sondern bricht die Kommunikation mit den Rechtsgenossen ab, bevor sie eröffnet worden ist. Hier wird die Formel, die eine Fragwürdigkeit thematisiert, selbst fragwürdig, Sie verwandelt sich von einer Rechtfertigungs- in eine Immunisierungsstrategie. Nicht die Integration des Denkens und Meinens ist ihr Ziel, sondern der Ausschluß, die Isolation des Andersdenkenden. Diese Deformation der Denkfigur zum Apodiktischen und Suggestiven stellt sich offen175) BGHZ 51, 9J, J00. 176) BGHZ 59, 30, 40.
94 bar unversehens dann ein, w e n n sie sich auf gesellschaftlich Umstrittenes
bezieht'^^.
Die Sprachlosigkeit des verständigen Rechtsgenossen angesichts von Entscheidungsproblemen, die über den individuellen Lebensbereich der Prozeßparteien hinausreichen, kommt nicht von ungefähr. Denn die
individualrechtlichen
Rechtsprinzipien v o n Treu und Glauben und der Guten Sitten, die nach Ansicht der Richter den Auftritt des v e r ständigen Rechtsgenossen autorisieren, stoßen selbst bei jenen Rechtskonflikten an die Grenze der Leistungsfähigkeit, die Fragen von allgemeiner gesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher Bedeutsamkeit in sich bergen. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die Kollisionsfragen bei der Kreditsicherung und die Haftung für Produktschäden bieten aktuelle Beispiele für solche Entscheidungsprobleme, die sich in der Perspektive eines
"Zwei-Perso-
nen-Streitfalles" nicht mehr angemessen begreifen und lö178") sen lassen
. In den gemeinschaftlich verfaßten oder
verwendeten Vertragsbedingungen werden nicht nur b r a n J 77) Vgl. Dieckmann, Fn. 149, S. 33 ff., 36, zu der Frage, wann als Mechanismus gesellschaftlicher K o n trolle das Mittel der Erziehung oder der Suggestion gebraucht wird. 178) Vgl. etwa Esser-Schmidt, Schuldrecht, Bd.I, T e i l band 1, 5. Aufl,, Karlsruhe 1975, § 1 II; N.Reich, Reform der Kreditsicherung, in JZ 1976, 463 ff., 464; Brendel,Qualitätsrecht, Die technisch-ökonomischen Implikationen der Produzentenhaftung, Berlin 1976, S. 18 ff., 36 f. und Hart, Allgemeine Geschäftsbedingungen und Justizsystem, Kronberg/Ts. 1975, S.8.
cheneinheitliehe Vertragsmuster für künftige Rechtsverhältnisse vorformuliert, sondern - entsprechend der jeweiligen Unvollkommenheit des Regelungsversuchs - wird auch gemeinsamer Konfliktstoff vorprogrammiert. Der Rieh ter, der das Recht nur innerhalb der Grenzen neu b e greifen darf, die ihm der anhängige Rechtsstreit vermag mit Hilfe der Generalklauseln das
setzt,
individuelle
Austauschverhältnis zurechtzurücken oder eine Kollision verschiedener Sicherungsrechte zu bereinigen. Doch sobald die beispielgebende Aussagekraft der getroffenen Entscheidung in Rede steht, offenbart sich mit aller Deutlichkeit, daß die Kunst der Generalklauseln mehr in der Diagnose denn in der Therapie eines lichen Konflikts besteht.
gesellschaft-
Das durch die Gebote v o n Treu
und Glauben oder der Guten Sitten inspirierte Lösungsmuster ist zum einen zu grobmaschig und grobschlächtig: Man denke etwa an die Entscheidung des Bundesgerichtshof die im Falle eines Zusammentreffens v o n verlängertem Eigentumsvorbehalt und Globalzession den Konflikt mit dem Verdikt der Sittenwidrigkeit im Alles-oder-Nichts-St . . . 179) zum Nachteil der kreditierenden Bank entschieden hat Zum anderen sind diese unter dem Gesichtspunkt der Zumut barkeit, der Billigkeit oder der Redlichkeit
gefällten
Urteile häufig zu sehr auf die konkreten Umstände des Falles gemünzt und taugen darum nur sehr bedingt als Exempel. Der damit verbundene Verlust an Orientierungssicherheit fordert den Ruf nach dem Gesetzgeber heraus. 179) BGH in JZ 1968, 527 ff. mit Anmerkung v o n Esser, aaO., S. 529 f.
96 Ohne das Verdienst des Bundesgerichtshofs bei dem Bemühen um die Verantwortlichkeit des Herstellers fehlerhafter Waren schmälern zu wollen, ist festzustellen, daß die Partnerschaftsstrategie auch nicht das geeignete Mittel ist, um einen Kompromiß zwischen den Interessen des Produzenten und des Verbrauchers einzupendeln. Die allein auf den beiderseitigen Schadensausgleich abstellende Betrachtungsweise ist nicht zuletzt deswegen unangemessen, weil sich das problematische Wechselverhältnis von Produktsicherheit und Wirtschaftlichkeit (und damit: Erschwinglichkeit) der Produktion nur in seinem gesamtgesellschaftlichen Kontext begreifen und diskutieren Der verständige Rechtsgenosse erscheint denn auch in dem grundlegenden Urteil des Bundesgerichtshofs zur Haftpflicht des Produzenten nur als eine randständige 181) Figur
. Das Argumentationsmuster wird nur zur Abwehr
der Ansicht aufgeboten, daß die Werbung für eine Ware ein rechtlich zu honorierendes Vertrauen in deren Beschaffenheit stifte. Das eigentliche Argument, mit dem der Bundesgerichtshof eine vertragliche oder vertragsähnliche Produzentenhaftpflicht ablehnt, ist die Besorgnis, daß der Schuldner andernfalls das Risiko nicht mehr abschätzen könne, daß er mit dem Abschluß des Vertrages eingehe. Folgenüberlegungen und die Einsicht in den eigenen Mangel an Information bedingen die begreifliche Scheu des Gerichts, die Grenze zwischen dem vertraglichen und dem deliktischen Haftungsbereich zu durchlöchern oder 180) Brendel, Fn. 178.
181) BGHZ 51, 91, 100.
97 gar eine Gefährdungshaftung qua Richterspruch zu statu182) leren Was spricht für die Vermutung, daß der wirtschaftliche Sachverstand, das technische Wissen und das gesellschaftspolitische Engagement des verständigen Rechtsgenossen weiter reichen als die Sachkunde und der Eifer der Richter? Selbst diejenigen, die in dem Argumentieren mit "leitbildhaften" Handlungsträgern ein eigenständiges "methodisches Prinzip" zu entdecken meinen, räumen ein, daß das der Vorbildfigur zu unterstellende Wissen "nie über das dem Richter selbst zur Zeit der Urteilsfällung zur Verfügung stehende Wissen hinausgehen" werde. Ja, daß die zu treffende Wertung dem Richter überlassen werden müsse, daß dessen Wertbewußtsein die maßgebliche Instanz bil183) de
. - Wohl zeichnet sich die Denkweise eines verstän-
digen Rechtsgenossen durch die Abkehr von dem individualistischen Standpunkt aus und neigt daher zum Verallgemeinern. Doch begreift man mit Hilfe dieser Perspektive noch nicht die Vorstellungswelt aller potentiell von einem Richterspruch Betroffenen'^^. Denn da die Figur vom 182) BGHZ 51, 91, 93, 96, 98, 101. 183) So Lorenz, Fn. 109, S. 73 (unter Hinweis auf Welzel) und S. 99, 167. 184) Vgl. Kübler, Über die praktischen Aufgaben zeitgemäßer Privatrechtstheorie, Karlsruhe 1975, S. 59, nach dem die motivierende Kraft der Privatrechtstheorie für die Privatrechtspraxis davon abhängt, inwieweit jene neben der Vorstellungswelt der Juristen die aller tendenziell von der zu findenden Konfliktregelung Betroffenen miteinbezieht.
98 verständigen Rechtsgenossen prätendiert, das Entscheidungsproblem im Sinne gegenseitiger Rücksichtnahme
lösen
zu können, bleibt sie der partikularen, auf das einmalige Austauschverhältnis abstellenden Problemsicht
grundsätz-
lich verhaftet. Sie personalisiert den Konflikt. Die v o n ihr verfolgte Partnerschaftsstrategie setzt grundsätzliche Gesprächsbereitschaft voraus und schließt
ideologi-
sche Divergenzen v o n vornherein aus. Wollte man aus dem moralischen Anspruch des über sich selbst hinaus denkenden und darum verständigen Rechtsgenossen dessen Fähigkeit ableiten, im Falle widerstreitender Wertansichten gesellschaftlicher Gruppen den Weg zu einem Einverständnis zu ebnen, so würde m a n das plebiszitäre Mißverständnis durch ein elitäres auszuräumen versuchen. Die Auskünfte der Demoskopie
- über das Verfahren des
§ 196 GVG auf eine Meinungsmehrheit gebracht -
sind als
Mittel empfohlen worden, dem gesellschaftlichen Bewußtsein auf die Spur zu kommen. Der Mangel einer demokratischen Diskussion ist an diesem Verfahren besonders getadelt worden. A u c h Richter sind nicht gezwungen zu disku185) tieren
, und damit auch nicht ihr Geschöpf, der v e r -
ständige Rechtsgenosse. Er geht mit sich zu Rate. Auf diesem Hintergrund ist Essers These zu begreifen, daß der Richter bei der Interpretation der Texte "als Vermittler zwischen gesellschaftlichem Bewußtsein und dogmatischer 185) Vgl. Struck, Topische Jurisprudenz, Frankfurt am M a i n 1971, S. 19.
Ordnungstradition" wirke'
. Dieses
gesellschaftliche
Bewußtsein existiert nicht außerhalb der richterlichen Vorstellungswelt als eine geordnete oder ungeordnete Erscheinung, die es mittels einer Denkfigur
einzufangen
und zu verfeinern gilt. Der Versuch, ein richterliches Erwägungsspiel zu personifizieren und ihm damit den A n schein einer Existenz zu leihen, lenkt zu leicht von der Einsicht ab, daß das
"Wertberücksichtigungspotential"
(Scharpf) der Richter alle Aufmerksamkeit verdient. Hier gilt es über Möglichkeiten nachzudenken, die den Richter anregen, bei der Definition der Interessen die Bedürfnis187) se aller gesellschaftlichen Gruppen einzubeziehen Der verständige Rechtsgenosse ist eine rhetorische Figur, die sowohl Auskünfte über die beabsichtigte Gedankenarbeit des Sprechers erteilt als auch eine Teilnahme der Urteilsadressaten herausfordern will. Sie unterrichtet darüber, daß das fragliche Entscheidungsproblem in einem bestimmten Denkstil bewältigt werden soll: Die Wechselbezüglichkeit der Perspektive und die Aufmerksamkeit für die Besonderheit der Situation sind mit der Formel von dem Tun und Lassen eines verständigen Rechtsgenossen in 186) in: Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt am M a i n 1970, S. 137. 187) Die Rechtswissenschaft wird hier den Anschluß an die politikwissenschaftliche Theorie-Diskussion über Demokratie finden müssen und deren Einsichten für den Bereich der Gerichtsbarkeit fruchtbar zu machen suchen. Vgl. Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, Kronberg/Ts 1975, S. 66 ff., 75, 77.
JOO der besonderen Lage des Betroffenen ausdrücklich impliziert. Die Argumentationsfigur symbolisiert nicht nur diese Denkhaltung, sondern sie fordert zugleich den Rechtsuchenden heraus, sich diese Sichtweise zu eigen zu machen. Die Redensart selbst gibt nur einen Denkanstoß, aber keine Auskunft über das Resultat des v o n ihr eröffneten Erwägungsspiels. Sie hat insoweit keine darstellende, d.h. informative Funktion. Die v o n dieser gesellschaftlichen Vorbildfigur erhoffte
"homogenisierende"
Wirkung (Streissler) angesichts rivalisierender Werte und Interessen vermag sie nicht zu erbringen. Die Formel v o m verständigen Rechtsgenossen verkündet nur die Bereitschaft, in einer bestimmten Weise zu denken und zu h a n deln. Der Richter selbst ist die Person, die Wertwidersprüche und Interessenkonflikte zu lösen hat. Das R i c h t bild v o m verständigen Rechtsgenossen gibt kein Denkversprechen, es formuliert nur eine Denkaufgabe, die eine, mitunter auch mehrere Unbekannte enthält.
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Der Kantinenpachtvertrag im Blickfeld der Rechtstatsachenforschung Von Professor Dr. Manfred Rehbinder, Bielefeld. Oktav. 51 Seiten. 1972. Kartoniert DM 12,80 ISBN 3 8059 0284 0
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DerTankstellenvertrag im Blickfeld der Rechtstatsachenforschung Von Professor Dr. Manfred Rehbinder, Bielefeld. Oktav. 40 Seiten. 1971. Kartoniert DM 9,80 ISBN 3 8059 0175 5
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Zur Bedeutung der Herkunft des Richters für die Entscheidungsbildung von D r . D r . W a l t h e r R i c h t e r , Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts in B r e m e n . O k t a v . 5 5 Seiten. 1 9 7 3 . K a r t o n i e r t D M 9 , 8 0 I S B N 3 8 0 5 9 0 3 2 2 7
J. Schweitzer Verlag • Berlin Schoreit • Düsseldorf
Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) Kommentar von Dr. A r m i n Schoreit, Regierungsdirektor im Bundesministerium der Justiz, Bonn, und Theodor Düsseldorf, Regierungsdirektor im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bonn. Oktav. X X V I , 455 Seiten. 1977. Kartoniert DM 7 8 , - ISBN 3 8059 0597 1 Der Kommentar ermöglicht einen Überblick über Sinn und Bedeutung der nunmehr auch bei uns gesetzlich geregelten Entschädigung für Opfer von Gewalttaten und erläutert umfassend die vorwiegend strafrechtlichen und sozialrechtlichen Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes vom 11.5.1976. Für die Kommentierung wurden Autoren verpflichtet, die die Vorstellungen und Motive des Gesetzgebers besonders sachkundig berücksichtigen und interpretieren konnten: Beide waren in den federführenden Ressorts am Gesetzgebungsverfahren beteiligt, wobei Dr. A r m i n Schoreit zuvor schon die maßgeblichen Vorbereitungen für den Regierungsentwurf erbracht hatte (aus dieser Zeit stammt auch seine Broschüre „Entschädigung der Verbrechensopfer als öffentliche Aufgabe"); Theodor Düsseldorf ist nach wie vor Mitarbeiter im zuständigen Referat des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Bei der Auslegung dieses neuen Gesetzes haben sich die Autoren darum bemüht, die Fragen zu klären, die die Praxis interessieren werden. Soweit es auf weniger bekannte und schwer zugängliche gesetzliche Regelungen ankommt, sind diese im Anhang aufgeführt. Angehörigen der „ordentlichen Gerichtsbarkeit" werden systematische Hinweise auf Besonderheiten des Sozialrechts gegeben. Sozialrechtler können sich an Hand des Kommentars einen Überblick über Rechtsprechung und Literatur zu den verwendeten strafrechtlichen Begriffen verschaffen. Acuh ausländische Regelungen werden, soweit diese bei der Rechtsanwendung von Bedeutung sind, dargestellt und ausgewertet. Die Autoren und der Verlag wurden von dem Bestreben geleitet, das umfassende Erläuterungswerk rasch und preiswert anbieten zu können; daher wurde — jedenfalls für die erste Auflage — ein vereinfachtes Herstellungsverfahren gewählt, das die Lesbarkeit und Übersichtlichkeit jedoch keineswegs beeinträchtigt.
J. Schweitzer Verlag • Berlin Einführung in die Rechtssoziologie 2., überarbeitete und ergänzte Auflage von Professor Dr. Thomas Raiser, Universität Gießen. DIN A 4 . X V I , 113Seiten. 1973. Kartoniert DM 1 4 , ISBN 3 8059 0291 3 (JA-Sonderheft 9) Die Neuauflage konnte, als erster Schritt zu dem Ziel, die ausländische Rechtssoziologie in die Darstellung einzubeziehen, um einen Abschnitt „Justizforschung in den U S A " bereichert werden. Auch wurde das ganze Heft durchgesehen und durch viele kleinere Zusätze oder Hinweise ergänzt. Vor allem wurde die deutsche rechtssoziologische Literatur reichlicher als bisher zitiert, um dem Leser neben der Einführung auch die Handhabe zu bieten, tiefer in den Stoff einzudringen. Die seit dem Erscheinen der ersten Auflage veröffentlichte Literatur ist berücksichtigt. Dagegen beschränken sich die inhaltlichen Änderungen auf Einzelheiten, von denen sich die wichtigsten auf das Verhältnis von Rechtsdogmatik und Rechtssoziologie und auf die Wechselwirkung von sozialen und rechtlichen Normen beziehen. Das Heft soll namentlich Jurastudenten und Gerichtsreferendare in die Rechtssoziologie einführen und damit dem aktuellen Bedürfnis nach einer Erweiterung des Horizonts im Hinblick auf die Sozialwissenschaften Rechnung tragen. Darstellungsweise und Diktion sind auf diesen Zweck zugeschnitten und daher bemüht, auch komplizierte theoretische Gedankengänge gemeinverständlich auszubreiten. Das Heft gliedert sich in vier Teile: In einem Einführungskapitel wird der Begriff der Rechtssoziologie erläutert und den anderen juristischen Disziplinen gegenübergestellt. Es folgt die Wiedergabe und kritische Besprechung von vier Forschungsbereichen der empirischen Rechtssoziologie, wobei das Schwergewicht auf der Soziologie der juristischen Berufe liegt. Im dritten Abschnitt werden die wichtigsten rechtstheoretischen Konzeptionen des deutschen Sprachgebiets dargestellt, so z. B. Eugen Ehrlich, Max Weber und Theodor Geiger. Der vierte Teil beschäftigt sich mit dem Zusammenwirken von Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft, wobei die für den Juristen entscheidende Frage in den Vordergrund gerückt wird, welche Hilfe soziologische Theorien und Forschungen für die Entscheidung konkreter sozialer Gestaltungsaufgaben und Streitfälle leisten können.