Berliner Festschrift: Ernst E. Hirsch dargebracht von Mitgliedern der juristischen Fakultät zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428417964, 9783428017966


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German Pages 265 [274] Year 1968

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Berliner Festschrift: Ernst E. Hirsch dargebracht von Mitgliedern der juristischen Fakultät zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428417964, 9783428017966

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Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch

Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch dargebracht von Mitgliedern der Juristischen Fakultät zum 65. Geburtstag

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der übersetzung für sämtliche Beiträge, vorbehalten. © 1968 Duncker & Humblot. Berlin 41 Gedruckt 1968 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Prlnted in Germany

Die Juristische Fakultät der Freien Universität Berlin betrachtet es als Ehrenpflicht, ihrem hochverdienten Mitglied Ernst E. Hirsch zum 65. Geburtstag und zu seiner Emeritierung die vorliegende Festschrift zu überreichen. Ernst E. Hirsch wurde am 20. Januar 1902 in Friedberg (Hessen) geboren. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre und der Rechtswissenschaft an den Universitäten Frankfurt a. M., München und Giessen promovierte er 1924 in Giessen zum doctor iuris; 1929 bestand er das Assessorexamen mit Auszeichnung. 1930 habilitierte er sich mit der Abhandlung "Der Rechtsbegriff ,provision' im französischen und internationalen Wechselrecht" an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt a. M. für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Deutsches Privatrecht sowie Internationales Privatrecht. Zugleich war er seit 1931 in Frankfurt a. M. als Landgerichtsrat tätig. Das Jahr 1933 brachte ihn um DozentensteIlung und Richteramt. Im selben Jahr wurde er zum ordentlichen Professor für Land- und Seehandelsrecht an der Universität Istanbul ernannt. Im Herbst 1943 übernahm er an der Rechtsfakultät Ankara den Lehrstuhl für Handelsrecht und den neu geschaffenen Lehrstuhl für Rechtsphilosophie. Seit 1950 wirkt er an der Freien Universität, zunächst als Gastprofessor, seit 1952 als ordentlicher Professor für Bürgerliches Recht, Handelsrecht und Rechtsphilosophie. Viele Jahre stand er der Universität sowie der Westdeutschen Rektorenkonferenz ehrenamtlich zur Verfügung; von 1953 bis 1955 bekleidete er das Amt des Rektors der Universität. Seit 1964 ist er Direktor des von ihm gegründeten Instituts für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung. Hirschs Veröffentlichungen sind gekennzeichnet durch seine Wandlung vom Rechtsdogmatiker zum Rechtssoziologen. Ausgehend von der Dogmatik des Internationalen Handels- und Wechselrechts wurde er in der Türkei vor die Problematik eines usus modernus für das dort in complexu rezipierte europäische Rechtsgut gestellt. Er wurde bald zum Berater der türkischen Regierung in Gesetzgebungsfragen und verfaßte die Entwürfe zum heutigen türkischen Handelsgesetzbuch und Urheberrechtsgesetz. In dieser Tätigkeit gewann er Einblick in die Bedeutung der Rechtssoziologie, die er in Ankara und dann an der Freien Universität in Forschung und Lehre als eigenständiges Fach vertreten hat. Von ihm stammt die erste Gesamtdarstellung der rechtssoziologischen Problematik im Sammelband "Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge".

In Berlin widmete sich Hirsch zunehmend Wissenschaftsgebieten, die ihm als Rechtssoziologen besonders lohnend erschienen, in erster Linie dem Urheberrecht, dem Film- und Fernsehrecht sowie dem Presserecht. Er ist Mitglied des Sachverständigenbeirats für Urheberrecht beim Bundesministerium der Justiz und war längere Zeit Vorsitzender des Vorstandes des von ihm mitbegründeten Instituts für Film- und Fernsehrecht in München. Auch das Presserecht hat Hirsch durch eigene Arbeiten sowie durch seine Tätigkeit als Mitherausgeber der Berliner Abhandlungen zum Presserecht entscheidend gefördert. Von nicht geringerer Bedeutung war die Lehrtätigkeit, welche Hirsch an der Fakultät bewältigte. Neben der Lehre des Handelsrechts mit allen Nebengebieten widmete er sich als einziges Mitglied der Fakultät der Lehre des Bürgerlichen Rechts für Volks- und Betriebswirte. Diese betont rechtssoziologisch angelegte Vorlesung hat ihren Niederschlag in seiner "Einführung in das bürgerliche Vermögensrecht" gefunden. Die großen Verdienste Hirschs um Forschung, Lehre und Universitätsverwaltung verpflichten die Fakultät, die ihn seit über fünfzehn Jahren zu den ihren zählt, zu aufrichtiger Dankbarkeit; sie gilt einem Kollegen, "qui bonus hortator duxque comesque fuit".

Inhaltsverzeichnis Professor Dr. Karl August Bettermann, Berlin Gewerbefreiheit der öffentlichen Hand ................................

1

Professor Dr. Arwed Blomeyer, Berlin Zum relativen Verbot der Verfügung über Forderungen

25

Professor Dr. Ernst Heinitz, Berlin Zur Verfassungsmäßigkeit der Strafbestimmung gegen den groben Unfug

47

Professor Dr. Roman Herzog, Berlin Grundrechte und Gesellsch.aftspolitik

63

Dr. Jutta Limbaeh, Berlin Die Feststellung von Handelsbräuchen

77

Professor Dr. Heinz Meilicke, Bonn Korporative Versklavung deutscher Aktiengesellschaften durch Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge gegenüber in- und ausländischen Unternehmen .................................................

99

Professor Dr. Klemens Pleyer, Berlin Einflüsse der Wirtschaftsordnung auf die Rechtsfindung ................ 127 Dr. Manfred Rehbinder, Berlin Status -

Kontrakt -

Rolle .............................. . ............ 141

Professor Dr. h. c. Werner Sarstedt, Berlin Beweisregeln im Strafprozeß .......................................... 171 Professor Dr. Karl Sieg, Berlin Die Vererblichkeit von sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen ...... 187 Professor Dr. Dr. WHhelm Wcngler, Berlin Die Gegenseitigkeit von Rechtslagen im internationalen Privatrecht .... 211 Professor Dr. Fritz Werner, Berlin Das Bundesbaugesetz in der Bewährung ............................... 239 Professor Dr. Herbert Wiedemann, Köln Sacheinlagen in der GmbH ............................................ 257

KARL AUGUST BETTERMANN

Gewerbefreiheit der öffentlichen Hand Beiträge zu Art. 12 I, 15, 19 III GG

Wenn wir unter dem unjuristischen und unscharfen, aber anschaulichen und gebräuchlichen Begriff der "öffentlichen Hand" die Gesamtheit der juristischen Personen des öffentlichen Rechts verstehen, dann ist die öffentliche Hand, der "Staat" im weitesten und vulgären Sinne, der größte Unternehmer in der Bundesrepublik, wie er auch der größte Kapitalist ist. Der Spätkapitalismus ist in bedeutendem Umfange Staatskapitalismus, die angebliche "Marktwirtschaft" unserer Tage weitgehend eine Staatswirtschaft, die der Staat nicht nur durch hoheitliche Maßnahmen, sondern auch dadurch steuert, daß er selbst wirtschaftet. Er stellt nicht nur die "Marktpolizei", sondern mischt sich auch "mitmarktend" unter die Marktteilnehmer: nicht nur als Konsument und Abnehmer!, sondern auch und vor allem als Produzent und Anbieter2 • Seine Marktstellung ist auf vielen Märkten so stark, daß er sie wesentlich beeinflussen kann; gerade seine erwerbswirtschaftliche Betätigung erlaubt ihm, Wirtschaftspolitik mit "marktkonformen" Mitteln zu betreiben. Von den zahlreichen Verfassungsproblemen, die die erwerbswirtschaftliche Betätigung des Staates aufwirft, sollen hier zwei Fragen aus dem Problemkreis des Art. 12 I GG angesprochen werden: Kann der private Unternehmer die erwerbswirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand mit Art. 12 bekämpfen - und kann umgekehrt ein Fiskus sich gegen hoheitliche Beschränkung seiner erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit durch Berufung auf Art. 12 zur Wehr setzen? Erlaubt oder verbietet, garantiert oder limitiert Art. 12 die Unternehmertätigkeit der öffentlichen Hand? Genießt auch der Staat Gewerbefreiheit, oder gewährt diese umgekehrt den privaten Unternehmern Schutz vor staatlicher Konkurrenz? Entspricht der Unternehmensfreiheit des Bürgers das Recht des Staates zur Ausübung oder die Pflicht zur Unterlassung unternehmerischer Betätigung? 1 über die Rolle des Staates als Auftraggeber vgl. Forsthoff, Der Staat als Auftraggeber (1963), insbesondere S. 2,4, 13 f. 2 Zum Anteil des Bundes an der Gesamtproduktion und am Gesamtindustrieumsatz der Bundesrepublik vgl. Finanzbericht 1966, Anhang S. 7; 1967, Anhang S. 8, 9. Weitere Nachweise bei Horak, Die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Probleme (1964), S. 27 ff.; Brenner BB 1962,727.

1 Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch

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Karl August Bettermann

I. Zuvor ist klarzustellen, was hier unter "erwerbswirtschaftlicher Betätigung der öffentlichen Hand" verstanden wird: die Betätigung einer juristischen Person des öffentlichen Rechts als Unternehmer. 1. Es scheidet also von vornherein jede hoheitliche Tätigkeit aus 2a, selbst wenn sie nach unternehmerischen oder betriebswirtschaftlichen Grundsätzen erfolgt und (oder) auf Gewinnerzielung gerichtet ist, wie zum Beispiel die Postverwaltung. Die erwerbswirtschaftende öffentliche Hand ist stets Fiskus. Aber die erwerbswirtschaftliche Betätigung des Fiskus' ist nur ein Ausschnitt aus dem Gesamtbereich fiskalischer Tätigkeit: sie betrifft nur das unternehmerische Handeln und Verhalten. Nur der Fiskus als Produzent und Händler, nicht als Konsument, als Anbieter von Waren und Leistungen, nicht als deren bloßer Abnehmer interessiert uns. Die mit der Vergabe öffentlicher Aufträge verknüpften Probleme! berühren offensichtlich die hier gestellten Fragen nach der grundrechtlichen Sicherung oder Begrenzung erwerbswirtschaftlicher Betätigung der öffentlichen Hand nicht. Wir beschäftigen uns mit dem Staat als Unternehmer, nicht als Auftraggeber. "Erwerbswirtschaftliche Betätigung" ist daher gleichbedeutend mit unternehmerischer Betätigung in privatrechtlichen Formen - mit Teilnahme am Privatrechtsverkehr als Unternehmer. Es geht um die gewerbefreiheitsrechtliche Stellung des Fiskus' als Unternehmer.

2. Damit löst sich auch das scheinbar so schwierige Problem, ob und inwieweit die Handelsgesellschaften3 , an denen die "öffentliche Hand", d. h. der Fiskus beteiligt ist, zu eben dieser öffentlichen Hand hinzuzurechnen sind: ob es auf das Ausmaß der Beteiligung oder auf das Maß der Beherrschung oder Einflußnahme ankommt 4 und welches Maß dafür maßgebend ist. Diese Fragen, die in der Diskussion über die (angebliche) Grundrechtsbindung des Fiskus meistens entweder ignoriert oder nur dilettantisch behandelt werden 5 , stellen sich uns hier nicht. Denn bereits die Beteiligung des Fiskus' an solchen Handelsgesellschaften ist eine Form unternehmerischer und damit erwerbswirtschaftlicher Betätigung. Das Problem, das Art. 12 I GG für die Unternehmen mit fiskalischer Beteili2a Vgl. UmsatzsteuerG 1934/51 § 2 Abs. I Satz 1: "Unternehmer ist, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt", und Abs. III: "Die Ausübung der öffentlichen Gewalt ist keine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit." a i. S. des Handelsgesetzbuches und seiner Nebengesetze, also: offene Handelsgesellschaft, Kommanditgesellschaft, Aktiengesellschaft, Kommandi tgesellschaft auf Aktien, Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Reederei, Genossenschaft, bergrechtliche Gewerkschaft. 4 Auch eine Minderheitsbeteiligung, zum Beispiel eine "Schachtel", kann zur Beherrschung genügen: wenn die übrigen Anteile sich beim "Publikum", d. h. im Streubesitz befinden. S Vgl. meine Kontroverse mit Herbert Krüger auf der Staatsrechtslehrertagung 1960, VVDStRL 19, S. 250 f., 253 f., 260 f.

Gewerbefreiheit der öffentlichen Hand

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gung, Beherrschung oder Einflußnahme aufwirft, besteht also nicht darin, ob solche Unternehmen die Freiheiten dieses Artikels genießen, was angesichts des privatrechtlichen Charakters dieser Unternehmen eigentlich keinem Zweifel unterliegen sollte6 • Das eigentliche und wesentliche Problem liegt vielmehr darin, ob die öffentliche Hand, der Fiskus, in diese privatrechtlichen Unternehmensformen ausweichen und sich ausdehnen darf. Es ist sub specie Gewerbefreiheit gleichgültig, ob der Fiskus selbst und unmittelbar als Unternehmer tätig wird oder ob er dies unter Zwischenschaltung einer privatrechtlichen Handelsgesellschaft oder durch Beteiligung an ihr tut. Sollte Art. 12 I GG der unternehmerischen Tätigkeit des "Staates" Schranken setzen oder sie gar total verbieten, dann würde das auch seine Errichtung von und seine Beteiligung an Handelsgesellschaften in gleichem Umfange hindern. Was Art. 12 I GG ihm an eigener Tätigkeit verbietet, das kann er auch nicht durch rechtlich selbständige, aber von ihm abhängige und dirigierte Unternehmer vornehmen lassen: quod per alium fecimus, ipsi fecisse videmur. Aber die grundrechtliche Beschränkung, wenn sie bestehen sollte, trifft nicht die Handelsgesellschaft, sondern den sich an ihr beteiligenden Fiskus. Beschränkungsobjekt ist die Beteiligung des Fiskus', nicht die Tätigkeit der Gesellschaft. 11. Genießt auch die öffentliche Hand die Gewerbefreiheit des Art. 12 IGG? 1. Die Unternehmerfreiheit, d. h. das subjektiv-öffentliche Recht, Unternehmer zu sein, zu werdeI'>. und zu bleiben und sich unternehmerisch zu betätigen, ist eine, wenn nicht die wesentlichste Erscheinung der Gewerbefreiheit. Diese wieder ist eine Erscheinungsform der Berufsfreiheit, die Art. 12 I GG garantiert; mindestens wird sie von dieser Garantie in vollem Umfange erfaßt7. 6 Anders die wohl vorherrschende Literaturmeinung: Dürig, Festschrift für Apelt (1958) S. 40 und Fußn. 66; BayVBl. 1959, 201 [202]; Maunz-Dürig Art. 19 III Rdnr. 46; Bachof, Grundrechte III S. 180; Leisner, Grundrechte und Privatrecht (1960) S. 208 Fußn. 27a; Zeidler VVDStRL 19, 215; Hamann NJW 1951, 1423 Fußn. 23; Deutsches Wirtschaftsverfassungsrecht (1960) S. 73; Wenzel NJW 1961,2102; Feiler, Diss. München 1963, Das Bonner Grundgesetz und die juristischen Personen als Träger von Grundrechten, S. 50 und Fußn. 3; Dülp, Diss. Würzburg 1964, Die Berufung juristischer Personen des öffentlichen Rechts auf Grundrechte, S. 136 Fußn. 14; Maser, Diss. Bonn 1964, Die Geltung der Grundrechte für juristische Personen und teilrechtsfähige Verbände S. 153160. Dagegen zu Recht: Reuss, Staatsbürger und Staatsgewalt II (1ge~) S. 255 [267 f.]; Stern-Püttner, Die Gemeindewirtschaft (1965) S. 140; Brenner BB 1962, 727 [728 f.]; Feine, Diss. Tübingen 1963, Der grundrechtliche Schutz der öffentlichen Hand, S. 81 f. 7 BVerfGE 7, 377 [397]; 14, 19 [22]; BVerfG NJW 1967, 974 [975]; BGHSt 4, 385 [389]; BGHZ 23, 365 [371]; BVerwGE 1, 48 [49]; 1, 92 [93]; BVerwG DÖV 1959, 61 [62]; OVG Lüneburg 4, 158 [161]; Württ.-Bad. VGH DVBl. 1952, 182 [183]; Bachof, Grundrechte III S. 160,186; v. Mangoldt-Klein Art. 12 GG III 2 d); Uber, Freiheit des Berufs (1952), S. 86 Fußn. 218; Landmann-Rohmer-Eyer-

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Kar! August Bettermann

2. Da auch juristische Personen Unternehmer sein und sich als solche betätigen können, kommt auch ihnen die Gewerbefreiheit und damit der Schutz des Art. 12 I GG zu, Art. 19 III GG. Ist dies nahezu unbestritten, so sollen doch nach weit verbreiteter Meinung Gewerbefreiheit nur die juristischen Personen des Privatrechts genießen; der Fiskus soll sich nicht auf Art. 12 berufen könnens. Das führt zu der grundsätzlichen Frage nach der Grundrechtsfähigkeit und Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts. Sie kann nicht in Bausch und Bogen damit verneint9 werden, daß man alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts zur "öffentlichen Hand" mann-Fröhler, Gewerbeordnung (12. Aufl.) Titel I Rdnr. 30; Nipperdey, Grund-

rechte IV S. 744, 877; BB 1951, 593. A. A. Haussleiter DÖV 1952, 496 [497 f.]; DVBl. 1953, 558 [560]; Wessel DVBl. 1952, 184 [186]; Adam DÖV 1954, 202 [204]; v. d. Heydte DÖV 1956, 275 f.; Rüfner AöR 89 (1964), S. 307 f. 8 Maunz, Deutsches Staatsrecht (15. Aufl. 1966) S. 152; Fleiner-Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht (1949) S. 281 f.; Köttgen, Die Gemeinde und der Bundesgesetzgeber (1962) S. 22, 57; Hettlage, Staatslexikon, Recht Wirtschaft Gesellschaft (6. Aufl. 1959) III, Stichwort "Fiskus" Sp. 347 [349 f.]; Nipperdey BB 1951, 593 f.; Ehrensberger DÖV 1956, 129 [132, 134]; Fröhler BayVBl. 1956, 135 [136]; Hamann NJW 1957, 1423; Wirtschafts verfassungsrecht (1960) S. 73, 140; Herbert Krüger DVBl. 1955, 380 [385]; Allgemeine Staatslehre (1964) S. 324, 327 f., 897; Fuss DVBl. 1958,739 [745]; Heinrich Hoftmann DVBl. 1964,457 [460]; Torz DÖV 1958, 205 [208]. Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz (2. Aufl. 1961) S. 25 f.; Rüfner, Formen öffentlicher Verwaltung im Bereich der Wirtschaft (1967) S. 211; Uber, Freiheit des Berufs (1952) S. 154 Fußn. 474; Frentzel, Wirtschaftsverfassungsrechtliche Betrachtungen zur wirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand S. 14; Die gewerbliche Betätigung der öffentlichen Hand (1958) S. 15 f.; Heusser, Die Flucht des Gemeinwesens in die privatrechtliche Unternehmung als Rechtsproblem (Zürich 1949) S. 49; Stern-Püttner, Die Gemeindewirtschaft (1965) S. 137; Schricker, Wirtschaftliche Tätigkeit der öffentlichen Hand und unlauterer Wettbewerb (1964) S. 75. Maser, Diss. Bonn 1964, Die Geltung der Grundrechte für juristische Personen und teilrechtsfähige Verbände S. 142 f.; Biermann, Diss. Mainz 1965, Die Zulässigkeitsvoraussetzungen staatlicher Monopole im Grundgesetz S. 72; Baumann, Diss. Zürich 1955, Die Legitimation des Gemeinwesens zur staatsrechtlichen Beschwerde S. 41 f. 9 Geiger BVerfGG (1952) § 90, 2; Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte (Wien 1963) S. 54. H. J. Wolft, Verwaltungsrecht I (6. Aufl. 1965) S. 92; Fischerhof DÖV 1960, 41 [45]; Brenner BB 1962,727 [728]; Wertenbruch JuS 1961, 105 [110]; Zippelius, Evangelisches Staatslexikon (1966), Stichwort "Grundrechte" Sp. 729; Schüle VVDStRL 11, 89 f.; Nipperdey, Grundrechte IV S. 779; Wilhelm BayVBl. 1963, 78 [80]; Zeidler VVDStRL 19, 229 Fußn. 91; Berkemann, Die staatliche Kapitalbeteiligung an Aktiengesellschaften (1966) S.33; Reissmüller, Diss. München 1960, Grundgesetz S. 99 f.; Feiler a.a.O. S. 26 und Fußn. 2; Feine a.a.O. burg 1964, Möglichkeiten staatlichen Einwirkens tätigung der Gemeinden S. 54; Nordemann, Diss.

und Wirtschaftsverfassung S. 87 f.; Baptist, Diss. Würzauf die wirtschaftliche BeGöttingen 1959, Die Reich-

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oder zum "Staat" im weiteren Sinne zusammenfaßt oder dem Staat im engeren Sinne zurechnet und anschließend damit argumentiert, daß der Staat nicht Grundrechtsträger sein könne, weil er aus den Grundrechten verpflichtet werde; niemand könne aber hinsichtlich derselben Rechte gleichzeitig berechtigt und verpflichtet sein 10 • Diese Argumentation hält nicht Stich. a) Einmal ist es unzulässig, die rechtliche Selbständigkeit, welche die juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die nicht Staaten sind also alle öffentlichen Gemeinwesen außerhalb von Bund und Ländern grundrechtlich einfach zu ignorieren. Die föderative, die kommunale und die berufsständische Gliederung unseres Gemeinwesens sind auch grundrechtlich zu honorieren. Wie die Gesellschaft, ist auch der Staat nach dem Grundgesetz pluralistisch, d. h. in eine Vielzahl von Gemeinwesen gegliedert, die nicht in geschlossener Phalanx dem Bürger oder der bürgerlichen Gesellschaft gegenübertreten, sondern im Gegenteil den Bürger in die staatliche Gemeinschaft integrieren und die gesellschaftliche Gliedeweite der Grundrechtsgarantien nach der Rechtsprechung S. 17 f. Mit gewissen Einschränkungen: Maunz-Dürig Art. 2 I Rdnr. 52 und Art. 19 III Rdnr. 43, 46; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1967) S. 114; Dürig BayVBl. 1959, 201 f.; Festschrift Apelt (1958) S. 39 und Fußn. 59; Bachof a.a.O. S. 180 f.; Verfassungs-, Verwaltungs- und Verfahrensrecht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (1963) S. 148; Reuss, Staatsbürger und Staatsgewalt II S. 255 [266 f.]; Stern AöR 84 (1959) S. 137 [152]; Leisner a.a.O. S. 208 und Fußn. 27a; Stern-Püttner a.a.O. S. 136; Horak a.a.O. S. 17; Dülp a.a.O. S. 115 f., 127 f., 131 f., 134-140; OVG Münster DÖV 1967, 205 [206]. A. A. Jacobi BB 1951,764; Troidl, Der Bayerische Bürgermeister, 1953, S. 192 [195]; Schwering, Der Städtetag, 1954, S. 145 [146]; H. J. Becker DÖV 1956, 422 [423]; List, Verwaltungsrecht technischer Betriebe, 1955, S. 36; Peters, VVDStRL 19, 257; v. Mangoldt-Klein I (2. Auf!.) 1957, Art. 19 Anm. VI, 2 und 3 b); Wernicke, Bonner Kommentar, Art. 19 II 3 a); Wertenbruch, Grundgesetz und Menschenwürde, 1958, S. 116; Bettermann, Grundrechte Ill/2, S. 779 [786]; JZ 1958, 163; Arndt NJW 1959, 6 [7 Fußn. 12]; Fuss DVBl. 1958,739 [740 f.]; Ule DVBl. 1959, 537 [541]. Die Rechtsprechung bejaht überwiegend die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts: VerfGH NW in OVGE Münster und Lüneburg Bd. 14 S. 374 und 380 grundsätzlich für alle Grundrechte; BGHZ 19, 138 und BVerwG DÖV 1959, 62 für Art. 121. BayVerfGH n. F. 3 II 129 und 5 II 1 für Art. 14; BVerwGE 10, 92 für Art. 4 bei einer Kirchengemeinde. BSG 6, 183; BFH BStBl 1956 III 44; BayVerwGH n. F. 16, 21; VerwRspr. 12, 372; OVG Berlin NJW 1963, 1939 für Art. 19 IV. Schwankend das BVerfG: E 6, 45; 8, 45; 13, 140; 15, 262; 21, 362. Nach der letztzitierten Entscheidung, die erst nach Abschluß dieses Manuskripts veröffentlicht wurde, "gelten die Grundrechte grundsätzlich nicht für juristische Personen des öffentlichen Rechts, soweit sie öffentliche Aufgaben wahrnehmen" (Leitsatz 1). Aus den Gründen ergibt sich, daß das Bundesverfassungsgericht unter "Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben" den "öffentlich-rechtlichen Funktionsbereich" (S. 374) versteht. Danach verneint es die Grundrechtsfähigkeit nur für Hoheitsträger, nicht für den Fiskus. Wir haben es hier aber nur mit der privatrechtlich wirtschaftenden öffentlichen Hand zu tun. Zu BVerfGE 21, 362 werde ich mich an anderer Stelle äußern. 10 Dieses Argument findet sich auch in BVerfGE 15, 256 [262]; 21, 370.

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rung teils widerspiegeln, teils ergänzen, teils überkreuzen und durchdringen. Der größte Teil der juristischen Personen des öffentlichen Rechts ist mit mehr oder weniger großer Selbstverwaltung ausgestattet, also mit Freiheiten und Rechten gegenüber dem Staat. Mindestens im Umfang des Selbstverwaltungsrechts muß der Selbstverwaltungsträger grundrechtsfähig sein. Darüber hinaus genügt bereits die Verleihung der allgemeinen Rechtsfähigkeit an öffentliche Gemeinwesen oder Organisationen, um ihre Grundrechtsträgerschaft zu ermöglichen; denn in den wenigsten Fällen qualifiziert der Staat ein Gemeinwesen als juristische Person des öffentlichen Rechts lediglich zu dem Zweck, ihm Rechtsfähigkeit auf dem Gebiete des Privatrechts zu verleihen; in der Regel geht es um die publizistische Rechtsfähigkeit und Rechtsträgerschaft. Personen des öffentlichen Rechts ohne Staatsqualität können daher grundsätzlich in gleichem Umfange und unter den gleichen Voraussetzungen Grundrechtsträger sein wie juristische Personen des Privatrechts. b) Zum anderen stimmt auch die Argumentation nicht, die aus der Konfusion von Grundrechtsverpflichtung und -berechtigung die Grundrechtsunfähigkeit des Staates ableitet. Grundrechte des Staates gegen den Staat sind kein "etatistisches Schelmenstück"l1, sondern dieses Konfusionsargument ist allzu schelmisch. Es ignoriert nämlich die vielfältige Gewaltenteilung und Organverselbständigung innerhalb des Staates. So nimmt zum Beispiel die Exekutive Recht vor der Judikative desselben Staates - und dabei kommen ihr dieselben Prozeß- und Justizrechte zu wie dem Bürger12 • So wie Grundrechte nicht nur natürlichen Einzelpersonen und juristischen Personen, sondern auch nicht rechtsfähigen Verbänden des Privatrechts und des öffentlichen Rechts zustehen können, so auch einzelnen Staatsorganen, sofern das betreffende Grundrecht nach seinem Inhalt1 3 "organfähig" ist, d. h. von dem betreffenden Staatsorgan ausgeübt zu werden vermag. Die Grundrechtsträgerschaft öffentlicher Gemeinwesen oder ihrer Organe hängt davon ab, ob das Gemeinwesen oder sein Organ sich in eben derselben Schutzsituation befindet oder befinden kann, welche die betreffende Grundrechtsnorm voraussetzt. Ist, wie regelmäßig, Voraussetzung ein Subjektionsverhältnis zur öffentlichen Gewalt, ein allgemeines oder besonderes Gewaltverhältnis, so ist das Gemeinwesen oder das Organ insoweit grundrechtsfähig oder grundrechtsberechtigt, als es derselben Gewalt wie die juristischen oder natürlichen Personen des Privatrechts unterworfen ist. Bei gleichen Eingriffsgefahren hat es gleiche Abwehrrechte. Darüber hinaus eignet ihm die Fähigkeit zur Trä11

Dürig BayVBl. 1959, 201.

BVerfGE 6, 45 [49 f.]; 13, 132 [139 f.]; BVerfG BB 1960, 582; BayVGH (n. F.) 16,21 [22 f., 25]; BSGE 6,180 [184]. 13 seinem "Wesen" nach-sagt Art. 19 III GG. 12

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gerschaft solcher Grundrechte, die speziell ihm und seinesgleichen verliehen, den natürlichen oder juristischen Personen des Privatrechts aber verschlossen sind, wie zum Beispiel das Recht zur kommunalen Selbstverwaltung nach Art. 28 II GG. 3. Somit beantwortet sich die Frage nach der Gewerbefreiheit des Fiskus' dahin: Wenn sich die juristischen Personen des öffentlichen Rechts einschließlich des Staates als Unternehmer betätigen, so unterliegen sie grundsätzlich den gleichen öffentlich-rechtlichen Beschränkungen wie private Unternehmer. Sie sind der Ordnungs- und Eingriffsgewalt des Staates über die Unternehmerschaft, wie über die Wirtschaft überhaupt, grundsätzlich in gleichem Maße unterworfen wie die natürlichen und juristischen Personen des Privatrechts. Infolgedessen besteht Raum und Bedürfnis für eine Beschränkung dieser Gewalt auch bei den juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Diese können daher gegenüber legislativer und exekutivischer Beschränkung ihrer unternehmerischen Tätigkeit sich auf Art. 12 I berufen. Exekutive Beschränkungen sind nur nach Maßgabe der Gesetze zulässig, legislative Beschränkungen nur nach Maßgabe des Art. 12 I GG, also nur, soweit er gesetzliche Beschränkungen zuläßt. Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Berufsfreiheit14 , insbesondere seiner Dreistufentheorie, bedeutet das: a) Der Gesetzgeber kann nicht generell allen juristischen Personen des öffentlichen Rechts jede Unternehmertätigkeit untersagen. Er kann es vielmehr nur beschränkt für einen bestimmten Unternehmenszweig, für einen bestimmten "Beruf" i. S. des Art. 12 I GG, weil "nur die Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlich schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut diese Maßnahme rechtfertigen" kann. Dieser vom Bundesverfassungsgericht für die objektiven Berufszulassungsvoraussetzungen geforderte Rechtfertigungsgrund muß erst recht vorliegen, wenn ein bestimmter Berufszweig für eine bestimmte Personengruppe - hier: die juristischen Personen des öffentlichen Rechts generell gesperrt werden soll. Falls eine solche Sperre überhaupt zulässig sein sollte, dann jedenfalls nur unter den schwersten Voraussetzungen, unter denen die Berufszulassung beschränkt werden kann. Es ist aber kein" überragend wichtiges Gemeinschaftsgut" denkbar, das durch jede Unternehmertätigkeit jeder öffentlichen Hand "schwer gefährdet" würde. Der strenge Gemeinschaftsvorbehalt, den das Bundesverfassungs14 BVerfGE 7, 377 [403 ff.]; 9, 213 [221 f.]; 9, 338 [344 f.]; 10, 185 [197]; 11, 30 [42 f.]; 11, 168 [183, 185]; 12, 281 [295]; 13, 97 [104f., 107]; 14, 19 [22]; 15, 226 [234]; 16, 147 [167]; 17,232 [242]; 17,269 [276,279 f.]; 18,353 [361 f.]; NJW 1967, 971 [972].

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gericht für die "dritte Stufe" entwickelt hat, kann niemals rechtfertigen, die gesamte Unternehmertätigkeit der gesamten öffenlichen Hand zu unterbinden oder auch nur gegenüber der privaten Unternehmerschaft zu erschweren. Vielmehr legitimiert jener Vorbehalt allenfalls eng begrenzte Beschränkungen der öffentlichen Hand für einen bestimmten Wirtschaftszweig oder bestimmte Unternehmensformen: etwa wenn die Konkurrenz der öffenlichen Hand die Existenz der privaten Unternehmen vernichtet oder gefährdet - was vom Gesetzesinitiator nachzuweisen und im Streitfall vom Bundesverfassungsgericht nachzuprüfen wäre 15 . Eine solche Gefahr besteht generell nicht, wie die Erfahrung lehrt. Auf zahllosen Märkten konkurrieren und koexistieren private, öffentliche und gemischtwirtschaftliche Unternehmen miteinander. b) Aber auch wo ausnahmsweise die erwerbswirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand "überragend wichtige Gemeinschaftsgüter" schwer verletzt oder gefährdet, wird nicht ein striktes Verbot erforderlich sein, sondern werden mildere Beschränkungen genügen - etwa die Beschränkung auf eine bestimmte Unternehmensgröße oder -form, auf bestimmte Marktanteile oder Geschäftsbereiche. Auch andere Beschränkungen als solche der Berufswahl, also die Regelung der Berufsausübung der öffentlichen Hand können ausreichen oder sogar wirksamer die privaten Wettbewerber schützen. Objektive Zulassungsbeschränkungen sind aber nur insoweit zulässig, als sie notwendig sind: wenn "gerade dieser Eingriff zum Schutz eines überragenden Gemeinschaftsguts zwingend geboten ist"16. 4. Dieses Ergebnis: Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts nach Maßgabe ihrer Unterwerfung unter die öffentliche Gewalt, widerspricht nicht, sondern entspricht dem Sinn, Zweck oder Wesen der Grundrechte genau. Die Grundrechte, vornehmlich die Freiheitsrechte, begrenzen die öffentliche Gewalt - darin liegt ihr "Wesen". Die Freiheit, die sie gewähren oder gewährleisten, ist die Unzulässigkeit staatlichen Zwanges. Infolgedessen ist ein Grundrecht immer dann "seinem Wesen nach" auf eine juristische Person "anwendbar" (wie es Art. 19 III GG voraussetzt), wenn diese Person eben jener Ausübung von Staatsgewalt ausgesetzt ist, der das betreffende Grundrecht Schranken zieht. Der Kreis möglicher Grundrechtsträger bestimmt sich grundsätzlich nach dem Kreis derjenigen, gegen welche die durch das Grundrecht beschränkte Staatsgewalt ausgeübt werden kann. Das Grundgesetz hat den Kreis teilweise enger gezogen; manche Grundrechte 17 stehen nur Deutschen zu; bei den juristischen Personen ist die Grundrechtsgeltung 15 16

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BVerfGE 7, S. 379 LS 7 und S. 409. BVerfGE 7, S. 379 LS 7 und S. 409. Art. 8 I; 9 I; 11 I; 12 I; 16 I, II; vgl. auch 33 I, II.

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generell auf die "inländischen" beschränkt. Innerhalb dieser Grenzen ist jede natürliche oder juristische Person und jeder Verband grundrechtsfähig, wenn und soweit das betreffende Subjekt Nutznießer des betreffenden Grundrechts sein kann. Bei Freiheitsrechten ist das der Fall, wenn und soweit das Subjekt von einem staatlichen Zwang bedroht ist, den das Grundrecht verbietet oder beschränkt. Es hängt also vom Inhalt des Grundrechts ab, ob und welche juristischen Personen seiner teilhaftig werden können. Daß die juristische Person eine solche des öffentlichen Rechts ist, bildet keinen prinzipiellen Hinderungsgrund. Vielmehr steht dies nur dann der "Anwendung" des Grundrechts, d. h. der Grundrechtsnorm18 entgegen, wenn die öffentlichrechtliche Eigenschaft oder Eigenart der juristischen Person sie unfähig macht, den Schutz oder die Vorteile des betreffenden Grundrechts zu genießen. Diese Unfähigkeit kann insbesondere daraus resultieren, daß die betreffende juristische Person des öffentlichen Rechts selbst Träger öffentlicher Gewalt ist. Aber das ist nur dann ein Hinderungsgrund, wenn sie eben diejenige öffentliche Gewalt besitzt, die durch das betreffende Grundrecht beschränkt, gebunden oder verpflichtet wird. 5. In ganz anderer Weise differenziert Bachof 19 • Nach ihm soll es für die Anwendung des Art. 19 III - und damit auch des Art. 12 I GG, für den er die Frage untersucht - darauf ankommen, ob der menschliche Verband Träger "individueller, dem im Staat verkörperten Gemeininteresse entgegengesetzter Rechte" zusammenfaßt oder aber eine Organisation des staatlichen oder öffentlichen Interesses darstellt. Wenn die juristische Person "nur ein rechtlich verselbständigter Teil des Staates" ist, soll sie grundrechtlich und damit gewerbefreiheitsrechtlich wie dieser behandelt werden - selbst dann, wenn sie als juristische Person des Privatrechts organisiert ist. "Entscheidend wird also weniger auf die Rechtsform der juristischen Person als vielmehr darauf abzustellen sein, ob dieselbe substantiell Teil des wirtschaftenden und (oder) verwaltenden Staates ist, oder ob sie eine verbandsmäßige Zusammenfassung und Repräsentation von Einzelpersonen darstellt, die als solche am grundgesetzlichen Freiheitsanspruch gegen den Staat teilhaben." 18 Der Begriff der Grundrechte in Art. 19 III ist objektivrechtlich, nicht subjektivrechtlich, weil Art. 19 III davon spricht, daß die Grundrechte "gelten" und "anwendbar sind". Das paßt nur auf die Grundrechte als Normen. 19 Bachof, Grundrechte III S. 180 f.; Rechtsprechung des BVerwG S. 148. Ihm folgen: Maunz-Dürig Art. 19 III GG Rdnr. 46; Dürig BayVBl. 1959,201 f.; Reuss, Staatsbürger und Staatsgewalt II (1963) S. 266 f.; Nipperdey, Grundrechte IV S. 779 Fußn. 182; Stern AöR 84 (1959), 152; Stern-Püttner a.a.O. S. 136; Leisner a.a.O. S. 208 Fußn. 27 a; Schricker a.a.O. S. 75; Feiler a.a.O. S. 37; Reisnecker, Diss. München 1960, Das Grundrecht der Meinungsfreiheit und die Schranken der allgemeinen Gesetze i. S. des Art. 5 II GG, S. 88; Dülp a.a.O. S. 115 f., 127 f.,

131, 134-140.

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Diese Unterscheidung erscheint mir weder praktisch durchführbar noch theoretisch fundiert. Praktisch versagt sie bei denjenigen Unternehmen, an denen sowohl der "Staat" als auch Privatpersonen beteiligt sind. Solche "gemischtwirtschaftlichen" Unternehmen sind aber nicht nur zahlreich, sondern sie spielen eine große, in manchen Wirtschaftszweigen eine entscheidende Rolle. Man kann sie also nicht als unbedeutende Grenzfälle ignorieren. Des weiteren glaube ich auch nicht, daß innerhalb der juristischen Personen des öffentlichen Rechts sich mit hinreichender Sicherheit unterscheiden läßt zwischen denjenigen, die nur rechtlich verselbständigte Teile des Staates sind, und denjenigen, die Verbände oder Repräsentanten von Einzelpersonen darstellen. Die Körperschaften des öffentlichen Rechts dürften in der Regel beides zugleich sein. Auch durch Einbeziehung des Gegensatzes von individuellem und öffentlichem Interesse wird die Unterscheidung Bachofs weder richtiger noch praktikabler. Sie scheint mir zu übersehen, daß es Gruppeninteressen gibt, die nicht nur in privatrechtlichen, sondern auch in öffentlich-rechtlichen Verbänden organisiert und repräsentiert und dadurch als öffentliche Interessen legitimiert oder honoriert werden. Damit hängt zusammen, daß es nicht nur ein oder das öffentliche Interesse gibt, sondern eine Fülle verschiedenartigster öffentlicher Interessen, die häufig in Konkurrenz stehen, ja in Konflikt geraten können. Es gibt partielle und partikulare öffentliche Interessen in unübersehbarer Fülle, deren Koordination, Harmonisierung und Integration eine der wesentlichen Aufgaben nicht nur der staatlichen Organisation, sondern vor allem der Regierungskunst, der Politik, ist. Diesen Pluralismus, der, wie schon bemerkt, die moderne Demokratie kennzeichnet, scheint mir die Bachof'sche Antithese nicht zu berücksichtigen; an seiner Realität muß sie daher scheitern. Schließlich erscheint mir Bachofs Lehre nicht grundrechtsadäquat genug. Es ist zwar anschaulich, aber juristisch nicht präzise genug, das Verständnis der Grundrechte oder ihr "Wesen" auf den Gegensatz von Staat und Bürger, Individuum und Gemeinschaft, Mensch und Gesellschaft zu gründen. Das ist jedenfalls heute nicht mehr zureichend, nachdem einerseits der Staat sich in eine Fülle von mehr oder weniger selbständigen Organisationen des öffentlichen Rechts aufgegliedert und diese zum Teil aus sich ausgegliedert hat - und andererseits das Grundgesetz in Art. 19 III auch juristische Personen für grundrechtsfähig erklärt hat, ohne dabei zwischen privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen zu unterscheiden. Vielmehr ergibt seine Entstehungsgeschichte eindeutig, daß die Väter des Grundgesetzes auch die juristischen Personen des öffentlichen Rechts in Art. 19 III einbeziehen wollten 20 • 20

Vgl. Jahrb. äff. R. n. F. Bd. I (1951) S. 180-183.

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Die für die Grundrechte als Freiheitsrechte entscheidende Antinomie ist die zwischen Gewalthaber und Gewaltunterworfenen, zwischen Freiheit und Zwang. Das für die Freiheitsgrundrechte wesentliche Rechtsverhältnis ist die Subjektion. Das Maß möglicher Freiheit hängt vom Maß möglichen Zwanges ab, d. h. von dem Maß der Unterwerfung unter die öffentliche Gewalt. Ohne solche Subjektion keine Grundrechte. Soweit aber Subjektion vorliegt, sind auch Grundrechte möglich. Es ist daher nicht "widersinnig, den wirtschaftenden Staat gegen den hoheitlich handelnden Staat in Schutz nehmen zu wollen", wie Bachof21 meint; es ist vielmehr dann sinnvoll, wenn - und soweit - der "wirtschaftende Staat" dem Zwang des "hoheitlich handelnden Staates" ausgesetzt ist. Das aber ist nicht nur der Fall, wenn der "wirtschaftende Staat" nicht dieselbe juristische Person des öffentlichen Rechts ist wie "der hoheitlich handelnde Staat", sondern sogar bei Identität des Rechtsträgers besteht in der Regel jenes Subjektionsverhältnis. Der Staat als Unternehmer unterliegt grundsätzlich den gleichen vom Staat gesetzten Regeln, Ordnungen, Beschränkungen und Eingriffen wie der private Unternehmer. Er ist seiner eigenen öffentlichen Gewalt prinzipiell ebenso unterworfen wie jene. Damit aber sind die grundrechtlichen Schranken, die dieser öffentlichen Gewalt gezogen sind, auf ihn ebenfalls anwendbar. Soweit die öffentliche Hand der öffentlichen Gewalt wie ein Bürger unterworfen ist, insoweit ist sie grundrechtsfähig. IH. Begreift man die Gewerbefreiheit als Freiheit vom staatlichen Zwang im "ob" und "wie" der Ausübung (oder Nichtausübung) eines Gewerbes oder Berufs, so genießt auch die öffentliche Hand in ihrer unternehmerischen Tätigkeit den Schutz des Art. 12 I GG. Sie tut es dagegen nicht, wenn man in Art. 12 I auch ein Verbot staatlicher Wirtschaftstätigkeit ausgesprochen sieht. Erblickt man in Art. 12 I einen Schutz der Privatwirtschaft vor öffentlicher Konkurrenz, interpretiert man in ihn neben dem Interventionsverbot ein Konkurrenzverbot hinein, dann ist er schon nach seinem Inhalt auf juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht anwendbar. Diese wären dann nicht nur in ihrer Eigenschaft als Hoheitsträger, sondern auch und gerade als Unternehmer aus Art. 12 I verpflichtet. Sie wären dann diejenigen, vor deren erwerbswirtschaftlicher Betätigung das Grundrecht die Berechtigten schützen will. Einen solchen Inhalt hat jedoch Art. 12 I GG nicht. Er garantiert nicht den privaten Unternehmern die Ausschließlichkeit des Wirtschaftens oder des Marktes; er gewährt ihnen keinen Schutz vor staatlicher Konkurrenz; er enthält kein Verbot erwerbswirtschaftlicher Betätigung der öffentlichen Hand 22 • Grundrechte III, 180. Ein solches Verbot folgern aus Art. 2 I GG Maunz-Dürig Art. 2 I Rdnr. 52, Art. 19 III Rdnr. 47 f.: Stern DÖV 1961. 325 [328]; Stern-Püttner. Die Gemeinde21

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1. Schon generell ist für die Freiheitsgrundrechte des Grundgesetzes festzustellen, daß sie Interventionsverbote, aber nicht zugleich Konkurrenzverbote für die öffentliche Gewalt normieren. Die Freiheit, die sie garantieren, ist die Freiheit von staatlichem Zwang, also von staatlicher Beschränkung und Behinderung des Verhaltens, dessen Freiheit das Grundrecht garantiert. Das Verhalten, welches das Grundrecht dem Gewaltunterworfenen erlaubt, indem es das Verhalten frei-gibt oder freistellt, wird nicht zugleich dem Gewaltträger verboten.

a) Die Garantie der Meinungs- und Informationsfreiheit verbietet den Trägern öffentlicher Ämter nicht, auch in deren Ausübung, also auch in Ausübung öffentlicher Gewalt, Meinungen zu äußern, sich und andere zu informieren und auf die Information und die Meinungsbildung der Bürger durch Information und Meinungsäußerung Einfluß zu nehmen. Die Versammlungsfreiheit hindert den Staat nicht, ohne Zwang die Bürger zu versammeln, und hindert seine Amtsträger nicht, sich in dieser Eigenschaft an Versammlungen der Bürger zu beteiligen. Sie enthält kein Versammlungsverbot an den Staat, sondern nur das Verbot, die Versammlung der Bürger zu ver- oder behindern. - Ebenso verbietet Art. 9 I GG nicht die staatliche Vereinsbildung, solange sie ohne Zwang erfolgt; nach herrschender Meinung23 hindert sie, trotz negativer Koalitionsfreiheit, nicht einmal die Zwangsmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Korporationen. - Unbestritten steht die Garantie des Privateigentums in Art. 14 nicht der Bildung von Eigentum in öffentlicher Hand entgegen, solange sie ohne Zwang gegen die privaten Eigentümer erfolgt. b) Von diesem klassischen Grundrechtsverständnis ist das Bundesverfassungsgericht 24 nur bei der Presse- und der Rundfunkfreiheit abgewichen: Aus ihrer angeblich "institutionellen" Natur hat es die Forderung nach Staatsfreiheit von Presse und Rundfunk abgeleitet. Daß diese Ableitung nicht schlüssig ist, habe ich bereits in meinem Aufsatz über "Rundfunkfreiheit und Rundfunkorganisation" in DVBl. 1963,41 ff. dargelegt. Ich habe dort ferner darauf hingewiesen, daß das Bundesverfassungsgericht mit seinem Enthaltungsgebot an den Staat weder beim Rundfunk noch bei der Presse Ernst gemacht hat: Staatliche Betätigung in der Presse und eine Beteiligung an ihr hält es dann für zulässig, wenn "sie wegen der Konkurrenz mit der Fülle der vom Staat unabhängigen wirtschaft, Recht und Realität (1965) S. 129, 136; Nipperdey, Grundrechte IV S. 884 f.; Ipsen NJW 1963, 2102 [2107]; Rinck, Wirtschaftsrecht (1963) S. 28 f.; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre (1964) S. 327 f., S. 897; VVDStRL 19, 260 f.; Becker VVDStRL 19, 249. 23 BVerfGE 10, 89 [102]; 10, 354 [361 f.]; 11, 105 [126]; 12, 319 [323]; 15, 235 [239]; v. Mangoldt-Klein (2. Aufl. 1957) I, Art. 9 Anm. IH, 8; Hamann, Das Grundgesetz (2. Aufl. 1961) Art. 9 Anm. A, 4 b). 24

BVerfGE 12, 205 [260].

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Zeitungen und Zeitschriften an dem Bild der freien Presse substantiell nichts ändern würde"24. Beim Rundfunk aber läßt das Bundesverfassungsgericht nicht nur die juristische Person des öffentlichen Rechts, die doch (auch) ein Stück "Staat" ist, als Rechtsform für die Veranstalter von Rundfunksendungen zu, sondern erklärt es sogar für vereinbar mit Art. 5 I, daß solchen öffentlich-rechtlichen Anstalten, in deren Organen "auch Vertreter des Staates" "einen angemessenen Anteil" sollen erhalten können, "auf Landesebene ein Monopol (!) für die Veranstaltung von Rundfunkdarbietungen eingeräumt wird", sofern sie mit der nötigen Sicherung für Neutralität, Parität und Pluralität ausgestattet sind. 2. Doch mag es bei der Rundfunk- und Pressefreiheit liegen, wie es will- die Gewerbefreiheit als Erscheinungsform der Berufsfreiheit enthält jedenfalls kein Konkurrenz-, Beteiligungs- oder Betätigungsverbot an den Staat. Dieses Verbot hat das Bundesverfassungsgericht bei Presse und Rundfunk daraus abgeleitet, daß es die Freiheitsgarantie des Art. 5 I 2 zugleich und vor allem als institutionelle Garantie begriffen hat. Für Art. 12 I hat es dagegen die institutionelle Betrachtung ausdrücklich abgelehnt und den Charakter der Berufsfreiheit als eines subjektiven und individuellen Grundrechts betont25 . Daran ist ja auch angesichts des Wortlauts des Art. 12 I 1 ein Zweifel schlechterdings ausgeschlossen: Er garantiert nicht die Gewerbefreiheit als Wirtschaftsordnungsprinzip, sondern als subjektives Recht des deutschen Bürgers zur freien Wahl und Ausübung eines Gewerbes oder sonstigen Berufs. Dieses subjektive Recht hat zum Inhalt das Darfrecht zur Berufswahl und -ausübung und den Anspruch auf Unterlassung hoheitlichen Zwanges zur Ausübung oder Nichtausübung dieses Darfrechts. Es gewährt keinen Anspruch gegen den Staat als Grundrechtsverpfiichteten auf Unterlassung gewerblicher Tätigkeit, der Ausübung eines "Berufs" i. S. des Art. 12 I GG.

Einen solchen Anspruch oder eine entsprechende Unterlassungspfiicht würde Art. 12 I aber auch dann nicht begründen, wenn er eine objektivrechtliche Gewährleistung enthielte, also das Prinzip der Gewerbe- oder Berufsfreiheit garantieren oder normieren würde 26 • Am Schutz inhalt des Art. 12 I würde sich durch solche objektivrechtliche, "prinzipielle" oder "institutionelle" Betrachtung oder Begreifung nichts ändern. Der Schutz vor staatlicher Konkurrenz ließe sich vielmehr - allenfalls - erst dann aus Art. 12 I ableiten, wenn er nicht nur die - subjektiv- oder objektivrechtliche - Freiheit zu unternehmerischer Betätigung, die Unterneh25 BVerfGE 7,377 LS 1: "In Art. 12 Abs. 1 GG wird nicht die Gewerbefreiheit als objektives Prinzip der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung proklamiert, sondern dem Einzelnen das Grundrecht gewährleistet, jede erlaubte Tätigkeit als Beruf zu ergreifen, auch wenn sie nicht einem traditionell oder rechtlich fixierten "Berufsbild" entspricht." 26 So beiläufig BVerfGE 13, S. 122; anders aber auf S. 104. Vgl. auch Bachof, Grundrechte III S. 164; Nipperdey BB 1951,593 f.; Fuss DVBl. 1958,739 [745].

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merfreiheit, sondern zugleich das "freie Unternehmertum" oder die "freie Wirtschaft" in dem Sinne garantieren würde, daß nur der Bürger, nicht aber der Staat, die öffentliche Hand, sich unternehmerisch oder wirtschaftlich betätigen darf; daß also die Wirtschaft dem Staat verschlossen und den Bürgern vorbehalten sei. a) In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht die grundgesetzlich garantierte "Pressefreiheit" und "die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk" umgedeutet bzw. erweitert zur Garantie einer freien, d. h. staatsfreien Presse und eines staatsfreien oder wenigstens staatsneutralen Rundfunks. Eine entsprechende Auslegung des Art. 12 I ist weder zulässig noch vom Bundesverfassungsgericht auch nur andeutungsweise erwogen worden. Im Gegenteil betont es im Apothekenurteil27 , in dem es seine "grundsätzlichen Überlegungen über die Bedeutung dieser Verfassungsbestimmung" niedergelegt hat28 , die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes 29 , die dem Gesetzgeber weitgehende Ermessensfreiheit in der Gestaltung und Verfolgung der Wirtschaftspolitik lasse: diese Freiheit finde erst an den subjektiven Grundrechten des Bürgers ihre Schranken, insbesondere an der Garantie der subjektiven Berufsfreiheit jedes Deutschen. Von solcher wirtschaftspolitischen Neutralität aber könnte keine Rede mehr sein, wenn es der öffentlichen Hand grundsätzlich untersagt wäre, sich wirtschaftlich zu betätigen30• b) Solcher Umdeutung der Gewerbe-, Berufs-, Unternehmer- oder Wirtschaftsfreiheit in eine staatsfreie, d. h. den natürlichen und juristischen Privatpersonen vorbehaltene Wirtschaft oder Unternehmerschaft steht schon entgegen, daß die Gewerbefreiheit zu keiner Zeit in dieser Weise verstanden worden ist. Privat- oder erwerbswirtschaftlich betätigt hat sich der moderne Staat zu jeder Zeit, wenn auch zuzugeben ist, daß diese Betätigung im Laufe der letzten hundert Jahre stark gewachsen ist. Ob sie seit Erlaß des Grundgesetzes zu- oder abgenommen hat, kann dahinstehen; denn jedenfalls hatte sie im Jahre 1949 einen so bedeutenden Umfang und erstreckte sich auf so zahlreiche Wirtschaftsgebiete, daß der Grundgesetzgeber es hätte sagen müssen, wenn er sie unter der neuen Verfassung und durch sie hätte verbieten wollen. Dafür genügte eine Erweiterung der bisherigen Gewerbefreiheit (Art. 151 III WRV) zur Berufsfreiheit keinesfalls. Auch ergibt sich für eine solche Absicht aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes nicht der geringste Anhalt. BVerfGE 7, 377 [400]. Von denen wir die eine und wichtigste: die über die subjektive Grundrechtseigenschaft der Berufsfreiheit, bereits berichtet haben, s. Anm. 25. 29 Zu der sich das Bundesverfassungsgericht bereits in E 4, 7 betr. Investitionshilfegesetz bekannt hatte. 30 So auch Roman Herzog, Evangelisches Staats!exikon (1966) Stichwort "Berufsfreiheit", Sp. 155 [159]. Vgl. auch BVerwGE 17, 306 [308] sub 2 Abs. 1. 27

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3. Das Grundgesetz sagt aber nicht nur nichts gegen eine unternehmerische Tätigkeit der öffentlichen Hand, sondern es enthält umgekehrt Bestimmungen, aus denen sich die - mindestens partielle - Zulässigkeit solcher Tätigkeit ergibt. a) Dahin gehören einmal aus dem Abschnitt über die Bundesverwaltung der Art. 87, soweit er sich auf die Bundeseisenbahnen bezieht, und Art. 88 über die Bundesbank. a) Im Gegensatz zur Bundespost ist die Bundesbahn-Verwaltung im Außenverhältnis zu ihren Benutzern fiskalische Verwaltung, da die Bahnbeförderung auf privatrechtlicher Grundlage erfolgt31 • Die Deutsche Bundesbahn ist ein Wirtschaftsunternehmen32 . Nach § 28 BBahnG33 ist sie "wie ein Wirtschaftsunternehmen mit dem Ziel bester Verkehrsbedienung nach kaufmännischen Grundsätzen so zu führen, daß die Erträge die Aufwendungen einschließlich der erforderlichen Rückstellungen decken; eine angemessene Verzinsung des Eigenkapitals ist anzustreben." "In diesem Rahmen", d. h. nur in diesen Grenzen eines nach erwerbswirtschaftlich-kapitalistischen Grundsätzen arbeitenden Unternehmens, "hat sie ihre gemeinwirtschaftliche Aufgabe zu erfüllen". Eine ähnliche Regelung enthielt bereits das Reichsbahngesetz von 192434 : "Die Gesellschaft hat ihren Betrieb unter Wahrung der Interessen der deutschen Volkswirtschaft nach kaufmännischen Grundsätzen zu führen s5 ." ß) Die Bundesbank erfüllt ihre Aufgabe als "Währungs- und Notenbank" nur zum Teil durch Hoheitsakte, zum größeren und wesentlicheren Teil durch private Rechtsgeschäfte. Sie führt nicht nur "Verwaltungsangelegenheiten", sondern auch und vor allem "Geschäfte"36. Sämtliche im 5. Abschnitt des Bundesbankgesetzes37 (§§ 19-25) über den "Geschäftskreis" der Bundesbank aufgezählten Geschäfte sind Privatrechtsgeschäfte von solcher Art, wie sie auch von privaten Banken vorgenommen werden; sie sind Bankgeschäfte. Auch die ihr im 4. Abschnitt des Gesetzes eingeräumten "währungspolitischen Befugnisse" (§§ 14-18) übt die Bundesbank zum erheblichen Teil durch die Gestaltung ihres Bank31 RGZ 161,341 [343-349]; RGZ 162, 364; RGZ 169, 376 [379]; BGH NJW 1952, 219. A. A. H. J. WoZft, Verwaltungsrecht I (6. Aufl. 1965) S. 396. 32 Vgl. Art. 92 WRV. 33 i. d. F. des Gesetzes vom 1. 8. 1961 (BGBl. I S. 1161). 3' Vom 30. 8. 1924 (RGBl. 11 S. 272); ebenso i. d. F. vom 13. 3. 1930 (RGBl. 11 S.369). 35 Stärker gemeinwirtschaftlich betont dagegen § 6 Reichsbahngesetz vom 4.7. 1939 (!) (RGBl. I S. 1205). 36 Vgl. § 8 11 1 BBankG: "Der Vorstand einer Landeszentralbank führt die in den Bereich seiner Hauptverwaltung fallenden Geschäfte und Verwaltungsangelegenheiten durch." 37 Vom 26. Juli 1957 (BGBl. I S. 745).

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geschäfts aus. Ihre Währungspolitik treibt sie auch und gerade durch ihre Geschäftspolitik, vgl. §§ 15-17. Die Bundesbank samt ihren Hauptverwaltungen in den Ländern, den Landeszentralbanken, ist ein Bankunternehmen. Durch sie betätigt sich der Bund als Bankunternehmer. Die Tätigkeit der Bundesbank in ihrem "Geschäftskreis", ihre bankgeschäftliehe Tätigkeit, ist erwerbswirtschaftliche oder unternehmerische Betätigung, die ihre verfassungsgesetzliche Legitimation in Art. 88 GG findet. b) Weit wichtiger als die punktuelle Anerkennung staatlicher Betätigung als Eisenbahn- und Bankunternehmer in Art. 87 und 88 ist die Zulassung der Sozialisierung in Art. 15 und 74 Nr. 15 GG. Zwar muß derjenige, in dessen Eigentum oder Verfügungsgewalt die "Produktionsmittel" "überführt werden", nicht eine juristische Person des öffentlichen Rechts sein, da ein "gemeinwirtschaftliches" Unternehmen auch privatrechtlich organisiert sein kann. Aber die Regelform der Sozialisierung ist doch die Verstaatlichung, wenn man "Staat" im eingangs beschriebenen Sinne als öffentliche Hand versteht. Das "Gemeineigentum" des Art. 15 ist Eigentum der öffentlichen Hand, mag auch eine Handelsgesellschaft zwischengeschaltet sein, deren Anteile der öffentlichen Hand gehören. Die "Überführung" von "Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln" aber erfolgt nicht, um die überführten Gegenstände brachzulegen oder brachliegen zu lassen, sondern um sie ihrer Zweckbestimmung gemäß zu nutzen. Die sozialisierten Unternehmen sollen selbstverständlich weiterbetrieben werden, nicht genutzte Naturschätze und Produktionsmittel sollen durch die Vergesellschaftung ihrer bestimmungsgemäßen Nutzung zugeführt werden. Solche Nutzung aber ist unternehmerische Tätigkeit - mindestens dann, wenn sie in den Rechtsformen des Privatrechts erfolgt. Art. 15 setzt aber weder voraus noch unterstellt er, daß die gemeinwirtschaftliche Betätigung in öffentlich-rechtlichen Formen, also als Hoheitsverwaltung erfolgt. Die "Gemeinwirtschaft" des Art. 15 kann sehr wohl sein und ist in der Regel privatrechtlich betriebene Wirtschaft - so wie das "Gemeineigentum" des Art. 15 privatrechtliches Eigentum ist. Ebensowenig wie das durch Enteignung nach Art. 14 III begründete Eigentum ist auch das durch Sozialisierung entstehende "Gemeineigentum" ein öffentlich-rechtliches Eigentum, dessen Nutzung sich ausschließlich oder überwiegend in den Formen des öffentlichen Rechts vollzöge 38 • Der Gegenbegriff zum Gemeineigentum ist das Individualeigentum, nicht das privatrechtliche Eigentum; denn das Gemeineigentum des Art. 15 ist ja das Produkt oder das Instrument der "Vergesellschaftung". Wenn die Überführung in Gemeineigentum "zum Zwecke der Vergesellschaftung" erfolgt, dann ist Ge38 Das Gemeineigentum hat nichts mit Otto Meyer's Öffentlichem Eigentum zu tun; Ipsen VVDStRL 10, 111; v. MangoLdt-KLein, GG Art. 15 Anm. VII 1 a. E.

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meineigentum gleichbedeutend mit kollektivem oder gemeinschaftlichem Eigentum. Auch dieses vergesellschaftlichte oder vergemeinschaftete Eigentum ist aber Eigentum im Sinne der Privatrechtsordnung. In gleicher Weise ist der Begriff der "Gemeinwirtschaft" in Art. 15 zu verstehen: vom Zweck der Vergesellschaftung her. Das "Gemein" bedeutet entweder "Gemeinschaft" (nämlich aller am Produktionsprozeß Beteiligten) oder "Allgemeinheit" (alias "Gesellschaft" im marxistischen Sinne) und steht im Gegensatz zu "individuell" und (oder) "privat"39. Infolgedessen bildet die "Gemeinwirtschaft" des Art. 15 keinen Gegenbegriff zur Erwerbswirtschaft, wie Herbert Krüger 40 behauptet, der "eine Sozialisierung zum Zwecke der erwerbswirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand" für schlechthin "ausgeschlossen" erklärt. Erwerbswirtschaft und "Gemeinwirtschaft" im Sinne des Art. 15 sind keine Antithesen. Sie sind es nicht einmal dann, wenn man das "Gemein" des Art. 15 im Sinne von Gemeinwohl und Gemeinnützigkeit zu verstehen hätte41 • Denn die erwerbswirtschaftliche oder unternehmerische Tätigkeit der öffentlichen Hand kann sehr wohl, ja kann in höchstem Maße dem Gemeinwohl dienen und der Allgemeinheit oder "Gesellschaft" nutzen. Es bleibt also richtig, daß Art. 15 der öffentlichen Hand die Möglichkeit unternehmerischer Betätigung eröffnet; mindestens geht er von der Zulässigkeit solcher Betätigung aus. Wenn er die überführung von Produkduktionsmitteln in das Eigentum der öffentlichen Hand gestattet, dann erkennt er damit an, daß die öffentliche Hand als Produzent und folglich als Unternehmer fungieren darf. Das bestätigt der Vorläufer des Art. 15 GG, der Art. 156 WRV, der in seinem Absatz 1 Satz 2 ausdrücklich das Reich ermächtigte, "sich selbst, die Länder oder die Gemeinden an der Verwaltung wirtschaftlicher Unternehmungen und Verbände zu beteiligen". c) Aus Art. 15 GG ist nicht der Umkehrschluß zu ziehen, daß außerhalb der sozialisierungsfähigen Bereiche die öffentliche Hand sich nicht unternehmerisch betätigen dürfe. Die gegenständliche Beschränkung des Art. 15 auf Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel betrifft nur den Fall, daß die öffentliche Hand diese Gegenstände gegen den Willen ihrer Eigentümer unternehmerisch nutzen will, insbesondere ein 39 Vgl. Art. 156 WRV: "Das Reich kann für die Vergesellschaftung geeignete private (!) wirtschaftliche Unternehmungen in Gemeineigentum überführen." 40 Die Grundrechte IU S. 267 [286]. 41 So anscheinend Herbert Krüger a.a.O. S. 287/288 und Allgemeine Staatslehre (2. Auf!. 1967) S. 327/328. Krüger wird nicht nur durch den oben sub a) a) zitierten § 28 I BBahnG widerlegt, sondern zum Beispiel auch durch § 85 BaWü Gemeindeordnung: "Wirtschaftliche Unternehmen der Gemeinde sind so zu führen, daß der öffentliche (!) Zweck" - jener Zweck, der nach Abs. I Nr. 1 "das Unternehmen rechtfertigt" - "erfüllt wird; sie sollen einen Ertrag (!) für den Haushalt der Gemeinden abwerfen."

2 Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch

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Unternehmen gegen den Willen seines Inhabers übernehmen oder sich daran beteiligen will. Unsere Untersuchung aber befaßt sich nicht mit der - für einen Teilbereich in Art. 15 teilweise beantworteten - Frage, ob und inwieweit die öffentliche Hand zum Zwecke oder bei Ausübung ihrer unternehmerischen Tätigkeit Zwang anwenden darf, sondern mit der durchaus anderen Frage, ob sie solche Tätigkeit in den Formen und nach den Regeln des gemeinen Rechts, des Privatrechts, also ohne Zwang, ohne Anwendung öffentlicher Gewalt, ausüben darf. Art. 15 ist im Rahmen unserer Erörterungen nur insofern relevant, als sich aus ihm ergibt, daß der öffentlichen Hand die Betätigung als Unternehmer nicht grundsätzlich verschlossen ist, vielmehr solche Betätigungsmöglichkeit vorausgesetzt wird und in gewissem Umfange sogar zwangsweise geschaffen werden kann. 4. Man könnte daran denken, daß Art. 12 I zwar die unternehmerische Betätigung der öffentlichen Hand nicht schlechthin verbiete, ihr aber Schranken ziehe - und zwar die gleichen Schranken wie der hoheitlichen Beschränkung der Berufsfreiheit, dem "Eingriff von hoher Hand". a) Zu diesem Schluß könnte folgende Erwägung führen: Art. 12 gibt dem Bürger ein Recht zu ungestörter Berufsausübung, also einen Anspruch gegen den Staat auf Unterlassung einer Störung oder Behinderung seiner Berufsausübung. Infolgedessen stößt die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand dann an die Grenze des Art. 12 I, wenn sie den Bürger in seiner wirtschaftlichen Betätigung und Entfaltung behindert, was insbesondere dann der Fall ist, wenn sie ihm fühlbare Konkurrenz macht, das Wirtschaften der öffentlichen Hand sich also auf Kosten oder zu Lasten der privaten Unternehmer vollzieht. Dann verengert sich deren Freiheitsraum zwar nicht rechtlich, aber tatsächlich. Infolgedessen liegt eine Freiheitsbeschränkung vor, deren Zulässigkeit sich nach Art. 12 I beantwortet. Unter Zugrundelegung der Schrankenlehre des Bundesverfassungsgerichts würde also die Zulässigkeit einer erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit der öffentlichen Hand davon abhängen, mit welcher Intensität sie die Tätigkeit der privaten Unternehmer behindert oder gar verhindert: Je nachdem müßte die Unternehmertätigkeit der öffentlichen Hand durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls "als zweckmäßig" gerechtfertigt oder zum "Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter" "zwingend geboten" sein42 • Die staatliche Konkurrenz unterläge danach den gleichen Schranken wie die staatliche Intervention, Beeinträchtigungen der Berufsfreiheit durch den konkurrierenden Staat den gleichen Grenzen wie durch den intervenierenden Staat. 42 So in der Tat Heinrich Hoffmann DVBl. 1964, 457 [460]: "Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der wirtschaftlichen Eigenbetätigung der öffentlichen Hand beurteilt sich nach den Grundsätzen, die das Bundesverfassungsgericht über die Auslegung des Art. 12 GG aufgestellt hat." - Ähnlich: Horak a.a.O. S. 17; Stern-Püttner a.a.O. S. 136.

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b) Diese schrankenrechtliche Gleichbehandlung von Konkurrenz und Intervention scheitert nicht schon daran, daß die private Berufsausübung durch die Konkurrenz der öffentlichen Hand nur tatsächlich behindert, aber nicht rechtlich beschränkt wird. Die Freiheitsgarantien der Grundrechte schützen nicht nur gegen Eingriffe durch Rechtsakte: durch Gesetz, Verwaltungsakt und Richterspruch, sondern auch gegen Staatsakte, die den Freiheitsgebrauch tatsächlich behindern oder den durch die Grundrechte geschützten Freiheitsbereich stören. Die Störung, Behinderung oder Beeinträchtigung eines Grundrechts und seines Trägers kann nicht nur durch Gebote oder Verbote, sondern auch durch andere Zwangsakte der Grundrechtsverpflichteten erfolgen. Aber immer muß es sich um einen Zwangsakt handeln, um einen Akt der öffentlichen Gewalt! Denn die Grundrechte des Grundgesetzes setzen, wie schon oben I! 4-5 betont wurde, prinzipiell ein Subjektionsverhältnis voraus. Sie binden und beschränken die öffentliche Gewalt, wie sich eindeutig aus Art. 1 II! und 19 IV ergibt. Das ist anders nur bei solchen Grundrechten, denen das Grundgesetz ausdrücklich und ausnahmsweise Drittwirkung zuerkennt, wie in Art. 9 II!. Nur diesen Grundrechten kommt auch Fiskalwirkung zu, d. h. eine Wirkung gegen den Staat als Fiskus. Außerhalb der Drittwirkung eine Fiskalwirkung anzunehmen, ist unlogisch43 • Da der Staat als Fiskus keine größere Rechtsmacht hat als jede Privatperson, kann man und braucht man ihn nicht stärker zu binden als die Mitbürger, die Dritten; als Fiskus ist der Staat nicht weniger "Dritter" wie jeder Mitbürger des Grundrechtsträgers. Die Ablehnung der Drittwirkung beruht allein auf der spezifischen Freiheitsbedrohung, die von der öffentlichen Gewalt ausgeht. Infolgedessen entfällt die Grundrechtsbindung des Staates dort, wo er nicht als überlegener Hoheitsträger, sondern als gleichberechtigtes Privatsubjekt auftritt, dem Bürger also nicht mit Vorrechten und Zwang, sondern in Freiheit und Gleichheit gegenübertritt. Das aber ist bei der öffentlichen Hand als Unternehmer 43 Für Fiskalwirkung der Grundrechte: OVG Münster DVBl. 1959, 103 (für den Bereich der materiell öffentlichen Verwaltung); Leisner a.a.O. S. 206; Löw DÖV 1957, 879 [880]; Zeidler VVDStRL 19, 218, 225-231, 232 f. (mit Einschränkungen für die erwerbswirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand); Bachof VVDStRL 12, 61; 19, 259f.; DÖV 1953, 417 [423]; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1967) S. 137 f.; MaunzDürig Art. 1 III GG Rdnr. 135 (mit Einschränkungen für den erwerbswirtschaftlichen Bereich); Dürig, Festschrift für Nawiasky (1956) S. 184 [188 f.] (mit denselben Einschränkungen); MaHmann VVDStRL 19, 202; Stern JZ 1962, 181 [182]. Gegen Fiskalwirkung der Grundrechte: BGHZ 36, 91 [96] (im erwerbswirtschaftlichen Bereich); v. Mangoldt-Klein Art. 1 V 3 b); Bettermann VVDStRL 19, 254; Reimers, Die Bedeutung der Grundrechte für das Privatrecht (1958) S. 13; H. J. Wolff, Verwaltungs recht I (6. Aufl. 1965) S. 91 (für die erwerbswirtschaftlich-fiskalische Tätigkeit der öffentlichen Hand); Wertenbruch JuS 1961, 105 [109] (im erwerbswirtschaftlichen Bereich); wohl auch Schaumann JuS 1961, 110 [114]. Offengelassen von BVerfGE 12, 354 [361].

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der Fall. Wie eingangs betont, beschränkt sich unsere Untersuchung auf die unternehmerische Tätigkeit der öffentlichen Hand, die in den Formen des Privatrechts erfolgt. Infolgedessen wird diese Tätigkeit nicht durch Art. 12 I beschränkt, da ihm keine Drittwirkung und folglich auch keine Fiskalwirkung zukommt. c) Die Störung oder Behinderung privater Unternehmer durch fiskalische Konkurrenz mit derjenigen durch hoheitliche Intervention grundrechtlich gleichzubehandeln, verbietet sich noch aus folgender Erwägung: Die Berufsfreiheit des Art. 12 I ist auch und gerade Konkurrenzfreiheit. Sie eröffnet und sichert die freie Konkurrenz innerhalb der und zwischen den Berufsgruppen und beinhaltet damit notwendig gegenseitige Behinderung der Konkurrenten bis zur Ausschaltung. Infolgedessen ist die Behinderung der Berufsausübung durch Konkurrenten und Konkurrenz nicht Beschränkung, sondern Inhalt der Berufsfreiheit - mindestens ist sie eine notwendige Folge, die durch den Freiheitsgehalt des Grundrechts gedeckt wird, weil sie daraus resultiert, daß allen Deutschen die gleiche Berufsfreiheit zusteht. Infolgedessen wird die Berufsfreiheit dadurch, daß die öffentliche Hand mit den privaten Unternehmen in Konkurrenz tritt, nicht beschränkt, sondern ausgeübt und betätigt. Die öffentliche Hand setzt damit die privaten Unternehmer nur solchen Einwirkungen aus, die jene auch untereinander sich zufügen und die zum wesentlichen Inhalt oder zu den wesentlichen und notwendigen Folgen der Berufsfreiheit gehören. Daher sind die Schranken, die dem Staat bei der hoheitlichen Beschränkung der Berufsfreiheit gezogen sind, nicht übertragbar auf die konkurrierende Beteiligung des Staates am Wirtschaftsleben. Hoheitliche Intervention und fiskalische Konkurrenz sind für Art. 12 I inkommensurabel. IV. Das Ergebnis unserer Überlegungen ist also dies: Die unternehmerische Betätigung der öffentlichen Hand wird durch Art. 12 I GG weder ausgeschlossen noch beschränkt, sondern im gleichen Umfange erlaubt und geschützt wie das private Unternehmertum. 1. Hiergegen läßt sich nicht einwenden, die öffentliche Hand sei als Konkurrent dem privaten Unternehmen von vornherein überlegen, so daß ihre Zulassung zum Markt die Grundsätze der Chancengleichheit verletze 44 • Der Einwand geht in mehrfacher Hinsicht fehl. a) Erstens kann keine Rede davon sein, daß jede öffentliche Hand jedem Privatunternehmen an Kapital- oder Leistungskraft überlegen sei. UnU So aber Fröhler BayVBl. 1956, 135 [136]; Hamann NJW 1957, 1423; Fuss DVBl. 1958, 739 [745]; E. R. Huber, Wirtschafts verwaltungs recht (2. Aufl. 1953) 1. Bd. S. 521; Stern-Püttner, Die Gemeindewirtschaft, Recht und Realität (1965) S. 137; Torz DÖV 1958, 205 [207]; Saitzew, Die öffentliche Unternehmung der Gegenwart (1930) S. 29 f.; Landmann-Rohmer-Eyermann-Fröhler, Gewerbeordnung (12. Aufl. 1964) S. 54; H. Hoffmann DVBl. 1964, 457 [460]; Maser a.a.O. S. 142; Baumann a.a.O. S. 41 f.

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sere großen Konzerne nehmen es an finanzieller Potenz nicht nur mit jeder Großstadt, sondern auch mit den meisten Ländern der Bundesrepublik auf; manche, wie zum Beispiel die Farbennachfolger, dürften sogar mehr und besseren Kredit haben als der Bund. Auch leiden zahlreiche öffentliche Unternehmen an Unterkapitalisierung, was bekanntlich einer der Gründe für die Teilprivatisierung zum Beispiel der Preussag, der Veba und der VEW bildete. Wer schließlich glaubt, die öffentliche Hand könne nach Belieben die Defizite ihrer Unternehmen aus Steuermitteln decken oder daraus das Kapital stärken, kennt weder die politischen Realitäten noch die Fakten und Normen unserer öffentlichen Finanzwirtschaft. b) Zweitens garantieren weder Art. 12 noch Art. 3 GG die wirtschaftliche Chancengleichheit4 5 • Auch wenn Art. 3 I nicht nur die Rechtsanwendungsgleichheit, sondern auch die Rechtsetzungsgleichheit gebietet, wie die ganz herrschende Meinung annimmt, so gewährt er doch immer nur Rechtsgleichheit - Chancengleichheit also nur, soweit es sich um rechtliche Möglichkeiten handelt. Nicht anders liegt es bei Art. 121. Jeder Deutsche hat die gleiche Rechtsfreiheit zur Wahl und Ausübung eines Berufs nach Maßgabe der allgemeinen, d. h. für alle gleichen Gesetze. Art. 12 I gibt dem Deutschen keinen Anspruch auf einen Beruf, auf einen Arbeitsplatz und auf eine Ausbildungsstätte, sondern nur das Recht zur Wahl eines ihm tatsächlich offenstehenden Berufs, eines ihm angebotenen Arbeitsplatzes oder einer vorhandenen Ausbildungsstätte. Art. 12 I gewährt, wie die meisten klassischen Grundrechte, ein bloßes Darfrecht, kein Kannrecht und kein Anspruchsrecht. Wer kein Kapital und keinen Kredit hat, (darf zwar, aber) kann nicht Bankier werden und keinen sonstigen Kapital erfordernden Beruf wählen - daran ändert Art 12 I gar nichts. Er sagt nur: wer kann, der darf! Wer die persönlichen und sachlichen Voraussetzungen für die Ausübung eines Berufs mitbringt, den hindert der Staat nicht an der Wahl und Ausübung dieses Berufs - das ist der Inhalt der Berufsfreiheit. Das Grundrecht des Art. 12 I ist ein Freiheitsgrundrecht des status negativus, kein Leistungsgrundrecht und kein Sozialgrundrecht des status positivus. Damit ist nichts darüber gesagt, ob und wieweit der Staat nach anderen Verfassungs normen und -grundsätzen, zum Beispiel auf Grund der Sozialstaatsklausel, verpflichtet ist, die tatsächlichen, insbesondere die wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen effektiven Gebrauch oder "Genuß" der Freiheitsgrundrechte zu schaffen 46 • Wenn aber Art. 12 I die Berufsfreiheit ohne Rücksicht auf die größeren oder geringeren Chancen dem Bewerber und Ausüber gewährt, dem So für Art. 3 BVerwGE 17, 311/312. Vgl. dazu meinen Vortrag "Freiheit unter dem Gesetz" in Freiheit als Problem der Wissenschaft (1962) S. 63 ff.; Hesse, Verfassungs recht S. 84, 85, 115. Weitergehend: Stern-Püttner a.a.O. S. 136; Rupp AöR 92 (1967) S. 230 f. 45

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Starken also die gleiche Freiheit wie dem Schwachen, dann ist die angeblich größere Wirtschafts- oder Finanzkraft der öffentlichen Hand kein Grund, ihr den Genuß der Gewerbefreiheit und den Zugang zum Markt als Unternehmer zu versagen. c) Damit soll nicht geleugnet werden, daß die erwerbswirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand im Einzelfall oder in bestimmten Bereichen zur Verdrängung privater Unternehmen führen kann. Aber das gleiche Problem besteht auch innerhalb der privaten Unternehmerschaft, wo nicht nur Stärkere mit Schwächeren, sondern auch sehr Mächtige mit sehr Schwachen konkurrieren und diese oft zum Ausscheiden aus dem Beruf oder Gewerbe nötigen. Damit befaßt sich die Wettbewerbsgesetzgebung einschließlich der Kartell- und Monopolbekämpfung. Den darin enthaltenen Beschränkungen der Gewerbefreiheit ist die erwerbswirtschaftende öffentliche Hand ebenso unterworfen wie der private Unternehmer 47 • Das stellt das Gesetz über Wettbewerbsbeschränkungen in seinem § 98 I ausdrücklich klar: "Dieses Gesetz", und damit auch dessen dritter Abschnitt über "marktbeherrschende Unternehmen", "findet auch Anwendung auf Unternehmen, die ganz oder teilweise im Eigentum der öffentlichen Hand stehen oder die von ihr verwaltet oder betrieben werden 48 ." Das trifft auf die übrigen Regelungen des Wettbewerbs, insbesondere auf das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, aber nicht weniger ZU49 , auch wenn es nicht ausdrücklich bestimmt ist. 2. Die Gewerbefreiheit der öffentlichen Hand erfährt über diese und viele andere - Schranken des Gemeinrechts hinaus noch eine spezifische Begrenzung, die sich daraus ergibt, daß der Unternehmer eine juristische Person des öffentlichen Rechts ist. Solche Personen sind nicht nur in ihrer Eigenschaft als Hoheitsträger, sondern auch als Fiskus an Kompetenzen gebunden. Sie müssen sich daher auch bei und mit ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit im Rahmen ihrer Zuständigkeiten halten. a) Diese Grenze ist vor allem für die juristischen Personen bedeutsam, die nicht Gebietskörperschaften sind. Sie werden in aller Regel durch Gesetz oder Satzung zu einem bestimmten und begrenzten Zweck geschaffen und vom Gesetz mit bestimmten und begrenzten öffentlichen Aufgaben betraut. Aus dieser Zweck- und Funktionsbestimmung, die BGHZ 36, 102. Die in dieser Bestimmung vorbehaltenen Ausnahmen der §§ 99-103 GWB beziehen und beschränken sich nur zum Teil auf öffentliche Unternehmungen; zum größeren Teil betreffen die §§ 99-103 mit ihrer totalen oder partiellen Befreiung vom GWB bestimmte Wirtschaftsbereiche ohne Rücksicht auf die Person und die Organisationsform der Unternehmen. 49 So für das UWG Reimer, Wettbewerbs- und Warenzeichenrecht (3. Aufl. 1954) S. 902; Baumbach-Hefermehl, Wettbewerbs- und Warenzeichenrecht Bd. I (9. Aufl. 1964) 1. Allg. Rdnr. 150; Schricker a.a.O. S. 102; Tetzner, UWG (2. Auf!. 1957) S. 81, 84. 47 48

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durch die Satzung konkretisiert sein mag, dürfte sich in der Regel mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen lassen, ob und inwieweit sich die betreffende Rechtsperson unternehmerisch betätigen darf. Insoweit steht also die Unternehmertätigkeit der öffentlichen Hände, die nicht Gebietskörperschaften sind, unter dem Vorbehalt des Gesetzes und der Satzung, wobei die Satzung gesetzlich gedeckt sein muß. b) Bei den Gebietskörperschaften lassen sich auf diese Weise zwar keine fachlichen, wohl aber regionale Begrenzungen gewinnen. Da ihre "Allzuständigkeit" auf ihr Gebiet beschränkt ist - die Allzuständigkeit der Gemeinden nach Art. 28 II 1 GG auf die "Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft" - so dürfen sie sich nicht außerhalb ihres Gebietes unternehmeriseh betätigen. Ob das die von der Gebietskörperschaft betriebenen oder beherrschten Unternehmen hindert, über die Grenzen der Gebietskörperschaft zu "exportieren" oder umgekehrt die Beteiligung der Gebietskörperschaft an solchen überregional arbeitenden Unternehmen verbietet, oder ob der regionalen Zuständigkeitsbeschränkung schon dadurch genügt wird, daß das Unternehmen seinen Sitz und (oder) seinen unternehmerischen Schwerpunkt in der betreffenden Gebietskörperschaft hat, bleibe dahingestellt. e) Darüber hinaus läßt sich erwägen, ob nicht alle - oder doch die allermeisten - juristischen Personen des öffentlichen Rechts unter dem immanenten Gebot der Gemeinnützigkeit stehen, wenn man diesen Begriff nicht im engeren und technischen Sinne des Steuerrechts versteht, sondern als Nützlichkeit für die Allgemeinheit, als Ausrichtung auf das Gemeinwohl50 . Der Öffentlichkeits-Bezug der "öffentlichen Hand" könnte auch bei ihrem fiskalischen Verhalten relevant werden und ihre Kompetenz zu wirtschaftlicher Betätigung begrenzen. Versteht man in diesem Sinne die Bestimmung der Gemeindeordnungen, daß die Gemeinden "wirtschaftliche Unternehmen nur errichten, übernehmen oder wesentlich erweitern dürfen, wenn der öffentliche Zweck das Unternehmen rechtfertigt", und daß "die wirtschaftlichen Unternehmen so zu führen sind, daß der öffentliche Zweck erfüllt wird"51, so kollidieren diese Beschränkungen der kommunalen Unternehmerschaft nicht mit unserer ersten Hauptthese, daß die öffentliche Hand grundsätzlich die gleiche Gewerbefreiheit wie die private Hand genießt und darin nur nach den strengen Grundsätzen des Apothekenurteils beschränkt werden kann. Grundrechtlich lassen sich die zitierten Beschränkungen" wirtschaftlicher 50 Daß Gemeinnützlichkeit und Erwerbswirtschaftlichkeit sich nicht ausschließen, siehe oben in und bei Anm. 41. 51 Gemeindeordnung BaWü § 85 I Nr. 1; Bayern Art. 75 Abs. I Nr. 1; Hessen § 98 I; Niedersachsen § 89 I Nr. 1; Nordrhein-Westfalen § 69 I Nr. 1; RheinlandPfalz § 80 I Nr. 1; Schleswig-Holstein § 82 I a; Saarland § 83 I Nr. 1.

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Betätigung der Gemeinden"52 nicht rechtfertigen, wohl aber organisations- oder kompetenzrechtlich. Die kompetenziellen Schranken sind aber bei allen Freiheitsgrundrechten juristischer Personen des öffentlichen Rechts stets zu beachten. Die grundrechtlichen Freiheiten erweitern den Kompetenzrahmen nicht, sondern umgekehrt begrenzt dieser Rahmen den Raum, in dem die betreffende öffentliche Rechtsperson das Grundrecht in Anspruch nehmen darf. Eine Kompetenzüberschreitung kann nicht durch Berufung auf ein Grundrecht gerechfertigt werden. 3. Einige Gemeindeordnungen53 verlangen zusätzlich, daß der das kommunale Wirtschaftsunternehmen rechtfertigende (öffentliche) Zweck nicht durch einen anderen Unternehmer ebenso gut oder besser erreicht werden kann, wobei auch und vor allem an andere Privat-Unternehmer gedacht ist. Diese Beschränkung ist nur dann mit Art. 12 I GG vereinbar, wenn man das Subsidiaritätsprinzip, das diesen Bestimmungen offenbar zugrunde liegt, für einen von positiver Normierung und Konkretisierung unabhängigen Rechtsgrundsatz unseres geltenden Bundesverfassungsrechts hält. Tut man das mit der wohl herrschenden Lehre54, zu der auch ich mich bekenne, nicht, dann verstoßen diese landes rechtlichen Bestimmungen gegen die auch den Gemeinden zukommende bundesverfassungsrechtliche Gewerbefreiheit; denn sie normieren eine Art von Bedürfnisprüfung, die den strengen Anforderungen des Apothekenurteils an objektive Zulassungsbedingungen nicht standhält. Daß sie nicht "zum Schutz überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter" "unerläßlich" ist, ergibt sich schon daraus, daß einige Länder in ihrer Gemeindeordnung auf solche Bedürfnisprüfung in Gestalt einer Subsidiaritätsklausel verzichtet haben. Ergebnis: Betätigt sich eine juristische Person des öffentlichen Rechts innerhalb ihrer Zuständigkeit in privatrechtlichen Formen als Unternehmer, so genießt sie die Gewerbefreiheit des Art. 12 I GG.

52 So die überschrift des Abschnitts, den die in Anm. 51 zitierten Vorschriften einleiten. 53 Gemeindeordnung Bayern Art. 75 I Nr. 3; Niedersachsen § 89 I Nr. 3; Nordrhein-Westfalen § 69 I Nr. 1; Rheinland-Pfalz § 80 I Nr. 3; Saarland § 83 I Nr. 3. 54 Roman Herzog, Der Staat 1963 S. 399 [412-418]; Evangelisches Staatslexikon (1966) Stichwort "Subsidiaritätsprinzip" Sp. 2264 [2267-2271]; Rendtorff, Der Staat 1962 S. 405 [428]; Zeidler VVDStRL 19, 214; Lerche, Verfassungsfragen um Sozialhilfe und Jugendwohlfahrt (1963) S. 26; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre (1964) S. 772-775; Scheuner, Archiv für Kommunalwissenschaften 1962 S. 149 [159]; Hamann, Das Grundgesetz (2. Aufl. 1960) Einführung I DIS. 28; Stern, Archiv für Kommunalwissenschaften 1964 S. 81 [93].

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Zum relativen Verbot der Verfügung über Forderungen Die Rechtsfigur des Veräußerungsverbots mit der relativen Wirkung nach den §§ 135, 136 BGB erfreut sich keiner Beliebtheit bei den Theoretikern. Es fällt schwer, ein solches Phänomen in das System des Privatrechts einzuordnen. Raape 1 versuchte es mit Wirkung und Gegenwirkung, Knoke 2 entwickelte Zustimmungspflichten des Erwerbers gegenüber dem Verbotsgeschützten, Oertmann 3 half mit der Fortdauer einer Haftung zugunsten des Geschützten. Keine dieser Ansichten hat sich durchgesetzt. Ich habe mir deshalb eine bescheidenere Aufgabe vorgenommen, nämlich die Bestimmung der relativen Wirkungen, welche sich im einzelnen aus den Vorschriften ergeben. Aber auch dieses Problemgebiet erscheint mir noch zu umfangreich. Die Normen des Allgemeinen Teils beanspruchen zwar Geltung für alle die verschiedenartigen Rechtsverhältnisse, die von ihren abstrakten Tatbeständen erfaßt werden. Aber schon öfter hat sich herausgestellt, daß die Eigenart der konkreteren Verhältnisse eine sachgebotene Einschränkung der allgemeinen Regeln erzwingen kann. Diese Erkenntnis hat ihren Wert auch für die Geltung der §§ 135, 136, und zwar auf dem Gebiet der Schuldverhältnisse. Ich beschränke meine Untersuchung darum auf die Verfügung über Forderungen. Zunächst einige allgemeine Vorbemerkungen zum relativen Verbot. Das Gesetz bestimmt in § 135 I 1: "Verstößt die Verfügung über einen Gegenstand gegen ein gesetzliches Veräußerungsverbot, das nur den Schutz bestimmter Personen bezweckt, so ist sie nur diesen Personen gegenüber unwirksam"; der rechtsgeschäftlichen Verfügung steht die Verfügung durch Zwangsvollstreckung und Arrest gleich, § 135 I 2. Die Regeln über den Erwerb vom Nichtberechtigten sind entsprechend anwendbar, § 135 11. § 136 erstreckt die Vorschrift auf entsprechende Veräußerungsverbote von Gerichten und Behörden. Ergänzend gewährt § 772 ZPO dem geschützten Dritten die Widerspruchsklage gegen die 1 Leo Raape, Das gesetzliche Veräußerungsverbot des Bürgerlichen Gesetzbuchs (1908), S. 49 ff. 2 Paul Knoke, Zur Lehre vom relativen Veräußerungsverbot, Festgabe Güterbock (1910), S. 404 ff. (418). 3 Paul Oertmann, Das Problem der relativen Rechtszuständigkeit, Iher. Jb.

66, (1916) S. 130 ff. (264 ff.).

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Vollstreckung. Im Konkurs des Verbotsgegners ist das Verbot dagegen unwirksam, § 13 KO. Was sich der Gesetzgeber unter der relativen Wirkung vorstellte, kann man aus den Materialien ersehen: "Das Verfügungsgeschäft geht seinen Weg, soweit es mit dem Rechte des Geschützten nicht in Widerspruch tritt, ist diesem gegenüber aber, soweit ein Widerspruch vorliegt, unwirksam4 ." Dem Wortlaut des Gesetzes entspricht die heute vertretene Auffassung, daß die Relativierung personell zu verstehen sei: Die verbotswidrige Verfügung ist "dem Geschützten gegenüber unwirksam, als wäre sie nichtig", im übrigen aber "voll wirksam"5. "Der Erwerber wird gegenüber jedermann Rechtsinhaber, nur für den Verbotsgeschützten ist es noch der Veräußerer 6 ." Indessen versteht sich die Relativität des Verfügungsverbots zugunsten einer Person keineswegs von selbst. Das Gesetz hat auch absolut wirkende Verfügungsbeschränkungen zugunsten einer bestimmten Person geschaffen, und zwar dadurch, daß es die Verfügung von der Zustimmung eines anderen abhängig macht. Hierher gehören u. a. die Zustimmung eines Ehegatten zur Verfügung des anderen über sein eigenes Vermögen oder über den ihm gehörigen Hausrat, §§ 1365, 1369, und die Zustimmung7 des Nacherben zur Verfügung des Vorerben über Grundstücksrechte, § 2113. Verfügungsverbot und Zustimmungsbedürftigkeit zugunsten eines Dritten stimmen darin überein, daß die Verfügung durch Zustimmung des Geschützten wirksam wird 8 • Sie unterscheiden sich darin, daß der absolute Schutz weiter reicht: Die zustimmungsbedürftige Verfügung ist bis zur Genehmigung schwebend, bei deren Verweigerung endgültig unwirksam, während das Verfügungsverbot die Wirkung der Verfügung auch bei verweigerter Genehmigung wenigstens "im übrigen" unberührt läßt. Daß hiernach der Schutz des Dritten gegen Verfügungen auf zwei Wegen erreicht werden kann und tatsächlich erreicht wurde, ist den Vätern Mot. I, 212. RGRKomm.H, 1 zu § 135 BGB; ebenso Staudinger-Coing 11 (1957),2 zu § 135 BGB. 8 Soergel-Siebert (Hefermehl), 1 zu §§ 135/136. 7 Daß es sich hier um einen Zustimmungstatbestand handelt, betont W. Thiele, Die Zustimmungen in der Lehre vom Rechtsgeschäft (1966), S. 143/4. 8 Mot. I, 212 (zu § 135): "Die Unwirksamkeit fällt dabei selbstverständlich fort, wenn der Geschützte in das Geschäft einwilligt oder dasselbe nachträglich genehmigt." In diesem Sinne auch RG 148, 105 (113); Staudinger-Coing, 5 zu § 135. A. A. RGRKomm., 2 zu § 135; Thiele, S. 238, es handle sich um einen bloßen "Verzicht" des Geschützten, der nur ex nune wirkte. Ein sachlicher Grund hierfür ist nicht ersichtlich, zumal beim Verbot der Verfügung über Forderungen relative Wirkungen, wie der RGRKomm. voraussetzt, nicht bestehen (unten S. 29 ff.). 4

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des Gesetzbuchs nicht bewußt geworden. Denn in den Motiven9 heißt es sehr grundsätzlich: "Die Wirksamkeit eines Verfügungsverbots gestaltet sich verschieden je nach dem Zwecke, welchem dasselbe dient. Der Zweck ist entweder Schutz der Interessen Aller oder Schutz der Interessen Einzelner", und danach wird den Verfügungsverboten "im öffentlichen Interesse" absolute Unwirksamkeit, den Verfügungsverboten zugunsten "Einzelner" relative Unwirksamkeit beigelegt. Gleichwohl, die Unterscheidung beider Rechtsfiguren erscheint einfach. Einmal nach dem Tatbestand: Das "Verbot" der Verfügung gehört zu den §§ 135, 136, das Erfordernis einer " Zustimmung " zu den absolut geltenden Voraussetzungen der Verfügungen. Und daran müßte sich jeweils der relative oder der absolute Schutz des Dritten knüpfen. Leider geht die Rechnung nicht auf, wie im folgenden zu zeigen ist. Der Gang der Untersuchung wird durch die Schwierigkeiten bestimmt, welche das Gesetz selbst verursacht: Sedes materiae ist § 135 mit der Regelung des gesetzlichen Verfügungsverbots. Aber an keiner Stelle hat das Bürgerliche Gesetzbuch ein solches "Verbot" ausdrücklich ausgesprochen, und in der herrschenden modernen Lehre ist man sich darüber einig, daß auch keines in seinem Bereich zu finden istl°; nur im Versicherungsrecht sollen Verbotsnormen dieser Art bestehen. Von sicherem Boden kann man dagegen bei den richterlichen Verfügungsverboten ausgehen. Sie gehören tatbestandsmäßig stets zu § 136, und bei ihnen läßt sich auch ein Grund für die gesetzlich vorgesehene relative Wirkung feststellen. Sie sollen deshalb vorangestellt werden. A. Das richterliche Veräußerungsverbot Unter den richterlichen Veräußerungsverboten l l haben die Verbote durch einstweilige Verfügung exemplarische Bedeutung; es genügt, die Wirkung dieser Verbote darzustellen. Einstweilige Verfügungen sichern eine Prozeßpartei gegen die Gefahr, "daß durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechtes vereitelt oder wesentlich erschwert wird", § 935 ZPO. Wer den Anspruch auf übereignung einer gekauften Sache gegen den Verkäufer einklagt, läuft Gefahr, daß der Verkäufer die Sache anderweit veräußert und damit die Erzwingung des eingeklagten Anspruchs vereitelt. Deshalb kann er eine einstweilige Verfügung erreichen, die dem Verkäufer die Ver äußerung verbietet, und zwar auch bei Liegenschaften, § 888 III12. Mot. a.a.O. Vgl. Staudinger-Coing, 16 zu § 135 BGB; dahingestellt: BGH 13, 179 (184), s. auch BGH 40, 156 (160). 11 Eine Aufzählung gibt der RGRKomm., 2 zu § 136 BGB. 12 Ein instruktives Beispiel: RG 135, 378. U

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Möglich wäre ein Veräußerungsverbot durch einstweilige Verfügung auch, wenn sich die Parteien um das Eigentum an einer Sache streiten, und das geschieht häufig im Liegenschaftsprozeß, wo die einstweilige Verfügung den Eintrag eines Widerspruchs nach § 899 herbeiführt. Im Fahrnisstreit hilft aber schon das Prozeßrecht, da bei einer Veräußerung durch den Beklagten nach Rechtshängigkeit das Urteil zugunsten des Klägers gegen den Erwerber Rechtskraft wirkt, § 325 ZPO, und eine einstweilige Verfügung keine darüber hinausgehende Wirkung hätte. Diese Verfügungsverbote sichern keine feststehende, sondern eine streitige Rechtslage. Die einstweilige Verfügung büßt ihre Wirkung ein, wenn der von ihr Geschützte den Prozeß verliert. Hierin mag auch ein berechtigter Grund für die Relativität ihrer Wirkung liegen: Eine verbotswidrige Verfügung braucht nicht absolut unwirksam zu sein, so daß sich jeder Dritte auf die Unwirksamkeit berufen könnte. Es muß genügen, daß die geschützte Partei den Erwerb nicht gelten zu lassen braucht, daß also die Wirkungen nur "soweit die durch das Verbot geschützten Interessen in Betracht kommen, als nicht eingetreten betrachtet werden"13. Das Verbot zur Sicherung einer umstrittenen Rechtslage sollte nicht ohne Not die Rechtsbeziehungen des Erwerbers zu anderen Personen beeinflussen. Solche vom Interesse des Geschützten nicht betroffenen Beziehungen bestehen tatsächlich im Gebiete des Sachenrechts: Wer verbotswidrig das Sacheigentum erwirbt, bleibt gegenüber der vom Verbot geschützten Partei Nichtberechtigter. Er hat aber die Rechte aus dem erworbenen Eigentum gegen andere, die in das Eigentum eingreifen. Das gilt für bewegliche wie unbewegliche Sachen: Der Herausgabeklage des Erwerbers nach § 985 kann der Beklagte nicht entgegenhalten, jenem fehle infolge der Verbotswidrigkeit des Erwerbes die Aktivlegitimation. Ebensowenig kann der Einwand gegenüber der Klage auf Beseitigung oder Unterlassung von Eingriffen nach § 1004 erhoben werden. Diese Relativität der Verbotswirkung ist auch sachgerecht. Die geschützte Partei hat kein Interesse daran, daß gerade der Veräußerer mit dem Dritten prozessiert; der Ausgang ihres eigenen Prozesses wird hiervon nicht betroffen. Und ebensowenig hat der Veräußerer oder der Dritte hieran ein Interesse. Anders steht es mit der relativen Wirkung im Gebiet der Schuldverhältnisse. Richterliche Verfügungsverbote durch einstweilige Verfügung sind hier selten. Die einstweilige Verfügung setzt ja voraus, daß gerade das Interesse an einer bestimmten Forderung geschützt werden soll. Immerhin ist ein Vertrag denkbar, nach dem eine Sache gegen eine Geldforderung getauscht werden soll, an welcher der Sacheigentümer zu Aufrechnungs zwecken Interesse hat. Eher vorstellbar wäre ein Verfügungs13

EnneCCCTUs-Nipperdey, Allgemeiner Teil I 2 (1960), § 144 II 1 und Anm. 18.

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verbot bei Sachforderungen. Die einstweilige Verfügung könnte etwa die Abtretung der Forderung des Einkaufskommissionärs gegen den Verkäufer einer Sache verbieten, wenn sich Kommittent und Kommissionär darüber streiten, ob der Einkauf der Ausführung des Kommissionsgeschäfts diente, und der Kommittent befürchtet, der Kommissionär könne inzwischen den Lieferanspruch anderweit abtreten. I. Materiellrechtliche Wirkungen

Für die richterlichen Verbote, über eine Forderung zu verfügen, stelle ich die These auf: Die Wirkungen dieses Abtretungsverbots beschränken sich nicht auf die Person des Verbotsgeschützten, sondern sind von der Wirkung einer Zustimmungsbedürftigkeit der Abtretung nicht zu unterscheiden. Eine relative Wirkung des Verfügungsverbots müßte bedeuten, daß der Zessionar gegenüber allen außer der geschützten Partei zum Gläubiger wird und daß die verbotswidrige Einziehung oder der verbotswidrige Erlaß den Schuldner gegenüber allen außer der geschützten Partei befreit. Ich halte diesen Gedanken für unvollziehbar: 1. Die Rechtsstellung des Zessionars gegenüber Dritten läßt sich nicht der Rechtsstellung des Sacherwerbers gleichstellen. Denn die Ansprüche nach § 985 und § 1004 haben kein Gegenstück im Recht der Forderungen. Allenfalls ließe sich daran denken, daß ein Dritter sich der Forderung gegenüber dem Zessionar berühmt und dieser gegen ihn die negative Feststellungsklage erhebt, um diese "Beeinträchtigung" abzuwehren, § 256 ZPO. Aber eine solche Klage wäre ihm auch zu gewähren, wenn sein Erwerb von der Zustimmung eines Dritten abhängt. Ein Beispiel bietet die Abtretung einer Hypothekenforderung durch den Vorerben; sie ist ohne Zustimmung des Nacherben bei Eintritt des Nacherbfalls unwirksam, § 2113 I. Gleichwohl muß der Zessionar berechtigt sein, vor Eintritt des Nacherbfalls gegen einen Prätendenten der Forderung die negative Feststellungsklage zu erheben.

Eine relative Wirkung wäre insoweit zu überlegen, als der Zessionar der Forderung trotz des Veräußerungsverbots wenigstens gegenüber dem Schuldner Gläubiger sein könnte. Das müßte sich bei Einziehung, Stundung oder Erlaß der Forderung zeigen. Diese Verfügungen fallen ebenfalls unter das Veräußerungsverbot1 4 • Da sie also bereits dem Zedenten verboten sind, genügt es, die Frage für ihn zu prüfen. 2. Die Einziehung der Forderung durch den Gläubiger ist dem Verbotsgeschützten gegenüber bestimmt unwirksam. Dieser kann, wenn er im Hauptprozeß gewinnt, die Forderung so in Anspruch nehmen, als wenn 14 Flume, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts II (1965), S. 351 mit Mot. I, 213; früher schon Raape, S. 63; Knoke, S. 439; Oertmann, 3 zu § 135 BGB.

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sie noch bestünde, der Schuldner kann ihm das Erlöschen nicht entgegenhalten. Hier kollidiert das Interesse des Geschützten eindeutig mit der verbotenen Verfügung. Gleichwohl, wenn die Verfügung nur dem Geschützten gegenüber unwirksam ist, könnte sie nicht dem Schuldner gegenüber wirksam sein? Dann wäre dieser dem Verbotsgegner gegenüber befreit, dem Verbotsgeschützten gegenüber verpflichtet. Dieses Ergebnis ist ganz unhaltbar, und zwar auch, soweit es sich um die Befreiung des Schuldners gegenüber dem Verbotsgegner handelt; sie würde bedeuten, daß der Schuldner cum causa gezahlt hätte und seine Leistung nicht kondizieren könnte, wenn er später nochmals zahlen muß. Aber schon die Gefahr der doppelten Zahlung ist dem Schuldner nicht zuzumuten. Hellwig kam deshalb zu einem Leistungsverweigerungsrecht, solange das Verfügungsverbot besteht1 5 • Oertmann sprach dem Verbotsbetroffenen das Einziehungsrecht schlechthin ab t6 ; zur Einziehung wäre er mit Zustimmung des Geschützten oder nach Fortfall des Verbots berechtigt. Ich halte diese Auffassung für zutreffend: Die Unterscheidung nach § 135 zwischen dem Verbotsgeschützten, demgegenüber die verbotene Verfügung unwirksam ist, und "allen anderen", die sie als wirksam hinzunehmen haben, kann sich nicht auf das "Innenverhältsnis" von Gläubiger und Schuldner beziehen. Denn die Verfügungsbeschränkung wirkt, was bisher nicht genügend beachtet wurde, unmittelbar auf das Schuldverhältnis ein. Das ist näher auszuführen: a) Die hier interessierenden Schuldverhältnisse sind meist so angelegt, daß der Gläubiger durch Empjangnahme des geschuldeten Gegenstandes das Schuldverhältnis nach § 362 zum Erlöschen bringt. Zweifellos ist dazu seine Verfügungsberechtigung vonnöten, aber nicht deshalb, weil er Gläubiger ist, sondern wegen dieser Wirkung der Empfangnahrne: Der Gläubiger ist nach dem Inhalt des Schuldverhältnisses zugleich der sog. Leistungsempjängert7 • Um seine Empjangszuständigkeit t8 geht es, wenn er in der Verfügung beschränkt ist. Denn der Schuldner ist nur zu einer Leistung verpflichtet, welche zur Erfüllung führt, und hierzu genügt die Empfangnahme durch den Gläubiger eben nicht, wenn dieser - sei es auch nur relativ - verfügungs beschränkt ist. Die Empfangszuständigkeit setzt die volle Verfügungsbefugnis voraus. Fällt sie durch eine nachträgliche Verfügungsbeschränkung fort, so muß sich auch die Erbringung der Leistung ändern; es ist nach dem Schuldinhalt zu ermitteln, wer als Empfangszuständiger an die Stelle des Gläubigers getreten ist. 15 Hellwig, Anspruch und Klagerecht (1900), S. 214 mit N. 12; ebenso Knoke, S. 440/1; v. Thur, III, 17. 16 Oertmann, S. 274. 17 Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht3, § 38 I 2 a. 18 Die Bezeichnung geht zurück auf Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts (1964), § 26 I 3; vgl. Blomeyer, § 38 II 1 c.

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Zur Empfangnahme mit Verfügungswirkung sind berechtigt der Gläubiger mit Zustimmung des Verbotsgeschützten, der Verbotsgeschützte auf Anweisung des Gläubigers und beide gemeinschaftlich. Eine Regel darüber, wer die Leistung vom Schuldner verlangen kann, wenn der Gläubiger oder wenn der Verbotsgeschützte nicht zur Zustimmung oder Empfangnahme bereit ist, fehlt im Gesetz. Sicherlich kann der Gläubiger die Leistung verlangen, aber nicht an sich selbst, und sicherlich kann der Verbotsgeschützte die Leistung nicht verlangen. Die Frage beschränkt sich also auf den Inhalt dessen, was der Gläubiger verlangen kann. Ein Anhaltspunkt zur Beantwortung findet sich in den gleichartigen Vorschriften über mehrere Gläubiger einer unteilbaren Leistung, § 432, über die Kapitalrückzahlung bei Zinsnießbrauch, § 1077, und über die Leistung bei verpfändeter Forderung, § 12811 9 : In diesen Fällen kann jeder der Berechtigten verlangen, daß der Schuldner an alle gemeinschaftlich leistet oder die geschuldete Sache für alle hinterlegt oder, wenn sie sich nicht zur Hinterlegung eignet, an einen gerichtlich zu bestellenden Verwahrer abliefert. Diese für mehrere (einander hemmende) Berechtigte geltenden Regeln sind der entsprechenden Anwendung auf den verbotsbelasteten Gläubiger (nicht den Verbotsgeschützten!) fähig. Man wird dem Gläubiger, der die Leistung nicht an sich und den Verbotsgeschützten gemeinsam verlangen will, den Anspruch auf Hinterlegung für beide (oder Ablieferung an den Sequester) gewähren müssen. Damit entfällt eine bloß relative Wirkung des Verfügungsverbots gegenüber dem Schuldner. b) Die Lage ist komplizierter, wenn ein Dritter zum Empfang der Leistung bestimmt ist, etwa wenn der Einkaufskommissionär noch vor der einstweiligen Verfügung mit dem Verkäufer die übereignung der Sache an einen anderen Kunden vereinbart hatte. Dann besteht die geschuldete Leistung in der übereignung an den Dritten, und diese Leistung kann der Schuldner ohne Mitwirkung des Gläubigers erbringen. Kommt es nun für die Wirkung des Verfügungsverbots gerade auf die Empfangszuständigkeit des Gläubigers an, so könnte das Verbot den Schuldner nicht an einer Erfüllung hindern, die ohne Zutun des Gläubigers geschieht. Dieses Ergebnis ist sicher gerechtfertigt, wenn die Vereinbarung als Vertrag zugunsten des Dritten auszulegen ist, § 328; das Recht des Dritten wird durch ein späteres Verfügungsverbot nicht beeinträchtigt. Ist der Dritte nur empfangsberechtigt, so wäre es immerhin möglich, daß der Schuldner ein Recht darauf hat, gerade ihm gegenüber die Leistungshandlung vorzunehmen 20 ; auch dann könnte das Verfügungsverbot die 18 Ebenso die Leistung an Miterben, § 2039, und die Tilgung der Hypothekenforderung bei bestehender Vorerbschaft, § 2114. 2Q Vgl. EnnecceTus-Lehmann, Schuldrecht, § 60 II 2.

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schuldtilgende Wirkung seiner Leistung nicht hindern 21 • Normalerweise bedeutet die Bestimmung eines Empfangsberechtigten im Schuldvertrag aber keines von beiden. Der Dritte wird die Leistung entweder als Vertreter des Gläubigers oder als ein von ihm Ermächtigter in Empfang nehmen22 • Und hier kommt es zu einem unausweichlichen Widerspruch: Einerseits umfaßt der Inhalt der Schuldverpflichtung auch die Leistungshandlung gegenüber dem Dritten, so daß eine Annahme des Gläubigers zum Zwecke der Erfüllung völlig ausscheidet. Andererseits geht die Stellung des Dritten auf die allein vom Gläubiger herbeigeführte Vertragsgestaltung zurück, mit welcher dieser eine eigene Zuwendung an den Dritten vorbereitet. Die Auflösung des Widerspruchs ergibt sich aus der Unterscheidung von "Inhalt" und "Art und Weise" (Modalität) der Leistung. Diese Unterscheidung hat zwar keine Bedeutung für die Verpflichtung des Schuldners; er hat die Leistung nach ihrem Inhalt wie in der vorgesehenen Art und Weise zu erbringen. Aber der Gläubiger kann über Modalitäten der Leistung frei bestimmen, soweit er den Schuldner nicht stärker belastet23 • Zu den Modalitäten gehört auch die Person des Empfangsberechtigten. Es liegt deshalb nahe, das Verfügungsverbot so weit wirken zu lassen, als die Leistungshandlung in ihren Modalitäten vom freien Belieben des Gläubigers abhängt. Diese Annahme wird bestätigt, wenn man auf die schuldtilgende Wirkung achtet, welche der Empfang der Leistung durch den Dritten herbeiführt. Mit der Erfüllung der Schuld geht die Forderung unter, und dieser Untergang bedeutet jedenfalls dann eine Verfügung über die Forderung, wenn er durch Leistungsempfang bewirkt wird 24 • Leistungsempfänger ist der Dritte hier, weil ihn der Gläubiger im Vertrage benannte; daß er mit dem Empfang über die Forderung verfügen kann, geht allein auf die Bestimmung des Gläubigers zurück. Diese läßt sich als Vollmacht (§ 164) oder als Einwilligung (§ 183) verstehen. Dann kommt es aber darauf an, ob Vollmacht oder Einwilligung ihre Wirkung noch bei Vornahme der Verfügung äußern können, wenn inzwischen die Verfügungsrnacht des Gläubigers eingeschränkt wurde. Das Gesetz entscheidet die Frage nicht ausdrücklich. Die §§ 168, 2 und 183,1 sehen im Zweifel ein Widerrufsrecht vor; dies harmoniert mit dem Recht des Gläubigers gegenüber dem Schuldner zur Änderung einer Modalität. Für die Frage der Verfügungsbeschränkungen läßt sich dar21 In diesem Fall fehlt bereits ein Interesse an der Abtretung der Forderung und somit auch an der Sicherung durch einstweilige Verfügung. 22 Vgl. dazu Enneccerus-Lehmann, § 61. 23 Hierauf hat Leonhard, Allgemeines Schuldrecht (1929), mit Recht hingewiesen; vgl. Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht, vor § 5. 24 Gegenbeispiel: Die Erfüllung einer Unterlassungspflicht.

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aus aber kein Schluß ziehen. Dabei interessieren nicht die allgemeinen Beschränkungen in der Person des Gläubigers, wie der Fortfall seiner Geschäftsfähigkeit, sondern die Beschränkungen, welche sich gerade auf das Recht beziehen, über das der Dritte verfügen kann 25 • Solche gegenstandsbezogenen Beschränkungen müssen sich aber auch auf die Wirksamkeit der späteren Verfügung auswirken: Verliert der Einwilligende inzwischen sein Recht oder wird er in der Verfügung über das Recht beschränkt, so entfällt auch die Grundlage für eine wirksame Verfügung durch den Vertreter oder Ermächtigten26 • Damit ergibt sich dieselbe Rechtslage wie bei einer Empfangnahme durch den Gläubiger selbst: Dieser kann die Leistung durch Übereignung an den Dritten nicht mehr vom Schuldner verlangen, weil die Annahme durch den Dritten nicht zur Erfüllung der Schuld führt. Der Anspruch kann sich nur noch auf Hinterlegung zugunsten des Dritten und des Verbotsgeschützten richten. Gewinnt dann der Verbotsgeschützte den Hauptprozeß auf Abtretung der Forderung, so kann er sich selbst als Empfangsberechtigten bestimmen. 3. Den Erlaß der Schuld braucht der Verbotsgeschützte zweifellos nicht gelten zu lassen. Und ebenso zweifellos ist der Erlaß wirksam, wenn das Verbot fortfällt. Aber es bleibt doch die Frage nach dem "Innenverhältnis" des Schuldners zum erlassenden Gläubiger: Besteht hier nicht eine relative Wirkung derart, daß der Schuldner gegenüber dem erlassenden Gläubiger befreit wird? Die Frage wird dann praktisch, wenn der Schuldner dann doch an den Verbotsgeschützten leisten muß; welche Wirkung hat die Leistung in seinem "Innenverhältnis" zum Gläubiger? a) Es kann davon ausgegangen werden, daß Gläubiger und Schuldner die Verfügungsbeschränkung beim Erlaßvertrag kennen27 • Zwar genügt zur Wirksamkeit des Verfügungsverbots die Zustellung der einstweiligen Verfügung an den Gläubiger, §§ 936, 922 II ZPO. Aber der Verbotsgeschützte wird im eigenen Interesse die Verfügung stets auch dem Schuldner zustellen lassen, um ihn in Kenntnis zu setzen. Dann wissen beide Parteien des Erlaßvertrags, daß das Schuldverhältnis nicht nach § 397 "erlischt", wenn der Verbotsgeschützte die Leistung verlangen kann. Ein Erlaß kann also in dieser Lage nicht unbeschränkt vereinbart werden; er wäre, soweit die Verfügungsbeschränkung reicht, nicht nur dem Verbotsgeschützten gegenüber unwirksam, sondern er wäre insoweit überhaupt kein Rechtsgeschäft. Denn ein Rechtsgeschäft liegt dann nicht vor, Diese Unterschiede betont Thiele, S. 300. So schon v. Tuhr, III, 234; Ocrtmann, 1 zu § 183 BGB; Flume, § 57, 2; Thiele a.a.O. Ausnahmen im Liegenschaftsrecht können außer Betracht bleiben. 27 über die Lage bei Unkenntnis des Schuldners s. unten 5. 25

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3 Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch

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wenn sich beide Parteien dessen bewußt sind, daß ihre Abrede keine Rechtswirkung zu erzeugen vermag 28 • Der Erlaß kann deshalb nur für den Fall vereinbart werden, daß der Dritte die Leistung nicht verlangen kann. Eine solche bedingte Vereinbarung dürfte denn auch stets gemeint sein. Die Rechtslage ist im übrigen dieselbe, wenn eine Forderung erlassen wird, bei der die Verfügung zustimmungsbedürftig ist: Die unentgeltliche Verfügung der Vorerben über Nachlaßgegenstände ist im Falle des Eintritts der Nacherbfolge (absolut) unwirksam, § 2113 29 ; der Nacherbe kann ihr aber zustimmen. Erläßt nun der Vorerbe eine Nachlaßforderung, so ist der Erlaß bis zur Genehmigung durch den Nacherben schwebend unwirksam. Wissen die Parteien das, so kann der Erlaß nur unter der Bedingung verstanden werden, daß die Genehmigung erfolgt oder die Erbschaft dem Vorerben verbleibt. b) Eine solche Auslegung genügt für den unentgeltlichen Erlaß. Anders, wenn dem Erlaß eine Gegenleistung gegenübersteht: Bestreitet der Schuldner seine Verpflichtung gegenüber dem Gläubiger, so können sich die Parteien im Vergleichswege auf eine herabgesetzte Schuld einigen; der Gläubiger verzichtet auf einen Teil seiner Forderung. Dieser in Kenntnis des Verfügungsverbots vereinbarte Erlaß hat aber nach dem Vergleichszweck noch eine weitere Bedeutung: Der Gläubiger verpflichtet sich zusätzlich, dafür zu sorgen, daß der Schuldner nicht vom Dritten in Anspruch genommen wird; er ist zur Freistellung des Schuldners verpflichtet. Daraus ergibt sich seine Haftung gegenüber dem Schuldner, wenn dieser dem Dritten doch leisten muß. 4. Eine vom Gläubiger gewährte Stundung ist nach denselben Regeln zu beurteilen. Sie ist wirksam vereinbart, solange nicht der Verbotsgeschützte die Forderung geltend machen kann; nach dem Parteiwillen bedeutet die Einräumung auch nicht mehr. 5. Kennt der Schuldner die Verfügungsbeschränkung nicht, so würde er in entsprechender Anwendung der §§ 135 II, 407 geschützt, wenn er leistet3o • Aber zum gleichen Ergebnis müßte man im Falle der Zustimmungsbedürftigkeit kommen, und dies hat § 2113 III auch zugunsten des Nachlaßschuldners bei bestehender Vorerbschaft bestimmt31 • 28 RG 68, 322 (324/5); 79,303 (305); RGRKomm.H, 1 vor § 116 BGB; Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts l5 (1960), § 14

Anm. 4 a.E. 29 s. oben S. 26. 30 Stuttgart, OLG 16, 303 (zu § 829 ZPO); Soergel-Siebert (Hefermehl), 12 zu §§ 135/136; Staudinger-Coing, 4 zu § 135 mit weiteren Nachweisen. 31 Planck-Flad 5 , 3 zu § 2113 BGB nennt auch § 893.

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11. Wirkungen in Vollstreckung und Konkurs

1. Die Wirkung richterlicher Verfügungsverbote nach den §§ 136, 135 I 1 gegenüber der Zwangsvollstreckung durch Gläubiger des Verbotsgegners ist in § 772 ZPO geregelt: Der Gegenstand "soll" nicht in der Vollstreckung "veräußert oder überwiesen werden"; der vom Verbot Geschützte kann "nach Maßgabe des § 771 ZPO" Widerspruchsklage erheben. Das Ziel der Klage unterscheidet sich von dem der Drittwiderspruchsklage nach § 771 ZPO darin, daß sie nicht die Unzulässigerklärung der gesamten Vollstreckung einschließlich der Pfändung betrifft, sondern nur die der Veräußerung. Die Pfändung bleibt unanfechtbar, bis der Geschützte endgültig ein "die Veräußerung hinderndes Recht" erlangt und auch ihre Unzulässigerklärung nach § 771 ZPO erreichen kann. Hier hat das Gesetz die vollstreckungsrechtliche Konsequenz aus der Unsicherheit der Rechtslage des Geschützten gezogen; die Unsicherheit der materiellen Situation überträgt sich auf die vollstreckungsrechtliche: Die Verstrickung des Pfändungsgegenstandes bleibt bestehen und sichert den Pfändungsgläubiger, die Unzulässigerklärung der Ver äußerung sichert den Verbotsgeschützten. 2. Im Konkurs des Verbotsgegners ist das richterliche Veräußerungsverbot nach § 13 KO gegenüber den Konkursgläubigern unwirksam. Der Konkursverwalter kann hiervon ungehindert die Veräußerung vornehmen; der Schutz durch das Verbot tritt zurück gegenüber dem Prinzip der "Gleichbehandlung aller Gläubiger", wie es lapidar in der Begründung der Konkursnovelle von 1898 heißt32 • Überzeugend wirkt die Begründung freilich nicht, wenn der Verbotsgeschützte in der Zwangsvollstreckung alle anderen Gläubiger abwehren kann. Immerhin sollte wohl der Erwerb eines Rechts auch bei Sicherung nach § 136 nicht mehr im Konkurs erzwungen werden können, und das sogar dann, wenn die Verfügungsbeschränkung zugunsten eines Anspruchs auf Übereignung von Grundstücken im Grundbuch eingetragen war; nur der durch Vormerkung geschützte Anspruch ist ausdrücklich für konkursfest erklärt worden, § 883 II 2. Hat hiernach das richterliche Veräußerungsverbot im Konkurs keine Wirkung, so ist doch darauf zu achten, ob nicht der Anspruch bereits ohne diese Sicherung im Konkurs bevorzugt ist. Um die genannten Beispiele richterlicher Abtretungsverbote aufzunehmen 33 : Der Vertrag auf Austausch von Sachen und Geldforderung fällt, solange er beiderseits unerfüllt ist, unter § 17 KO; der Konkursverwalter kann die Sache nur gegen Abtretung der Forderung verlangen. Und im Kommissionsfall 32

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Begründung zur Konkursnovelle 1898, S. 27. Oben S. 27 f.

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hilft bereits § 392 II HGB, wonach die Forderung im Verhältnis zu den Konkursgläubigern des Kommissionärs als Forderung des Kommittenten gilt, solange dieser zur Aussonderung berechtigt ist.

B. Das gesetzliche Veräußerungsverbot Hat die ad hoc im Prozeß gewährte Sicherung durch richterliches Veräußerungsverbot ihren Grund in einer umstrittenen und deshalb zeitweilig unsicheren Lage, so müßte das in § 135 allgemein geregelte gesetzliche Veräußerungsverbot die Interessen des an einer objektiv unsicheren Rechtslage Beteiligten betreffen. Nun stehen dem Gesetzgeber verschiedene Wege zur Sicherung einer solchen Lage offen: Das Verbot, fremde Gegenstände zu veräußern, braucht nicht ausgesprochen zu werden, sondern ergibt sich daraus, daß die Veräußerungsbefugnis zur Innehabung des Rechts gehört. überall, wo der Veräußerung ein Recht des Geschützten am Gegenstand entgegensteht3 4, erübrigt sich ein Verbot nach § 135. Ferner kann die Veräußerungsbefugnis für eine Rechtsstellung von vornherein ausgeschlossen sein, womit aber nur der Umfang des Rechts näher bestimmt wird 35 • Endlich kann die Veräußerung von der Zustimmung eines Dritten abhängig gemacht werden, ohne daß dieser ein Recht am Gegenstand hätte; solche Verfügungsbeschränkungen ziehen die - schwebende - Unwirksamkeit der zustimmungslosen Verfügung nach sich36 • Von diesen Möglichkeiten hat das Bürgerliche Gesetzbuch so reichlich Gebrauch gemacht, daß nach allgemein geteilter Lehre in seinem Bereich kein Veräußerungsverbot nach § 135 zu finden ist37 • Manche Autoren verneinen die Existenz eines gesetzlichen relativen Veräußerungsverbots sogar schlechthin38 , dagegen rechnet die herrschende Lehre im Versicherungsrecht eine Reihe von Verfügungsbeschränkungen des Versicherungsvertragsgesetzes (unten 1.) und des Versicherungsaufsichtsgesetzes (unten II.) zu den gesetzlichen relativen Verfügungsverboten. 34 Etwa das Recht des Hypothekengläubigers gegen die Einziehung der Versicherungssumme, § 1128 III BGB, vgl. Staudinger-Scherübl ll (1963), 10a zu § 1128 BGB. 35 Etwa der Anteil des Gesellschafters am Gesellschaftsvermögen oder an den dazu gehörigen Gegenständen, § 719 I; vgl. BGH 13,179 (184). 36 s. oben S. 26. 37 Oben S. 27. Vgl. Staudinger-Coing, 16 zu § 135 BGB; dahingestellt: BGH 13, 179 (184), s. auch BGH 40, 156 (160). 38 v. Tuhr, III, 8-11; zuletzt Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II (1965), S. 354 ff.

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I. Versicherungsvertragsrecht

Im Versicherungsvertragsrecht wird das Abtretungsverbot nach den §§ 15, 98 VVG (1.) und das Verfügungsverbot nach § 156 VVG (2.) herangezogen: 1. Bei der Versicherung unpfändbarer Sachen "kann" der Versicherungsnehmer die Forderung gegen die Versicherungsgesellschaft nur an Gläubiger abtreten, "die ihm zum Ersatze der zerstörten oder beschädigten Sachen andere Sachen geliefert haben", § 15 VVG. Ferner beschränkt § 98 VVG bei der Gebäudeversicherung mit Wiederaufbauklausel die Abtretung des Anspruchs auf die Entschädigungssumme; der Versicherungsnehmer "kann" die Forderung vor der Wiederherstellung des Gebäudes nur an folgende Personen abtreten: An den Erwerber des Grundstücks, an Gläubiger, "welche Arbeiten oder Lieferungen zur Wiederherstellung des Gebäudes übernommen und bewirkt haben" (Bauhandwerker und Baulieferanten) oder an Gläubiger, "die bare Vorschüsse zur Wiederherstellung gegeben haben", wenn deren Verwendung zur Wiederherstellung erfolgte. a) Die Wirkung des Abtretungsverbots nach diesen Vorschriften wird verschieden beurteilt. Das Abtretungsverbot nach § 15 VVG sieht man als absolutes Abtretungsverbot an, das aber nicht hinsichtlich des als Zessionar Privilegierten gilt 39 • Anders steht es mit § 98 VVG. Hier hat das Reichsgericht wegen der personellen Beschränkung der Abtretung in einem obiter dictum ein relatives Verfügungsverbot nach § 135 zugunsten der an der Wiederherstellung Beteiligten angenommen 40 : Der Versicherungsnehmer hatte die Forderung an einen Nichtprivilegierten abgetreten und klagte die Versicherungssumme wegen Nichtigkeit der Abtretung später selbst ein; inzwischen war das Gebäude wiederhergestellt. Die Abweisung der Klage beruhte darauf, daß das "Veräußerungsverbot" mit der Wiederherstellung unwirksam geworden war. Aber das Reichsgericht fügt hinzu: Die verbotswidrige Abtretung "ist keineswegs nichtig, sondern nur jenen bestimmten Personen gegenüber unwirksam, anderen Personen gegenüber ist sie dagegen wirksam 41 und muß von ihnen gelten gelassen werden". Das Schrifttum hat sich der Entscheidung angeschlossen42 , aber die Begründung überzeugt nicht, denn wer sollten die Personen sein, die die Abtretung gelten lassen müßten? M. E. bestünden keine Bedenken dagegen, die Abtretung ebenfalls als schwebend unwirksam anzusehen, bis die Wiederherstellung vollendet ist oder die privilegierten Gläubiger anderwärts befriedigt sind. 39 Bruck-Möller 8 (1962), 29 zu § 15 VVG; Prötss, 2 D zu § 15 VVG. Ähnlich § 13 RVO. 40 RG 95, 207 (208 ff.).

Von mir gesperrt. Bruck-Möller a.a.O.; Prötss, 2 zu § 98 VVG; Eichter, Versicherungsrecht (1966), S. 258. Soerget-Siebert (Hefermehl), 4 zu § 135 RGRKomm., 10 zu § 135 BGB. 41

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b) Die vollstreckungsrechtliche Auswirkung der Abtretungsverbote nach den §§ 15, 98 VVG findet sich in den Regeln über die Pfändbarkeit: Nach § 851 I ZPO ist eine Forderung, von Sonderregeln abgesehen, "der Pfändung nur insoweit unterworfen, als sie übertragbar ist". Gläubiger des Versicherungsnehmers, denen der Anspruch abgetreten werden kann, dürfen wegen ihrer Forderungen deshalb in den Anspruch vollstrecken. Für andere Gläubiger ist der Anspruch wegen seiner Unabtretbarkeit unpfändbar 43 . Daraus folgt die Befugnis zur Erinnerung nach § 766 ZPO gegen eine von ihnen ausgebrachte Pfändung. Sie steht nach allgemeinen Regeln dem Schuldner (Versicherungsnehmer)44, dem Drittschuldner (Versicherungsgesellschaft)45, aber auch jedem begünstigten Dritten (privilegierte Baugläubiger) ZU46 • Faßt man § 98 VVG als ein Verbot nach § 135 auf, so ist auch § 772 ZPO anwendbar, der jedem vom Verbot Geschützten die Widerspruchsklage gewährt4 7• So erscheint es, als ob die Unterstellung des § 98 VVG unter § 135 zu einem Rechtsbehelf führt, den das Gesetz bei einer Qualifikation als absolutes Veräußerungsverbot nicht vorsieht - die erste praktische Folge aus dem Theorienstreit. Aber dieser Schluß erweist sich als voreilig, zieht man einen vergleichbaren Fall der Zustimmungsbedürftigkeit heran, nämlich den Vollstreckungseingriff der Eigengläubiger des Vorerben in ein Nachlaßgrundstück, §§ 2113, 2115 48 . Gegen eine solche Vollstreckung kann der Nacherbe nach § 773, 2 ZPO ebenfalls die Widerspruchsklage erheben, und zwar im Umfang des § 772 ZPO. Der Vergleich beider Rechtslagen ist aufschlußreich: In § 98 VVG wie in § 2115 werden bestimmte Personen geschützt, die noch kein veräußerungshinderndes Recht am Gegenstand erworben haben: Die Baugläubiger haben die Versicherungssumme noch nicht wegen ihres Anspruchs gepfändet, der Nacherbe hat noch kein Recht am einzelnen N achlaßgrundstück erworben. So gilt der Schutz der beiden Vorschriften dem künftigen Erwerb des betreffenden Rechts. Die völlig gleichartige Regelung der Widerspruchsklage in den §§ 772 und 773 ZPO zeigt, daß es hier nicht auf eine relative Wirkung des Verfügungsverbots ankommt. Selbst wenn § 98 VVG ein absolutes Verfügungsverbot aufstellte, müßte die Widerspruchsklage in entsprechender Anwendung der §§ 772, 773 ZPO gewährt werden. 43 Stein-Jonas-Schönke, II 4 zu § 851 ZPO; Wieczorek, C II b 4 zu § 851 ZPO; Rosenberg, § 192 I 2a. 44 RG 16, 346 (348 a. E.); Stein-Jonas-Schönke, II 1 zu § 766 ZPO. 45 RG 66, 233 f.; 93, 74 (77 f.); Stein-Jonas-Schönke, II 3 zu § 766 ZPO; Jürgen Blomeyer, Die Erinnerungsbefugnis Dritter in der Mobiliarzwangsvollstrekkung, Schriften zum Prozeßrecht 6 (1966), S. 61. 4G Vgl. Stein-Jonas-Schönke, VI 3 zu § 850 ZPO. 47 So Bruck, Das Privatversicherungsrecht (1930), S. 751. 48 Oben S. 26.

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c) Im Konkurs des Versicherungsnehmers scheiden die Rechte nach § 15 VVG von vornherein aus der Konkursmasse aus 49 • Dasselbe sollte für den Versicherungs anspruch nach § 98 VVG gelten, der ebenfalls nur für bestimmte Gläubiger pfändbar ist50 , aber die herrschende Lehre entscheidet sich für die Zugehörigkeit des Versicherungsanspruchs zur Konkursmasse51 : Der Konkursverwalter müsse ebenso wie der Gemeinschuldner berechtigt sein, den Anspruch an den Erwerber des Grundstücks abzutreten, das zur Konkursmasse gehört. Er müsse ferner in der Lage sein, das Gebäude mit Massemitteln wiederaufzubauen und dann die Versicherungssumme in Anspruch zu nehmen. Gehört der Anspruch danach zur Masse, so würde das Veräußerungsverbot den Konkursgläubigern gegenüber nach § 13 KO unwirksam sein, faßt man es als Verbot nach § 135 auf. Die Folge ist die, daß die Baugläubiger wegen der Vergütung ihrer vor Konkurseröffnung erbrachten Leistungen auf die Konkursquote beschränkt sind, wenn nicht der Konkursverwalter die Erfüllung des Vertrags nach § 17 KO verlangt. Lehnt er dies ab, so kann er die Wieder er richtung des Gebäudes von einem anderen Unternehmer auf Massekosten vollenden lassen und dann die Versicherungssumme einziehen. Nun sollen die Baugläubiger nach einer von Jaeger vertretenen Ansicht auch noch während des Konkursverfahrens die Versicherungssumme pfänden können 52 . Jaeger stellt die Versicherungsansprüche nach § 15 und nach § 98 VVG insoweit gleich: Die Regel des § 14 KO, wonach Konkursgläubiger während der Dauer des Konkurses" weder in das zur Konkursmasse gehörige noch in das sonstige Vermögen des Gemeinschuldners" vollstrecken können, soll hier unanwendbar sein. Das begründet Jaeger für den - konkursfreien - Anspruch nach § 15 VVG damit, daß § 14 KO, wenn er das "sonstige Vermögen" des Gemeinschuldners schützt, "seinem Zwecke nach den Zwangszugriff des allein zugriffsberechtigten Gläubigers auf ein im allgemeinen beschlagnahmefreies Gut nicht trifft"53. Diese - sicher zutreffenden - Erwägungen erstreckt er auch auf § 98 VVG, obwohl hier der Anspruch zur Konkursmasse gehört. Der Interessenwiderspruch zwischen den Konkursgläubigern, die § 13 KO gegen ein gesetzliches relatives Veräußerungsverbot schützt, und den einzelnen Baugläubigern liegt auf der Hand. Hier können sich auch Bedenken erheben. Es erscheint zweifelhaft, ob die Pfändung einer zur Masse gehörigen Forderung entgegen den §§ 13 und 14 KO ein zulässiger Jaeger-Lent, 18 zu § 1 KO. So L. v. Seujjert, LZ 1909, 96 (101 ff.); Kirchberger, ZHR 68, 147 (172 f.). 51 Jaeger-Lent, 26 zu § 1 KO; K. Sieg in Anm. zu BGH JZ 65, 574 (577). 52 Jaeger 1 (1931) und Jaeger-Lent 8 , 26 zu § 1 KO mit Hinweis auf Anm. 18 (nicht 17) zu § 1 KO. 53 Jaeger und Jaeger-Lent, 18 zu § 1 KO. 49

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Weg zum Schutze der Baugläubiger ist. Normalerweise müßte doch an ein Recht zur abgesonderten Befriedigung nach den §§ 47 ff. KO gedacht werden. Die Frage läßt sich nicht ohne näheres Eingehen auf die mit § 98 VVG verfolgten Zwecke beurteilen. Und hier gibt die Entstehungsgeschichte des Gesetzes interessanten Aufschluß: Im ersten Entwurf des Versicherungsvertragsgesetzes fehlte eine dem § 98 VVG entsprechende Vorschrift. Eine solche Regelung wurde erst in der Reichstagskommission vorgeschlagen, und zwar bei Beratung des § 15 VVG: § 15 sollte einen zweiten Absatz erhalten, wonach bei der Gebäudeversicherung mit Wiederaufbauklausel der Anspruch auf die Entschädigungssumme nur an "Baugläubiger" abgetreten werden konnte 54 • Zur Begründung führte der Antragsteller die Notwendigkeit des "besseren Schutzes der Baugläubiger für ihre Forderungen" an; die Versicherungssumme, "die bedingungsgemäß nur zur Wiederherstellung des versicherten Gebäudes gezahlt werden solle", müsse "auch wirklich in die Hände derjenigen gelangen, die durch ihre Arbeiten und Lieferungen oder durch ihre baren Vorschüsse die Herstellung des Gebäudes ermöglicht hätten". Ohne eine solche Vorschrift könnten andere Gläubiger Beschlag auf die Forderung legen und "die Baugläubiger, die vielleicht glaubten, durch die Wiederaufbauklausel ("das Geld wird nur zur Wiederherstellung des Gebäudes gezahlt") gesichert zu sein, gingen leer aus". Mit dem beantragten Zusatz sei die Versicherungssumme "vor allen anderen Zugriffen als denen der Baugläubiger 55 sicher, da ja die Nichtabtretung auch die Unpfändbarkeit in dem beschriebenen Umfang zur Folge hätte". Zudem sei die Regel bereits im preußischen Recht zu finden, AGO 29, § 18. Gegen den Antrag, der sich in der Formulierung an § 15 VVG anschloß, wurde u. a. der Einwand erhoben, der Versicherungsnehmer könne die Baustelle dann nicht mehr unter Mitabtretung der Versicherungsforderung veräußern. Mit einer solchen Abtretung erklärte sich auch der Antragsteller einverstanden. Der Antrag wurde in dieser Form angenommen 56 ; später wurde die Vorschrift als § 97a an § 97 angeschlossen 57. Diese Entstehungsgeschichte zeigt die enge Verbindung von § 98 VVG mit § 15 VVG: Weder rechtsgeschäftlich noch durch Vollstreckung sollte die Versicherungssumme den an der Wiederherstellung Beteiligten entzogen werden. Im Fall des § 15 VVG ergibt sich hieraus zwingend, daß die Versicherungsforderung weder in der Vollstreckung noch im Kon54 Motive zum Versicherungsvertragsgesetz, hrsg. vom Bundesaufsichtsamt für Versicherungs- und Bausparwesen (1966), S. 28617. 55 Von mir gesperrt. 56 Mot., S. 289/92. 57 Mot., S. 348. Zusammenfassung ebd. S. 166.

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kurs von anderen als den Baugläubigern in Anspruch genommen werden kann: Sie ist einerseits konkursfrei und andererseits trotz § 14 KO der Pfändung durch die privilegierten Gläubiger zugängig. Bei § 98 VVG scheint nun die Abtretbarkeit des Versicherungsanspruchs an den Erwerber der Baustelle den Schutz der Baugläubiger zu durchlöchern. Dies zeigt sich bereits bei der Abtretung durch den Versicherungsnehmer selbst: Veräußert dieser während des Wiederaufbaus das Grundstück mit dem Versicherungsanspruch, so bleibt er Versicherungsnehmer, während der Versicherungsanspruch auf den Zessionar übergeht. Damit wäre der Anspruch dem Zugriff der Baugläubiger entzogen, denen der Erwerber nichts schuldet, wenn er nicht in die Verträge mit ihnen eintrat. Ein solches Ergebnis wäre aber mit dem Zweck der Vorschrift gänzlich unvereinbar. Die Abtretung an den Grundstückserwerber konnte nur zugelassen werden, wenn dieser ebenso wie der Veräußerer sich die Befriedigung der Baugläubiger aus dem Versicherungsanspruch gefallen lassen mußte; nur dann ist die Abtretung noch mit dem Schutzzweck der Vorschrift zu vereinbaren. Hier wäre gesetzestechnisch eine andere Vorschrift am Platze gewesen. Die Baugläubiger hätten ein gesetzliches Forderungspfandrecht nach Art des § 1128 III eingeräumt erhalten sollen. Aber auch die technisch mangelhafte Fassung der Vorschrift kann nicht ihre Auslegung hindern, daß die Versicherungsforderung auch in der Hand des Grunderwerbers dem Zugriff der Baugläubiger des Versicherungsnehmers ausgesetzt bleibt. Jeder dieser Gläubiger kann die Versicherungsforderung vor der Wiederherstellung des Gebäudes pfänden. Damit ergibt sich auch eine andere Beurteilung der Lage im Konkurs des Versicherungsnehmers. Sicherlich fällt der Versicherungsanspruch in die Konkursmasse, damit ihn der Konkursverwalter mit dem Grundstück veräußern kann. Wenn sich aber auch kein gesetzliches Forderungspfandrecht der Baugläubiger annehmen läßt, welches die abgesonderte Befriedigung ermöglichte, so darf der Schutz dieser Gläubiger doch nicht an den §§ 13 oder 14 KO scheitern. Wie vor jedem anderen Gläubiger müssen sich die Baugläubiger auch vor der Gesamtheit der übrigen Konkursgläubiger aus der Versicherungsforderung befriedigen können. In die Konkursmasse fällt die Forderung deshalb vor der Wiederherstellung nur in dem Umfang, in welchem der Gemeinschuldner vorher über sie verfügen konnte - eine sicherlich singuläre Regelung des Versicherungsvertragsgesetzes, aber sie muß hingenommen werden. Die Lösung Jaegers mit der Pfändbarkeit des Versicherungsanspruchs während des Konkursverfahrens trifft deshalb durchaus ZU 5B • 58 Ob die Vorschrift unbedingt erforderlich war, mag man bezweifeln, da der Bauunternehmer nach § 648 einen Anspruch auf Einräumung einer Sicherungshypothek hat; aber der Gesetzgeber betrachtete die Regelung als sozialen Fortschritt.

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Hier interessiert das Ergebnis für die Qualifikation des § 98 VVG als eines relativen Verfügungsverbots nach § 13 KO. Sie kann unbedenklich verneint werden. 2. In der Haftpflichtversicherung regelt § 156 VVG die Verfügung über die Entschädigungsforderung. Hier erfordert das Interesse des geschädigten Dritten einen Schutz gegenüber Verfügungen des Versicherungsnehmers, welche ihn ersatzlos stellen59 • § 156 I VVG erklärt daher "Verfügungen über die Entschädigungsforderung dem Dritten gegenüber für unwirksam"; Verfügungen durch Zwangsvollstreckung und Arrest stehen gleich. Ferner hat der Dritte nach § 157 VVG das Recht auf abgesonderte Befriedigung im Konkurs des Versicherungsnehmers. Der Anwendungsbereich des § 156 I VVG ist sehr klein, weil der Versicherungsanspruch auf Befreiung von der Haftung gegenüber dem Dritten gerichtet ist. Ein solcher Anspruch ist bereits seines Inhalts wegen allein an den Dritten abtretbar, in dessen Hand er zum Zahlungsanspruch gegen die Versicherungsgesellschaft wird; eine Abtretung an andere verbietet sich nach § 399. Sie ist unwirksam, bevor der Versicherungsnehmer selbst den Dritten befriedigt und sich sein Befreiungsanspruch in einen Zahlungsanspruch verwandelt 60 . a) Soweit § 156 I VVG aber eingreift, soll er sich auf eine relative Wirkung allein zugunsten des Dritten beschränken. Diese Ansicht ist im Schrifttum einhellig anerkannt61 und wird vom Bundesgerichtshof in einem obiter dictum gebilligt. Dort heißt es: Nach § 156 I VVG "ist allerdings eine Verfügung über die Entschädigungsforderung, wie sie auch ihre Annahme als Erfüllung darstellt, unwirksam, aber doch nur relativ gegenüber dem Dritten, nämlich dem Haftpflichtgläubiger. Andere, insbesondere auch der Versicherungsnehmer und der Versicherte, können sich auf diese Unwirksamkeit nicht berufen"62. Ich glaube nicht, daß dieses Ergebnis auf eine relative Wirkung des Verfügungsverbots gestützt werden muß: Soweit ich sehe, erfaßt § 156 I VVG zwei Verfügungen über die Entschädigungsforderung, nämlich die Annahme einer Zahlung an Erfüllungs Statt und den Erlaß der Forderung. Die Annahme der Zahlung an Erfüllungsstatt enthält einmal die einverständliche Änderung der Schuld - von der Befreiung auf die Zahlung 59 In der Pflichtversicherung wird der Dritte zusätzlich durch § 158 c VVG (Fassung des Ges. v. 5.4. 1965) geschützt. 60 Vgl. statt aller K. Sieg, Ausstrahlungen der Haftpflichtversicherung (1952), S. 72 ff., 146 ff. mit Belegen. Aus der späteren Rechtsprechung BGH 7, 244

(245/6); 15, 154 (157/8). 61 Sieg a.a.O.; Prötss, 2 zu § 156 VVG; Eichter, Versicherungsrecht (1966), S. 272; Schuttz, Die Stellung des geschädigten Dritten in der Haftpflichtversicherung (1941), S. 55. 62 BGH 15, 154 (157).

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- und ferner die Annahme der geänderten Leistung 63 • Bereits die Schuld änderung ist eine Verfügung, die nach § 156 I VVG unwirksam ist. Das ist der Versicherungsgesellschaft wie dem Versicherungsnehmer wohlbekannt. Beide wissen, daß sie den Befreiungsanspruch nicht mit Wirkung gegenüber dem Dritten in einen Zahlungsanspruch umwandeln können und daß dieser weiterhin auf den Befreiungsanspruch zugreifen kann. Die Vereinbarung hat deshalb, wie bereits oben ausgeführt 64 , einen anderen Sinn: Sie soll einmal für den Fall gelten, daß der Dritte befriedigt wird, und sie verpflichtet den Versicherungsnehmer ferner dazu, die Versicherungsgesellschaft vom Zugriff des Dritten auf den Befreiungsanspruch freizustellen. Das hat mit einer relativen Wirkung des Verfügungsverbots nichts zu tun; die Vereinbarung könnte ebenso gut gelten, wenn das Verfügungsverbot ein absolutes und die Verfügung schwebend unwirksam wäre. Ein solcher Fall findet sich auch im Bürgerlichen Gesetzbuch: Zieht der Vorerbe eine Hypothekenforderung ohne Einwilligung des Nacherben ein, so ist die Einziehung im Nacherbfall (absolut) unwirksam, §§ 2114, 3, 2113 I. Sind sich Vorerbe und Schuldner dessen bewußt, so steht die Einziehung unter der Bedingung, daß der Nacherbe sie genehmigt oder daß die Nacherbschaft ausfällt; damit ist ferner die Vereinbarung verbunden, daß der Vorerbe den Schuldner entschädigt, wenn dieser später nochmals an den Nacherben zahlen muß. Nicht anders steht es mit dem Erlaß der Versicherungsforderung. Dieser kann vorkommen, wenn der Versicherungsanspruch von der Versicherungsgesellschaft bestritten wird und sich der Versicherungsnehmer mit ihr auf einen herabgesetzten Betrag vergleicht, in dem Sinne, daß er nur in Höhe dieses Betrags Befreiung verlangen könne. Auch hier ist der Vergleich dahin auszulegen, daß der Erlaß für den Fall der Befriedigung des Dritten gelten solle und daß ferner der Versicherungsnehmer insoweit auch für eine Freistellung der Versicherungsgesellschaft zu sorgen habe. Die Wirkungen der Verfügung über die Forderung ergeben sich auch hier aus dem Inhalt der Abrede. Weder die Versicherungsgesellschaft noch der Versicherungsnehmer brauchen als "Dritte" angesehen zu werden, denen gegenüber das Verfügungsverbot wegen seiner relativen Wirkung versagte. b) Die vollstreckungs- und konkursrechtlichen Folgen des § 156 I VVG bereiten keine Schwierigkeiten. Dem Dritten steht, ebenso wie im Falle des § 98 VVG, die Widerspruchsklage nach oder analog § 772 ZPO zu; im Konkurs erklärt ihn § 157 VVG entgegen § 13 KO ausdrücklich für absonderungsberechtigt. 63 64

Vgl. Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht, § 38 IH. s. oben S. 34.

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Arwed Blomeyer

11. Versicherungsaufsichtsrecht

Relative Verfügungsverbote sollen auch nach dem Versicherungsaufsichtsgesetz bestehen, und zwar nach § 72 (unten 1.) und § 110 (unten 2.). 1. Versicherungsgesellschaften haben bei der Lebensversicherung durch Deckungsrückstellung (§ 65 VAG) einen Deckungsstock (Prämienreservefonds) zu bilden, der nur zugunsten der Versicherten pfändbar ist (§ 77 II VAG) und ihnen im Konkurs der Versicherungsgesellschaften mit Vorrang vor den übrigen Konkursgläubigern zur Verfügung steht (§ 77 IV VAG). Zur "überwachung des Deckungsstocks" wird ein Treuhänder bestellt

(§ 70 VAG); der Deckungsstock "ist so sicherzustellen, daß nur mit Zu-

stimmung des Treuhänders darüber verfügt werden kann", § 72 I VAG; insbesondere muß der Treuhänder die Bestände des Deckungsstocks "unter Mitverschluß" verwahren, § 72 II VAG. Die "Notwendigkeit" einer Zustimmung des Treuhänders nach § 72 VAG bedeutet nun nach der Lehre ein gesetzliches Veräußerungsverbot i. S. des § 135, und zwar auch mit dem Schutz gutgläubiger Dritter nach § 135 lI 6s• Im gleichen Sinn hat sich einmal das Kammergericht ausgesprochen. Die vorgeschriebene Mitwirkung des Treuhänders bei Verfügungen bedeute ein "den Schutz der Versicherten bezweckendes Verfügungsverbot i. S. des § 135"; die Verfügungsbeschränkung trete mit der Zugehörigkeit eines Grundstücks zum Deckungsstock "kraft Gesetzes" ein 66 • Es ist bemerkenswert, wie hier der Fall der Zustimmungsbedürftigkeit einer Verfügung, bei dem sonst die absolute Unwirksamkeit der zustimmungslosen Verfügung eintritt, dennoch zum Anwendungsgebiet des § 135 gerechnet wird. Ich halte diese Annahme für in jeder Hinsicht verfehlt: a) Zunächst ein Einwand, der äußerlich erscheinen mag: § 72 VAG bestimmt gar nicht, daß dem Versicherungsunternehmen die Verfügung über Gegenstände des Deckungsstocks verboten wird. Er ordnet an, daß der Deckungsstock "so sicherzustellen" ist, daß nur mit Zustimmung des Treuhänders verfügt werden kann, ferner, daß der Treuhänder den Mitverschluß zu erhalten hat und daß seine Zustimmungserklärung der Schriftform bedarf. Damit spricht das Gesetz kein Verfügungsverbot aus, sondern schreibt Maßnahmen vor, welche eine Verfügung hindern. Immerhin, das Kammergericht meint, mit der Zugehörigkeit zum Deckungsstock trete die Verfügungsbeschränkung ex lege ein. Aber das 65 Prölss 5 (1966), 2 zu § 72 VAG; Fromm-Goldberg (1966), 1 a. E. zu § 72 VAG; Koenige-Petersen- Wirth (1931), 1 zu § 72 VAG; O. Hager zu LG Hamburg,

JW 34, 3153. 66 KG JW 34, 1126; das Urteil hält die öffentliche Beglaubigung des Antrags auf Eintragung des Zustimmungsvermerks nach den §§ 30, 29 GBO nicht für erforderlich. Ebenso KG JW 34, 1376 in der Frage der Gebühren.

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trifft nicht zu. Ob ein Recht zum Deckungsstock gehört, hängt davon ab, daß eine Zuführung zum Deckungsstock vorliegt (§ 66 VAG), und für diese Zuführung nennt Prölss folgende Erfordernisse: Den Erwerb durch das Unternehmen, die Aufbewahrung unter Mitverschluß des Treuhänders oder die Begründung seiner Mitverfügungsbefugnis, im Falle der Anlage bei Banken oder Sparkassen die Einzahlung auf Sperrkonto, und dazu noch die Eintragung in das Deckungsstockverzeichnis67 • Hiernach würde die Verfügungsbeschränkung erst eintreten, wenn sie nach anderen Vorschriften durch das Zustimmungs erfordernis begründet wird. Dabei kann man die Anweisung des Bundesaufsichtsamtes über Eintragungsfähigkeit der Treuhänderzustimmung im Grundbuch als gesetzliche Anordnung auf Grund des § 72 I VAG ansehen 68 • b) Erweist sich bereits damit die Annahme eines Verfügungsverbots nach § 135 als seltsam, so entfällt jedenfalls die Anwendbarkeit des § 135 II zugunsten gutgläubiger Dritter: Mit der Zuführung zum Deckungsstock sind alle Maßnahmen getroffen, die einen gutgläubigen Erwerb ausschließen. c) Aber auch sonst paßt § 135 nicht hierher: Die vom angeblichen Verfügungsverbot Geschützten, nämlich die Versicherungsnehmer, und der Zustimmungsberechtigte, der Treuhänder, sind verschiedene Personen. Der Treuhänder vertritt weder das Versicherungsunternehmen69 noch die Versicherten; er hat eine selbständige und ihm ausschließlich zustehende überwachungsaufgabe. d) Dementsprechend beurteilt die Lehre auch die Behelfe gegen eine Zwangsvollstreckung in den Deckungsstock völlig von den §§ 135 BGB, 772 ZPO abweichend. Von einer Widerspruchsklage der Versicherten kann schon aus praktischen Gründen keine Rede sein. Aber auch dem Treuhänder spricht man jeden Rechtsbehelf ab; nur das Versicherungsunternehmen selbst (der Pfändungsschuldner!) soll die "Widerspruchsklage nach § 771 ZPO" erheben können 7o • e) Aus alledem folgt, daß von den relativen Wirkungen des § 135 nichts übrig bleibt. Die Rückführung der Zustimmungsbedürftigkeit auf diese Vorschrift ist ganz überflüssig. 2. Das gleiche gilt für die entsprechende Vorschrift des § 110 II VAG, welche für ausländische Versicherungsunternehmen die Sicherstellung des Deckungsstocks nach näherer Bestimmung des Reichsaufsichtsamts 66 V AG. R 13/57 v. 13.6. 1957, BIll, abgedr. bei Prölss zu § 72 VAG. OD Prölss, 1 zu § 72 VAG; Fromm-Goldberg, 2 zu § 71 VAG. 70 Prölss, 1 zu § 72 VAG; Fromm-Goldberg, 4 a. E. zu § 72, 3 a. E. zu § 77 VAG; anders früher Koenige-Petersen- Wirth, 6d zu § 72 VAG, und jetzt Wieczorek, A I a 3 zu § 772 ZPO. 87

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Prölss, 4 zu §

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anordnet. Die Sicher stellung wird heute durch Sperrvermerk zugunsten des Bundesaufsichtsamts durchgeführt. Die auch für diese Vorschrift vertretene Anwendung des § 135 71 scheidet ebenfalls aus.

c. Folgerungen Ich hoffe, die Analyse des Verbots, über Forderungen zu verfügen, hat gezeigt, daß keine relative Verbotswirkung materiellrechtlicher Natur festzustellen ist; mit dem Verbot ändert sich der Schuldinhalt, und zwar ebenso wie bei Zustimmungsbedürftigkeit der Verfügung. Dennoch bleibt es sinnvoll, § 136 auf richterliche Verfügungsbeschränkung dieser Art anzuwenden, und zwar wegen der vollstreckungsrechtlichen Wirkungen, die an die Vorschrift anknüpfen. Zwar ist die mit § 136 verbundene Regel des § 772 ZPO nicht wegen der relativen Wirkung geschaffen; das beweist die gleiche Regelung in § 773 ZPO für einen Fall der Zustimmungsbedürftigkeit. Aber jedenfalls gilt § 13 KO für alle richterlichen Veräußerungsverbote. Sehr zweifelhaft ist dagegen die Unterstellung versicherungsrechtlicher Regeln als gesetzlicher Verfügungsverbote unter § 135. Die §§ 15, 98 und 156 VVG sprechen äußerlich kein Verfügungsverbot, sondern die Verfügungsbeschränkung selbst aus; gleichwohl mag der Tatbestand der Vorschriften als Veräußerungsverbot zugunsten bestimmter Personen gelten. Aber die Wirkung des § 15 VVG hält man für eine absolute, und ein Unterschied davon läßt sich weder für § 98 noch für § 156 VVG feststellen. Und vor allem ist § 13 KO überhaupt nicht anwendbar. So wäre dieses "gesetzliche Veräußerungsverbot" ein Tatbestand ohne eine einzige der vom Gesetz damit verbundenen relativen Wirkungen, die das Verbot vom gesetzlichen Erfordernis der Zustimmung des Geschützten unterscheiden könnten. In den Fällen der §§ 72 und 110 VAG fehlt dazu noch der Tatbestand, so daß ein solches "Verfügungsverbot" wie das berühmte Lichtenbergsche Messer aussieht: "Ein Messer ohne Klinge, an welchem der Stiel fehlt." Als Ergebnis kann ich endlich feststellen, daß die §§ 135, 136 im Gebiete des Schuldrechts nicht die besonderen "relativen" Rechtsfolgen zeitigen, welche die Vorschriften bei den Juristen so unbeliebt machen.

71 Prölss, 2 zu § 110 VAG. Fromm-Goldberg, 3 zu § 110 VAG nimmt ein Verbot nach § 136 BGB an (!).

ERNST HEINITZ

Zur Verfassungsmäßigkeit der Strafbestimmung gegen den groben Unfug 1. In die Auseinandersetzung um die Verfassungsmäßigkeit der Strafbestimmung gegen den groben Unfug (§ 360 Abs. 1 Nr. 11 StGB) ist nunmehr das höchste Gericht der Bundesrepublik eingeschaltet worden. Durch Beschluß vom 27.7.1966 hat das Amtsgericht Bremerhaven 1 dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 360 Nr. 11 verfassungswidrig ist. Das Amtsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift verneint, weil der Tatbestand eine unzulässige Generalklausel enthalte. Es folgt damit der im Schrifttum2 im Vordringen begriffenen Auffassung, daß § 360 Nr. 11 gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoße und daher nichtig sei. Die Rechtsprechung 3 vertrat demgegenüber bisher den Standpunkt, es sei ihr gelungen, dem Begriff des groben Unfugs einen genügend bestimmten Inhalt gegeben zu haben, und zwar unter Anwendung allgemeiner Auslegungsregeln. Derselben Ansicht sind offenbar auch die Verfasser des Entwurfs lf)62 gewesen, der als § 301 die Vorschrift enthält: "Wer in einer Weise, die geeignet ist, die Allgemeinheit erheblich zu belästigen, grob ungebührlich Lärm erregt oder sich sonst grob ungebührlich verhält, wird mit Strafhaft bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bis zu neunzig Tagessätzen bestraft." Die Divergenz zwischen Schrifttum und Rechtsprechung mag sich wenigstens teilweise daraus erklären, daß die Gerichte in ihrer Alltagspraxis häufig Fällen begegnen, in denen die Allgemeinheit durch grob ungebührliches Verhalten erheblich belästigt wird, und sie sich der Notwendigkeit einer Bestrafung dieses Verhaltens nicht entziehen können. Bereits im Jahre 1886 sah sich F. Frank4 zu der Feststellung veranlaßt, von allen Übertretungen des Strafgesetzbuches sei neben Bettelei, Land1

NJW 1966, 1680.

Schönke-Schröder, StGB, 13. Auf!. (1967), § 360 Rdnr. 47; ders. in JR 1964, 392 u. JZ 1966, 649; Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 9. Auf!. (1965), S. 431; Mezger-Blei, Strafrecht, Bes. T., 9. Auf!. (1966), S. 308; Woesner NJW 1965, 857; Schultz MDR 1965, 17 (18); Bedenken auch bei Maurach, Deutsches Strafrecht, Bes. T., 4. Auf!. (1964), S. 490. 3 BG HSt 13, 241; KG JR 1965, 392; OLG Hamm JZ 1966, 648. • GA 34 (1886), 145. 2

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streicherei und Unzucht wohl am meisten nach § 360 Nr. 11 verurteilt worden. Daß die Aktualität der Vorschrift nicht nachließ, zeigt die Bemerkung von Krauße 5 aus dem Jahre 1896, fast täglich könne man in der Zeitung "vom groben Unfug" lesen. Aber auch heute besteht diese Aktualität noch. In der Begründung zum Entwurf 1962 6 heißt es hierzu: Neben dem Schutz gegen vermeidbaren Lärm bedürfe es eines ausreichenden Schutzes gegen die ebenfalls ständig zunehmenden Belästigungen der Allgemeinheit durch Ausschreitungen sogenannter Halbstarker, Schlägereien, körperliche Behinderungen, Anpöbeleien, beschimpfenden Unfug und ähnliches Verhalten. Solche Taten gefährdeten den Gemeinschaftsfrieden und seien strafwürdig. Sie könnten durch andere Strafbestimmungen nicht oder häufig nicht erfaßt werden. Würden sie nur als Ordnungswidrigkeiten verfolgt, so wäre ihretwegen weder eine vorläufige Festnahme nach § 127 StPO noch eine Ahndung durch Freiheitsentziehung möglich. Da die durch die neuen Vorschriften erfaßten Belästigungen zunehmend bedrohlicher geworden seien, rechtfertige es sich, neben Geldstrafe auch Strafhaft bis zu drei Monaten anzudrohen. Da der Gesetzgeber das Anwendungsgebiet des groben Unfugs dem Wortlaut nach nur allgemein umrissen hat, stellt sich einmal die Frage, ob der Tatbestand unter Berücksichtigung der geschichtlichen Entwicklung und des heutigen Standes der Rechtsprechung mit einiger Klarheit abgrenzbar ist, und zum anderen, ob die Unbestimmtheit der Wortfassung durch eine vernünftig einschränkende Auslegung geheilt werden kann. Dabei kann an der Frage nicht vorübergegangen werden, ob mit der aus Art. 103 Abs. 2 GG gezogenen Folgerung, die Tatbestände müßten so formuliert sein, daß sie eine feste und zuverlässige Grundlage für die Rechtsprechung bilden, daß also der Sinn und Umfang eines Tatbestandes durch Auslegung eindeutig ermittelt werden kann 7 , wirklich ernst gemacht wird und gemacht werden kann, oder ob es sich mehr um ein Idealbild handelt, dem die Wirklichkeit bisher keineswegs gerecht geworden ist. 2. Gesetze, die man unter Verwendung moderner dogmatischer Begriffe dem vorbeugenden Polizeirecht zurechnen müßte, finden sich schon in den römischen Rechtsquellen8 sowie in den Statuten deutscher und italienischer Städte. Als Übertretungen von Polizeigeboten wurden schon im Mittelalter zahlreiche Bestimmungen gegen ein Verhalten erlassen, das man heute als groben Unfug bezeichnen würde, wie etwa die BeZStW 16 (1896), 657. BT-Drucksache IV/650 S. 472. 7 Vgl. Schönke-Schröder a.a.O. § 2 Rdnr. 64; Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 103 II Rdnr. 107. 8 Nachweise bei Pessina, Enciclopedia deI Diritto Penale Italiano, Bd. 10 (1908), S. 538 ff. 5

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Verfassungsmäßigkeit der Strafbestimmung gegen den groben Unfug

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lästigung von Frauen in den Badeanstalten9 • Ebenso wurde bereits der Ausdruck "Unfug" für Verstöße gegen die Normen des Rechts und der Sitte gebraucht 10 • Unmittelbar geht § 360 Nr. 11 auf § 183 Teil II Tit. 20 ALR zurück, wo es heißt: "Mutwillige Buben, welche auf den Straßen oder sonst Unruhe erregen oder grobe Unsittlichkeiten verüben, sollen mit verhältnismäßigem Gefängnisse, körperlicher Züchtigung oder Zuchthaus belegt werden." Eine Zirkularverordnung vom 30. 12. 1798 stellte klar, daß es dem Gesetzgeber namentlich um die Verhütung von Tumulten ging l1 . In einer Verordnung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der dem Gesetze schuldigen Achtung vom 17.8.1835 wurde, nach Verweisung auf die erwähnten Bestimmungen des ALR und der Verordnung von 1798, die Vorschrift erweitert: "Wird Unfug dieser Art, wohin auch Aufregung durch Geschrei und Pfeifen zu rechnen, bei Gelegenheit eines Auflaufes verübt, so soll in der Regel körperliche Züchtigung und jedenfalls Freiheitsstrafe oder Strafarbeit eintreten." In § 2 wurden die Strafbestimmungen auf andere Personen, die sich "dergleichen Unfugs" schuldig machen, ausgedehnt. In § 340 Nr. 9 pr. StGB vom 14.5.1851 wurden dann ruhestörender Lärm und grober Unfug zusammengefaßt und von hier in das Reichsstrafgesetzbuch übernommen12 •

3. In den ersten Jahrzehnten nach Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches wurde die Strafbestimmung gegen groben Unfug außerordentlich häufig angewandt. Eine Ausweitung des Begriffes erfolgte namentlich bei der Bekämpfung politisch unwillkommener Erscheinungen. Nach Aufhebung des Sozialistengesetzes wurden so Aktionen von Sozialdemokraten, wie Entfalten von roten Fahnen bei Beerdigungen, Volksversammlungen und Volksfesten, Streikposten stehen und Boykottaufforderungen, als grober Unfug angesehen 13 • Nicht selten sind auch die Fälle, in denen Verletzungen des vaterländischen Gefühls 14 und antisemitische Pessina a.a.O. S. 544. His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, 1. Teil (1920), S. 38 u. S. 39 Anm. 1 m. Nachweisen. 11 § 12: "Mutwillige Buben, welche auf den Straßen oder sonst Unruhe er9

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regen oder grobe Unsittlichkeiten verüben, welche einen Zusammenlauf des Volkes veranlassen können, haben verhältnismäßiges Gefängnis, körperliche Züchtigung oder Zuchthaus zu erwarten." 12 Vgl. zur Geschichte F. Frank GA 34 (1886), 145 ff.; Hacke, Der grobe Unfug (1892), s. 1 ff., Krauße ZstW 16 (1896), 657 (662 ff.); v. Bar GS 40 (1888), 429 (433 f.); Lorey, Zur Lehre vom "groben Unfug", Strafr. Abh. H. 161 (1912), S. 12 ff.; Zimmerte GA 47 (1900),64 (66 Anm. 3, 69). 13 Krauße a.a.O. S. 658; Zimmerte a.a.O. S. 78 f. mit zahlreichen Beispielen in Anm. 16-19. 14 Rüdorff-Stengtein, Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 3. Aufl. (1881), § 360 Anm. 11 (S. 759). 4 Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch

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Ernst Heinitz

Äußerungen 15 als grober Unfug gestraft wurden. Ferner glaubte die Rechtsprechung, mit der Strafbestimmung gegen den groben Unfug wirklichen oder vermeintlichen Auswüchsen im Pressewesen entgegentreten zu müssen. So ahndete das Reichsgericht1 6 die Veröffentlichung einer objektiv unrichtigen Nachricht als groben Unfug, wenn die Nachricht geeignet war, eine unbestimmte Anzahl von Personen zu beunruhigen, und zwar dann, wenn der Verfasser von der Wahrheit der Tatsache überzeugt war und nicht den Vorsatz hatte, das Publikum zu belästigen17 • Angesichts dieser Rechtsprechung verwundert es nicht, daß man im Schrifttum 18 nicht nur einzelne Urteile heftig ablehnte, sondern auch den Tatbestand selbst als zu konturenlos kritisierte. V. Bar 19 hob hervor, daß den Gerichten hier ein zu weites, beinahe schrankenloses Ermessen, das sie fast zu Gesetzgebern für den einzelnen Fall machen würde, eingeräumt sei. Er bezeichnete die Befugnis der Gerichte, die Presse wegen groben Unfugs zu strafen, als ein wahres Danaergeschenk und warnte vor der Gefahr, daß die Gerichte in den Streit der Parteien hineingezogen werden könnten. E. Müller 20 machte geradezu die "illiberale Handhabung des Unfugsparagraphen" für das abnehmende Vertrauen des Volkes zu seinen Richtern verantwortlich. Da die Rechtsprechung der Tatrichter auch außerhalb des Politik und Presse betreffenden Bereichs recht uneinheitlich war und der Eindruck entstand, als grober Unfug würden alle möglichen Tatbestände geahndet, für deren Erfassung das Strafrecht sonst keine Handhabe bietet, stellte schon v. Bar21 die Frage, ob § 360 Nr. 11 in der von der Rechtsprechung und einem Teil des Schrifttums vorgenommenen Auslegung, insbesondere hinsichtlich des Presseunfugs, nicht gegen "ein Grundprinzip des gesamten neueren Strafrechts", das Analogieverbot (§ 2 Abs. 1), verstoße. Auf das Analogieverbot des § 2 wies auch Zimmerle22 hin, um der Rechtsprechung zum Presseunfug entgegenzutreten, und mit demselben Gedanken wandte sich v. Bodman23 gegen die willkürliche Ausdehnung des Tatbestandes. Derartige Bedenken schienen besonderes Gewicht dadurch zu erhalten, daß Rub0 24, seinerzeit Schriftführer bei der Redaktion des StGB, selbst erklärte, es bleibe zu beachten, "daß gerade 15

Krauße a.a.O. S. 658 u. 707 ff.

RGSt 16, 98. Weitere Beispiele bei Krauße a.a.O. S. 704 ff. 18 Vgl. v. Bar GS 40 (1888), 429 ff.; Hacke, Der grobe Unfug (1892), S. 11; Zimmerle GA 47 (1900),64 (86). 19 a.a.O. S. 438. 20 Zitiert von Zimmerle a.a.O. S. 87 Anm. 27. 21 a.a.O. S. 431 f. 22 a.a.O. S. 85 f. 23 Das Delikt des "Groben Unfugs", Diss. Heidelberg (1908), S.12. 24 Kommentar über das Strafgesetzbuch für das deutsche Reich (1879), S. 1026. 16

17

Verfassungsmäßigkeit der Strafbestimmung gegen den groben Unfug

wegen seiner Unbestimmtheit der Ausdruck nahme gefunden" habe 25 .

grober Unfug -

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Auf-

Obwohl somit ein Teil des Schrifttums die eine Zeitlang geübte Praxis, unter den Tatbestand jedes wider Fug und Recht geschehene Handeln zu subsumieren, ablehnte, weil sie, wie Frank 26 es ausgedrückt hat, die Vorschrift auf diese Weise unter Umgehung des Satzes nulla poena sine lege zu einem subsidiären Delikt ausgestaltet hatte, wurde ein Widerspruch zu § 2, der seinerzeit die Bedeutung eines obersten Grundsatzes, nicht aber Verfassungsrang hatte, nur unter der Voraussetzung gesehen, daß es nicht gelinge, eine vernünftige Auslegung der Gesetzesbestimmung zu finden. Von dieser Grundlage her entwickelte sich dann in der Rechtsprechung des Reichsgerichts ein ganz bestimmter Begriff des groben Unfugs, der seinen Inhalt aus der Entstehungsgeschichte, dem Wortlaut und der systematischen Stellung des Tatbestandes erhie1t2 1 • In RGSt 31, 185 (192 f.) ist er definiert als "eine grob-ungebührliche Handlung, durch welche das Publikum in seiner unbestimmten Allgemeinheit unmittelbar belästigt oder gefährdet wird, und zwar dergestalt, daß in dieser Belästigung oder Gefährdung zugleich eine Verletzung oder Gefährdung des äußeren Bestandes der öffentlichen Ordnung zur Erscheinung kommt". Das Reichsgericht forderte somit mehr als nur eine die Allgemeinheit belästigende ungebührliche Handlung. Wie ernst es ihm mit dem Merkmal der Störung oder Gefährdung des äußeren Bestandes der öffentlichen Ordnung war, zeigt gerade die genannte Entscheidung, die nicht ohne politischen Einschlag war: Die Vorinstanz hatte ein in einer Zeitung veröffentlichtes Gedicht, durch das in einer preußischen Provinz mit teilweise polnischer Bevölkerung der deutsche Volksteil beschimpft worden war, als groben Unfug geahndet, weil durch das Gedicht beunruhigende oder sonst belästigende Gefühle hervorgerufen worden seien; das Reichsgericht vermißte demgegenüber Feststellungen darüber, "inwiefern die Erregung jener belästigenden Empfindungen geeignet sein konnte, auf den äußeren Bestand der öffentlichen Ordnung eine störende Einwirkung auszuüben". Durch diese Rechtsprechung wurde die vielfach vertretene "extensive Theorie"28 zurückgewiesen. Die extensive Theorie hatte in der Einfügung des Wörtchens "wer" in den Wortlaut der Gesetzesbestimmung ( ... wer ... ruhestörenden Lärm erregt oder wer groben Unfug verübt) bei ihrer übernahme in das Reichsstrafgesetzbuch eine mehr als nur redaktionelle Vgl. dazu auch Krauße ZStW 16 (1896), 657 (665). Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 15. Aufl. (1924), § 360 Anm. XI, 2. 27 Vgl. Frank a.a.O. 28 Vgl. Nachweise bei v. Bodman, Das Delikt des "Groben Unfugs", Diss. Heidelberg (1908), S. 15. 25 26

4*

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Änderung gesehen und deshalb die Parallele zum ruhestörenden Lärm (Erfordernis der unmittelbaren Belästigung des Publikums) abgelehnt. Die restriktive Thorie dagegen ging auf die ratio legis in Verbindung mit der Entstehungsgeschichte zurück und kam daher zu einer einschränkenden Auslegung, die sich in der Rechtsprechung und auch in den führenden Kommentaren durchsetzte 29 • Danach muß eine Gefährdung des äußeren Bestandes der öffentlichen Ordnung vorliegen. Das folgt daraus, daß der Gesetzgeber vom Straßenunfug ausging und den Begriff dann erweiterte, ohne aber einen schrankenlosen Spielraum zu eröffnen, der dem Grundsatz nullum crimen sine lege widersprochen hätte 3o • Frank31 definiert den äußeren Bestand der öffentlichen Ordnung als "äußerlich erkennbare Beziehung individuell unbestimmter Personen oder Sachen zueinander". Gestört ist dieser, wenn die genannten Beziehungen in einen Gegensatz zur allgemeinen Verkehrssitte gebracht sind. In diesem Sinne dient der Begriff zur Einschränkung: wer Beziehungen stört, die äußerlich nicht erkennbar sind, wie die Gesinnung der Menschen und Bevölkerungsklassen zueinander, zur Regierung, zum Staat, zur Religion, zu den Geboten der Vernunft oder Sittlichkeit32 , begeht noch keinen groben Unfug. Die Belästigung muß ferner gegen das Publikum, d. h. eine unbestimmte Mehrheit von Personen gerichtet sein. Dieser Begriff, der auch früher strittig war, ist durch die Rechtsprechung zum ruhestörenden Lärm hinreichend geklärt worden33 • Wohl finden sich immer wieder Urteile, die dieses Erfordernis außer acht lassen und bei Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung oder Belästigung von Frauen groben Unfug für vorliegend halten. In der Regel wird hier jedoch eine andere Strafbestimmung eingreifen. Mit Recht führt Frank34 auch aus, daß anderenfalls das Antragserfordernis bei Körperverletzung, Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung seiner praktischen Bedeutung entkleidet würde. Nicht zu billigen ist daher die Entscheidung des OLG Hamm vom 26. 5. 1966 35 , nach der ein Kraftfahrer, der eine Frau auf einer verkehrsarmen öffentlichen Straße nach Eintritt der Dunkelheit hartnäckig verfolgt, schon dadurch, unabhängig von einer konkreten Wahrnehmungsmöglichkeit durch Dritte, den Tatbestand des groben Unfugs erfüllt. Das Verhalten des Verurteilten stellt eine Beleidigung, möglicherweise eine Freiheitsberaubung dar, nicht aber groben Unfug. Wenn 29 v. Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 11. AufI. (1927), § 360 Nr. lllit. e; Frank a.a.O. 30 Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 18. Auf I. (1898), S. 692 f. 31 a.a.O § 360 Anm. XI, 2 a. 32 Beispiele von Frank a.a.O. 33 Maurach, Deutsches Strafrecht, Bes. T., 4. AufI. (1964), S. 490. 3' Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 15. Auf I. (1924), § 360 Anm. XI,

2

c.

35

JZ 1966, 648; abI. Anm. von Schröder das. S. 649.

VerfassungsmäBigkeit der Strafbestimmung gegen den groben Unfug

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Nagler 36 demgegenüber auch die abstrakte Möglichkeit der Wahrnehmung genügen läßt, so kann dem nicht gefolgt werden37 • Die Belästigung muß schließlich eine unmittelbare sein. Dadurch scheiden die Fälle aus, in denen durch die späteren Folgen der Tat oder nachträgliches Bekanntwerden die Belästigung eintritt. Unhaltbar sind daher die früher zahlreichen Urteile, in denen die Strafbestimmung dazu verwandt wurde, Verletzungen des patriotischen, religiösen oder sittlichen Gefühls entgegenzutreten, soweit diese nicht unmittelbar, sondern erst im Wege nachträglicher Reflexion eintreten konnten 38 • Keinen groben Unfug stellten deshalb auch z. B. die Angriffe im "Vorwärts" auf die preußische Justiz wegen angeblicher Verurteilung eines Unschuldigen 39 dar. Nur mittelbare Belästigungen sind ferner die Boykott-Erklärungen, die vor dem Jahre 1914 zuweilen als grober Unfug geahndet worden sind40 • Anerkannt ist heute, daß nicht nur physische, sondern auch psychische Belästigungen wie etwa öffentliches Nacktbaden oder Herumlaufen in unziemlicher Kleidung - ohne Rücksicht auf das in § 183 vorgesehene Erfordernis, daß jemand Anstoß nimmt - groben Unfug darstellen können. Es genügt die bloße Eignung der Handlung zur Störung, ohne daß eine solche eingetreten zu sein braucht 41 • 4. Schröder42 hat behauptet, die Nachkriegsrechtsprechung habe die vom Reichsgericht gezogenen Konturen wieder völlig verwischt. In dieser Allgemeinheit kann dem jedoch nicht zugestimmt werden. Das oben angeführte, nicht zu billigende Urteil des OLG Hamm 43 stellt einen Einzelfall dar, wenn sich auch Beispiele dieser Art schon in früheren Entscheidungen finden lassen 44 • Das Reichsgericht15 hatte einen Angriff gegen drei Mädchen nur deshalb als groben Unfug angesehen, weil eine weitere Person hinzugekommen war und Anstoß genommen hatte. Zweifelhaft kann freilich die Bejahung des groben Unfugs bei unbefugter Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen sein. Der falsche Feueralarm hat geradezu das klassische Beispiel des groben Unfugs von Leipziger Kommentar, 6.17. Auf!. (1951), § 360 Anm. 13. Vgl. RGSt 34, 364 (365). 38 Ein erheiterndes Beispiel bei v. Bodman a.a.O. S. 47: Der Angeklagte, Leiter einer Komiker-Gesellschaft, hatte zahlreiche Zettel auf den Straßen verteilen lassen, in denen unter der überschrift "Extrablatt" mitgeteilt wurde, daß sich über die originellen Leistungen der Truppe fünftausend Menschen "totgelacht" hätten. 39 RGSt 36, 213 f. 40 z. B. RGSt 27, 292; KG DJZ 1908, 309; weitere Beispiele bei Hacke, Der grobe Unfug (1892), S. 29 f. 41 Frank a.a.O. § 360 Anm. XI, 2 a. 42 Schönke-Schröder a.a.O. § 360 Rdnr. 47 u. JZ 1966, 649 (650). 43 JZ 1966, 648. 44 Vgl. Krauße ZStW 16 (1896), 657 (700); Hacke a.a.O. S.17. 45 JW 1890, 344. 36 37

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jeher dargestellt46 • In diesen Fällen wurde aber regelmäßig an die Wirkung des Alarmrufs auf das Publikum gedacht, bei dem er eine Panik auslösen kann, nicht aber an die Tatsache, daß der Einsatzwagen nun verhindert ist, anderwärts einzugreifen. Wenn das OLG Bremen47 in der grundlosen Alarmierung eines Einsatzwagens der Polizei groben Unfug sieht, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob in concreto das Publikum belästigt oder die Einsatzbereitschaft und Schlagkraft der Polizei beeinträchtigt wurde, so stellt das in der Tat eine Erweiterung und Ausdehnung der früheren Rechtsprechung dar. Das Oberlandesgericht hält diese "weitherzige" Auslegung mit Rücksicht auf die Strafwürdigkeit für erforderlich, und der Bundesgerichtshof48 hat dazu ausgeführt, der Maßstab der "Unmittelbarkeit" der beunruhigenden oder belästigenden Wirkung versage in den Fällen, in denen das grob ungebührliche Verhalten sich gegen Einrichtungen der Allgemeinheit selbst richte. Ohne weiteres leuchtet die Strafwürdigkeit dieses Verhaltens ebenso ein wie die Tatsache, daß es sich um einen typischen mutwilligen "bösen Bubenstreich" handelt. Trotzdem darf dies nicht dazu führen, von dem scharf begrenzten Erfordernis der Gefährdung oder Belästigung des Publikums abzugehen. Es mag sich als zweckmäßig erweisen, die unbefugte Benutzung öffentlicher Einrichtungen als Ordnungswidrigkeit auszugestalten, und darunter könnte auch die unbegründete Herbeirufung eines Bereitschaftsarztes 49 zu rechnen sein. Anderenfalls wäre wenigstens nicht einzusehen, warum nicht auch die Warnung vor einer Autofalle 50 oder andere Verhinderungen des behördlichen Einsatzes als grober Unfug zu bestrafen sind. 5. Nicht nur bezüglich des Mißbrauchs öffentlicher Einrichtungen, sondern auch bei manchen anderen Fallgruppen erscheint es zweifelhaft, ob man sie nicht aus dem Generalverbot des groben Unfugs herausnehmen und zum Sondertatbestand, sei es einer Ordnungswidrigkeit, sei es einer Strafbestimmung, machen sollte. In § 360 Nr. 6 u. 7, § 366 Nr. 2, 3 u. 7 sind bereits Tatbestände geregelt, die groben Unfug darstellen könnten, wenn nicht die Sonderregelung bestände. Unter den viel eingehenderen übertretungsbestimmungen des italienischen "Codice Penale" finden sich zahlreiche Tatbestände, deren Qualifizierung als grober Unfug nach deutschem Recht zu Kontroversen geführt hat. So ist nach art. 565 c. p. die Veröffentlichung oder Verbreitung falscher, übertriebener oder tendenziöser Nachrichten strafbar, wenn dadurch die öffentliche Ordnung gestört werden kann. Gemäß art. 658 c. p. wird bestraft, wer durch Angabe 46 Lorey, Zur Lehre vom "groben Unfug", Strafr. Abh. H. 161 (1912), S. 46; Krauße a.a.O. S. 684; vgl. auch v. Olshausen a.a.O. § 360 Nr. lllit. e. 47 NJW 1952, 155. 48 BGHSt 13, 241 (248). 49 OLG Celle NJW 1964, 2213. 50 OLG Köln JW 1928, 1073.

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von nicht existierenden Unglücksfällen oder Gefahren öffentliche Behörden oder Personen, die einen öffentlichen Dienst versehen, stört. Persönliche Belästigungen von Personen in der Öffentlichkeit oder durch Telefone werden in art. 660 c. p. erfaßt; darunter fiele auch die vom OLG Hamm als grober Unfug bestrafte Belästigung einer Frau. Nach art. 661 c. p. sind schließlich strafbar beschimpfende Äußerungen, Gotteslästerungen und das Mißbrauchen der Leichtgläubigkeit des Volkes, z. B. durch Wahrsagen. Was hier an Tatbestandsklarheit gewonnen werden könnte, hätte allerdings den Nachteil jeder Kasuistik: Neu auftretende Fälle könnten nicht oder nur sehr schwer bestraft werden. So fiele der vom KammergerichtSI entschiedene Fall, bei dem der Täter mit einem umgedrehten Hakenkreuz am Auto durch Berlin fuhr und überall Aufläufe verursachte, unter keine Strafbestimmung. Im einzelnen Fall mag das kein großes Unglück sein, aber die moderne Massengesellschaft kann, wie die Erfahrung zeigt, auch außerhalb der herkömmlichen schwereren und mittleren Kriminalität auf ernsthafte Sanktionen gegen die Störung von Ruhe und Ordnung um so weniger verzichten, als die kritische Einstellung zu gesetzlich bestimmten Ordnungsvorschriften in der Bevölkerung eher zunimmt. 6. Die Beantwortung der Frage, ob § 360 Nr. 11 so, wie die Rechtsprechung ihn heute auslegt, mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar ist, erfordert eine Stellungnahme zu dem umstrittenen Problem der Bedeutung dieser Grundgesetznorm für die Strafrechtspflege. Im Rahmen dieses Beitrages können dazu nur einige Gedanken angedeutet werden. Daß Art. 103 Abs. 2 GG sich nicht nur auf das Verbot rückwirkender Strafgesetze, das Analogieverbot und das Gebot, daß eine Strafbestimmung in einem formalen Gesetz enthalten sein muß, bezieht, sondern daß das Grundgesetz hier auch die gesetzliche Bestimmtheit der Strafbestimmungen ausgesprochen hat, wird von niemand bezweifelt. Das Bundesverfassungsgericht52 hat diesen Grundsatz wiederholt hervorgehoben. Einigkeit besteht anscheinend aber nur über die allgemeine Forderung, die Tatbestände seien so zu formulieren, daß sie ihrer Aufgabe, eine zuverlässige und feste Grundlage der Rechtsprechung zu bilden, nachkommen können53 • Darüber hingegen, welche Anforderungen in concreto an die Klarheit und Bestimmtheit eines Gesetzes zu stellen sind, gehen die Ansichten weit auseinander. Prüft man ferner, welche Folgerungen aus dem rechtsstaatlichen Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit der Tatbestände gezogen wer51 52

JR 1965, 392. BVerfGE 4, 352 (357 ff.); 14, 174 (185).

53 Zur Garantiefunktion des Tatbestandes vgl. H. Mayer, Die gesetzliche Bestimmtheit der Tatbestände, Mat. I (1954), S. 259 ff.; Hamann, Grundgesetz und Strafgesetzgebung (1963), S. 47; Woesner, NJW 1963, 273 ff. u. 1964, 1 (3 ff.); Arndt NJW 1963, 848 f.

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den, so kann man nur feststellen, daß sie recht verschieden sind und daß die Wirklichkeit dem vom Gesetzgeber aufgestellten Ideal nicht nur nicht entspricht, sondern nicht einmal entsprechen kann. Daß dieses Ideal nicht in einem schlechthin durchtypisierten Kriminalunrecht gesucht werden sollte, weil ein solches oft zu einem gesetzgeberischen Perfektionismus führt, der gerade vom Verfassungsstandpunkt aus dann wieder sehr bedenkliche Erscheinungen zeitigt, hat Dürig S4 klar herausgestellt. So besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß der Gesetzgeber auf Wertbegriffe und Generalklauseln nicht verzichten kann. Selbst WelzelsS, der die eigentliche Gefahr für den Grundsatz nulla poena sine lege heute nicht von der Analogie, sondern von den unbestimmten Strafgesetzen her sieht, hält nur "allzu allgemein" gehaltene normative Tatbestandsmerkmale für unzulässig. SaxS6 bemerkt mit Recht, daß sich selbst "die Konturen einer grundsätzlichen Lösung" bisher nicht abzeichnen. Beziehe man das Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit der Strafbarkeit auf die äußere tatbestandliche Umschreibung des poenalisierten Verhaltens und sehe man seinen Sinn in der Sicherung rechts staatlicher Vorausberechenbarkeit der Strafbarkeit für den Betroffenen, dann bleibe "nur die Möglichkeit einer Kapitulation". Sax sucht die Lösung in folgendem Gedankengang: Sitz der strafrechtlichen Freiheitsgarantie sei nicht die äußere Tatbestandsbeschreibung, sondern nur die durch die vertypte unmittelbare oder mittelbare Verletzung in der Gemeinschaft von je verbindlich anerkannter Werte. Auf diesen bisher einzig ernsthaften Versuch, über die leere Proklamation eines Grundsatzes, den man praktisch nicht anwendet, hinauszukommen, kann hier nicht mit der gebotenen Ausführlichkeit eingegangen werden. Gangbar erscheint mir der Weg von Sax jedoch nicht. Durch Verlegung des Problems von der Bestimmtheit des Tatbestandes oder Verhaltenstypes auf diejenige des Wertverletzungstyps wird kein klarer Maßstab gewonnen. Warum der Wertverletzungstyp zwar bei § 240 durch das "Maßprinzip der verwerflichen Zweck-Mittel-Relation" festgelegt wird, bei § 170 d durch die "Gefährdung des sittlichen Wohls des Kindes" dagegen nicht, weil keine Möglichkeit der Spezifizierung auf bestimmte Werte bestündes7 , ist schlechthin nicht einzusehen. Bei Gefährdung des geistigen oder leiblichen Wohles des Kindes durch Vernachlässigung oder ehrloses oder unsittliches Verhalten kann das Vormundschaftsgericht weitgehende Maßnahmen, die bis zur Anordnung der Fürsorgeerziehung gehen, treffen. Sittlich gefährdete Personen können nach § 73 BSHG in eine geeignete Anstalt oder ein Heim eingewiesen werden. Die zuständi54 55 56

Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 103 Abs. 2 Rdnr. 107 Anm. 1. Das Deutsche Strafrecht, 9. Aufl. (1965), S. 21 f. Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, Bd. UI, 2 (1959), S. 909

(1008). 57 Sax a.a.O. S. 1011.

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gen Richter arbeiten seit Jahrzehnten mit diesen Begriffen in zufriedensteIlender Weise. Die Rechtsprechung hat diese Bestimmungen vernünftig und zweckentsprechend angewandt, obwohl in manchen Einzelfällen Zweifel darüber, was ein ehrloses oder unsittliches Verhalten ist, auftreten können. Daß es sich nicht um Strafgesetze im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG handelt, ist klar; aber es handelt sich hier nur darum festzustellen, daß eine klare Umschreibung der Fälle, in denen die Richter zu weitgehenden Eingriffen in die Freiheit befugt sind, in tatbestandlich bestimmter Form nicht möglich ist. Der Wertverletzungstyp ist hier nicht weniger klar als in anderen Fällen, in denen der Strafgesetzgeber auf durchgehende Vertypisierung verzichtet hat und verzichten mußte. Es wird zuweilen behauptet, der Aufbau eines Strafrechts mit nur deskriptiven Merkmalen sei ein Ideal, das nur praktisch nicht verwirklicht werden könne, da Wertbegriffe und Generalklauseln eben auch im Strafrecht nicht ganz zu entbehren seien. Abgesehen davon, daß selbst deskriptive Elemente nicht immer wertungsfrei sind5B und zuweilen der Auslegung nicht geringere Schwierigkeiten bereiten als normative, ist festzustellen, daß die Verwendung von Generalklauseln auch, und gerade im Strafrecht keineswegs eine allgemein zu bekämpfende Tendenz darstellt, so als ob der Gesetzgeber seine Aufgabe, bestimmte Tatbestände zu schaffen, nicht richtig erkannt hätte. Die Verwendung dieser Begriffe liegt vielmehr in der Natur der Sache, in den modernen Lebensverhältnissen überhaupt. Selbst im Rahmen der klassischen Kriminalität hat es sich in Jahrhunderten nicht als möglich erwiesen, den Tatbestand der Erpressung eindeutig zu beschreiben. Hoffnungslos wäre es, für neu auftretende Tatbestände im Verkehrsrecht, im Gesellschaftsrecht, im Wettbewerbsrecht, allgemein im Gebiet der white-collar-crimes klar umrissene Tatbestände aufzustellen. Mit besonderer Klarheit hat Henkel5 9 den entscheidenden Gesichtspunkt herausgearbeitet: Je konkreter und damit bestimmter und merkmalsreicher ein Begriff ist, um so sicherer und entschiedener wird die Berücksichtigung der Individualität des ihm zu subsumierenden Lebensfalles ausgeschlossen. Zugespitzt und vereinfacht kann man sagen: Logische Subsumtion führt von der Individualität des Falles weg, Wertung zu ihr hin. Es nimmt daher nicht Wunder, daß in den Strafgesetzentwürfen die Tendenz besteht, allgemein gehaltene, normative Merkmale zu verwenden60 • Das wäre schwer begreiflich, wenn es sich bei der Benutzung sol58

Erik Wotf, Der Sachbegriff im Strafrecht, in RG-Festgabe, Bd. V (1929),

S. 45 (55).

Recht und Individualität (1958), S. 26 ff. Vgl. dazu statt aller die ausgezeichnete Dissertation von Seet, Unbestimmte und normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht und der Grundsatz nullum crimen sine lege, München (1965). 59 60

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cher Merkmale um einen "Sündenfall" des Gesetzgebers, ein Verkennen seiner Aufgabe handelte. 7. Ein Sonderproblem, das hier nur angedeutet werden kann, liegt in der Verweisung auf "gute Sitten", "Verwerflichkeit" und dergleichen. In seiner Göttinger Antrittsvorlesung führte Grünwald 61 aus, eine Verweisung auf außerrechtliche Normen müsse verfassungskonform ausgelegt werden. Sie sei nur erträglich, wenn der Richter eine Verurteilung auf unumstrittene, im allgemeinen sittlichen Bewußtsein gefestigte Normen gründen könne. Der Gedanke hat weitgehend Zustimmung gefunden 62 . Schröder63 geht so weit, Freispruch zu fordern, wenn sich ein sicheres Werturteil über eine Handlung nicht abgeben lasse. Nach dieser Auffassung kommt es daher für die Annahme der Sittenwidrigkeit auf die Ansicht der gerecht und billig Denkenden an, also auf eine soziologische Meinungsforschung darüber, was alle oder wenigstens die Mehrheit oder gewisse tonangebende Schichten annehmen. Wie problematisch eine solche Feststellung ist, hat G. Arzt in seiner Dissertation "Die Ansicht der gerecht und billig Denkenden"64 nachgewiesen. Blei65 befürchtet sogar, daß der Entscheidung im konkreten Fall zugrunde gelegt werde, was nach Meinung des Gerichts dem Anstandsgefühl der gerecht und billig Denkenden zuwiderlaufen müßte. Man sollte aber doch darüber nachdenken, ob der "Pluralismus" des demokratischen Staates, bei dem nur das Wort, nicht aber der Begriff neu ist, wirklich fordert, daß der Richter sich von Meinungsforschungsinstituten exakt unterrichten lassen müsse, welche Ansichten im Volk überwiegen. Mit einer derart subalternen Rolle wäre ihm die seit Jahrhunderten zuerkannte Stellung, an Hand des Rechts Maß zu geben und das Recht fortzubilden, aufgegeben. Dem reinen Subjektivismus, bei welchem der Richter seine private Anschauung anstelle derjenigen setzt, die im Gesamtsystem unseres Rechts vertreten wird, soll hier nicht das Wort geredet werden66 . Aber es soll auf die anscheinend von wenigen in ihrem ganzen Ausmaß erkannte Gefahr hingewiesen werden, daß der richtige Gedanke der Toleranz in der pluralistischen Gesellschaft zu einer Resignation des Richters führt, der es nicht mehr wagt, seine in dogmatischer und notfalls schöpferischer Arbeit gewonnene Wertungsvorstellung anzuwenden, obwohl das Gesetz ZStW 76 (1964), 1 (16). JuS 1964, 373 (379 ff.); Engisch, Die Strafwürdigkeit der Unfruchtbarmachung mit Einwilligung; H. Mayer-Festschrift (1966), S. 399 (401); Ar. Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, in Recht und Staat, H. 282/283 (1964), S. 44 f.; Wieacker JZ 1961, 337; Wutfhorst NJW 1967, 649 (651). 63 Schönke-Schröder a.a.O. § 226 a Rdnr. 10; ähnlich NoH ZStW 77 (1965), 81 62

Roxin

1 (25).

Tübingen (1962). a.a.O. S. 46. 16 Vgl. meine Ausführungen in Heinitz-Würtenberger-Peters, Gedanken zur Strafrechts reform (1965), S. 20 ff. 64

65

Mezger-Btei

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dies von ihm verlangt und in zahlreichen Fällen verlangen muß, da wohl der Philosoph, nicht aber der Richter sich mit einem non liquet hinsichtlich der Frage, was Recht und Unrecht ist, begnügen darf. Der enge Zusammenhang von Recht und Sittlichkeit ist von niemand besser und klarer ausgedrückt worden als von Peters67 • Peters weist darauf hin, daß die geistige Zerrissenheit unserer Zeit weitgehend einer Einheitlichkeit der ethischen Auffassung entgegenstehen möge, das könne aber nicht dazu führen, überhaupt auf die ethische Grundhaltung zu verzichten. Selbst bei verschiedenen geistigen Ausgangspunkten ließen sich auch heute noch allgemeingültige Aussagen über die für die Rechtsanwendung notwendigen Grundlagen machen. Die Natur des Menschen und die Kulturgemeinschaft unserer Gesellschaft führten immerhin noch zu einem nicht unbeträchtlichen Maß einheitlicher Grundauffassungen. Auch wo die Sittenwidrigkeit nicht durch "Wertentscheidungen, die der Gesetzgeber an anderen Stellen der Rechtsordnung getroffen hat, außer Frage gestellt wird" 68, darf der Richter nicht resignieren und auf ein eigenes Urteil verzichten. Wenn Wulfhorst ß9 aus dem hier bekämpften Satz geradezu die Folgerung zieht, der Gesetzgeber dürfe nicht einmal die freiwillige Sterilisation verbieten, da die Sittenwidrigkeit nicht so allgemein einsichtig sei, daß alle sie einsehen könnten, so zeigt gerade dieses Ergebnis, wohin die hier bekämpfte Meinung führen muß. Es ist schon schlimm genug, wenn dem Richter die Kompetenz bestritten wird, über sittlich und unsittlich zu urteilen, wenn nicht alle ernst zu nehmenden Staatsbürger gleicher Meinung sind. Jetzt soll sogar der Gesetzgeber durch das Grundgesetz gehindert sein, die umstrittene Frage zu regeln. Die deutsche Gefahr, richtige Grundprinzipien bis zum Fanatismus zu übersteigern, tritt hier besonders klar hervor. Die Kompetenz des Gesetzgebers, die zweifelhafte Frage zu entscheiden, dürfte in keinem Land sonst bestritten werden. 8. Geht man davon aus, daß Verweisungen auf Begriffe wie Sittenwidrigkeit, Verwerflichkeit und dergleichen nicht schon wegen der Schwierigkeit, exakte und sichere Maßstäbe für die Rechtsanwendung zu finden, im Strafrecht unzulässig sind, so ist damit freilich noch nichts darüber gesagt, ob der Gesetzgeber richtig und zweckmäßig handelt, wenn er sich im Einzelfall solcher Formeln bedient, statt bestimmte Lebensbereiche in mehrere Tatbestände aufzulösen. Daß der Gesetzgeber sich bei der Sterilisierung einer Regelung nicht entziehen sollte, hat Kohlhaas 70 treffend ausgeführt. Zweifelhaft erscheint mir dagegen, ob der 67 6S 69

70

Strafprozeß, 2. Aufl. (1966), S. 38. Roxin JuS 1964, 373 (379).

NJW 1967, 649 (651). NJW 1963, 2348.

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Versuch von Roxin71 , die generelle Regelung des § 240 Abs. 2 durch sechs Prinzipien zu ersetzen, gelungen ist. Die von ihm entwickelten "sozialen Ordnungsprinzipien" sind, wie SeeF2 mit Recht ausführt, formaler Art und verweisen daher keineswegs auf eindeutige und bestimmte Wertmaßstäbe. Soweit es sich um typische Fallgruppen handelt, mag eine bessere gesetzgeberische Technik sie konkretisieren. Davon abgesehen erscheint aber eine abschließende Regelung sowohl bei der Nötigung als auch bei der Einwilligung in Körperverletzungen mit ihren zahlreichen Anwendungsfällen73 schwer möglich74 • Dagegen sollten Fälle wie Schwangerschaftsunterbrechung, Sterilisierung usw. geregelt werden. Aus all diesen Gründen hat das KammergerichF5 die Bestimmung über den groben Unfug für vereinbar mit dem Grundgesetz erklärt, und wenn auch zuzugeben ist, daß es sich um einen wirklichen Grenzfall handelt, da nicht aus dem Wortlaut des Gesetzes, sondern aus Entstehungsgeschichte und Rechtsprechung die Grenzen abgeleitet werden müssen, so ist der Entscheidung doch m. E. zuzustimmen. 9. Es mag noch darauf hingewiesen werden, daß man weder in Amerika noch in Rußland ohne eine Generalklausel gegen groben Unfug auskommen zu können glaubt. In Rußland wird nach Art. 206 des Strafgesetzbuches vom 27. 10. 1960 i. d. F. vom 6. 5. 1963 76 "Hooliganismus, d. h. vorsätzliche Handlungen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen und eine offensichtliche Mißachtung der Gesellschaft zum Ausdruck bringen", mit Freiheitsentziehung bis zu einem Jahr oder mit Besserungsarbeit oder mit Geldstrafe bis zu fünfzig Rubel oder mit öffentlichem Tadel bestraft. In dem Entwurf eines amerikanischen Musterstrafgesetzbuches77 wird nach Sektion 250.2 wegen ordnungswidrigen Verhaltens bestraft, "wer in der Absicht, eine Belästigung, Störung oder Beunruhigung der Öffentlichkeit zu verursachen, oder wer leichtfertig eine solche Gefahr herbeiführt, indem er: a) sich auf eine Schlägerei einläßt, Drohungen ausstößt oder sich gewalttätig oder lärmend aufführt; oder 71 a.a.O. S. 376 f. 72 Unbestimmte und normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht und der Grundsatz nullum crimen sine lege, Diss. München (1965), S. 91. 73 Einwilligungen bei gefährlichen Sportarten, Experimente am lebenden Menschen, Schönheitsoperationen, Organübertragungen. 74 In Italien verbietet der art. 5 c. c. Verfügungen über den eigenen Körper, soweit dadurch eine dauernde Minderung der physischen Integrität verursacht wird. Hier hat also der Gesetzgeber eine Wertentscheidung getroffen, so daß über die Strafbarkeit beispielsweise der Tubenligatur kein Zweifel bestehen könnte; vgl. Bettiol, Diritto Penale, 6. Aufl. (1966), S. 306 f. mit weiteren Angaben. Die Behauptung, daß eine solche gesetzgeberische Regelung verfassungswidrig sei, wäre dem italienischen Juristen schwer verständlich. 75 JR 1965, 392. 76 Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher übersetzung, herausgegeben von Jescheck und Kielwein, Nr. 82. 77 Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher, Nr. 86.

Verfassungsmäßigkeit der Strafbestimmung gegen den groben Unfug

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b) unmäßigen Lärm oder anstößig grobe Äußerungen oder Gebärden macht oder sich zur Schau stellt, oder sich gegen einen Anwesenden mit gemeinen Schimpfworten wendet; oder c) eine gespannte oder gefährliche Lage durch eine Handlung herbeiführt, die keinem rechtmäßigen Zweck des Handelnden dient."

Nach Sektion 250.3 ist die grundlose Beunruhigung der Öffentlichkeit durch unwahre Berichte und Warnungen vor einer bevorstehenden Explosion einer Bombe oder einer anderen Straftat oder Katastrophe strafbar und nach Sektion 250.4 begeht ein Vergehen, wer "in der Absicht, einen anderen zu belästigen: (1) einen Telefonanruf macht, ohne einen triftigen Grund dafür zu haben; oder

(2) einen anderen beschimpft, verhöhnt oder in einer Weise herausfordert, die geeignet ist, eine gewalttätige oder ordnungswidrige Gegenwirkung hervorzurufen; oder (3) wiederholt, ohne seinen Namen zu nennen, oder zu höchst ungelegener Zeit oder indem er sich einer anstößig groben Sprache bedient, telefonische Verbindungen herstellt; oder (4) ihn zwingt, anstößige Berührung zu dulden; oder (5) sich, ohne dies rechtfertigen zu können, in irgendeiner anderen Form beunruhigend aufführt".

ROMAN HERZOG

Grundrechte und Gesellschaftspolitik Die deutsche Staatsrechtslehre hat, wenn man ihre Hauptinteressengebiete ins Auge faßt, seit ihrem Wieder entstehen nach 1945 eine bemerkenswerte Entwicklung durchgemacht. Richtete sich ihr Augenmerk vor 1949 zwangsläufig auf die Grundfragen der Neuordnung in Bund und Ländern, so begann sie nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes alsbald die Grundrechte und in engem, insbesondere durch Art. 19 Abs. 4 GG bewirktem Zusammenhang damit, die rechtsprechende Gewalt zum wichtigsten Gegenstand ihrer Arbeit zu machen. Dabei blieb es lange Zeit, bis sich um die Mitte der Fünfziger Jahre allmählich ein Interessenwandel in Richtung auf institutionelle Grundfragen anbahnte. Das Verhältnis von Kirchen und Staat, das bis dahin nur wenig aus dem Gesichtskreis der Spezialisten herausgetreten war, begann die Gemüter zu erregen, die Europäischen Gemeinschaften, die politischen Parteien und nach ihnen die sog. Interessenverbände, die Massenkommunikationsmittel, das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive, insbesondere im Bereich der staatlichen Leistungstätigkeit, waren weitere institutionelle Probleme, denen nun zunehmend Augenmerk geschenkt wurde. Die Entwicklung der Staatsrechtswissenschaft hat bei diesen - fast möchte man sagen klassischen - Problemen nicht haltgemacht. In dem Ausmaß, in dem sich die praktische Politik neuen Aufgaben und neuen Methoden ihrer Bewältigung zuwandte, mußte auch das Verfassungsrecht sich ihrer bemächtigen. So ist es nicht zu verwundern, daß auch Phänomene wie Gesellschaftspolitik in allen ihren Teilbereichen, Wirtschaftspolitik, Bildungspolitik, vor allem aber in ihrer wichtigsten Methode, der Planung, mehr und mehr in den Lichtkreis verfassungsrechtlicher überlegungen gezogen wurden. Zu verwundern ist freilich, daß die Fragestellung, mit der man sich diesem neuen Problem näherte, nun die Grundrechte fast ganz ausklammerte. Untersucht werden bisher vorwiegend Probleme wie die Klassifizierung und Stringenz gesamtwirtschaftlicher und gesamtgesellschaftlicher Planung!, die Verteilung der Planungs- und damit Gestal1 Vgl. dazu insbesondere die Beiträge von Kaiser, Ipsen, Scheuner, Gygi u. a. in: Kaiser (Hg.), Planung 1,1965, und Planung II, 1966.

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tungskompetenz auf die einzelnen Staatsgewalten2 , die richterliche Kontrolle der einzelnen Akte staatlicher Gesellschaftspolitik3 • Daß mit dem Vordringen gesellschaftsgestaltender Staatspolitik auch die Grundrechte unter Umständen bedroht, mit Sicherheit aber in entscheidenden Punkten umgeprägt werden, ist bisher, soweit ersichtlich, von rechtswissenschaftlicher Seite kaum beachtet worden. Der folgende Beitrag, dessen Verfasser wohl schwerlich im Verdacht einer prinzipiellen Ablehnung staatlicher Gesellschaftspolitik stehen dürfte\ soll versuchen, diesem Problem wenigstens in Umrissen nachzugehen. Eine im eigentlichen Sinne des Wortes die Gesellschaft formende Politik ist, wie immer ihre Ziele und ihre Methoden im einzelnen aussehen mögen, ohne augenfällige Berührung der Individualinteressen nicht denkbar. Wir werden später noch auf jene Modalitäten dieses Vorgangs einzugehen haben, die der modernen Gesellschaftspolitik spezifisch zu eigen sind und deren Bewältigung durch die Staatsrechtswissenschaft weitgehend noch aussteht. An dieser Stelle muß aber vorab der selbstverständlichen Tatsache gedacht werden, daß die Gesellschafts- und insbesondere auch die Wirtschaftspolitik neben diesen ihren spezifischen Methoden auch ohne jene klassischen Mittel staatlicher Hoheitsausübung nicht auskommen, die man üblicherweise unter dem Terminus des Eingriffs in die Individualsphäre zusammenfaßt und deren Abwehr und Kanalisierung neben zahlreichen anderen Institutionen gerade auch die Grundrechte dienen. Mit anderen Worten: Gesellschaftspolitik und Grundrechte stoßen dort zum ersten, wenn auch nicht zum einzigen Mal aufeinander, wo sich die Gesellschaftspolitik, entweder um unmittelbar ihre Ziele zu erreichen oder um sich die Instrumente zu einer anderweitigen Verfolgung ihrer Ziele zu verschaffen, des unmittelbaren Eingriffs in die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte bedient. Das klassische Beispiel dieser Art von Grundrechtsbeeinträchtigung im Dienste der Gesellschaftspolitik ist im Gefüge des Grundgesetzes der Sozialisierungsartikel (Art. 15), dessen seltsame Ausgestaltung die Schwierigkeiten dieses Aufeinandertreffens von Grundrechten und Gesellschaftspolitik geradezu signalisiert5 • Daß auch weniger hart eingrei2 Dazu etwa Herzog, Gesetzgeber und Verwaltung (Mitbericht), VVDStRL Heft 24, S. 201 ff. 3 Diese Fragestellung lag vor allem den Diskussionen der Erlanger Staatsrechtslehrertagung 1959 zugrunde; vgl. VVDStRL Heft 18. 4 Vgl. etwa meine Artikel "Der Mensch des technischen Zeitalters als Problem der Staatslehre", "Eigentum (Ziff. I und III)", "Planung (Ziff. I und II)" im Evangelischen Staatslexikon, 1966. 5 Zu diesem nahezu vergessenen Artikel vor allem H. P. Ipsen und Ridder, VVDStRL Heft 10, S. 74 ff., 124 ff.; ferner Herb. Krüger in: Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, Bd. 3, 1. Halbbd., 1958, S. 267 ff.

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fende Methoden der Gesellschaftspolitik durchaus grundrechtliche Aspekte und damit notwendig auch grundrechtliche Schranken haben, ist in den Jahren der wirtschaftlichen Expansion zwar weithin nicht gesehen und durch die unbegreifliche Lehre, daß Art. 14 GG keinerlei Schutz gegen die Auferlegung von Geldleistungspflichten gewähre 6 , auch verfassungsrechtlich negiert worden. Der Ruf nach einer progressiven Gestaltung des Gesellschaftsaufbaus, der gerade in dem Augenblick besonders nachhaltig erhoben wird, in dem die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte erstmalig auf unübersteigbare Grenzen stößt, wird aber die Staatsrechtswissenschaft davon überzeugen, daß es hier auch um Grundrechtsprobleme ersten Ranges geht. Im übrigen ist es eine Binsenwahrheit, daß eine zielstrebig betriebene staatliche Gesellschaftspolitik auch abgesehen von diesen selbstverständlichen Fällen fast unausweichlich zu Maßnahmen vordringen muß, die als Eingriffe in Grundrechte zu qualifizieren sind. Auch die Absicht, die ökonomische Potenz einer Gesellschaft aufs höchste zu steigern, ändert nichts daran, daß die zwangsweise Einweisung des einzelnen in einen bestimmten Beruf oder einen bestimmten Arbeitsplatz mit dem Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG kollidiert; auch eine wirtschafts- und gesellschaftspolitisch noch so erwünschte Lohnpolitik des Staates wird sich an der grundsätzlichen, wenn auch schwerlich uneinschränkbaren Autonomie der Sozialpartner (Art. 9 Abs. 3 GG) messen lassen müssen, und auch die staatliche Aufzuchtpolitik, die die moderne Genetik in zunehmendem Maße ermöglicht und der sich auf die Dauer wohl kaum ein Staat völlig wird enthalten können, wird nur eben so weit gehen können, wie die Art. 1 und 6 GG es im Hinblick auf die freie Entscheidung des einzelnen zulassen7 • Es mag sein, daß manches dieser Grundrechte angesichts der modernen Gestaltungsmethoden einer korrigierenden Interpretation unterzogen werden muß. Eben so fest steht aber auch, daß ein Eingriff in ein Grundrecht nicht etwa deshalb automatisch legitim ist, weil er höheren Zwecken der Gesellschaftspolitik dient. Die Grundrechte trotzen der Staatsräson auch dort, wo diese den Bund mit der "Gesellschaftsräson" eingeht. Der unmittelbare gesetzliche oder verwaltungsmäßige Eingriff in Grundrechte ist freilich nur die eine Seite der Gesellschaftspolitik, und wenn sich diese nur des gezielten Eingriffs in die Grundrechte konkret bestimmter oder konkret bestimmbarer Einzelpersonen bediente, würde Dazu kritisch Herzog, Art. "Eigentum", in: Evang. Staatslexikon, Sp. 383 ff. Hier liegt eine fundamentale Aufgabe gerade der für die modernen Entwicklungen aufgeschlossenen Jurisprudenz: unablässig darauf hinzuweisen, daß nicht alles, was Wissenschaft und Technik des 20. Jahrhunderts möglich machen, damit automatisch auch gut und rechtmäßig ist. 8

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5 Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch

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sich eine besondere Untersuchung ihres Verhältnisses zu den Grundrechten schwerlich lohnen. Dem ist aber nicht so. Das Wesen der Gesellschaftspolitik, wie immer man sie im einzelnen definieren will, besteht nämlich gerade darin, daß sie die soziale Umwelt, in der der einzelne seine Grundrechte ausübt und die bislang zumindest die juristische Grundrechtslehre als eine unveränderliche Konstante hinzunehmen oder doch vorauszusetzen pflegte, bewußt und nach ganz konkreten Zielvorstellungen zu verändern sucht. Es liegt auf der Hand, daß auf diese Weise selbst dort, wo sie nicht zum unmittelbaren Eingriff in Grundrechte vorstößt, doch die Umwelt geändert wird, in der diese wirken, und daß auf diese Weise ihr praktischer Wert, der Grad ihrer effektiven Bedeutung grundlegend beeinflußt wird. Bildlich gesprochen: die Kulisse, vor der die Grundrechte spielen, verändert sich - und mit ihr der Gesamteindruck, um den es jedem gehen muß, der eine Verfassung nicht nur interpretiert, sondern auch kraftvoll angewandt sehen will. Nun ist die Erkenntnis, daß über den Wert eines Rechtes zumindest auch die gesellschaftliche Situation grundlegend mitentscheidet, in der es ausgeübt wird, an sich nichts Neues. Daß die Vertragsfreiheit bei bestimmten Zuständen des Marktes gerade zur Unfreiheit der einen Seite führt und daß auch die formale Chancengleichheit, wenn sie nicht die Quelle einer absoluten Unfreiheit werden soll, wenigstens eine Vergleichbarkeit der faktischen Ausgangspunkte voraussetzt, ist seit den Tagen des Liberalismus hinlänglich bekannt. Daß die Freiheit der Arbeitsplatzwahl entscheidend vom Arbeitsmarkt und übrigens auch vom Wohnungsmarkt abhängt, ist ebensowenig zu bestreiten, und nicht weniger klar ist, um diese Aufzählung abzuschließen, daß die Freiheit des Eigentums zumindest bei jenen Bevölkerungskreisen, die auf Eigentumsbildung angewiesen sind, fundamental mit der jeweiligen Wirtschaftsund Einkommenslage gekoppelt ist. Das Besondere, dem die Grundrechtslehre im Zeitalter der Gesellschaftspolitik gegenübersteht, ist also nicht so sehr die selbstverständliche Abhängigkeit der Grundrechtsausübung von der jeweiligen gesellschaftlichen, insbesondere auch wirtschaftlichen Situation, sondern die Tatsache, daß diese gesellschaftliche Situation heute mehr als zu jeder anderen Zeit von demselben Staat ziel- und planmäßig geschaffen und geändert werden kann, der an die Grundrechte, deren praktische Bedeutung mit ihr auf Gedeih und Verderb verknüpft ist, in allen Äußerungen seiner Gewalt unabdingbar gebunden ist. Daß die Eigentumsgarantie für weite Teile der Bevölkerung wegen einer Konzentration der Vermögen praktisch leerläuft, mag für einen Staat, der auf die Vermögensverteilung keinen Einfluß hat, bitter und für einen Staat, der diese Situation vorfindet, aber trotz der Möglichkeit hierzu nicht beseitigt, gerade noch erträglich sein; ein Staat jedoch, der diesen Effekt durch eine planmäßige

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Wirtschafts-, Währungs- und Steuerpolitik erst herbeiführt, wird sich die Frage stellen lassen müssen, inwiefern sich eine solche Politik von einer Politik der entschädigungslosen Sozialisierung unterscheidet. Es gibt kaum ein Grundrecht, das nicht in irgend einer Weise von der staatlichen Gesellschaftspolitik abhängig wäre. Von der Währungs- und Wirtschaftspolitik hängt nicht nur die praktische Bedeutung des Eigentums ab, sondern sie ist schlechterdings für jede Grundrechtsausübung präjudiziell, die Geld kostet, von der Pressefreiheit über die Freizügigkeit bis zum Recht auf Ausbildung; Art. 12 GG ist u. a. durch die staatliche Beschäftigungspolitik, Art. 11 GG u. a. durch die staatliche Verkehrspolitik, das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit nicht nur durch die Gesundheits-, sondern z. B. auch durch die Verkehrspolitik bedingt, und selbst der "Wert" des Rechtes auf Leben wechselt, je nachdem der Staat eine Friedens- oder Kriegspolitik steuert. Die Verfassungsrechtslehre wird nach alle dem nicht umhinkommen sich die Frage vorzulegen, ob der Staat, der sich in seiner Verfassung zur Achtung von Grundrechten bekennt, nur an unmittelbaren Eingriffen durch seine Organe gehindert ist oder ob er dieser Grundentscheidung nicht auch dort Rechnung zu tragen hat, wo er in irgendeiner Weise gesellschaftliche Mechanismen in Bewegung setzt, aus denen erfahrungsgemäß oder sogar nach der ursprünglichen Intention Verluste der Grundrechtseffektivität resultieren. Ein Blick in die Grundrechtstheorie der letzten Jahre zeigt denn auch, daß sich die Staatsrechts lehre - mehr intuitiv als bewußt - um eine Lösung dieses Problems wenigstens in einzelnen Beziehungen bemüht hat. Dabei handelt es sich insbesondere um zwei bis auf den heutigen Tag umstrittene Theorien, deren gegenseitiger Zusammenhang meist freilich ebenso unerkannt geblieben ist wie ihr Zusammenhang mit dem hier behandelten Problem. Die erste dieser Theorien ist die Lehre von der Drittwirkung der Grundrechtes. Diese Behauptung mag deshalb etwas überraschend sein. weil diese Lehre von ihren Urhebern ganz überwiegend nicht mit gesellschaftspolitischen, sondern mit rechtsstaatlichen Ambitionen entwickelt worden ist. Es ging ihnen - um es praktisch auszudrücken - um den Schutz des einzelnen vor seinem mächtigen Nachbarn und nicht so sehr um eine bestimmte Gestaltung der Gesellschaft. Dennoch ist, wenn man von der Drittwirkung der Grundrechte einmal ausgeht, schlechterdings 8 Es ist hier nicht der Ort, eine vollständige Bibliographie der Drittwirkungslehre zu geben. Erinnert sei hier nur an die Grundwerke: Nipperdey, in: Neumann-Nipperdey-Scheuner (Hg.), Die Grundrechte, Bd. 2, S. 20; ders., DVBl. 58, 445 ff.; Dürig, Nawiasky-Festschrift 1956, S. 157 ff.; ders., in: MaunzDürig, Grundgesetz, Art. 1, Randnrn. 127 ff.; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960.

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nicht zu leugnen, daß sich aus ihr gesellschaftspolitische Folgen ersten Ranges ergeben. Unabhängig davon, ob man sich der Nipperdeyschen oder der Dürigschen Variante der Drittwirkungslehre anschließt, steht jedenfalls fest, daß jede von ihnen zu schwerwiegenden Änderungen des gesamten Privatrechtssystems, d. h. aber der Gesellschaftsverfassung führen müßte. Eine Änderung des Rechtssystems hat aber naturnotwendig immer Änderungen im Verhalten der Privatrechtssubjekte zur Folge9 • Das bedeutet für unsere Fragestellung insbesondere, daß eine staatliche Gesellschaftspolitik, die sich - wie etwa die Wirtschaftspolitik der Marktwirtschaft, die Arbeitsmarktpolitik im Zeichen des Art. 12 GG usw. - auf bestimmte Verhaltensweisen der Staatsbürger im Verhältnis zu Dritten zu richten oder zu verlassen beabsichtigt, auf diese Weise selbst an den Grundrechten ihre Grenze findet. Denn es liegt auf der Hand, daß sie in dem Augenblick, in dem auch die Bürger untereinander zur Beachtung der Grundrechte verpflichtet sind, ihre Planungen nicht mehr auf der bedingungslosen Manipulation des Privatrechts aufbauen kann. Es kann in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob die Drittwirkungslehre bis heute in ausreichendem Umfang der Tatsache Rechnung getragen hat, daß mit der Umstrukturierung der Grundrechte zu gesellschaftlichen Grundregeln zwangsläufig auch Korrekturen ihres Inhalts einhergehen müssen10 • In jedem Falle würde ihre Anerkennung dem Grunde nach - und nur darum geht es hier - eine eminente gesellschaftspolitische Stoß richtung der Grundrechte erzeugen. Die zweite Theorie, die im modernen Schrifttum - und hier weithin ganz bewußt - mit gesellschaftspolitischen Folgerungen vertreten wird, ist jene Lehre, die den institutionellen Charakter der Grundrechte behauptet und gegenüber ihrem individualrechtlichen Grundgehalt sogar mehr oder weniger in den Vordergrund stelltlI. Die Lehre als solche ist nicht neu. Schon während der Weimarer Zeit ist - besonders am Beispiel des Eigentums - die Auffassung entwickelt worden, daß die Grundrechte nicht ausschließlich subjektiv öffentliche Rechte des Bürgers schaffen, sondern daß zumindest einzelne von ihnen daneben auch noch eine Garantiefunktion gegenüber bestimmten Rechtsinstituten, ja darüber hinaus auch gegenüber bestimmten Institutionen, meist der öffentlichen 9 Dazu - für den juristischen Bereich grundlegend - Kollmar, Das Problem der staatlichen Lenkung und Beeinflussung des rechtsgeschäftlichen Verkehrs,

1961.

10 Es kommt wohl nicht von ungefähr, daß z. B. das BAG, soweit es auf der Linie von Nipperdey liegt, die Drittwirkung nicht allgemein bejaht, sondern nur für Einzelgrundrechte in bestimmtem Umfang in Anspruch nimmt; vgl. BAGE 1, 185 ff. (191 ff., 193); 4, 274 ff. (276). 11 Wegen der Hauptvertreter dieser Auffassung vgL Anm. 13 und 14.

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Organisation, ausüben 12 • Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die verschiedenen, zum Teil politisch-ideologisch bedingten Verästelungen dieser Theorie darzustellen. Wichtig ist aber, daß sie in den letzten Jahren mehr und mehr eine Renaissance erlebt hat, diesmal allerdings mit verändertem und erweitertem Anwendungsbereich. Hatten sich die Lehren der Weimarer Zeit einmal auf bestimmte im Privatrecht entwickelte Rechtsinstitute wie Eigentum und Erbrecht, zu denen nach 1949 möglicherweise noch Ehe und Familie hinzutraten, beschränkt und darüber hinaus unter dem in Gegensatz zur sog. Institutsgarantie gestellten Begriffe der institutionellen Garantie allenfalls noch staatsrechtliche Erscheinungen wie das Berufsbeamtentum und die kommunale Selbstverwaltung, nach 1949 vermehrt um die Garantie der deutschen Universität, einbezogen, so wurde die Garantielehre nunmehr betont in den gesellschaftlichen Bereich herübergezogen: insbesondere im Pressewesen 13 und im Bereich der sog. Sozialpartner14 wurde aus den einschlägigen Grundrechten des Art. 5 und Art. 9 Abs. 3 GG auf das Vorliegen echter institutioneller Garantien im Grundgesetz geschlossen. Es liegt auf der Hand, daß, in welchem Umfang man diese Theorie auch immer anwenden will, mit ihrer Bejahung einer staatlichen Gesellschaftspolitik entscheidende Grenzen und Leitlinien gezogen sind. Zwar hängt es von der Zahl und der Bedeutung der im einzelnen entwickelten Garantien ab, welche Bereiche der Gesellschaftspolitik durch sie gebunden sind und in welchem praktischen Umfang das der Fall ist. Fest steht aber, daß sich jede Gesellschaftspolitik im wesentlichen auf verhältnismäßig wenige zentrale Fragen und damit auch auf verhältnismäßig wenige zentrale Entscheidungen zurückführen läßt und daß sie infolgedessen auch durch die verfassungsrechtliche Absicherung bestimmter Antworten auf einige von diesen Fragen in erheblichem Maße begrenzt, um nicht zu sagen kanalisiert ist. Konkret gesprochen: eine Gesellschaftspolitik, die, um nur dieses eine Beispiel herauszugreifen, durch Vorschriften wie den Art. 12 GG im Bereich des Produktionsfaktors Arbeit auf das Marktmodell festgelegt ist, ist dadurch konkret präjudiziert, mag auch noch so oft mit Pathos versichert werden, daß die Entscheidung über das anzuwendende Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell in der Hand der politischen Führungsorgane liegtt 5 • 12 Vgl. u. a. die bekannten Äußerungen von M. Wolff, C. Schmitt, Dennewitz, E. R. Huber, Friedr. Klein (dazu die übersicht bei v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., S. 83 ff.). 13 Ein geradezu klassisches Beispiel hierfür bietet Löffler, Der Verfassungs-

auftrag der Presse, 1963. 14 Dazu insbesondere Ridder, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1960. 15 Soviel zur Bedeutung des oft beschworenen Investitionshilfe-Urteils BVerfGE 4, 7 ff. (17 f.) - angesichts so klassisch "marktwirtschaftlicher" Ur-

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Dabei läßt sich allerdings die Frage nicht unterdrücken, ob der theoretische Aufwand, den die Staatsrechtswissenschaft in die Lehre von den institutionellen und den Institutsgarantien investiert hat, sich angesichts dieses Ergebnisses lohnt. Daß eine Rechtsvorschrift, die dem Bürger bestimmte subjektive Rechte einräumt, zumindest dann eine erhebliche Bedeutung für die Gesellschaftsverfassung erlangen muß, wenn die Bürger von ihr einmal in großer Zahl und zum anderen auch häufig Gebrauch machen, daß eine solche Vorschrift m. a. W. also auch eine gewisse gesellschaftliche Breitenwirkung entfaltet1 6, ist eine Binsenwahrheit, die so selbstverständlich ist, daß sich ihretwegen kaum eine neue Terminologie, geschweige denn eine neue Theorie rechtfertigen läßt. In der Tat handelt es sich denn auch bei den neueren Lehren von der institutionellen bzw. Institutsgarantie praktisch um nichts anderes als um die Breitenwirkung, von der oben die Rede war17 • Soweit die Garantielehren über dieses einfache Ergebnis hinausgreifen, verfallen sie ganz einfach in eine petitio principii, da sie aus den Grundrechten bestimmte Dinge, die sich aus ihnen bei einer Deutung als Grundrechte angeblich nicht herleiten lassen, trotzdem herleiten wollen, indem sie die einschlägigen Artikel noch einer zweiten rechtstheoretischen Kategorie zuteilen. Wenn aber seit der Überwindung der Begriffsjurisprudenz irgendetwas sicher ist, so ist es der Grundsatz, daß aus systematischen Kunststücken keine rechtlichen Konsequenzen hergeleitet werden dürfen. Damit sollte die Mode, auf institutionellem Wege das erreichen zu wollen, was der gleiche Artikel für Grundrechte versagt, erledigt sein. Die praktischen Auswirkungen dieser theoretischen Rückbesinnung mögen auf den ersten Blick nicht sehr groß sein. Sie sind es in der Tat nicht, solange von dem einzelnen Grundrecht wirklich von zahlreichen Bürgern und in möglichst vielen Fällen Gebrauch gemacht wird; denn in diesem Fall besteht die faktische Breitenwirkung auch ohne die institutionelle Grundrechtsdeutung. Aber das ist doch nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht nämlich fest, daß von Grundrechten immer nur Gebrauch gemacht werden kann, nicht aber Gebrauch gemacht werden muß. Es gibt keine Garantie, daß ein Grundrecht faktisch ausgeübt wird, und es gibt - mit der einzigen Ausnahme des Art. 6 Abs. 2 GG - insbesondere kein teile wie des Apotheken-Urteils (BVerfGE 7, 377 ff.). Wenn man den Art. 12 GG so ernst nimmt, wie das BVerfG das weithin mit Recht tut, sind eben erhebliche wirtschaftspolitische Entscheidungen schon vorweg ausgeschlossen. 16 Dazu auch v. Mangoldt-Klein, S. 65 ff. über die Bedeutung der Grundrechte als objektives Recht. 17 Allgemein zu diesem Problem die ausgezeichnete Untersuchung von Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965.

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Grundrecht, dessen Ausübung von Staats wegen erzwungen werden könnte. Damit steht - bisher - folgendes fest: Auch der Versuch, die Grundrechte institutionell zu verstehen, kann also nicht über das hinausführen, was schon ihre Grundrechtsqualität mit sich bringt, nämlich daß die Grundrechte, indem sie dem Staat bestimmte Eingriffe in die Persönlichkeitssphäre verbieten, zugleich auch bestimmte gesellschaftspolitische Konzeptionen zunichte machen und daß sie in dem so abgesteckten Rahmen die "selbsttätige" Entstehung bestimmter Gesellschaftsformen ermöglichen. Von einer Garantie solcher Entwicklungen kann aber nach wie vor keine Rede sein und infolgedessen erst recht nicht von einer verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zu ihrer Einleitung oder gar Durchführung. Sieht man die Dinge so, wie sie im Vorstehenden dargestellt worden sind, so stellt sich fast zwangsläufig die Frage, ob die Grundrechte, wenn sie schon keine bestimmte Gesellschaftsform verankern, über die Begrenzung der staatlichen Gesellschaftspolitik hinaus nicht wenigstens ein gewisses Programm einer staatlichen Gesellschaftspolitik enthalten. Die Vorstellungen, die dem Grundgesetz hinsichtlich der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik zugrundeliegen, sind seit langer Zeit keiner Revision mehr unterzogen worden und die ursprünglichen Äußerungen zu dieser Frage stammen aus einer Zeit, zu der die Interpretation des Grundgesetzes noch in den Kinderschuhen steckte. Zwar kennt man seit der berühmten Rektoratsrede H. P. Ipsens den Begriff der Staatszielbestimmungen18 , zwar ist jahrelang um den Richtliniencharakter und den Inhalt des Sozialstaatsprinzips diskutiert worden19 , doch ist bis zum heutigen Tage nirgends versucht worden, das Grundgesetz zusammenhängend auf seine Vorstellungen von Ziel und Ende staatlicher Politik zu befragen. Es steht außer Zweifel, daß die Verfassung einer rechts staatlichen Demokratie nicht berechtigt ist, das Ziel der staatlichen Politik bis in die letzten Fragen zu determinieren - wollte sie das tun, so wäre die Grenze zur totalitären Demokratie und zum Totalitarismus im allgemeinen weit überschritten. Das kann aber nicht bedeuten, daß einer solchen Verfassung nunmehr jede Aussage über das Gesellschaftsgefüge verboten wäre, auf das sie sich bezieht und in dem sie wirkt. Auch die rechtsstaatliche Demokratie, ja sie in ganz besonderem Maße, ist nicht nur darauf angewiesen, durch Vorschriften über Ziel und Charakter des Staates beH. P. Ipsen, über das Grundgesetz, 1950, S. 14. Dazu etwa MengeT, Der Begriff des sozialen Rechtsstaats im Banner Grundgesetz, 1953; FOTsthoff und Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL Heft 12, S. 8 ff., 37 ff.; GerbeT, Die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes. AöR 81, 1 ff. 18

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stimmte Gesellschaftsbilder auszuschließen, die mit ihrem Wesen als einer experimentierenden Staatsform schlechterdings unvereinbar sind 20 , sondern sie kann sich auch positiv, ohne Verrat an ihren Grundkonzeptionen zu üben, ein für allemal auf bestimmte Leitmotive festlegen. Die Staatsrechtslehre hat sich angewöhnt, Staatszielbestimmungen der hier besprochenen Art vorwiegend in Art. 20 Abs. 1 GG zu sehen. Daß diese Auffassung im Kern richtig ist, wird nach den Diskussionen um das Sozialstaatsprinzip wohl niemand mehr ernstlich bestreiten, wenngleich man sich etwa bei den Prinzipien der Bundesstaatlichkeit und der Republik fragen kann, wo hier von einem Staatsziel die Rede ist, und wenngleich man wohl auch das demokratische und das rechtsstaatliche Prinzip eher als Staatscharakter- denn als Staatszielbestimmungen anzusprechen hat. Darüber hinaus sind in den vergangenen Jahren aber auch noch andere Vorschriften des Grundgesetzes als Regeln über Ziele und Wege der staatlichen Politik interpretiert worden. Erinnert sei hier nur an das sog. Wiedervereinigungsgebot, das das BVerfG aus verschiedensten Vorschriften hergeleitet hat2 1, an die von Klaus Vogel vertretene These, daß die Art. 24 bis 26 GG eine Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit enthalten22 , und nicht zuletzt Art. 26 Abs. 1 GG selbst enthält mit seinem Verbot des Angriffskrieges eine unmittelbare Aussage zur staatlichen Politik 23 • Man wird sich damit aber schwerlich begnügen können. Gerade bei der grundlegenden Bedeutung des Grundrechtskatalogs für die Bundesrepublik liegt die Frage mehr als nahe, ob nicht auch die Grundrechte über ihren "Primäreffekt" hinaus, der im Verbot bestimmter staatlicher Maßnahmen besteht, einen gewissen "Sekundäreffekt" haben, indem sie den politischen Führungsorganen des Staates gewisse Ziele ihrer Politik und insbesondere ihrer Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik nahelegen. Eine derartige Verbindung des Grundrechtskatalogs mit den Staatszielbestimmungen mag der deutschen Staatsrechtslehre, die sich eine nahezu hermetische Trennung der Grundrechte und des Organisationsrechts angewöhnt hat, auf den ersten Blick befremdlich erscheinen. Sie hört aber auf befremdlich zu sein, wenn man sich klar macht, daß auch bisher schon entscheidende Querverbindungen bestanden haben und durchaus anerkannt waren. Um nur einige Beispiele zu nennen, sei hier an die grundlegende Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für Wirkung und Charakter der Freiheitsrechte und insbesondere an die fundamentale 20 Dürig hat das einmal so ausgedrückt: "Unsere Rechtsgemeinschaft hat ... sehr präzise gemeinsame Wertvorstellungen darüber, wie eine Rechtsordnung nicht aussehen darf." (Maunz-Dürig, Art. 20, Randnr. 73.) 21 BVerfGE 5, 85 ff. (127). 22 Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964. 23 Vgl. etwa Maunz-Dürig, Art. 26 Randnrn. 1 ff.

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Bedeutung der Rechtsweggarantie, der Unabhängigkeit des Richters und ähnlicher organisatorischer Prinzipien für die Wirkkraft der Grundrechte erinnert. Es ist durch nichts bewiesen, daß das Grundgesetz eine Erweiterung dieses Gesichtspunktes in den Bereich der Gesellschaftspolitik herein verbietet. Im Gegenteil ist es ein unbestrittener Grundsatz der Rechtsinterpretation, daß den Grundgedanken einer Vorschrift selbst dann nicht zuwider gehandelt werden darf, wenn der Wortlaut dies an sich zuließe. Das gilt für die Grundrechte ebenso wie für jeden anderen Rechtssatz. Dieser "Sekundäreffekt" der Grundrechte kann sich zunächst einmal in ihrer Heranziehung zur Interpretation und Konkretisierung der im Grundgesetz ausdrücklich niedergelegten Staatszielbestimmungen äußern. Ebenso wie Art. 26 Abs. 1 GG ein ganz anderes Gesicht erhält, wenn man ihn nicht nur in Zusammenhang mit außenpolitischen Erwägungen sieht, sondern auch als Ausdruck einer veränderten Einstellung des Staates zum Leben seiner Bürger betrachtet, wird das Sozialstaatsprinzip konkreter, wenn man imstande ist, die Grundrechte zu seiner Interpretation heranziehen oder wenn - mit anderen Worten - aus dem Grundrechtskatalog Themen seiner Anwendung formuliert werden können. Der Konnex zwischen dem Sozialstaatsprinzip und dem Grundrecht auf Eigentum ist bekannt: der Sozialstaat ist aufgerufen, den mittellosen Bürgern im Rahmen seiner praktischen Möglichkeiten die Schaffung von Eigentum zu ermöglichen - und nicht weniger bekannt ist etwa der Konnex zum Grundrecht der Wohnung, das staatliche Eingriffe in vorhandene Wohnräume verbietet, während das Sozialstaatsprinzip den Staat verpflichtet, fehlenden Wohnraum erst zu schaffen. Gleichfalls auf der Hand liegt damit der enge systematische Zusammenhang dieses Prinzips zum Gleichheitssatz, der dem Staat die Ungleichbehandlung ungleicher Verhältnisse gestattet, während das Sozialstaatsprinzip den Staat zur Beseitigung bestimmter Ungleichheiten aufruft und damit eine dynamische Komponente in die Gleichheitsproblematik bringt24 • Daß mit der Schaffung von Eigentum zugleich dem Bürger erst die Möglichkeit der Ausübung zahlreicher anderer Grundrechte gegeben wird, ist oben bereits gesagt worden. An dieser Stelle ist nachzutragen, daß die Befähigung des Bürgers zur Ausübung dieser seiner Grundrechte bei der hier vertretenen Sicht der Dinge eine der entscheidenden Antriebskräfte des Sozialstaatsprinzips ist. Darüber hinaus wird man sich aber die Frage stellen müssen, ob die Grundrechte nicht auch unabhängig von ihrer Funktion als Interpretationshilfen bei der Entfaltung von Verfassungs auf trägen Bedeutung für die Orientierung der staatlichen Politik besitzen müssen. Es ist hier nicht !4 Dazu Herzog, Art. "Gleichheitssatz" (Ziff. lei), in: Evang. Staatslexikon, Sp. 697 f.

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der Ort, in die alte Diskussion über die Grundrechte als Wertsystem erneut einzutreten. Denn unabhängig davon, ob man die Grundrechte als Wertgarantien betrachtet oder nicht, steht doch fest, daß sie bestimmte Positionen des Bürgers schaffen, die dem Verfassunggeber als besonders wichtig vor Augen schwebten, und daß es im Verfassungsrecht nicht anders als in jedem anderen Rechtsgebiet unzulässig wäre, die Winke, die der Gesetzgeber damit gibt, völlig außer acht zu lassen oder gar als Anreiz zum entgegengesetzten Handeln zu verstehen. Das bedeutet, daß - gleichgültig ob die Grundrechte Wertentscheidungen enthalten - Parlament und Regierung jedenfalls das Gewicht in Rechnung zu stellen haben, das der Verfassungsgeber diesen Rechten beigemessen hat. Mag der positivrechtliche Effekt einer solchen Auslegung im einzelnen auch recht gering sein, so ist es doch - und dies nicht nur aus Gründen der Systematik und Rechtsästhetik - von grundlegender Bedeutung zu wissen, daß eine Wirtschaftspolitik, die die Institution des Privateigentums schlechterdings in ihr Gegenteil verkehrt, auch dann verfassungswidrig ist, wenn sie sich nicht der hergebrachten Mittel des Eingriffs in Einzelrechte bedient, daß eine staatliche Gesellschaftspolitik, die den Menschen nur noch als Produktionsfaktor oder als genetische Urzelle verwertet, selbst dann mit der Verfassung nicht vereinbar ist, wenn damit kein unmittelbarer Zwang, sondern nur eine sanfte "Berieselung" verbunden sein sollte. Das Grundgesetz hat darauf verzichtet, ähnlich wie die Weimarer Verfassung in ihrem Zweiten Hauptteil Grundkonzeptionen für das Gesellschafts- und Wirtschaftsleben zu entwickeln, und es hat, wie ein Blick auf die 1949 völlig unvorhersehbare Situation der Gegenwart beweist, gut daran getan. Aber es wäre falsch, daraus den Schluß zu ziehen, daß damit jegliche Aussage in dieser Richtung vermieden worden wäre. Die Grundrechte des Grundgesetzes sind sowohl in ihrer Anlage als auch in ihrer Einzelnormierung nicht kompakt genug, um ein Programm wie das der Weimarer Verfassung auch nur halbwegs zu ersetzen25 • Sie lassen sich auch in nahezu keiner Beziehung als ein System in dem Sinne deuten, daß zwischen ihnen eine vollständige Stufenleiter der Wertintensität und Geltungskraft ermittelt werden könnte. Weder ihre Stellung im I. Abschnitt des Grundgesetzes noch ihre Gesetzesvorbehalte sind so durchdacht, daß man auf ein solches System rückschließen könnte, und auch sonst ist, soweit ersichtlich, kein Gesichtspunkt auffindbar, der die Bildung eines solchen Systems ermöglichen würde. Aber wenn es auch, um nur das eine Beispiel zu nennen, nicht ohne weiteres möglich sein mag, personale Werte und wirtschaftliche Werte gegeneinander abzu~5 Das wird wohl auch von den entschiedensten Verfechtern der Wertlehre nicht behauptet.

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wägen und einander zuzuordnen 26 , so kann das doch keineswegs bedeuten, daß die staatliche Politik weder die einen noch die anderen in Rechnung zu stellen hätte. Mit anderen Worten: Selbst wenn man nicht glaubt, daß die Grundrechte ein geschlossenes Wertsystem bilden, ist die Richtlinienfunktion der Grundrechtsartikel nicht zu leugnen. Es mag sein, daß bei Kollisionen zweier Grundrechte im Ziel bereich der Staatspolitik die Entscheidung für das eine und gegen das andere nach wie vor von den politischen Organen zu treffen ist und nicht aus einer prästabilierten Verfassungsharmonie deduziert werden kann. Aber die rechtliche Unlösbarkeit solcher "Grundrechtskonkurrenzen zweiter Dimension" ist kein Argument gegen die Mobilisierung der Grundrechte im gesellschaftspolitischen Bereich überhaupt. Die Grundrechte sind geschaffen, um dem Menschen einen Bereich letzter autonomer Gestaltung zu sichern. Es ist undenkbar, daß es irgendeine Art staatlicher Politik geben könnte, die daran nicht gebunden wäre.

Z8 A. A. aber nach hier vertretener Ansicht zu undifferenziert, weil zu wenig in Rechnung stellend, daß auch der Sachgutwert wieder potentielle Freiheit ist - Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, 1957, S. 13 und unter Berufung auf ihn Maunz-Dürig, Art. 1, Randnr. 33.

JUTTA LIMBACH

Die Feststellung von Handelsbräuchen Erkenntnisse über "Wesen, Entstehung und Feststellung eines Handelsbrauchs" verspricht das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 1. 12. 1965 1 nach dem an Stelle eines Leitsatzes vorangestellten Stichwortkatalog. Wer auf Grund der ersten beiden Stichworte erwartet hatte, daß der BGH zu neuen, mitteilenswerten Einsichten über das Wesen und Entstehen des Handelsbrauchs gelangt sei, sah sich getäuscht. Statt dessen wurde dem interessierten Leser die beruhigende überzeugung vermittelt, daß die in den Standardkommentaren zum HGB2 dargebotenen Ansichten über die Rechtsqualität des Handelsbrauchs, seinen Geltungsgrund und seine Geltungsweise uneingeschränkt die Gefolgschaft verdienten; denn der BGH hat die praktischen Fragen nach dem Verhältnis zwischen Handelsbrauch und nachgiebigem RechtS und der Notwendigkeit einer Bezugnahme auf ihn durch die Vertragsparteien~ im Sinne der herrschenden Lehre entschieden, ohne die Diskussion über die Rechtsnatur dieses Instituts erneut zu eröffnen. Der einzige Streitpunkt, der dem BGH der Mühe wert schien, Klarheit über das Wesen des Handelsbrauchs zu gewinnen, war die Frage seiner Revisibilität5 • Doch der ließ sich mit dem Hinweis ausräumen, daß die fragliche übung - gleichgültig wie sie rechtlich einzuordnen sei - in der Revisionsinstanz nicht nachgeprüft werden dürfe, weil sie nur im Bezirk des Berufungsgerichts gelte. Entsprechend der weniger prätentiösen Inhaltsangabe in Klammern hat sich der BGH6 vornehmlich mit der Praxis "zur Ermittlung von Handelsbräuchen" auseinandergesetzt. Der Kläger, ein Hamburger SchiffsAbgedruckt in NJW 1966/502 = JZ 1966/104. Vgl. die Bezugnahmen des BGH auf Baumbach-Duden, GessLer-HefermehL-HHdebrandt-Schröder, HGB-RGR Kommentar in NJW 1966/502 (Sp. 2), 503 (Sp.l). 3 "Vor nachgiebigem Recht hat ein Handelsbrauch grundsätzlich den Vorrang ... , sofern nicht der Zweck des Gesetzes einen entgegenstehenden Handelsbrauch ausschließt." So der BGH in NJW 1966/502 (Sp. 2). 4 Der Handelsbrauch ist ohne entsprechenden Vorbehalt im Vertrag maßgeblich. So der BGH in NJW 1966/503 (Sp. 1). 5 Der BGH (NJW 1966/503, Sp. 1) verweist in diesem Zusammenhang auf eine Stelle bei Wieczorek (ZPO, 1957, § 549 Anm. HIlb), in der dieser ohne eigene Stellungnahme auf eine unveröffentlichte Entscheidung des RG hinweist, in der es den Handelsbrauch für revisibel gehalten haben soll. 6 Vgl. NJW 1966/502. 1

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makler, hatte nämlich in der Revisionsinstanz in der Hauptsache das von dem Berufungsgericht angewandte Verfahren zur Feststellung eines Handelsbrauchs beanstandet, kraft dessen eine Provision von dem Verkäufer eines Schiffes nicht gefordert werden könne, wenn der Verkauf ohne dessen Verschulden nicht durchgeführt werde. Diese angebliche Handelssitte steht im Widerspruch zu der allerdings nachgiebigen Vorschrift des § 652 BGB, die anordnet, daß der Maklerlohn verdient wird und fällig ist, wenn der vom Makler zu vermittelnde Vertrag zustandekommt . Die Entscheidung des BGH - ergänzt durch das Urteil des Berufungsgerichts 7 - bietet einen geeigneten Ausgangspunkt für eine erneute Stellungnahme zu der von den Gerichten geübten Methode zum Nachweis von Handelsbräuchen, denn sie liest sich wie ein Modell sämtlicher Einwände gegen die gewohnte Ermittlungsweise.

I. Die übliche Prozeßsituation Wie üblich betraute das Gericht die Industrie- und Handelskammer damit festzustellen, ob der von dem beklagten Verkäufer des Schiffes behauptete Handelsbrauch bestehe. In der gewohnten Weise befragte die Handelskammer Hamburg eine Anzahl von Gewerbetreibenden aus den Geschäftskreisen beider Beteiligten, wertete die ihr zugegangenen Antworten selbst aus und übermittelte dem Gericht die eindeutige und endgültige Antwort, daß der fragliche Handelsbrauch bestehe. Auf eine Aufforderung des Berufungsgerichts hin erläuterte die Handelskammer ihre Befragungsmethode und deren Resultate in einem Ergänzungsgutachten, um die von dem Kläger vorgetragenen Bedenken zu zerstreuen. Gewissermaßen als Sanktion des von der Handelskammer angewandten Verfahrens hob der BGH8 in seinem Urteil hervor, daß diese bei ihrer Umfrage die Richtlinien beachtet habe, die in dem von dem Deutschen Industrie- und Handelstag herausgegebenen "Merkblatt für die Feststellung von Handelsbräuchen"9 niedergelegt worden sind. Doch obwohl sich die Handelskammer die dortigen Empfehlungen als Richtschnur dienen ließ, fand der Kläger an der geübten Methode der Beweiserhebung die folgenden Angriffspunkte: 1. Das Gutachten der Handelskammer sei überhaupt kein zulässiges Beweis-

mittel.

Urt. d. Hans. OLG v. 3. 7.1963 in MDR 1963/849. In NJW 1966/503 (Sp. 2) . • Abgedruckt bei Gessler-Hefermehl-HHdebrandt-Schröder, § 346 Nr. 18.

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2. Die Handelskammer habe an die angeschriebenen Firmen eine Rechtsfrage

gerichtepo. Vor allem habe sie bei der Auswertung der Antworten nicht allein die konkreten Anwendungsfälle des Brauchs, sondern - wie sie selbst ausdrücklich hervorgehoben hat11 - "auch die klare und übereinstimmende überzeugung der befragten Firmen berücksichtigt, weil diese sich in der Praxis entsprechend verhalten würden". 3. Auch beanstandete der Kläger das Auswahlverfahren, weil die Handelskammer nur 31 Maklerfirmen befragt und lediglich von 27 Befragten überhaupt eine Antwort erhalten hat, während die Vereinigung der Hamburger Schiffsmakler und Schiffsagenten e. V. 194 Mitglieder umfasse. Diese Basis der Umfrage sei insbesondere deshalb unzureichend, weil "Verkäufe von Schiffen nur verhältnismäßig selten und Fälle, in denen Kaufverträge über Schiffe nicht zur Durchführung gelangen sogar besonders selten vorkommen"12. 4. Schließlich habe das Berufungsgericht seine Pflicht zur Beweiswürdigung vernachlässigt und § 286 ZPO insbesondere dadurch verletzt, daß es die Vernehmung der von dem Kläger benannten 6 Zeugen unterließ, die den von der Handelskammer festgestellten Brauch verneinen. Unsere besondere Aufmerksamkeit verdient die unter Punkt 2 aufgeführte Rüge, in der der Handelskammer vorgeworfen wird, daß sie sich nicht darauf beschränkt habe, die tatsächliche übung des behaupteten Handelsbrauchs zu erkunden, sondern daß sie darüber hinaus die Ansichten der Befragten berücksichtigt habe, wie sich ein Schiffsmakler in dieser Situation verhalten sollte. Schon die Möglichkeit dieser Meinungskundgaben legt in der Tat den Verdacht nahe, daß die Handelskammer nicht mit aller Deutlichkeit Auskunft über konkrete Anwendungsfälle des Brauchs verlangt hat. Erstaunlicherweise hat diese Meinungsforschung sowohl die Billigung des Berufungs- als auch des Revisionsgerichts gefunden. Beide Instanzen haben sich zur Rechtfertigung dieses Vorgehens der Handelskammer schlicht deren Wendung zu eigen gemacht, daß "die klare und eindeutige überzeugung der Befragten deshalb in Betracht gezogen" werden könne, "weil diese sich in der Praxis entsprechend verhalten würden". Der Umstand, daß die Handelskammer neben dem tatsächlichen Verhalten der branchenzugehörigen Gewerbetreibenden auch die Meinung der Befragten über die Wünschbarkeit eines bestimmten HandeIns in einer bestimmten Rechtslage berücksichtigt hat, dürfte auf die geringe Zahl der "Präzedenzfälle" zurückzuführen sein, die sich ihrerseits aus der Seltenheit des zwischen den Prozeßparteien getätigten Geschäfts ergibt. 10 Weder aus dem Urteil des BGH noch aus dem des OLG lassen sich nähere Anhaltspunkte über die von der Handelskammer gewählte Fragestellung erkennen. 11 Vgl. Hans. OLG in MDR 1963/849 und BGH in NJW 1966/504. 12 Das Hans. OLG (MDR 1963/849) führt gerade den letzten Umstand auf die Tatsache zurück, daß es sich bei dem Verkauf von Schiffen stets um große finanzielle Objekte handele, die in aller Regel sorgfältig abgesichert würden.

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Aber schon dieser Sachverhalt läßt deutlich die Gefahren erkennen, welche der Verzicht des Bundesgerichtshofs in sich birgt, den Anfängen einer solchen Demoskopie der Handelskammern im Rahmen eines gerichtlichen Beweisverfahrens zu wehren. Gelingt es nämlich nicht, einen umstrittenen Handelsbrauch durch die Ermittlung konkreter Anwendungsfälle empirisch faßbar zu machen, so befragt man künftig die Mitglieder der beteiligten Geschäftskreise über die Erwartungen, die sie an das Gebaren eines Geschäftspartners oder Konkurrenten knüpfen, der sich in einer bestimmten Lage befindet. Je nach dem Grad der Übereinstimmung der individuellen Ansichten wird dann die Frage nach der Existenz des behaupteten Handelsbrauchs bejaht oder verneint1 3 • Auf diese Weise erwächst den dispositiven Rechtsnormen ein dritter Gegner; denn am Endpunkt der mit diesen Urteilen eingeleiteten Entwicklung können sie außer durch den Partei willen und feststehende Handelsbräuche auch durch das Rechtsempfinden der Mehrheit eines bestimmten Wirtschaftskreises ausgeschaltet werden. Dieser Ausflug der Handelskammer in die Gefilde der Demoskopie veranlaßt uns, die Frage nach einer sachgemäßen und brauchbaren Methode zur Ermittlung von Handelsbräuchen nicht auf die übliche Weise mit einem Beitrag zur Lehre von den Rechtsquellen zu eröffnen, sondern zum Ausgangspunkt der Überlegungen die schlichte und vorrangige Frage zu wählen: Welches ist der Tatbestand, der nach § 346 HGB von dem Richter berücksichtigt werden soll?

11. Der nach § 346 HGB zu berücksichtigende Tatbestand § 346 HGB ordnet an, daß unter Kaufleuten in Ansehung der Bedeutung und Wirkung von Handlungen und Unterlassungen auf die im Handeisverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen ist.

1. Schon der allgemeine Sprachgebrauch lehrt, daß § 346 HGB mit dieser Bezugnahme auf Gewohnheiten und Gebräuche nicht irgendwelche Anschauungen und Auffassungen maßgebender Handelskreise autorisieren Will 14 • Vielmehr sollen kraft dieser Vorschrift wiederkehrende gleichartige Verhaltensweisen, die die Angehörigen bestimmter Geschäftszweige in wiederkehrenden gleichartigen Situationen zu beob13 Vgl. in diesem Zusammenhang Dahrendorj, Homo Sociologicus, 5. Aufl., S. 36 ff. (38), der mit Bezug auf die Rollenanalyse feststellt, daß sich Normen nur an festen Gewohnheiten und Präzedenzfällen ablesen, nicht jedoch durch Meinungsumfragen ermitteln lassen. "Nicht die Geltung, wohl aber die Legitimität von Normen läßt sich durch ihre Konfrontierung mit dEm Meinungen der Betroffenen messen" (S. 39). 14 Gessler-Hejermehl-HHdebrandt-Schröder, § 346 Nr. 5.

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achten pflegen, bei der Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten beachtet werden. Soweit also die in § 346 HGB verwendeten Tatbestandsmerkmale der Gewohnheit und des Gebrauchs in Rede stehen, können wir im Einklang mit der allgemein anerkannten Definition des Reichsgerichts von einer "den Geschäftsverkehr beherrschenden tatsächlichen Übung"15 sprechen. Zwar hat das Reichsgericht in dieser Weise den Begriff der Verkehrssitte umschrieben. Aber der Handelsbrauch, auch als Handelssitte bezeichnet, stellt nur eine Unterart der allgemeinen Verkehrssitte dar. Er unterscheidet sich von dieser nicht im Wesen, sondern nur in seinem Anwendungsbereich, als er vornehmlich nur für den Verkehr der Kaufleute giltl G• 2. Der Umstand jedoch, daß § 346 HGB von im Handelsverkehr gelten-

den Gewohnheiten und Gebräuchen spricht, läßt uns bezweifeln, daß der

Gesetzgeber lediglich ein regelhaft geübtes tatsächliches Verhalten als Hilfsmittel für die Auslegung wie für die Anwendung von Rechtssätzen berücksichtigen will. Denn das Wort "gelten" deutet auf die Begriffe der Geltung, Gültigkeit und Verbindlichkeit hin und legt damit die Annahme nahe, daß das Gesetz auf den Handelsbrauch im Sinne einer verbindlichen Regel und nicht bloß auf eine faktische Regelhaftigkeit des Gebarens verweisen will. Um von vornherein Mißverständnisse zu vermeiden, sei ausdrücklich hervorgehoben, daß die Frage, ob die in § 346 HGB autorisierte Handelssitte im Sinne einer Norm zu verstehen sei, nicht notwendig die weitere Frage nach ihrer Rechtsnormqualität einbegreift oder etwa mit dieser gleichzusetzen ist. Denn selbst wenn man ohne weiteres davon ausgeht, daß dem Handelsbrauch erst durch jene gesetzliche Vorschrift rechtliche Bedeutung zugewiesen wird, ist die Unterscheidung zwischen den beiden Aspekten der Handelssitte als eines regelhaft geübten Verhaltens auf der einen und einer Regel auf der anderen Seite, nach der eine bestimmte Verhaltensweise beobachtet werden soll17, nicht müßig. a) Im handelsrechtlichen Schrifttum vertreten nur SchlegelbergerHefermehPS und v. Gierke 19 in aller Eindeutigkeit die Auffassung, daß der kraft § 346 HGB zu berücksichtigende Handelsbrauch lediglich im Sinne einer kollektiven oder sozialen Gewohnheit20 gemeint sei. Mit dieser Bezugnahme sei also nicht mehr gesagt, als daß die typische Gebarensweise zu berücksichtigen sei, die die Kaufleute eines irgendwie RGZ 49/157 (162); 55/373 (377); 104/358 (362). Oertmann, Rechtsordnung und Verkehrs sitte, 1914, S. 34. 17 Oertmann, a. a. 0., S. 25. 18 In: Gessler-Hefermehl-Hildebrandt-Schröder, § 346 Nr. 1 19 Handelsrecht, 8. Auf!., § 3 III 1, S. 22. 20 Diese Bezeichnung stammt von Danz, Die Auslegung der Rechtsgeschäfte, 3. Auf!. 1911, S.124, und findet sich auch bei Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1964, S. 95. 15

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G Berlin~r Festschrift für Ernst E. Hirsch

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abgegrenzten Geschäftszweiges in typischen Situationen zu beobachten pflegen. Eine normative Vorstellung wird von diesen Autoren mit dem Begriff der Handelssitte nicht verbunden. Schlegelberger-HefermehI21 bemerken ausdrücklich, daß eine Überzeugung der Beteiligten, eine ververbindliche Verhaltensnorm zu befolgen, nicht erforderlich sei. Doch der sich dieser Feststellung anschließende Satz, daß "weder ein Rechtsgeltungswille noch eine Rechtsüberzeugung nötig" sei, verbunden mit der Schlußfolgerung, daß der Handelsbrauch kein Gewohnheitsrecht sei, zeigt deutlich, daß hier nur der begriffliche Gegensatz zwischen Handelsbrauch und Gewohnheitsrecht hervorgehoben werden soll. Die hier gestellte Frage, ob der Handelssitte im Sinne des § 346 HGB überhaupt ein normativer Charakter eigen sei, wird über der Diskussion jenes begrifflichen Gegensatzes zumeist übersehen. b) Diese Art und Weise, die Rechtsnatur der allgemeinen und der kaufmännischen Verkehrssitte durch eine Abgrenzung dieser Phänomene vom Gewohnheitsrecht her zu begreifen, ist mit wenigen Ausnahmen typisch für die ganze ,,\Vesens"-diskussion22 • Die opinio necessitatis im Sinne einer Rechtsüberzeugung ist denn auch von jeher der Angelpunkt dieses Meinungsstreits gewesen. Zwar ist das Reichsgericht23 an dieser einseitigen Betrachtungsweise nicht ganz unbeteiligt, als es sich zumeist mit der lakonischen Feststellung begnügt hat, daß die Verkehrssitte keine Rechtsnorm darstelle, vielmehr "eine den Verkehr beherrschende tatsächliche Übung" sei. Zutreffend weist Oertmann24 darauf hin, daß das Reichsgericht jedoch sachlich über diese Definition hinausgegangen sei und der Verkehrssitte normative Bedeutung beigemessen habe. Als Beleg führt er eine Stelle in RGZ 55, 373 (377) an, in der das Gericht von einer Verkehrssitte spricht, "daß ... eine Vollmacht erfordert werde". Daß das Reichsgericht zumeist nur die Geschiedenheit von Gewohnheitsrecht und Verkehrssitte betont, die Frage des normativen Charakters des letzten Instituts aber vernachlässigt hat, erklärt sich aus dem Gegenstand der ihm gestellten Rechtsfrage; denn es hatte sich in den Urteilen, in denen die Verkehrssitte als eine den Verkehr beherrschende tatsächliche Übung umschrieben wurde, fast durchweg mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die Feststellungen der Tatsacheninstanz über das Bestehen einer behaupteten Verkehrssitte in der Revisionsinstanz nachprüfbar seien25 •

= Anm.18. Vg!. z. B. die Darstellungen der Auseinandersezung bei David, Verkehrsgewohnheit, Gewohnheitsrecht und ergänzendes Satzungsrecht, 1940, S. 13 ff., und Oertmann, a. a. 0., S. 16 ff. Vg!. auch Enneccerus-Nipperdey, Allg. Teil d. Bürger!. Recht, Bd. I Halbbd. I, 15. Auf!. 1959, § 41 I-IV, S. 271-273; Lehmann/ Hübner, Allg .Teil d. Bürger!. Gesetzbuches, 15. Auf!. 1966, § 3 VI, S. 26; Rehfeldt, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1962, S. 139 f. 23 RGZ 49/157 (162); 55/373 (377); 104/358 (362). 24 a. a. 0., S. 33 Anm. 2. 25 = Anm. 23. Raiser (Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1961, S. 85 Anm. 5) spricht in diesem Zusammenhang von einer Selbsttäuschung 21 22

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Ein weiterer Hinweis darauf, daß das Reichsgericht den Handelsbrauch nicht nur als ein regelhaft geübtes tatsächliches Verhalten, sondern darüber hinaus als Regel verstanden hat, läßt sich aus dem in JW 1922/706 abgedruckten Urteil entnehmen. Dort findet sich der Satz: "Immerhin steht ein solcher Brauch26 einem Rechtssatz nahe, denn auch er wirkt auf das einzelne Rechtsverhältnis in gewisser Weise regelnd ein." Deutlichere Anzeichen für die Erkenntnis des normativen Charakters der Handelssitte durch das Reichsgericht finden wir in seiner Aufzählung der Voraussetzungen für die Bildung eines Handelsbrauchs 27 • Danach muß die tatsächliche übung während eines gewissen Zeitraums28 beobachtet und von der durchgehenden Zustimmung und Rechtsüberzeugung von Handel und Gewerbe getragen sein. Während einige Autoren29 nur das Erfordernis der Zustimmung der beteiligten Handelskreise aufgreifen, nehmen Gleiss 30 und der Bundesgerichtshof31 in den Katalog der konstitutiven Merkmale des Handelsbrauchs auch die von dem Reichsgericht vorausgesetzte "überzeugung" auf, tauschen allerdings die verdächtige Vorsilbe "Rechts-" durch das 'Wort "allgemeine" aus. Zwar impliziert der Begriff der Zustimmung nicht notwendig eine normative Vorstellung. Er läßt sich durchaus dahin deuten, daß eine bisher nur von einzelnen geübte Handlungsweise durch Nachvollzug allgemein akzeptiert und damit zur kollektiven Gewohnheit wird 32 • Anders verhält es sich jedoch mit dem Erfordernis der allgemeinen überzeugung, die uns unwillkürlich an die sog. opinio necessitatis erinnert. Von einer Handlungsweise überzeugt sein, schließt mehr als die bloße Bereitschaft ein, sie gegebenenfalls nachzuvollziehen. Die Aussage, daß sich hinsichtlich einer allgemein zu beobachtenden tatsächlichen übung eine allgeder Gerichte. Die Revisibilität, deren Vermeidung der wesentliche Grund dieser Annahme sei (daß nämlich die Verkehrssitte nur als eine tatsächliche übung zu verstehen sei), dürfe nicht vom Begriff der Rechtsnorm, sondern müsse von Sinn und Zweck der betreffenden prozessualen Bestimmung abhängen. "Befreit man sich von diesem Alpdruck " , so fährt Raiser fort, "so braucht man sich auch nicht länger zu verhehlen, daß in vielen der Fälle, in denen Kenntnis der Verkehrssitte oder gar Unterwerfungswillen der Parteien für überflüssig erklärt wurde, die Verkehssitte als ergänzende Rechtsnorm kraft Gruppensanktion verwendet wurde." 26 In dieser Entscheidung ging es um einen Handelsbrauch, der sich auf dem Frankfurter Pferdemarkt herausgebildet haben sollte, und der die Zuständigkeit eines Schiedsgerichts für alle Streitigkeiten aus einem dort getätigten Pferdekauf vorsah. 27 RGZ 110/47 (48). 28 Das Reichsgericht (Anm. 27) spricht von dem "zur Bildung eines Handelsbrauches erforderlichen Zeitraum". 29 Baumbach-Duden, § 346 Bem. 2 A; Schlegelberger-He!ermehl, § 346 Nr. 1; Weynen, Zur Frage der Feststellung von Handelsbräuchen, in NJW 1954/628. 30 Handelsbräuche und Dekartellierungsrecht, in BB 1951/800. 31 In NJW 1952/257; so auch OLG München in NJW 1956/594 (595). 32 Vgl. in diesem Zusammenhang Geiger (a. a. 0., S.95 u. 98), der den normativ indifferenten Brauch als die durch NachahmunI! kollektiv akzeotierte Gewohnheit umschreibt 6'

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meine Überzeugung der beteilig1:en Gewerbetreibenden gebildet haben müsse, kann doch nur bedeuten, daß eine Mehrheit dieses Personenkreises zu der in Rede stehenden Verhaltensweise positiv Stellung nimmt, sie etwa als erwünscht, zweckmäßig oder gar notwendig erachtet und an dieses Urteil die Schlußfolgerung knüpft, daß eine Verpflichtung zu ihrer Befolgung bestehe. Soll also dem Merkmal der allgemeinen Überzeugung neben dem der - normativ indifferenten - Zustimmung ein eigener Bedeutungsgehalt verbleiben, so kann es im Sinne derjenigen, die dieses Element für wesentlich erachten, nur als allgemeine Übereinstimmung der Betroffenen verstanden werden, daß das der Überzeugung zugrunde liegende Verhaltensmuster als eine verbindliche Regel zu befolgen ist. Womit jedoch nicht gesagt werden soll, daß diese normative Vorstellung für sich allein den Normcharakter eines Handlungsmusters begründe. c) In aller Eindeutigkeit hat wohl zuerst Oertmann33 den normativen Charakter der durch das Gesetz vielfach autorisierten Verkehrs sitte im Gegensatz zu der tatsächlichen Übung als solcher hervorgehoben. Wenn das Gesetz auf die Verkehrssitte Bezug nehme, so führt er aus, verstehe es sie wenigstens im Zweifel im Sinne einer Regel, nach der sich der Verkehr richtet oder richten soll. Das zeige zum Beispiel deutlich § 242 BGB, wonach der Schuldner so zu leisten hat, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Der Rechtsordnung könne es nicht darauf ankommen, "ob etwas tatsächlich schon lange geübt sei, sondern nur darauf, ob es zur Zeit als Norm für den Verkehr gelte". d) Für Raiser 34 und Nußbaum35 steht der Normcharakter der allgemeinen wie der kaufmännischen Verkehrssitte ebenfalls außer Frage. Ihnen dient wiederum die opinio necessitatis als Ausgangspunkt der Überlegungen. Nur ziehen sie das Merkmal der Rechtsüberzeugung nicht heran, um die Verschiedenheit von Gewohnheitsrecht und Verkehrssitte darzutun. Zwar zeige dieses "Indiz" der Rechtsgeltung eine Grenze an, jedoch verlaufe sie "nicht zwischen Gewohnheitsrecht und Verkehrsge33

So in seiner Monographie "Rechtsordnung und Verkehrssitte" (S. 27 f. u.

33) unter Hinweis auf Ihering (Zweck im Recht, II, S. 24) und Bierling (Juristische Prinzipienlehre, I, S.70, II S. 293), die beide die Sitte im Sinne einer

verpflichtenden Norm aufgefaßt haben. Der normative Charakter der Sitte im Gegensatz zu der tatsächlichen übung als solcher zeigt sich nach Oertmann in den Fällen besonders deutlich, wo beide in Widerspruch geraten, nämlich bei eingerissenen "Unsitten", bei einem "Schlendrian" im Verkehr. Auf der Möglichkeit eines solchen Widerspruchs beruhe die Fassung des § 276 BGB, wo die von der Kommission (vgl. Protokolle, Bd. I, S. 18617) zunächst gewählte Wendung "im Verkehr übliche Sorgfalt" später in "im Verkehr erforderliche Sorgfalt" umgeändert worden ist. Unsitten und Mißstände des täglichen Lebens, so folgert Oertmann, habe man geflissentlich nicht gedeckt wissen wollen. 34 In: Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1961, S. 82 ff. 35 In: Allgemeine Lehren des Bürgerlichen Rechts, Arch. bürg. R. 42/143 ff. (157 ff.l.

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brauch, sondern zwischen diesen beiden Begriffen einerseits und dem rein tatsächlichen, mehr oder minder individuellen Gewohnheiten andererseits"36. Das Bewußtsein, zu einer Verhaltensweise berechtigt zu sein, habe auch derjenige, der einem Verkehrsgebrauch folge; denn da die Verkehrssitte beziehungsweise der Handelsbrauch in dem Bereich, in dem er gelte, verpflichte, erzeuge er bei dem Berechtigten auch die opinio necessitatis. Wenn auch die übung die RegeP7 nicht aus sich heraus erzeuge, so gelte es doch als Erfahrungssatz, daß die Erhebung zur Norm der faktischen übung zeitlich meist nachfolge. Wie bei der Gewohnheitsrechtsbildung trete - äußerlich nicht erkennbar - der Geltungswille, die sogenannte Rechtsüberzeugung zu der bisherigen übung hinzu oder, logisch richtiger, vor die künftige übung 3s . Auf Grund dieser Einsicht gelangt Raiser 39 zu der These, daß Verkehrssitte und Gewohnheitsrecht sowohl soziologisch als auch dogmatisch identisch seien40 . Er trifft allerdings eine Unterscheidung je nach der Funktion der Verkehrssitte. Soweit sie nur dazu diene, den Sinn einer Erklärung zu deuten, genüge die Feststellung der tatsächlichen übung, und es komme nicht darauf an, ob diese Gepflogenheit "auf einer vom Geltungswillen erzeugten Norm beruhe"41. In den Fällen jedoch, wo das Gesetz statt eine eigene Norm aufzustellen auf die Beurteilung eines Sachverhalts durch die Verkehrssitte oder den Handelsbrauch verweise, würden diese Erscheinungen des Rechtslebens als partikuläre rechtliche Ordnungen anerkannt. In diesem Falle aber setze ihre Anwendung die Feststellung ihrer Sanktion durch einen Rechtskreis voraus. Gerade die Frage nach dem Verhältnis von Verkehrssitte und dispositivem Gesetzesrecht könne sinnvoll überhaupt nur gestellt werden, so führt Raiser 42 aus, wenn man die Verkehrssitte als Bestandteil eines rechtlichen Ordnungsgefüges betrachte; denn eine Kollision zwischen dem Gesetz und bloßen Fakten erachtet er für logisch gar nicht denkbar 43 . 36 37

So ausdrücklich Nußbaum, a. a. 0., S. 158/9. Raiser (a. a. 0., S. 83) spricht von einer Maxime, nach der der Mensch

seinen Willen richte. 38 So RaiseT, a. a. 0., S 83. 39 a. a. 0., S. 82 u. 85. 40 Auch Danz (Die Auslegung der Rechtsgeschäfte, S. 128, 226/7 Anm. 6) stellt Gewohnheitsrecht und Verkehrssitte gleich, indem er allerdings das Erfordernis oder die Existenz einer opinio necessitatis anzweifelt. Er spricht von der "verschwommenen" opinio necessitatis, auf die man sich so gern beziehe, von der aber niemand zu sagen wisse, wie sie sich im realen Leben zeige. 41 Unter Berufung auf Rene FischeT, Handelsusance und objektives Recht, 1929, S. 12 f. 42 a. a. 0., S. 84 Anm. 4. 43 Sowohl RaiseT (a. a. 0., S. 86) als auch Nußbaum (a. a. 0., S. 159 f.) sehen den einzigen Unterschied, der noch zwischen Gewohnheitsrecht und Verkehrssitte bleibe und es gestatte, diese Unterscheidung terminologisch aufrechtzuerhalten, darin, daß man als Gewohnheitsrecht die zwingenden, als Verkehrssitte die ergänzenden, dispositiven Rechtssätze bezeichnen könne.

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3. Um die Frage beantworten zu können, ob der Gesetzgeber mit der Verweisung auf den Handelsbrauch in § 346 HGB lediglich eine soziale Gewohnheit oder vielmehr eine in bestimmten Wirtschaftskreisen verbindliche Verhaltensregel berücksichtigt wissen will, empfiehlt es sich, zunächst Sinn und Zweck dieser Bezugnahme aufzudecken. a) Der Vorbehalt zugunsten des Handelsbrauchs in jener Vorschrift könnte ganz allgemein der Aufgabe dienen, das Gesetz rechtzeitig und sachgemäß einem Wandel des Soziallebens anzupassen, ohne daß der Gesetzgeber selbst zu diesem Zweck jeweils tätig zu werden braucht. Eine solche Verweisung würde dem Umstand Rechnung tragen, daß das Gesetz statisch gegenüber den wechselnden Verhältnissen und Bedürfnissen des dynamisch ablaufenden Lebens ist44, und gewährleisten, daß auch das Gesetzesrecht - zumindest soweit es sich um nachgiebige Vorschriften handelt - auf der jeweiligen Stufe der Rechtsentwicklung steht. So weit reichende Absichten werden wir aber dem Schöpfer des § 346 HGB nicht unterstellen dürfen. Sein Blick dürfte bei der Bezugnahme auf die Handelssitte nicht so sehr in die Zukunft als vielmehr in erster Linie auf die besonderen Bedürfnisse bestimmter Geschäftskreise gerichtet gewesen sein45 . Anhaltspunkte für eine solche begrenzte Zielsetzung der gesetzgeberischen Autorisation des Handelsbrauchs ergeben sich nicht nur aus der systematischen Stellung des Paragraphen, sondern auch aus seinem Wortlaut. Es wird dort ausdrücklich auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und damit auf partikuläre, beruflich wie auch örtlich abgegrenzte Ordnungsgefüge verwiesen. Eine allgemeine Geltung, wie sie dem Handelsgesetz zukommt, wird gar nicht intendiert46 . Sinn und Zweck des § 346 HGB können daher nur dahin gedeutet werden, daß mit seiner Hilfe das staatliche Recht den mehr oder minder individuellen Belangen einzelner Branchen im Wege der Ergänzung angepaßt werden so1l47. Daß durch die Rücksichtnahme auf die Handelssitte, also das sogenannte selbstgeschaffene Recht der Wirtschaft 48 , mittelbar auch Vgl. Ernst E. Hirsch, Das Recht im sozialen Ordnungs gefüge, 1966, S. 278. David, a. a. 0., S. 43; Raiser, a. a. 0., S. 86. Ein gutes Beispiel für eine solche, die Bedürfnisse eines bestimmten Geschäftszweiges berücksichtigende Verkehrssitte bietet ein von dem Reichsgericht (in JW 1927/764) behandelter Fall. Dort hatte sich für den Kunsthandelt mit Gemälden eine Verkehrssitte herausgebildet, die das Recht der Minderung ausschloß. Nach dem Reichsgericht fand der Brauch seine Erklärung "in den unlösbaren Schwierigkeiten, die im Falle der Zulassung des Minderungsrechts die Feststellung des Minderwertes bereiten würde". Treffend kennzeichnet David (a. a. 0., S.54) diesen Geschäftsbrauch als einen "Selbsthilfeakt der Branche gegenüber der untragbaren Generalisierung des Gesetzes" (hier des § 462 BGB). 46 Baumbach-Duden, Bem. 1 C zu § 346 HGB. 47 Vgl. Grossmann-Doerth, Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft, 1933, S.19. 48 Diese Gleichsetzung von Handelsbrauch und selbstgeschaffenem Recht der Wirtschaft findet sich bei Grossmann-Doerth, a. a. 0., S. 21. 44

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dem sozialen Wandel Rechnung getragen und das Recht entsprechend den jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnissen fortentwickelt werden kann, steht außer Frage49 • b) Aber selbst wenn wir annehmen, daß der Gesetzgeber des § 346 HGB seine Ziele nicht so weit gesteckt und nur im Hinblick auf mehr oder minder singuläre Lebensverhältnisse außerrechtlich entstandene gewohnheitsmäßige Formen des Handelns in das Rechtsgefüge einbeziehen wollte, ist von diesen vorauszusetzen, daß sie schon die Weihe der Verbindlichkeit erfahren haben. Da die Handelsbräuche - wie wir auch an dem eingangs erwähnten, von dem Bundesgerichtshof behandelten Fall gesehen haben - nicht nur als Auslegungshilfen herangezogen werden, sondern im großen Umfang zum dispositiven Gesetzesrecht in Konkurrenz treten, dürfen wir kaum annehmen, daß bestimmte in der Wirtschaftspraxis zu beobachtende Verhaltensmuster sich schon dann gegenüber jenen Vorschriften durchzusetzen imstande sind, wenn sie zur kollektiven oder sozialen Gewohnheit erstarkt sind. Insofern ist Raiser50 zuzugeben, daß eine solche Kollision zwischen Gesetzesrecht und bloßen Fakten wenn auch nicht logisch undenkbar s1, so doch im Hinblick auf die dem Gesetzgeber übertragenen Funktionen und das seiner Tätigkeit im Dienste der Gerechtigkeit und Rechtseinheit52 entgegengebrachte Vertrauen unverantwortlich wäre. Wenn also der Staat im gewissen Umfang seine Regulierungsaufgabe anderen sozialen Ordnungsgefügen, hier den Sitten einzelner Gewerbezweige und Berufe53 anvertraut, weil er von diesen eine lebensnahe re und zweckmäßigere Lösung der Konflikte erwartet, dann darf er mit dieser Delegation nicht den Stufengang der Rechtsbildung 54 bis zu seinen Anfängen, sondern nur einen Schritt, das bedeutet nur bis zur unmittelbaren Vorform 55 des staatlichen Rechts der Sittenregel - zurückgehen. Wohl kann auch die soziale Gewohnheit eine Vorstufe genau gesprochen eine Inhaltsquelle56 späteren Rechts bilden. Aber sie ist immer nur eine potentielle Vorform der Norm, weil die allgemeine Nachahmung individueller Gewohnheiten für sich allein nichts darüber aussagt, ob 49 Oertmann betont in der Einleitung zu seiner Monographie Verkehrsordnung und Verkehrssitte (S.4) gerade die "ungemeine Bedeutung der Verkehrssitte für die Fortentwicklung des positiven Rechts, als fortschrittlichen Faktors im Dienste der RechtsbHdung". so a. a. 0., S. 84 Anm. 4. 51 Denn das hängt doch wohl von dem durch den Gesetzgeber in § 346 HGB abgesteckten Rahmen der Verweisung ab. 52 Vgl. Schreiber, Handelsbräuche, 1922, S. 35. 53 Ernst E. Hirsch, a. a. 0., S. 27. 54 Auf diese Weise bezeichnet Raiser (a. a. 0., S. 162) den über die Handelsbräuche oder Allgemeine Geschäftsbedingungen verlaufenden Weg der Rechtsentwicklung. S5 Rehfeld, a. a. 0., § 2 I, S. 12. 58 Geiger, a. a. 0., S. 172 f.

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das ihr zugrunde liegende Gebarensmodell verbindlich ist oder wird 57 • Die Tatsache, daß eine Mehrheit von Personen in bestimmten Situationen eine gleichartige Verhaltensweise zu beobachten pflegt, bietet noch keine hinreichende Gewähr dafür, daß sich diese Gepflogenheit als Ordnungsfaktor in einem gesellschaftlichen Gebilde durchgesetzt und tatsächlich bewährt hat5B • Es muß also zu dem bloßen Brauch ein Umstand hinzutreten, der uns zeigt, daß die Mitglieder des betreffenden Wirtschaftszweiges selbst ein erhebliches Interesse an seiner Befolgung haben, daß sie gegebenenfalls bereit sind, einem abweichenden Verhalten aktiv zu begegnen und sich nicht damit begnügen, ein Befremden zu zeigen59 • Erst wenn mit dem Verhaltensmodell eine soziale Erwartung oder vielmehr Forderung verknüpft ist und die Angehörigen des bestimmten Gewerbezweiges sich bei einer Abweichung der Gefahr aussetzen, einer sozialen Reaktion zu verfallen 60, verdient das Handlungsmuster die Anerkennung durch das Gesetz. Hat nämlich die soziale Gewohnheit auf diese Weise die Prüfung sowohl durch die Handelnden (späteren Normadressaten) als auch die an der Handlung Interessierten bestanden, und ist sie derart in die normative Ebene erhoben worden 6 !, dann ist auch die Vermutung des Gesetzgebers berechtigt, daß hier in der Praxis im Vergleich zur generalisierenden Norm des Gesetzes die lebensnahere und zweckmäßigere Regelung eines Konfliktsfalles gefunden worden ist62 • c) Überdies läßt sich die These, daß der Handelsbrauch ohne jede Bezugnahme im Vertrag, ja ohne daß ihn die durch seine Berücksichtigung benachteiligte Partei überhaupt kennt, zu beachten sei, überhaupt nur in dem Falle rechtfertigen, daß sich ein verbindliches Verhaltensmuster herausgebildet hat. Man kann hier nur das Erstaunen Raisers 63 und 57

Geiger,

a. a. 0., S. 175.

Mit der Aussage, daß sich die durch § 346 HGB respektierte soziale Gewohnheit schon bewährt haben müsse, ist nicht gemeint, daß nicht auch schlechte Gewohnheiten zu Sitten regeln erstarken können. Dieser Ansicht ist offenbar Oertmann (a. a. 0., S. 27 u. 33), der hervorhebt, daß sich gerade an solchen Unsitten der Unterschied von rein tatsächlicher übung und der Sittenregel zeige. Womit er indirekt zu verstehen gibt, daß eine schlechte Sitte niemals in die normative Ebene gehoben werden könne. Hier gilt entsprechend, was Theodor Geiger (a. a. 0., S. 207) zum "idealen Recht" ausführt, nämlich "daß Un-Recht nicht bedeutet Nicht-Recht, sondern: schlechtes Recht ... Auch schlechtes oder verkehrtes Recht ist Recht. Andernfalls müßte man doch einen neuen Namen für die tatsächlich herrschenden und durchgeführten sozialen Lebensordnungen erfinden". Eine andere Frage ist es, ob der Richter eine solche normative Unsitte zur Auslegung der Willenserklärungen oder zur Ergänzung des Rechts heranziehen darf. S9 Geiger, a. a. 0., S. 99. BO Geiger, a. a. 0., S. 96 f. und Ernst E. Hirsch, a. a. 0., S. 32 f. 81 Vgl. Geiger (a. a. 0., S. 116), der diesen Vorgang als Auslese der Gebarensmodelle durch die Gruppenöffentlichkeit bezeichnet. 62 Hiermit ist allerdings nicht gesagt, daß die von der Praxis herausgebildete Regel im Vergleich zur gesetzlichen auch stets die gerechtere ist. 63 a. a. 0., S. 85 Anm. 5. 58

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Davids64 teilen, daß diejenigen, die die Handelssitte als eine rein tatsächliche Übung begreifen, nicht an diesem Punkte begonnen haben, an der Richtigkeit ihrer Ansicht zu zweifeln. Eine nachgiebige gesetzliche Bestimmung kann auf der einen Seite durch eine Vereinbarung der Vertragsparteien außer Kraft gesetzt werden. Das bedeutet, daß eine Partei eine ihr günstige Gesetzesbestimmung kraft ihres eigenen Willens ausschließt. Erleidet sie hierdurch Nachteile, so hat sie diese bewußt in Kauf genommen. Gibt nun aber der Gesetzgeber jene Vorschriften nicht nur dem Parteiwillen, sondern auch der Verkehrssitte preis, so muß jener eine besondere Qualität eigen sein, die es rechtfertigt, ihr die gleiche Wirksamkeit wie der Privatautonomie zuzuerkennen. Die beiden Wege nämlich, daß die Rechtsposition einer Vertragspartei auf der einen Seite durch ihren Willensentschluß auf der anderen Seite durch einen ihr unbekannten Brauch geschmälert wird, nur weil dieser in einem Geschäftszweig allgemein auftritt, lassen sich durchaus nicht als gleichwertig beurteilen. Der Hinweis auf die soziale Gewohnheit, daß also anderen Partnern gegenüber gleichartig verfahren werde, wird die Vertragspartei schwerlich in gleicher Weise über einen "Rechtsverlust" hinwegtrösten wie ihr Einverständnis im ersten Fall. Allerdings versuchen die Gerichte 65 auch die Rücksichtnahme auf den unbekannten Handelsbrauch aus dem Wirkungskreis des Betroffenen her zu rechtfertigen, indem sie dessen Geltung zwar nicht auf seinen Willen, wohl aber auf seine Nachlässigkeit zurückführen. Es wird also eine Art Obliegenheit statuiert, kraft derer von dem Vertragspartner erwartet oder gefordert wird, daß er sich nach dem Bestehen von Handelsbräuchen erkundigt und sie ausdrücklich ausschließt, wenn er vermeiden will, daß sie ohne weiteres zum Inhalt des Vertrages werden. Eine solche Obliegenheit, sich nach dem Bestehen und dem Inhalt von Handelsbräuchen zu erkundigen, läßt sich wohl noch aus der besonderen Sorgfaltspflicht eines Kaufmanns (§ 347 HGB) herleiten und bei einem Vertragsabschluß auf festen, gewissermaßen institutionalisierten Handelsplätzen und -stätten, also auf einer Börse, einer Messe oder einem Markt 66 , durchaus rechtfertigen 61 • Doch selbst wenn wir ein derartiges Gebot zum Fragen anerkennen, haben wir noch keinen Aufschluß über die richtige Antwort gewonnen, die dem der Obliegenheit gemäß handelnden Kontrahenten zuteil werden muß, damit er sich vor Rechtsnachteilen schützen kann.Über den Inhalt der Auskunft haben im allgemeinen weder die Gerichte noch die Theoretiker des Handelsrechts weiter nachgedacht, weil sie sich 64

a. a. 0., S. 25 ff.

ROHGZ 5/182 ff. (186); RGZ 97/215 ff. (218); RG JW 19221706 f.; OGHBrZ in NJW 1951/111 f.; BGH in NJW 1966/502 ff. (503). 66 Vgl. Sieg, Der Wirkungsbereich und die Feststellung von Handelsbräuchen, in BB 1953/985. 87 RG JW 19221706. 65

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stets mit Sachverhalten auseinandergesetzt haben, in denen schon die geforderte Frage ausgeblieben war. - Die Antwort aber muß so beschaffen sein, daß der Vertragspartner erkennt, daß er sich ausdrücklich gegen eine Ordnungserscheinung des betreffenden Geschäftszweiges verwahren muß, wenn er die durch sie eingeführte Rechtsfolge vermeiden will. Hätte sich zum Beispiel in dem von dem Bundesgerichtshof entschiedenen Fall der Auftraggeber oder ein anderer Reeder auf eine Frage des Maklers damit begnügt, seine Rechtsansicht über das Entstehen und die Fälligkeit der Provision mitzuteilen, so hätte der Makler diese Äußerung als eine individuelle Wunsch- und Gerechtigkeitsvorstellung seines Partners oder der ganzen Branche beurteilen und sich vorbehalten können, diese notfalls mit einem Hinweis auf § 652 BGB zu zerstören. Hätte die Antwort dahin gelautet, daß die Makler einen Anspruch auf die Provision nicht geltend zu machen pflegen, wenn der Verkauf des Schiffes ohne Verschulden des Auftraggebers nicht durchgeführt werde, so wäre für den Makler zwar erkennbar, daß die Wirksamkeit des § 652 BGB in der Praxis der Reeder beeinträchtigt ist, nicht aber müßte er aus dieser Auskunft zwingend schließen, daß die von jener Vorschrift abweichende Verhaltensweise "gesollt" ist. Er durfte noch immer annehmen, daß er von dieser allgemeinen Gewohnheit abweichen und sich in einem gerichtlichen Verfahren mit Erfolg auf § 652 BGB berufen dürfe. Zu dieser Information muß also noch die Aussage hinzutreten, daß ein solches Verhalten der Makler auch von der Gruppe der Reeder erwartet und gefordert wird, daß diese anderenfalls bereit ist, einem abweichenden Verhalten aktiv zu begegnen, indem sie etwa eine Sanktion in der Form einer Auftragssperre verhängt 68 • Für den fragenden Makler muß also klar erkennbar sein, daß ihn die in der Branche herrschende Gepflogenheit vor die Alternative 69 stellt: entweder das durch sie gebotene Handeln zu zeigen oder sich der Gefahr einer sozialen Reaktion durch die Gruppe der Reeder auszusetzen. Denn erst dann wird er begreifen, daß er sich ausdrücklich gegen diese übung verwahren muß, wenn er sie weder befolgen noch die mit einem Zuwiderhandeln verbundenen Sanktionen in Kauf nehmen will. Diese überlegungen führen uns zu dem Schluß, daß der in § 346 HGB respektierten Handelssitte Normcharakter zuerkannt werden muß, will man von dem Erfordernis einer vertraglichen Bezugnahme absehen; denn 68 Mit Recht weist Oertrnann (a. a. 0., S. 13) darauf hin, daß die Zwangsmittel der Sitte keineswegs im Vergleich mit denen des Rechts immer "milder" sind. 69 Vgl. Theodor Geiger (a. a. 0., S. 83), der in diesem "Entweder-Oder von Gehorsam und Reaktion", also in ihrer Wirkungschance die Wirklichkeit der Norm sieht.

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solange nur eine allgemeine Gewohnheit in Frage steht, darf man von dem durch diese Gepflogenheit Betroffenen, selbst wenn er sie kennen sollte, nicht erwarten, daß er sich gegen diese verwahrt, will er sie nicht für sein eigenes Verhalten als Richtschnur dienen lassen. Die obigen Argumente lassen sich nicht dadurch entkräften, daß man die von dem Parteiwillen unabhängige Geltung des Handelsbrauchs einfach auf § 346 HGB zurückführt und die Sanktionsbereitschaft des betreffenden Gewerbezweiges im Hinblick auf die durch die gesetzliche Bezugnahme gewährleistete staatliche Sanktionstätigkeit für überflüssig erklärt. Denn zur Deutung der Rechtsnatur des Handelsbrauchs darf man wohl den Tatbestand der ihn autorisierenden Gesetzesbestimmung, nicht aber auch deren Rechtsfolgeanordnung heranziehen. Bevor ich nämlich folgern darf, daß eine Ordnungserscheinung der Praxis für die Auslegung wie für die Anwendung von Rechtssätzen zu berücksichtigen ist, muß ich wissen, um was für eine Erscheinung es sich handelt, muß ich also ihr Wesen bestimmt haben.

111. Die Beweisfrage Haben wir das Ergebnis gewonnen, daß der durch § 346 HGB respektierte Handelsbrauch im Sinne einer Regel zu verstehen ist, so schließt sich dem die für die Praxis so problematische Frage an, wie das Bestehen einer solchen gewohnheitsmäßig in einem bestimmten Wirtschaftskreis herausgebildeten Norm nachzuweisen ist. 1. Um sogleich zu unserem kritischen Ausgangspunkt zurückzukehren, fragen wir uns, ob das normative Element vornehmlich ein psychologisches ist und durch eine Meinungsumfrage ermittelt werden kann. Bekanntlich haben das ReichsgerichPo und ihm folgend der Bundesgerichtshof 71 das Vorliegen eines Handelsbrauchs davon abhängig gemacht, daß die tatsächliche übung eines Verhaltensmusters von einer allgemeinen überzeugung getragen werde. Beide Gerichte haben diesen Begriff nicht näher umschrieben. Man darf wohl aber annehmen, daß sie damit das allgemeine Bewußtsein der beteiligten Verkehrskreise meinten, zu der fraglichen Verhaltensweise berechtigt oder verpflichtet zu sein. Es ist bereits oben die Verwandtschaft dieses Vorstellungsinhalts mit der opinio necessitatis oder iuris, also der überzeugung, daß man kraft Rechts so handeln solle, hervorgehoben worden. Die diesem Begriff zuteil gewordene Kritik dürfte daher in gewissem Grade auch jene bei der Handelssitte vorausgesetzte allgemeine überzeugung treffen. 70 71

RGZ 110/47 (48) In NJW 1952/257

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Für das Gewohnheitsrecht, dessen Hauptproblem für die Praxis ebenfalls von jeher in der Beweisfrage lag 72 , hat Endemann 73 einmal festgestellt, daß der als Zeuge über das Bestehen des Gewohnheitsrechts vernommene Laie nur die tatsächlichen Übungsvorgänge bekunden, sich aber nicht über einen allgemeinen Rechtsgeltungswillen äußern könne. In diesem Sinne ist wohl auch die Bemerkung Danz'74 zu verstehen, der von der "verschwommenen" opinio necessitatis spricht, "auf die man sich so gern bezieht, von der aber niemand zu sagen weiß, wie sie sich im realen Leben zeigt". Daß sich aber weder die allgemeine Rechtsüberzeugung noch die dem Handelsbrauch zugeschriebene allgemeine Überzeugung der beteiligten Wirtschaftskreise empirisch faßbar machen läßt, liegt nicht an irgendwelchen technischen Schwierigkeiten, denen man stets beim Nachweis von psychischen Erscheinungen zu begegnen pflegt. Dieses angebliche Unvermögen ist vielmehr darauf zurückzuführen, daß es ein solches außerhalb des individuellen Bewußtseins existierendes kollektives Rechtsbewußtsein gar nicht gibt. Zutreffend hebt Geiger75 hervor, daß man von einem "Kollektivbewußtsein" nur in metaphorischer oder abbreviativer Bedeutung sprechen könne, da Bewußtseinsträger immer nur die menschliche Person, nicht "das Kollektiv", in unserem Interessenbereich also stets nur die einzelnen Gewerbetreibenden, nicht eine Branche oder ein Wirtschaftszweig sein können. Was gemeinhin als Rechtsbewußtsein, Rechtsüberzeugung oder ganz allgemein gesprochen als Ordnungsbewußtsein76 bezeichnet wird, ist nichts anderes als eine mehr oder minder allgemeine Übereinstimmung der Mitglieder einer Gruppe in gewissen Rechtsanschauungen und -gefühlen. Ist aber die allgemeine Überzeugung nichts anderes als die allgemeine Übereinstimmung der Angehörigen eines Gewerbezweiges in einer Pflichtvorstellung, die darüber besteht, wie man sich in einer bestimmten Situation verhalten solle, so steht eigentlich dem Vorhaben nichts im Wege, die beteiligten Gewerbetreibenden über diese - persönliche Vorstellung zu befragen. Ließen sich nicht auf diese Weise - gemessen an dem Grad des Einverständnisses der Branchenmitglieder - Anhaltspunkte über eine in jenem Geschäftszweig geübte Verhaltensnorm finden? Doch ein solches Unterfangen bietet schon von vornherein zwei Angriffspunkte. Vgl Nußbaum, a. a. 0., S. 145. In: Die Rechtsquellen des bürgerlichen Rechts und ihre Auslegung, in Festgabe für das Reichsgericht, Bd. II, 1929, S. 132 ff. (135). Vgl. auch David, a. a. 0., S. 34. 74 a. a. 0., S. 226/7 Anm. 6. 75 a. a. 0., S. 110. 76 Diese generalisierende Wortfassung der Erscheinung stammt von Geiger (a. a. 0., S. 110). 72

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a) Geiger17 zweifelt schon den Informationsgehalt der von den Befragten zu erwartenden Aussagen an, weil sie bewußt unwahr oder selbsttrügerisch sein könnten, das Gesagte also nicht notwendig dasselbe sei wie das Gedachte, die Gedanken der Menschen aber nicht objektiv feststellbar seien. Eher könnte schon die wahrnehmbare Handlung als ein Ausschlag des individuellen Ordnungsbewußtseins gewertet werden. Diese Bedenken Geigers sind durchaus berechtigt. Ihnen dürfte allerdings bei dem heutigen Umfang und der heutigen Bedeutung der Meinungsforschung wenig Beachtung geschenkt werden. b) Doch selbst wenn wir einmal davon ausgehen, daß die Befragten fähig und willens sind, ihren Pflichtvorstellungen über bestimmte Handlungsweisen Ausdruck zu verleihen, so ist damit noch nicht festgestellt, daß diesen persönlichen Vorstellungen eine Wirklichkeit entspricht. Derartige Aussagen sind, wenn sie ohne Bezug auf tatsächliche Handlungsabläufe gemacht werden, ohne Beweiskraft, da es sich um bloße Wunschoder Gerechtigkeitsvorstellungen handeln kann, deren Bedeutung sich möglicherweise darin erschöpft, daß die gesetzliche Regelung eines rechtlichen Konflikts (Denken wir an § 652 BGB!) mißbilligt wird. Mit der sittlichen Billigung eines von jener Gesetzesbestimmung abweichenden Verhaltensmusters ist also noch nicht dargetan, daß es innerhalb des betreffenden Handelskreises tatsächlich als verbindlich befolgt und aufrechterhalten wird. "Nicht die Geltung", so stellt Dahrendorf 78 ) zutreffend fest, "wohl aber die Legitimität von Normen läßt sich durch ihre Konfrontierung mit den Meinungen der Betroffenen messen". Der sogenannten allgemeinen Überzeugung, hier verstanden als eine allgemeine oder doch weitgehende Übereinstimmung der Angehörigen eines Geschäftszweiges in einer bestimmten Pflichtvorstellung, kommt nur dann ein - wenn auch äußerst begrenzter - Beweiswert zu, wenn sie sich auf eine tatsächlich geübte Verhaltensweise bezieht. Denn dann kann man sie als Symptom für das wahrscheinliche Bestehen einer Verhaltensnorm heranziehen79 , d. h. als einen Anhaltspunkt dafür gelten lassen, daß die Branchenangehörigen ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Gepflogenheit haben und bei einem von ihr abweichenden Verhalten bereit sein werden, gegen den Zuwiderhandelnden Sanktionen zu verhängen. Die allgemeine Überzeugung ist unter diesen Bedingungen lediglich ein Indiz für die Bereitschaft der beteiligten Gewerbetreibenden, auf ein regelgemäßes Verhalten hinzuwirken. Aus diesen Überlegungen folgt, daß eine Erhebung über Pflichtvorstellungen der Angehörigen eines Gewerbezweiges die Dürftigkeit des 77 78

79

a. a. 0., S. 383 !. Homo Sociologicus, 5. Aufl. 1965, S. 39. Geiger, a. a. 0., S. 187.

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Ermittlungsergebnisses hinsichtlich des tatsächlichen Ereignisverlaufs in jener Gruppe, also den Mangel an Präzedenzfällen niemals wett zu machen vermag. Ist der Regelsatz, daß eine Provision von dem Verkäufer eines Schiffes nicht gefordert werden könne, wenn der Verkauf ohne sein Verschulden nicht durchgeführt werde, in der zurückliegenden Zeit kaum praktisch geworden, weil die Eigenart des Geschäfts eine häufige Wiederkehr dieser Situation ausschloß, so können die Kundgaben der Makler, wie sie sich gegebenenfalls verhalten würden, weder die vereinzelten Präzedenzfälle zu einer allgemeinen Gewohnheit aufblähen noch eine Verbindlichkeit jenes Verhaltensmusters begründen. Die These des Hans. Oberlandesgerichts SO und des Bundesgerichtshofs s1, daß die Seltenheit des Geschäfts und das nur vereinzelte Ausbleiben seiner Durchführung ein Weniger an tatsächlicher übung rechtfertige, geht an Sinn und Zweck des § 346 HGB vorbei. Die vom Berufungsgericht gegebene Erklärung der seltenen Wiederkehr der Konfliktsituation, daß es sich nämlich bei Schiffsverkäufen um bedeutende finanzielle Objekte handle, die regelmäßig sorgfältig abgesichert würden, rechtfertigt doch eher den Schluß, daß die Partner des Geschäfts dann auch eine ausdrückliche und eindeutige Regelung des Provisionsanspruchs hätten treffen können. Die Schöpfer des § 346 HGB dachtenwenn auch nicht nur an Massengeschäftes2 , so doch aber - an häufig wiederkehrende, d. h. typische Konfliktssituationen, die wiederholt eine gleichartige Regelung erfahren, welche schließlich, weil sie eben einem in weitem Kreise empfundenen Marktbedürfnis entspricht, "so sehr in Gebrauch gekommen ist, daß sie selbst dann als vereinbart gilt, wenn von ihr beim Vertragsabschluß nicht die Rede war"ss. Eine solche Mustergültigkeit, also Typizität der Konfliktssituation und ihrer Lösungsweise, die nach dem Bundesgerichtshofs4 den Handelsbrauch charakterisiert, fehlt gerade in dem von ihm entschiedenen Fall. 2. Bietet aber die Meinungsumfrage kaum überzeugende Anhaltspunkte für das Bestehen eines Handelsbrauchs, so müßte doch das tatsächliche Verhalten der Angehörigen des betreffenden Wirtschaftszweiges beweiskräftig sein? Aber indem wir das gewohnheitsmäßige Handeln in einer Branche beobachten, können wir nur feststellen, wie sich die Branchenangehörigen zu verhalten pflegen. Dagegen können wir aus dieser Gewohnheit nicht erkennen, ob das der tatsächlichen übung zu Grunde liegende Verhaltensmodell verbindlich ist, d. h. ob die sich geso 81

In MDR 1963/849. In NJW 1966/504.

82 Diesen Anwendungsbereich der Vorschrift verkennt an sich auch der BGH (a. a. 0.) nicht, nur glaubt er sich mit Rücksicht auf die Eigenart des Geschäfts darüber hinwegsetzen zu können. S3 E. Ehrlich, Die stillschweigende Willenserklärung, 1893, S. 34 u. 38. 81 In: NJW 1966/503 (Sp. 1).

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wohnheitsgemäß Verhaltenden nur regelhaft oder gar einer Regel gemäß handeln 85 • Der an der Ermittlung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Handelsbrauchs interessierte Richter wird also weiter fragen, ob das der Handelssitte eigene normative Element irgendwie seinen Niederschlag im Tatsachenbereich findet und damit empirisch nachweisbar ist. Oertmann88 ist offensichtlich der Ansicht, daß sich durch "eingehende soziologische Untersuchung" der Zeitpunkt darlegen lasse, von dem ab die tatsächliche übung die Bedeutung einer (gesellschaftlich) geltenden übung erhalte. Er führt aus: "Man wird etwa sagen: es ist der Fall, sobald die tatsächliche Übung eine so feste, dauernde geworden ist, daß man sie auch ohne besondere, individuelle überlegung und Billigung wie etwas Selbstverständliches, Notwendiges befolgt, anderererseits ein Nichtbefolgen durch andere als etwas Anormales, Ungehöriges empfindet87 • " Wohl begünstigen die außerordentliche Festigkeit und Dauerhaftigkeit einer tatsächlichen übung die Bildung einer entsprechenden Regel, machen aber für sich allein das Verhaltensvorbild nicht zum Inhalt einer Norm 88 , denn selbst eine bloße soziale Gewohnheit kann mit fast ausnahmsloser Regelhaftigkeit geübt werden. Der übergang von der rein faktischen Regelhaftigkeit eines Gebarens zur Sittenregel kann also nicht durch eine soziologische Untersuchung dargetan werden, die ihr Augenmerk ausschließlich auf die Intensität einer übung richtet. Die tatsächliche Verhaltensweise der Mitglieder eines Geschäftszweiges ist wie die mit ihr übereinstimmende Pftichtvorstellung nur ein - wenn auch gegenüber jenem Bewußtseinsinhalt beweiskräftigeres - Indiz für das wahrscheinliche Bestehen einer Norm. Die Allgemeinheit der Regelbefolgung bildet, wie Geiger 8U es formuliert, neben der allgemeinen Verbreitung einer Pftichtvorstellung oder der fachjuristischen überzeugung (in unserem Falle kommen auch die Vorstellungen der kaufmännischen Institutionen in Betracht) von der Verbindlichkeit eines Verhaltensmusters als Kern einer Norm eines der Symptome, auf die der Richter sein Verbindlichkeistkalkül stützt. 85

Geiger, a.a.O., S. 175.

a. a. 0., S. 26 Anm. 4. Eine ähnliche Vorstellung scheint Eisemann (Die Incoterms im internationalen Warenkaufrecht, Beiheft der ZHR, 30. Heft 1967, S. 55) von diesem Vorgang zu hegen, nach welchem durch die - wenn auch unbewußte - Beobachtung des üblichen Verhaltens das jenem zu Grunde liegende Handlungsmuster schon auf die normative Sphäre gehoben wird. "Das übliche wird als vernünftig, als richtig und schließlich auch als geboten angesehen. Es bilden sich "Regeln" heraus, Normen, ohne daß es sich dabei schon um Rechtsnormen handeln müßte" 88 Geiger, a. a. 0., S. 111 ff. 89 a. a. 0., S. 98 u. 187. 86

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3. Erst "die sanktionierende Anwendung setzt das Tüpfelchen übers i"9o. Denn erst die Ahndung des regelwidrigen Verhaltens durch die Mitglieder des beteiligten Gewerbezweiges in irgendeiner Form, z. B. durch Abbruch der Geschäftsbeziehungen, zeigt, daß eine bestimmte Verhaltensweise nicht lediglich gewohnheitsmäßig beachtet wird. Die Sanktionsverhängung läßt erkennen, daß ein erhebliches Interesse an der Aufrechterhaltung des Brauchs besteht, dem notfalls mit Gegenmaßnahmen Nachdruck verliehen wird. Dieser soziale Druck also liefert Anhaltspunkte für eine allgemeine Reaktions- oder Sanktionsbereitschaft, die zusammen mit der tatsächlichen Übung "Ausdruck für die Tatsächlichkeit des Bestehens einer Norm"91 ist. In diesem Sinne spricht auch Dahrendorf92 von "Präzedenzfällen". Er denkt hierbei nicht an die konkreten Anwendungsfälle eines Brauchs, also an dessen tatsächliche Befolgung, auf die Schreiber93 vornehmlich abstellt, sondern an präjudizierte Abweichungen von einer sozialen Gewohnheit. Die Präjudikate und die feste Gewohnheit dokumentieren auch für ihn die Geltung einer Verhaltensnorm.

Die Erkenntnis, daß dieses Entweder-Oder von Normbefolgung und Reaktion die Wirklichkeit der Norm ausmacht, führt jedoch in den Fällen - was sich auch Geiger 94 nicht verhehlt - zu unbefriedigenden Ergebnissen, in denen ein Verhaltensmuster ausnahmslos befolgt, eine Sanktion also nie erforderlich wird und daher der Normcharakter jenes Handlungsvorbildes stets im Dunkeln bleibt. Auch ist an jene Fälle zu denken, wo zwar Zuwiderhandlungen stattgefunden haben und auch durch Sanktionen geahndet worden, diese aber ob ihrer Eigenart schwer aufzuspüren sind. Der Nachweis mag bei formalen Sanktionen95 , die möglicherweise auf institutionalisierten Handelsstätten, wie Messen, Märkten und Börsen, verhängt werden, noch zu erbringen sein. Erheblichen Beweisschwierigkeiten wird man aber bei den vielfältigen informalen Sanktionen der Kaufleute begegnen, über die sie sich häufig selbst kein eindeutiges Bild machen und zumeist auch nicht bereit sind, über deren Inhalt wahrheitsgemäße Aussagen zu machen. Hinzu kommt, daß die Gewerbetreibenden von eigenen Maßnahmen möglicherweise im Hinblick auf die durch § 346 HGB garantierte, staatliche Sanktionsbereitschaft absehen und sofort gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen. In allen diesen Fällen läßt sich möglicherweise eine Sanktionsbereitschaft der betreffenden Gewerbegruppe nicht direkt nachweisen, So Geiger, a. a. 0., S. 187. Geiger, a. a. O. 92 a. a. 0., S. 38 f. 93 a. a. 0., S. 89 f. 9( a. a. 0., S. 100. Geiger spricht hier von einer "latenten" Norm. 95 M. Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, 1967, S. 118. 90

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ohne daß wir aber annehmen dürfen, daß eine solche Reaktionsbereitschaft nicht vorhanden sei. Hier muß sich der Richter in der Tat mit Anhaltspunkten begnügen, die das Bestehen einer verbindlichen Handelssitte wahrscheinlich machen, will er nicht den Zweck des § 346 HGB, als eine "Nahtstelle" zu dienen, "wo die Wirklichkeit in die abstrakte Gesetzesordnung einbricht"9a in der Mehrzahl der Fälle vereiteln. Er wird also unter Rücksichtnahme auf die oben erwähnten Indizien, z. B. der tatsächlichen übung in dem Wirtschaftszweig, der Pflichtvorstellungen seiner Mitglieder, der Normvorstellungen und des Fachwissens der kaufmännischen Institutionen ein Verbindlichkeitskalkül anstellen und entscheiden, ob sich eine Gepflogenheit in einem Geschäftszweig fest genug eingespielt hat, um als Handelsbrauch und damit als Verhaltensnorm im Sinne des § 346 HGB anerkannt zu werden. 4. Zur Kennzeichnung dieser Tätigkeit des Richters sei aber mit Eisemann97 hervorgehoben, daß in allen diesen Fällen, "in denen allgemein geübte Praktiken der Wirtschaft als rechtserheblich betrachtet werden, man die "normative Kraft des Faktischen" niemals blind aus dem empirischen Sachverhalt ableitet, sondern ihn stets juristisch, d. h. werthaft analysiert". Aus dieser Erkennntnis folgt für die Verteilung der Aufgaben zwischen dem Richter und der Handelskammer, daß sich der erste nicht - wie bisher allgemein üblich - darauf beschränken darf, die Industrie- und Handelskammer ganz allgemein über das Bestehen eines Handelsbrauchs zu befragen, ihr die Ermittlung und die Auswertung derselben zu überlassen und so dann ihre definitive Anwort entgegenzunehmen. Der Richter darf der Handelskammer im Grunde nur die Stellung eines Korresspondenten zuweisen; denn läßt er sie in dem bisherigen Umfang selbst ermitteln, so bürdet er ihr einen wesentlichen und vor allem schwierigen Teil seiner richterlichen Funktionen auf. Das bedeutet praktisch, daß der Richter sowohl die an die beteiligten Gewerbetreibenden als auch die an die Handelskammer hinsichtlich ihrer Vorstellungen, Fach- und Tatsachenkenntnisse zu richtenden Fragen im einzelnen zu formulieren hat. Sollte ihm bereits die Fragestellung mangels besonderer Fachkenntnisse Schwierigkeiten bereiten, so muß er - wie auch sonst - sachverständigen Rat zu den konkreten Fragen einholen. Jedenfalls rechtfertigen es diese Schwierigkeiten nicht, der Handelskammer im Bausch und Bogen die ganze Ermittlungsarbeit zu übertragen. Um ein beweiskräftiges Umfrageergebnis zu erzielen, muß das Gericht die an die beteiligten Gewerbetreibenden zu richtenden Fragen nach den ihnen bekannten konkreten Anwendungsfällen, möglichen Präzedenzfällen und nach ihren Pflichtvorstellungen oder Erwartungen deutlich gegeneinander abgrenzen und ihre Beantwortung im einzelnen verlan96 97

Eisemann, a. a. 0., S. 55.

a. a. 0., S. 58.

7 Berliner Festschrift fUr Ernst E. Hirsch

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gen. Aber nicht nur die Fragestellung, sondern auch die eingehende Überprüfung des Ermittlungsergebnisses gehört zu den richterlichen Aufgaben. Die Handelskammer sollte also in ihrem Gutachten die Umfrageantworten statistisch erfassen und so ausführlich und übersichtlich darstellen und auswerten, daß eine selbständige Überprüfung durch die Prozeßbeteiligten möglich ist 98 • Insbesondere sollte die Wiedergabe der Antworten in einer Weise gestaltet sein, daß der Richter jeweils erkennen kann, ob er richtig verstanden worden ist, ob also die Befragten hier den Tatsachenbereich und ihre Vorstellungswelt auseinandergehalten haben. Es ist offensichtlich, daß sich der Richter bei einer solchen Funktionsteilung in gleichem Maße wie bisher die besonderen Personal- und Sachkenntnisse der Handelskammer dienstbar machen kann, die immer als ein Hauptgrund für die Aufgabendelegation ins Feld geführt werden. Vernachlässigt der Richter diese ihm in einem Beweisverfahren zur Feststellung von Handelsbräuchen obliegenden Pflichten, so begibt er sich eines wirksamen Mittels, gegenüber diesem selbstgeschaffenen Recht der Wirtschaft die Rechtspolizei auszuüben99 • Welche große Bedeutung dieser richterlichen Aufgabe zukommt, dürfte außer Frage stehen, seit wir uns angesichts der Wirtschaftswirklichkeit der letzten Jahrzehnte von der romantischen Vorstellung gelöst haben, daß alle diese Sitten und Gebräuche spontan im Wirtschaftsleben entstanden, also gewissermaßen aus dem Verkehr heraus geboren und von selbst gewachsen sind 10o •

18 NoeHe-Neumann/Schramm, Umfrage forschung in der Rechtspraxis, 1961, S.17. 99 So kennzeichnet Großmann-Doerth (a. a. 0., S. 5) die Aufgabe des Richters. 100 Schreiber, a. a. 0., S. 12.

HEINZ MEILICKE

Korporative Versklavung deutscher Aktiengesellschaften durch Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge gegenüber in- und ausländischen Unternehmen I. Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge Das AktG 65 hat erstmals die Unterstellung der Leitung einer Aktiengesellschaft (AG) unter ein anderes Unternehmen - den sogenannten Beherrschungsvertrag - geregelt (§ 291 AktG). Das AktG 37 hatte einen Vertrag, durch den sich eine AG verpflichtet, den Weisungen eines anderen Unternehmens zu folgen, nicht gekannt. Dagegen hatte es in § 256 AktG, der die überschrift "Gewinngemeinschaft" trägt, Verträge behandelt, durch die sich eine AG verpflichtet, a) an einen anderen ihren Gewinn abzuführen, b) das Unternehmen für Rechnung eines anderen Unternehmens zu führen. Das AktG 65 faßt die Gestaltungen zu a) und b) in § 291 (1) S. 1 und S. 2 als Gewinnabführungsvertrag zusammen.

Beherrschungsverträge und Gewinnabführungsverträge werden in der Praxis seit längerer Zeit aus steuerlichen Gründen (siehe unter II) gleichzeitig abgeschlossen. Die AG, die einen solchen Vertrag als Beherrschte und Gewinnabführungspflichtige abschließt, begibt sich damit in eine ähnliche Rechtstellung, wie sie den Sklaven des römischen Rechts eigen war, die der Hausgewalt (potestas) ihres Herrn unterstanden und nur für diesen erwarben 1 • Der Unterschied des altrömischen Sklavenrechts gegenüber der modernen deutschen korporativen Versklavung besteht nur darin, daß die versklavte AG nicht wie der römische Sklave mit dinglicher Wirkung für seinen Herrn erwirbt, sondern den Jahresüberschuß abzuführen hat (§ 301 AktG 65). Diese moderne korporative Sklaverei wurde indessen bis zum AktG 65 nur zu solchen herrschenden Unternehmen geschaffen, die nach deutschem Recht errichtet waren, sowie Sitz und Ort der Leitung in der Bun1 Dig. 41, 1, 10.1: "Adquiruntur nobis non solum per nos met ipsos, sed etiam per eos quos in potestate habemus." Gaius Instituionen 11 86: "Adquiritur autem nobis non solum per nosmet ipsos, sed etiam per eos, quos in potestate macipione habemus."

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desrepublik hatten. Neu ist die jetzt praktizierte korporative Versklavung im Verhältnis zu ausländischen Unternehmen 2 • Nachstehende Studie will die rechtlichen Wirkungen dieser miteinander verzahnten Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge nach dem AktG 65, auch soweit sie vor seinem Inkrafttreten (1. 1. 1966) abgeschlossen und in das neue Aktienrecht überführt worden sind, prüfen und damit zur Rechtstatsachenforschung, die seit Arthur Nußbaum in der Berliner Universität besonders gepflegt wurde und unserem Jubilar, Herrn Prof. Ernst Hirsch, immer besonders am Herzen gelegen hat, einen Beitrag liefern.

11. Die steuerlichen Motive für Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge 1. Im Umsatzsteuer- und Gewerbesteuerrecht werden juristische Personen, die nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in ein anderes Unternehmen eingegliedert sind (Organgesellschaften) als nicht existent behandelt3• Dadurch sind die Innenumsätze seit dem 1. 4.1958, als entgegenstehendes Kontrollratsrecht aufgehoben wurde, umsatzsteuerjrei". Im Durchschnitt wird damit eine Ersparnis von 0,43 % des steuerbaren Umsatzes in der höchsten Größenklasse erzielt, so daß bei Organverhältnissen der Großindustrie sich im Durchschnitt der Steuersatz von 4 Ofo auf 3,57 Ofo ermäßigt. Gewerbesteuerlich findet eine Zusammenrechnung der Gewerbeerträge bzw. Gewerbeverluste zwischen dem Organträger und dem Organ statt. Es wird ein Ausgleich zwischen positiven Einkünften des Organträgers und negativen Einkünften (Verlusten) des Organs und umgekehrt ermöglicht. Diese umsatz steuerliche und gewerbesteuerliche Organschaft bedarf keiner Vertragsgrundlage. Sie ist Schicksal und folgt aus der finanziellen, wirtschaftlichen und organischen Eingliederung.

2. Das Körperschajtsteuerrecht kennt im Gegensatz hierzu keine gesetzlich geregelte Organschaft. Für die Zwecke der Körperschaftsteuer wurde aber in den dreißiger Jahren bis etwa Kriegsausbruch eine Ver2 Die als Anlage 1 und 2 abgedruckten Verträge zwischen der International Standard Electric Corporation (errichtet nach dem Recht des Staates Delaware USA) und der Standard Elektric Lorenz AG in Stuttgart vom 22. 9. 1966, (Anl. 1), zwischen der Deutschen Texaco Ltd., einer nach dem Recht des Staates Delaware USA errichteten Gesellschaft und der Deutschen Erdöl AG vom 6.11. 1966 (Anl. 2) und der nach Fertigstellung dieser Arbeit veröffentlichte Aufsatz von Kronstein BB 1967,637. 3 Vgl. Meilicke, Steuerrecht Allgemeiner Teil 1965, S. 107. , Vgl. § 2 (2) Z 2 Umsatzsteuergesetz.

Korporative Versklavung deutscher Aktiengesellschaften

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einbarung anerkannt, daß der Betrieb einer AG für Rechnung der Obergesellschaft geführt wird und diese den Jahresgewinn der betreffenden AG übernimmt, andererseits sich verpflichtet, den Jahresverlust auszugleichen. Voraussetzung hierfür war aber, daß das Organ als Glied (Organ) oder Angestellter des herrschenden Unternehmens anzusehen sei5 • Um die organische Eingliederung darzutun, wurde vielfach vertraglich vereinbart, daß die Organ AG sich verpflichtet, den Weisungen des herrschenden Unternehmens zu folgen. In der Praxis wurde damit für die Anerkennung dieser sogenannten Ergebnisübernahme- oder Gewinnausschlußverträge die Organschaft verlangt6 • Einen großen Auftrieb erhielt der Abschluß derartiger Verträge durch die Dividendenabgabeverordnung 1941. § 10 der Zweiten DADV 7 befreite nämlich Gewinnabführungen auf Grund eines "Gewinnausschließungsvertrages" von den im Kriege eingeführten Dividendenausschüttungsbegrenzungen. Auf Grund dieser körperschaftsteuerlichen Praxis haben sich alsdann Verträge etwa folgenden Inhalts eingebürgert, die allerdings weit überwiegend mehr als Organ Gesellschaften m. b. H. und weniger AGs betrafen.

§ 1. Eingliederung und Weisungsgebundenheit Der Organträger besitzt sämtliche Geschäftsanteile am Stammkapital des Organs. Dieses ist auf gesellschaftlichem, finanziellem und organisatorischem Gebiet in den Organträger eingegliedert und verpflichtet sich, den Weisungen des Organträgers zu folgen. (2) Das Organ handelt im Innenverhältnis ausschließlich für Rechnung des Organträgers, nach außen hin bei allen Geschäften jedoch in eigenem Namen. (1)

§ 2. Ergebnisübernahme (1)

Der Gewinn und Verlust des Organs gehen zu Gunsten und zu Lasten des Organträgers.

5 Vgl. MirrelDreutter, Körperschaftsteuergesetz 1939, Anm. 11 zu § 3 KörpStG, S. 100 ff. S Vgl. Erlasse der Länderfinanzminister betr. körperschaftsteuerliche und gewerbesteuerrechtliche Behandlung von Organschaften - Bundessteuerblatt 1959 II S. 161, unter I; die umsatzsteuerliche Organschaft verlangt eine finanzielle Beteiligung des Organträgers von mehr als 75 Ofo des Gesellschaftskapitals oder der Stimmrechte, während für die gewerbesteuerliche und körperschaftsteuerliche Organschaft eine Mehrheit von mehr als 50 010 des Gesellschaftskapital genügt. Auch bei der Betriebsaufspaltung bestehen nach der neuesten Rechtsprechung Unterschiede zwischen der umsatzsteuerlichen Organschaft einerseits und der gewerbesteuerlichen Organschaft andererseits: BFH U. v. 17.11.1966, HFR 1967 S. 146. 7 Zweite Verordnung zur Durchführung der Dividendenabgabeverordnung (2. DADV) vom 5. Mai 1942.

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(2) Maßgebend ist der Handelsbilanzgewinn, der unter Beachtung der für die Körperschaftsteuer jeweils geltenden Vorschriften zu ermitteln ist. Werden die steuerlichen Ansätze bei der GmbH in einem Steuerverfahren geändert, so sind die Ansätze in der Handelsbilanz entsprechend zu ändern. Unter keinen Umständen darf aber das Stammkapital der GmbH ausgekehrt werden. (3) Die Bildung freier - offener und stiller - Rücklagen ist nur so weit zulässig, als es sich um wirtschaftlich begründete Rücklagen im Sinne des Abschnitts II Ziff. 4 der gleichlautenden Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder betreffend körperschaftsteuerrechtliche und gewerbesteuerrechtliche Behandlung von Organschaften (BStBl 1959 II S. 161 ff.) handelt.

§ 3. Dauer Dieser Vertrag wird mit Wirkung vom 1. Januar 19 ... abgeschlossen und gilt bis zum 31. Dezember 19 ... , (mindestens 5 Jahre). Er verlängert sich stillschweigend jeweils um ein weiteres Jahr, falls er nicht von einer der Parteien mit einer Frist von 3 Monaten zum Ende des Geschäftsjahres gekündigt wird.

111. Unternehmenskonzentration durch Gewinnabführungsverträge Nach dem zweiten Weltkrieg sind die Beherrschungs- und Ergebnisübernahmeverträge mit Aktiengesellschaften als Organ in großem Umfange dazu benutzt worden, um ohne Verschmelzung die Unternehmenskonzentration unter Abmeierung der Kleinaktionäre herbeizuführen. Im Konzern der August Thyssen-Hütte AG bestehen solche Verträge z. B. a) b) c) d)

mit der Niederrheinischen Hütte AG, Duisburg, mit der Handelsunion AG, Düsseldorf, mit der Thyssen-Röhren AG, Düsseldorf, mit den Deutschen Edelstahlwerken in Krefeld.

Bei allen diesen Verträgen wurde den Minderheitsaktionären eine vom Großaktionär einseitig festgesetzte feste oder variable sogenannte garantierte Dividende gewährt.

IV. Beherrschungsabrede 1. AktG 37 Ihre Rechtswirksamkeit war bis zum Inkrafttreten des AktG 65 streitig 8 , weil nach § 70 AktG 37 der Vorstand "unter eigener Verantwortung 8 Vgl. Ballerstedt Der Betrieb 1956, 838; 1957, 838. Gadow-Heinichen, AktG Anm. 4 zu § 256. Anders Peter ErHnghagen "Der Organschaftsvertrag mit Ergebnisausschuß-Klausel im Aktienrecht" ; Partei gutachten Würdiger v. 2. 8. 1963 u. 13. 10. 1964 in dem Anfechtungsprozeß gegen den Ergebnisübernahmevertrag der Hüttenwerke Siegerland AG beim LG Siegen u. U. des LG Siegen v. 17. 12.1964 in Der Betriebs-Berater 1965 S. 1419.

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die Gesellschaft ... zu leiten hatte". Sie wurde deshalb als nichtig angesehen. Zumindest wurde eine Satzungs änderung verlangt. Nach dem Wortlaut dieser Klauseln konnte das beherrschende Unternehmen dem beherrschten Unternehmen jegliche Weisung erteilen, ja sogar Anweisung geben, wie der Jahresabschluß aufzustellen sei, der Grundlage für die Feststellung des zu übernehmenden Ergebnisses war. Teilweise wurde in den Beherrschungsverträgen ausdrücklich bestimmt, daß das beherrschte Unternehmen den Jahresabschluß vor seiner Feststellung durch den Aufsichtsrat nur mit Zustimmung des herrschenden Unternehmens aufzustellen habe 9 • Auch konnte das Oberunternehmen Weisungen erteilen, den Beherrschungs- und Ergebnisübernahmevertrag nicht zu kündigen. 2. AktG 65

Das AktG 65 hat diese Beherrschungsverträge gegenüber AGs für zulässig erklärt, § 291 AktG, und sogar bestimmt, daß der beherrschten AG auch für sie nachteilige Weisungen erteilt werden können, "wenn sie den Belangen des herrschenden Unternehmens oder der mit ihm und der Gesellschaft konzernverbundenen Unternehmen dienen", § 308 AktG 65. Nach § 22 EG AktG 65 gilt diese Regelung ab 1. 1. 1966 auch für vorher abgeschlossene Beherrschungsverträge! Das beherrschende Unternehmen kann aber der versklavten AG nicht die Weisung erteilen, den Vertrag zu ändern, aufrecht zu erhalten oder zu beendigen, § 299 AktG, was ebenfalls für Altverträge gilt. V. Die Gewinn- und Verlustübernahmeabrede 1. AktG 37

Die Abrede, daß die Geschäfte für Rechnung des Organträgers zu führen seien, wurde während der Geltungsdauer des AktG 37 als satzungswidrig angesehen. Die AG dürfte sich ohne klare Erlaubnis der Satzung ebensowenig auf den Vertrieb für einen Großaktionär, wie etwa auf einen gemeinnützigen Vertrieb umstellen 10 • Die Verpflichtung zur Abführung des gesamten Ergebnisses an den Großaktionär wurde als Verletzung der §§ 52, 54 AktG 37 und deshalb als nichtig, mindestens aber wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung aller Aktionäre als anfechtbar betrachtet l l . 9 Vgl. Organschaftsvertrag der Dortmund-Hörder-Hüttenunion mit der Hüttenwerke Siegerland AG v. 25./27. 9. 1962 unter 11. 10 Vgl. Anm. 8 u. Fischer Großkommentar AktG 2. Aufl. § 52 Anm. 3, 4, 18; §54Anm.7. 11 Duden Betriebs-Berater 1957, 49; vgl. auch Anm. 8.

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Der Bundesgerichtshof12 hat hierzu folgendes ausgeführt: "Es wird darüber gestritten, ob derartige Verträge zu ihrer Wirksamkeit der Zustimmung aller Gesellschafter bedürfen oder ob Dreiviertelmehrheit genügt (so Hueck, Betrieb 59, 223 ff.). Das Anstößige solcher Verträge liegt darin, daß einzelnen Gesellschaftern wider ihren Willen das Mitgliedschaftsrecht auf Gewinnbeteiligung genommen wird. Dem sucht man dadurch zu begegnen, daß den Minderheitsaktionären eine Dividendengarantie gegeben wird. Ihr gegenüber besteht das Bedenken, daß dem Aktionär anstelle seines Rechts auf Beteiligung am Jahresgewinn eine Rente aufgedrängt wird und daß die Bemessung des Entgelts hierfür die Frage der Vollwertigkeit der Entschädigung laut werden läßt, wenn nicht alle Gesellschafter zugestimmt haben." Für die Berechnung der gewinnabhängigen Tantieme hat deshalb der Bundesgerichtshof die Gewinnübernahmeverpflichtung an den Großaktionär als unbeachtlich behandelt. In der Praxis wurde überdies während der Geltungsdauer des AktG 37 nicht klargestellt, welches Ergebnis abzuführen war. Während die Gesellschaft mit beschränkter Haftung einen Handesbilanzgewinn hat, kannte das AktG 37 keinen Handelsbilanzgewinn. Wenn z. B. in dem Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag der August-ThyssenHütte AG mit der Firma Phoenix-Rheinrohr AG vom 12.7./17.7.1964 letztere verpflichtet wurde, den "Handelsbilanzgewinn" abzuführen, so war nicht klar, was damit gemeint war; denn das AktG 37 kannte zwar einen "Reingewinn", der durch Auflösung von Rücklagen vergrößert, durch Bildung von Rücklagen verkleinert werden konnte, und einen "Jahresüberschuß", aber keinen Handelsbilanzgewinn. In anderen Verträgen wurde von der Abführung des "Geschäftsergebnisses" gesprochen13 • Wenn man "Handelsbilanzgewinn" oder "Geschäftsergebnis" mit Reingewinn gleichsetzte, so konnten auch Rücklagen, die vor Beginn des Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages geschaffen waren, aufgelöst und auf den Großaktionär übertragen werden. Auf Grund der Klausel "Geschäftsergebnis" wurden beispielsweise von der Hüttenwerke Siegerland AG freie Rücklagen aufgelöst und in den Jahren 1961/ 62-1965/66 4215000,- DM = 9,4 Ofo des Grundkapitals dem Hauptaktionär zugeführt. Das wurde damit begründet, daß dies dem steuerlich nicht abzugsfähigen Teil der Vermögensabgabe nach dem Lastenausgleichsgesetz entspräche. Diese war aber bis zum Inkrafttreten des Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages jeweils über Aufwand verbucht worden. Vom Inkrafttreten des Vertrages an weigerte sich also der Organträger, DortmundHörder-Hüttenunion AG, wie bisher um die Vermögensabgabe den laufenden Gewinn zu kürzen. 12

u. v. 8. 2. 1960 II ZR 102/58 NJW 1960 S. 722.

So Beherrschungs- und Ergebnisübernahmevertrag zwischen der August Thyssen-Hütte AG und der Deutschen Edelstahlwerke AG v. 11.9./15.9.1958; Organvertrag zwischen der Dortmund-Hörder-Hüttenunion AG und den Hüttenwerken Siegerland AG v. 25./27. 9. 1962. 13

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Andere Ergebnisübernahmeverträge wiederum sprechen davon, daß der "bilanzmäßig ermittelte Gewinn" an den Organträger abzuführen seP4. 2. AktG 65

Jetzt hat § 291 AktG 65 (3) bestimmt: "Leistungen der Gesellschaft auf Grund eines Beherrschungs- oder eines Gewinnabführungsvertrages gelten nicht als Verstoß gegen die §§ 57, 58 und 60". Ab 1.1.1966 darf auch sowohl bei Altverträgen wie bei neuabgeschlossenen Gewinnabführungsverträgen höchstens der "Jahresüberschuß" abgeführt werden, und offene Rücklagen aus der Zeit vor Geltung des Gewinnabführungsvertrages dürfen nicht ausgeschüttet werden, § 301 AktG 65. Gleichzeitig ist bestimmt worden, daß ein Jahresfehlbetrag von dem beherrschenden Unternehmen der versklavten AG auszugleichen ist, soweit er nicht dadurch ausgeglichen wird, daß den freien Rücklagen Beträge entnommen werden, die während der Vertragsdauer in sie eingestellt worden sind. Die gesetzlichen Bestimmungen setzen jetzt also der Abführungspflicht Höchstgrenzen, der Zubußepflicht des herrschenden Unternehmens Mindestgrenzen, aber vertraglich können natürlich die Höchstgrenzen enger14a, die Mindestgrenzen größer sein. Bei Altverträgen ist die Dividende regelmäßig so bemessen worden, daß wirtschaftlich begründete offene Reserven gebildet werden konnten, so daß diese Reserven auch den außenstehenden Aktionären gehören und nicht ausgeschüttet werden können. Nach § 304 (2) AktG 65 wird dagegen die garantierte Dividende jetzt ohne Berücksichtigung der Bildung freier Rücklagen festgesetzt. Ferner muß die gesetzliche Rücklage bis zu 10 Ufo des Grundkapitals aufgefüllt werden, vgl. § 300 AktG 65 in Verbindung mit § 150 AktG 65. Indessen nützen die Höchstgrenzen für den abzuführenden Jahresüberschuß und die Mindestgrenzen für den einzuschießenden Jahresfehlbetrag nicht viel, weil beide manipuliert werden können, wie am Beispiel der Hüttenwerke Siegerland AG dargetan werden kann15 • Während der Jahresabschluß dieser Gesellschaft zum 30. 9. 65 42 554 Mill. DM freie Rücklagen (andere Rücklagen als die gesetzlichen) auswies, sind diese in der Nacht vom 30. 9. 65 zum 1. 10. 65 wie folgt verändert worden: 14 So der Ergebnisübernahmevertrag zwischen Erin Bergbau AG einerseits und der Gelsenkirchener Bergwerks AG und der August Thyssen-Hütte AG andererseits v. 16.12.1955 in den Akten HRB 43 des Amtsgerichts CastropRauxel. 14a Godin-Wilhelmi, 3. Aufl., Anm. 2 zu § 301 AktG. 15 Geschäftsbericht der Hüttenwerke Siegerland AG für das Geschäftsjahr

1965/66 S. 67, 34.

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Andere Rücklagen, Stand am 1. 10. 65 Abzüglich: Ausgliederung der Lastenausgleich/Vermögensabgabe Zuzüglich: Andere Veränderungen (Saldo)

DM 42554834,DM 12747646,DM 29807188,DM 224286,DM 30031474,-

Der Betrag hätte nach § 132 (3) Ziff. 31 AktG 37 (das hier insoweit noch anwendbar war l6 , über die Gewinn- und Verlustrechnung genommen werden müssen. Das hätte dann den Jahresfehlbetrag erhöht, der von der Obergesellschaft hätte an die Hüttenwerke Siegerland AG gezahlt werden müssen. Durch diese Änderung der Bilanz in der Nacht vom 30.9. zum 1. 10. 65 wurde eine Erhöhung des Jahresfehlbetrages um den Betrag der jetzt passivierten Vermögensabgabe von 12747646,- DM vermieden. Selbst wenn man auf dem Standpunkt stehen sollte, daß die Vermögensabgabe, die nach § 218 LAG nicht passiviert werden durfte, aber passiviert werden konnte l7 , von der Hüttenwerke Siegerland AG mit dem abgezinsten Barwerte zu tragen war, so entsteht in diesem Falle - und übrigens auch bei anderen korporativ versklavten AGs - dadurch ein Nachteil, daß entsprechend den steuerlichen Bestimmungen 1/3 der Vermögensabgabe als Aufwand, 2/3 aber gegen die Verbindlichkeit verrechnet werden. Diese steuerliche Vorschrift ist seinerzeit getroffen worden, weil der Zinsanteil der Vierteljahresrate der Vermögensabgabe, der in den ersten Jahren sehr hoch ist, aber ständig abnimmt, als Abzugsposten bei den Steuern vom Einkommen zu hohe Steuerausfälle herbeigeführt hätte. Solange nun die Zinsen mehr als 1/3 der Vermögensabgabe ausmachen, wird von der versklavten AG im Verhältnis zum Organträger ein zu geringer Aufwand verrechnet. Beispiel: 1262100,Bei 51/2 %iger Abzinsung Jahresbetrag der Vermögensabgabe Zum 30.9.65 ergibt sich bei einem Vervielfacher von 38,46 ein Gegenwartswert von 12 163936,zum 30. 9. 66 bei einem Vervielfacher ./. 11 537712,von 36,48 ein Gegenwartswert von ./. 626224,Tilgungsbetrag

Zinsaufwand Als Aufwand wurden verrechnet zu wenig verrechnet

1/3

von 1 262 100,- =

./.

635876,420 700,215176,-

§ 14 (1) EG AktG 65. Vgl Schulze-Brachmann/Meilicke/Georgi, Komm. zum Lastenausgleichsgesetz 1953 Anm. 28 zu § 218 LAG. 16

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Das AktG 65 ermöglicht aber auch noch in anderer Hinsicht den Ausweis eines zu hohen Vermögens und eines zu hohen Gewinns bei den Pensionsverbindlichkeiten. Seit dem Jahre 1933 hat das Institut der Wirtschaftsprüfer den Standpunkt vertreten, daß für Pensionen, die bereits gezahlt werden, der Rentenbarwert als Rückstellung einzusetzen sei, daß für Pensionen, die nur zugesagt sind, sogenannte Pensionsanwartschaften, vom Tage der Zusage bis zum Eintritt des Pensionsfalles eine sich allmählich bis zum Rentenbarwert erhöhende Pensionsrückstellung zu bilden ist l8 • Unglücklicherweise hat der Bundesgerichtshof in einer Schadensersatzsache gegen einen Wirtschaftsprüfer, der eine solche Rückstellung nicht vorgenommen hatte 19 , eine solche Passivierung nach dem geltenden Recht nicht für notwendig erachtet. Die Bundesregierung hatte in § 145 (7) Satz 2 des Entwurfs zum AktG 65 vorgeschrieben, daß unter dem Posten "Pensionsrückstellungen" die Rückstellungen für laufende Pensionen und diejenigen für Anwartschaften auf Pensionen auszuweisen sind. Im Gesetz findet sich die Verpflichtung zum Ausweis von Pensionsschulden nicht mehr. Die meisten vom Wirtschaftsausschuß des Bundestages gehörten Sachverständigen haben sich für den Ausweis der Pensionsverbindlichkeiten ausgesprochen. Der Bundestag hat indessen den Unternehmen - wie der Bundesgerichtshof - ein Wahlrecht zugestanden, ob sie passivieren wollen oder nicht. Es ist in § 159 AktG 65 folgendes bestimmt worden: ,,§ 159 Vermerk der Pensionszahlungen

Im Jahresabschluß sind der Betrag der im Geschäftsjahr geleisteten Pensionszahlungen einschließlich der Zahlungen an rechtlich selbständige Versorgungskassen und in Vom-Hundert-Sätzen dieses Betrages die in jedem der folgenden fünf Geschäftsjahre voraussichtlich zu leistenden Zahlungen zu vermerken 20." Der Jahresüberschuß kann also willkürlich dadurch erhöht werden, daß Pensionsverpflichtungen, insbesondere Pensionsanwartschaften nicht oder nicht voll passiviert werden. Die Bestimmungen des AktG 65 gewährleisten demnach nicht einmal die Erhaltung des nominellen Vermögens der versklavten AG, weil die Bestimmungen über die Berechnung des Jahresüberschusses und des Jahresfehlbetrages Raum zu erheblichen Manipulationen gewähren, was letzten Endes den Gläubigern der AG und den außenstehenden Aktionären Schaden bringt. Der Gesetzgeber hat auch keine Vorschriften erlassen, die verhindern, daß die zu Beginn des Gewinnabführungsvertrages vorhandenen stillen Reserven während seiner Laufzeit auf das beherrschende Unternehmen überführt werden, man denke z. B. an den Grundbesitz, der in den DFachgutachten 13/1933, 1/1951 des Instituts der Wirtschaftsprüfer. BGHZ Bd. 34, 324. 20 Heubeck, Die Pensionsrückstellungen in den Bilanzen 1965 der deutschen AGs, Der Betrieb 1967, S. 693, wonach diese etwa 20 Mrd. DM betragen. 18

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Mark-Eröffnungsbilanzen fast aller deutschen AGs nur mit dem Einheitswert 1935 im Hinblick auf die hierdurch gemilderte Belastung durch Vermögensabgabe nach dem Lastenausgleichsgesetz eingesetzt worden ist. Die Frage ist insbesondere dadurch akut geworden, daß das AktG 65 in seinen Bewertungsvorschriften entgegen dem AktG 37 Unterbewertungen im Umlaufvermögen und in den Rückstellungen einschränkt und dadurch jetzt früher gebildete stille Reserven frei werden. Nur mit dem Grundsatz von Treu und Glauben läßt sich in Ermangelung einer Bestimmung im Gewinnabführungsvertrag begründen, daß solche durch die Änderung der gesetzlichen Bewertungsbestimmungen entstehenden Gewinne vom beherrschenden Unternehmen nicht als Gewinne überführt werden dürfen, sondern den freien offenen Rücklagen zuzuführen sind.

VI. Die Entschädigung der außenstehenden Aktionäre 1. AktG 37 Die außenstehenden Aktionäre haben in den bis 1. 1. 66 abgeschlossenen Altverträgen entweder eine feste Dividende oder eine variable Dividende oder eine Kombination beider als Entschädigung erhalten. Nachstehend einige Beispiele: (1) Vertrag der Erin Bergbau AG mit der Gelsenkirchener Bergwerks-AG

und der August Thyssen-HiLtte AG von 1955:

,,§ 3

GBAG und ATH verpflichten sich gesamtschuldnerisch für die Dauer dieses Vertrages, jährlich den Minderheitsaktionären von ERIN für das vorangegangene Geschäftsjahr jeweils 1 Monat nach dem Beschluß der ordentlichen Hauptversammlung der GBAG über die Verteilung einer Dividende, erstmals zum 1. Oktober 1955, das Doppelte der jeweiligen GBAGDividende, mindestens jedoch 6 % des Nennbetrages der jeweils in der Hand der Minderheitsaktionäre befindlichen Aktien von ERIN zu zahlen. Den Aktionären steht ein unmittelbarer Anspruch hierauf gegenüber GBAG und ATH zu und zwar auch für den Fall, daß ERIN infolge von Verlusten keine Gewinne an GBAG und ATH abführt." (2) Vertrag der Deutschen Edelstahlwerke AG mit der August Thyssen-HiLtte AG vom 11./15. 9. 58:

"ATH verpflichtet sich für die Dauer des Vertrages, jährlich den Minderheitsaktionären der DEW für das vorangegangene Geschäftsjahr jeweils einen Monat nach der ordentlichen Hauptversammlung von ATH, erstmalig für das am 30. 9. 1958 endende Geschäftsjahr, eine Dividende in Höhe der von der ATH-Hauptversammlung für das zurückliegende ATH-Geschäftsjahr beschlossenen Dividende zuzüglich 2 %, mindestens jedoch 7 %, zu zahlen. Den Minderheitsaktionären der DEW steht ein unmittelbarer Anspruch auf diese Dividende gegenüber ATH ohne Rücksicht auf das Jahresergeb-

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nis von DEW und - soweit die Zahlung der gemäß Ziffer 2 geschuldeten Mindestdividende in Frage steht - auch ohne Rücksicht auf das Jahresergebnis von ATH zu." (3) Vertrag zwischen der Handelsunion AG und der August Thyssen-Hütte Aktiengesellchaft vom 8. 10. 64: ,,§ 4

ATH verpflichtet sich, für die Dauer des Vertrages den freien Aktionären von HU für das vorangegangene Geschäftsjahr jeweils drei Tage nach der ordentlichen Hauptversammlung von ATH, erstmalig für das am 30.9. 1965 endende Geschäftsjahr, eine Dividende in Höhe der von der ATHHauptversammlung für das zurückliegende ATH-Geschäftsjahr beschlossenen Dividende zuzüglich 6 Ofo, mindestens jedoch eine Dividende von 16 % zu zahlen." ,,§ 6

Den freien Aktionären von HU steht ein unmittelbarer Anspruch auf die Dividende des § 4 gegenüber ATH ohne Rücksicht auf das Jahresergebnis vonHU zu." (4) Vertrag zwischen Bochumer Verein für Gußstahl-Fabrikation AG (BV) und Hütten- und Bergwerke Rheinhausen AG (HBR) vom 27.12.63: ,,§ 3 (1)

HBR verpflichtet sich, für die Dauer des Vertrages an die Minderheitsaktionäre des BV eine Vergütung (Dividende) in Höhe von jährlich 10 Ofo des Nennwertes der Aktien dieser Aktionäre ohne Rücksicht auf das Ergebnis des BV zu zahlen ("garantierte Dividende").

(3) Der Vergütungs anspruch der Minderheitsaktionäre des BV ist unmittelbar gegen HBR gerichtet." Die Festsetzung der Entschädigung der Minderheitsaktionäre erfolgte durch den Gewinnabführungsvertrag, wurde praktisch also vom Großaktionär diktiert, der auch in der Hauptversammlung der versklavten AG die nach § 256 AktG 37 erforderliche Mehrheit von 3/4 des vorhandenen Grundkapitals regelmäßig repräsentierte. Es lag darin ein Vertrag zu Lasten Dritter, der Minderheitsaktionäre, der dem deutschen Recht sonst fremd ist. a) Soweit feste Zinsen gewährt wurden, wurden die Aktionäre zu Obligationären. Sie wurden damit dem Risiko der schleichenden Geldentwertung unterworfen. Eine Ausnahme hiervon machte der Ende 1965 abgeschlossene Vertrag zwischen "HGI" Hessische Gesellschaft für Industrielle Unternehmungen Friedrich Flick GmbH einerseits und der Aktiengesellschaft Buderus'sche Eisenwerke andererseits, der eine Wert-

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sicherungsklausel, abgestellt auf die Durchschnittsdividende zweier Branchen, enthielt 21 • b) Soweit eine von der Dividende der Muttergesellschaft abhängige Dividendengarantie erfolgte, hängt sie von der künftigen Gestaltung des Grundkapitals der Obergesellschaft ab. Wird das Kapital der Obergesellschaft durch Ausgabe von Zusatzaktien aus freien Rücklagen oder durch Gewährung eines billigen Bezugsrechts oder durch Verschmelzung mit einem anderen Unternehmen verwässert und führt dies zu einer Dividendenermäßigung, so senkt sich automatisch die garantierte Dividende für die außenstehenden Aktionäre der versklavten AG. Die Obergesellschaft kann ihrerseits mit einem dritten Unternehmen einen Ergebnisübernahmevertrag abschließen und dadurch an der Ausschüttung von Dividenden verhindert werden. Dann erhält nach dem Wortlaut aller bekanntgewordenen Gewinnabführungsverträge der außenstehende Aktionär der zuerst versklavten AG nichts. Gegen die Verwässerung der Dividendengarantie durch Kapitalerhöhung sind in dem am 4.16.7.55 abgeschlossenen "Organschaftsvertrag" zwischen der Wintershall AG und der Burbach-Kaliwerke AG die Aktionäre durch folgenden § 4 geschützt worden: 21 § 4 dieses Vertrages lautet: "Dividendengarantie (1) Buderus verpflichtet sich, für die Dauer dieses Vertrages den außenstehenden Aktionären als angemessenen Ausgleich jährlich, erstmalig für das am 31. 12. 1965 endende Geschäftsjahr eine Dividende in Höhe von mindestens 12010 auf das in ihren Händen befindliche, durch Beschluß der Hauptversammlung vom 29.7.1965 im Verhältnis 2 : 1 berichtigte Grundkapital zu zahlen (das entspricht einer Mindestdividende von 18010 auf das nicht berichtigte Grundkapital). (2) Liegt das arithmetische Mittel der vom Statistischen Bundesamt zum Ende eines Kalenderjahres für die Wirtschaftsgruppen "Grundstoffindustrien" und "Metallverarbeitende Industrien" bekannt gegebenen Durchschnittsdividenden höher als 12010, so erhöht sich die den außenstehenden Aktionären für das in diesem Kalenderjahr endende Geschäftsjahr von Buderus garantierte Dividende von 12010 dergestalt, daß sie mit der Höhe des vorgenannten arithmetischen Mittels übereinstimmt. Beträgt z. B. die vom Statistischen Bundesamt zum Ende eines Kalenderjahres bekannt gegebene Durchschnittsdividende der Wirtschaftsgruppe "Grundstoffindustrien" 11 010 und diejenige der Wirtschaftsgruppe "Metallverarbeitende Industrien" 15010, so ist das arithmetische Mittel 13010; die den außenstehenden Aktionären von Buderus für das in diesem Kalenderjahr endende Geschäftsjahr garantierte Dividende erhöht sich in diesem Fall von 12 Ofo auf 13010. (3) Lautet das gemäß Abs. (2) errechnete arithmetische Mittel auf zwei Stellen hinter dem Komma, so wird er und damit die den außenstehenden Aktionären garantierte Dividende jeweils auf eine Stelle hinter dem Komma aufgerundet. Beträgt das arithmetische Mittel z. B. 13,41 010, so wird auf 13,5 010 aufgerundet. (4) "HG!" garantiert gegenüber den außenstehenden Aktionären die Erfüllung der Verpflichtungen von Buderus gemäß Abs. (1) bis (3)."

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"Schutz der BURBACH-Aktionäre gegen Verwässerung iltrer Div;,dendengarantie (1) Nimmt Wintershall eine Erhöhung ihres Aktienkapitals vor und werden die neuen Aktien den alten Aktionären zum Bezuge angeboten, dann endet dieser Vertrag zum 31. Dezember des Kalenderjahres, in dem die Durchführung der Kapitalerhöhung in das Handelsregister von Wintershall eingetragen worden ist, sofern nicht den Burbach-Aktionären ein Bezugsrecht auf Burbach-Aktien im gleichen Verhältnis und unter den gleichen Bedingungen wie den Wintershall-Aktionären auf Aktien ihrer Gesellschaft bis spätestens zu demselben Zeitpunkt eingeräumt wird. (2) Der Einräumung eines Bezugsrechts an die Burbach-Aktionäre zur Abwendung des Vertrags ablaufs bedarf es nicht, wenn Wintershall den Burbach-Aktionären die Möglichkeit bietet, je nominell DM 1000,-, in Worten: Eintausend, Burbach-Aktien gegen DM 800,-, in Worten: Achthundert, Wintershall-Aktien einschließlich Bezugsrecht auf die neuen Wintershall-Aktien zu tauschen. (3) Die Bestimmungen in Absatz (1) und Absatz (2) dieses Paragraphen finden keine Anwendung, solange Winters hall ihren Aktionären ein Bezugsrecht von nicht günstiger als 4 : 1 einräumt und ihr Aktienkapital für diesen Zweck nicht über DM 131250000,- hinaus erhöht." c) Soweit die garantierte Dividende jeweils einen oder mehrere Hundertsätze über der jeweiligen Dividende der Obergesellschaft liegt, tritt insoweit eine Benachteiligung der Minderheitsaktionäre ein, als dieser Hundertsatz wiederum der schleichenden Geldentwertung unterliegt.

Beispiel: Die außenstehenden Minderheitsaktionäre der versklavten Handelsunion AG erhalten die jeweilige Dividende der ATH zuzüglich 6 0/0, mindestens 16 % auf den Nennbetrag ihrer Aktien. Für das Geschäftsjahr 1963/65 und 1964/65 hat die ATH eine Dividende von 11 Ofo verteilt, und die HU-Aktionäre haben dementsprechend eine garantierte Dividende von 17 Ofo auf ihre Aktien erhalten. Wenn das Verhältnis der Ertragskraft 11 : 17 ist, müßten die HU-Aktionäre bei einer auf das Doppelte = 22 Ofo gestiegenen ATH-Dividende ebenfalls das Doppelte = 34 Ofo erhalten. Nach dem Wortlaut des Vertrages würden sie aber nur 22 Ofo + 6 Ofo = 28 Ofo erhalten. Zu Lasten der außenstehenden Minderheitsaktionäre wird bei dieser Art von garantierter Dividende, die sich vielfach findet, von vornherein unterstellt, daß die Ertragskraft der versklavten AG im Verhältnis zum herrschenden Unternehmen nicht im gleichen Umfange wachsen wird. Die beherrschenden Gesellschaften haben nun vielfach sich Gutachten über die Angemessenheit der Abfindung erstellen lassen 22 , die aber von 22 Beispiel: Gutachten des Wirtschaftsprüfers Dr. h. c. Herbert Rätsch für die Angemessenheit der Dividendengarantie der außenstehenden Aktionäre der Handelsunion AG im Organvertrag mit der August Thyssen-Hütte AG: "Auf Grund meiner Untersuchungen bestätige ich daher, daß die den freien Aktionären der Handelsunion angebotene jährliche Garantiedividende in Höhe eines 6 Ofoigen Zuschlags zur ATH-Dividende bei gleichzeitiger Festlegung eines Mindestsatzes von 16 Ofo als eine angemessene Entschädigung im Rahmen des 30j ährigen Organschafts vertrages der HU mit der A TH anzusehen ist."

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den außenstehenden Aktionären nicht nachgeprüft werden konnten. Der in diesen Gutachten meist angewandte Grundsatz der Angemessenheit läßt für jeden Beurteiler einen beinahe unbegrenzten Ermessensspielraum. Im übrigen übersteigt es menschliche Einsicht, im voraus die Entwicklungschancen einer zu versklavenden AG abzuschätzen, vor allem aber fehlen dem außenstehenden Minderheitsaktionär die ziffernmäßigen Unterlagen. Die Firma Erin Be1·gbau AG, die am 15. 7. 54 errichtet wurde und rückwirkend ab 1. 7. 54 einen Gewinnabführungsvertrag abgeschlossen hat, hat ihren Aktionären niemals auch nur das Ergebnis eines einzigen Geschäftsjahres bekanntgegeben, alle Geschäftsberichte wiesen das Ergebnis (nach den damals geltenden Rechnungslegungsvorschriften des AktG 37) überhaupt nicht aus. Aber auch in den übrigen Fällen bildeten wegen der möglichen Bildung willkürlicher stiller Reserven und wegen der zwangsläufigen Bildung von stillen Reserven durch Preis anstieg die vorgelegten Jahresabschlüsse keine ausreichende Beurteilungsgrundlage. Teilweise entsprach offenbar die zugesagte garantierte Dividende nicht dem Wert der Aktie der versklavten AG. Den außenstehenden Aktionären der Handelsunion AG wurde der Umtausch ihrer Aktien im Verhältnis 1 : 2,2 in Aktien der ATH angeboten, aber die ihnen garantierte Dividende von 6 Ofo über der jeweiligen ATH-Dividende entsprach nur einem Verhältnis von 1 : 1,7. Andererseits hat es auch Mehrheitsaktionäre gegeben, die den Minderheitsaktionären prozentual genau soviel zukommen ließen, wie sie selbst erhielten. Der Ergebnisübernahmevertrag der Firma Gebrüder Junghans AG mit der sie beherrschenden Firma Diehl enthält folgende Klausel, die im einzelnen noch näher vertraglich ausgestaltet ist: "Den außenstehenden Minderheitsaktionären soll prozentual auf ihre Aktiennennbeträge soviel Dividende ausgekehrt werden, wie an Diehl ausgeschüttet wird." d) Die Fälligkeit der garantierten Dividende ist, soweit sie überhaupt in den Ergebnisübernahmeverträgen geregelt wird, auf die Fälligkeit der Dividende der Muttergesellschaft abgestellt. Der außenstehende Minderheitsaktionär der versklavten AG hat aber keinen Einfluß darauf, ob und wann die Hauptversammlung des herrschenden Unternehmens eine Dividende festsetzt. Die Fälligkeit ist also letzten Endes der Willkür des herrschenden Unternehmens überlassen. 2. AktG 65 § 304 verlangt, daß sowohl in Beherrschungs- wie in Gewinnabführungsverträgen den außenstehenden Aktionären eine Ausgleichszahlung,

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die "nach der bisherigen Ertragslage der AG und ihren künftigen Ertragsaussichten" zu bestimmen ist, zu gewähren ist und daß das herrschende Unternehmen sich verpflichtet, die Aktien der außenstehenden Aktionäre käuflich - teils gegen Barzahlung, teils gegen Aktien der herrschenden AG - zu erwerben, § 305. über die Höhe des Ausgleichs und der Abfindung entscheidet im Streitfalle das Landgericht. Jetzt wird also vom unabhängigen Gericht die Entschädigung für die außenstehenden Aktionäre festgesetzt. VII. Beendigung des Beherrschungsund/oder Gewinnabführungsvertrages 1. Wird der nach altem oder neuem Recht abgeschlossene Beherrschungs- und/oder Gewinnabführungsvertrag beendet, so hat das herrschende Unternehmen den Gläubigern des versklavten Unternehmens Sicherheit zu leisten, § 303 AktG 65. Die Sicherheit kann durch eine Bürgschaft des herrschenden Unternehmens - ohne Rücksicht auf seine finanzielle Potenz oder Impotenz - geleistet werden, was allerdings unter Umständen Gesellschaftsteuer bei der versklavten AG auslöst 23 , die dann auch noch der außenstehende Aktionär mitzutragen hat. Der Gläubiger muß aber zunächst die AG als seine Schuldnerin verklagen, weil dem herrschenden Unternehmen entgegen § 349 HGB ausdrücklich vom Gesetzgeber die Einrede der Vorausklage zugestanden worden ist, § 303 (3) AktG 65.

2. Irgendwelche Schutzvorschriften für die außenstehenden Aktionäre bei Beendigung des Gewinnabführungsvertrages hat der Gesetzgeber nicht getroffen. Die folgende Kurs-Garantie, die die Wintershall AG den außenstehenden Aktionären der von ihr beherrschten BurbachKaliwerke AG im "Organschaftsvertrag" vom 4.16.7.55 gewährt hat und die in einer ähnlichen Form auch vom Gesetzgeber hätte übernommen werden können, ist leider einzigartig: (1)

(2)

"Kurs-Garantie für Burbach-Aktionäre Die Burbach-Aktionäre können von Wintershall verlangen, daß diese ihnen bei Beendigung dieses Vertrages nach § 6 oder nach § 4 oder bei Umwandlung von Burbach auf Wintershall die Burbach-Aktien zu 80 %, in Worten: Achtzig Prozent, des Kurses der WintershaIl-Aktien abnimmt. Als Kurs für die Wintershall-Aktien wird hierbei der Durchschnittskurs zugrunde gelegt, der aus den Kursnotierungen der Düsseldorfer Börse in den sechs Monaten vor Beendigung des Vertrages gebildet wird. Endet der Vertrag nach § 4, so ist der Durchschnittskurs der der Beschlußfassung über die Kapitalerhöhung von Wintershall vorausgehenden letzten sechs Monate maßgebend.

23 Erlaß des LFM Rheinland-Pfalz vom 30. 3. 67 - Deutsche Steuer-Zeitung B 1967 S. 172.

8 Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch

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(3) Die Burbach-Aktionäre sollen aus dieser Vereinbarung unmittelbare Rechte auf Abnahme ihrer Aktien gegen WintershaH erwerben.

VIII. Die 'Oberleitung der Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge aus dem AktG 37 in das AktG 65 Die unter der Geltung des AktG 37 abgeschlossenen Beherrschungsund Gewinnabführungsverträge sind durch höhere Gerichte niemals wegen des damit verbundenen Kostenrisikos überprüft worden. Lediglich das Landgericht Siegen hat in dem in Anm. 8 angeführten Urteil solche Verträge als rechtswirksam behandelt. Dieser Nichtigkeits- und Anfechtungsprozeß ist aber wegen des Kostenrisikos nicht fortgeführt worden, nachdem das Landgericht Siegen den Streitwert auf 5 Mill. DM Kostenrisiko das Oberlandesgericht Hamm den Streitwert auf 50000 DM Kostenrisiko das Oberlandesgericht Hamm in anderer Besetzung den Streitwert auf 500 000 DM Kostenrisiko

DM 617051,DM 14827,DM 77335,-

festgesetzt hatte und die Klägerin dieses schwankende Risiko nicht mehr übernehmen zu können glaubte. Der Regierungsentwurf zum AktG 65 hatte eine Heilung der in ihrer Wirksamkeit umstrittenen Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge angestrebt, aber im Interesse der außenstehenden Aktionäre für nach dem 31. 3. 60 abgeschlossene Verträge ihre Beendigung kraft Gesetzes vorgesehen, wenn sie nicht sowohl einen Ausgleich wie eine Abfindung vorsahen, § 19 (3) EGAktG Regierungsentwurf. Der Wirtschaftsausschuß des Bundestages, in dem außenstehende Aktionäre offenbar nicht vertreten waren, hat in der Lösung des Regierungsentwurfs einen "rechtlich und wirtschaftspolitisch bedenklichen Eingriff in ordnungsgemäß zustande gekommene Verträge"24 gesehen und die Lösung der Rechtsprechung überlassen. Da aber gleichzeitig durch § 22 EGAktG 65 für die Altverträge die wesentlichsten Vorschriften des AktG 65 in Geltung gesetzt worden sind, insbesondere die Vorschrift, daß im Konzerninteresse auch nachteilige Weisungen der versklavten AG erteilt werden können, sind die außenstehenden Minderheitsaktionäre durch das AktG 65 weiter entrechtet worden. Unrichtig ist allerdings m. E. die Auffassung von Schilling, daß ab 1. 1. 66 die alten Verträge ex nune wirksam geworden sind 25 • 24 Vgl. Bruno Krop!!, Aktiengesetz 1965 S.536 mit Wiedergabe des Ausschuß-Berichtes. 25 Schilling "Alte Unternehmensverträge im neuen Aktienrecht", Der Betriebs-Berater 1965, 1428 (1429); wie hier Bruno Krop!! in Der Deutsche Rechtspfleger Febr. Heft 1966 S. 35 (37).

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Die Nichtigkeit eines vor dem 1. 1. 66 abgeschlossenen Versklavungsvertrages muß m. E. auch nach dem 1. 1. 66 jederzeit von jedermann sowohl von den Gläubigern der versklavten AG wie von ihren Aktionären - geltend gemacht werden können. Allerdings sind Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge nach § 22 (2) EGAktG 65 zum Handelsregister anzumelden, wobei nicht der Wortlaut, sondern lediglich das Bestehen und die Art des Unternehmensvertrages sowie der Name des anderen Vertragsteiles anzumelden und einzutragen sind, so daß die außenstehenden Aktionäre nicht einmal den Wortlaut des Vertrages, wie dies für nach dem 1. 1. 66 abgeschlossene Verträge § 294 AktG 65 vorschreibt, kennenlernen können. Nun kann die Nichtigkeit von HV-Beschlüssen nicht mehr geltend gemacht werden, wenn 3 Jahre seit der Eintragung des HV-Beschlusses in das Handelsregister verstrichen sind, § 242 (2) AktG 65, und es entsteht die Frage, ob nach Eintragung des Bestehens und der Art des Unternehmensvertrages in das Handelsregister die Nichtigkeit geheilt wird. Indessen wird nach § 22 (2) EGAktG 65 nicht der HV-Beschluß über die Genehmigung des Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages, sondern lediglich die Tatsache des Bestehens und der Art des Unternehmensvertrages in das Handelsregister eingetragen 26 • Seit dem 1. 1. 66 sind auch reine Beherrschungsverträge ohne Gewinnabführungsverpflichtung aus der Zeit vorher in das Handelsregister eingetragen worden, um auf diese Weise der Erstattung des in § 321 AktG 65 vorgesehenen Abhängigkeitsberichtes über Beziehungen zu verbundenen Unternehmen zu entgehen, § 315 AktG 65. Dieser Bericht entfällt bei Bestehen eines Beherrschungsvertrages. Von dieser Möglichkeit hat die Allianz-Gruppe Gebrauch gemacht27 , ja sogar mündliche Abreden über 28 Die außenstehenden Aktionäre, insbesondere solche, die Aktien einer versklavtenAG nachträglich erworben haben, können aus dem Handelsregister nicht feststellen, welche Rechte ihnen der vor dem 1. 1. 66 abgeschlossene Ergebnisübernahmevertrag gibt. In der HV der Erin Bergbau AG vom 16. 12. 55 z. B. wurde der "Organvertrag" mit der GBAG und der ATH nur teilweise verlesen! Die garantierte Dividende richtet sich nach der GBAG-Dividende. Der Erin-Gewinn aber ging für eine Reihe von Jahren an ATH, so daß also GBAGReingewinne während dieser Zeit die Erin-Erträge nicht enthielten! Die außenstehenden Aktionäre können nur gemäß § 810 BGB die auf sie sich beziehenden Bestimmungen eines Altvertrages vorlegen lassen, sofern sie ein Recht auf eine garantierte Dividende (Vertrag zu Gunsten Dritter) erworben haben. !7 Handelsblatt vom 2.3.66 S.6. Im Handelsregister der Allianz-Lebensversicherungs AG HRB 471 d. AG Charlottenburg findet sich folgende Anmeldung vom 12. Januar 1966, auf Grund deren eine Eintragung im Handelsregister am 24. Januar 1966 erfolgt ist: "Zwischen der Allianz-VersicherungsAG und der Allianz-Lebensversicherungs AG besteht ein Gemeinschaftsvertrag vom 13./15. Februar 1959." (Der HV ist dieser Vertrag nicht vorgelegt worden.) "Wir, die unterzeichneten Vorstandsmitglieder, melden diesen Vertrag gemäß § 22 (2) EG AktG vom 5. September 1965 als Unternehmensvertrag (Beherrschungsvertrag) gemäß § 291 AktG an." Der Aktionär der Allianz-Leben, deren Aktien an der Börse gehandelt werden, kann den Wortlaut dieses Vertrages, der zu nachteiligen Weisungen ermächtigt, aus dem Handelsregister nicht feststellen. Vgl. auch Geschäftsbericht der Allianz Versicherungs-AG. 1966 S. 20.

S'

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vor dem 1. 1. 66 abgeschlossene Beherrschungsverträge sollen zur Eintragung angemeldet worden sein, und das OLG Karlsruhe hat in einem Beschluß vom 14. 11. 66 - NJW 1965 S. 832 - einen am 30. 12. 65 (!) vom Vorstand zweier AGs abgeschlossenen Beherrschungsvertrag mit der Begründung eingetragen, er müsse als immanenter Bestandteil eines 1950 abgeschlossenen Gewinn- und Verlustübernahmevertrages angesehen werden. Weder das Handelsrecht noch das Steuerrecht schreiben aber vor, daß eine Weisungspflicht einem Gewinnabführungsvertrage immanent sei.

IX. Rechtsschutz gegen Aushöhlung der versklavten AG? Die vom AktG 65 geschaffene Möglichkeit, der versklavten AG nachträglich Weisungen zu erteilen, die nicht nur für nach dem 1. 1. 66, sondern auch für vor diesem Stichtage abgeschlossene Verträge gilt, gestattet eine Aushöhlung der versklavten AG. Es können die Warenzeichen der versklavten AG während der Dauer des Vertrages durch ein Konzernwarenzeichen ersetzt werden, wie es jetzt bei einem Konzern geschieht, es können Betriebspachtverträge abgeschlossen werden, wie es nach Abschluß eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages zwischen der ATH und der Phoenix-Rheinrohr AG im August 1965 geschehen ist 28 , und es kann, wie dargelegt, durch Weisungen an den Vorstand der versklavten AG das Ergebnis, das auf die Organmutter überführt wird, zu Lasten der außenstehenden Aktionäre manipuliert werden. Was kann nun der Minderheitsaktionär tun, wenn er der Meinung ist, daß der Jahresüberschuß, der auf das beherrschende Unternehmen überführt wird, zu hoch ist, daß den Interessen der versklavten AG abträgliche Weisungen erteilt werden, daß sogenannte vororganschaftliche Rücklagen zu Unrecht aufgelöst worden sind? 1. Die Feststellung des Jahresabschlusses geschieht in der Regel auch nach dem neuen AktG 65 durch Vorstand und Aufsichtsrat. Ein Minderheitsaktionär kann nach § 256 AktG 65 eine Klage auf Feststellung der Nichtigkeit des Jahresabschlusses erheben. Der Jahresabschluß kann aber nur in sehr begrenztem Umfange angegriffen werden. Es müssen Vorschriften verletzt sein, die ausschließlich oder überwiegend zum Zwecke der Gläubiger der Gesellschaft oder sonst im öffentlichen Interesse gegeben sind. Im allgemeinen wird man das aber nur sagen können, wenn z. B. die Interessen der Gläubiger berührt sind, etwa der Jahresfehlbetrag in Wirklichkeit höher ist als ausgewiesen. Im übrigen dürfte ein solcher Prozeß schon an dem hohen Streitwert scheitern, den die deutschen Gerichte, namentlich die Oberlandesgerichte, bei Nichtigkeitskla28

Geschäftsbericht der Phoenix-Rheinrohr AG für 1964/65 S. 13.

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gen festzusetzen pflegen. Die Dauer eines Anfechtungsprozesses, der 5-6 Jahre währt, dürfte eine abschreckende Wirkung haben. Außerdem wird durch die Nichtigkeitserklärung eines Jahresabschlusses nicht viel erreicht; denn das Gericht kann - anders als die Spruchstelle nach § 58 (4) DMBilG - nicht seinerseits den Jahresabschluß festsetzen. Es kann überhaupt die Höhe der Gewinnabführungsschuld der versklavten AG oder die Höhe des von dem beherrschenden Unternehmen geschuldeten Jahresfehlbetrages rechtswirksam gegenüber letzterem in einem Aktionärnichtigkeitsprozeß oder Aktionäranfechtungsprozeß nicht festgestellt werden. 2. Mit einer Feststellungsklage des Minderheitsaktionärs gegen die Verwaltungsträger der versklavten AG, daß diese Ansprüche gegen das beherrschende Unternehmen geltend zu machen haben, wird ebenfalls wenig geholfen sein. Das Reichsgericht hat zwar die Feststellungsklage eines Vereinsmitgliedes gegen seinen Verein (damals den Deutschen Bühnen-Verein E. V) auf Feststellung des Rechtsverhältnisses zu anderen Mitgliedern für zulässig erachtet29 • Aber damit wird wiederum keine Rechtskraft gegenüber dem "Organherrn" geschaffen, und wenn die Verwaltungsträger gegen den Organherrn Klage erheben, werden andere Gerichte vielleicht nach 10 Jahren möglicherweise wieder anders entscheiden als die Gerichte im Feststellungsprozeß. 3. Der außenstehende Aktionär kann gegen die gesetzlichen Vertreter des herrschenden Unternehmens oder die Verwaltungsträger seiner AG Klage auf Schadensersatz erheben, §§ 309, 310 AktG. Diese Klage kann von jedem außenstehenden Aktionär erhoben werden, §§ 309 (4) Satz 1, 310 (4) AktG 65; indessen kann der Aktionär nur Leistung an die Gesellschaft verlangen. In dem oben unter V 2. genannten Fall könnte ein Aktionär der Hüttenwerke Siegerland AG Klage gegen die DortmundHörder Hüttenunion AG auf Zahlung von DM 12747646,- mit der Begründung erheben, der Betrag sei zu Unrecht den freien, vor der Organschaft gebildeten Rücklagen entnommen worden. Der Streitwert würde von vornherein abschreckend wirken. Die jetzt für Nichtigkeits- und Anfechtungsklagen eines Aktionärs geschaffene Kostenerleichterung (§ 247 AktG 65) würde nicht eingreifen. Die Verwaltungsträger des herrschenden Unternehmens und der versklavten AG würden aber einwenden, sie hätten im übergeordneten Konzerninteresse gehandelt. Welche Schädigung der versklavten AG ist nicht mit dem übergeordneten Konzerninteresse begründbar? Je mehr der Sklave ausgenützt wird, je reicher wird der Herr. Außerdem dürften die Verwaltungsträger der versklavten AG und die gesetzlichen Vetreter des herrschenden Unternehmens gar nicht in der 29

RGZ 129, S. 92.

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Lage sein, Beträge in der Größenordnung, die bei großen Publikumsgesellschaften in Frage stehen, aus eigenen Mitteln zu zahlen, so daß die Vollstreckung letzten Endes erfolglos auslaufen würde. 4. Soweit für Altverträge jetzt durch § 22 EGAktG 65 bestimmt worden ist, daß die Gewinnabführung nicht als Verstoß gegen das Verbot der Rückgewähr von Einlagen (§ 52 AktG 65) und gegen die §§ 58, 60 AktGes 65, die die Gewinnverteilung regeln, gilt und daß schädliche Weisungen erteilt werden können, § 308 (1) AktG 65, liegt eine entschädigungslose Enteignung nach Art. 14 des GG im Sinne des Feldmühle-Urteils des Bundesverfassungsgerichts 30 vor, wo folgende goldenen Worte ausgesprochen sind: "Voraussetzung für die Zulässigkeit dieser gesetzgeberischen Wertung ist freilich, daß die berechtigten Interessen der zum Ausscheiden gezwungenen Minderheit gewahrt werden. Dazu gehört einmal, daß ihr wirksame Rechtsbehelfe gegen einen Mißbrauch der wirtschaftlichen Macht zur Verfügung stehen; zum anderen muß Vorsorge getroffen sein, daß sie für den Verlust ihrer Rechtsposition wirtschaftlich voll entschädigt wird." Man könnte vielleicht - im Sinne der neueren Tendenz der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - überlegen, eine verfassungskonforme Auslegung dadurch herbeizuführen, daß man den durch das AktG 65 entrechteten außenstehenden Aktionären eine Klage auf Entschädigung gegen den Mehrheitsaktionär zugesteht, um den durch die Enteignung entstandenen Schaden auszugleichen. Die Entschädigung könnte auch darin bestehen, daß der Großaktionär den außenstehenden Aktionären seine Aktien gegen eine Abfindung abzukaufen hat, wie sie jetzt § 305 AktGes 65 für nach dem 1. 1. 66 abgeschlossene Gewinnabführungsverträge vorsieht.

X. Korporative Versklavung gegenüber ausländischen Unternehmen - Beherrschungsverträge neuer Art Das AktG 65 hat erfreulicherweise in §§ 311 ff. bestimmt, daß ein herrschendes Unternehmen seinen Einfluß nicht dazu benutzen darf, um eine abhängige AG zu veranlassen, ein für sie nachteiliges Geschäft vorzunehmen oder Maßnahmen zu ihrem Nachteil zu unterlassen, §§ 311315 AktG 65. Auf Grund dieser Bestimmung haben Tochtergesellschaften ausländischer Unternehmungen zu prüfen, ob sie durch Zahlungen für Know-How, für Regiegebühren u. ä. schädliche Geschäfte tätigen. Erdölraffineriegesellschaften, die Rohöl von ihrer amerikanischen Muttergesellschaft einführen, müssen prüfen, ob sie ihr Rohöl zu denselben Preisen eingekauft haben, die sie bei Dritten bezahlen müßten. Das ist insofern von großer praktischer Bedeutung, als nach der amerikanischen Steuergesetzgebung die amerikanischen Rohöl30

Urt. v. 7. 8. 62 BVerfG-Entscheidung Band 14 S. 264 (283).

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gesellschaften ein Interesse daran haben, das Rohöl zu hohen Preisen an die europäischen Tochtergesellschaften zu liefern, weil sie in den USA den Gewinn aus dem Rohölgeschäft zu einem besonders niedrigen Steuersatz versteuern können31 • Während bis zum AktG 65 niemand prüfte, inwieweit die abhängige Gesellschaft zugunsten der Obergesellschaft ausgehöhlt wurde, hat jetzt der Vorstand einer deutschen AG den Abhängigkeitsbericht zu erstatten und darzulegen, daß für alle Rechtsgeschäfte mit den Obergesellschaften die abhänige AG eine angemessene Gegenleistung erhalten habe. Der Bericht wird zwar nicht veröffentlicht und auch nicht den Aktionären zugänglich gemacht, ist aber von dem Aufsichtsrat und dem Abschlußprüfer zu prüfen (§§ 313, 314 AktG 65). Um diesem Abhängigkeitsbericht zu entgehen, wie in ihren Hauptversammlungen erklärt wurde 32 , haben die Standard Electric Lorentz AG (SEL) und die Deutsche Erdöl AG (DEA) mit ihren amerikanischen Muttergesellschaften die Beherrschungsverträge (Anlage 1 und Anlage 2) abgeschlossen. Eine Gewinnabführung ist hier nicht vorgesehen, weil die deutsche Steuerpraxis Ergebnisübernahmeverträge mit ausländischen Organträgern nicht anerkennt33 • Die Erteilung von Weisungen obliegt nach diesen Beherrschungsverträgen neuer Art einer amerikanischen Gesellschaft. Dies ist in beiden Fällen nicht die Hauptgesellschaft des amerikanischen Konzerns, sondern eine nach amerikanischem Recht errichtete, zwischengeschaltete Tochtergesellschaft, was mit Fragen des amerikanischen Steuerrechts zusammenhängen dürfte 34 • Die vom Gesetzgeber des AktG 65 geschaffenen Sicherungsvorschriften zugunsten der Gläubiger und der außenstehenden Aktionäre von versklavten AGs greifen bei ausländischen Muttergesellschaften faktisch nicht ein. 31 Vgl. "The Texaco Star" Nr. 3/1966 S. 17; J. E. Hartshorn, Schriftleiter bei der englischen Wirtschaftszeitschrift "The Economist", "Erdöl zwischen Mächten und Märkten" Verlag Stalling 1962, S. 125, wo es heißt: "Man hört oft, daß die amerikanische wie auch die übrige Ölwirtschaft den größten Teil ihrer Gewinne bei der Ölförderung erzielt, und viele Ölleute behaupten tatsächlich, daß der Satz: "Geld wird bei der Förderung gemacht" fast einem Naturgesetz gleichkommt. Da der größte Teil des Öls durch integrierte Kanäle auf den Markt stößt, ist es für den Außenstehenden nicht möglich, dieses "Naturgesetz" auf seine Richtigkeit zu prüfen. Unterstellt man es aber als wahr, hat dann nicht die Tatsache, daß es für Einkommen aus der Ölförderung besonders günstige Steuerpräferenzen gibt, etwas damit zu tun?" 32 Vgl. hinsichtlich SEL "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 28.7.1966, Nr. 172, Seite 17; hinsichtlich DEA Aktionärbrief über den Vortrag des Vorstandes auf der Hauptversammlung vom 16. 12. 1966. 33 Vgl. Organschaftserlaß NRW vom 23.10.1959 BStBl, 1959 II 161 unter I; "Der Betrieb" 1957, S. 1140. 34 Diese Gesellschaften sind, weil sie den größten Teil ihrer Einnahmen aus dem nichtamerikanischen Ausland beziehen, in den Vereingten Staaten nicht steuerpflichtig, vgl. Seetion 861 des US Internal Revenue Codes, sogenannte ,,861 corporations".

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1. Kraft Gesetzes ist der Jahresfehlbetrag von dem beherrschenden Unternehmen auszugleichen (§ 302 AktG 65). Diese Vorschrift gilt aber nur in der Bundesrepublik Deutschland, nicht im Ausland, z. B. den USA. Wenn ein deutsches Gericht das amerikanische beherrschende Unternehmen zur Zahlung verurteilen würde, würde ein solches Urteil in den USA nicht vollstreckbar sein. Der SEL-Vertrag (Anlage 1) nimmt lediglich auf die Vorschrift des § 320 AktG 65 Bezug. Ob sich durch Abschluß eines solchen Vertrages das herrschende Unternehmen dem deutschen Recht und der Verpflichtung zum Ausgleich des Fehlbetrages unterworfen hat, ist mindestens nicht sicher. Der DEAVertrag (Anlage 2) sieht eine vertragliche Verpflichtung zur Zahlung eines Jahresfehlbetrages vor. Aber auch hier muß im Ernstfall in den Vereinigten Staaten Klage erhoben und dort für die Prozeßkosten Sicherheit geleistet werden. 2. § 303 AktG 65 sieht bei Beendigung des Beherrschungsvertrages vor, daß das herrschende Unternehmen den Gläubigern Sicherheit, evtl. durch eigene Bürgschaft zu leisten hat. Diese Vorschrift beruht auf deutschem Aktienrecht und ist im Ausland nicht bindend. Die Gläubiger können sich deshalb in den Vereinigten Staaten auf sie nicht berufen. 3. Schließlich sieht § 309 AktG 65 vor, daß die gesetzlichen Vertreter des herrschenden Unternehmens, wenn sie bei der Erteilung von Weisungen an die versklavte AG nicht die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anwenden, dieser Schadensersatz zu leisten haben und daß dieser Anspruch sowohl von den Aktionären als auch von den Gläubigern der versklavten deutschen AG geltend gemacht werden kann. Gesetzliche Vertreter im Sinne des deutschen Rechts kennt das anglo-amerikanische Recht nicht. Das anglo-amerikanische Recht kennt wie das schweizerische Recht einen Verwaltungsrat (board of directors), der von Fall zu Fall die Vertretungsbefugnis erteilt. Ein Gläubiger oder Aktionär der beherrschten Gesellschaft kann also gesetzliche Vertreter der herrschenden amerikanischen Gesellschaft nicht in Anspruch nehmen, weil es solche gesetzlichen Vertreter nicht gibt. Überdies kann das deutsche Recht in den Vereinigten Staaten einen solchen Schadensersatzanspruch nicht begründen. Schließlich müßte ein solcher Anspruch, da die Mitglieder des board of directors in den USA wohnen, dort geltend gemacht werden, und es müßte auch hier Sicherheit für die Prozeßkosten geleistet werden. 4. § 304 (1) Satz 2 AktG 65 schreibt ferner vor, daß den außenstehenden Aktionären beim Beherrschungsvertrag als angemessener Ausgleich ein bestimmter jährlicher Gewinnanteil zu garantieren ist. Diese Garantie bestand bislang in der Begründung eines Anspruchs gegen

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das herrschende Unternehmen durch Vertrag zugunsten Dritter, nämlich der außenstehenden Aktionäre. In den als Anlage 1 und 2 beigefügten Verträgen garantiert nicht das amerikanische herrschende Unternehmen, sondern die versklavte AG eine bestimmte Dividende. Die ausländische herrschende Gesellschaft wollte offenbar der Gefahr, von einem außenstehenden Aktionär der beherrschten AG verklagt zu werden, entgehen. In dem Beherrschungsvertrag SEL (Anlage 1) ist überhaupt kein Zuschuß für die Zahlung einer Dividende durch das amerikanische herrschende Unternehmen vorgesehen. In dem Beherrschungsvertrag mit der DEA (Anlage 2) hat sich das amerikanische herrschende Unternehmen verpflichtet, die erforderlichen Beträge zur Verfügung zu stellen. M. E. muß die Ausgleichszahlung von dem herrschenden Unternehmen gegenüber dem außenstehenden Aktionär garantiert werden, dem ein unmittelbarer Anspruch einzuräumen ist. In beiden Fällen dürfte deshalb der Beherrschungsvertrag nichtig sein, weil kein Ausgleich im Sinne des Gesetzes gewährt wurde, § 304 (3) AktG 65. 5. Eine weitere Frage ist, ob das ausländische Unternehmen überhaupt derartige deutschem Aktienrecht unterliegende Beherrschungsverträge, die ja auch erhebliche Verpflichtungen mit sich bringen, abschließen darf. § 293 (2) AktG 65 verlangt von deutschen AGs, die als herrschendes Unternehmen einen Beherrschungsvertrag abschließen, die Zustimmung der HV des beherrschenden Unternehmens. Barz35 hat bereits auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die sich hier ergeben. Faßt man die Erörterungen 1. bis 5. zusammen, so muß man m. E. die neuen Vorschriften über Unternehmensverträge des AktG 65 so auslegen, daß "das andere Unternehmen", mit dem nach § 291 AktG 65 ein Beherrschungsvertrag abgeschlossen wird, ein Unternehmen mit Sitz im Inland sein muß, wie es auch der körperschaftsteuerlichen Praxis entspricht (vgl. Anmerkung 33). Deshalb halte ich die genannten Beherrschungsverträge neuer Art mangels ausreichender gesetzlicher Grundlage für nichtig, zumal sie eindeutig mit dem Umgehungsvorsatz, den Abhängigkeitsbericht zu vermeiden, abgeschlossen worden sind. Würde man sie aktienrechtlich als wirksam ansehen, so würde sich auch hier die Frage ergeben, ob eine so weitgehende entschädigungslose Enteignung der außenstehenden Aktionäre zugunsten eines ausländischen herrschenden Unternehmens im Einklang mit Art. 14 GG und den im FeldmühleUrteil des Bundesverfassungsgerichts festgelegten Grundsätzen steht. Die korporative Versklavung deutscher AGs, die auf dem Hintergrund einer Vermeidung der Steuerpflicht gewachsen ist, hat der Gesetz35

Betriebs-Berater 1966, S. 1168.

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geber des AktG 65 im Interesse der deutschen Großkonzerne zu legalisieren versucht. Noch größere Weltkonzerne in Amerika machen sich nun dies ihrerseits zu Nutzen, um deutsche Groß konzerne zu versklaven.

Anlage 1 Unternehmensvertrag Zwischen der International Standard Electric Corporation, einer nach den Gesetzen des Staates Delaware/USA errichteten Gesellschaft mit Verwaltungssitz in New York/USA - nachstehend ISEC genannt und der Standard Electric Lorenz Aktiengesellschaft, einer nach deutschem Recht errichteten Gesellschaft mit dem Sitz in Stuttgart -

nachstehend SEL genannt § 1. Leitung und Weisungsrecht

1. SEL unterstellt die Leitung ihrer Gesellschaft der ISEC. ISEC ist demgemäß berechtigt,dem Vorstand der SEL hinsichtlich der Leitung der SEL Weisungen zu erteilen. 2. ISEC hat das Recht, die Bücher und Schriften der SEL jederzeit einzusehen. Der Vorstand der SEL ist verpflichtet, ISEC jederzeit alle von ihr gewünschten Auskünfte über SEL und ihre rechtlichen und geschäftlichen Beziehungen zu geben. § 2. Rechtsausübung

ISEC kann die Rechte gemäß § 1 unter Wahrung der Verantwortlichkeit ihrer gesetzlichen Vertreter auch durch andere Gesellschaften des Firmenverbandes der International Telephone and Telegraph Corporation (ITT) ausüben lassen. ISEC wird SEL jeweils unverzüglich davon schriftlich unterrichten. § 3. Ausgleich für außenstehende Aktionäre

1. SEL garantiert ihren außenstehenden Aktionären für die Dauer dieses Vertrages einen jährlichen Gewinnanteil in Höhe von 21 Ofo des Aktiennennbetrages. 2. Wird für ein Geschäftsjahr keine oder eine geringere als die garantierte Dividende ausgeschüttet, so wird der garantierte Gewinnanteil oder der Unterschiedsbetrag einen Tag nach der Hauptversammlung fällig, welcher der festgestellte Jahresabschluß vorgelegen oder welche den Jahresabschluß festgestellt hat.

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3. Gegen ISEC erwerben die außenstehenden Aktionäre nur dann einen Anspruch auf Zahlung des garantierten Gewinnanteils, wenn und soweit ISEC eine solche unmittelbare alleinige Verpflichtung durch schriftliche Erklärung gegenüber dem Vorstand der SEL übernimmt. § 4. Abfindung der außenstehenden Aktionäre 1. ISEC verpflichtet sich, auf Verlangen von außenstehenden Aktionären

der SEL deren Aktien gegen eine Barabfindung in Höhe von DM 570,- je 100,- DM Aktiennennbetrag zu erwerben. 2. Die Verpflichtung der ISEC zum Erwerb von Aktien außenstehender Aktionäre der SEL wird auf 2 Monate nach dem Tage befristet, an dem die Eintragung dieses Vertrages in das Handelsregister als bekanntgemacht gilt. § 5. VerlusWbernahme

Gleicht ISEC während der Dauer dieses Vertrages gemäß § 302 Abs. 1 AktG einen bei SEL entstandenen Jahresfehlbetrag aus, so kann ISEC verlangen, daß SEL ihr diese Aufwendungen erstattet, wenn und soweit die während der Dauer dieses Vertrages unter Berücksichtigung der Erstattungspflicht erzielten Jahresüberschüsse für die gemäß § 3 Abs. 1 garantierten Gewinnanteile und für die gesetzlich vorgeschriebenen Einstellungen in Rücklagen ausreichen. § 6. Vertragsdauer

Dieser Vertrag wird mit Eintragung in das Handelsregister wirksam und tritt mit Rückwirkung vom 1. 1. 1966 in Kraft. Er wird auf unbestimmte Zeit abgeschlossen und kann von jeder Vertragspartei schriftlich mit einer Frist von 6 Monaten zum Ende eines jeden Geschäftsjahres der SEL gekündigt werden. § 7. Anwendbares Recht

Für den Vertrag gilt deutsches Recht. New York, den 22. September 1966

Stuttgart, den 14. 9. 1966

International Standard Electric Corporation

Standard Electric Lorenz Aktiengesellschaft

gez. Unterschriften

gez. Unterschriften

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Anlage 2 Unternehmensvertrag zwischen

Deutsche Texaco LTD., einer Gesellschaft mit Sitz in Deleware/USA, - im folgenden "Ltd." genannt lind

Deutsche Erdöl-Aktiengesellschaft, einer Gesellschaft mit Sitz in Hamburg, - im folgenden "DEA" genannt -

Artikel 1 Leitung und Weisungen (1) DEA unterstellt sich der Leitung durch Ltd. Ltd. ist dementsprechend berechtigt, dem DEA-Vorstand Weisungen für die Leitung der DEA zu geben. (2) Ltd. ist jederzeit berechtigt, Bücher und Schriften der DEA einzusehen. Der DEA-Vorstand ist verpflichtet, Ltd. jederzeit alle von Ltd. gewünschten Auskünfte über alle rechtlichen, geschäftlichen und Verwaltungs angelegenheiten der Gesellschaft zu geben.

Artikel 2 Übernahme von Verlusten Ltd. verpflichtet sich, während der Vertragsdauer einen Jahresfehlbetrag der DEA gemäß § 302 des AktG auszugleichen.

Artikel 3 Ausgleich für außenstehende Aktionäre (1) DEA garantiert für die Vertragsdauer ihren außenstehenden Aktionären für jedes Geschäftsjahr, beginnend mit der Dividende für das Jahr 1966, eine Dividende in Höhe von 6 % des Nennwertes der Aktien. (2) Soweit DEA nicht in der Lage ist, diesen Ausgleich nach Abs. (1) zu zahlen, ist Ltd. verpflichtet, DEA die erforderlichen Beträge zur Verfügung zu stellen. (3) Wird keine oder eine geringere als die garantierte Dividende für ein Geschäftsjahr der DEA gezahlt, so ist die garantierte Dividende oder

Korporative Versklavung deutscher Aktiengesellschaften

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der Unterschiedsbetrag am Tage nach der Hauptversammlung fällig, auf der der Jahresabschluß vorgelegt wird oder die den Jahresabschluß feststellt. (4) Die außenstehenden Aktionäre erwerben keinen Anspruch gegen Ltd. auf die in Abs. (1) vorgesehene Ausgleichszahlung. Ltd. kann jedoch in jedem Einzelfall und ohne sich damit für die Zukunft festzulegen, unmittelbar selbst eine Verpflichtung nach Abs. (1) übernehmen. Dies geschieht durch eine nicht später als einen Monat vor dem Tage der ordentlichen Hauptversammlung des betreffenden Jahres an DEA zu richtende schriftliche Anzeige der Ltd.

Artikel 4 Abfindung für außenstehende Aktionäre (1) Ltd. verpflichtet sich, auf Verlangen der außenstehenden Aktionäre der DEA deren Aktien mit Gewinnanteilschein Nr. 20 und Erneuerungsschein gegen eine Barzahlung im Betrage von DM 180,- für je DM 100,- Nennwert der Aktien zu erwerben. (2) Die außenstehenden Aktionäre, die die Übernahme ihrer Aktien durch Ltd. ganz oder zum Teil wünschen, haben diese Aktien bei einer Zweigstelle einer der folgenden Banken während des in Abs. (3) genannten Zeitraumes einzureichen: Deutsche Bank AG (als Führer des Konsortiums) auch für Berliner Disconto Bank AG und Saarländische Kreditbank AG Dresdner Bank AG auch für Bank für Handel und Industrie AG Commerzbank AG auch für Berliner Commerzbank AG Hardy & Co. GmbH. Westfalenbank AG Brinckmann, Wirtz & Co. Delbrück von der Heydt & Co. C. G. Trinkaus Gebrüder Bethmann. (3) Die in Abs. (1) dieses Artikels 4 festgelegte Verpflichtung von Ltd. endet mit dem Ablauf von zwei Monaten nach dem Tage, an dem die

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Heinz Meilicke

Eintragung dieses Unternehmensvertrages im Handelsregister als bekanntgemacht gilt.

Artikel 5 Daue1· des Vertrages (1) Der Vertrag wird wirksam mit der Eintragung im Handelsregister. (2) Der Vertrag gilt rückwirkend ab 30. Juni 1966. (3) Mit Ausnahme des Falles der Kündigung aus wichtigem Grunde kann keine Partei diesen Vertrag früher als zum 31. Dezember 1968 kündigen. (4) Dieser Vertrag kann von jeder Partei auf das Ende des in Abs. (3) genannten Zeitraumes oder auf das Ende jedes darauffolgenden Geschäftsjahres der DEA schriftlich mit 6-monatiger Frist gekündigt werden. § 297 Abs. 2 des AktG bleibt unberührt.

Artikel 6 Teilnichtigkeit Sollte irgendeine Bestimmung dieses Vertrages unwirksam sein oder werden, so bleibt die Wirksamkeit der übrigen Bestimmungen dieses Vertrages unberührt.

Artikel 7 Anzuwendendes Recht Für den Vertrag gilt deutsches Recht. Düsseldorf, den 1. November 1966. Deutsche Texaco Ltd. gez. W. B. Gilbert

Deutsche Erdöl-Aktiengesellschaft gez. F. v. Berghes Griebel Goethe Grages Ritter Erich Schliemann Texaco Inc. garantiert hiermit die Erfüllung aller Verpflichtungen der Deutsche Texaco Ltd. aus dem vorstehenden Unternehmensvertrag. Düsseldorf, den 1. November 1966. Texaco Inc. gez. W. Foley.

KLEMENS PLEYER

Einflüsse der Wirtschaftsordnung auf die Rechtsfindung* Wirtschaftliche Betrachtungen zu ZivilurteiIen aus heiden Teilen Deutschlands Nach dem 2. Weltkrieg sind Gesellschaft und Wirtschaft in den beiden Teilen Deutschlands in ganz verschiedener Weise geordnet worden. Die Länder der westlichen Zonen rückten nach Aufhebung der nationalsozialistischen Vorschriften die Einzelperson wieder in den Mittelpunkt ihrer Regelungen und gelangten so zu einer von den Planungen des einzelnen ausgehenden Marktwirtschaft. Die Grundlagen hierfür finden sich heute im Bonner Grundgesetz u. a. in Gestalt der Eigentumsgarantie, der Berufs- und Koalitionsfreiheitl. In der SBZ wurde hingegen das Kollektiv, insbesondere das im Staatsverband organisierte Volk, zum Angelpunkt der Ordnung gemacht und der einzelne als Glied des größeren Ganzen erfaßt. Die Wirtschaftsform, die dieser Anschauung entspricht, ist die Wirtschaft mit staatlicher zentraler Planung 2 • Sie orientiert sich an dem auf hoheitlichem Wege erlassenen Plan und richtet alles wirtschaftliche Geschehen auf seine Erfüllung und übererfüllung aus. Dem gleichen Zweck dienen auch alle mit Wirtschaftsfragen zusammenhängenden Gesetzesvorschriften. Beide Systeme haben im geteilten Deutschland zu Rechtsordnungen von beachtlicher Geschlossenheit geführt. Sie verwenden zwar z. T. gleiche Institutionen, wie Vertrag, Eigentum, Patent, Zivilprozeß, weisen aber diesen Institutionen jeweils eine ganz andere Funktion zu und erfüllen sie deshalb auch mit einem den besonderen Zwecken adäquaten Inhalt. An dieser Feststellung ändert auch das Neue ökonomische System der Planung und Leitung in der SBZ nichts. Es läßt den Vorrang des staatlichen Planes unberührt und will im wesentlichen mit anderen und effektiveren Mitteln als bisher, nämlich mehr mit ökonomischen statt mit administrativen, zur übernahme und Erfüllung hoher Planungsaufgaben anreizen.

* Der Beitrag gibt die Antrittsvorlesung wieder, die der Verfasser am 26.4. 1967 in Berlin gehalten hat. 1 2

Art. 9, 12, 14 GG. Vgl. Art. 21, 88 Abs. 1 Verf. der DDR.

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Klemens Pleyer

Ein Zivilrecht gibt es in beiden Rechtsgebieten, insbesondere kennt man hier wie dort das Rechtsgeschäft, namentlich den Vertrag. Während wir aber das Zivilrecht als die ureigene Domäne des freien Individuums und den Vertrag als das wichtigste Instrument zur Gestaltung der persönlichen Freiheit sowie zur Verfolgung persönlicher Interessen betrachten, stellt die Zentralplanwirtschaft beide in den Dienst der Planerfüllung. Daraus erklären sich nicht nur die zahlreichen Unterschiede im positiven Recht. Die Ordnung, innerhalb derer eine Rechtsnorm ihre Funktion zu erfüllen hat, beeinflußt auch die Auslegung der Gesetze. Mit dieser Frage will ich mich im folgenden beschäftigen. Ich werde ausgewählten Urteilen unserer höheren Gerichte Entscheidungen von Gerichten aus dem anderen Teil Deutschlands gegenüberstellen, im ersten Abschnitt solche der Staatlichen Vertragsgerichte, im zweiten solche des Obersten Gerichts (OG) der DDR. Schon ein flüchtiger Blick in die Entscheidungssammlungen und den Rechtsprechungsteil der Zeitschriften aus der SBZ zeigt, daß man sich in einer ganz anderen Welt befindet, die sich ein eigenes Instrumentarium, z. T. auch ein eigenes Vokabular geschaffen hat. In unseren Zivilurteilen ist von "Parteien" die Rede; deren "Wille", "Vorstellungen" und "Absichten" werden vom Gericht ermittelt und verwirklicht; die "Interessen" der Parteien müssen analysiert, bewertet und gegeneinander abgewogen werden. Diese Methode entspricht einer Ordnung, die von dem einzelnen, seinen Planungen und seinen Erklärungen ausgeht. In einer Ordnung, die die Gesellschaft und ihre im Plan ausgedrückten wirtschaftlichen Belange in das Zentrum rückt, werden andere Gesichtspunkte und Maßstäbe für die Konkretisierung der Normen im Einzelfall maßgebend. An die Stelle der auf das Einzelindividuum ausgerichteten Begriffe treten solche, die sich auf die Gesamtheit beziehen. In den Entscheidungen, insbesondere denen der Staatlichen Vertragsgerichte, findet man beispielsweise immer wieder die Worte "Volkswirtschaft", "wissenschaftlich-technischer Fortschritt", "Höchststand", " Weltmarktfähigkeit" , "Bedarfsdeckung ", " Qualitätssteigerung", " bedarfsgerechte Produktion" usw. Die Gerichte begnügen sich auch nicht mit der Entscheidung eines konkreten Konfliktes, sondern nehmen diesen oft zum Anlaß, um grundsätzliche Probleme und Schwierigkeiten, die in einer Zentralplanwirtschaft immer wieder auftreten, zu erörtern und der Lösung näher zu bringen. Betrachten wir zuerst einige Urteile der Staatlichen Vertragsgerichte, die Vertragsstreitigkeiten aus dem volkseigenen Bereich der Wirtschaft zum Gegenstand haben. Für sie ist nicht mehr das BGB, sondern das Vertragsgesetz der DDR (VG) maßgeblich3 . 3

GEl DDR I 1965 S. 107 (a. F.

= GBI DDR I

1957 S. 627).

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Der Einfluß der Wirtschaftsordnung macht sich sehr deutlich bei einer der wichtigsten Tätigkeiten des Juristen, nämlich der Auslegung von Rechtsgeschäften bemerkbar. Wir orientieren die Auslegung an den Parteiinteressen, die Gerichte der SBZ dagegen an den Planinteressen. Dazu ein vom Staatlichen Vertragsgericht Dresden4 entschiedener Fall. Die Deutsche Handelszentrale (DHZ) hatte einem Volkseigenen Betrieb (VEB) die Lieferung von 500 Schubkarren zugesagt. Nach der Bestellung des VEB sollten je 150 im I. und 11. Quartal und je 100 im II!. und IV. Quartal geliefert werden. Die DHZ bestätigte jedoch abweichend hiervon die Lieferung von je 100 im März, April, Mai, Juni und August, lieferte dann aber überhaupt nicht, weil ihr Lieferant sie im Stich gelassen hatte. Im Verlauf der Auseinandersetzungen wurde die Frage aufgeworfen, ob überhaupt ein Vertrag zustande gekommen sei und ggf. mit welchem Inhalt. Das wäre nach dem BGB verhältnismäßig einfach zu beantworten gewesen: Die von der Bestellung abweichende Bestätigung der DHZ müßte als Ablehnung des alten Angebotes, verbunden mit einem neuen Angebot, gedeutet werden (§ 150 Abs. 2 BGB). Zu prüfen bliebe dann, ob man aus irgendwelchen Momenten die stillschweigende Annahme dieses neuen Angebotes durch den Besteller ableiten könnte 5 • Einen ganz anderen Weg geht das Vertragsgericht. Es legt die Erklärungen der Parteien im Sinn der "kameradschaftlichen Zusammenarbeit sozialistischer Betriebe" (einer in § 5 des VertrGes enthaltenen Generalklausel, die ähnliche Bedeutung hat wie unser § 242 BGB) aus, während wir doch sagen würden, daß bei so eindeutigen Erklärungen für eine Auslegung gar kein Raum sei. Bei dieser "Auslegung" geht das Gericht ganz anders vor als wir: Es erforscht nicht den erklärten Willen vom Empfängerhorizont her', es fragt nicht nach dem hypothetischen Willen7 , nach den Interessen der Parteien und ihrem Niederschlag in den Erklärungen. Es stellt vielmehr fest: "Die Auslegung ... muß unter dem Gesichtspunkt erfolgen, daß die sozialistischen Betriebe sowohl vor und bei dem Vertragsabschluß als auch bei der Vertragserfüllung kameradschaftlich zusammenzuarbeiten haben, daß sie sich gegenseitig bei der Vertragserfüllung und damit bei der Planerfüllung helfen und stets die Auswirkungen ihres Verhaltens auf die Planerfüllung des anderen Partners berücksichtigen müssen." Auf Grund dieser Überlegungen hat das Gericht entschieden, daß der Vertrag zu den Bedingungen des Bestätigungsschreibens abgeschlossen worden sei. Dies geht wohl über das hinaus, was "Auslegung", so wie wir sie verstehen, noch zu leisten vermag; es ist schon mehr Rechtsgestaltung aus dem Gesichtspunkt der Wahrung überVS 1958, 325. BGH LM Nr. 3 und 6 zu § 150 BGB. e RGZ 91, 423 (426). 7 BGH LM Nr. 5 zu § 133 (A) BGB. 4

5

9 Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch

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geordneter Interessen. Befremdlich ist dies in einer Zentralplanwirtschaft nicht. Dort herrscht Vertragsabschlußpflicht8 • Der Vertrag dient nicht den Parteiinteressen, sondern der Planerfüllung; die Parteien selbst sind nur dienende Glieder, deren Belange hinter den Allgemeinbelangen zurücktreten müssen. Sie sind also nicht souveräne Herren über ihre Erklärungen und ihren Vertrag 9 • Warum soll es dann nicht möglich sein, unklare, widersprechende Erklärungen zu korrigieren und ihnen authentisch den Inhalt zu geben, den sie für die Planzwecke haben müssen? In der Marktwirtschaft der BRD steht man solchen "Umgestaltungen" durch den Richter sehr skeptisch gegenüber. Das Gericht versucht allenfalls, die Parteierklärungen zu ergänzen, aber immer nur in dem Sinn, wie es die Parteien selbst hätten eigentlich tun müssen10 ; ein neuer Inhalt der Erklärungen kann den Parteien nicht aufgezwungen werdenl l • Die richterliche Vertragshilfe, die früher in großem Umfange bestehende Verträge umgestaltete, um harte Auswirkungen staatlicher Maßnahmen (Einziehung zum Kriegsdienst, Währungsreform) auf einzelne Private zu mildern, ist ganz konsequent beim Aufbau der Marktwirtschaft immer mehr zurückgedrängt worden und heute praktisch bedeutungslos. Eine Entscheidung des Bezirksvertragsgerichts Leipzig 12 ist ein weiteres Musterbeispiel dafür, wie das Verhalten der Vertragspartner von volkswirtschaftlichen Erwägungen aus beurteilt wird. Eine Wäschefabrik hatte einen Vertrag über die Lieferung von Herrenhemden nicht erfüllt. Die bedungene Vertragsstrafe 13 an ihren Abnehmer wollte sie nicht bezahlen, weil der Zulieferer ihr z. T. minderwertigen Popeline angeboten hatte. Eine Einigung mit diesem über eine Preisherabsetzung war nicht gelungen, so daß die Wäschefabrik die Annahme der minderwertigen Ware verweigerte, was dann zum Ausfall ihrer eigenen Lieferung führte. Wir würden die Wäschefabrik zur Zahlung einer bedungenen Vertragsstrafe verurteilen, und zwar deshalb, weil es ihr eigenes Risiko ist, wie sie sich die benötigten Rohstoffe verschafft, und weil sie die Möglichkeit hat, sich anderweitig einzudecken. Für das Verhältnis der Fabrik zu ihrem Vorlieferanten wären die §§ 459 ff. BGB maßgebend. Die Interessen des Bestellers liefern hierbei den Maßstab für die Reaktion auf eine mangel§ 8 VG 1965 (vorher § 1 VG 1957). Im einzelnen vgl. Pleyer, Vertrag und Wirtschaftsordnung, in: Zentralplanwirtschaft und Zivilrecht, Stuttgart 1965, S. 46-51; Hofmann, Subjektives 8 g

Recht und Wirtschaftsordnung, Stuttgart 1967, S. 28-38. Zum Verhältnis: dirigistische Wirtschaft - Vertrag siehe auch Khalil, Le Dirigisme Economique et les Contrats, Paris 1967. 10 BGH LM Nr. 5 zu § 133 (A) BGB. 11 RGZ 82, 308 (316); Flume, Das Rechtsgeschäft, 1965, § 16 3a), S. 308. 12 VS 1962, 3I. 13 Zur Funktion der Vertragsstrafe in einer zentral geplanten Wirtschaft vgl. Hofmann, a.a.O., S. 157-205.

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hafte Lieferung. Der Fabrikinhaber könnte in unserem Fall dasjenige Recht wählen, dessen Geltendmachung ihm eine günstige wirtschaftliche Lage verspricht1 4 : Wandlung, Minderung oder Lieferung eines mangelfreien Stückes (§§ 462, 480 BGB). Das Vertragsgericht hat sich bei der Prüfung, ob die Wäschefabrik für die Nichterfüllung verantwortlich sei, gar nicht mit den Interessen des Bestellers und des Lieferanten beschäftigt. Es wirft vielmehr sehr schnell die Frage auf, ob es volkswirtschaftlich zu vertreten war, daß die Wäschefabrik wegen der Auseinandersetzungen über die Höhe der Preisminderung die Abnahme des gesamten Stoffes verweigerte. Dies verneint das Gericht, da es möglich gewesen sei, ca. 90 Ofo des Stoffes zu Hemden einwandfreier Qualität zu verarbeiten. Die Wäschefabrik hätte bei ihrer Entscheidung berücksichtigen müssen - so führt das Gericht aus -, daß der Handel, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, dringend Popelinehemden benötige. Die vorhin erörterte Entscheidung nach dem BGB wird durch die Parteiinteressen charakterisiert. Für die Anwendung des Vertragsgesetzes sind also andere Momente maßgeblich, nämlich die Bedürfnisse der Allgemeinheit, in unserem Fall das dringende Interesse der Bevölkerung an Popelinehemden. Dieses determiniert die Maßnahme des Bestellers. Die möglichst nutzbringende Verwendung auch von Stoffen schlechterer Qualität darf insbesondere nicht von der individuellen Abrede über die Preisminderung abhängig gemacht werden. Ob die Abnahme fehlerhafter Ware geboten und zumutbar ist, wird also nicht vom einzelnen Betrieb her, sondern vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet und entwickelt. Dies ist konsequent, da die einzelnen Betriebe im Plangefüge eine dienende Funktion haben. Die entscheidende Frage in unserem Fall lautet also: Hätte der Stoff noch zu einem für die Gesamtheit nützlichen Produkt weiter verarbeitet werden können? Ggf. in welcher Weise? Was mußte zu diesem Zweck getan werden? Diese Fragen aus dem Verhältnis Lieferant-Wäschefabrik werden dann maßgeblich für das Verhältnis Wäschefabrik-Abnehmer. Auch die Aufhebung und Änderung von Verträgen ist auf volkswirtschaftliche Notwendigkeiten ausgerichtet. Nach § 20 VG n. F. haben die Partner abgeschlossene Wirtschaftsverträge aufzuheben oder zu ändern, wenn sich bessere Möglichkeiten der Planerfüllung ergeben oder wenn der Vertrag den staatlichen Aufgaben widerspricht. Das demonstriert deutlich die Abhängigkeit der Verträge von den Plänen. Sind die Ursachen der Aufhebung durch einen Partner gesetzt, kann der andere Vertragsstrafe wie bei Nichterfüllung verlangen. In einem entschiedenen FalllS hatte der Besteller die Aufhebung eines Vertrages über 0,6 mm14 15

BGHZ 5, 340. VS 1966, 755.

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Draht verlangt, da auf Grund eines Material und Lohnkosten sparenden Neuerervorschlages jetzt nur noch 0,2 mm-Draht benötigt wurde, den der Hersteller nicht liefern konnte. Wir würden die spätere Einführung eines neuen Verfahrens ohne weiteres der Sphäre des Bestellers zurechnen und ihr jede Auswirkung auf abgeschlossene Verträge versagen; wir tendieren wohl auch dazu, Ähnliches für die Betriebe der Zentralplanwirtschaft anzunehmen, d. h. also, im vorliegenden Fall die Ursachen für die Vertragsaufhebung als durch den Besteller gesetzt anzusehen. Das BezVertr Ger Suhp6 entschied gerade umgekehrt, da der Besteller im volkswirtschaftlichen Sinn gehandelt habe und seine Maßnahme darauf abziele, rationeller als bisher zu produzieren. Auch hier wird also von der Planerfüllung aus argumentiert und nicht von den Parteiinteressen. Die Interessen des Vertragspartners wurden vom Gericht nicht einmal besonders erwähnt1 7 • Ein gutes Beispiel für die erwähnte Auseinanderentwicklung des Zivilrechts ist die Mängelhaftung beim Liefervertrag. Das beginnt bereits bei der Mängelrüge selbst. Sie hat sowohl in der Marktwirtschaft als auch in der Zentral planwirtschaft die Funktion, dem Lieferanten Gewißheit zu verschaffen, ob der Besteller die Lieferung als vertragsgerecht anerkennt oder nicht. Warum es aber auf diese Gewißheit ankommt, das ist schon wieder hier anders als dort. So erklären Reichsgericht1 8 und Bundesgerichtshof19 den Sinn des § 377 HGB damit, daß der Lieferer in den Stand gesetzt werden müsse, die zur Wahrung seiner Interessen nötigen Maßnahmen zu ergreifen. Das BezVertrGer Dresden20 hat hingegen die analoge Vorschrift des § 53 im alten VG (heute in § 87 VG n. F. etwas anders geregelt) in erster Linie damit erklärt, daß es gelte, volkswirtschaftliche Verluste auf ein Mindestmaß herabzusetzen, den Lieferer zur sofortigen Beseitigung der Fehlerquelle und künftig zu erhöhter Sorgfalt bei der Erfüllung seiner Pflicht zur Qualitätsarbeit anzuhalten. Das Gebot ordnungsgemäßer Erfüllung der Pläne sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht prägt also auch die Mängelrüge21 • Unser BGB definiert in § 459 den Fehler bekanntlich als mangelnde Eignung der Ware zu dem nach dem Vertrag, also von den Parteien, vorausgesetzten oder dem gewöhnlichen Gebrauch22 • Dies ist ganz konsequent. In erster Linie kommt es auf die Beschaffenheit an, welche die Para.a.O., mit Anm. von Schulze. Vgl. auch VS 1959, 194. Anders aber Schulze, a.a.O. 18 RGZ 99, 248. 19 Betrieb 1959, 1083. 29 VS 1961, 159. U Vgl. auch Hofmann, a.a.O., S. 122-129. 22 Vgl. BGHZ 16, 54 (55). Erman-Böhle-Stamschräder, BGB, 3. Aufl. 1962, Bd. 1, § 459 Anm. 6; Larenz, Schuldrecht, 2. Bd., 7. Auf!. 1965, § 37 I a, S. 33 f. 16 17

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teien bei Vertragsschluß gemeinsam vorausgesetzt haben. Nur wenn es an einer solchen Zweckbestimmung oder gemeinsamen Voraussetzung fehlt, entscheidet die Tauglichkeit für den gewöhnlichen Gebrauch, und zwar deshalb, weil man annehmen darf, daß dies auch den Vorstellungen der Vertragschließenden entsprechen wird. Da der Kaufvertrag den Interessen der Parteien dient, müssen auch deren Bedürfnisse und Intentionen entscheidend sein. Wir operieren daher mit einem auf die Parteien eines konkreten Rechtsgeschäftes bezogenen Fehlerbegriff. Dieser allein ist in der Lage, die Bedürfnisse der Parteien so zu befriedigen, wie sie selbst es wollen (und nicht etwa, wie eine staatliche Behörde es will). Nur ein solcher Fehlerbegriff verschafft den Parteivorstellungen über die Beschaffenheit der Sache Eingang in die Kaufverträge 23 • Für zentralplanwirtschaftliche Ordnungen ist hingegen ein objektiver Fehlerbegriff erforderlich. Nur er ermöglicht die für die zentrale Planung unerläßliche Standardisierung der Waren. Das alte VertrGes formulierte daher in seinem § 52 ganz konsequent, daß das Erzeugnis oder Werk den staatlichen Standards24 entsprechen und darüber hinaus die vereinbarten Eigenschaften haben müsse. Die Parteiabrede rückte also deutlich in den zweiten Rang. § 39 des neuen VG betont zwar die Pflicht der Partner, in den Verträgen Vereinbarungen über die Qualität zu treffen, verlangt aber zugleich, daß diese Abmachungen der Durchsetzung des wissenschaftlichen Höchststandes, also einem den Parteien vorgegebenen Moment dienen müssen. Die staatlichen Gütevorschriften, insbesondere die Standards, sind stets in den Vertrag aufzunehmen. Sie sind im übrigen auch dann Vertragsinhalt, wenn sie nicht ausdrücklich vereinbart werden (§ 39 Abs. 2 VG n. F.). Es sind also nach wie vor objektive Maßstäbe, die das Gewährleistungsrecht des Vertragsgesetzes prägen. Dies bestätigt auch eine Entscheidung des VertrGer Groß-Berlin vom 20.10.59 25 , die man leicht im entgegengesetzten Sinn zu deuten versucht ist. Ihr Leitsatz lautet nämlich: "Ein nicht zum gewöhnlichen oder nach dem Vertrag vorausgesetzen Gebrauch taugliches Erzeugnis ist mangelhaft, auch wenn es im übrigen den hierfür gültigen staatlichen Standards entspricht." Der tiefere Grund für diese Entscheidung liegt darin, daß es sich in dem konkreten Fall um eine Neukonstruktion handelte, und daß sich die Standards als überholt erwiesen hatten. Die kurzen Prüfungen, die für die Standards vorgesehen waren, reichten nicht aus, um die Mängel des neuen Produktes aufzudecken, die z. T. erst nach 4-8 Wochen auftraten. Die gelieferten Stücke waren also fehlerhaft und eigneten sich nicht für die Planerfüllung. Demzufolge orientierte sich das Gericht mit Recht an der Tauglichkeit zum gewöhn23 24 25

RGZ 135,342. Vgl. zu alledem Hofmann, a.a.O., S. 112-129. Vgl. dazu BezVertrGer Dresden, VS 1964, 193. VS 1960, 26.

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lichen oder dem vertraglich vorausgesetzten Gebrauch und stellte an das Produkt höhere Anforderungen als die staatlichen Standards. Der vertraglich vorausgesetzte Gebrauch wird übrigens bezeichnenderweise in dem Urteil erst an letzter Stelle genannt. Ähnlich hat das BezVertrGer Dresden26 entschieden: Durch Planungsakt für den Bezirk Dresden bestimmte und dorthin gelieferte Fernsehgeräte, denen das Segment für den Empfang des Dresdener Senders fehlte, seien auch dann fehlerhaft, wenn sie den staatlichen Standards voll entsprächen. Der Standard, der hierfür keine Vorschrift enthielt, reichte in diesem Fall eben nicht aus, um die Tauglichkeit zu gewährleisten. Die getroffenen Feststellungen gelten auch für das Gebot, die Mängelrüge unverzüglich zu erteilen. Während der BGH21 dieses Erfordernis damit erklärt, daß der Verkäufer möglichst rasch in die Lage versetzt werden soll, die zur Wahrung seiner Interessen nötigen Maßnahmen zu ergreifen, hat das Zentrale Staatliche VertrGer28 andere Momente in den Vordergrund gerückt. Es handelte sich um einen Fall, in dem eine Walzengießerei Eisenerz lieferte, das nicht qualitätsgerecht war, was sich schon aus ihrer eigenen Lieferanalyse ergab. Der bestellende VEB rügte diesen erkennbaren Mangel erst am 13. Tag nach der Lieferung. In der Zwischenzeit hatte er Besprechungen geführt und geprüft, ob man das mangelhafte Erz nicht doch einsetzen und so den volkswirtschaftlichen Schaden gering halten könne. Das Gericht hat dies ausdrücklich als richtige Handlungsweise bezeichnet und erklärt, daß der Besteller rechtzeitig gerügt habe. Ohne auf die Interessen des Lieferanten an baldiger Klarheit darüber, ob der Abnehmer die Ware behalten wolle, einzugehen, operiert das Gericht ganz und gar mit objektiven Momenten. Bezeichnend ist, daß das Gericht meint, ein Bedürfnis nach besonders schneller Mängelrüge sei etwa dort gegeben, wo es gelte, den Lieferer auf ihm unbekannte Fehler hinzuweisen, damit er sie bei der laufenden Produktion vermeide. Dies treffe im vorliegenden Fall aber nicht zu, da dem Lieferer der Mangel bekannt gewesen sei, wie sich aus der Lieferanalyse ergebe. Der Begriff "unverzüglich" wird also allein unter Berücksichtigung übergeordneter, volkswirtschaftlicher Gesichtspunkte einmal enger, einmal weiter ausgelegt. Wer sich also bemüht, mangelhafte Produkte doch noch zu verwenden und so den volkswirtschaftlichen Schaden gering zu halten, rügt immer noch unverzüglich, wenn er den Mangel erst nach Abschluß dieser Bemühungen anzeigt. 26

27

28

VS 1960, 320. Betrieb 1959, 1083. VS 1960, 216 ff.

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Dies alles erscheint sehr verständlich. Die Mängelrüge ist eines der wesentlichsten Mittel zur Qualitätssteigerung. Diese ist in allen Zentralplanwirtschaften ein besonderes Problem und führt früher oder später zu einem Vordringen ökonomischer stimuli zu Lasten administrativer Maßnahmen. Die Mängelrüge erhält also von ihrer volkswirtschaftlichen Funktion her das Gepräge. Sie soll die Betriebe zwingen, für den Verbraucher hochwertige Waren herzustellen. Diese Aufgabe übernimmt bei uns der Wettbewerb. In der Zentralplanwirtschaft zwingt aber nicht ein Konkurrenzbetrieb den anderen durch Wettbewerb zu Leistungssteigerungen, vielmehr sollen die Betriebe einander in kameradschaftlicher sozialistischer Zusammenarbeit helfen, die Planaufgaben auch in qualitativer Beziehung zu erfüllen. Die Mängelrüge ist eines der Mittel hierzu. Da es sich um objektive, den Betrieben vorgegebene Zwecke handelt, spielen auch objektive Momente bei der Auslegung der entsprechenden Begriffe eine große Rolle 29 • Wenden wir uns nun einigen Entscheidungen des Obersten Gerichtes der DDR zu. Sie betreffen die Rechtsverhältnisse der Bürger. Hier spielt der Plan meist nur indirekt eine Rolle, er ist deshalb aber nicht weniger allgegenwärtig als im Bereich des Vertragsgesetzes. Daß das BGB und andere Vorschriften aus der Zeit vor 1945 weiter gelten, hat deshalb eine tiefgreifende Auseinanderentwicklung nicht verhindern können. Interessant ist beispielsweise die Umgestaltung, die das in Rechtsprechung und Rechtslehre entwickelte Institut der Verwirkung in der SBZ erfahren hat. Bei uns greift nach der Rechtsprechung des RG und des BGH die Verwirkung dann ein, wenn ein Recht längere Zeit nicht ausgeübt worden ist und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassenso. Solche Umstände sind z. B. dann bejaht worden, wenn der Schuldner sich auf Grund des Verhaltens seines Gläubigers auf einen bestimmten Zustand einrichten durfte und auch eingerichtet hat 31 • Das Institut dient also der Wahrnehmung von Parteiinteressen, was insbesondere die Betrachtung des Gläubigerverhaltens aus der Sicht des Schuldners eindeutig belegt. Eine alte Entscheidung des OG der DDR aus dem Jahre 195232 zu diesen Fragen beginnt ganz mit den herkömmlichen, in unserer Ordnung entwickelten Erwägungen, geht dann aber nicht näher auf die Parteiinteressen ein, sondern erklärt plötzlich, angesichts der gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse könne sich der Schuldner nur dann auf die Verwirkung berufen, wenn die Geltendmachung des Anspruches den "gesellschaftlichen Interessen" widerspreche. Die bemerkenswerte Un29 30

31 32

Hierzu Hofmann, a.a.O., S. 122 f. RGZ 155, 152; BGHZ 21, 78. BAG NJW 1958, 1988. OGZ 2, 43 ff. (Vgl. auch OGZ 1, 208.)

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ausgegorenheit der Begründung, die mit dem individualistischen Instrumentarium beginnt und plötzlich in kollektivistische Erwägungen umschlägt, erklärt sich wohl damit, daß die Umgestaltung des Rechts im sozialistischen und zentralplanwirtschaftlichen Sinn damals noch in den Anfängen steckte. Immerhin zeigt die Entscheidung doch schon deutlich die Richtung an: Loslösung der Verwirkung von den Partei- und Ausrichtung auf die Allgemeininteressen. Die systemkonforme, allgemeine Lösung könnte etwa so beschaffen sein, daß ein Recht dann nicht mehr durchgesetzt werden kann, wenn seine verspätete Geltendmachung die Planerfüllung stören würde. So hat beispielsweise das Plenum des OG in der Richtlinie Nr. 733 ausgesprochen, daß durch eine formwidrige Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch die Betriebsleitung zwar die Klagefrist nach § 12 der damals geltenden KündigungsVO nicht in Kraft gesetzt werde. Der Werktätige sei aber doch gehalten, seine Rechte ohne erhebliche Verzögerung geltend zu machen, wenn er sich nicht der Gefahr der Verwirkung aussetzen wolle. Eine ungebührliche Verzögerung gefährde grundlos die Produktions- und Finanzpläne des Betriebes. Störungen der Betriebspläne können sich aber, wie ohne weiteres einzusehen ist, nachteilig auf die zentralen Pläne auswirken. Angesichts der vielfach sehr kurzen Verjährungsfristen in der Zentralplanwirtschaft der SBZ34 ist die Bedeutung der Verwirkung aber sehr viel geringer als bei uns. Auch Sondergesetze aus der Kriegszeit für bestimmte Bedürfnisse bleiben von einer zentralplanwirtschaftlichen Umgestaltung nicht verschont. Das Mieterschutzgesetz stellt bei uns einen durch die Wohnungsnot veranlaßten schweren Eingriff in das Eigentum und die Vertragsfreiheit der Bürger dar (indem es zum Schutze des schwachen Mieters die Kündigungsmöglichkeit des Vermieters beseitigt und durch die an bestimmte Voraussetzungen gebundene Mietaufhebungsklage ersetzt)3S. Es liegt nahe, daß man in der marktwirtschaftlichen Ordnung der BRD dieses Gesetz keineswegs mit einer Tendenz zur Ausweitung anwendet. Man beschränkt es auf den Schutz des Mieters und lehnt es beispielsweise ab, mit Hilfe des mieterschutzrechtlichen Instrumentariums Allgemeinbelange im Gewande eines Zivilprozesses zwischen Vermieter und Mieter zu fördern. So hat z. B. der BGH entschieden, daß die Eigenbedarfsklage nur zur Wahrung der eigenen dringenden Interessen des Vermieters gegenüber dem Mieter diene, ohne Rücksicht auf die Belange der öffentlichen W ohnungswirtschaft36 • 33 34 35

36

GEl DDR II 1956, S. 429. Vgl. dazu Pleyer, Zentralplanwirtschaft und Zivilrecht, S. 67 f. §§ 1 ff. MSchG. BGHZ 6,189-191.

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In der SBZ wirkt sich hingegen die auch auf allen anderen Rechtsgebieten zu verzeichnende Tendenz zur Kollektivierung dahin aus, daß Vermieter und Mieter nicht nur als Vertragspartner erfaßt, sondern von der Hausgemeinschaft geprägt werden. Diese neue Konzeption des Mietrechts wirkt schon heute, ohne daß größere gesetzliche Änderungen erfolgt wären, auf die Auslegung der mietrechtlichen Gesetzesvorschriften ein. So hat das OG37 der Eigenbedarfsklage eines Vermieters stattgegeben, der die Aufhebung des Mietverhältnisses über den mitvermieteten Hausgarten begehrte, um diesen - entsprechend einem Beschluß der Mitglieder der Hausgemeinschaft - zu einem Wäschetrocken- und Kinderspielplatz für alle Mieter herzurichten. Das OG hat sich nicht daran gestoßen, daß der Vermieter den Hausgarten gar nicht selbst benötigte, sondern ausgeführt, daß dringender Eigenbedarf auch dann gegeben sei, wenn der Vermieter den Mietraum oder das Mietgrundstück zur Erfüllung seiner Verpflichtungen gegenüber den übrigen Mietern brauche. Hier ist die Eigenbedarfsklage also zu einem Instrument zur Wahrung von Allgemeininteressen geworden, während sie unser BGH hiervon gerade trennen wollte. Für ein Land mit zentralplanwirtschaftlicher Ordnung ist die erwähnte Entscheidung keineswegs erstaunlich. Da dort alle Rechtsgeschäfte und alle subjektiven Rechte auf die Gemeinschaft ausgerichtet sind38 und meist sogar den Sinn haben, die Gemeinschaftsinteressen wenigstens mitwahrzunehmen, liegt es nahe, auch die Mietaufhebungsklage als ein solches Instrument, das individuelle und allgemeine Interessen wahren kann, anzusehen. Besonders deutlich wird der Einfluß der Wirtschaftsordnung auf die Rechtsfindung bei der Konkretisierung von Generalklauseln. Als Gegenstand dieser Betrachtung wähle ich eine sehr bekannte Entscheidung des OG der DDR zu § 138 BGB aus dem Jahr 1952 39 • Ihr lag folgender Sachverhalt zugrunde: In einem Unterhaltsvergleich hatten Eheleute, deren Ehe an demselben Tag geschieden worden war, vereinbart, daß der Ehemann der Ehefrau eine bestimmte Summe laufend zahle, auf das Recht verzichte, etwaige Einkünfte der Ehefrau aus Arbeit auf seine Unterhaltsverpflichtung anzurechnen, und daß er es der Ehefrau freistelle, ob sie sich um Arbeit kümmern wolle. Vergleiche solcher Art sind bei uns durchaus geläufig. Zwar bestimmt das Ehegesetz, daß der schuldig geschiedene Mann seiner Frau nur insoweit Unterhalt zu gewähren hat, als die Einkünfte aus dem Vermögen der Frau sowie die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit nicht ausreichen (§ 58). Nichts hindert die Parteien jedoch, eine andere Regelung vertraglich zu vereinbaren. Da wir von den eigenverantwortlichen Entscheidun37

38 39

NJ 1966, 90. Vgl. auch Hofmann, a.a.O., S. 274-285. Vgl. dazu Hofmann, a.a.O., passim, insbesondere S. 14 ff. OGZ 2, 50 ff.

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gen der freien Einzelpersönlichkeit ausgehen, ist dies alles problemlos. Derartige Abreden können auch schon vor der Scheidung getroffen werden und sind dann nicht schon deshalb nichtig, weil sie die Scheidung erleichtern oder ermöglichen (§ 72 S. 2 EheG). In höchstrichterlichen Urteilen ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß es verständlich sei, wenn beispielsweise die Ehefrau, die der Scheidung widersprechen könne, die Einwilligung in die Scheidung davon abhängig mache, daß sie nicht auch noch finanzielle Nachteile erleide 40 • Problematisch werden solche Abreden für uns erst dann, wenn die Vereinbarung anderweit gegen die guten Sitten verstößt, z. B. durch das Versprechen von Leistungen, die für den Verpflichteten untragbar hoch sind (§ 72 EheG)41. Für das OG stellte sich die Problematik trotz gleichlautender gesetzlicher Bestimmungen - das Ehegesetz galt damals noch in beiden Teilen Deutschlands - ganz anders dar 42 • Das OG bezieht sich sofort auf die in der Verfassung der DDR verankerte Gleichberechtigung von Mann und Frau und schließt daraus, daß jeder Mensch seine Arbeitskraft dem Aufbau und der Erfüllung des Wirtschaftsplanes zur Verfügung zu stellen habe. Jeden treffe deshalb auch die gesellschaftliche Pflicht, einen Beruf auszuüben und sich ggf. eine Berufsausbildung zu erwerben. Die Tatsache der Ehescheidung sei kein Freibrief für die geschiedene Frau, in Spekulation auf die Unterhaltspflicht des Mannes ein Faulenzerleben zu führen. Die Eröffnung solcher Möglichkeiten verstoße gegen Art. 7 der Verfassung, weil die Frau dadurch abgehalten werde, sich durch eine Erweiterung ihres Wissens und Könnens die Grundlage für ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Gleichberechtigung zu verschaffen. Die Erklärung des Ehemannes, daß er seiner Frau freistelle zu arbeiten und auf jeden Fall laufend zahlen wolle, eröffne aber gerade eine solche Möglichkeit. Ein Unterhaltsvergleich dieser Art verstoße gegen gesellschaftliche Pflichten und somit gegen die guten Sitten, er sei also nichtig nach § 138 BGB43. An dieser Begründung ist für uns sehr vieles interessant. So wird die Gleichberechtigung von Mann und Frau in sehr rigoroser Weise zugleich als eine Gleichverpflichtung gedeutet. Die Frau ist verpflichtet, die Grundlagen der Gleichberechtigung zu schaffen; sie ist - vereinfachend und paradoxierend formuliert - zur" Gleichberechtigung verpflichtet". Dies mag uns erstaunlich vorkommen, für eine zentralplanwirtschaftliche Ordnung ist es dies nicht. Dort sind, wie erwähnt, alle Rechtsstellungen und Rechte in einem viel stärkeren Maße pflichtgebunden als bei uns. Rechts40

RGZ 159, 164 f.; RG HRR 1940, 1105; vgl. auch BGH MDR 1958, 23.

42

So schon OGZ 1, 67 ff.

41 BGH MDR 1958, 23.

43 Zur Anwendung und Auslegung des § 138 BGB in einem zentralgeplanten

Wirtschaftssystem siehe insbesondere Pleyer, Die "guten Sitten" in der Wirtschaftsordnung der SBZ, in: Zentralplanwirtschaft, a.a.O., S. 113-122.

Einflüsse der Wirtschaftsordnung auf die Rechtsfindung

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positionen werden meist im Interesse übergeordneter, allgemeiner Belange eingeräumt und dienen deren Verwirklichung. Recht und Pflicht bilden also vielfach eine unlösbare Einheit. Die Erfüllung und Übererfüllung der Pläne erfordern die Heranziehung möglichst aller Arbeitskräfte. Der Gleichberechtigungssatz und die guten Sitten werden diesem Bedürfnis entsprechend konkretisiert. Die Arbeit des einzelnen für die Planerfüllung ist damit zu einer Pflicht gegenüber der Allgemeinheit geworden, die durch private Abreden nicht beeinträchtigt werden darf. Der Unterhaltsvergleich, die Zahlungspflicht des Ehemannes und der Anrechnungsverzicht sind daher - in einer zentralplanwirtschaftlichen Ordnung mit Recht - nicht primär von den Interessen der Beteiligten aus, sondern vor dem Hintergrund des Allgemeinwohles, so wie es von der politischen Führung verstanden wird und in der Verfassung seinen rechtlichen Niederschlag gefunden hat, gewürdigt worden. Dem Urteil ist an verschiedenen Stellen ein deutliches Mißtrauen gegen Unterhaltsvergleiche anzumerken44 • Dies hat zu einer völlig anderen Auslegung des § 72 EheG geführt. Während wir ihm die Funktion beimessen, durch rechtzeitige Regelung der finanziellen Fragen das Ehescheidungsverfahren zu entschärfen, betont das OG ganz besonders die Gefahr, daß die Gerichte mehr und mehr zu bloßen Vollstreckern des Parteiwillens werden, anstatt den gesamten Sachverhalt selbständig von Amts wegen unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Interessen zu prüfen. Dieser Gefahr erliegen unsere Prozesse in der Tat immer wieder. Eine solche Entwicklung ist aber für ein Land mit zentralplanwirtschaftlicher Ordnung völlig untragbar. Dort wird auch die Rechtsprechung als "staatliche Leitungstätigkeit" bezeichnet, dort wird den Gerichten die Pflicht auferlegt, sich nicht mit der Entscheidung des Streitfalles zu begnügen, sondern zum "gesellschaftlichen Hintergrund" des Konfliktes durchzustoßen und zur Vermeidung ähnlicher Konflikte in der Zukunft beizutragen. Dies wirkt sich allenthalben, auch und gerade im Prozeßrecht, aus 45 • Abschließend bleibt festzustellen, daß die einmal getroffene Grundentscheidung für die Marktwirtschaft oder für die Zentralplanwirtschaft nicht nur die künftige Gesetzgebung in dem betreffenden Staat determi44 Nach § 30 Abs. 3 des neuen Familiengesetzbuchs (FGB = GBl I 1966 S. 1) können Unterhaltsvergleiche rechtswirksam nur im Scheidungsverfahren getroffen werden. Sie bedürfen der Betätigung des Gerichts (§ 20 Abs. 2 FVerfO = GBl II 1966 S. 171). Hierdurch soll übereinstimmung mit den Grundsätzen des Familienrechts gewährleistet, also insbesondere ein "Abkauf" der Scheidung und ein arbeitsloses Einkommen des anderen Ehegatten verhindert werden (vgl. Autorenkollektiv, Das Familienrecht der DDR, Berlin (Ost) 1966, § 30 Anm. III). 45 Vgl. Pleyer, Zivilprozeß und Wirtschaftsordnung, in: Zentralplanwirtschaft, a.a.O., S. 83-85, 87 ff.

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Klemens Pleyer

niert, sondern daß sie auch die Tätigkeit des Richters bei der Anwendung alter und neuer Gesetze prägt. Die Rechtsprechung im geteilten Deutschland ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Mag man auch hier wie dort die gleiche Sprache sprechen, so werden die gleichen Worte doch mit verschiedenem Sinn erfüllt, je nachdem, welche Funktion der Begriff ausüben soll. Dieselbe gesetzliche Vorschrift erfährt also eine andere Auslegung, wenn sie sich in einer anderen Ordnung bewähren muß. Diese Auslegung ist bei uns durch den Vorrang der Parteiinteressen charakterisiert, im Osten aber durch die Ausrichtung auf den Plan46 •

48 Da auch das NöSPL den Vorrang des Planes nicht in Frage stellt, dürfte sich auch in Zukunft an der getroffenen Feststellung nicht viel ändern. Es bleibt abzuwarten, wie die stärkere Betonung des ökonomischen Interesses am Gewinn mit dem Gebot der Planerfüllung harmonieren und ob sich dies überhaupt in der Rechtsfindung auswirken wird. Bis jetzt sind, obwohl das NöSPL schon mehrere Jahre besteht, keine Anzeichen einer Änderung festzustellen.

MANFRED REHBINDER

Status - Kontrakt - Rolle Wandlungen der Rechtsstruktur auf dem Wege zur offenen Gesellschaft "Gewiß kann man sich mit der Rolle des praktischen Juristen begnügen, ,dessen Amtes, um mit Kant zu sprechen, nur ist, vorhandene Gesetze anzuwenden, nicht aber, ob diese selbst einer Verbesserung bedürfen, zu untersuchen'. Nichts gegen alle diejenigen, die ... selbst als Theoretiker sich damit begnügen, das Puzzlespiel des durch jeden neuen Gesetzessatz oder jeden neuen Leitsatz eines oberen Gerichts immer wieder in Unordnung gebrachten Rechtssystems unablässig neu zu versuchen! Aber freie Bahn auch für alle darüber hinaus wissenschaftlich interessierten Juristen, die der Auffassung sind, es sei ihres Amtes, nicht nur vorhandene Gesetze anzuwenden, sondern auch zu untersuchen, ob diese selbst einer Verbesserung bedürfen. Diese Aufgabe aber ist nur lösbar im Rahmen der in der zeitgenössischen Sozialwissenschaft üblichen Denkansätze und Methoden".

Ernst E. Hirsch 1

Es gibt wohl kaum einen Juristen, der nicht von Zeit zu Zeit, mitten in der Geschäftigkeit seines juristischen Alltags, plötzlich innehält. Gleichgültig, ob als Praktiker bei der Rechtsanwendung oder als Theoretiker bei der dogmatischen Arbeit am "Rechtssystem": jeder von uns kennt das Gefühl der Leere und Unzufriedenheit, das sich einstellt, wenn uns bewußt wird, daß die ausschließliche Beschäftigung mit der Dogmatik des geltenden Rechts uns nicht völlig ausfüllt. Auf einmal entdecken wir die "eigentlich wichtigen und interessanten Fragen" außerhalb des jeweiligen Normeninhalts und fühlen uns dann im Stich gelassen, weil die gewohnten Lehrbücher und Kommentare hier versagen. Wie immer wir uns dann auch aus der Affaire ziehen: wir wissen genau, daß wir den Ausflug in fremde Gefilde nicht ohne Niveauverlust überstehen. Wer kennt nicht die Augenblicke und hat sich nicht gewundert, wenn verdiente Praktiker unvermittelt "grundsätzlich" werden; und selbst angesehene Dogmatiker überraschen uns zuweilen 1

Das Recht im sozialen Ordnungs gefüge. Beiträge zur Rechtssoziologie,

1966, S. 20 f.

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mit Ausführungen, die im Vergleich zu ihren sonstigen diffizilen rechtstechnischen Deduktionen und Konstruktionen nicht über die Ebene des sogenannten gesunden Menschenverstandes hinauskommen. Dabei sollte uns nichts ferner liegen, als jene Bemühungen gering zu schätzen. Steckt doch die juristische Grundlagenforschung, die allein ein höheres Niveau solcher "grundsätzlicher Ausführungen" garantieren könnte, noch immer in den Anfängen, während andererseits das Bedürfnis nach ihr allenthalben größer geworden ist. Denn das Gefühl der Unsicherheit und Unzufriedenheit mit dem juristischen Alltag wächst besonders in Zeiten wie diesen, die sich als Krisen- und Übergangszeiten empfinden, und zwar aus zwei Gründen. Einmal herrscht bei uns Juristen der Typ der sogenannten autoritären Persönlichkeit vor, der sich bei starkem sozialen Wandel des erforderlichen inneren Halts beraubt sieht, den ihm nur eine stabile Gesellschaftsstruktur mit fostgefügtem Werte system zu geben vermag 2 • Waren es doch nicht die schlechtesten Juristen, die nach Kriegsende die Vergangenheit dadurch zu bewältigen versuchten, daß sie sich "auf das Glatteis der Philosophie"3 begaben und begierig nach dem schwachen Halt griffen, den sie in einer "ewigen Wiederkehr des Naturrechts'" entdeckt zu haben glaubten. Zum anderen lassen Zeiten sozialen Wandels jene Phasenverzögerung 5 besonders deutlich werden, die zwischen Sein und Sollen, zwischen der Realordnung des Soziallebens und dem Normengefüge des Rechtssystems besteht und die jeden aufmerksamen Juristen zwingt, sich die Frage nach der Funktion des Rechts in der sich wandelnden Gesellschaft zu stellen. Mit dieser Frage begibt sich der Jurist zwangsläufig, wenn auch oft unbewußt, auf das Gebiet der Soziologie. Er sucht keine innere Verankerung in der Philosophie, sondern fragt vorausschauend und planend nach "Entwicklungstendenzen"6. Diese Frage aber nach den Entwicklungstendenzen des Rechts ist die Kernfrage der Rechtssoziologie7 • Blicken wir uns in der internationalen Literatur um, wie 2 Vgl. dazu das in seinen Einzelheiten sicher anfechtbare - kollektive Persönlichkeitsportrait durch Walter o. Weyrauch: The Personality of Lawyers. A Comparative Study of Subjective Factors in Law, Based on Interviews with German Layers, 1964, und meine Besprechung in JZ 1966, S. 622. 3 So Hirsch (Anm. 1), S. 51. 4 So der Titel der bekanntenMonographie von Heinrich Rommen, 2. Aufl. 1947. Typisch für diese Richtung Hermann Weinkauff: Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, in NJW 1960, S.1689-1696. 5 Vgl. Fritz Werner: über Tendenzen der Entwicklung von Recht und Gericht in unserer Zeit, 1965, S. 6. 6 In diese Richtung geht die eben zitierte Schrift von Werner, ferner sein Aufsatz: Wandelt sich die Funktion des Rechts im sozialen Rechtsstaat?, in Festschrift für Leibholz, Bd. 2 (1966), S. 153-166. 7 Schon Eugen Ehrlich faßte den Inhalt seiner Grundlegung der Soziologie des Rechts in den Satz zusammen, der Schwerpunkt der RechtsentwickLung

Status - Kontrakt - Rolle

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sie heute beantwortet wird, so stoßen wir häufig auf die Aussage, das moderne Recht befinde sich auf dem Rückwege zu einem Statusrecht. Während die frühere Entwicklung durch eine Liberalisierungstendenz gekennzeichnet gewesen sei, die die Rechtsstellung des Einzelnen aus den alten hierarchischen Bindungen der ständischen Gesellschaft gelöst und durch Gewährung weitgehender Vertragsfreiheit der freien Gestaltung des Einzelnen anheimgegeben habe, sei schon seit längerem eine Gegenbewegung festzustellen. Sowohl in den sozialistischen Ländern als auch in den Demokratien westlicher Prägung weise die Masse des Rechtsstoffes ausgesprochen dirigistische Züge auf, durch die der Bereich der Privatautonomie immer mehr zugunsten rechtlicher Bindungen eingeschränkt werde, die an den sozialen Status anknüpfen. Habe man früher von einer "Entwicklung vom Status recht zum Kontrakts recht" gesprochen, so biete sich heute das Bild einer "Rückkehr zum Statusrecht"8. Wir werden im folgenden untersuchen, was mit den Bezeichnungen Statusrecht und Kontraktsrecht gemeint ist (I), ob die These von der Rückkehr zum Statusrecht durch die gegenwärtige Entwicklung bestätigt wird (II) und welche Konsequenzen sich für die Rechtstheorie aus dem Strukturwandel des modernen Rechts ergeben (III). I. Statusrecht und Kontraktsrecht als Idealtypen vergangener Rechtsstrukturen Wenn die heutige Rechtsentwicklung als "Rückkehr zum Statusrecht" gekennzeichnet wird, so knüpft man damit an Untersuchungsergebnisse der Rechtswissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, die das Recht der damaligen Zeit in einer "Entwicklung vom Statusrecht zum Kontraktsrecht" begriffen sah. Diese Charakterisierung geht auf die rechtsgeschichtlichen Forschungen eines der großen Rechtsklassiker Englands, Sir Henry Sumner Maine zurück, der in seinem 1861 erschienenen Ancient Law zu dem Ergebnis kam: liege weder in derGesetzgebung noch in der Jurisprudenz oder der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst (ebd. Vorrede). 8 Vgl. H. B. Sales: Standard Form Contraets, in The Modern Law Review 16 (1953), S. 318, 342: "return to status"; ferner Nathan Isaaes: The Standardizing of Contraets, in Yale Law Journal 27 (1917/18), S. 34, 37-39; Paul Vinogradoff: Collected Papers, Bd. II (1928), S. 230-238; Carleton K. Allen: Introduetion to Henry Sumner Maine: Ancient Law, The World's Classics Nr. 362 (1931), S. XXVI; Roseoe Pound: Introduetion to R. H. Graveson: Status in the Common Law, 1953, S. XI; Rudolf Wiethölter: Die Einwirkung des Sozialstaatsgedankens auf das Vertrags- und Wirtschaftsrecht, Vortragsprotokoll in RabelsZ 29 (1965) S. 806, 807; sowie die in Anm. 80 Zitierten. Für die sozialistischen Länder vgl. K. Grzybowski: From Contract to Status, in V. Gsovski/K. Grzybowski (Hrsg.): Government, Law, and Courts in the Soviet Union and Eastern Europe, Bd. 2 (1959), S. 1392-1409, insbes. S. 1396.

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"Die Bewegung der progressiven Gesellschaft ist in einer Hinsicht gleichförmig gewesen. In ihrem ganzen Verlaufe wird sie bezeichnet durch die stufenweise Auflösung des Familienzusammenhanges und das Wachstum individueller Obligation an seiner Stelle. Das Individuum wird fortwährend eingesetzt für die Familie, als die Einheit, welche das bürgerliche Recht zugrunde legt. Dieser Fortschritt hat sich vollzogen in verschiedenen Verhältnissen der Geschwindigkeit, und es gibt Kulturen, die nicht schlechthin stationär sind, in denen aber der Verfall der ursprünglichen Organisation nur durch sorgfältiges Studium der Erscheinungen, welche sie darbieten, entdeckt werden kann ... Es ist aber nicht schwer zu sehen, welches das Band ist zwischen Menschen und Menschen, das allmählich jene Formen der Reziprozität von Gerechtsamen und Verpflichtungen ersetzt, die ihren Ursprung in der Familie haben: kein anderes als Kontrakt. Wenn wir, als von einem Endpunkte der Geschichte, ausgehen von einem sozialen Zustande, in welchem alle Beziehungen der Personen in den Beziehungen der Familie vereinigt sind, so scheinen wir uns stetig auf eine Phase der sozialen Ordnung hinbewegt zu haben, worin alle diese Beziehungen aus der freien übereinstimmung von Individuen entspringen. Im westlichen Europa ist der in dieser Richtung vollendete Fortschritt beträchtlich gewesen. So ist der Stand der Sklaven verschwunden - er ist verdrängt worden durch die kontraktliche Beziehung des Dienstboten zu seiner Herrschaft, des Arbeiters zum Unternehmer. Der Stand der Frau unter Vormundschaft, außerhalb der ehelichen Vormundschaft, hat ebenfalls aufgehört vorhanden zu sein; von ihrer Altersreife bis zu ihrer Heirat sind alle Verhältnisse, in die sie eingehen kann, kontraktliche. So hat auch der Stand des Sohnes unter väterlicher Gewalt keine wirkliche Stelle mehr im Rechte moderner europäischer Gesellschaften. Wenn irgendwelche zivile Obligation Vater und erwachsenes Kind verbindet, so ist es eine, der nur Kontrakt ihre gesetzliche Gültigkeit verleiht. Die scheinbaren Ausnahmen sind Ausnahmen von der Art, welche die Regel beleuchten . . . So kann nun das Wort Status schicklich angewandt werden, um eine Formel des Ausdrucks zu konstruieren für das also angezeigte Gesetz des Fortschritts, das, wie groß immer sein Wert sein möge, hinlänglich, so viel ich sehe, sichergestellt ist. Alle die Formen des Status, die im Personenrechte erwähnt werden, leiten sich her von den Gewalten und Vorrechten, die ehemals in der Familie ihren Sitz hatten, und haben in einigem Maße noch jetzt davon ihre Färbung. Wenn wir also das Wort Status, in übereinstimmung mit dem Gebrauche der besten Schriftsteller, auf die Bezeichnung ihrer persönlichen Verhältnisse einschränken, und es vermeiden, den Ausdruck auf Verhältnisse anzuwenden, die in unmittelbarer oder entfernter Weise Ergebnis einer übereinkunft sind, so können wir sagen, daß die Bewegung der fortschreitenden Gesellschaften bisher gewesen ist: eine Bewegung von Status zu Contract v." 9 Henry Sumner Maine: Ancient Law. Its Connection with the Early History of Society and its Relation to Modern Ideas (Anm. 8), S. 139-141. Ich wiederhole hier - mit geringfügigen Kürzungen - die ausführliche Zitierung durch Ferdinand Tönnies in: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 8. Aufl. 1935, S.184-186. Die übertragung durch Tönnies wird in ihrer Diktion besonders gut der Schreibweise des 19. Jahrhunderts gerecht.

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Die vorstehenden Sätze stehen bei Maine am Ende des Kapitels "Primitive Society and Ancient Law", das den Übergang von archaischen Rechtsformen zum klassischen (römischen) Recht behandeWo, und zwar speziell die allmähliche Auflösung der strengen archaischen Sippenverfassung im römischen Familienrecht. Wenn sie dessen ungeachtet in späterer Zeit zum allgemeinen und durchgängigen Entwicklungsprinzip des gesamten Privatrechts verallgemeinert wurden!!, so darf das nicht verwundern; denn gab es tatsächlich ein "Gesetz des Fortschritts", so mußte es in besonderem Maße für ein Jahrhundert gelten, das sich selbst als Jahrhundert des Fortschritts empfand, und die Brauchbarkeit der Fortschrittskonzeption von Maine für das Rechtsverständnis des 19. Jahrhunderts lag klar zutage: Der Zerfall der alten Sippenverfassung und die Befreiung des einzelnen von den rechtlichen Fesseln seines "Hauses", bewirkt durch die Gewährung einer wenn auch beschränkten Rechtsfähigkeit, stand in auffälliger Parallele zum Zerfall der Feudalverfassung und der Befreiung des einzelnen von den rechtlichen Schranken seines "Standes", wie sie im 19. Jahrhundert durch Gewährung einer weitgehenden Privatautonomie bewirkt wurde. Der Übergang vom archaischen zum klassischen Recht und der Übergang vom Feudalrecht zum bürgerlichen Recht sind beide dadurch gekennzeichnet, daß sich die Rechtsstellung des einzelnen nicht mehr nach einem sozialen Status in einem hierarchisch gegliederten Ordnungssystem bestimmte, sondern nach seinen Leistungen und Fähigkeiten in einer kapitalistischen Wirtschaft, die ihm das Instrument des Vertrages zur freien und eigenverantwortlichen Gestaltung seiner rechtlichen Beziehungen zur Verfügung stellt. 1. Statusrecht

Kennzeichnet man die Rechtsentwicklung durch den Ausgangspunkt "Statusrecht" und den Endpunkt "Kontraktsrecht", so bedeutet das nicht, daß diese Bezeichnungen als exakte Beschreibungen eines bestimmten historischen Sachverhalts zu verstehen sind. Sie sind vielmehr Idealtypen im Sinne von Max Weber, d. h. Meßgrößen, mit deren 10 Aus diesem Grunde wollte Roscoe Pound ursprünglich die Geltung von Maine's Entwicklungsprinzip auf das kontinentale Recht beschränken und meinte, daß es auf den angloamerikanischen Rechtskreis keine Anwendung finde (The End of Law as Developed in Juristic Thought, in Harvard Law Review 30 (1917), S.219). Gegen Pound insbesondere Nathan Isaacs (Anm. 8), S. 34; Karl N. LteweHyn: Wh at Price Contract? An Essay in Perspective, in Yale Law Journal 40 (1931/32), S. 704, 706; William Seagle: Weltgeschichte des Rechts (Titel der Originalausgabe: The Quest for Law), 2. Aufl. 1958, S.377. Später hat Pound dann seine ablehnende Ansicht stillschweigend fallengelassen, vgl. seine Einleitung zu Graveson (Anm. 8). 11 Vgl. Sales (Anm. 8), S. 341 Anm. 91; Isaacs (Anm. 8), S. 34.

10 Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch

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Hilfe die soziale Wirklichkeit im Wege des Vergleichs auf das wesentliche zurückgeführt und damit besser analysiert werden kann l2 • Das, was als Grundidee des betreffenden Typs herausgestellt wird, ist in der sozialen Wirklichkeit, aus der heraus der Typ entwickelt wurde, nur das vorherrschende, nicht das allein bestimmende Element. Ein Recht, das ausschließlich auf den sozialen Status abstellt, kommt in Wirklichkeit nicht vor. Archaische Gesellschaft und Feudalgesellschaft haben beide in ihren Rechtsordnungen Bereiche gekannt, die der freien Gestaltung des einzelnen überlassen waren. Doch war dies eben nicht das Hervorstechende und Charakteristische ihrer Rechtsstruktur. Entscheidend war vielmehr, daß der einzelne fest in das Herrschaftssystem seines Verbandes eingegliedert war und daß sich seine Rechte und Pflichten aus seiner Stellung in diesem Verbande ergaben. Diese Anknüpfung der Rechtsposition des einzelnen an seinen sozialen Status zeigt sich besonders deutlich im archaischen Recht, das dem einzelnen gar keine eigene Rechtsfähigkeit zuerkannte. Wie Eugen Ehrlich in seiner Studie über "Die Rechtsfähigkeit" im einzelnen und mit großem rechtshistorischen Material gezeigt hat, regelte das Recht zunächst nur die Beziehung der bäuerlichen Hausgenossenschaften untereinander. Nur die Hausgenossenschaft als solche war Rechtssubjekt. Mit zunehmender Ersetzung der genossenschaftlichen Eigenwirtschaft durch die Anfänge einer Marktwirtschaft wurde jedoch auch dem einzelnen Mitglied der Hausgemeinschaft langsam zugestanden, selbständig Träger von Rechten und Pflichten sein zu können. Ehrlich sprach hier von dem " Gesetz, das der Mensch, der es zu einer eigenen Wirtschaft bringt, gewissermaßen von selbst, durch die bloße Macht der Tatsachen, trotz aller entgegenstehender Vorschriften, die Vermögens- und Geschäftsfähigkeit erlangt"13. Je nach der Stellung im Familienverband handelte es sich dabei jedoch um eine beschränkte Rechtsfähigkeit. Voll rechtsfähig war nur der freie Bürger, der keiner Gewalt mehr unterlag. Auch später im mittelalterlichen Ständestaat führte die genossenschaftliche Rechtsbildung in den Ständen zur Beschränkung der Rechtsfähigkeit derjenigen, die außerhalb der Genossenschaft standen14 • Erst mit der Auflösung der ständischen Ordnung werden die Unterschiede der Rechtsfähigkeit beseitigt, die sich aus der Verbandszugehörigkeit ergaben, und es ist kein Zufall, daß der Begriff der Rechtsfähigkeit zur Bezeichnung einer jedem 12

über den Wert von Idealtypen für die rechtssoziologische Forschung vgl.

Rehbinder: Max Webers Rechtssoziologie: Eine Bestandsaufnahme, in Rene König/Winckelmann (Hrsg.): Max Weber zum Gedächtnis, 1963, S.470, 483 f., 486 f. 13 Eugen Ehrlich: Die Rechtsfähigkeit, 1909, S. 37 f. 14 Vgl. Ehrlich ebd. S. 44 f.

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Menschen gleichermaßen zukommenden Eigenschaft erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts im deutschen rechtswissenschaftlichen Schrifttum auftaucht1 5 • Als das Wort status erstmals in der Rechtssprache verwandt wurde, waren es gerade jene "Stufen der Rechtsfähigkeit"16, auf die damit Bezug genommen wurde. Allerdings hatten hier das römische Recht und das Common Law des alten Englands eine verschiedene Blickrichtung. Im römischen Recht war status ursprünglich die Bezeichnung für die Vollrechtsfähigkeit. Die Rechtsstellung des Vollrechtsfähigen, auch caput genannt, setzte sich aus drei konstitutiven Elementen zusammen, nämlich aus der Freiheit (status libertatis), aus dem Bürgerrecht (status civitatis) und aus der Stellung als Familienhaupt (status familiae)17. Bei beschränkter Rechtsfähigkeit wurde von capitis deminutio gesprochen, die je nach Verlust eines der drei konstitutiven Status-Elemente in capitis deminutio maxima (Verlust der Freiheit), capitis deminutio media (Verlust des Bürgerrechts) und capitis deminutio minima (Verlust der familienrechtlichen Position) abgestuft war 18. Der römische Sklave, dem zunächst alle drei Rechtsfähigkeitselemente fehlten, hatte demnach überhaupt keinen status. Erst mit seiner Freilassung (manumissio), sagt Modestinus, "incipit statum habere"19. Status bezeichnete also den rechtlichen Normaltyp der Vollrechtsfähigkeit. Anders das Common Law. Hier bezeichnete status nicht den Normaltyp, sondern umgekehrt die Abweichung vom Normaltyp, sei sie negativ oder positiv. Status bewirkte im Vergleich zum gemeinen Mann eine geminderte (Teil-) Rechtsfähigkeit oder ein rechtliches Privileg20 . Durch seine Verknüpfung mit dem Problem der Rechtsfähigkeit eignete sich das Wort "status" von Anfang an sehr gut zur Unterteilung des Zivilrechts in Personenrecht und andere Rechtsgebiete21 . Noch heute sprechen wir im Prozeßrecht in diesem Sinne von "Statussachen". Aber die Ausrichtung auf das gesamte Personenrecht zog eine 15 Siehe die Begriffsgeschichte bei Fritz Fabricius: Relativität der Rechtsfähigkeit, 1963, S. 37-42. 18 So ausdrücklich Ernst Rabel: Grundzüge des römischen Privatrechts, 2. Aufl. 1955, S. 14. 17 Vgl. Rabel ebd. 18 Rabel S. 35. 19 Dig. IV 5.4. 20 Vgl. R. H. Graveson: Status in the Common Law, 1953, S. 5, 7-32. 21 Vgl. die Heranziehung der Gaius-Stelle (Einteilung in Personen recht, Sachenrecht und Aktionenrecht) im Digestentitel: de statu hominum: Dig. I5.1; ferner für das gemeine Recht die Bemerkung von Friedrich Carl von Savigny: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, S.99, dem Begriff des Status "liegt die Unterscheidung von Personenrechten und Sachenrechten zum Grunde".

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Erweiterung des ursprünglichen Statusbegriffs nach sich, die dann eine Unterscheidung von status civilis und status naturalis zur Folge hatte. Status civilis war der ursprüngliche status (caput), der zu einer Abstufung der Rechtsfähigkeit je nach dem sozialen Stand führte. Dagegen bezog sich status naturalis auf Abstufungen der Handlungsfähigkeit, die nicht auf gesellschaftlichen, sondern auf natürlichen (physischen) Unterschieden der Menschen beruhten. Ursprünglich hatten alle rechtlich erheblichen Unterschiede der Menschen zugleich Auswirkungen auf ihre Rechtsfähigkeit, da diese Unterschiede unmittelbare Folgen für ihre Position in der Gruppe hatten und die Rechtsfähigkeit ja nur durch die Gruppe vermittelt wurde. Je mehr sich aber die Vorstellung durchsetzte, daß gewisse Rechte dem einzelnen unabhängig von seiner Gruppenposition zustehen und daß in bezug auf diese Rechte alle Menschen gleich seien 22 , mußte sich ein Teil der Beschränkungen der Rechtsfähigkeit in Beschränkungen der Handlungsfähigkeit verwandeln23 • Gewisse natürliche Eigenschaften der Menschen wie jugendliches Alter, weibliches Geschlecht oder geistige Schwäche und Krankheit beseitigen jetzt nicht mehr "die Rechtspersönlichkeit, die Rechtsfähigkeit, aber sie erschweren eine selbständige Beteiligung am Rechtsverkehr oder machen sie ganz unmöglich: sie mindern oder beseitigen die Handlungsfähigkeit"24. Nur im Anfang der Trennung von Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit hatten Beschränkungen der Handlungsfähigkeit noch eine Minderung der Rechtsfähigkeit zur Folge, nämlich solange noch die Vormundschaft als Herrschaftsrecht aufgefaßt wurde, das der Vormund im eigenen Interesse (eigennützig) ausübte 25 • Wenn wir also die alte Rechtsstruktur mit dem Wort Statusrecht kennzeichnen, so meinen wir damit nur den alten Status im Sinne von status civilis, nicht den status naturalis. Entscheidendes Merkmal des alten Rechts sind seine Abstufungen der Rechtsfähigkeit je nach "Stand". Die Gliederung der Gesellschaft nach Ständen beruhte aber nicht auf dem sogenannten Primärstatus, sondern auf dem sozialen Status, auf der Gruppenzugehörigkeit. Die Gruppenzugehörigkeit wurde in den alten Gesellschaftsordnungen nicht durch natürliche Eigenschaften, sondern durch einen sozialen Akt erworben. Wie uns 22 "Kein Staat aber vor dem 19. Jahrhundert hat im entferntesten so wie der Prinzipat die Rechtsgleichheit der Bürger und in allen wesentlichen Punkten des Vermögensrechts auch der Nichtbürger im Reich verwirklicht", Rabel (Anm. 16), S. 16. Daß von diesen Gleichheitsvorstellungen die Sklaven ausgenommen wurden, kann nicht verwundern; denn auf den Sklaven beruhte ja die antike Wirtschaft. Zu Recht spricht Max Weber hier von "Sklavenkapitalismus" (Rechtssoziologie, hrsg. von Winckelmann, 1960, S. 149). 23 Vgl. Ehrlich (Anm. 13), S. 3. 24 Rudolf Hübner: Grundzüge des deutschen Privatrechts, 5. Aufl. 1930, S. 51. 25 Ehrlich (Anm. 13), S. 45 f.

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die Ethnologie zeigt, kennen schon die archaischen Gesellschaften besondere Initiationsriten, die in feierlicher Form die Aufnahme des einzelnen in die Gruppe und eine dadurch bewirkte Veränderung seiner Position, d. h. die Auslöschung der alten Existenz und den Beginn einer neuen Sozialpersönlichkeit anzeigen. Nicht die natürliche Tatsache der Geburt, sondern die rechtsförmliche "Aufnahme" des Kindes durch den Familienvater26 , nicht die physische Reife oder das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze, sondern die feierliche Aufnahme in den Kreis der waffenfähigen Männer 27 war entscheidend. Auch die ständische Ordnung des Mittelalters hatte ihre eigenen Initiationsriten, bei denen jede Gruppe besondere Statussymbole verwandte. Die Aufnahme in die Stadtgemeinde28 , das "Freisprechen" in den Zünften und Gilden, alle diese und ähnliche symbolische Handlungen, an denen das mittelalterliche Leben so reich war, hatten jeweils einen doppelten Sinn: einmal sollten sie dem Neuaufgenommenen nachdrücklich bewußt machen, daß er von nun an voll und ganz den Normen seiner Gruppe unterworfen war, und zum anderen sollten sie gegenüber den Außenstehenden den Ranganspruch der Gruppe verdeutlichen und dadurch ihren Zusammenhalt festigen 29 • Das alles braucht nicht näher belegt zu werden, doch sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß sich Reste dieser alten Initiationsriten bis in die heutige Zeit erhalten haben. Die feierliche Immatrikulation, die Ernennung zum Beamten, der Fahneneid des Soldaten: diese und andere "Formalakte" zeigen uns heute noch, daß der durch sie erworbene Status kein natürliches, sondern ein soziales Verhältnis ist. Nur in der Beschränkung auf sozial bedingte Unterschiede ist es also richtig, wenn man das alte Recht, das Statusrecht, als "jurisprudence of personal inequalities" bezeichnet hapo.

2. Kontraktsrecht Wenn in der Folgezeit die Rechtsentwicklung so verlaufen ist, daß man diese jurisprudence of personal inequalities zugunsten der Vorstellung einer Rechtsgleichheit aller Staatsbürger aufgab und daß Privilegien und Rechtsminderungen langsam zu einer durchschnittlichen Vollrechtsfähigkeit jedes Individuums eingeebnet wurden, so geschah Vgl. Hübner (Anm. 24), S. 52 f. Vgl. die Systematisierung von Initiationsriten bei Adolf E. Jensen: Beschneidung und Reifezeremonien bei Naturvölkern, 1933, S. 68 ff. 28 Dazu Wilhelm Ebel: Der Bürgereid als Geltungsgrund und Gestaltungsprinzip des deutschen mittelalterlichen Stadtrechts, 1958. 29 Vgl. Heinz Kluth: Sozialprestige und sozialer Status, 1957, S. 56. 30 Carleton K. Allen: Legal Duties and other Essays in Jurisprudence, 1931, S.36. 2&

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das, weil die ständisch festgefügte Sozialordnung in Bewegung geriet. Wir vernachlässigen hier der Kürze halber die Parallelentwicklung im römischen Recht der Spätzeit und wenden uns dem übergang vom mittelalterlichen Ständestaat zur bürgerlichen Gesellschaft des Liberalismus zu. Das Recht wies jetzt nicht mehr dem einzelnen seinen Platz in der gottgewollten Ordnung zu, sondern gab ihm als freiem und gleichem Mitglied einer einheitlichen Gesellschaft aller Bürger die Möglichkeit, seine Sozialbeziehungen selbstverantwortlich und frei zu gestalten. Das Mittel dazu war der Vertrag 31 • Der Wendepunkt dieser Entwicklung läßt sich sehr gut am code civil von 1803 nachweisen. Nachdem die Reste der überholten Feudalordnung durch die französische Revolution beseitigt waren, bestimmte art. 8 ce: Tout Fran!;ais jouira des droits civiles, und in art. 1134 hieß es dann: Les conventions legalement forme es tiennent li eu de loi ci ceux qui les ont faites. Jeder einzelne war damit aufgerufen, sich mit Hilfe des Vertrages sein Recht selbst zu schaffen. Das staatliche Recht hatte in erster Linie die Funktion, den Rahmen abzustecken, in dem die Bürger von ihrer Vertragsfreiheit Gebrauch machen konnten. Gegen die Bezeichnung dieses neuen Rechtstyps als Kontraktsrecht ist eingewandt worden, auch der alte Status habe oft, wenn nicht gar überwiegend auf einem Vertrag beruht. Gerade die Feudalordnung sei ohne den Lehnsvertrag nicht denkbar, und im Grunde beruhe jede Herrschaftsordnung auf einem " Sozialvertrag " . Auch das staatliche Recht, das Prozeßrecht, das Familien- und Erbrecht, seien ursprüngzeige, durch freie Vereinbarung der Amtsgewalt mit den Dinggenossenschaften zustande gekommen. Besonders solche Gebiete, in denen heute die Bedeutung des Vertrages geschwunden sei, wie das öffentliche Recht, das Prozeßrecht, das Familien- und Erbrecht, seien ursprünglich vom Vertrag beherrscht worden. In Wahrheit sei daher keine Bewegung from status to contract, sondern umgekehrt eine Bewegung from contract to status festzustellen. 32 • Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß nicht nur das Wort Status, sondern auch das Wort Kontrakt in Maines Fortschrittsthese eine spezifische Bedeutung hat. Wir müssen nämlich mit Max Weber3 3 zwischen Status-Kontrakten und Zweck-Kontrakten unterscheiden. Der Vertrag, der den Status begründete, sei es als Kind, Vater, Frau, Bruder, Herr, Sklave, Sippengenosse, Kampfgenosse, Schutzherr, Klient, Gefolgsmann, Vasall, Untertan oder 31 Treffend daher die Bemerkung von LteweUyn (Anm. 10, S. 716), in einer Status gesellschaft sei der Vertrag ein "tool of change and of growing individual self-determination" . 32 So in neuerer Zeit besonders Graveson (Anm. 20), S. 36-38. 33 Rechtssoziologie (Anm. 22), S.l11. earl Schmitt (Verfassungslehre, 1928, S. 67 f.) unterscheidet Statusvertrag und "freier Vertrag im Sinne der liberalen bürgerlichen Rechts- und Gesellschaftsordnung".

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Freund, kurz: als Genosse im weitesten Sinne, war ein Unterwerfungsoder Herrschaftsvertrag oder ein Verbrüderungsvertrag, durch den "man etwas qualitativ Anderes wird als bisher"34. Die Austauschverträge dagegen, die "nur die Herbeiführung konkreter, meist ökonomischer, Leistungen oder Erfolge zum Zweck haben, lassen den ,Status' der beteiligten Persönlichkeiten völlig unberührt"35. Wenn also der neue Rechtstyp als Kontraktsrecht bezeichnet wird, so ist damit die Verdrängung der Statusbeziehungen durch die Zweckvereinbarung oder, um mit Llewellyn36 zu sprechen, die Ersetzung der status-enbloc-Vereinbarung durch die Einzelvereinbarung gemeint. Schon Eugen Ehrlich 37 hatte Maine gegen seine Kritiker mit dem Argument verteidigt, daß es sich beim Recht doch immer um die Frage handele, "wie sich die menschliche Gesellschaft die Leistungen verschafft, die sie, um zu bestehen, braucht. Die mittelalterliche faßte den ganzen Menschen, um ihm diese Leistungen abzuzwingen; die moderne begnügt sich immer mehr, nur die einzelnen Leistungen von ihm anzusprechen, seine Persönlichkeit im übrigen nach Möglichkeit freilassend. Und (so fügte er unvorsichtig hinzu) in dieser Richtung werden sich die Dinge wohl noch in absehbarer Zukunft bewegen". Fassen wir die bisherige Charakterisierung der beiden Strukturtypen: Status recht und Kontraktsrecht noch einmal zusammen, so können wir die "Tafel zusammengesetzter und entgegengesetzter Begriffe"38, die von Tönnies im Anschluß an Maine entwickelt wurde 39 , wie folgt erweitern: Status Kontrakt Herrschaftsbeziehung Rechtsgeschäft Grund und Boden Geld Besitz Vermögen Tauschwirtschaft Kreditwirtschaft Marktwirtschaft Monopolisierung von Gütern Zunftzwang und Bannrecht Gewerbe- und Handelsfreiheit Privilegienwesen Rechtsgleichheit und Privat autonomie Sozialprestige nach Herkunft Sozialprestige nach individueller und Kooptation (Initiation) Leistung und Vermögen gruppengebundenes Selbst vollrechtsfähige Person Gruppe Individuum Gemeinschaft Gesellschaft 34 35 38

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Max Weber: Rechtssoziologie, a. a. O. Ebd. S. 112. a. a. O. (Anm. 10), S. 7115. a. a. O. (Anm. 13), S. 61. Tönnies (Anm. 9), S. 184. So ausdrücklich Tönnies in der Vorrede zur 2. Aufl., ebd. S. XXXV. Vgl.

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Diese Begriffstafel läßt deutlich die Gründe erkennen, aus denen es zu einer Bewegung des Statusrechts zum Kontraktsrecht kam. Wir können sie mit Ehrlich 40 in wirtschaftliche, politische und ideelle unterteilen. Wirtschaftlich war es in erster Linie die von Max Weber 41 sogenannte Marktverbreiterung, die zum Verlust der ökonomischen Autarkie des Hauses und seiner Herabminderung zur bloßen Konsumtionseinheit führte. Hand in Hand damit ging die zunehmende Arbeitsteilung und die Ersetzung der Zünfte und Innungen durch den handel- und gewerbetreibenden Bürger, der später im Zuge der technischen Entwicklung von der Manufaktur zur industriellen Fertigung und ihren neuen Absatzförmen fand. Insbesondere mußte die ständische Konzeption des Rechts an Boden verlieren, sobald die Statussymbole, an deren Besitz sich die rechtlichen Privilegierungen anknüpften, frei veräußerlich und damit Außenstehenden zugänglich wurden 42 ; allerdings nicht jedem Außenstehenden, wie später der Gedanke der Rechtsgleichheit und Vertragsfreiheit zu besagen schien, sondern in Wahrheit doch nur dem ökonomisch Mächtigen43 • Politisch spielte das allmähliche Erstarken der Staatsgewalt eine Rolle, die mit Hilfe einer Bürokratisierung der Staatsorgane und der Monopolisierung der Rechtssetzung die Autonomie der Stände immer mehr zugunsten einer formalen Rechtsgleichheit aller Staatsbürger zurückdrängte 44 • Sie verhalf damit der vorherrschenden geistigen Strömung, dem Individualismus zum Durchbruch, der bereits in der Rechtsphilosophie der Aufklärung, im weltlichen Naturrecht (Vernunftrecht) versucht hatte, die Status-Lehre zu überwinden, der seine klassische Ausprägung aber erst in der Konzeption der "bürgerlichen Gesellschaft" gefunden hatte, wie sie durch die beiden Staatsideologen45 Kant und Hegel entwickelt wurde. Erst in dieser Form gelang es ihm, aber im übrigen zum Werk von Tönnies die vernichtende Kritik, die Rene König vom Standpunkt der modernen Soziologie in einer umfassenden Ab-

handlung vorgetragen und begründet hat: Die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies, in KZfS 7 (1955), S. 348-420, insbesondere S. 412: "verbleibt von seinem Werke nicht einmal mehr ein Trümmerhaufen, sondern einfach eine einzige große Unklarheit. Darüber hilft kein Beschönigungsversuch hinweg". 40 a. a. o. (Anm .13), S. 51-61. 41 Max Weber (Anm. 22), S. 107. 42 Vgl. Kluth (Anm. 29), S. 37 f., 53. 43 Max Weber (Anm. 22), S. 139, 170. 44 Vgl. Ehrlich (Anm. 13), S. 51-53; Max Weber (Anm. 22), S. 139; Julius Stone: Social Dimensions of Law and Justice, 1966, S. 126. Eine detaillierte Schilderung der Rechtsentwicklung findet sich bei Justus Wilhelm Hedemann: Die Fortschritte des Zivilrechts im XIX. Jahrhundert, Teil I, 1910. 45 Ihr Einsatz für die Anerkennung der rechts gleichen Individualpersönlichkeit hatte nichts mit dem späteren Liberalismus zu tun. Beide waren Verfechter des sog. leidenden Gehorsams des Staatsbürgers, vgl. Rehbinder: Die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung im § 113 StGB, in GA 1963, S. 33.

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den Gedanken einer allgemeinen bürgerlichen Rechtsfähigkeit und einer individuellen Selbstbestimmung zum rechtlichen Allgemeingut werden zu lassen 46 . Damit hatte dann das Statusrecht endgültig dem Kontraktsrecht Platz gemacht.

11. Der Typ des Statusrechts und seine Brauchbarkeit für die Analyse der Gegenwart Die Herrschaft des Kontraktsrechts sollte jedoch nicht lange dauern. Mochte noch das Aufklärungsdenken an eine prästabilierte Harmonie geglaubt haben, wenn erst alle Schranken des Statusrechts gefallen sein würden: kaum war die Forderung nach formaler Rechtsgleichheit in die Praxis umgesetzt, wurde sie schon durch ihre Folgen als Ideologie des Besitzbürgerturns denunziert. Denn die Vertragsfreiheit, mit deren Hilfe nach Fortfall der Privilegien die freie Selbstbestimmung des Individuums erreicht werden sollte, bedeutete nicht nur eine Erleichterung, sondern zugleich auch eine Last47 • Wie art. 1134 cc deutlich genug zum Ausdruck bringt, trat "in dem Augenblick, da der Vertrag sich als Axiom der modernen Rechtssysteme durchgesetzt hatte, der Staat in weitem Umfang seine Funktion als Schöpfer des Rechts ab. Nicht König Heinrich der Soundsovielte, sondern Gottlieb Schulze ist der moderne Gesetzgeber"48. Damit war der einzelne gezwungen, in einen Kampf um sein Recht einzutreten. In diesem Kampf konnte aber bei freiem Kräftespiel nur der wirtschaftlich Starke siegen. Nur der Besitzende hatte die Chance, seine Vertragsbedingungen frei auszuhandeln. Dem Nichtbesitzenden wurden sie oktroyiert. Die Verknüpfung des Fortschrittsgedankens mit der formellen Rechtsgleichheit und der Privatautomonie erwies sich damit als trügerisch. Die Freiheit des einzelnen, die der Individualismus erstrebte, ist keine Frage der Rechtsstruktur, sondern eine Frage der konkreten Wirtschaftsordnung, speziell der Art der Güterverteilung 49 • Es war also ein Fehler zu meinen, das Status recht sei a limine ein Zwangsrecht und damit rückständig und das Kontraktsrecht sei demgegenüber freiheitlicher und stets ein Fortschritt50 • 46 Vgl. zu diesen geistesgeschichtlichen Hintergründen mit näheren Belegen Hermann Conrad: Individuum und Gemeinschaft in der Privatrechtsordnung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, 1956, S. 8, 16 ff., 37; ferner Vinogradoff (Anm. 8), S. 231 f.; Graveson (Anm. 20), S.43; Ehrlich (Anm. 13), S.57-60. 47 Pound (Anm. 8, S. IX) spricht von der "burden of making law for himself". 48 Seagte (Anm. 10), S. 375. 49 Vgl. Max Weber (Anm. 22), S. 171; ferner Bettermann: Freiheit unter dem Gesetz, 1962, S. 32 f. 50 Vgl. Wolfgang G. Friedmann: Some Reflections on Status and Freedom, in Ralph A. Newman (ed.): Essays in Jurisprudence in Honor of Roscoe

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Das zeigte sich in erster Linie an den Auswirkungen des Frühkapitalismus, die recht bald daran zweifeln ließen, welches System dem Individuum faktisch die größere Freiheit gewährte. Zwar gehört es zu den grundlegenden Eigengesetzlichkeiten jedes Soziallebens, Herrschaft und Ansehen unterschiedlich zu verteilen. Ein gewisses Maß von sozialer Ungleichheit muß also als Voraussetzung einer lebendigen und schöpferischen Gesellschaft hingenommen werden. Es fragt sich aber, inwieweit in den freien Sozial ablauf eingegriffen werden muß, um die faktischen Ungleichheiten mit dem sozialen Gleichheitsideal in ein sinnvolles Gleichgewicht zu bringen51 • Die liberalistische Doktrin des laissez-faire hatte zu dieser Frage einen extremen Standpunkt der Nichteinmischung eingenommen und zur übersteigerung des Prinzips der Vertragsfreiheit52 und zu einer unheilvollen Abdankung des staatlichen Gesetzgebers 53 geführt. Die Folge davon war das Auftauchen dessen, was man die "soziale Frage" nannte. Auch hier braucht die Entwicklung nicht im einzelnen belegt zu werden. Es war ein langer und schmerzhafter Prozeß, bis die "staatstragenden" Schichten des Besitzbürgertums einsahen, daß dieser Frage nicht mit privater, im Bereiche der "Gesellschaft" verbleibender Wohltätigkeit beizukommen war, sondern nur durch staatliche Eingriffe. Diese Eingriffe, die im Rechtsstaat nur aufgrund von Rechtsnormen möglich waren, führten zu einer ungeheuren Erweiterung des Rechtsstoffes und zur Ausbildung völlig neuer Rechtsgebiete, angefangen von der Arbeiterschutzgesetzgebung, der Sozialversicherung oder der Gefährdungshaftung über Lebensmittelrecht, Gesundheitsfürsorge, Bildungszwang bis zum Kartellrecht, um nur einige Punkte herauszugreifen. Auch das Privatrecht wurde durch Rechtsprechung und durch Änderungs- oder Ergänzungsgesetze "sozialisiert". War es ursprünglich auf das Leitbild des besitzenden, selbständigen und aufgeklärten Bürgers verpflichtet und damit nur auf eine bestimmte gesellschaftliche Schicht zugeschnitten, wurde es langsam dahin umgestaltet, daß es für alle Schichten funktionsfähig wurde54 • Diese Pound, 1962, S. 222, 229. Schon Isaacs (Anm.8, S. 47) warnte vor diesem Irrtum: "Freedom of contract is not synonymous with liberty, nor is status slavery." Vgl. ferner Max Weber (Anm. 22), S. 170). 51 über dieses in der menschlichen Existenz angelegte "unaufhebbare Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Ungleichheit" vgl. Dahrendorf: über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, 2. Auf!. 1966; ferner Rehbinder: Die Diskriminierung: ihre Ursachen und ihre Bekämpfung, in KZfS 15 (1963), S. 6-23, insbes. S. 8. 52 Erfrischend hier wiederum die journalistische Formulierung von Seagle (Anm. 10, S.396): "Es gab keinen Gott neben dem Vertrag, und Sir Henry Maine war sein Prophet." 53 Hier war insbesondere die These zweier antithetisch verstandener Einflußbereiche von Staat und Gesellschaft wirksam; darüber Theodor Geiger: Ideologie und Wahrheit, 1953, S.107-111. M Vgl. dazu Wiethölter (Anm.8).

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Entwicklung hatte zur Folge, daß der Bereich der Vertragsfreiheit, die Privatautonomie, immer kleiner wurde.

1. Die "Sozialisierung" des Rechts als fortschreitende Abkehr vom Statusrecht Dieser dirigistische Charakter unseres modernen Rechts hat, wie eingangs erwähnt, viele Autoren veranlaßt, von einer Rückkehr zum Statusrecht zu sprechen. Hier zeigt sich jedoch die Gefährlichkeit der Verwendung von Idealtypen bei der Analyse der Gegenwart 55 • Idealtypen werden nämlich, um sie genügend mit Wirklichkeit auszufüllen und dadurch praktikabel zu machen, an der historischen Erfahrung entwickelt. Historische Erfahrung ist aber nur sehr bedingt in der Lage, etwas über Entwicklungsprozesse der Gegenwart auszusagen. Denn es muß immer damit gerechnet werden, daß sich der zu analysierende soziale Sachverhalt in einem Interferenzstadium befindet, d. h. in einem Stadium, in dem ein alter, bereits bekannter Idealtyp seine Brauchbarkeit zur Beschreibung dieses Sachverhalts verliert und ein neuer Idealtyp, der die neuen Merkmale enthält, mangels historischer Erfahrung bisher noch nicht entwickelt worden ist. Versucht man jetzt, auf diesen Sachverhalt allein die bisher bekannten Idealtypen anzuwenden, kommt man notwendigerweise zu schiefen Aussagen und Ergebnissen. Wenn man also das moderne Recht als Statusrecht kennzeichnet, so liegt darin zwar, wie so oft, ein Körnchen Wahrheit. Blicken wir aber auf die Ursachen zurück, die für den Übergang des Statusrechts zum Kontraktsrecht entscheidend waren und daher in den einen oder anderen Rechtstyp als Begriffsmerkmal eingegangen sind, so zeigt sich deutlich, daß von einer "Rückkehr" keine Rede sein kann. Als wirtschaftliche Ursachen des Strukturwandels hatten wir den Verlust der Autarkie des Hauses und die Marktverbreiterung kennengelernt. Hieran hat sich ersichtlich nichts geändert, im Gegenteil: Der Großstadtmensch ist heute weniger denn je "autark", und der Markt hat sich unter dem Einfluß der Großindustrie zum Massenumsatz erweitert. Allerdings hat der Massenverkehr eine Standardisierung und Rationalisierung der Rechtsgeschäfte zur Folge gehabt. Der einzeln ausgehandelte Vertrag ist in weitem Umfang den Formularverträgen und Allgemeinen Geschäftsbedingungen gewichen. Gleichgültig, ob man diese letzteren "Bedingungen" noch als Vertragsmuster (contract d'adhesion) oder schon als Rechtsnorm ("fertig bereitliegende Rechtsord55 Daß Max Weber selbst dieser Gefahr der Idealtypen erlegen ist, habe ich anhand seiner Fehlbeurteilung der Freirechtsschule nachzuweisen versucht, vgl. Rehbinder (Anm. 12), S. 483 f.

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nung")56 ansieht, auf jeden Fall haben sie nicht eine Begrenzung;;7, sondern eine Erleichterung des Wirtschaftsverkehrs zum Ziel. Wie die Maschinenproduktion von der Einzelanfertigung zur Gattungsware geführt hat, so ist durch die Standardisierung der Verträge "dem System der Gattungsware ein System von Gattungsgeschäften hinzugefügt"58 worden. Formularverträge und Geschäftsbedingungen haben also nichts mit dem alten Statusrecht zu tun, sondern sind nur ein Ausdruck der jedem Rechtstyp innewohnenden Tendenz zur Vereinheitlichung und Verallgemeinerung59 , die nur in neuerer Zeit durch den Zwang des Wirtschaftslebens zur Rationalisierung verstärkt wurde. Aus den Bedürfnissen des Massenverkehrs ist es ferner zu verstehen, wenn die als Verpfiichtungsgrund des Rechtsgeschäfts angesehene Willenserklärung immer mehr zugunsten des Vertrauensschutzes abgebaut wird (Haftung aus sozialtypischem Verhalten, sog. faktische Verträge), eine Entwicklung, die erst kürzlich noch von einem Altmeister der Zivilistik als "Knochenerweichung"60 bedauert wurde. Als politische Ursache des Strukturwandels vom Statusrecht zum Kontraktsrecht nannten wir das Erstarken der Staatsgewalt durch Bürokratisierung der Staatsorgane und Monopolisierung der Rechtssetzung. Auch hier kann von einer Rückkehr zu den alten Zuständen nicht gesprochen werden. Die Bürokratisierung des Staatsapparats ist weiter fortgeschritten. Adolf Wagner's Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit ist entgegen den Erwartungen Ehrlichs 61 durch die Erweiterung der Staatsaufgaben auf das Gebiet der "Daseinsvorsorge" eindringlich bestätigt worden. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen82 • Hinsichtlich des Rechtssetzungsmonopols ist das Bild nicht ganz so eindeutig. Der Staatsgewalt sind jetzt als Gegenspieler zunehmend mächtige Verbände erwachsen, die nicht nur auf die staatliche Gesetzgebung ent:;8 RGZ 171/43, 48. Zur Rechtsnatur der Allgemeinen Geschäftsbedingungen in neuerer Zeit eingehend: Joachim Schmidt-Salzer: Das Recht der Allgemeinen Geschäfts- und Versicherungsbedingungen, 1967, S. 45-110. 57 Wie dies der Sinn der alten Vertragsmuster (numerus clausus der Verträge) war. 58 So zu Recht Llewellyn (Anm. 10), S. 731; vgl. auch Seagle (Anm. 10), S. 409 f.; Graveson (Anm. 20), S.48. 59 So bisher nur Seagle ebd. Isaacs (Anm. 8, S. 39 f.) und Llewellyn (Anm. 10, S. 717) betonen zwar die "Standardisierungstendenz" , lassen sie jedoch mit dem Statusproblem zusammenfallen. Zur Vereinheitlichung und Verallgemeinerung allgemein Ehrlich: Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 281 ff. 60 Heinrich Lehmann im Vorwort zu Enneccerus/Lehmann: Recht der Schuldverhältnisse, 15. Bearb. 1958. 61 a.a.O. (Anm. 59), S. 111. 62 Vgl. Rehbindel·: Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, 1967, S. 52, 92-95.

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scheidenden Einfluß nehmen 63 , sondern auch, was ihre interne Verbandsordnung betrifft, den Eindruck rechtlicher Autarkie erwecken. Man hat deshalb schon provokatorisch von einer Herrschaft der Verbände64 gesprochen. Doch ist nicht zu verkennen, daß sich diese Verbandsherrschaft aus sozialstaatlichen Erwägungen erhebliche rechtliche Einschränkungen und überprüfungen gefallen lassen muß und daß vom staatlichen Rechtssetzungsmonopol im Gegensatz zum Ständestaat immerhin noch ein staatliches Rechtsquellenmonopol übrig geblieben ist. Das gilt jedenfalls in bezug auf den normativen Geltungsanspruch; denn die Geltung der Verbandsordnung wird heute stets auf staatliche Delegation zurückgeführt6~. Bei rechtssoziologischer Betrachtung mag man zwar zu anderen Ergebnissen kommen66 , doch ist der rechtssoziologische Gesichtspunkt hier unerheblich. Eine außerstaatliche Rechtsautonomie von Verbänden hat es ja auch und gerade zur Zeit des Liberalismus, also zur Zeit des Kontraktsrechts gegeben. Sie kann daher kein Anzeichen für eine Rückkehr zum Status recht sein. Auch der Individualismus schließlich, als der ideelle Grund für den Strukturwandel zum Kontraktsrecht, ist - wenn man von einigen Sozialromantikern absieht - durchaus nicht in dem Sinne rückläufig, daß nunmehr wieder eine Einordnung des einzelnen in ein hierarchisches Ordnungssystem "gottgewollter" Ungleichheiten erstrebt wird. Ganz im Gegenteil ist die sogenannte Sozialisierung des Privatrechts und die Schaffung des Sozialrechts nur ein Ausdruck der Erkenntnis, daß durch die Rechtsgeschäftsideologie des Kontraktsrechts die freie Selbstbestimmung des einzelnen rein faktisch je nach Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse abgestuft wurde. Die Zeit des Kontraktsrechts war ja nicht nur im politischen Bereich (Wahlrecht) eine Zeit des Klassenrechts, zumal die wirtschaftlichen Ungleichheiten durch die innere Einstellung (Bewußtseinslage) des Rechtsapparats im Gebiet der Rechtspflege noch besonders verstärkt wurden (Vorwurf der "Klassenjustiz"). Die Wandlungen des modernen Rechts hatten also nur den Sinn, diese Klassenunterschiede zu mildern, indem sie die formale Rechtsgleichheit vorsichtig in Richtung auf eine materielle Rechtsgleich63 Vgl. z. B. die Untersuchung eines Einzelfalles durch Otto Stammer u. a.: Verbände und Gesetzgebung. Die Einflußnahme der Verbände auf die Gestaltung des Personalvertretungsgesetzes, 1965. ß.I Theodor Eschenburg: Herrschaft der Verbände?, 1955. über das Verhältnis der Verbände zum Staat in neuerer Sicht vgl. Gerhard Leibholz: Staat und Verbände, in RdA 1966, S.281-289. 65 Eingehend Karl-Otto Nickusch: Die Normativfunktion technischer Ausschüsse und Verbände als Problem der staatlichen Rechtsquellenlehre, Diss. München 1964, und Herbert Krüger: Rechtsetzung und technische Entwicklung, in NJW 1966, S. 617-624. Für das Arbeitsrecht vgl. § 3 TVG. 66 Nämlich zur Annahme eines Pluralismus von Rechtsordnungen, vgl. Rehbinder (Anm. 62), S. 110 f.

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heit, d. h. eine Gleichheit der Startbedingungen (Chancengleichheit) verstärkten. Der Sozialstaatsgedanke hat damit nach den Worten Ehrlichs "den Gerechtigkeitsgedanken des Individualismus nicht aufgehoben, sondern erfüllt"67. Nach allem ist es verfehlt, die heutige Rechtsentwicklung als Rückkehr zum Status recht zu interpretieren. 2. Die Umformulierung von Status zum Kriterium des öffentlichen Rechts

Überblicken wir dieses erste Ergebnis der bisherigen Betrachtung, so läuft es streng genommen nur auf den Satz hinaus, daß Geschichte sich nicht wiederholt. Für die Frage nach den Entwicklungstendenzen des heutigen Rechts ist damit noch nicht viel gewonnen. Wollen wir den von Maine eingeschlagenen Weg weiter verfolgen, so bleibt nichts anderes übrig, als zu versuchen, einen neuen, dem modernen Erscheinungsbild des Rechts adäquaten Strukturtyp zu entwickeln. Schon Max Weber hat von der "Unvermeidlichkeit immer neuer idealtypischerKonstruktionen"68 gesprochen. Die Frage ist nur: welches sind die wesentlichen Merkmale des gesuchten neuen Idealtyps der Rechtsstruktur? Bisher können wir nur eine negative Aussage machen. Das neue Recht ist geprägt durch den Abbau von Vertragskonstruktionen69 oder, wie man häufig sagt, durch die "Krise des Vertragsrechts"70. Diese Krise begann im öffentlichen Recht, wo man seit dem Aufkommen des Individualismus auch die Herrschaftsausübung des Staates auf einen Vertrag, nämlich den contract social, zurückgeführt hatte 71 • Mit dem Bemühen, den Bereich des Hoheitlichen von zivilistischen Konstruktionen zu befreien, wuchs auf der anderen Seite die Neigung, wenigstens den Bereich des Privatrechts als Domäne der Privatautonomie zu erhalten und alle zum Zwecke der "Sozialisierung" angeordneten Beschränkungen der Vertragsfreiheit als "öffentlich-rechtlich" auszuklammern. Heute wissen wir, daß eine strenge Trennung von Privatrecht und öffentlichem Recht nicht weiterführt, daß vielmehr unser modernes Recht als "Sozialrecht" aus öffentlichrechtlichen und privatrechtlichen Elementen gemischt ist und daß diese Mischung das Privatrecht in seiner Struktur verändert hat. Ehrlich (Anm. 59), S. 193. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Winckelmann, 2. Aufl. 1951, S. 206. 69 Pound (Anm. 8, S. X) spricht vom "giving up of the idea of free contract as the prime agency of sodal control". 70 Vgl. Rudolf Reinhardt: Die Vereinigung subjektiver und objektiver Gestaltungskräfte im Vertrage, in Festschrift für Schmidt-Rimpler, 1957, S.115 mit weiteren Nachweisen. 11 Vgl. in diesem Zusammenhang Grzybowski (Anm. 8), S. 1393, und Seagle (Anm. 10), S. 396 f. 61

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Im anglo-amerikanischen Rechtskreis, dem die Trennung von öffentlichem Recht und Privatrecht bis in die neuere Zeit unbekannt war, beginnt man jetzt zunehmend, auf das spezifisch öffentlich-rechtliche Element des Sozialrechts aufmerksam zu werden. Als man aber dieses Element näher abgrenzen und bezeichnen wollte, kam es zur Wiederentdeckung des Wortes Status. Status wird nun definiert als "a special condition of a continuous and institutional nature, differing from the legal position of the normal person, which is conferred by law and not purely by the act of the parties, whenever a person oe cu pies a position of which the creation, continuance or relinquishment and the incidents are a matter of sufficient social or public concern"72. Oder man umschreibt status ganz kurz als "legal conditions imposed upon the individual by public law" oder als "sum of public-Iaw restrictions"73. Während nach der Tradition des kontinentalen Rechts der Ausdruck Status zur Abgrenzung des Personenrechts vom Sachen- und Vermögensrecht gedient hatte74, wird er jetzt in den Ländern des Common Law nach der eingehenden Untersuchung von Graveson als Merkmal des öffentlichen Rechts angesehen 75 . Dieses Neuverständnis des Status-Begriffs ist von der kontinentalen Auffassung gar nicht so weit entfernt, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte. Schon Georg Jellinek, der wesentliches zur dogmatischen Aufbereitung des öffentlichen Rechts und der Befreiung dieses Gebietes vom zivilistischen Denken beigetragen hat, hatte den Status-Begriff für das öffentliche Recht reklamiert. Bekannt ist, daß er zur Systematisierung der öffentlich-rechtlichen Ansprüche den Status zur Hilfe nahm. "Jeder öffentlich-rechtliche Anspruch (so schreibt er) entspringt unmittelbar aus einer bestimmten Position der Person zum Staate, die, dem Vorbild des antiken Rechts entsprechend, als ein Status bezeichnet werden kann76 ." Anschließend unterteilt er die subjektivöffentlichen Rechte je nach ihrer Herleitung aus dem negativen, positiven oder aktiven Status. Weniger bekannt ist jedoch, daß Jellinek bei dieser Gelegenheit den Begriff der Rechtspersönlichkeit zum öffentlichen Recht rechnete. Es heißt dort: "Rechtssubjekt jedoch ist derjenige, der in seinem Interesse die Rechtsordnung in Bewegung setzen kann. .. Die vom Staat gewährte individuelle Fähigkeit aber, die Rechtsordnung im eigenen Interesse in Bewegung zu setzen, schafft, wie jede begrenzte individuelle, vom Recht anerkannte Macht, eine subjektive Berechtigung. Daher gehört die Persönlichkeit dem öffentGraveson (Anm. 20), S. 2 Friedmann (Anm. 50), S. 226 f. 74 Vgl. o. bei Anm. 21. 75 Graveson (Anm. 20), S.59, 111-141; ihm folgend Pound in der Einleitung zu Graveson, S. XII f.; Friedmann (Anm. 50), S. 226 f. 11 Georg Jetlinek: Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914, S.418. 72

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lichen Rechte zu. Sie ist die Bedingung des Privatrechts und aller Rechtsordnungen überhaupt 77 ." Das bedeutet: Die Frage nach der Rechtspersönlichkeit oder, anders ausgedrückt, die Frage nach der Rechtsfähigkeit ist eine Frage des öffentlichen Rechts. Zwar beschränkt J ellinek, wie sein Hinweis auf das antike Recht zeigt, diese Aussage auf den status civilis. Doch selbst wenn man die Rechtsfolgen des status naturalis hinzunimmt und das Personenrecht im weiteren Sinne betrachtet, läßt sich auch bei uns zunehmend eine Entdeckung des öffentlichrechtlichen Elements feststellen. So wird z. B. das Familienrecht, das man ausdrücklich als Status-Recht bezeichnet78 , von vielen nicht mehr zum Privatrecht, sondern zum Sozialrecht gerechnet7 9 , weil bei allen familienrechtlichen Rechtsverhältnissen der Staat in irgend einer Form durch besondere Rechtsakte mitwirkt. Gerade wenn man aber das Wort Status zur Bezeichnung des öffentlich-rechtlichen Elements verwendet, so zeigt das, daß dieser Ausdruck nicht in der Lage ist, die heutige Rechtsstruktur voll zu erfassen. Mag man gleichzeitig noch so sehr betonen, daß das "moderne Statusrecht" eine Freiheit der Status-Wahl kenne und nicht mehr von einer ständischen Schichtung vererblicher Rechtsstellungen ausgehe, und daß es im Gegensatz zum alten Status recht bestrebt sei, wirtschaftlichen Druck zu reduzieren und dadurch die Bewegungsfreiheit, d. h. die soziale Mobilität zu fördern 80 • Allein das öffentlich-rechtliche Moment in den Vordergrund zu stellen, kann auf keinen Fall ausreichen; denn es ist das Eigentümliche der jetzigen Rechtsentwicklung, daß sich die Grenzen zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht immer mehr verwischenBoa. Gerade wenn man das Sozialrecht als heute vorherrschenden Rechtstyp ansieht, so ist es nicht das öffentliche Recht, sondern die Mischung aus öffentlichem Recht und Privatrecht, die dieses Recht kennzeichnet. Auch in "moderner" Umdeutung ist also das Wort Status nicht geeignet, das Recht des Sozialstaats in seiner Struktur adäquat zu erfassen.

III. Die Rolle als Strukturelement einer modernen Rechtstheorie Der Weg, den man einschlagen kann, um den gesuchten neuen Idealtyp für die heutige Rechtsstruktur zu finden, wurde im Ansatz bereits 77 Ebd. Mit dem Hinweis auf Jellinek sprach dann Vinogradoff (Anm. B, S.230 und 233) vom status als "conception of public law". Auch Graveson wurde von Jellinek beeinflußt, vgl. Anm. 20, S. 113. 78 Vgl. Joachim Gernhuber: Lehrbuch des Familienrechts, 1964, S. 6. 79 Vgl. ebd. S. 5. BO SO vor allem Friedmann (Anm. 50), S. 236 f.; Geoffrey Sawer: Law in Society, 1965, S. 68; Graveson (Anm. 20), S. 51 f. BOa Vgl. J. J. M. van der Ven: Die überwindung der traditionellen Zweiteilung von öffentlichem und privatem Recht, besonders an Hand des Arbeitsrechts, in Festschrift für Nipperdey, Bd. 2 (1965), S. 681-697.

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durch Gustav Radbruch vorgezeichnet. In einer kleinen rechtssoziologischen Studie aus dem Jahre 193081 spricht er von der Gegenwart als einer "juristischen Zeitenwende von nicht geringerer Bedeutung als Rezeption und Naturrecht", die durch den Übergang vom individualistischen zum sozialen Recht bestimmt werde. Zwar kennzeichnet er die formale Struktur dieses sozialen Rechts durch die eben bereits behandelte, von ihm sogenannte "öffentlich-rechtliche Wendung"82, bei der er ein "verändertes Rangverhältnis von öffentlichem und privatem Recht", eine "Durchwachsung des privaten mit öffentlichem Rechte" und eine "Durchdringung des subjektiven Privatrechts mit sozialem Pflichtgehalt" unterscheidet 83 . Aber außer diesem Gesichtspunkt, der nach unserer Auffassung nur ein Randphänomen, nämlich die Einteilung des Rechtsstoffes betrifft, macht er noch auf eine andere Entwicklung aufmerksam: "Das soziale Recht beruht... auf einer Strukturwandlung alles Rechtsdenkens, auf einem neuen Begriff vom Menschen: Soziales Recht ist ein Recht, das nicht auf das individualitätslose, seiner Eigenart entkleidete, auf das als vereinzelt gedachte, seiner Vergesellschaftung enthobene Individuum zugeschnitten ist, sondern auf den konkreten und vergesellschafteten Menschen"84. Ausdruck der individualistischen Rechtsauffassung, die sich an dem als individualitätslos und isoliert gedachten Individuum orientiert habe, sei der Rechtsbegriff der Person. Dieser Begriff der Person sei ein Gleichheitsbegriff, in dem alle Unterschiede der Menschen nivelliert würden. Person sei sowohl der Besitzende als auch der Nichtbesitzende, die schwache Einzelperson und die mammutstarke Verbandsperson. Im Begriff der Person werde die rechtliche Gleichheit, die gleiche Eigentumsfreiheit und die gleiche Vertragsfreiheit aller mitgedacht. Aber in der Rechtswirklichkeit sei doch die Eigentums- und die Vertragsfreiheit in der Hand des sozial Mächtigen etwas wesentlich anderes als in der Hand des sozial Schwachen. Rechtsform und Rechtswirklichkeit gerieten dadurch zunehmend in Widerspruch. Der Rechtsform nach lauter gleiche Personen mit gleicher Eigentums- und gleicher Vertragsfreiheit, in der Rechtswirklichkeit jedoch statt gleicher Personen Besitzende und Besitzlose, statt allseitiger Vertragsfreiheit Diktatfreiheit der wirtschaftlich Mächtigen, Diktatunterworfenheit der wirtschaftlich Ohnmächtigen. Demgegenüber bringe nun das soziale Recht Rechtsform und Rechtswirklichkeit wieder in Einklang: "Es macht ... hinter der nivellierenden Abstraktion 81 Vom individualistischen zum sozialen Recht, in Hanseatische Rechtsund Gerichts-Zeitschrift 13 (1930), Sp. 458-468; ähnlich schon früher in Der Mensch im Recht, 1927; vgl. auch Hugo Sinzheimer: Das Problem des Menschen im Recht, 1933. 82 Ebd. Sp. 467. 83 Ebd. Sp. 46l. 84 Ebd. Sp. 459. 11 Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch

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des Personenbegriffs die individuelle Eigenart, die soziale Macht- und OhnmachtsteIlung sichtbar: es kennt z. B. nicht mehr nur Personen, sondern Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Arbeiter und Angestellte, es kennt im Strafrecht nicht mehr nur Täter, sondern Gelegenheits- und Gewohnheitsverbrecher, Besserungsfähige und Unverbesserliche85 ." Wie wichtig dieser Gesichtspunkt für unsere Überlegungen ist, zeigt sich daran, daß er sich nahtlos an unsere Deutung des Überganges vom Statusrecht zum Kontraktsrecht anschließt. Das Statusrecht sah den Menschen nur in seiner Zugehörigkeit zu hierarchisch geordneten Gruppen, regelte die Rechtsverhältnisse dieser Gruppen und war demzufolge - aus der Sicht des einzelnen - durch eine Abstufung der Rechtsfähigkeit bestimmt (Recht als Privileg). Das Kontraktsrecht sah demgegenüber den Menschen isoliert als Individuum, nivellierte die rechtlichen Abstufungen durch den Personenbegriff zu einer gleichen Vollrechtsfähigkeit und überließ die Ausgestaltung der Rechtsbeziehungen weitgehend dem einzelnen selbst (Privatautonomie als Freiheit der Gleichen). Das Recht des Sozialstaates nun sieht den Menschen in seiner sozialen Gebundenheit, nimmt die Regelung seiner Rechtsverhältnisse wieder in größerem Ausmaße selbst in Angriff und versucht dabei, je nach der Stellung des Menschen im Sozial system zu differenzieren. Nicht das öffentlich-rechtliche Element, sondern die Differenzierung je nach der sozialen Position ist in unserem Zusammenhang entscheidend. Ein Rechtstyp aber, der in dieser Weise nach der sozialen Position des Menschen differenziert, ist ein Recht, das in sozialen Rollen denkt. Nur die Zuhilfenahme "der in der zeitgenössischen Sozialwissenschaft üblichen Denkansätze", auf die uns Hirsch 86 verwiesen hat, ermöglicht es uns, die Aussagen von Radbruch über den Strukturwandel des modernen Rechts zu einem neuen Idealtyp zu verdichten. Wird nämlich der Mensch im Recht nicht mehr als abstrakte Person, sondern als Arbeitgeber und Arbeitnehmer, als Arbeiter, Angestellter oder Handelsvertreter, als Gelegenheits- oder Gewohnheitsverbrecher angesprochen, so erfaßt ihn das Recht jeweils nur in einem konkreten Teilaspekt seiner Sozialbeziehungen, d. h. aber: in einer bestimmten sozialen Rolle. Der Begriff der "sozialen Rolle" gehört heute zu den Grundkategorien der theoretischen Soziologie87 • Wir verstehen darunter die Ebd. Sp. 460. V gl. Anm. 1. 87 Vgl. aus dem deutschsprachigen Schrifttum die grundlegende Arbeit von Ralf Dahrendorf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, 5. Aufl. 1965. Sie wird von kompetenter Seite als "die einflußreichste theoretisch-soziologische Veröffentlichung (angesehen), die nach dem Kriege in Deutschland erschienen ist", so Heinrich Popitz: Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie, 1967, S.5. 85

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Summe aller Verhaltensregeln, die dem Inhaber einer bestimmten sozialen Position von der Gesellschaft aufgegeben werdenss . Durch die Anknüpfung der Verhaltensregeln an eine soziale Position steht die Rolle im Schnittpunkt zwischen Individuum und Gesellschaft. Vom Individuum her gesehen bedeutet sie eine normative Verallgemeinerung S9 • Der Mensch wird nicht als Einzelwesen, sondern als einer unter vielen Inhabern der gleichen Position angesprochen. Wir erleben seine "Entfremdung zum Schauspieler auf der Bühne der Gesellschaft"90. Als Rollenmensch tritt er, wie es Maihofer 91 im Anschluß an Heidegger nennt, aus dem "Urstand des Selbstseins" in den "Stand des Alsseins". Nicht die Individualperson, sondern der Arbeitnehmer, der Handelsvertreter oder der Gewohnheitsverbrecher92 tritt uns als Objekt rechtlicher Regelung entgegen. Von der Gesellschaft her gesehen bedeutet die Rolle dagegen eine normative Spezialisierung; denn sie erfaßt nicht den ganzen Menschen, sondern jeweils nur einen Teilaspekt93 . Das Recht regelt nicht die Rechtsverhältnisse einer "Person", sondern die Rechtsverhältnisse des Kaufmanns, des Angestellten oder des Mieters, und je mehr es nach Rollen differenziert, desto größer wird die Spezialisierung des rechtlichen Gesamtsystems in verschiedene Subsysteme, die schon Max Weber 94 als partikuläre Rechte oder Sonderrechte charakterisiert hat. Die Auffassung der Rolle als normatives Subsystem zeigt bereits, daß es sich beim Rollenbild nicht um ein tatsächlich ablaufendes Verhalten handelt, sondern um ein Bündel von Verhaltenserwartungen95 • Diese Verhaltenserwartungen werden in der Weise normiert, daß zunächst bestimmt wird, welche Eigenschaften jemand haben muß, um Ähnlich Dahrendorf ebd. S. 26; Hirsch (Anm. 1), S. 31. Dieser Gesichtspunkt der normativen Verallgemeinerung zeigt bereits einen der vielen Vorteile der Verwendung des Rollenbegriffs in der Rechtssoziologie; denn er erklärt die Entstehung der Rechtsnorm aus den Rechtstatsachen als übergang vom Individualverhalten zum sozial gesollten Verhalten, vgl. Anm. 59. 90 So Dahrendorf (Anm. 87), S. 41. 01 Vgl. Werner Maihofer: Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie, 1954, S. 97 ff., 117 ff. Maihofer spricht ausdrücklich von einer "Existentialdialektik von Selbstsein und Alssein", die im Recht zu einer Doppelstruktur des Menschseins im Sinne eines status naturalis und eines status dvilis führe, ebd. S. 125, 100. 92 Wir werden im folgenden das Strafrecht aus der Betrachtung ausklammern, doch sei darauf hingewiesen, daß der Rollenbegriff auch im Strafrecht verwendbar ist; denn auch hier finden wir das Zusammenspiel von Motivationsdruck und Sanktionshandeln, vgl. sogleich im Text. 93 übrigens auch einen Teilaspekt des sozialen Ganzen. Das wird deutlich im englischen Ausdruck für die Bühnenrolle: part. 94 a. a. O. (Anm. 22), S. 140 f., 275. 95 So Ragnar Rommetveit: Sodal Norms and Roles, 1955, S. 85 (normative expectations); T. R. Sarbin: Role-Theory, in Gardner Linzey (ed.): Handbook of Sodal Psychology, Bd. I (1959), S. 225 f.; Dahrendorf (Anm. 87), S. 27 f., 49 f.; anders Popitz (Anm. 87), S.22. 88 89

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eine bestimmte Rolle "spielen" zu können (sog. Rollenattribute), vgl. als Beispiel die Vorschriften der §§ 1 bis 7 HGB über die Kaufmannseigenschaft. Erst wenn geklärt ist, wer als Träger der Rolle in Betracht kommt, kann festgelegt werden, welches Verhalten von ihm erwartet wird (sog. Rollenverhalten)96, Beispiel: die Rügepflicht nach § 377 HGB. Die Feststellung der Trägereigenschaften und der Verhaltenserwartungen ergeben zusammen ein Handlungsmodell. Dieses Handlungsmodell bezweckt Konformität und Interaktion. Normative Konformität wird in konkurrierenden Rollen gedacht. Ihr liegt als Prinzip der kategorische Imperativ zugrunde. Handle so, wie jeder andere Träger dieser Rolle handeln muß, damit der soziale Zweck der Rolle erreicht wird ("Wenn das jeder täte!"). Soziale Interaktion wird dagegen in gegenläufigen Rollen gedacht. Ihr liegt als Prinzip die Goldene Regel zugrunde: Handle so, wie du im umgekehrten Fall, d. h. in der Rolle des "Sozialpartners" behandelt werden möchtest ("Was du nicht willst, das man dir tu ... ")97. So sind z. B. A und B als Arbeitgeber und Arbeitnehmer Träger gegenläufiger Rollen, als Mitglieder eines Sportvereins Träger konkurrierender Rollen. Die Rollenerwartungen können also gleichlaufend oder gegenläufig, ja sogar widersprüchlich normiert sein. Das Verhältnis aber von A und B zueinander als Menschen lassen sie in jedem Fall unberührt. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die Nützlichkeit des Rollenbegriffs für die Rechtsdogmatik zu belegen. Versteht man jedoch die Rolle als Interaktionsmodell, so erklärt sich sehr einfach, warum im Zeitalter des Massenverkehrs, also zu Zeiten gesteigerter Interaktion, die (auf dem Prinzip der Privatautonomie beruhende) Willenstheorie in der Rechtsgeschäftslehre immer mehr zugunsten des Vertrauensschutzes abgebaut wurde. Hat nämlich jede Rolle zugleich den Sinn, das Verhalten des "Sozialpartners" zu steuern, dann muß sich der Sozialpartner in seinem Handeln auch auf ein äußeres Erscheinungsbild verlassen können, das die betreffenden Rollenattribute und Rollenverhaltensweisen zeigt. Das gleiche gilt für eine Reihe von Irrtumsproblemen sowie für die sog. faktischen Vertragsverhältnisse und das sozialtypische ("rollengemäße") Verhalten. Auch die Sphärentheorie ist in diesem Sinne eine Rollentheorie. Immer wieder finden wir denselben Gedanken: Der Umstand, daß der faktische Vollzug einer Rolle in der Macht des einen liegt, begründet zugleich seine soziale Verantwortung für das Handeln des anderen, der Träger der gegenläufigen Rolle ist. es Zur Unterscheidung von role attributes und role behavoir vgl. Neal Gross, Ward S. Mason, Alexander W. McEachern: Explorations in Role Ana-

lysis, 1958, S. 60-64. e7 über den Sinn gegenläufiger und konkurrierender Rollen vgl. Lothar Philipps: Zur Ontologie der sozialen Rolle, 1963, S. 25-31; vgl. ferner Günter Spendet: Die goldene Regel als Rechtsprinzip, in: Festschrift Fritz von Hippel, 1967, S. 491-516.

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Auch dieser andere, nicht nur der Normenautor, der die Rolle vorgeformt hat, soll das vorgeschriebene Verhalten vom Rollenträger erwarten dürfen. Man hat daher zu Recht den Sinn der Rolle in ihrem "Doppelaspekt von Leistung (Verhalten) und Verantwortung" gesehen9B . Jede Rolle nimmt nicht nur auf eine, sondern oft auf mehrere gegenläufige Rollen Bezug. Steht dem Käufer nur der Verkäufer gegenüber, so sind es z. B. beim Professor die Studenten, die wissenschaftlichen Mitarbeiter und Kollegen und die Leute von der Universitätsverwaltung. Die Rolle "Professor" zerfällt demnach in sog. Rollensegmente (role sectors)99, die man je nach der Art der Rollenerwartung mit den Begriffen Forschung, Lehre und Verwaltung charakterisiert. Zwischen diesen Rollensegmenten kommt es sehr leicht zu Spannungen, die als Erwartungskonflikte innerhalb sozialer Rollen (intra-role conflicts) bezeichnet werden. Beispiel eines solchen innerhalb der Rolle angelegten Konflikts ist im Arbeitsrecht der sog. Arbeitsdirektor, der den Anforderungen der Arbeitnehmerseite und der Arbeitgeberseite gleichermaßen entsprechen soll. Neben den Konflikt innerhalb derselben Rolle (intrarole conflict) tritt der Konflikt zwischen verschiedenen Rollen (interrole conflict)1°o. Er entsteht dadurch, daß der Einzelne Träger einander widersprechender Rollen ist (der gläubige Katholik als Richter in einer Scheidungskammer) oder aber daß die Erwartungen, die an den Inhaber derselben sozialen Position gestellt werden, in den verschiedenen gesellschaftlichen Ordnungssystemen widersprüchlich definiert sind (vgl. z. B. für den Arzt das Problem der ethisch indizierten Abtreibung). Die Lösung dieser Rollenkonflikte durch den einzelnen hängt davon ab, welches Handlungsmuster er als legitimer ("richtiger") empfindet oder welches für ihn im Falle der Abweichung die unangenehmeren Sanktionen nach sich ziehtl° 1• Jede Rolle bezieht nämlich ihre Wirkung auf den Menschen aus zwei Umständen, nämlich einmal aus dem psychologischen Akt der Verinnerlichung ihrer Verhaltens erwartungen, die dann als richtig und "gerecht" anerkannt werden (internalization)102, und zum anderen aus ihrer Absicherung durch ein System negativer 98 Philipps ebd. S. 30, 26 f. Diese Sicht hat besondere Bedeutung für die juristische Auslegungslehre, vgl. ebd. S. 31-35. 99 Vgl. Gross, Mason, McEachern (Anm. 96), S. 62. 100 Zu diesen beiden Typen von Rollenkonflikten vgl. Dahrendorf (Anm. 87), S.59-61. 101 über eine Theorie der Lösung von Rollenkonflikten vgl. Gross, Mason, McEachern (Anm. 96), S. 281-318. 102 über den Prozeß der Sozialisierung des Individuums durch Verinnerlichung von Verhaltensmustern vgl. Dahrendorf (Anm. 87), S. 44 f., und über seine Bedeutung für die Rechtstheorie Martin Drath: über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und des Rechts, in Festschrift für Leibholz I (1966), S. 35, 66 f.

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oder positiver Sanktionen103 . Je nach Art der Sanktionen kann man die Rollenerwartungen in Muß-Erwartungen, Soll-Erwartungen und KannErwartungen unterteilen, eine Unterteilung, die der Einteilung der sozialen Normen in Recht, Sitte und Brauch entsprichtt0 4 • Während Sitte und Brauch in einer pluralistischen Gesellschaft je nach ihrer Bezugsgruppe, die als Normenautor auftritt, verschieden sind, sind die MußErwartungen des staatlichen Rechts stets nur auf eine Bezugsgruppe abgestellt, nämlich auf die Gesamtgesellschaft, wie sie im Staat repräsentiert wird 105. Dies alles macht deutlich, daß sich der Rollenbegriff in der Tat, wie Julius Stone in seiner kürzlich erschienenen und derzeit umfassendsten Rechtssoziologie sagt, als Schlüsselbegriff für die Analyse des Rechts verwenden läßtt0 6 • Es beweist jedoch noch nicht, daß er sich auch zur Typisierung unserer heutigen Rechtsstruktur eignet; denn man könnte mit guten Gründen einwenden, daß sich ein Rollendenken seit eh und je im Recht finden ließe. Schon immer hat das Kaufrecht die Rolle des Käufers und die Rolle des Verkäufers geregelt, schon immer hat man in gewissem Umfange das Vertrauen des "Sozialpartners" auf das äußere Erscheinungsbild einer Rolle geschützt. Dies ist sicher richtig, doch läßt sich nachweisen, daß im Laufe der Rechtsentwicklung eine Akzentverschiebung stattgefunden hat, die es rechtfertigt, das Rollendenken als gerade für unser heutiges Recht typisch anzusehen. Als nämlich der Rollenbegriff im Jahre 1936 durch den Anthropologen Ralph Linton 107 in die theoretische Soziologie eingeführt wurde, war er untrennbar mit einem uns schon bekannten Komplementärbegriff verknüpft, nämlich mit dem Ausdruck Status10B . Status war für Linton das, was wir bisher als soziale Position bezeichnet haben, nämlich die 103 über das Zusammenspiel von Rollenerwartungen und Sanktionen als Motivationsfaktoren im Prozeß sozialer Interaktion vgl. Julius Stone: Social Dimensions of Law and Justice, 1966, S. 18 f. 104 Vgl. Dahrendorj (Anm. 87), S. 29-31, der allerdings, obwohl er das Recht meint, zu eng nur vom Gesetz spricht. 105 Ebd. S. 40. Dahrendorj verengert wiederum den Rechtsbegriff auf das staatliche Recht der Gesamtgesellschaft, während gerade bei soziologischer Betrachtung auch bei den selbstgeschaffenen Ordnungen gesellschaftlicher Untergruppierungen von Recht gesprochen werden kann, sofern diese Gruppierungen einen eigenen Sanktionsapparat ausgebildet haben, vgl. dazu Rehbinder (Anm. 62), S. 110 f. 106 Stone (Anm. 103), S. 17 (key concept), S. 24 (elementary legal concept). Vgl. im übrigen die Verwendung des Rollenbegriffs in der Rechtstheorie durch Hirsch (Anm. 1), S. 31-35; Drath (Anm. 102), S. 47-75; Philipps (Anm. 97), passim; Madeleine Grawitz: De l'utilisation en droit de notions sociologiques, Vortrag auf dem 6. Weltkongreß für Soziologie in Evian, 1966. 107 über Linton als Begründer des soziologischen Rollenbegriffs vgl. die Bemerkungen von Robert K. Merton: Social Theory and Social Structure, 2. Aufl. 1957, S. 368.

lOB Vgl. Ralph Linton: The Study of Man, Kapital VIII: Status and Röle, Neudruck 1964, S. 113-131.

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Stellung des einzelnen in einem sozialen Beziehungsfeld. Es heißt dort: "A status, in the abstract, is a position in a particular pattern ... As distinct from the individual who may occupy it, (it) is simply a collection of rights and duties109 .'' "A role represents the dynamic aspect of status. The individual is socially assigned to a status and occupies it with relation to other statuses. When he puts the rights and duties which constitute the status into effect, he is performing a role. Role and status are quite inseparable, and the distinction between them is of only academic interest llO ." Innerhalb seines Statusbegriffs traf nun Linton eine Unterscheidung, die für unseren Zusammenhang ausschlaggebend ist, und zwar die Unterscheidung zwischen zugewiesenem und erworbenem Status1ll • Der zugewiesene Status l12 (ascribed status) fällt dem einzelnen aufgrund bestimmter Eigenschaften ohne sein Zutun zu. Er unterliegt, wie Dahrendorf113 sagt, sozusagen einer totalen Zwangsbewirtschaftung und ist nicht beliebig verfügbar. Die Zuweisung erfolgt oft in feierlichen übergangs- oder Initiationsriten 114 • Demgegenüber kann man den erworbenen Status (achieved status) durch eigene Initiative erlangen. Er ist "left open to be filled through competition and individual effort"115. Als Zuordnungs kriterium gilt das Prinzip der Leistung. Anknüpfungspunkt für den Status ist also im ersten Fall eine vom Individuum nicht frei erwerbbare Eigenschaft, im zweiten Fall seine Leistung 116 • Betrachten wir die Möglichkeit des einzelnen, einen neuen, ihm vorteilhaften Status zu erwerben, so läßt sich sagen, daß eine Kasten- oder Stände gesellschaft überwiegend auf dem zugewiesenen Status beruht, der an zumeist irrationale Eigenschaften anknüpft, während eine offene Gesellschaft, in der die einzelnen sozialen Schichten im Prinzip jedem zugänglich sind, durch den erworbenen Status bestimmt Ebd. S. 113. Ebd. S. 114. Diese Terminologie wurde später durch Talcott Parsons aufgenommen. Bei ihm heißt es: "In the formal description of institutions the position of the actor is described by saying that he occupies a status. When he acts in this status he is said to be acting out a role" (Parsons and Edward A. Shits (ed.): Toward a General Theory of Action, 1951, S. 40), und an anderer Stelle: "Role is the dynamic aspect of status, the behavior counterpart of the ideal or expected position defined by status" (Parsons: Essays in Sociological Theory, Pure and Applied, 1949, S. 43). 111 Ebd. S. 115. 112 Dahrendorf (Anm. 87, S.43) übersetzt "ascribed" wörtlich mit "zugeschrieben". Mir scheint "zugewiesen" dem Sinn besser zu entsprechen, so auch Rene König: Institution, in König (Hrsg.): Soziologie, 2. Auf!. 1967, S.144. 113 Ebd. 114 König (Anm. 112) ebd.; Kluth (Anm. 29), S. 55 f. 115 Linton (Anm. 108), S. 115. m Stone (Anm. 103, S.22) hat daher vorgeschlagen, den Gegensatz von ascription und achievement durch quality und performance zu ersetzen. 109

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wird, der auf (rationalen) Leistungen beruht 117 • Soziale Mobilität hängt also davon ab, in welchem Ausmaß eine Gesellschaft die Stellung des einzelnen an seiner Leistung orientiert. Dies hat Stone veranlaßt, Maines Fortschrittsthese soziologisch umzuformulieren. Die Entwicklung von Status zu Kontrakt ist genauer betrachtet "a movement from ,ascriptive' status, fixed by birth and family rights, to status acquired on the basis of individual achievement" 118. Auch für Linton 119 waren Zeiten sozialen Wandels, insbesondere die Zeit nach dem Zusammenbruch der europäischen Klassengesellschaft, durch einen Reichtum an "achievable statuses" charakterisiert. Inzwischen hat sich allerdings eine Annäherung der soziologischen Terminologie an die juristische vorbereitet. Heute wird zunehmend nur noch der zugewiesene Status als Status bezeichnet, während man bei dem durch Leistung erworbenen Status nur noch von erworbener Position spricht. Status ist also in neuerer Sicht nur eine bestimmte Art von Position, nämlich die Position in einem hierarchischen Ordnungssystem 120 • Demnach müßte man an sich die heutige Rechtsstruktur als ein Recht von Leistungspositionen bezeichnen. Wenn hier gleichwohl am Rollenbegriff festgehalten wird, so deshalb, weil dadurch der dynamische Aspekt betont werden soll, der sich im Recht als Übergang vom Substanzdenken (Seinsdenken) zum Funktionsdenken bemerkbar macht. Für die Soziologie ist dies bereits von Arnold Gehlen hervorgehoben worden. Gehlen beklagt die fehlende Würde unserer Zeit, die sich in einer dauernden Revolte gegen das Institutionelle befinde: "Dies wieder ist möglich, weil moderne Institutionen, z. B. politische oder juristische, sich nur fallweise verkörpern, ihre Dauer hängt an der abstrakten Geltung gedruckter Normensysteme. Der Status im seinsmäßigen Sinne geht damit verloren, er weicht dem Begriff der "Rolle", der mit abstrakten Rechten und Pflichten ausgestatteten Funktion, nur die Kirche hält ihn noch fest und, in Resten, das Militär: da, wo es schlechthin Ernst wird und die höhere Geltung der Institution gegenüber dem Einzelnen unter allen Umständen gelebt werden muß, kommt man ohne ihn nicht aus. Die moderne Übersetzung aller Seinsbegriffe in Funktionsbegriffe gilt sonst auch im gesellschaftlichen Bereich 121 ." Sicher wird man den larmoyanten Kulturpessimismus von Gehlen nicht 117 Vgl. William F. Ogburn and Meyer F. Nimkoff: A Handbook of Sociology, 5. Aufl. 1964, S. 377. 118 So Stone (Anm. 103), S. 639. 119 a. a. O. (Anm. 108), S. 129 f. 120 Vgl. schon Siegfried F. Nadel: The Theory of Social Structure, 1957, S. 29: "I would restrict (status) to hierarchical position"; ferner Dahrendorf (Anm. 87), S. 53 f., und Frederick L. Bates: Position, Role, and Status: A Reformulation of Concepts, in Social Forces 34 (1956), S. 313-321. 121 Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur, 1956, S. 234.

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teilen können 122 • Im Gegenteil: Nur ein Denken in Rollen, die sich mit ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Funktion wandeln, nicht ein Denken in seinsbezogenen Status qualitäten kann unserer dynamischen, offenen Gesellschaft gerecht werden. Wir bejahen diese unsere Gesellschaftsform, weil sie dem Einzelnen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung bietet, die ihm in statischen Gesellschaften verschlossen sind 123. Zwar führt unsere heutige Entwicklung, und damit kommen wir auf unseren Ausgangspunkt zurück, bei vielen zu Unsicherheit und Frustration. Ein leistungsorientiertes Sozial system fordert den Menschen ständig von neuern. Sein Versagen kann immer weniger mit "angeborenem", unabwendbarem Schicksal 124 gerechtfertigt werden. Es kann kein Zweifel sein, daß der Status innerhalb hierarchisch festgefügter Ordnungen dem einzelnen das Gefühl größerer Sicherheit gibt1 25 . Aber wir sollten nicht verkennen, daß das Rollenrecht des Sozialstaates bereits einen praktischen Komprorniß zwischen Sicherheit und Freiheit darstellt. Während nämlich das Kontraktsrecht dem Menschen die Last aufbürdete, seine Rechtsposition individuell zu gestalten, stellt ihm das Rollenrecht bestimmte staatlich vorgeformte und abgesicherte Verhaltenschemata und Positionen zur Auswahl. Mit zunehmender Differenzierung des Soziallebens müssen immer mehr solcher Rollen vorgeformt und abgesichert werden, was zu einem Anwachsen des Rechtsstoffes, zu der von Werner diagnostizierten "Konjunktur des Rechts"126 führt. Die "juridifizierte Welt des Sozialstaates"127 ist in diesem Sinne Ausdruck einer zunehmenden Sozial sicherung durch Festlegung dynamischer Erwartungschancen 128. Die Freiheit des einzelnen besteht heute also weniger in einer Freiheit der Rollengestaltung als in einer Freiheit der Rollenwahl. Diese Kombination unseres Sozialsystems von "personal mobility with relation al stability"129 ist aber auch das Kennzeichen des modernen Rechts: Es ist ein Recht staatlich vorgeformter und abgesicherter, jedoch stets in Wandlung begriffener und offener Rollen. 122 Deutlich gegen diese und ähnliche Niedergangsphilosopheme Rene König: Soziologische Orientierungen, 1965, S. 80-91. 123 Vgl. näher Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (Titel der Originalausgabe: The Open Society and Its Enemies). 2 Bde, 1957/58. 124 Im Gegenteil wird heute solches Schicksal als "einklagbarer Rechtsverlust" betrachtet, vgl. Werner (Anm. 5), S. 10-12 und BGH in NJW 1967, S. 621 f. 125 Vgl. Stone (Anm. 103), S. 639; Kluth (Anm. 29), S. 84; Linton (Anm. 108), S. 130 f. 128 Werner (Anm. 6), S. 161. über die zunehmende Differenzierung sozialer Positionen vgl. Dahrendorf (Anm. 87), S. 24. 127 Ebd. S. 162. 128 So insbesondere Drath (Anm. 102), S.63, der dazu bemerkt: "Die soziale Friedensfunktion des Rechts besteht nicht mehr nur in der Verhinderung und dem Ersatz von Selbsthilfe, sondern vor allem in der Verschaffung der sozialen Chancen und Mittel zur Erfüllung mannigfaltiger Bedürfnisse der einen unter Zurücksetzung, ja Belastung der anderen." 129 Vgl. Sawer (Anm. 80), S. 69.

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Beweisregeln im Strafprozeß " ... durch zweier Zeugen Mund Wird allerwegs die Wahrheit kund". Diese volkstümliche, nicht erst durch Goethe zum geflügelten Wort gewordene Beweisregel ist 1532 aus dem kanonisch-italienischen Recht! mit dem Art. 67 der Carolina deutsches Reichsrecht geworden: "Item so eyn missethat zum wenigsten mit zweyen oder dreien glaubhafftigen guten zeugen, die von eynem waren wissen sagen, bewiesen wirdt, darauff soll, nach gestalt der verhandlung mit peinlichen rechten volfarn vnd geurtheylt werden." In den voraufgehenden Artikeln wird auch gesagt, was keine "guten" Zeugen sind: "vnbekante Zeugen" (Art. 63), "belonte zeugen" (Art. 64), Zeugen, die "vonn frembdem hören sagen würden" (Art. 65). Die Bambergensis hatte außerdem verlangt, daß Zeugen "nit vnter zweinzig jarn alt, auch nit weybs bildt sein" sollten (Art. 76 b). Auf diese Einschränkung verzichtete die Carolina absichtlich; in den beiden Entwürfen von 1521 und 1529 hatte sie noch gestanden. Art. 66 der Carolina forderte nur allgemein: "Gnugsame zeugen seindt die, die vnbeleumbdet, vnd sunst mit keyner rechtmessigen vrsach zuuerwerffen sein." Was solche "gnugsamen" Zeugen selbander bekundeten, mußte das Gericht glauben; hatte man sie nicht, so brauchte man ein Geständnis. Zu dessen Herbeiführung diente die Folter; sie setzte aber einen Indizienbeweis ("gnugsame anzeygung") voraus. Als "gnugsame anzeygung" galt allgemein der Beweis "mit eynem guten zeugen" (Art. 23), also "eyn halb beweisung". Sodann war ausdrücklich geregelt, was allgemein (Art. 25-32) und was für die einzelnen Delikte (Art. 33: Mord; Art. 34: Totschlag; Art. 35, 36: Kindestötung; Art. 37: Vergiftung; Art. 38: Raub, usw.) als zur Folterung hinreichendes Beweisanzeichen gelten könne. In diesen sehr ausführlichen Regeln steckte ein bedeutender Schatz an Erfahrung und Menschenkenntnis. Die Greuel der Hexenprozesse wurden weniger durch diese Vorschriften ermöglicht, als dadurch, daß man bei crimina atrocissima glaubte, sich über sie hinwegsetzen zu können. Solche Mißbräuche und der berechtigte Abscheu vor der Folter haben den Spä1

Vgl. R. von Rippel, Deutsches Strafrecht I (1925) S. 209 bei Anm. 8.

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teren ein wenig den Blick dafür getrübt, daß diese erste "Reichsstrafprozeßordnung" von einem sehr entschiedenen Willen beseelt war, Willkür unmöglich zu machen und ein faires Verfahren zu gewährleisten. Als der gemeine Strafprozeß völlig degeneriert war, schlug das Pendel zu dem anderen Extrem aus. Art. 342 des französischen Code d'instruction criminelle vom 17. 11. 1808 schrieb vor, daß die Geschworenen mündlich und schriftlich "in Fettdruck" (en gros caractere) wie folgt zu belehren seien: "La loi ne demande pas compte aux jures des moyens par lesquels ils se sont convaincus; elle ne leur prescrit point de regles desquelles ils doivent faire particulierement dependre la plenitude et la suffisance d'une preuve: elle leur prescrit de s'interroger eux-memes dans le silence et le recueillement, et de chercher, dans la sincerite de leur conscience, quelle impression ont faite sur leur raison les preuves rapportees contre l'accuse, et les moyens de sa defense. La loi ne leur dit point: Vous tiendrez pour vrai tout jait atteste par tel ou tel nombre de temoins; elle ne leur dit pas non plus: Vous ne regarderez pas comme suffisamment etablie, taute preuve qui ne sera pas jormee de tel proces-verbal, de teIles pieces, de tant de temoins ou de tant d'indices; elle ne leur fait que cette seule question, qui renferme toute la me sure de leurs devoirs: Avez vous une intime conviction?"2 Eine entschiedenere Palinodie zu den Beweisregeln der Carolina läßt sich nicht denken. Als bei uns um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Schwurgerichte eingeführt wurden, entfernte man mit einem Schlage aus den Gerichten erstens die Regeln, nach denen die Tatfrage zu beurteilen war, zweitens die Sachkunde, die zu solcher Beurteilung gehörte, und drittens die Kontrolle, die nur anhand schriftlicher Urteilsgründe möglich gewesen wäre. Noch der § 261 (260 a. F.) unserer Strafprozeßordnung vom 1. 2. 1877 meinte mit der "freien ... überzeugung" des Gerichts gewiß eben das, was der Code d'instruction criminelle die "intime conviction" genannt hatte. Wer gewöhnt ist, das Recht, ganz besonders auch das Verfahrensrecht als einen Gegenstand geschichtlicher Entwicklung zu betrachten, würde sich sehr wundern, wenn das Pendel dieser Entwicklung irgend wann einmal bei einem so extremen Ausschlag stehen bliebe. Gerade die lebendige Kraft, die es bis zu diesem äußersten Punkt geführt hat, gerade sie führt es nach einem Augenblick der Ruhe auch wieder zurück. Während noch in allen Darstellungen unseres Strafprozeßrechts die freie Beweiswürdigung als einer der großen Grundsätze unseres Verfahrens gefeiert wird, haben sich in aller Stille und Unauffälligkeit eine ganze Reihe von Beweisregeln herausgebildet. Das ist nicht mit reformerischem Eifer ge!

Alle Hervorhebungen vom Gesetzgeber.

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schehen, nicht mit dem Getöse, mit dem die kreißenden Berge unserer Gesetzgebung nach viereinhalbjährigen Wehen eine so lächerliche Maus wie das Strafprozeßänderungsgesetz vom 19. 12. 1964 (BGBL S. 1067) geboren haben, das fast alles schlimmer gemacht hat, was es besser machen wollte. Vielmehr kommen diese Beweisregeln, wie so vieles Bedeutende auf dem Gebiet des Rechts, fast unbemerkt, Schritt für Schritt, von Fall zu Fall, wie einer, der viel Zeit hat, und in mancherlei Verkleidungen. Sie wachsen langsam als das Ergebnis einer natürlichen, einer nicht aufzuhaltenden Entwicklung. Gewiß ist sie auch noch nicht abgeschlossen. Wie die Abschaffung der Beweisregeln mit der Einführung des Schwurgerichts einherging, so legte die Abschaffung der Schwurgerichte (alten Stils) den Grund für die Entstehung neuer Beweisregeln. Das wurde nicht bewußt ins Werk gesetzt; der zweite Zusammenhang ist nicht annähernd so spektakulär wie der erste war. Die Schwurgerichte mit ihrer Laienherrschaft über die Tatsachen, mit ihren Wahrsprüchen, mit ihrer "intime conviction", für die keine Gründe gegeben wurden, hatten sich überlebt. Schon bald nach Inkrafttreten der Strafprozeßordnung begann die Kritik an ihnen laut zu werden, begannen offensichtliche Fehlsprüche Aufsehen zu erregen, begann man nach einer Berufungsinstanz über dem Schwurgericht zu rufen. Die Auslegung der wichtigsten Bestimmungen des Strafgesetzbuches durch das Reichsgericht litt Not, soweit die Schwurgerichte zuständig waren. Vor 1924 ist das Reichsgericht nur ein einziges Mal dazu gekommen, sich näher über das damalige Mordmerkmal der Ausführung "mit Überlegung" (StGB § 211 a. F.) zu äußern; und das auch nur, weil einmal ein Jugendlicher wegen Mordversuchs angeklagt war, für dessen Aburteilung die Strafkammer zuständig war 3 • Schließlich bedurfte es nur noch eines ganz äußerlichen Anstoßes, um die Schwurgerichte zu Fall zu bringen. Die Geldknappheit des Jahres 1924 gab diesen Anstoß. Es bedurfte nicht einmal mehr eines Gesetzes, sondern nur noch einer Verordnung (vom 4.1. 1924, RGBL I S. 11), um dem Spuk ein Ende zu machen. Diese Verordnung brauchte nicht einmal einen ausdrücklichen Satz daran zu wenden, daß von nun an alle Schuldsprüche, die bisher nur mit den Worten "ja, mit mehr als sieben Stimmen" begründet worden waren, eine nähere Schilderung des Sachverhalts voraussetzten. Gewiß hatte es auch schon früher solche begründeten Urteile gegeben, nämlich in Strafkammer- und Schöffengerichtssachen. Aber man versteht, daß das Revisionsgericht diese verhältnismäßig weniger schwerwiegenden Sachen nicht leicht zum Anlaß von Eingriffen nahm, die in den causes celebres ohnehin nicht möglich waren. Damals waren die Schwurgerichte ja noch für fast alle Verbrechen zuständig, die mit mehr als fünf Jahren Zuchthaus bedroht waren (GVG §§ 73, 80 a. F.). 3

RGSt 42, 260.

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Das begann sich nunmehr zu ändern, zunächst sehr langsam, später etwas schneller. Der Zwang, die tatsächlichen Feststellungen zu begründen, bedeutet im Grunde schon das Ende der ganz freien Beweiswürdigung. Freilich wollte das Gesetz selbst diesen Zwang wohl kaum ausüben. Bis heute lautet § 267 Abs. 1 StPO unverändert: "Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen (!) auch diese Tatsachen angegeben werden." Hielte man sich an diesen Wortlaut, so wäre bei Geständnis und bei Zeugenbeweis kein Wort auch nur darüber erforderlich, daß der Angeklagte geständig war oder daß Zeugen vernommen worden sind; und auch beim Indizienbeweis wäre das Fehlen jeder Beweiswürdigung kein Revisionsgrund - warum sonst das Wort "sollen" im Unterschied zu dem Wort "müssen" im ersten Satz? Die Reichstagskommission wollte den Tatrichter insoweit "einer Art von Selbstkontrolle'" unterwerfen - keiner Kontrolle durch das Revisionsgericht. Aber auch ohne gesetzlichen Zwang haben die Tatgerichte in steigendem Maß das Bedürfnis empfunden, das Revisionsgericht von der Richtigkeit ihrer Feststellungen zu überzeugen; sie haben die tatrichterliche überzeugung nicht nur niedergeschrieben, sondern sie durch immer detailliertere Angabe ihrer Gründe gleichsam zur Diskussion gestellt; und die Revisionsgerichte haben sich auf diese Diskussion ebenfalls in steigendem Maße eingelassen. Einen gewissen Höhepunkt hierin erreicht der Bundesgerichtshof mit dem Leitsatz: "Gibt der Tatrichter die für seine überzeugungsbildung verwerteten Beweisanzeichen in den Urteilsgründen an, so muß er sie im Urteil lückenlos (!) zusammenfügen und unter allen (!) für ihre Beurteilung maßgeblichen Gesichtspunkten würdigen 5 ." Die Entscheidung erklärt ganz offen, daß sie das verlangt, um ettvaige Denkfehler oder Verstöße gegen Erfahrungssätze zu entdecken, die sich vielleicht hinter der überzeugung des Tatrichters verborgen halten möchten. Diese überzeugung selbst bezog sich in jenem Falle indes auf etwas ganz Einfaches, nämlich darauf, daß der Angeklagte im Augenblick eines Unfalls derjenige gewesen war, der am Steuer gesessen hatte - eine überzeugung, die, für sich betrachtet, schlechterdings weder denkfehlerhaft noch erfahrungswidrig sein kann. Aber man sieht: das Revisionsgericht nötigt den Tatrichter, über die Grundlagen dieser überzeugung mit ihm auf das Eingehendste zu diskutieren. Angefangen hatte der Tatrichter. Das Revisionsurteilläßt erkennen, daß das angefochtene Urteil schon ein ziemlich ausführliches Räsonnement enthielt, beruhend auf zwei Sachverständi4

Prot. S. 405 ff., 975 ff.; vgl. auch Löwe StPO, 3. Auf!. 1882, Anm. 5 zu § 266

5

BGHSt 12, 312.

(a. F.).

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gengutachten. Aber nun beginnt das Revisionsgericht, mit dem Tatrichter darüber zu streiten. Wenn man erst einmal so weit ist, liegt die Aufstellung von Beweisregeln sehr nahe. Als rechtliche Grundlage diente hier die bloße Sachrüge. Der Bundesgerichtshof räumt ausdrücklich ein, "daß der Strafrichter verfahrens rechtlich nicht verpflichtet ist, die für seine überzeugungsbildung verwerteten Beweisanzeichen im Urteil anzuführen, und daß eine Verletzung der Ordnungsvorschrift (!) des § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO die Revision nicht begründen kann". Aber auch das Verfahrensrecht dient als Ausgangspunkt für die Aufstellung revisionsrichterlicher Beweisregeln. Insbesondere gilt das von der Aufklärungsrüge des Angeklagten. Sie hat sich ebenfalls erst nach der Abschaffung der Schwurgerichte alten Stils entwickelt. Bis dahin gab es nur Aufklärungsrügen der Staatsanwaltschaft. Das galt auch für die Sachen, in denen schon damals Urteilsgründe geschrieben werden mußten, also für die Strafkammer- und Schöffengerichtssachen. Der Ausgangspunkt war, daß die Revisionsgerichte anfänglich, ganz im Sinne des § 261 StPO, jede noch so wunderliche überzeugung des Tatrichters mit einem geradezu schmiedeeisernen Respekt behandelten. Im Jahre 1893 hatte das Reichsgericht 6 den Fall zu entscheiden, daß ein Braumeister 70 hl Bier verkauft hatte, worin eine Katze mitgesotten war. Es hob das freisprechende Urteil der Strafkammer auf, indem es sagte, das Landgericht hätte feststellen müssen, "ob der Gehalt an minimalen fleischlichen überbleibseln einer Katze und an verkochter Auflösung ihrer übrigen Bestandteile der normalen Beschaffenheit des Bieres entspricht (!), und wenn nicht, ob er nach allgemeiner Auffassung der Konsumenten eine Veränderung zum Schlechteren mit der Folge verminderter Tauglichkeit und Verwertbarkeit begründet. Erst wenn auch dies verneint, etwa wenn angenommen wird, das Verhältnis der tierischen Teile zu einem Sude von 70 Hektolitern sei so geringfügig, daß das Publikum darin keine Verschlechterung findet, läßt sich die Annahme des Eröffnungsbeschlusses, das Bier sei verdorben gewesen, verneinen. Hierüber hat sich aber das Urteil nicht ausgesprochen". Mit anderen Worten: das Reichsgericht erklärt sich bereit, solche Feststellungen hinzunehmen - und das in Bayern, wo seit 1516 das "unbedingte Reinheitsgebot" (nur Gerste, Hopfen, Wasser) gesetzlich festgelegt ist. Aufklärungsrügen konnten damals darauf gestützt werden, daß der Tatrichter eine bestimmte, zur Verurteilung erforderliche überzeugung nicht gewonnen hatte. Nur dagegen konnte damals eingewendet werden, er habe sich eben nicht genügend bemüht. Gerade der Umstand, daß er zu einer bestimmten überzeugung nicht gelangt war, hätte ihm Anlaß geben sollen, sich zu fragen, ob nicht irgendwo weitere geeignete Beweismittel zu finden seien. Eine Verurteilung dagegen, die auf einer vorhandenen über• RGSt 23. 409.

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zeugung beruhte, war mit der Aufklärungsrüge nicht angreifbar. Auch für solche Angriffe gab erst der allgemeine Begründungszwang das Startzeichen. Die erste bekannte Entscheidung, in der eine Aufklärungsrüge des Angeklagten Erfolg hatte, stammt aus dem Jahre 19287 • Nach einer literarischen Fehde zwischen Alsberg und Schneidewin trat die Aufklärungsrüge ihren Siegeszug ans. Damit stellte sich alsbald eine Aufgabe, deren Betrachtung in das Zentrum unseres Themas zurückführt. Wann muß der Revisionsrichter eine tatrichterliche Überzeugung als bindend hinnehmen, und wann darf, wann soll er auf entsprechende Rüge des Angeklagten sagen: ehe du, der Tatrichter, dich dieser Überzeugung überließest, hättest du überlegen müssen, ob nicht vielleicht (auch ohne Beweisantrag) die Benutzung weiterer Beweismittel dir ein andere Überzeugung vermittelt oder doch wenigstens diese Überzeugung erschüttert, in ein non liquet verwandelt hätte? In zahlreichen Fällen mag das eine Frage der besonderen Beschaffenheit des einzelnen Falles sein. Aber was ist verständlicher, berechtigter, notwendiger, als daß die Revisionsgerichte angesichts dieser Schwierigkeit alsbald den Versuch machten, für dieses Problem oder doch wenigstens für bestimmte Gruppen solcher Fälle Regeln zu finden? Und solche Regeln sind Beweisregeln. Bei ihrer Aufstellung stützen die Revisionsgerichte sich oft auf die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung. Wo sie greifbare und zuverlässige Erfahrungen darzubieten hat, wird die Freiheit der tatrichterlichen Beweiswürdigung beschnitten. Diese Fälle von Beweisregeln sind sehr zahlreich, und sie sind auch eindrucksvoll wegen der entschiedenen Sprache, die hier geführt zu werden pflegt. Wo ein Tatrichter nicht an die Naturwissenschaft glaubt, da verstehen die Revisionsgerichte keinen Spaß; da lassen sie die Freiheit seiner richterlichen Überzeugung schlechterdings nicht gelten. So hat der Bundesgerichtshof9 gesagt: "Gewiß ist der Richter berechtigt und verpflichtet, an Hilfsmittel, die ihm die Naturwissenschaft zur Ermittlung der Wahrheit bietet, strenge Anforderungen zu stellen. Dabei dürfen aber Erkenntnisse nicht außer Acht bleiben, die wissenschaftlich allgemein als gesichert gelten. Dazu gehören auch zahlreiche Ergebnisse der erbkundlichen Vergleichung. Entscheidend ist, ob die dem Gutachten zugrundegelegte Lehre in den maßgebenden Fachkreisen allgemein und zweifelsfrei als richtig und zuverlässig anerkannt ist. Steht das fest, so muß der Richter sie als richtig hinnehmen, selbst wenn er ihre Grundlagen, was bei neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen häufig zutreffen wird, im einzelnen RG NJW 1928, 1506 Nr. 22. über Einzelheiten dieser Entwicklung Sarstedt, Die Revision in Strafsachen 4. Aufl. 1962 S. 162 ff. g BGHSt 5, 34. 7

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nicht selbst erschöpfend nachprüfen kann." - Wo bleibt hier (von "freier" überzeugung ganz zu schweigen) die eigene überzeugung des Richters? Hier wird dem Richter mit dürren Worten gesagt: auf deine überzeugung kommt es überhaupt nicht an, sie ist ganz gleichgültig; entscheidend ist die überzeugung ganz anderer Leute, nämlich die der "maßgebenden Fachkreise" ; wenn die überzeugt sind, dann mußt du verurteilen, gleichgültig sogar, ob du das überhaupt begreifen kannst! Das darf man doch wohl eine Beweisregel im strengen Sinne nennen. Und sie ist nicht etwa eine rara avis; Entscheidungen dieser Art gibt es zu Dutzenden. "Die Messung der Fahrgeschwindigkeit eines Kraftfahrzeugs durch ein nachfolgendes Polizeifahrzeug ist zuverlässig, wenn die von der Rechtsprechung erforderten Voraussetzungen für die Ausschaltung von Fehlerquellen beachtet werden", sagt das Kammergerichtl°. "Bei Verkehrsradarmessung ist es für die Zuverlässigkeit des Meßergebnisses ohne Bedeutung, ob der ablaufende Verkehr von rechts oder von links gemessen wird", und "vieljähriger, dichter Wald in der Nähe des gemessenen Fahrzeugs ist nicht geeignet, eine Doppelreflexion herbeizuführen", sagt das Oberlandesgericht Celle l l • Das kann man doch unmöglich als Sätze des sachlichen Strafrechts auffassen; es sind Beweisregeln, aufgestellt und veröffentlicht von Revisionsgerichten. "Einem Blutgruppengutachten, nach dem auf Grund der Merkmale At und A2 die Vaterschaft eines Mannes ausgeschlossen ist, kommt bei dem heutigen Stande der wissenschaftlichen Erkenntnis unter der Voraussetzung fehlerfreier Bestimmung der Merkmale unbedingte, jeden Gegenbeweis grundsätzlich ausschließende Beweiskraft zu 12 ." - Und wie, wenn der Tatrichter das nicht glaubt? Er möchte vielleicht einwenden, daß die ganze Lehre von der Vererblichkeit der Blutgruppen sich erstens auf ein Material gründet, das nur einen winzigen, nicht einmal in Promille auszudrückenden Teil der Menschheit umfaßt, und daß diese Forschungen zweitens in jedem einzelnen Fall auf Hörensagen angewiesen sind, auf die Angaben von Frauen nämlich, von denen ein großer Teil ein naheliegendes Interesse haben kann, über die Person des Mannes oder der Männer, mit denen sie Verkehr gehabt haben, unrichtige Angaben zu machen. Wie weit - so könnte der Tatrichter sich fragen - mögen die Forscher sich auf den Satz verlassen haben: "pater est quem nuptiae demonstrant"? Es war keine der Frauen, auf deren Angaben die ganzen zugrundeliegenden Forschungen beruhen, auch nur verpflichtet, dem Untersucher die Wahrheit zu sagen. Diese Einwände sind nicht unsere Einwände, und es gibt Antworten darauf; aber wenn die Antworten nun 10

11

VRS 31, 71. JR 1966, 474.

12 BGH LM Nr. 24 zu § 261 StPO; man vergleiche das mit dem Text dieser Vorschrift!

12 Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch

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dem Tatrichter, der die Verurteilung verantworten soll, nicht einleuchten? Da möchte man doch wenigstens eine tragfähige Rechtsgrundlage für eine so offensichtliche Abweichung von dem gesetzlichen Grundsatz der freien Beweiswürdigung haben. Nur gelegentlich haben die Revisionsgerichte versucht, sie zu geben. "Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung bedeutet nicht, daß der Richter nunmehr von jeder Bindung losgelöst ist (die Geschworenen waren es früher, und § 261 StPO ist seitdem nicht geändert worden!). Er ist unter die Gesetze des Denkens und der Erfahrung gestellt und hat diese Gesetze bei der Feststellung von Tatsachen zu beachten. Ihre Nichtbeachtung ist Verletzung des Gesetzes im Sinne des § 337 StPO und kann die Revision begründen 13 ." - Nun freilich: wenn der Satz, daß ein Kind mit der Blutgruppe A von einer Mutter mit der Blutgruppe 0 nicht von einem Manne mit der Blutgruppe B erzeugt sein kann - wenn dieser Satz ein Rechtssatz ist, dann ist er revisibel. Aber ist er wirklich ein Rechtssatz? Das wären doch seltsame Rechtssätze, die nicht von den gesetzgebenden Körperschaften beschlossen werden, nicht im Bundesgesetzblatt stehen, nicht in den Studierstuben der Rechtsgelehrten herausgearbeitet, sondern in den Retorten der Naturwissenschaftler entdeckt werden, und bei deren gerichtlicher Anwendung die Gerichte nur als ein nervis alienis mobile lignum tätig werden; Rechtssätze, die man auch nicht als Gewohnheitsrecht auffassen kann, weil die Zeitdauer ihrer bisherigen Anwendung gar keine Rolle spielt, eine Art von "opinio necessitatis" vielmehr nur aus der überzeugungs kraft naturwissenschaftlicher Methoden abgeleitet wird; Rechtssätze, die dadurch Geltung erlangen, daß die "maßgebenden Fachkreise" des betreffenden Zweiges der Naturwissenschaft über sie einig werden - die dabei nicht im Traume daran denken, daß es Rechtssätze sein sollen, über die sie sich da einig werden. Und das Auffallendste ist, daß die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse wie Sätze des sachlichen Rechts behandelt werden, indem die Revisionsgerichte ihre Verletzung auch ohne Verfahrensrüge beanstanden. Bei der zuletzt genannten Entscheidung 13 hatte die Revision der Staatsanwaltschaft geltend gemacht, "das Landgericht habe bei der Beweiswürdigung die allgemein anerkannten Erfahrungssätze der Wissenschaft hinsichtlich des Beweiswertes der Blutgruppenbestimmung fehlerhaft nicht angewandt". Ist das eine Verfahrensrüge oder eine Sachrüge? Nach hergebrachten Regeln sollte man denken, es sei keines von beiden. Das Landgericht hatte vier Sachverständige gehört, von denen drei die Vaterschaft eines als Erzeuger in Anspruch genommenen Mannes verneint hatten, weil ein NKind nicht von einem M-Elter abstammen könne, während der vierte auf Grund erbbiologischer Untersuchung die Vaterschaft "mit hoher Wahrscheinlichkeit" bejaht hatte. Bei diesem Beweisergebnis hatte das Land13

BGHSt 6, 72.

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gericht seine Zweifel nicht überwunden und zugunsten der Angeklagten entschieden. Als Sachrüge läßt sich der Vortrag der Staatsanwaltschaft nicht auffassen; jedenfalls hätte sie als solche nach der überkommenen Auffassung des Revisionsrechts nicht zum Erfolge führen können. Die Angeklagte hatte beschworen, nur mit dem in Anspruch genommenen Manne verkehrt zu haben; das Landgericht hatte die Überzeugung, daß das Kind von einem anderen Manne abstammen müsse, nicht gewonnen; also beruht der Freispruch von der Meineidsanklage auf richtiger Anwendung des Satzes "in dubio pro reo", ein Fehler in der rechtlichen Subsumtion liegt nicht vor. Und als Verfahrensrüge hätte sich vielleicht vortragen lassen, das Landgericht hätte versuchen sollen, ob es durch die Vernehmung noch weiterer Sachverständiger eine Überzeugung gewinnen konnte. Aber das trug die Revision eben nicht vor. Vielmehr machte sie geltend, der Tatrichter habe die erhobenen Beweise falsch gewürdigt. Das ist genau das, wovon in Hunderten von Anträgen auf Beschlußverwerfung (§ 349 Abs. 3 Satz 2 StPO) immer wieder gesagt wird, es sei unzulässig. Welchem von mehreren Sachverständigen der Tatrichter folgt, ist grundsätzlich ebenso allein von ihm zu verantworten wie die Entscheidung, welchem von mehreren Zeugen er folgt. Gleichwohl wird dem Bundesgerichtshof im Ergebnis beizustimmen sein. Nur wird es nicht angehen, die Nichtbeachtung eines Naturgesetzes als "Verletzung des Gesetzes" im Sinne des § 337 StPO aufzufassen; vielmehr wird man erkennen und einräumen müssen, daß die Rechtsprechung hier im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einer radikalen Korrektur des geschriebenen Verfahrensrechts gelangt ist. Es ist ein Denkfehler, Natur-"Gesetze" den Rechtsnormen gleichzusetzen, nur weil beides in unserer Sprache "Gesetz" genannt werden kann. Die "Gesetze", die § 337 StPO meint, sind nur die Rechtsnormen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß sie von Menschen an Menschen gerichtet sind, und daß die Adressaten ihnen Gehorsam leisten oder auch zuwiderhandeln, sie - wie § 337 StPO sagt - "verletzen" können. N atur-" Gesetze" kann man nicht" verletzen ". Man kann sie erkannt oder nicht erkannt haben, man kann über sie irren, man kann sie verifizieren oder falsifizieren - es kann sich herausstellen und hat sich schon öfters herausgestellt, daß das, was man für ein Naturgesetz gehalten hat, keines war; aber zuwiderhandeln kann man einem Naturgesetz, das wirklich eines ist, auf keine Weise. Eine Rechtsnorm kann lauten, daß der Tatrichter bei seiner Beweisführung die bekannten Naturgesetze in Betracht zu ziehen habe, und daß es dem Revisionsrichter zustehe, ihn dabei zu überwachen. Unser geschriebenes Recht weiß nichts von dieser zweiten Rechtsnorm. Die Revisionsgerichte haben sie aufgestellt, sie verfestigen sie von Tag zu Tag mehr, und die Tatrichter fügen sich. Sie rechnen die Mahnungen des Revisionsgerichts, sich bei ihrer Beweiswürdigung an die Erfahrungen der Naturwissen12·

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schaft zu halten, ohne Ausnahme zu dem, was § 358 Abs. 1 StPO "die rechtliche Beurteilung" nennt und für bindend erklärt. Hier dürfte in der Tat durch jahrzehntelange Übung schon Gewohnheitsrecht entstanden sein; die "opinio necessitatis" besteht in der allgemeinen Einsicht, daß eine Wahrheitsfindung, die diesen Namen verdient, heutzutage eben gar nicht mehr anders möglich ist. Es handelt sich nicht um sachliches, sondern um Verfahrens recht. Die Beweisregel, daß naturwissenschaftliche Erfahrungen im Gerichtssaal berücksichtigt werden müssen, wendet man bei der Feststellung der tatsächlichen Grundlagen für den gerichtlichen Strafausspruch an; und die Ermittlung und Feststellung solcher Tatsachen gehört nach allen bekannten Definitionen zum Verfahren, während das sachliche Strafrecht die rechtlichen Grundlagen solcher Urteile regelt. Es sei der Vorschlag gestattet, diese einfachen und grundlegenden Unterscheidungen an ihrem Orte zu lassen und sie nicht durcheinanderzubringen, nur um einer Unbequemlichkeit bei der Erreichung des Zieles aus dem Wege zu gehen, das wir nun einmal glauben erreichen zu müssen. Diese Unbequemlichkeit besteht darin, daß wir nun weiterhin zugeben müssen, wie weit wir uns auch insoweit von dem überkommenen Revisionsrecht entfernt haben und zu neuen Regeln gelangt sind. Wir beanstanden diese Verfahrensverstöße, die Verletzung dieser Beweisregeln, ohne Verfahrensrüge, trotz § 344 Abs. 2 Satz 2 StPOl Auch das wird man für eine zwar tiefgreifende, aber erlaubte richterliche Fortbildung unseres Verfahrensrechts halten dürfen. Es sei daran erinnert, daß es auch andere Verfahrensverstöße gibt, die ohne ausdrückliche Rüge, ohne Angabe der betreffenden Tatsachen in der Revisionsbegründung, nachgeprüft werden: nämlich die Verfahrenshindernisse und das Fehlen der Verfahrensvoraussetzungen, außerdem auch der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO. Der innere Grund dafür, aus dem diese Prüfung ohne Rüge auch auf die Verletzung von Beweisregeln erstreckt wird und erstreckt werden darf, liegt darin, daß solche Verletzung sich, ebenso wie die Verletzung sachlichen Rechts, immer nur aus den schriftlichen Urteilsgründen ergeben kann. Sie muß das Revisionsgericht auf die Sachrüge ohnehin lesen, wodurch ihm die Tatsachen, in denen dieser Verfahrensverstoß liegt, zwangsläufig bekannt werden; die Mitteilung anderer Tatsachen ist dem Revisionsführer insoweit gar nicht möglich. Wir haben nicht nur die Beweisregel, daß unverbrüchliche Naturgesetze bei der Tatsachenfeststellung berücksichtigt werden müssen. Vielmehr beginnen die Revisionsgerichte, Beweisregeln auch auf Grund gewöhnlicher Erfahrungen aufzustellen, die Ausnahmen zulassen. Schon vor längerer Zeit hat der Bundesgerichtshof14 gemeint, wenn ein Zeuge 14

BGHSt 5, 278; ebenso 11, 29.

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bekunde oder ein Angeklagter behaupte, ein längeres Schriftstück habe einen bestimmten Wortlaut, dann dürfe das Gericht ihnen das nicht glauben. Das ist in der Tat eine Beweisregel wie aus der Carolina. Das Urteil drückt es freilich etwas anders aus. Der Leitsatz sagt: "Ein längeres Schriftstück darf im Urteil nur dann wörtlich wiedergegeben werden, wenn es in der Hauptverhandlung zum Zwecke des Beweises förmlich verlesen worden ist." Aber im Ergebnis ist das dasselbe. Das Urteip5 beruft sich auf § 249 StPO, wonach Schriftstücke, wenn sie als Beweismittel dienen sollen, verlesen werden müssen. Gewiß; aber nirgends sagt das Gesetz, daß bestimmte Tatsachen nur durch bestimmte Beweismittel bewiesen werden können, z. B. der Wortlaut von (kürzeren oder längeren) Urkunden nur durch Urkundenbeweis. Wenn das Gesetz so etwas sagte, wäre das eine Beweisregel. Aber § 249 StPO sagt nur, wie ein Urkundenbeweis erhoben werden muß, wenn man einen Urkundenbeweis erheben will. Nun können aber doch auch Zeugen über den Wortlaut von Urkunden aussagen. Sie können das sehr zuverlässig und glaubwürdig tun, z. B. auf Vorhalt des Originals oder sogar mit dem Original oder mit einem Durchschlag in der Hand. Das verbietet der Bundesgerichtshof auch nicht; wie könnte er? Der Zeuge muß ja schließlich aussagen, was er beschwören kann; und wenn der Wortlaut der Urkunde zum Gegenstand der Vernehmung gehört und der Zeuge in der Lage ist, ihn mitzuteilen, dann wird dem Gericht gar nichts helfen, als sich das anzuhören. Aber der Bundesgerichtshof verbietet für diesen Fall, dem Zeugen (allein, ohne Verlesung der Urkunde) zu glauben. (Was man glaubt, muß man doch auch ins Urteil schreiben dürfen.) Er sagt zur Begründung, den Beteiligten müsse klar werden, daß jetzt eine Beweisaufnahme über den Wortlaut der Urkunde stattfinde. Nun gewiß; aber wenn doch der Zeuge eben über den Wortlaut aussagt: wer könnte dann zweifeln, daß damit der Wortlaut Gegenstand der Beweisaufnahme ist? Aus dem Text der Prozeßordnung ist die Entscheidung also schwer zu begründen. Ihr Sinn ist, unbeweisbare Verstöße gegen § 261 StPO zu verhindern. Erscheint der Wortlaut eine "längeren" Urkunde, die nicht verlesen worden ist, wörtlich im Urteil, so wird das häufig darauf beruhen, daß sie nachträglich bei der Begründung aus den Akten abgeschrieben worden ist. Daß ein Zeuge sie nicht wörtlich wiedergegeben hat, ist eine sehr naheliegende Besorgnis; aber der Beschwerdeführer, der das beweisen müßte, wäre in einer sehr unbequemen Lage. War hier eine Erwägung prozessualer Fairneß der Grund zur Aufstellung einer Beweisregel, so sind es bisweilen psychologische Erfah15 Der Verfasser gehörte und gehört dem Senat an, der dieses Urteil erlassen hat; er hält es auch nach wie vor für richtig. Die im Text an der Begründung geübte Kritik beruht auf überlegungen, die mehr als ein Jahrzehnt später angestellt worden sind.

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rungen, die ja ihrer Natur nach kaum jemals ganz unverbrüchlich sein können. Der Tatrichter glaubt einem Kinde, daß der Angeklagte sich an ihm in spezifischer Weise vergangen habe. Die Revision meint, das hätte er dem Kinde nicht glauben dürfen, jedenfalls nicht ohne einen Sachverständigen über die Glaubwürdigkeit des Kindes zu hören (Aufklärungsrüge). Nachdem die Revisionsgerichte sich auf solche Rügen überhaupt erst einmal eingelassen hatten, waren sie geradezu gezwungen, sich allmählich Regeln zu schaffen, wenn nicht sie selbst, die Tatrichter und die Rechtsmittelführer in ständiger Unsicherheit leben sollten, was denn nun verlangt werden könnte. Nach manchem Hin und Her beginnt sich folgendes abzuzeichnen: In der Regel fordert die Rechtsprechung die Heranziehung eines Gutachters; sie verzichtet darauf, wenn die Aussage des Kindes durch andere Beweisergebnisse objektiv unterstützt wird: Teilgeständnis, lügenhafte Einlassung, einschlägige Vorstrafen des Angeklagten, Teilbestätigung durch unverdächtige Zeugen, äußere Beweisanzeichen wie Spuren am Körper des Kindes 16 • Das ist grundsätzlich nichts anderes, als wenn man in der Sprache der Carolina sagte: das Kind ist kein "gnugsamer" Zeuge. Hat dann allerdings der Tatrichter den Sachverständigen beigezogen, dann beginnt wieder die Freiheit der richterlichen überzeugung. Die Revisionsgerichte verlangen hier nicht etwa, daß der Tatrichter einem solchen Sachverständigen folgt, sei es, daß er die Glaubwürdigkeit des Kindes bejaht, sei es, daß er sie verneint. Die Beweisregel lautet also nicht: ohne "Unterstützung" und ohne Glaubwürdigkeitsgutachten ist das Kind überhaupt kein Beweismittel, und mit solcher Unterstützung erbringt seine Aussage, ob der Richter will oder nicht, vollen Beweis. Aber daß die Regel nicht so lautet, ändert nichts daran, daß es eine Beweisregel ist. Auf psychologischem Gebiet liegt auch die Regel: "Der Beweiswert einer Aussage hängt nicht maßgeblich davon ab, ob sich die Auskunftsperson als Zeuge oder als (Mit-)Angeklagter äußert17 ." Diese Regel bedarf wohl noch der Verfeinerung. Gewiß macht es für die Glaubwürdigkeit keinen großen Unterschied, ob jemand als Angeklagter oder als Zeuge bestreitet, ein bestimmtes Delikt begangen zu haben18 • Gewiß kann eine Gefahr für die richtige Beweiswürdigung in der Suggestion liegen, die von der prozessualen Rolle des Aussagenden als Beschuldigter oder als Zeuge ausgehen mag. Aber in der Allgemeinheit, mit der der angeführte Leitsatz die Regel aufstellt, würde sie bedeuten, daß die Strafdrohung des § 153 StGB, Gefängnis nicht unter drei Monaten, in schweren Fällen Zuchthaus, auf keinen Menschen irgend welchen Eindruck macht. Sollte es für den Beweiswert der Aussage wirklich keinen "maßgeblichen" Un18 17

18

Vgl. DRiZ 1960, 350. BGHSt 18, 238. JZ 1965, 292.

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terschied machen können, ob die Unwahrheit straffrei oder mit ziemlich schwerer Strafe bedroht ist? Ähnliche Bedenken sind gegen den Satz zu erheben, der § 261 StPO sei verletzt, wenn der Tatrichter der Aussage eines Zeugen deshalb besonderen Glauben schenke, weil dieser (nach Annahme des Tatrichters) über sein Recht zur Verweigerung der Auskunft gemäß § 55 StPO belehrt worden sei, wenn aber ausweislich der Sitzungsniederschrift eine solche Belehrung nicht stattgefunden habe l9 • Wenn ein Zeuge gefragt wird, ob er die Tat, die dem Angeklagten zur Last gelegt worden ist, vielleicht selbst begangen habe, so spielt es für die Glaubwürdigkeit der verneinenden Antwort wohl keine bedeutende Rolle, ob man ihn vorher auf sein Auskunftsverweigerungsrecht hingewiesen hat. Es muß bezweifelt werden, ob die Beweiswürdigung wirklich besser wird, wenn die Revisionsgerichte so tief in Einzelheiten gehen. Eigenartigerweise hat die Rechtsprechung auf psychologischem Gebiet schon im vorigen Jahrhundert begonnen, eine ganz spezielle Beweisregel aufzustellen und durchzusetzen. Das ist in einer Reihe von Entscheidungen zum fahrläsigen Falscheid geschehen. 1892 sagte das Reichsgericht: "Durch bloße Willensanstrengung kann das Gedächtnis nicht dazu gebracht werden, richtig zu funktionieren 20 • " 1894 drückt derselbe (IV.) Senat es ein wenig vorsichtiger aus: es müsse "daran festgehalten werden, daß im allgemeinen . .. das Gedächtnis durch bloße Anstrengungen des Willens und der Aufmerksamkeit nicht dazu gebracht werden kann, richtig zu funktionieren"21. Einigermaßen abweichend davon sagt 1909 der 1. Senat: Abgesehen von "den Fällen eines tatsächlichen festgewurzelten Irrtums besitzt erfahrungsgemäß der Mensch im allgemeinen die Fähigkeit, durch Anspannung seines Vorstellungs- und Denkvermögens die verschwommen gewordenen oder auch ganz zurückgetretenen Erinnerungsbilder wieder mit wachsender Deutlichkeit in das Bewußtsein zurückzurufen"22. 1923 kehrt er wieder zu der alten Meinung zurück: "Die neuere Rechtsprechung des Reichsgerichts hält an dem schon früher vom IV. Strafsenat vertretenen Grundsatz fest, daß das Gedächtnis durch bloße Willens anstrengung nicht dazu gebracht werden kann, richtig tätig zu werden, und daß ein fahrlässiges Verschulden nur dann anzunehmen sei, wenn der Schwörende es unterlassen habe, tatsächliche Anhaltspunkte und äußere Hilfsmittel, die ihm zu Gebote standen, zu benutzen 23 ." Diese Unterscheidung beginnt später, sich zu prä19 JZ 1965,291. 20 RGSt 22, 297 (298). 21 RGSt 25, 122 (123). 22 RGSt 42, 237. t3 RGSt 57, 234. Dazu ist zu bemerken, daß es von der Art des Eides abhängt, ob der Schwörende zur Benutzung solcher Hilfsmittel (Notizen, Erkundigung) verpflichtet ist oder nicht. Beim Zeugeneid ist dies gewöhnlich zu verneinen, beim Offenbarungseid wohl meist zu bejahen.

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zisieren. 1929 sagt des Reichsgericht: "Wenn in einem Zeugen ein Irrtum festgewurzelt ist, müssen greifbare Tatsachen nachgewiesen werden, die in dem Zeugen Zweifel ... hervorzurufen geeignet waren 24 ." Dabei hebt die Rechtsprechung aber verschiedentlich hervor, solche "greifbaren Tatsachen" dürften nicht schon darin gesehen werden, daß andere Zeugen vor den Ohren des Irrenden etwas anderes bekundet hätten 25 . Am Ende dieser Entwicklung verlangte das Reichsgericht 1939 dann auch noch die Feststellung, "daß die Anspannung des Gedächtnisses" oder die Benutzung der "besonderen Anhaltspunkte oder Hilfsmittel" auch wirklich "zur Berichtigung der falschen Vorstellungen geführt haben würde"26. 1956 verdeutlichte das Bayerische Oberste Landesgericht die Sache durch einen weiteren Gesichtspunkt: es verlangte eine Unterscheidung "zwischen dem eingewurzelten (insbesondere dem schon bei der Wahrnehmung entstandenen) Irrtum und dem durch bloßes Nachdenken behebbaren Irrtum"27. Das praktische Ergebnis dieser psychologischen Beweisregeln ist, daß Verurteilungen wegen fahrlässigen Falscheides heutzutage kaum jemals revisionssicher begründet werden können, vor allem nicht in den Fällen, in denen der ursprünglich erhobene Vorwurf des Meineides nicht bewiesen werden kann. Vielleicht sollten sich die Fachpsychologen einmal dieser Frage annehmen, sei es als Gutachter, sei es in Veröffentlichungen. Beweisrechtlich besonders instruktiv ist die vielerörterte, im Dezember

1966 geänderte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu der Frage, bei

welchem Blutalkoholgehalt man mit Sicherheit fahruntüchtig ist. In den 1,5 0/00, bei denen bis zum Dezember 1966 die Grenze angenommen wurde, verbergen sich zwei völlig verschiedene Rechtssätze, nämlich erstens ein Satz des sachlichen Strafrechts und zweitens eine Beweisregel. Nach der Begründung, die für die Grenze von 1,5 0/00 gegeben wurde 28 , müssen wir diese Promille teilen. Der damals angenommene Satz des sachlichen Rechts lautete, wer 1,0 %0 Alkohol im Blut habe, sei mit Sicherheit fahruntüchtig. Dieser Satz präzisierte materiellrechtlich die Mindestansprüche, die nach Ansicht des Bundesgerichtshofs an die tatsächliche Nüchternheit des Kraftfahrers gestellt werden sollten. So etwas ist die natürliche, ursprüngliche Aufgabe eines Revisionsgerichts, gleichviel wie man über die sachliche Richtigkeit gerade dieser Anspruchsgrenze denken will. Diese materiellrechtliche Seite der Sache ist hier nicht unser Thema. Aber die 0,5%0, die über das eine Promille hinausgingen, enthielten eine Beweisregel, und nichts als das. Um diese 0,5 %0 hatte der BundesgeRG JW 1929, 778 Nr. 53 (mit Anm. von Mezger). So schon RGSt 26, 133 (136). 28 RGSt 63, 371 (372); RG JW 1939,87. 27 BayObLGSt 1956, 10 = NJW 1956, 601. !8 BGHSt 5, 168; 13, 83. !4

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Beweisregeln im strafprozeß

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richtshof die Grenze nämlich nur mit Rücksicht auf die Fehlerquellen des Widmark-Verfahrens erhöht. Hier handelt es sich also nur um den Beweis, ob bei einem scheinbaren Ergebnis von 1,5 %0 auch wohl wirklich 1,0 0/00 Alkohol im Blut gewesen ist. Hier dekretierte das Revisionsgericht: davon habt ihr Tatrichter überzeugt zu sein, und unterhalb von 1,50100 dürft ihr euch zwar von der Fahruntüchtigkeit in concreto überzeugen, aber nicht feststellen, daß der wirkliche Alkoholgehalt 1,00100 oder mehr betragen habe: eine ausgesprochene Beweisregel. Und was ist daran jetzt bei dem Beschluß vom 9. Dezember 1966 29 geändert worden? Als man in der Zeitung las, der Bundesgerichtshof habe die Grenze von 1,5 0100 auf 1,3 0100 gesenkt, lag zunächst die Annahme nahe, der Senat sei - vielleicht unter dem Eindruck ausländischer Gesetzgebung und Rechtsprechung - gegen die trinkfrohen Autofahrer strenger geworden. Aber wer die inzwischen veröffentlichten Gründe des Beschlusses liest, wird sich überzeugen müssen, daß das Gegenteil der Fall ist. Der Senat ist in Wahrheit noch nachsichtiger oder doch vorsichtiger geworden: er hat nämlich die materielle Grenze der absoluten Fahruntüchtigkeit von 1,0 auf 1,10100 erhöht, und nur die Beweisregel dahin geändert, daß angesichts der zuverlässiger gewordenen Untersuchungsmethoden der rein beweismäßige "Sicherheitszuschlag" von 0,5 auf 0,2 0100 zu senken sei. Es hat sich also nicht grundsätzlich, sondern nur zahlenmäßig etwas geändert: hatten wir früher 1,00100 materielles Recht und 0,50100 Beweisregel, so haben wir jetzt 1,10100 materielles Recht und 0,2 0100 Beweisregel. Zum Schluß sei noch eine gesetzliche Beweisregel erwähnt, die sich auf das Verfahren bezieht. Nach § 274 StPO erbringt die in der Hauptverhandlung aufgenommene Sitzungsniederschrift unwiderleglichen Beweis darüber, ob die für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten beachtet worden sind oder nicht. Hier wird dem Richter also strikt vorgeschrieben, was er zu glauben hat und was nicht, ja noch mehr: es kommt nach dieser Vorschrift gar nicht darauf an, was der Richter glaubt; was nicht im Protokoll steht, existiert für ihn nicht, soweit der Geltungsbereich dieser Vorschrift geht. Das ist also eine Beweisregel im strengsten Sinne des Wortes. Aber sie gilt nur für die Förmlichkeiten und hat ihre Wirksamkeit deshalb nur da, wo es auf diese Förmlichkeiten ankommen kann, nämlich im Revisionsverfahren. Wenn im Protokoll steht, daß ein Zeuge vereidigt worden ist, dann ist er für den Revisionsrichter (und zwar nur für den Revisionsrichter, und auch für ihn nur in diesem Verfahren) vereidigt worden. Wenn der Vermerk fehlt, dann ist er nicht vereidigt worden; und wenn der Vorgang so, wie er protokolliert ist, dem Verfahrensrecht entspricht oder nicht entspricht, dann muß das 29

NJW 1967,116.

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Revisionsgericht daraus auf entsprechende Rüge die verfahrensrechtlichen Folgerungen ziehen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verwenden, ob das auch wohl tatsächlich stimmt, was das Protokoll sagt. Das sind allbekannte Dinge. Aber es wird immer wieder verkannt, daß diese Beweisregel nicht für die Feststellung von Tatsachen gilt, die einem Schuldspruch und einer Strafzumessung zugrundegelegt werden sollen. Würde also etwa der Zeuge, dessen Vereidigung zutreffend oder unzutreffend protokolliert oder nicht protokolliert worden ist, in einem späteren Verfahren wegen Meineides oder wegen uneidlicher Falschaussage zur Verantwortung gezogen, so stünde der nunmehrige Tatrichter (und in dem neuen Verfahren auch der neue Revisionsrichter) dem früheren Protokoll frei gegenüber. Der Tatrichter kann das Protokoll verlesen und bei seiner Beweiswürdigung benutzen, ist aber durchaus nicht verpflichtet, das für wahr zu halten, was in dem Protokoll steht. Er kann sich (zum Beispiel) durch Vernehmung der Beteiligten oder der Zuhörer überzeugen, daß der protokollierte Eid nicht geschworen oder daß der nicht protokollierte Eid doch geschworen worden ist30 • Es bedarf kaum der Hervorhebung, daß der Satz "in dubio pro reo" in unserem Sinne keine Beweisregel ist. Unter Beweisregeln haben wir hier Rechtssätze verstanden, die dem Tatrichter vorschreiben, gestatten oder verbieten, beim Vorliegen gewisser Tatsachen (Beweisergebnisse, Hilfstatsachen, Indizien) gewisse andere Tatsachen als erwiesen zu behandeln. Beweisregeln setzen also fest, welche tatsächlichen Feststellungen sich ergeben, wenn gewisse Beweisergebnisse vorliegen. Der Satz "in dubio pro reo" dagegen ist ein Satz des materiellen Rechts, der dem Tatrichter vorschreibt, wie er j·echtlich zu entscheiden hat, wenn er von gewissen Tatsachen nicht (auch nicht kraft der Geltung von Beweisregeln) überzeugt ist. Das ist ein praktisch und theoretisch gleich wichtiger Unterschied.

30 So zutreffend Peters, Strafprozeß 2. Auf!. 1966 S. 136; abweichend davon und unrichtig meint derselbe S. 565, das Revisionsgericht könne eine Verurteilung wegen Meineids aufheben, weil "das VerhandlungsprotokoU ergibt, daß der Betreffende nicht vereidigt worden ist".

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Die Vererblichkeit von sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen Einleitung Die nachstehenden Ausführungen gehen auf zwei Anregungen zurück, die ich unabhängig voneinander, aber in engem, zeitlichem Zusammenhang empfangen habe. Die erste hängt mit dem von mir vor dem Deutschen Sozialgerichtsverband im Oktober 1966 gehaltenen Vortrag über das Thema: "Der Unterhalt als Leistungsvoraussetzung in Sozialversicherung und Versorgung"! zusammen. Hierbei schälten sich folgende Ergebnisse heraus: Soweit der Sozialversicherungsträger (SVT) dem Versicherten Leistungen zu gewähren hat, haben sie (bis auf vorbeugende Maßnahmen) Lohnersatzfunktion. Das gilt auch, soweit Angehörige des Versicherten berechtigt sind, denn der Gesetzgeber geht davon aus, daß der Versicherte von seinem Lohn oder von dessen Surrogat, der Sozialversicherungsleistung, die Unterhaltspflicht erfüllt, solange er lebt. Die Leistungen des SVT haben also, ob sie gegenüber dem Versicherten oder dessen Angehörigen erbracht werden, eine bestimmte soziale Funktion. Wird diese Konzeption durchgehalten, wenn der Berechtigte aus irgendeinem Grunde bei seinem Tode die ihm zustehenden Sozialversicherungsleistungen noch nicht erhalten hat? Träte hier die allgemeine bürgerlichrechtliche Sukzession ein, so könnte - insbesondere bei gewillkürter Erbfolge - hinsichtlich der Rückstände eine Person leistungs berechtigt werden, die nicht innerhalb des personellen Schutzbereichs der Sozialversicherung liegt. Wir haben es also mit einer Konkurrenz zwischen besonderer und allgemeiner Erbfolge zu tun. Die zweite Anregung für den folgenden Beitrag empfing ich durch die Untersuchung von Schnorr von Carolsfeld "Zur Rechtsnachfolge in Rentenberechtigungen der Sozialversicherung"2. Abgesehen davon, daß er nur die Rentenversicherung behandelt, scheint aber mit seinen Ausführungen selbst für diese Zweige nicht das letzte Wort gesprochen zu sein. 1 Wird demnächst veröffentlicht in der Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes Bd. 2. 2 Gedächtnisschrift für Rudolf Schmidt 1966 S. 279 ff.

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I. Bestandsaufnahme

1. Terminologie Unter Leistungen im weiteren Sinne werden in der Sozialversicherung nicht nur diejenigen verstanden, die bei Eintritt des Versicherungsfalls (Krankheit, Erwerbs-, Arbeitsunfähigkeit, Erreichung bestimmten Alters, Tod, Arbeitsunfall, Arbeitslosigkeit) zu erbringen sind, sondern darüber hinaus auch bestimmte Surrogatleistungen, so die Abfindung einer Witwe oder eines Witwers (§§ 1302, 615 I RVQ3), die Beitragserstattungen bei Wegfall der Versicherungspflicht ohne Erfüllung der Wartezeit (§ 1303), die Beitragserstattung bei Heirat einer Versicherten (§ 1304). Daß sie zu den Regelleistungen gehören, ergibt § 1235. Gemeinsam ist den §§ 1303-1304, daß sie von Beiträgen handeln, die zu Recht gezahlt worden sind. Diese besonderen Regelleistungen erfüllen etwa die gleiche Funktion, die in der privaten Lebensversicherung der Prämienreserve zukommt (§ 176 VVG)4. Von den Rentenversicherungen wird künftig nur die Arbeiterrentenversicherung gleichzeitig stellvertretend für die Angestellten- und die Knappschaftsversicherung behandelt, wo die Gesetzeslage der der Arbeiterrentenversicherung entspricht. 2. Gesetzeslage

Die gesetzliche Regelung über die Erbfolge in Leistungsansprüche ist unvollständig. Lediglich für die Unfallversicherung existiert in § 630 eine umfassende Norm für alle Leistungen des SVT (vgl. § 547)5. Die Bestimmung sieht eine Sondernachfolge vor. Für die Rentenversicherung ergibt § 1288 die entsprechende Regelung. Während sich Abs. 1 auf Rentenrückstände bezieht, handelt Abs. 2 von Ansprüchen schlechthin6 • § 1288 stimmt mit § 630 darin überein, daß bestimmte Personenkreise sukzessionsberechtigt sind, unterscheidet sich aber von ihm darin, daß - jedenfalls nach dem Wortlaut des § 1288 II - die Sukzession von einer vorangegangenen Antragstellung des Verstorbenen abhängt. Das letztere 3

§§ ohne nähere Bezeichnung des Gesetzes sind solche der RVO. Jahn, Allgemeine Sozialversicherungslehre, S. 92, 122, 136, 139, 167 f.

plädiert für die Aktivierung zum Teil in Vergessenheit geratener Versicherungsgrundsätze in der Sozialversicherung; vgl. auch unten N. 82 und Text dazu. 5 So Lauterbach, Unfallversicherung, § 630 Rdnr. 3. A. A. Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 294 f. Die von ihm für erforderlich gehaltenen Beschränkungen entsprechen weder dem Wortlaut des § 630 noch der gesetzespolitischen Zielrichtung. 8 Deshalb wird diese Bestimmung auch auf Beitragserstattungen (§§ 13031304) und auf Witwenabfindung (§ 1302) angewendet: RVO in EuM Bd. 46 S. 425; BSG Bd. 15 S. 157 = BB 1962 S. 100 = NJW 1962 S. 886. Compter, Wege zur Sozialversicherung, 1960 S. 268; ders. BB 1964 S. 930 f. nimmt für Beitragserstattungen analoge Anwendung von § 1288 II an. 4

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Erfordernis liegt implicite auch dem § 1288 I zugrunde, denn er geht von einem späteren Stadium des Rentenverfahrens aus als § 1288 II: Die Rente ist nicht nur beantragt, sondern schon festgesetzt (in diesem Sinne muß man die beiden Absätze des § 1288 deuten, wenn die gesetzliche Regelung sinnvoll sein solF. Selbst bei dieser Deutung hätte aber auf § 1288 I verzichtet werden können). Wir haben gesehen, daß § 1288 II nicht auf Rentenansprüche beschränkt ist, sich also u. a. auf Beitragserstattungen nach § 1303 III bezieht. Gleichwohl gehört der Fall des § 1303 III nicht in unseren Zusammenhang. Die Witwe erhält den Beitragserstattungsanspruch, weil die Voraussetzungen der Witwenrente nicht erfüllt sind, es wird also nicht an die Rechtsverhältnisse des Verstorbenen angeknüpft8 • Für die Kranken- und die Arbeitslosenversicherung fehlt es an einer erb rechtlichen Regelung. Der vom Sterbegeld handelnde § 203 kann nicht als solche angesehen werden, weil hier der Anspruch originär in der Person dessen entsteht, der die Bestattung besorgt hat. Der überschuß steht nach dieser Vorschrift etwa demselben Personenkreis zu, den die §§ 630, 1288 nennen, aber auch hier originär, nicht abgeleitet vom Versicherten. 3. Lückenfüllung

Die verbleibenden Lücken hat die Rechtsprechung, der sich die Lehre meist angeschlossen hat, zum Teil gefüllt. Für die Krankenversicherung läßt man es im allgemeinen bei der Erbfolge des BGB bewenden, eine AntragsteIlung des verstorbenen Versicherten wird nicht gefordert9 • Zu denken ist hierbei an Anspruch auf Krankengeld und Hausgeld sowie an Erstattungsansprüche, die entstanden sind, weil die Krankenpflege nicht naturaliter erbracht worden ist. Stets muß es sich also um Geldansprüche handeln. Für die Arbeitslosenversicherung ist ebenfalls die Vererblichkeit nach BGB anerkannt, nur soll sie hier von einer Antragstellung des später Verstorbenen abhängen 1o • 11. Bedeutung der AntragsteIlung 1. Grundlegung

Die Bestandsaufnahme hat gezeigt, daß die Frage nach der Vererblichkeit von sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen weit entfernt von Anders Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 281. Verbandskommentar zur RVO § 1303 Anm. 11. 9 RVA JW 1916 S. 918 = Amt!. Nachr. 1915 S. 664; BSG NJW 1967 S. 126; Dömkes DOK 1954 S. 199. 10 RVA Amt!. Nachr. 1931 S. 197; Draeger-Buchwitz-Schönefelder, A V AVG, § 93 Rdnr. 3. 7

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einer gleichartigen Lösung ist. Zwei Komponenten sind es vor allem, in denen die Unterschiedlichkeit zutage tritt: Ist der übergang der Ansprüche abhängig von der vorherigen Antragstellung des später Verstorbenen? Welchen Inhalt hat die besondere Sukzession? Beginnen wir mit der ersten Frage. Sie ist bisher fast nur im Blickpunkt des § 1288 ausführlich erörtert worden. Dabei kommen jedoch die verschiedenartigen Funktionen, die der Gesetzgeber erkennbar dem Antrag gibt, zu kurz. Nicht von der Sukzessionsnorm des § 1288 ist auszugehen, sondern von der Frage, welche Bedeutung dem Antrag des primär Berechtigten zukommt. Erst danach kann entschieden werden, welche Rolle der Antrag des Verstorbenen für die Rechtsnachfolge spielt. Bei solcher Betrachtungsweise lösen wir uns zwangsläufig von dem engen Kreis der Rentenversicherung und gewinnen Gesichtspunkte für alle Zweige der Sozialversicherung. 2. Arten der Anträge

über die Bedeutung des Antrages im Verhältnis zum Leistungsanspruch herrscht Streitl l . Nach § 1545 sind die Leistungen in der Krankenund Rentenversicherung auf Antrag, in der Unfallversicherung von Amts wegen festzusetzen. Daß in letzterem Zweig auf einen Antrag verzichtet wird, ist darauf zurückzuführen, daß der Arbeitgeber von jedem Arbeitsunfall der Berufsgenossenschaft Anzeige zu erstatten hat (§§ 1552-1558), so daß diese in der Lage ist, ihre Nachforschungen aufzunehmen. Wie die Titelüberschrift zeigt, soll mit dem Antrag (soweit er erforderlich ist) lediglich das Verfahren eingeleitet werden, der Antrag in diesem Sinne hat also keine Bedeutung für die Entstehung des Stammrechts. Bei den Voraussetzungen für das gewöhnliche Altersruhegeld (§ 1248 I), für die Renten wegen Erwerbs- und Berufsunfähigkeit (§§ 1246 I, 1247 I), für die Renten an Hinterbliebene (§§ 1264 ff.), für die Witwer- und Witwenabfindung (§ 1302), für das Wiederaufleben der Witwenrente nach Auflösung der zweiten Ehe (§ 1291 II und III) wird der Antrag nicht nochmals erwähnt. Hier hat es für das Stammrecht sein Bewenden mit § 1545 12 • Der Antrag bildet hier den Anstoß, damit der SVT das ohnehin bestehende Stammrecht aktualisiert (schlichter Antrag). 11 Hier mag der generelle Hinweis auf Jahn a.a.O. S. 127-134, Schnorr von Carolsfeld S. 280 N. 4, S. 281 N. 9, Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts 1. Bd. S. 296 ff. und die dort Genannten genügen. Weitere Literatur

vgl. unten N. 21. 12 Hierin und in dem im folgenden Auszuführenden stimme ich mit Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 280, 282 N. 17 (bis auf die Fälle der §§ 615 I, 1302) überein, deshalb auch weitgehend mit seinen prinzipiellen Folgerungen für die Vererblichkeit der Ansprüche. Der radikalen Meinung Schnorr von Carolsfelds, daß dem Antrag überhaupt keine Bedeutung zukomme, kann ich mich allerdings nicht anschließen.

Die Vererblichkeit von sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen

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Auffällig ist dagegen, daß bei anderen Leistungen ausdrücklich das Antragserfordernis wiederholt bzw. in der Unfallversicherung aufgestellt wird. So liegt es beim vorzeitigen Altersruhegeld (§§ 1248 II und III), bei den Beitragserstattungen nach §§ 1303, 1304, bei gewissen Abfindungen in der Unfallversicherung (§§ 604, 607). Das erweckt schon auf den ersten Blick den Eindruck, daß dem Antrag hier eine über das verfahrensrechtliche Gebiet hinausgehende Bedeutung zukommt, denn es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber so unsorgfältig gearbeitet hat, grundlos das Antragserfordernis des § 1545 teils zu wiederholen, teils nicht. Dieser Eindruck verfestigt sich zur Gewißheit, wenn man die Struktur derjenigen Leistungen betrachtet, die an den besonderen Antrag geknüpft sind: Dieser ist nämlich hier der Ausdruck einer persönlichen Entscheidung des Versicherten; er kann gute Gründe haben, jene Leistungen nicht zu verlangen l3 , etwa die Versicherung fortzusetzen, um später eine höhere Rente zu erhalten (Rentenversicherung), oder es statt einer Abfindung bei der Rentenzahlung zu belassen (Unfallversicherung). Ich möchte hier von qualifizierten Anträgen sprechen l4 • Außerhalb der RVO gehört in diesen Zusammenhang der Fall der §§ 74, 170 AVAVGI5. Hier ergibt sich der Charakter der Entschließung als einer persönlichen daraus, daß sich der Versicherte, der Arbeitslosengeld verlangt, zur Vermittlung von Arbeit zur Verfügung stellen muß. Falsch wäre es aber, dem oben skizzierten schlichten Antrag jede Bedeutung für den materiellen Anspruch abzuerkennen. Das Gesetz trägt an einigen Stellen dem Interesse des SVT an alsbaldiger Aufklärung Rechnung. Deshalb läßt es gelegentlich einen Anspruchteil erst ab Antragstellung entstehen. So liegt es bei den Renten wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit, den Leistungen der Unfallversicherung, den Renten der abgefundenen Witwe, deren zweite Ehe aufgelöst worden ist: §§ 615 II, 1290 II-IV, 1291 II, IIP8, 1546, 154817 • Hier wird der aus der Leibrente geläufige Unterschied zwischen Stammrecht und Einzelrecht erkennbar l8 : 13 Vgl. Compter BB 1964 S. 930 f.; Ritterbach, Angestelltenversicherung, 1966 S. 220 f.; Wannagat a.a.O. S. 297; BSG Bd. 10 S. 129. 14 Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 280 N. 5 spricht von Gestaltungswirkung. Dieser Begriff ist indes zu schillernd. 15 Buchwitz SGb 1963 S. 357. 16 Dafür, daß es sich bei § 1291 H, IH dem irreführenden Wortlaut zuwider nicht um eine Ausschlußfrist, sondern um eine Frist für den Beginn der Rente handelt: BSG Bd. 18 S. 62-64. 11 Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 280 N. 5 spricht hier von Verschweigung; von seinem Standpunkt, daß jeder Anspruch unabhängig vom Antrag entsteht, folgerichtig, denn die Verschweigung ist Erlöschensgrund. Nach meiner mit der Titelüberschrift des Gesetzes im Einklang stehenden Ansicht liegt eine Entstehensvoraussetzung vor (wichtig für die Beweislast). 18 BGH BB 1966 S. 305; Esser, Schuldrecht, 2. Aufl. S. 703; BFH BB 1965 S. 736. Gegen die Unterscheidung von Stamm- und Einzelrecht: Larenz. Lehr-

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Das Stammrecht ist unantastbar, die Voraussetzungen einzelner Ansprüche können an zusätzliche Anforderungen geknüpft werden. Aus unseren bisherigen Betrachtungen ergibt sich, a) daß § 1290 V fehl am Platze ist. Er erweckt, weil er unter der Titelüberschrift "Beginn der Rente" steht, den Eindruck, als sei der Antrag hier nur von Bedeutung für die Entstehung des einzelnen Rentenanspruchs. In Wahrheit ist er aber, wie oben schon festgestellt, Voraussetzung für die Entstehung des Rentenstammrechts. Der Antrag ist hier also qualifiziert, nicht schlicht. b) daß der schlichte Antrag, soweit es sich um Rentenleistungen handelt, lediglich beim gewöhnlichen Altersruhegeld (§ 1290 I) und bei der Hinterbliebenenrente völlig ohne Einfluß auf den materiellen Anspruch ist. Deshalb kann man nur hier von einem verhaltenen Anspruch redenlu. Darauf ist später zurückzukommen.

3. Folgen tür die Vererblichkeit Mit der unter 2. gewonnenen Einteilung in schlichte und qualifizierte Anträge ist m. E. auch der Schlüssel für die Vererblichkeit gewonnen. überall, wo ein qualifizierter Antrag nötig ist, ist die vor seiner Stellung bestehende Anwartschaft höchstpersönlich. Ein Anspruch kann nur übergehen, sofern der Verstorbene bereits den Antrag gestellt hatte. Mit dessen Entscheidung verwandelt sich die höchstpersönliche Anwartschaft in ein vererbliches Recht. Die Parallele mit §§ 847 I S. 2, 1300 II BGB liegt auf der Hand. Insoweit herrscht fast Einhelligkeit20 • Wo hingegen der schlichte Antrag genügt, sukzediert der Nachfolger auch dann in den Anspruch, wenn sein Vormann den Antrag noch nicht gestellt hatte. Dieses Antragsrecht geht mit über. Was das praktisch bedeutet, muß bei den Renten wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit im Hinblick auf § 1290 II an einem Beispiel verdeutlicht werden: Eintritt der Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit 1. 1. 1967, Tod des Versicherten 2.5.1967. Der Rentenantrag war beim Tode noch nicht gestellt. Der Rechtsnachfolger kann die Rente für Mai 1967 beanspruchen, sofern er noch in diesem Monat den Antrag stellt. Trat im obigen Beispiel der Tod des Versicherten am 2.3.1967 ein, so gewinnt der buch des Schuldrechts, 2. Bd. 7. Aufl. S. 337. Vgl. für die Renten der Sozialversicherung: Wannagat a.a.O. S. 297. 19 Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 280 N. 5 differenziert nicht stark genug. Allgemein zum verhaltenen Anspruch: Lehmann-Hübner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 15. Aufl. S. 96. 20 A. A. Schüssler BB 1963 S. 982 für die Fälle der §§ 1303/1304. Er überzeugt deshalb nicht, weil er dem Rechtsnachfolger eine stärkere Position geben will als dem Versicherten (Entbindung von der zweijährigen Wartefrist).

Die Vererblichkeit von sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen

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Rechtsnachfolger durch Antragstellung im März 1967 einen Rentenanspruch für die Monate Januar bis März 1967. Das gefundene Ergebnis ist für die Rentenversicherung höchst umstritten (für andere Zweige ist die Vererblichkeit bisher fast ununtersucht geblieben). Die meisten lehnen die Ver erblichkeit unterschiedslos ab, wenn der Antrag vor dem Erbfall noch nicht gestellt war 21 • Indes vermögen mich die Gründe meiner Gegner nicht zu überzeugen. Vorauszuschicken ist allerdings, daß die Unvererblichkeit nicht gegen das Grundgesetz verstoßen würde 22 • Damit ist aber nicht gesagt, daß eine abweichende Auffassung grundgesetzwidrig wäre. 4. Höchstpersönlichkeit des Anspruchs auf die Rückstände?

Die Gegenansicht will aus dem Antragserfordernis des § 1288 II schließen, daß alle Leistungsansprüche der Rentenversicherung höchstpersönlicher Natur sind, bis der Berechtigte den Antrag stellt. Hier wird der oben zu 1 gerügte Fehler evident, daß bei dieser Argumentation nicht von den Anspruchsvoraussetzungen, sondern von der Rechtsnachfolge ausgegangen wird. Ferner leidet jene Verallgemeinerung an der fehlenden Unterscheidung zwischen Rentenrecht und rückständigem Rentenanspruch, um den es sich hier ausnahmslos handelt. Das gewöhnliche Altersruhegeld, die Hinterbliebenenrente, die Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit, die wiederaufgelebte Witwenrente bestehen in wiederkehrenden Leistungen, vergleichbar mit den Leibrenten der §§ 759 ff. BGB, den Schadenersatzrenten nach § 843 BGB und betrieblichen Ruhegeldern. Wie bei diesen ergibt sich aus der Höchstpersönlichkeit des Anspruchs lediglich, daß er mit dem Tode des Berechtigten erlischt, nicht aber, daß der Anspruch auf rückständige Bezüge untergeht 23 (vgl. §§ 760 III, 843 II BGB). 21 RVA Amt!. Nachr. 1898 S. 372; RVA Amt!. Nachr. 1914 S. 697; RVA Amt!. Nachr. 1916 S. 425; RVA EuM Bd. 46 S. 425; BSG Bd. 15 S. 157 und die bei Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 281 N. 14 Genannten. Ferner: Hanow-Lehmann, RVO, § 1303 Anm. 4; Gugel-Schmid, RVO, § 1303 Anm. 1; KrohnZschimmer-KnoH-Sauerborn, RVO, § 1303 Anm. 3. Wie hier im wesentlichen (wenn auch nicht in allen Punkten, s. o. N. 12) Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S.280-282. 22 BVerfG NJW 1966 S. 195 f. = BB 1966 S. 37; Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 293 f. Anders Schüssler BB 1963 S. 982 f. 23 Deshalb überzeugt die Entscheidung BSG Bd. 15 S. 157, die sich auf Parallelen zu Leibrente und Unterhalts ansprüchen beruft, nicht. Da es sich im gegebenen Falle um eine Witwenrentenabfindung nach § 1302 handelte, hätte die Klage erfolgreich sein müssen. Die Erwägung, daß die Abfindung die Errichtung eines neuen Hausstandes erleichtern solle, dieser Zweck aber durch den Tod der Witwe vereitelt sei, greift nicht durch. Denn wenn die Witwe bei ihrem Tode den Antrag gestellt hätte, wäre der genannte Zweck ebenfalls nicht erreichbar gewesen. § 1302 hat eben einen spekulativen Charakter.

13 Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch

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Dagegen spricht auch nicht der Vergleich mit der Unterhaltsrente des Familienrechts. Hier gehen allerdings nach §§ 1615 BGB, 69 EheG auf den Erben Unterhaltsansprüche für die Vergangenheit nur über in den Grenzen der §§ 1613 BGB, 64 EheG, und man könnte denken, das hier verlangte In-Verzugsetzen seitens des Rechtsvorgängers finde im Bereich der Sozialversicherung in dem Antrag des Versicherten seine Entsprechung. Dieser Vergleich wäre aber unzutreffend. Wie schon oben in der Einleitung ausgeführt, hat die Rente primär Lohnersatzfunktion. Daß sie für die Hinterbliebenen an die Stelle des Unterhalts tritt, ist lediglich die Folge davon, daß der Lohn oder sein Surrogat, die Rente, den Versicherten im Innenverhältnis zum Angehörigen in den Stand setzte, seine Unterhaltspflicht zu erfüllen. Niemals besteht aber zwischen den SVT und ihren Berechtigten ein Unterhaltsverhältnis 24 • Auch aus § 119 ist nichts Gegenteiliges zu folgern. Würde der Schluß von der Verfügungsbeschränkung auf die Unvererblichkeit zutreffen25, so könnte auch ein Antrag des inzwischen Verstorbenen hieran nichts ändern. Soweit geht aber selbst die herrschende Lehre nicht, und sie kann es angesichts des § 1288 II auch nicht. Für die hier vertretene Ansicht sprechen auch §§ 630 RVO und 121 BBG. In beiden Fällen ist keine Rede davon, daß die Vererblichkeit von Rentenrückständen oder Rückständen auf die Beamtenbezüge von Anträgen des Verstorbenen abhängt. Wie sollte der Unterschied zu den Renten der Rentenversicherung innerlich begründet sein? Der Konstruktion der Höchstpersönlichkeit des Anspruchs (bis zur Antragstellung des primär Berechtigten) bedarf es im übrigen gar nicht, um das Konzept der RVO, die Leistung nicht in unrechte Hände gelangen zu lassen, zu verwirklichen: Durch die Schaffung der besonderen Erbenkreise in den §§ 630, 128826 ist dafür gesorgt, daß beim Tode des zunächst Berechtigten die Leistung denjenigen zufällt, denen er aus dem Lohnsurrogat (Rente) Unterhalt gewährte 27 • Zusammenfassend ist zu sagen, der Anspruch auf die Rente ist stets in dem Sinne höchstpersönlich, daß er mit dem Tode des Berechtigten 24 In ähnlichen Gedankengängen bewegt sich BSG Bd. 21 S. 129 f. für § 1286 a. F., jetzt passend für § 1290 II, wo der an sich schlichte Antrag nur Bedeutung für den Rentenbeginn hat. 25 Solches Junktim besteht übrigens nicht lückenlos: So ist der Anspruch auf Rücknahme der hinterlegten Sache nach §§ 377, 400 BGB nicht übertragbar, jedoch vererblich. 28 Auch im bürgerlichen Recht klingt der Gedanke an, daß Angehörige vor Allgemeinerben sukzessions berechtigt sind: Vgl. Patandt-Keidet, BGB, 26. Aufl. § 1922 Anm. 3 e. 27 Hierin sehe ich den Sinn beider Vorschriften, nicht in dem mehr äußerlichen Grund, dem SVT umständliche Feststellungen zu ersparen. Anders: Compter BB 1964 S. 930 f. und HasUer, Wege zur Sozialversicherung, 1953 S. 65 ff., die sich allerdings auf die Motive berufen können.

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erlischt. Der Anspruch auf die Rückstände ist stets vererblich, wenn der primär Berechtigte bereits einen Antrag gestellt hatte. War das nicht der Fall, so ist zu unterscheiden, ob ein schlichter oder ein qualifizierter Antrag nötig war. Im ersteren Fall geht der Anspruch mit dem Antragsrecht auf den Rechtsnachfolger über, im letzteren Fall geht die Anwartschaft mit dem Tode unter.

5. Verteidigung des Ergebnisses Die gefundene Lösung steht nicht im Widerspruch zu § 1288 II. Die Worte "nachdem er seinen Anspruch erhoben hatte" behalten auch bei der hier vertretenen Ansicht ihren Sinn: Sie beziehen sich auf die von dieser Vorschrift mitumfaßten Fälle, in denen ein qualifizierter Antrag nötig ist (Beitragserstattungen nach §§ 1303, 1304; vorzeitiges Altersruhegeld nach § 1248 II, III)28. Ich bin darüber hinaus der Auffassung, daß § 630 in den wenigen Fällen, in denen die Unfallversicherung einen qualifizierten Antrag verlangt (§§ 604, 607), ebenso aufzufassen ist. Die Gegenmeinung hat ferner § 1537 für sich ins Feld geführt29 . Sie argumentiert, die Worte "auch ... ohne die Rente beantragt zu haben" wären überflüssig, wenn es für die Sukzession überhaupt nicht auf den Antrag ankäme, § 1537 wolle insoweit eine Ausnahme statuieren. Diese Argumentation ist jedoch nicht schlüssig. § 1537 hat auch von meinem Standpunkt aus seine Bedeutung. Soweit es sich um das vorgezogene Altersruhegeld handelt, ist, wie gezeigt, der Antrag Ausdruck einer persönlichen Entscheidung. Gleichwohl kann ihn der Sozialhilfeträger stellen. Entsprechend muß auch der dem Antrag zugrunde liegende Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld beim Tode des versicherten Unterstützten erhalten geblieben sein. Für die übrigen Renten ist folgendes zu bedenken: An anderer Stelle habe ich darzutun versucht 30 , daß die §§ 1527 ff. dem Sozialhilfeträger eine Einziehungsermächtigung verleihen, kraft deren er im eigenen Namen das fremde Recht geltend machen kann. § 1537 hat also für das gewöhnliche Altersruhegeld, für Renten wegen Erwerbs- und Berufsunfähigkeit, für Hinterbliebenenrenten und für die aufgelebte Witwenrente den Sinn, daß mit dem Anspruch hier ausnahmsweise das Antragsrecht nicht auf die Rechtsnachfolger übergeht, sondern auf den Sozialhilfeträger, weil es Teil der Einziehungsermächtigung ist31 • 28 Auch von meinem Standpunkt aus ist § 1288 I ohne eigene Bedeutung, vgl. oben im Text I 2. 29 Insbesondere BSG Bd. 15 S. 157. 30 Sieg SGb 1966 S. 161 ff. 31 Sieg SGb 1966 S. 164.

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111. Besondere Rechtsnachfolge 1. Kreis der Berechtigten a) Dogmatischer Standort der §§ 630, 1288 Die beiden genannten Vorschriften stimmen darin überein, daß sie eine besondere Nachfolge in den versicherungsrechtlichen Leistungsanspruch vorsehen. Man darf darin keine Ausnahme zu den §§ 1922 ff. BGB erblicken, denn diese sind auf privatrechtliche Ansprüche gemünzt 32 . Bei Einordnung der Sukzession in öffentlich-rechtliche Ansprüche hat der Gesetzgeber freie Hand. Er kann insbesondere der spezifischen Zielsetzung derartiger Forderungen Rechnung tragen, indem er den Übergang ganz ausschließt oder doch abweichend vom BGB regelt (vgl. auch § 121 BBG33). Insoweit sind also die §§ 630, 1288 nicht systemwidrig. Da wir es mit Geldansprüchen zu tun haben, die nach den Ausführungen oben zu II 4 im allgemeinen nicht höchstpersönlicher Natur sind, würde man bei Fehlen von Sonderbestimmungen die §§ 1922 ff. BGB entsprechend anwenden müssen 34 , wie es für Ansprüche aus der Kranken- und Arbeitslosenversicherung geschehen ist 35 • Nur mit dieser Einschränkung können die §§ 630 und 1288 als Ausnahmebestimmungen bezeichnet werden. Das Problem der Anwendung bürgerlich-rechtlicher Vorschriften wird uns später bei der Verjährung und bei der Haftung der Sondernachfolger noch beschäftigen. b) Ehegatten und Kinder Zur ersten Gruppe der Sonderberechtigten gehört die Witwe oder der Witwer (so § 630) bzw. der Ehegatte (so § 1288). Die Begriffe sind synonym zu verstehen, d. h. auch im Falle des § 1288 ist Nachfolgeberechtigter nur der, dessen Ehe durch den Tod des primär Berechtigten aufgelöst worden ist, also nicht etwa der geschiedene Ehegatte. Wenn solcher bedacht werden soll, spricht das Gesetz vom früheren Ehegatten (vgl. etwa §§ 592, 593 II, 1265, 1266 II)36. Der später formulierte § 630 ist also korrekter gefaßt. 32 Demgegenüber meint BSG Bd. 15 S. 157 ff., wie schon vorher RVA Amtl. Nachr. 1914 S. 638, auch im öffentlichen Recht wurzelnde Ansprüche seien von § 1922 BGB erfaßt. Wie hier: Palandt-Keidel a.a.O. § 1922 Anm. 6. 33 BVerwG FamRZ 1963 S. 564; Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 294. 34 Vgl. für die Schuldenseite: Bettermann DVBl. 1961 S. 921 f. Bischoff NJW 1965 S. 1419 will auch hier die BGB-Vorschriften direkt anwenden. 35 Vgl. die oben N. 9 und N. 10 Genannten, die allerdings §§ 1922 ff. BGB unmittelbar anwenden. 36 Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 285 N. 25; BAG NJW 1967 S. 173.

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Problematischer ist, was unter "Kindern" im Sinne der §§ 630, 1288 verstanden werden soll. Der enge bürgerlich-rechtliche Begriff dürfte nicht ausreichen, vielmehr ist anzuknüpfen an die §§ 583 V und 1262 Ir. Für die dort aufgeführten "Kinder" hatte der Verstorbene Zuschläge zu seiner Rente zu beanspruchen. Es ist nur folgerichtig, daß derselbe Personenkreis, der durch seine Existenz die Höhe des Anspruchs beeinflußt hat, potentieller Nachfolger in diesen Anspruch wird. Hinzu kommt noch, daß für die an den Abschluß des Sterbemonats sich anschließende Waisenrente wiederum der gleiche Personenkreis als berechtigt aufgeführt wird (§§ 595, 1267 verweisen auf §§ 583 V, 1262 II). Es ist bedauerlich, daß der Gesetzgeber in den §§ 630, 1288 keine Klarstellung in diesem Sinne vorgenommen hat; bei der jetzigen Gesetzeslage kann es nicht ausbleiben, daß die Frage kontrovers ist37 • Die auf der Tagung des Deutschen Sozialgerichtsverbandes am 20. Oktober 1966 von Schneider erhobene Forderung, daß der Begriff der "Kinder" in allen sozialversicherungs- und versorgungsrechtlichen Gesetzen mit gleichem Inhalt erfüllt werden müsse, kann daher nur unterstrichen werden38 • Zur Zeit wird er nicht einmal innerhalb der RVO einheitlich angewandt: Die Krankenversicherung läßt nämlich in § 205 II die Pflegekinder unerwähnt. Das ist um so mehr ein Grund, wenigstens in der Renten- und Unfallversicherung zu einheitlicher Begriffsbildung zu kommen, soweit es das Gesetz zuläßt. Aus diesem Nachsatz folgt, daß wir leider zu einer völligen Harmonisierung der Personenkreise nicht gelangen können: Die Enkel, die von §§ 583 V, 1262 II umfaßt werden (es handelt sich jeweils um die Ziffer 8), sind durch §§ 630, 1288 nicht gedeckt. Gerade weil innerhalb der Renten- und Unfallversicherung die Enkel gesondert neben den Kindern verschiedener Art aufgeführt werden, ist es nicht angängig, unter "Kindern" im Sinne der §§ 630, 1288 schlechthin die Abkömmlinge zu verstehen3u • Bei anderen Gruppen dieser Bestimmungen tauchen Auslegungsschwierigkeiten kaum auf. c) Gewährter wesentlicher oder überwiegender Unterhalt. Die in den §§ 630, 1288 aufgeführten Angehörigen müssen entweder mit dem Verstorbenen in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben oder von ihm 37 Wie hier Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 285 N. 26, woselbst weitere Literatur und Rechtsprechung. 38 Von den §§ 583 V und 1262 II werden u. a. die Stiefkinder erfaßt. Hier kann das Sozialversicherungsrecht dem Familienrecht einen Impuls geben. Die Forderung, die Unterhaltspflicht auf Stiefkinder zu erstrecken, hatte bereits der Regierungsentwurf II zum Gleichberechtigungsgesetz vorgesehen: BTDrucksache Nr. 224 (2. Wahlperiode) § 1360 c. Vgl. DöHe, Familienrecht, Bd. 11 S. 4. Die "Stiefkinder" müßten dann genau definiert werden, ein Anliegen, was schon jetzt für Versicherungs- und Versorgungsgesetze gilt. 3D Anders Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 288 N. 41.

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wesentlich unterhalten worden sein. Lediglich für die Haushaltführerin wird verlangt, daß sie beide Erfordernisse (wobei hier sogar überwiegender Unterhalt gefordert wird) erfüllt (§§ 630 II, 1288 III). Während das Merkmal des Lebens in häuslicher Gemeinschaft mehr auf tatsächlichem Gebiet liegt, hat die qualifizierte Unterhaltsgewährung rechtlichen Einschlag. Nach dem Vorgang des BSG ist die Voraussetzung wesentlicher Unterhaltsleistung erfüllt bei einem Einschuß von mindestens 25 % zu den dem Berechtigten insgesamt zur Unterhaltsbestreitung zur Verfügung stehenden Mitteln40 • Überwiegend unterhalten ist hingegen derjenige, der mehr als 50 % dessen, was er braucht, vom anderen Teil erhält41 • Der Gesetzgeber mußte hier auf die tatsächliche Unterhaltsgewährung statt auf die Unterhaltspflicht abstellen, weil nachfolgeberechtigt auch Personen sind, denen gegenüber nach dem Familienrecht keine Unterhaltspflicht besteht. Die Zugrundelegung des faktischen Unterhalts macht es folgerichtig erforderlich, qualifizierende Voraussetzungen ("wesentlich", "überwiegend") zu statuieren, um zu vermeiden, daß minimale Unterhaltsbeiträge Einfluß auf die sozialversicherungsrechtliche Leistungspflicht gewinnen. Verwaltungstechnisch macht die Feststellung der tatsächlichen Unterhaltsgewährung meist weniger Schwierigkeiten als die der Unterhaltspflicht.

2. Rechtsnatur der sogenannten Bezugsberechtigung Im vorangegangenen wurde gelegentlich vorgegriffen: Die Art der Berechtigung nach den §§ 630, 1288 wurde als Nachfolge bezeichnet. Das bedarf noch des Beweises. Nach dem Wortlaut des § 1288 II und der Überschrift zum Untertitel, unter dem diese Vorschrift steht, scheint den hier aufgeführten Personen eine Bezugsberechtigung eingeräumt worden zu sein 42 • Sofern hierunter dasselbe verstanden wird wie in der privaten Lebensversicherung, hätten die vom Gesetz Bedachten den Anspruch originär erworben 43 • Das kann indes nicht gemeint sein, denn der AnBSG Bd. 21 S. 155. BSG Bd. 14 S. 129, BSG Bd. 14 S. 203; BSG SozR § 1266 Nr. 4; Lauterbach a.a.O. § 593 Rdnr. 5 c; Verbandskommentar a.a.O. § 1266 Anm. 5; Stoetzner ArbVers 1962 S. 113, 128; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 186 Anm. 8 c; BrühL FamRZ 1957 S. 402. 42 So ausdrücklich: RV A EuM Bd. 46 S. 425 ff.; BSG Bd. 15 S. 157; ferner als obiter dictum RVA Amtl. Nachr. 1931 S. 197. Dahingestellt gelassen von RVA Amtl. Nachr. 1914 S. 699. 43 Vgl. BarthoLomeyczik, Erbrecht, 7. Aufl. S. 394; Verbandskommentar a.a.O. § 1288 Anm. 1, 16. Auch Kipp-Coing, Erbrecht, 12. Aufl. S. 360, zweifeln nicht an dem originären Erwerb, sondern wollen nur für die Schuldenhaftung die Versicherungssumme zum Nachlaß ziehen. 40

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spruch stand schon dem Verstorbenen zu. Lediglich infolge seines Todes ist es nicht mehr zu dessen Feststellung oder Befriedigung gekommen. Bezeichnenderweise spricht auch der später als § 1288 II formulierte § 630 in Kenntnis der Fehlsamkeit dieser Bezeichnung nicht von einer Bezugsberechtigung. In der Rechtsprechung ist ferner erwogen worden, in der Anordnung des § 1288 II bzw. seines Vorläufers ein gesetzliches Vermächtnis zu erblicken 44 • Auch diese Konstruktion befriedigt nicht. Sie würde dazu führen, daß zunächst der Allgemeinerbe in den Leistungsanspruch sukzediert und die in den §§ 630, 1288 II Aufgeführten lediglich ein Recht auf Abtretung hätten. Diese Konsequenz hat sicherlich nicht im Willen des Gesetzgebers gelegen, weil sie den Allgemeinerben zu stark in den Vordergrund rücken würde. Der Vergleich Schnorr von Carolsfelds 45 mit dem Vindikationslegat ist an sich treffend, praktisch jedoch nicht akzeptabel, da diese Form des Vermächtnisses, auch des gesetzlichen, dem geltenden Recht fremd ist. Zu verwerfen ist auch die Deutung, daß den besonderen Berechtigten eine gesetzliche Einziehungsermächtigung erteilt worden sei 46 , denn dann würden sie ein fremdes Recht, das des Erben, in eigenem Namen wahrnehmen. Der Gesetzgeber hat aber offensichtlich in den §§ 630, 1288 ein eigenes Recht zuwenden wollen. M. E. finden die bezeichneten Bestimmungen ihre beste Erklärung darin, daß es sich um die Anordnung einer erbrechtlichen Sondernachfolge handelt 47 , wie sie auch sonst unserem Recht nicht fremd ist. Beispiele hierfür finden sich im Höfe-, Heimstätten-, Gesellschafts- und Mietrecht. Wegen des Konzepts der einschlägigen sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen ist die Verwandtschaft mit dem Mietrecht (§ 19 MSchG, § 569 a BGB) die engste. Es gibt also eine erb rechtliche gesetzliche Sukzession, die keine Universalnachfolge ist48 • Die Brücke von den privatrechtlichen Sondernachfolgefällen49 zu den sozialversicherungsrechtlichen ist leicht zu schlagen, entsprechen doch auch die ersteren überwiegend einem öffentlich-rechtlichen Anliegen. Von der hier gegebenen Qualifikation hängt die Entscheidung mehrerer im folgenden zu behandelnder Einzelfragen ab. RVA Amtl. Nachr. 1914 S. 700. Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 288. 48 Auch das erwägt RV A Amtl. Nachr. 1914 S. 699. 47 Ebenso Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 283. 48 Vgl. Bartholomeyczik a.a.O. S. 214. 49 Bartholomeyczik a.a.O. S. 14 meint, es handele sich um einen numerus clausus. 44

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3. Stellung der Berechtigten untereinander und zum Sozialversicherungsträger a) Prinzip der gesetzlichen Nachfolge §§ 630, 1288 stimmen darin überein, daß nacheinander fünf Personen oder Personengruppen (also fünf Klassen) zur Nachfolge berufen sind. Das Prinzip der Ordnungen, das den §§ 1924 H. BGB zugrunde liegt, gilt hier nicht, wie sich schon daraus ergibt, daß Eltern und Geschwister gesondert aufgeführt werden, obwohl sie nach dem BGB einer Ordnung angehören (vgl. § 1925). Diese Feststellung bildet übrigens ein weiteres Argument gegen die Ansicht Schnorr von Carolsfelds, unter "Kindern" seien auch die Abkömmlinge zu verstehen 50 ; die RVO denkt eben nicht in den Ordnungen des BGB, wie ihr auch die Prinzipien des Stammes und der Linie fremd sind. Es gibt daher keine Repräsentation des Stammes durch lebende Stammeltern und kein Eintrittsrecht von Abkömmlingen anstelle vor dem Tode des Erblassers oder danach mit Rückwirkung fortgefallener Stammeltern.

Das Wort "nacheinander" in §§ 630, 1288 ist so zu verstehen, daß ein Angehöriger einer späteren Klasse nicht berufen ist, solange ein Angehöriger einer vorhergehenden vorhanden ist. Gehören mehrere Berechtigte derselben Klasse an (Kinder, Eltern, Geschwister), so erben sie nach Kopfteilen. b) Wegfall potentieller Nachfolger Einer besonderen Betrachtung bedürfen die Wegfallsgründe des BGB. Die Enterbung, die nur durch Verfügung von Todes wegen geschehen könnte, läßt die Nachfolge gemäß §§ 630, 1288 unberührt, weil die gewillkürte Erbfolge die gesetzliche Regelung der RVO nicht durchbrechen kann s1 . Ein Erbverzicht zwischen Erblasser und demjenigen, der nicht ad hoc nach §§ 630, 1288 Nachfolger sein würde, läßt das sich aus diesen Bestimmungen ergebende Recht unberührt, denn es gibt keinen Vertrag zu Lasten Dritter. Zweifelhafter ist die Rechtslage dann, wenn der Verzichtende sich im Todesfall zugleich als Sondernachfolger nach der RVO herausstellt. Hier wird man annehmen müssen, daß sich der Verzicht nur auf die Universalsukzession bezieht und beziehen kann. Das folgt aus dessen vermögensrechtlicher Funktion, während die Sondernachfolge der RVO personenbezogen ist (Unterhaltungsverhältnis, gemeinschaftliche Wohnung). Die Zulässigkeit des Verzichts auf die Sondernachfolge wäre nicht nur mit Rücksicht auf die Zielsetzung der RVO bedenklich, sondern 50 51

Vgl. hierüber oben im Text unter III 1 b. Ebenso Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 288.

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auch deshalb, weil jeder gesetzliche Anhaltspunkt hierfür fehlt. Das Bild des Legats52 unterstützt die hier vertretene Ansicht, denn über gesetzliche Vermächtnisse kann nach herrschender Lehre kein Erbverzicht geschlossen werden53 • Etwas anders liegen die Dinge bei der Ausschlagung. Der Erbe, der ausschlägt, kann dadurch den von ihm personenverschiedenen Sondernachfolger nicht um sein Recht bringen. Ist der ausschlagende Erbe identisch mit dem Berechtigten nach §§ 630, 1288, so bewirkt allein die Ausschlagung nicht die Ausschließung von der Nachfolge in den Leistungsanspruch der RVO. Der Sondernachfolger kann aber den Anspruch aus der RVO gesondert ausschlagen. Zu Unrecht verneint Schnorr von Carolsfeld diese Möglichkeit54 • Es ist indes ein allgemeiner Rechtsgedanke, daß sich niemand ein Recht aufdrängen lassen muß. Deshalb kennt das Erbrecht mannigfache Ausschlagungsrechte und kann der Dritte beim Vertrag zugunsten Dritter das Recht zurückweisen (§ 333 BGB). Auf derselben Ebene liegen §§ 569 aIS. 2 BGB, 19 I S. 3 MSchG. Ob man das Ausschlagung oder Ablehnung nennen will, macht in der Sache nichts aus. Bedeutsam ist aber, daß die Ausschlagung der Sondernachfolge einen anderen Adressaten als die Ausschlagung des Erbrechts hat, sie muß in Analogie zu den mietrechtlichen Sondernachfolgen gegenüber dem SVT erklärt werden. Schon aus diesem Grunde kann die Ausschlagung der Erbschaft nicht gleichzeitig Ausschlagung der Sondernachfolge sein. Die letztere ist nicht etwa wegen § 119 RVO ausgeschlossen, denn hier wird kein Recht aufgegeben, sondern der Erwerb eines Rechts gehindert. Daß oben der Verzicht auf die Sondernachfolge verneint, hier deren Ausschlagung aber für zulässig gehalten wird, bedeutet keinen Widerspruch. Gegen den riskanteren Verzicht muß der Sondernachfolger geschützt werden, bei der Ausschlagung sind die Verhältnisse hingegen für ihn völlig übersehbar. Was die Erbunwürdigkeit angeht, so finden sich in der RVO hierüber Spezialbestimmungen: §§ 553 I S. 2, 1277 I S. 2. Der hier zum Ausdruck gekommene Gedanke ist auf unseren Fall übertragbar: Wer den Tod des Versicherten vorsätzlich herbeigeführt hat, sukzediert nicht in dessen Ansprüche. Der Einleitung eines Erbunwürdigkeitsverfahrens bedarf es nicht. 52

Vgl. oben N. 45 und Text dazu.

Palandt-Keidel a.a.O. § 2352 Anm. 1; Staudinger-Ferid, BGB, 11. Aufl. § 2352 Rdnr. 10, § 2346 Rdnr. 46-51; Erman-Bartholomeyczik, BGB, 3. Aufl. § 2346 Anm. 3; Lange, Erbrecht, S. 67 N. 7; Damrau, Der Erbverzicht als Mittel zweckmäßiger Sorge für den Todesfall, S. 91; Crome, System des deutschen 53

bürgerlichen Rechts, Bd. 5 S. 178 N. 21. 54 Schnorr von Carolsjeld a.a.O. S. 288 N. 40, 41; S. 289.

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Soweit nach dem Ausgeführten ein zunächst berufener Sondernachfolger wegfällt, erhöht sich der Anteil derjenigen, die mit ihm in der gleichen Klasse berufen sind. Sind solche nicht vorhanden, fällt der Anspruch an die Berechtigten der nächsten Klasse. Stirbt ein Sondernachfolger nach dem Tode des Berechtigten, ehe der Leistungsanspruch vom SVT erfüllt worden ist, so treten dessen allgemeine Erben an die Stelle55 . Der Zweck des Gesetzes ist mit der einstufigen Sondernachfolge erreicht. Eine Sondererbeserbenfolge ist daher nicht vorgesehen, würde auch die Rechtslage zu stark komplizieren. c) Stellung der Sondernachfolger zum SVT Gehören mehrere Berechtigte der gleichen Klasse an, so wird man sie gegenüber dem SVT nicht als Gesamthandgläubiger, sondern als Teilgläubiger anzusehen haben. Die Gesamthand steht unter numerus clausus, sie ist im Erbrecht lediglich bei der Universalsukzession angeordnet. Der Hauptzweck der Gesamthand, nämlich durch sie einen Schutz für die Nachlaßgläubiger zu schaffen56 , kommt hier ohnehin nicht in Betracht, denn wie zu zeigen sein wird, haften die Sondernachfolger im allgemeinen nicht für die Nachlaßschulden. Auch die von der RVO beabsichtigte Vereinfachung der Abwicklung läßt sich durch Teilgläubigerschaft eher erreichen als durch Gesamthandgläubigerschaft. Was für die Mietnachfolge nach §§ 569a BGB, 19 MSchG angenommen wird57 , muß hier, wo es sich um Geldforderungen handelt, um so mehr gelten. Das hat zur Folge, daß der Antrag, sofern solcher noch nötig ist, von jedem Mitberechtigten nur für seinen Teilanspruch gestellt werden kann58 • Die Sondernachfolger treten in die Stellung des Vorgängers ein, sie müssen den Lauf von Verjährungsfristen gegen sich gelten lassen. Das hat insbesondere Bedeutung für das gewöhnliche Altersruhegeld und für die Hinterbliebenenrenten. Hier handelt es sich, weil der Antrag ohne Einfluß auf das materielle Recht ist, um verhaltene Ansprüche (vgl. oben II 2 am Ende). Hieraus folgt, daß entgegen der Meinung des BSG59 die Verjährungsfrist des § 29 III nicht erst mit der Geltendmachung (durch AntragsteIlung) zu laufen beginnt, sondern von dem Zeitpunkt an, in dem der Anspruch geltend gemacht werden konnte 60 • Das BSG übersieht, daß 55 55 57

Ebenso Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 289. Staudinger-Lehmann a.a.O. vor § 2032 Rdnr. 7. Bartholomeyczik a.a.O. S. 212; Bettermann, Mieterschutzgesetz, § 19

Anm. 90 (nicht unbestritten). 58 Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 280 N. 5, S. 286 N. 30. 59 BSG Bd. 23 S. 62 ff. Auf ein noch späteres Ereignis, nämlich die Feststellung des Anspruchs, will Barth SozVers 1962 S. 289 den Verjährungsbeginn legen. Dann hätte § 29 III RVO vollends seinen Sinn verloren. 60 Ebenso Liebe, Sozialversicherungsrecht, 1963 S. 353; Kr eil ArbVers 1932 S. 193; Kluge NJW 1965 S. 463; Sieg SGb 1966 S. 166. Allgemein zur Verjährung bei verhaltenen Ansprüchen: Planck-Siber, BGB, 4. Aufl. § 281 Anm. 5, 5 a.

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die Verjährung schon vor Fälligwerden eines Anspruchs beginnen kann: §§ 199, 200 BGB. Die hier vertretene Ansicht führt zu klaren Ergebnissen. Das BSG will in Ausnahmefällen dem SVT mit der Verwirkungseinrede helfen61 • Sie setzt jedoch u. a. voraus, daß der Schuldner nicht mehr mit der Geltendmachung des Anspruchs zu rechnen braucht. Dieses subjektive Moment läßt sich nicht auf den SVT als Schuldner übertragen, so daß hier die Verwirkung also völlig objektiviert und damit denaturiert würde. Der vom BSG beschrittene Weg ist überdies bedenklich, weil danach ein Anspruch schon verwirkt sein kann, ehe die Verjährungsfrist überhaupt begonnen hat. Inwieweit sich aus der Rechtsnatur des Schuldners (öffentlich-rechtliches Rechtssubjekt) Einschränkungen der Verjährungseinrede ergeben, kann hier nicht näher geprüft werden. Restriktive Tendenzen sind jedenfalls in neuerer Zeit erkennbar62 •

4. Stellung der Berechtigten zu den Gläubigern a) Haftung für Eigenschulden Hier ist die Frage zu behandeln, ob der in der Hand des Sondernachfolgers befindliche Leistungsanspruch von dessen Gläubigern zur Befriedigung herangezogen werden kann. Wäre es kein abgeleiteter, sondern ein originärer, so wäre sie dahin zu beantworten, daß mit Rücksicht auf § 119 I nur für die dort bezeichneten Forderungen in den Leistungsanspruch vollstreckt werden könnte. Man wird den Schutz dieser Vorschrift und der noch zu behandelnden Vollstreckungsschutznormen auch dem Sondernachfolger zugestehen müssen63 • Die Auswahl des Personenkreises, die engen Beziehungen zum Erblasser (Unterhalt, häusliche Gemeinschaft) lassen erkennen, daß die §§ 630, 1288 die Sozialbindung des Versicherungsanspruchs zunächst erhalten wissen wollen (es liegt hier also anders als in dem von BGH entschiedenen Fall, in welchem dem SVT, auf den eine Schadenersatzforderung nach § 1542 übergegangen war, der Schutz des Rechtsvorgängers in Ansehung dieser Forderung verweigert wurde)64. Damit ist aber noch nicht beantwortet, ob der Leistungsanspruch den in § 119 genannten Gläubigern in voller Höhe zur Verfügung steht. Nach BSG Bd. 23 S. 62 ff.; BSG NJW 1958 S. 1607. NJW 1959 S. 472; Graf JVerwBl1958 S. 210. Vgl. auch BSG Bd. 19 S. 97 sowie generell zur Verjährung öffentlichrechtlicher Ansprüche Schack BB 1964 S. 1037 ff. Darüber, ob umgekehrt die Verjährung der Beitragsforderung den SVT von Amts wegen an der Einforderung hindert, SG Karlsruhe BB 1962 S. 803. 63 Ebenso Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 289. 64 BGH Z Bd. 35 S. 326 f. 81

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einer an Boden gewinnenden Ansicht sind auch Sozialversicherungsrenten "Arbeitseinkommen" im Sinne des § 850 II ZP065, so daß sich die Höchstgrenze der Pfändung hier nach § 850 i I ZPO richtet. § 850 i IV ist kein Hinderungsgrund: Die Sozialversicherungsgesetze enthalten keinen Pfändungsschutz der Höhe nach. Was im Sinne von § 850 i IV ZPO "unberührt" bleibt, ist § 119 RVO. Die Gleichstellung der Versicherungsrenten mit dem Arbeitseinkommen ist anzuerkennen, denn nur so kann vermieden werden, daß der Rentenanspruch dem Berechtigten völlig entzogen wird. Folgerichtig muß dann auch im Rahmen von § 850 i I beachtet werden, ob der Sondernachfolger eigenes Arbeitseinkommen hat und ob es sich um eine qualifizierte Forderung nach § 850 d ZPO handelt, wegen der er in Anspruch genommen wird. Hat der Sondernachfolger gegenüber dem verpflichteten SVT Schulden der in §§ 629, 1299 bezeichneten Art 66 , so kann der SVT aufrechnen. Die Aufrechnung setzt nicht voraus, daß Forderung und Gegenforderung aus demselben Versicherungsverhältnis herrühren, andererseits darf die Kompensationslage nicht künstlich durch Abtretung der Forderung eines anderen SVT herbeigeführt worden sein67 . Die Aufrechnungsbeschränkung des § 119 I Ziff. 4 i. V. m. § 394 S. 1 BGB gilt hier nicht. §§ 629, 1299 zählen selbständig die Ansprüche auf, mit welchen gegen Leistungsansprüche kompensiert werden darf 68 . Auch hier muß llie Pfändungsgrenze des § 850 i I ZPO gewahrt werden. Sobald der Leistungsanspruch eingezogen worden ist, richtet sich der Pfändungsschutz nach § 811 Ziff. 8 ZPO. Das hier Ausgeführte gilt ohne Rücksicht darauf, ob gegen einen schlichten Sondernachfolger, d. h. einen solchen, der nicht zugleich All65 OLG Düsseldorf BB 1966 S. 407; OLG München BB 1955 S. 1027; AG Köln BB 1954 S. 902; Quardt BB 1957 S. 824; Baumbach-Lauterbach, ZPO, 29. Auf!. § 850 Anm. 2 D. Ähnlich hat das BAG BB 1964 S. 1382 das Krankengeld dem Arbeitgeberzuschuß zugeschlagen, um die pfandfreie Grenze gemäß § 850 e Ziff. 2 ZPO zu bestimmen. A. A. LAG Frankfurt BB 1956 S. 1114; LG Düsseldort BB 1955 S. 1140. 66 Soweit Beitragsrückstände das Aufrechnungsrecht begründen, kommt in der Rentenversicherung der Anteil des Arbeitnehmers in Betracht und ist in der Unfallversicherung die Kompensation nur möglich, wenn der Unternehmer selbst versichert ist. Zu Unrecht meint Peters a.a.O. § 223 N. 4 c, § 393 N. 2, die Aufrechnung komme überhaupt nur bei freiwilliger Versicherung in Frage, weil sonst der Arbeitgeber Beitragsschuldner sei (entgegengesetzt, nämlich Arbeitnehmer sei Schuldner auch der Arbeitgeberanteile, die von Beele, Wege zur Sozialversicherung, 1959 S. 15 besprochene Entscheidung des SG Düsseldorf). Das ist deshalb nicht zutreffend, weil der Arbeitgeber für die Arbeitnehmeranteile nur durchleitende Stelle ist: Vg!. Ipsen, Festgabe für Erich Kaufmann, 1950 S. 147; Sieg SAE 1963 S. 229. 67 Verbandskommentar a.a.O. § 1299 Anm. 6; BSG SozR § 1299 Nr. 8; BSG Bd. 24 S. 131 = BB 1966 S. 36. Anders Beele, Wege zur Sozialversicherung, 1959

S.15. 68

BSG SozR § 1299 Nr. 8.

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gemeinerbe ist, oder gegen einen Sondernachfolger vorgegangen wird, der beide Positionen in sich vereinigt. b) Haftung für Nachlaßschulden (Fälle) Der schlichte Sondernachfolger haftet im allgemeinen nicht für die Nachlaß-Schulden, denn § 1967 BGB ist das Korrelat der hier nicht vorliegenden Universalsukzession 69 • Zwei Ausnahmen sind jedoch anzuerkennen: 1. Soweit der schuldende SVT ein Aufrechnungsrecht nach §§ 629, 1299 hatte, darf er dessen in Anwendung des in §§ 404, 406 BGB ausgesprochenen Gedankens nicht dadurch verlustig gehen, daß der Leistungsanspruch von der allgemeinen Erbmasse von Gesetzes wegen abgespalten wird. Bei mehreren Sondererben wird man dem SVT nur ein ratierliches Aufrechnungsrecht gegenüber jedem einzelnen Gläubiger geben70 . Hiermit wird einerseits dem SVT nichts Unbilliges zugemutet (die Beträge sind für ihn übersehbar, seine Aufrechnungschancen verschlechtern sich nicht), andererseits wird der interne Ausgleich unter den Sondernachfolgern vermieden, der andernfalls notwendig wäre, wenn einer von ihnen mehr, als seiner Quote entspricht, durch die Aufrechnung benachteiligt würde. 2. Bildet der Leistungsanspruch das einzige oder das nahezu einzige Aktivum des Nachlasses 71 , so muß der Sondernachfolger mit ihm einstehen in entsprechender Anwendung des § 419 BGB. Daß diese Bestimmung von vertraglicher Vermögensübernahme spricht, hindert nicht, denn nach ständiger Rechtsprechung genügt die tatsächliche Übertragung 72 , die hier kraft gesetzlicher Anordnung (§§ 630, 1288) geschieht. Allerdings bezieht sich diese Einstandspflicht nur auf Forderungen der in § 119 I genannten Art, denn für andere Forderungen brauchte auch der Erblasser mit dem Rentenanspruch nicht zu haften. Schnorr von Carolsfeld meint, der Sondernachfolger hafte darüber hinaus auch für diejenigen Schulden, die er eingegangen ist, weil die Erfüllung seines Leistungsanspruchs längere Zeit auf sich warten ließ73. Hierfür ergibt sich jedoch weder ein Anhalt im Gesetz noch eine Notwendigkeit. Der Erblasser hätte seine Ansprüche an die betreffenden Gläubiger nach §§ 119 II, 617 abtreten können, die Genehmigung des

Ebenso Schnorr von Carotsfetd a.a.O. S. 289. 70 Der BGH hat in NJW 1967 S. 388 = JZ 1967 S. 222 für die Minderung gegenüber einer abgetretenen Werklohnforderung einen ähnlichen Gedanken entwickelt. Ob der von ihm vertretene Standpunkt bei dem dort gegebenen Sachverhalt zutrifft, ist mir allerdings zweifelhaft. 71 Btomeyer, Allgemeines Schuldrecht, 3. Aufl. S. 287; Esser a.a.O. S. 434; BGH BB 1960 S. 997. 72 Btomeyer a.a.O. S. 287; Esser a.a.O. S. 433. 73 Schnorr von Carotsfetd a.a.O. S. 288 N. 40, S. 289. 69

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Versicherungsamts wäre in den Schnorr von Carolsfeld vorschwebenden Fällen zu erteilen gewesen. Keineswegs muß die Genehmigung dann verweigert werden, wenn Angehörige der in den §§ 630, 1288 aufgezählten Klassen vorhanden sind74 , denn ob das der Fall ist, läßt sich erst im Zeitpunkt des Todes des Rentenberechtigten übersehen. überdies hat das Versicherungsamt im Rahmen seiner Zuständigkeit nach §§ 119 II, 617 das Beste des Berechtigten, nicht aber die Sorge um seine Rechtsnachfolger im Auge zu halten. c) Haftung für Nachlaßschulden (Durchführung) Was oben zu a) zur summenmäßigen Begrenzung der Haftung gesagt worden ist, gilt entsprechend auch in den unter b) aufgeführten Fällen 1 und 2, aber eben nur entsprechend. Da bei den Nachlaßschulden auf die Verhältnisse des Erblassers abzustellen ist, ist hier in Anwendung von §§ 850 c, 850 d ZPO für jeden Monat rückständiger Rente der pfandfreie Betrag festzusetzen 75 • Hatte der Erblasser daneben noch eigenes Arbeitseinkommen, so greift die Zusammenrechnung nach § 850 e Ziff. 2 ZPO Platz. Gegen die Einbeziehung der Sozialversicherungsrente in die Addition wird sonst selbst von denjenigen, die die Rente dem Arbeitseinkommen im Sinne des § 850 II ZPO gleichstellen76 , eingewendet, daß ein unpfändbarer Anspruch nicht mit einem pfändbaren zusammengezogen werden dürfe 77 • Dieses Argument versagt hier, denn die Einstandspfticht kommt ja nur für privilegierte Forderungen in Frage, zu deren Befriedigung § 119 gerade die Rentenforderung zur Verfügung stellt. Der Sondernachfolger, der zugleich Allgemeinerbe ist, haftet zwar für die Nachlaßverbindlichkeiten nach § 1967 BGB. Gleichwohl ist aber seine Haftung mit dem Leistungsanspruch keine weitergehende als die des schlichten Sondernachfolgers. Der Erbe nach §§ 630, 1288 kann nicht darunter leiden, daß er zugleich Allgemeinerbe ist. Andererseits kann er insoweit seine Position nicht durch Herbeiführung der beschränkten Erbenhaftung verbessern. Zwar gehört der Leistungsanspruch nicht zur allgemeinen Erbmasse, gleichwohl kann er in dem zu b) umrissenen Umfang nicht den Gläubigern vorenthalten werden, denn die Haftung folgt insoweit aus Analogie zu schuldrechtlichen, nicht zu erbrechtlichen Sätzen. Der schlichte Sondernachfolger, dessen Leistungsanspruch durch die unter b) skizzierte Haftung für die Nachlaßschulden verkürzt worden ist, So aber Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 289 N. 43. Deshalb bedarf es der vagen Formulierung, es empfehle sich, nicht mehr als ein Drittel von der Rente einzubehalten (so Verbands kommentar a.a.O. § 1299 Anm. 4 am Ende) nicht. Vgl. BSG BB 1966 S. 36 = BSG Bd. 24 S. 131. 76 Vgl. oben N. 65. 77 Trinkner BB 1966 S. 408; Baumbach-Lauterbach a.a.O. § 850 e Anm. 2, § 850 i Anm. 5. 74

7S

Die Vererblichkeit von sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen

207

hat insoweit einen Ausgleichsanspruch gegen den Allgemeinerben78 . Hierfür spricht, daß sich der Gläubiger in den beiden in Betracht kommenden Fällen nach § 1967 (bzw., soweit öffentliche Ansprüche zur Debatte stehen, nach § 1967 analog 79 ) auch an den Allgemeinerben halten könnte und es im Endergebnis keinen Unterschied machen darf, wo er seine Befriedigung sucht. Der Ausgleichsanspruch gegen den Allgemeinerben ist auch nicht unbillig, denn hätte der Verstorbene die betreffende Schuld bereits getilgt, hätte der Erbe einen entsprechend geringeren Betrag in der Erbmasse vorgefunden. Für diese Lösung spricht auch die Analogie zu § 569 a III BGB. IV. Allgemeine Erbfolge

1. Verhältnis Sondernachfolge -

allgemeine Erbfolge

Schnorr von Carolsfeld 80 nimmt gegen die herrschende Lehre81 an, daß in den Fällen der §§ 630, 1288 nicht einmal subsidiär die allgemeine Erbfolge Platz greife. Das würde bedeuten, daß beim Tode des Berechtigten noch nicht erfüllte Leistungsansprüche erlöschen, sofern kein in diesen Bestimmungen genannter Sondernachfolger vorhanden ist. Diese Auffassung halte ich nicht für zutreffend. Gewiß sind §§ 630, 1288 als Ausdruck der Sozialbindung des Leistungsanspruchs zu verstehen. Das zwingt aber nicht zu der Folgerung, daß er untergeht, wenn keiner derjenigen vorhanden ist, die das Gesetz zunächst bedenken wollte. Wesentlich scheint mir zu sein, daß die Sozialversicherung eben Versicherung ist (wenn auch versorgungsmäßige Züge hineinspielen)82. Diesem ihrem Charakter würde es widersprechen, wenn der geschuldete Betrag beim SVT verbliebe 83 • überdies fehlt es an einem entsprechenden Anspruchserlöschensgrund im Gesetz. Es wäre auch ein merkwürdiges Ergebnis, wenn der SVT durch Hinauszögerung der Leistung in der Lage sein sollte, sich einen Vermögensvorteil zu verschaffen. § 203 S. 3 steht diesem Ergebnis nicht entgegen. Aus der für einen singulären Fall (noch dazu für einen originären Anspruch) getroffenen Regelung können keine all78 79

Vgl. Esser a.a.O. S. 421. Bettermann DVBl1961 S. 921, 923 gegen BSG NJW 1961 S. 2278; BSG NJW

1966 S. 1239.

80 Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 283 ff. Für ihn sprechen allerdings die Motive zu den Vorläufern der §§ 630, 1288; ebenso Endemann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, 3. Bd. 1. Hälfte, 8. und 9. Aufl. S. 44. 81 BSG Bd. 15 S. 157; Amtl. Nachr. 1914 S. 694 ff.; Compter BB 1964 S. 930 f. Weitere Zitate bei Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 284 N. 24. 82 Hierin liegt der grundlegende Unterschied zum Beihilfenanspruch, den das BVerwG FamRZ 1963 S. 564 für nicht übergangs fähig gehalten hat. Für stärkere Belebung des Versicherungsprinzips in der Sozialversicherung Jahn a.a.O. S. 92, 122, 136, 139, 167 f. 83 Vgl. die oben N. 9 Genannten.

Karl Sieg

208

gemeinen Schlüsse gezogen werden. - Die Verwaltungsübung der Rentenversicherer, die hilfsweise die allgemeine Erbfolge anerkennen8 4, entspricht also der Rechtslage. Wenn auch die allgemeine Erbfolge nicht ausgeschlossen ist, so kann sie doch nur Platz greifen, wenn kein Sondernachfolger vorhanden ist. Hierbei ist es gleichgültig, ob die allgemeine Erbfolge eine gesetzliche oder eine gewillkürte ist85 • Der Erblasser ist, der Zielsetzung der §§ 630, 1288 entsprechend, nicht in der Lage, durch Verfügung von Todes wegen den Sondernachfolger um den Leistungsanspruch zu bringen86 , ebenso wenig kann er ihn insoweit beschweren, etwa durch Anordnung einer Nacherbfolge, der Testamentsvollstreckung oder eines Vermächtnisses. 2. Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung

Hier kennt das Gesetz keine Sondernachfolge in den beim Tode des Versicherten noch nicht erfüllten Leistungsanspruch. Deshalb wird in analoger Anwendung von §§ 1922 ff. BGB allgemeine Erbfolge angenommen 87 • Das Ergebnis ist unbefriedigend, denn die gleichen Erwägungen, die für die personelle Bindung des Leistungsanspruchs in der Renten- und Unfallversicherung sprechen, greifen auch hier Platz. Es ist deshalb die Frage aufzuwerfen, ob die §§ 630, 1288 analog angewendet werden können. Das erscheint indes mangels irgendeines Anhaltes im Gesetz zu kühn, zum al diese Bestimmungen kein allgemeines Prinzip des Sozialrechts widerspiegeln. Auch in der Sozialhilfe 88 und in der Versorgung89 bejaht man vielmehr die allgemeine Erbfolge. Auch hier läßt sich aus § 203 (diesmal aus dessen Satz 2) kein genereller Schluß ziehen. In der Krankenversicherung ist auf eine Besonderheit aufmerksam zu machen, die sich aus §§ 219 ff. ergibt. Nicht jede beim Tode des Versicherten noch nicht erbrachte Kassenleistung schlägt sich in einem Anspruch nieder, den der Erbe im Nachlaß findet. Hat in den Fällen der §§ 219, 220 eine fremde Kasse, hat im Falle des § 221 der Arbeitgeber Kassenleistungen vorgestreckt, so gewinnen sie dadurch einen Anspruch gegen die verpflichtete Kasse (§ 222)90. Rechtstechnisch muß man sich den Verbandskommentar a.a.O. § 1535 b Anm. 2. Unter der Voraussetzung fehlenden Sondernachfolgers wird man auch die Einsetzung eines auf den Leistungsanspruch sich beziehenden Vermächtnisses für wirksam halten müssen. 86 BSG Bd. 15 S. 157; RV A Amtl. Nachr. 1914 S. 694 ff.; Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 287 f. Anders das von ihm S. 279 zitierte Urteil des Bayr. LSG. 81 Vgl. die oben N. 9 und 10 Genannten sowie Schnorr von Carolsfeld a.a.O. S. 295 für die Krankenversicherung. 88 Gottschick, Bundessozialhilfegesetz, 3. Aufl. § 4 Anm. 6. 89 Schieckel-Gurgel, Bundesversorgungsgesetz, 3. Aufl. § 66 Anm. 1; BSG 84

85

NJW 1966 S. 1239. 90

über entsprechende Anwendung in engem Rahmen: Schnorr von Carols-

feld a.a.O. S. 295.

Die Vererblichkeit von sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen

209

Vorgang so vorstellen, daß die fremde Kasse oder der Arbeitgeber kraft gesetzlichen Auftrages die Schuld der verpflichteten Kasse tilgt und damit einen eigenen Aufwendungsersatzanspruch erwirbt. Der Versicherte, der stirbt, ehe dieses Rechtsverhältnis abgewickelt worden ist, hatte also keinen Anspruch mehr gegen seine Kasse, der auf den Erben übergegangen sein könnte. Die Regelung hat Verwandtschaft mit der des § 203 S. 1. Das Rechtsverhältnis derer, die zunächst für den SVT in die Bresche gesprungen sind, ist also recht unterschiedlich gestaltet91 • Den vertraglichen Forderungsübergang auf den Drittzuwender kennt § 119 II (s. o. III 4 b). Dem Sozialhilfeträger als Vorschießendem wird hingegen nach Maßgabe der §§ 1527 ff. geholfen (s. o. II 5). Die eben behandelten §§ 219-222 kennen eine dritte Regreßmethode. In letzteren beiden Fällen wäre der gesetzliche Forderungsübergang die klarste Lösung gewesen.

91

Vgl. Sieg DB 1960 S. 1328.

14 Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch

WILHELM WENGLER

Die Gegenseitigkeit von Rechtslagen im internationalen Privatrecht I. Man kann Zweifel haben, ob das heutige Juristendenken in Deutschland nicht zu einseitig auf die Aufgabe des Richters, den konkreten Fall autoritativ zu entscheiden, ausgerichtet ist, und ob nicht dabei das Interesse der Normadressaten, die rechtlichen Folgen ihres Verhaltens vorausbestimmen zu können, und das Interesse des Gesetzgebers und der ihn tragenden politischen Kräfte, dieses Verhalten sinnvoll zu steuern, zu kurz kommt. Aber auch "Fallgerechtigkeit" ist sicher nicht darin zu sehen, daß die Gesamtheit der Interessen der Parteien des Einzelfalles berücksichtigt wird, sondern erfordert, daß der einzelne Fall gerecht neben anderen Fallentscheidungen gelöst wird. Einfach falsch wäre aber eine Lösung des konkreten Streitfalles, die es ignoriert, daß der Gesetzgeber selbst seiner abstrakten Verhaltensregelung einen bestimmten Plan zugrunde gelegt hat, der zur Berücksichtigung anderer als der zur Lösung des Falles unmittelbar anwendbaren Rechtsnormen nötigt. Wie sehr aber das isolierende Fall-Lösungsdenken die Fähigkeit und die Bereitschaft hierzu zum Teil schon abgeschwächt hat, mögen die folgenden Ausführungen zeigen. Im Zusammenhang mit der Erforschung des Vorfragenproblems im internationalen Privatrecht habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß es unter den Prinzipien, die gerade vom Richter bei Unklarheiten oder Lücken in der gesetzlichen Regelung des Kollisionsrechts zu beachten sind, zwei allgemeine Gedanken gibt: Einerseits soll danach gestrebt werden, nach Möglichkeit nicht anders zu entscheiden, wie auch ausländische Gerichte in derselben Sache entscheiden würden; die Richter aller beteiligten Staaten sollen vor allem die einzelne Partei nach Möglichkeit davor bewahren, daß ihr in einem Staat eine Verhaltenspflicht auferlegt oder die Verletzung einer Verhaltenspflicht vorgeworfen wird, die in einem absoluten Widerspruch zu dem steht, was im Ausland über die Verhaltenspflichten der Partei angenommen und zu erzwingen versucht würde. Andererseits wird dem Richter nahegelegt, die Entscheidung des konkreten Falles, sei es unter Anwendung inländischen, sei es 14"

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Wilhelm Wen gIer

unter Anwendung ausländischen Rechts, so zu bilden, daß diese Entscheidung mit anderen Entscheidungen harmoniert, die derselbe Richter (oder ein anderes Gericht des Forumstaates) in einem anderen Fall, dessen Gegenstand mit dem Gegenstand des Streitfalles sachlich zusammenhängt, zu fällen haben würde oder bereits gefällt hat. Das erstgenannte kollisionsrechtliche Lückenfüllungs- und Auslegungsprinzip, der internationalen Entscheidungsgleichheit möglichst nahe zu kommen, kann nun mit dem zweiten kollisionsrechtlichen Prinzip, dieoder jedenfalls eine gewisse - materielle Harmonie 1 unter den durch die gerichtlichen Entscheidungen (einschließlich der möglichen Entscheidungen) bestätigten konkreten Rechtslagen zu wahren, in Widerspruch geraten. Dann hat offenbar eine Abwägung des Gewichts der beiden Prin1 Nachdem Martin Wolff in seiner witzigen Art bemerkt hatte, daß der Ausdruck Gesetzes"harmonie" für das, was Kahn damit im Sinne hat, eigentlich nicht paßt, und daß man dafür besser "internationaler Entscheidungseinklang" sagen sollte, haben andere geglaubt, das, was ich "materielle Harmonie" genannt habe, sei in "internen Entscheidungseinklang" umzutaufen. Dabei denkt man offenbar an den besonderen Fall, daß bei der Vorfrage die materielle Harmonie in der Tat dadurch zustande kommen kann, daß dieselbe Rechtsfrage in ihrer Eigenschaft als Hauptfrage von einem deutschen Gericht und als Vorfrage unter ausländischem Recht, aber ebenfalls von einem deutschen Gericht, mit Sicherheit dann gleichmäßig beantwortet werden kann, wenn auf sie jedesmal dasselbe Recht angewendet wird. Worauf es aber bei der Vorfrage letztlich ankommt, ist eine echte Harmonie zwischen der Entscheidung von Hauptfragen : Daß Kinder, die tatsächlich aus einer im Forumstaat bestehenden, d. h. zwischen den Ehegatten von diesem Staat durch Rechtszwang gesicherten Ehe hervorgegangen sind, in demselben Staat im Verhältnis zu den Eltern die Rechte "ehelicher" Kinder genießen (wenn sowohl das Ehestatut als auch das Kindschaftsstatut eine Unterscheidung zwischen ehelichen und unehelichen Kindern macht), ist das, worauf es ankommt, nicht aber, ob dieses Resultat dadurch erreicht wird, daß man die von dem Kindschaftsstatut aufgeworfene Vorfrage nach der "Ehelichkeit" durch Bejahung der Vorfrage nach dem Bestehen der Ehe oder auf andere Weise - was durchaus denkbar ist, vgl. meinen Aufsatz in Jur. Rdsch. 1963, 41 ff. - mit positivem Ergebnis beantwortet. Gerade die Ausführungen im Text zeigen, daß das, was ich mit materieller Harmonie im Auge habe, die Notwendigkeit der Berücksichtigung der von einem System des materiellen Privatrechts (bzw. von mehreren solchen Systemen) gewollten Zusammenhänge zwischen den einzelnen abstrakten Regelungen - und damit auch zwischen den konkreten Rechtslagen - ist. Dabei handelt es sich um ein Problem, das eben nicht bloß bei der "Vorfrage" auftaucht. In Rev. Crit. D. Int. Priv. 1966, S. 165 ff., habe ich im übrigen dargelegt, daß die Frage nach dem Bestehen eines "präjudiziellen Rechtsverhältnisses" meist die Frage nach einer mit Verwirklichungschancen ausgestatteten bzw. bereits realisierten konkreten Rechtslage ist, und daß diese Frage weder einfach über die Kollisionsnormen des Forumstaates, noch über das "normale" Kollisionsrecht der lex causae zu lösen ist, sondern unter Umständen nur durch alternative Berücksichtigung der in verschiedenen "beteiligten" Staaten vorgesehenen Lösungen. Wenn man das Prinzip, das Kahn Gesetzesharmonie genannt hat, als das Prinzip der "Vermeidung der Gefahr des Versuches der Erzwingung widersprechender Verhaltenspflichten in verschiedenen Staaten", und "mein" Prinzip der materiellen Harmonie als das Prinzip der "Beachtung von Zusammenhängen zwischen Sachnormen (und Rechtslagen) bei der Entscheidung im Forumstaat" bezeichnen würde, so würde das wohl die Sache am deutlichsten machen.

Die Gegenseitigkeit von Rechtslagen im internationalen Privatrecht 213 zipien, aber auch der Dringlichkeit ihres Anwendungsbedürfnisses im konkreten Fall, stattzufinden. Das Bedürfnis, bei der Entscheidung eines konkreten zivilrechtlichen Streitfalles nach einer materiellen Harmonie zwischen mehreren Entscheidungen im Forumstaat zu fragen, beruht seinerseits darauf, daß der Gesetzgeber in seinem nationalen Privatrechtssystem sehr häufig schon die abstrakte Regelung einer bestimmten Gruppe gleichartiger Fragen deshalb in bestimmter Weise gestaltet, weil er für eine andere Gruppe von Fragen eine ganz bestimmte anderweitige inhaltliche Regelung vorgesehen hat: Wieviel dem überlebenden Ehegatten kraft Erbrechts vom Nachlaß des Erstverstorbenen zugewiesen wird, hängt mit davon ab, ob der überlebende Gatte in dem betreffenden Privatrechtssystem etwas durch Aufteilung oder Fortführung einer Gütergemeinschaft, oder kraft eines noch gegen die anderen Erben fortwirkenden Unterhaltsanspruches erhält. Besonders wichtig aber ist es, daß der Gesetzgeber häufig einer bestimmten Partei eine Verhaltenspflicht oder eine sonstige Belastung auferlegt, weil für die hiervon begünstigte andere Partei anderswo eine entsprechende oder jedenfalls in der Sicht des Gesetzgebers ausgleichende Verhaltenspflicht oder Belastung vorgesehen ist. Es ist für den Juristen etwas Selbstverständliches, daß diese "Gegenrechtslage" oft durch ausdrückliche gesetzliche Bestimmungen in vielfältiger Weise rechtlich erheblich gemacht wird.

11. Das läuft dann auch alles glatt, solange für Rechtslage und Gegenrechtlage bei homogen, d. h. nur mit einem Lande verknüpften Sachverhalten ohne weiteres nur ein einziges nationales Recht in Frage kommt. Die Frage, wie der Gegenseitigkeit von Rechtslagen, wie sie innerhalb eines bestimmten nationalen Privatrechtssystems vom Gesetzgeber selbst gewährleistet ist, bei der Lösung von Streitigkeiten aus heterogen verknüpften Sachverhalten Rechnung getragen werden kann, äußert sich im internationalen Privatrecht bekanntermaßen bei den gegenseitigen obligatorischen Verträgen. Hier wird gegen die Zerspaltung des Vertrages, d. h. die Unterstellung der verschiedenen Teilfragen, die sich aus dem Vertrag ergeben, und hier wiederum vor allem gegen die Unterstellung der Verpflichtungen der einen bzw. der anderen Partei unter verschiedene Rechte - wie sie sich vor allem bei der Verwendung der Anknüpfungsmomente Wohnsitz oder Erfüllungsort ergibt - mit Recht eingewendet, daß damit das "Synallagma", wie es der einzelne nationale Gesetzgeber seiner Regelung des gegenseitigen Vertrages zu-

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Wilhelm Wengier

grunde gelegt hat, zerstört werde oder jedenfalls zerstört werden könne 2 • Das ist bei Verträgen, bei denen die Vertragsparteien gleichartige Leistungen austauschen sollen (Tauschvertrag über Sachen, über Dienstleistungen, über Einbringung von Gesellschaftskapital) noch deutlicher als bei den Verträgen über den Austausch von Waren, Dienstleistungen usw. einerseits, gegen Geldleistungen der anderen Partei andererseits. Dem von dem einzelnen Privatrechtssystem geplanten Ausgleich der Verpflichtungen beider Parteien beim gegenseitigen Vertrag wird zweifellos nicht Rechnung getragen, wenn die Frage, ob eine mit Sanktionen versehene Verhaltenspflicht einer Partei besteht, die Frage, welchen Umfang sie hat, und die Frage, welche Sanktionen ihre Verletzung hervorruft, im Forumstaat, dessen Gerichte zur Erzwingung der Pflichten beider Parteien zuständig und in der Lage sind, für jede Partei nach einem anderen Recht beurteilt wird, und die beiden Rechte nicht zufällig inhaltlich gleiche Lösungen vorsehen. Dann braucht bei einem Tauschvertrag über bewegliche Sachen etwa die eine Partei geringfügige Mängel überhaupt nicht auszubessern, oder dafür Geldersatz zu leisten, während die andere Partei dies bei der von ihr gelieferten Sache tun muß bzw. tun müßte. Kein Heilmittel zur Wiederherstellung des Synallagma wäre es, wenn man jede Partei nur gemäß ihrem Recht zur Leistung, Rückgewähr oder Schadensersatz verurteilen würde, und die Vorfrage, ob eine Nichterfüllung seitens der Partei X infolge Nichterfüllung oder Schlechterfüllung seitens der Partei Y rechtmäßig war, dann ebenfalls nach dem Recht der Partei X beurteilen wollte; dann bleibt ja immer noch derjenige, welcher vorzuleisten und vorgeleistet hat, und dessen Recht das strengere ist, ohne Behelf gegenüber demjenigen, dessen Recht seine Verpflichtungen milder beurteilt als das Recht der anderen Partei. Sofern nicht - z. B. unter Anknüpfung an den beiden Parteien "gleich nahen" Ort des Vertragsabschlusses - ein einziges nationales Recht als Vertragsstatut ermittelt wird, welches für die Rechte und Pflichten beider 2 Bei der in der Schweiz als "große" Vertragsspaltung bezeichneten Unterstellung der Frage des Zustandekommens des Vertrages einerseits und des Umfanges der Rechte und Pflichten aus dem Vertrag andererseits ist wohl niemand je so weit gegangen anzunehmen, daß ein Vertrag für eine Partei gemäß dem einen anwendbaren Recht als gültig zu behandeln sei, während er für die andere Partei gemäß dem anderen anwendbaren Recht als ungültig gelten müsse. Wohl aber hat das Schweizer Bundesgericht die "kleine" Vertragsspaltung - Beurteilung der Verpflichtungen der Parteien nach verschiedenen Rechten - mit Rücksicht auf die dadurch verursachte Störung der materiellen Harmonie (des Synallagrna) schon vor der Ablehnung der großen Vertragsspaltung mißbilligt, am deutlichsten in der Entscheidung vom 22. 2. 1949, Schweiz. Jb. Int. R. 5 (1948) 115. Im Gegensatz dazu scheint der Bundesgerichtshof bis heute die kleine Vertragsspaltung als subsidiäre Lösung hinzunehmen, wenn der ausdrückliche oder hypothetische Partei wille nicht zu einem Schuldstatut führt, und für die beiden Vertragspartner verschiedene Erfüllungsorte gelten.

Die Gegenseitigkeit von Rechtslagen im internationalen Privatrecht 215 Parteien aus dem Vertrag maßgeblich sein soll, scheint im allgemeinen das synallagmatische Verhältnis dann gewahrt zu sein, wenn von den zwei in Frage kommenden Privatrechten - etwa den Rechten der für beide Parteien des Vertrages unterschiedlichen Erfüllungsorte oder Schuldnerwohnsitze - von der Kollisionsnorm für beide Parteien entweder das strengere (d. h. die Verhaltensfreiheit mehr einschränkende) oder umgekehrt das mildere Recht bevorzugt wird. Die Maßgeblichkeit des "milderen" Rechts kann dabei so "konstruiert" werden, daß jede Partei im Prinzip zunächst zu dem verpflichtet ist, was ihr von dem Recht aufgegeben wird, mit dem sie selbst verknüpft ist, daß aber die Partei, welcher Nichterfüllung vorgeworfen wird, diejenige Behandlung verlangen kann, die bei umgedrehten Rollen der Parteien für eine hypothetische Vertragsverletzung seitens der Gegenpartei unter demjenigen Recht gelten würde, welches infolge einer Verknüpfung zu der Gegenpartei für diese in Frage kommt. Auch eine solche Prüfung des bei der Anwendung der verschiedenen Rechte jeweils zu erwartenden Ergebnisses, und die Bevorzugung des strengeren bzw. des milderen Rechts durch alternative bzw. kumulative Anwendung von zwei (oder unter Umständen sogar mehr) Rechten kann nun der materiellen Harmonie, wie sie jedes einzelne Privatrechtssystem anstrebt, dann nicht Rechnung tragen, wenn vom Gesetzgeber nur die Summe der aus einem Rechtsverhältnis sich ergebenden mehreren Rechtspflichten einer jeden Partei mit der Summe der Rechtspflichten der anderen Parteien in ein Ausgleichsverhältnis gebracht worden ist: Im Privatrecht A hat aus einem gegenseitigen Vertrag eines bestimmten Typs die Partei X der Partei Y zwei sachlich unterschiedliche Leistungen zu gewähren, von denen die eine mit 100, die andere mit 200 zu bewerten ist; Y hingegen ist zu einer einzigen "Gegenleistung" im Werte von 300 verpflichtet. Es kann sein, daß in einem Privatrecht B beiden Parteien aus einem Vertrag dieses Typs intensivere Pflichten obliegen, und zwar so, daß Y wiederum nur eine Leistung, aber im Werte von 400, zu erbringen hat, welcher zwei inhaltlich verschiedene Gegenleistungen des X im Werte von 250 bzw. 150 gegenüberstehen. Soll sowohl X als auch Y sich im Forumstaat auf dasjenige Recht berufen können, das für ihn die geringere Belastung darstellt, und wird dies dahin verstanden, daß X die erste aus dem Vertrag geschuldete Leistung gemäß dem Recht A im Werte von 100, die zweite gemäß dem Recht B im Werte von 150 erbringen kann, während Y eine Gegenleistung von 300 erbringen darf, so ist das Synallagma offensichtlich zerstört. Eine kollisions rechtliche Regelung, die auf die Bevorzugung des schwächeren Rechts hinausgeht, muß also die Regelung des zweiseitigen Vertrages in den in Frage kommenden Rechten jeweils in ihrer Gesamtheit betrachten, wenn die Vertragspflichten beider Parteien sich nicht in je einer einmaligen Leistung, oder in

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Wilhelm WengIer

mehreren gegenseitigen und in sich gleichwertigen Leistungen, erschöpfen. Das wird häufig deshalb übersehen, weil Verpflichtungen, die nicht auf quantitativ, insbesondere nicht in Geld, meßbare Einzelleistungen gehen, möglicherweise gar nicht einander als Resultat von "strengerem" bzw. von "milderem" Recht gegenübergestellt werden können. Denkbar ist auch, daß ein durch den Vertrag begründetes Dauerrechtsverhältnis sich nicht auf wenige für beide Parteien gleichartige gegenseitige Verhaltenspflichten beschränkt, sondern Wirkungen auf ganz verschiedenen Lebensgebieten auslöst, wobei wiederum die Verhaltenspflichten und Belastungen für die eine oder die andere Vertragspartei inhaltlich verschieden sein können. So zieht eine Ehe bekanntlich einerseits Rechte und Pflichten der Ehegatten in ihren persönlichen Beziehungen zueinander, aber auch Rechte und Pflichten unter sich in bezug auf das Verhältnis zu den Kindern, Unterhaltspflichten, und schließlich Rechte und Pflichten in bezug auf das beiderseitige bzw. auf das gemeinschaftliche Vermögen nach sich. Wenn man die Heimatrechte beider Ehegatten kumulativ, und zwar so anwendet, daß für jede einzelne Ehepflicht bzw. Belastung eines Gatten das "schwächere" Recht zum Zuge kommt, so kann damit unter Umständen der Ausgleich, den ein bestimmtes Privatrecht der "schlechten" Stellung der Frau auf dem einen Sektor durch eine Stärkung ihrer Stellung auf einem anderen Sektor verschaffen will, zerstört werden 3 • Dort, wo das auf die einzelnen Ehewirkungen anzuwendende materielle Recht - sei es das Recht eines einzelnen Staates, sei es das insgesamt mildere Recht von zwei Staaten - die Ehegatten selbst gleichbehandeln will, wird diese Gleichstellung der Ehegatten dann zerstört, wenn z. B. das Kollisionsrecht des Forumstaates das Recht auf Scheidung nicht einem Recht, sondern je nach Geschlecht und Staatsangehörigkeit bald aus dem einen, bald aus dem anderen Privatrecht entnehmen will 4 • Das Recht der 3 Wenn Kegel, Internationales Privatrecht, 19642 , S. 258, meint, daß hier nicht nur das "Ordnungsinteresse am inneren Entscheidungseinklang", sondern auch das "Ordnungsinteresse an der realen (d. h. im Forumstaat erzwingbaren) Entscheidung" beeinträchtigt werden, weil das aus Sätzen verschiedener Privatrechte gebildete Ganze nicht "einer einzelnen Rechtsordnung entspreche", so überzeugt das allein nicht. 4 van der Elst, in: Les Antinomies en droit, Brüssel 1965, S. 170 ff., sieht in der Anwendung des Heimatrechts des jeweiligen Klägers auf die Ehescheidung eine "Antinomie", die durch kumulative Anwendung bei der Heimatrechte vermieden werden könne. Er bemerkt, daß die auf diese Weise für "gemischte" Ehen anzuwendende "loi unique" eben einen Inhalt hat, wie er sich in einem einzelnen nationalen Privatrecht nicht wieder findet. Auch in den Entscheidungen des belgischen Kassationshofs vom 16. 5. 1952, J. T. 1953, 53, und vom 16. 2. 1955, J. T. 1955, 249, wird zwar betont, daß eine Ehe im Forumstaat nicht für den einen Ehegatten als fortbestehend, für den anderen als aufgelöst gelten könne, aber man vermißt die Feststellung, daß - vor allem bei Scheidungsgründen, die sowohl für den Mann als auch für die Frau gel-

Die Gegenseitigkeit von Rechtslagen im internationalen Privatrecht

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Ehefrau deutscher Staatsangehörigkeit, in Deutschland nicht nur gemäß dem Heimatrecht des Mannes (kumuliert mit der deutschen lex fori), sondern unter allen Umständen auch allein gemäß deutschem Recht wegen einer Eheverfehlung des Mannes geschieden zu werden, verleiht den persönlichen Ehe"wirkungen", d. h. den Verhaltenspflichten der Ehegatten während bestehender Ehe, selbst dann eine unterschiedliche Intensität, wenn diese Wirkungen gemäß dem in Deutschland dafür maßgeblichen Recht für beide Ehegatten gleich sein sollen. Bei dieser Einstellung des deutschen Gesetzgebers zur Gegenseitigkeit in der Ehe ist es dann allerdings nicht verwunderlich, wenn die Rechtsprechung für die Respektierung der Gegenseitigkeit von Pflichten aus anderen vertraglich begründeten zweiseitigen Rechtsverhältnissen nichts übrig hat. Beim Verlöbnis meint der BundesgerichtshofS, es müsse eben "in Kauf genommen" werden, daß die Verpflichtungen aus dem Verlöbnis sich bei verschiedener Staatsangehörigkeit der Verlobten für jeden von ihnen nach einem anderen Recht richten. Weder die Möglichkeit, durch Analogie zu Art. 14 EGBGB, noch die Möglichkeit, durch Bevorzugung des (insgesamt!) "schwächeren" Rechts zu einem Einheitsrecht für beide Parteien zu gelangen, veranlassen den BGH, die kollisionsrechtliche "Spaltung" des Verlöbnisses6 aufzugeben. Beim zweiseitigen Vertrag ist indes das Synallagrna, wie es das einzelne Privatrechtssystem im Sinne hat, nur dann wirklich gesichert, wenn im Forumstaat auf den ganzen Vertrag entweder ein einziges nationales Privatrechtssystem, oder eine einzige materiellrechtliche Spezialregelung für heterogen verknüpfte Vorgänge zur Anwendung gebracht wird. Daß es sich bei derjenigen Verknüpfung zu einem von zwei Staaten (oder gar bei der zu einem dritten Staat bestehenden Verknüpfung), die bei sonst gleichgewichtigen Verknüpfungen zu zwei Staaten den Ausschlag geben könnte, um zu einem nationalen Recht als dem proper law of contract zu kommen, unter Umständen nur um eine sehr schwache oder zufällige Verknüpfung handeln kann7 , scheint mir kein Anlaß zu sein, um die Zerspaltung des Vertrages und die Zerstörung des Synallagma vorzuziehen. Läßt sich nicht ermitteln, welches von den beiden in Frage kommenden und gleich stark verknüpften Rechten in seiner Gesamtheit der Regelung des Vertrages für beide Parteien das mildere (schwächere) Recht darstellt, so wäre es - immer vorausgesetzt, daß für die Beurteilung der ten - im Interesse der Gegenseitigkeit dafür gesorgt werden muß, daß beide Ehegatten einer "gemischten" Ehe sich auf dieselben Scheidungsgründe berufen

können.

Entscheidung vom 21. 11. 1958, BGHZ 28, 375. Sie bezieht sich allerdings wohl nur auf die Pflichten der Beteiligten aus dem Verlöbnis, nicht auf dessen gültiges Zustandekommen. 7 Vgl. den vom Schweizerischen Bundesgericht entschiedenen Fall, Schweiz. Jb. Int. R. 7 (1950) 252 ff. S

8

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Vertragspfiichten aller Parteien ein und derselbe Forumstaat zuständig und zugleich zur Ausübung von Rechtszwang gegenüber beiden Parteien in der Lage ist - einer mechanischen Kumulation der beiden Rechte für die einzelnen Verhaltenspfiichten der Parteien und der Anpassung qualitativ verschiedener Verhaltenspfiichten meines Erachtens sogar vorzuziehen, daß man ein Sonderrecht für den mit zwei Staaten gleichmäßig stark verknüpften Vertrag bildet, wobei selbstverständlich die schon übereinstimmenden Regeln der beiden nationalen Rechte übernommen und andere gemeinschaftliche Rechtsgedanken berücksichtigt werden müssen. Praktisch läuft dies auf eine kumulative Anwendung beider Rechte, soweit sie qualitativ und quantitativ übereinstimmen, und auf eine Ergänzung dieses gemeinsamen Normenbestandes durch eine Art "Anpassung" der nicht übereinstimmenden Sachregelungen hinaus 8 • 111. Es gibt nun aber im materiellen Recht Gegenseitigkeitsbeziehungen zwischen Verhaltenspfiichten oder sonstigen Rechtswirkungen bzw., generell gesprochen, zwischen konkreten Rechtslagen, denen zuliebe man unmöglich das Kollisionsrecht des Forumstaates so gestalten kann, daß auf die streitige Rechtslage und auf die Gegenrechtslage nur ein einziges Recht anwendbar ist, und es gibt Fälle, in denen der Forumstaat zwar zur Durchsetzung der in dem streitigen Fall geltend gemachten Ansprüche, nicht aber zur Durchsetzung der Gegenrechtslage faktisch die Macht hat. Es mögen zunächst die in Frage kommenden Situationen aufgezählt und dabei schon gewisse Fragen bezüglich der kollisionsrechtlichen Behandlung solcher Gegenseitigkeitsbeziehungen skizziert werden. a) Zu denken ist zunächst an Gegenseitigkeitsbeziehungen bei außervertraglichen (gesetzlichen) Verpflichtungen. Hier sind es z. B. die Notalimentationspfiichten zwischen Seitenverwandten - aber auch Alimentationspfiichten zwischen Enkeln und Großeltern, adoptierten Personen und Aszendenten des Adoptierenden -, bei denen viele, ja wohl die meisten Rechte zwar keine aktuelle, aber doch eine hypothetische Gegenseitigkeit als selbstverständlich unterstellen: Der Bruder schuldet dem Bruder nach schweizerischem Recht9 Unterhalt in Notfällen, weil auch 8 Ein ähnlicher Sinn muß meines Erachtens dem Art. 215 des Vertrages über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft unterlegt werden, welcher die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft bei Schadenszufügung durch ihre Organe nach "den allgemeinen Rechtsgrundsätzen" bestimmen will, "die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind". Es kann sich hier nicht darum handeln, daß ein Schadensersatz anspruch dem Grunde und dem Umfang nach gemäß dem nationalen Recht aller 6 Mitgliedstaaten gegeben sein müßte. ~ Vgl. Art. 328 ZGB.

Die Gegenseitigkeit von Rechtslagen im internationalen Privatrecht 219 der zu Unterstützende dann eine entsprechende Unterhaltspflicht haben würde, wenn der Fall eintreten sollte, daß Notlage und Befriedigungsmöglichkeit umgekehrt verteilt sind. Wenn nun die Unterstützungspflichten zwischen Geschwistern nicht nach dem für beide gemeinsamen Heimatrecht des Vaters beurteilt werden sollen (was an sich denkbar wäre, aber unüblich ist), sondern nach dem Heimatrecht des Verpflichteten, so würde man es doch wohl als unbillig empfinden, wenn ein Schweizer den deutschen in Not geratenen Bruder unterstützen müßte, obwohl im umgekehrten Fall eine Unterstützungspflicht des deutschen Bruders für den Schweizer Bruder verneint werden müßte 10 • Hier scheint also auf den ersten Blick nur die Beachtung der beiden Rechte, die im Forumstaat für die Verpflichtung der einen, bzw. die hypothetische Verpflichtung der anderen Partei zur Anwendung berufen sind, ein angemessenes Ergebnis zu sichern. Es handelt sich aber dabei nicht um eine aus spezifisch kollisionsrechtlichen Motiven ll zu begründende "Kumulation" von zwei Rechten12 , sondern es ist eben die im Forumstaat auf die streitige Verpflichtung anzuwendende Sachnorm, welche bei sinngemäßer Auslegung dahin zu lesen ist, daß der diesem Recht Unterworfene X seinem Bruder Y in Notfällen Unterhalt schuldet, aber unter der selbstverständlichen Voraussetzung, daß Y gegenüber dem X für den umgekehrten Fall ebenfalls eine gleichartige Hilfeleistungspflicht obliegen würde. Damit, daß man die Voraussetzung der Gegenseitigkeit als ein materiellrechtliches Erfordernis versteht, gelangt man zu einem neuen Problem: Muß dem Y die gleichartige Verpflichtung für den hypothetischen umgekehrten Fall gemäß dem im Forumstaat A - wo X verklagt wirdanzuwendenden Recht obliegen, oder kommt es vielleicht auf die Realisierbarkeit der Gegenverpflichtung in einem anderen Staat auf Grund des dort anzuwendenden Rechts an? Wohnen beide Brüder, und hat der tatsächlich verklagte Bruder seine Staatsangehörigkeit im Forumstaat A, der auf diesen Klaganspruch seine lex fori anwenden möchte, wären ferner die Gerichte des Forumstaates auch zur Entscheidung über die hypothetische Verpflichtung des klagenden Bruders zuständig, wäre dessen Verpflichtung aber gemäß dem im Forumstaat anwendbaren Heimatrecht des Verklagten zu verneinen, so ist die Voraussetzung für die Verpflichtung des tatsächlich in Anspruch genommenen Bruders gemäß der hierauf anzuwendenden lex fori in Gestalt einer Gegenverpflichtung des Klägers jedenfalls "im Forumstaat" nicht verwirklicht. Man hat aber auch an folgende Situation zu denken: Der im Forumstaat A verklagte X 10 Während Kegel bei den persönlichen Ehewirkungen subsidiär für das "schwächere" Recht eintritt (vgl. a.a.O., S. 278), meint er hier, zum Schutz der Schwachen sei "Milde geboten", vgl. a.a.O., S. 346. 11 Nämlich der gleich intensiven Verknüpfung einer Schuld mit zwei Rechtsordnungen. 12 So allerdings wohl LG Hamburg, NJW 1955, 549.

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ist Staatsangehöriger von A, wohnt in A, und hat Vermögen in A, Bund C. Der Bruder Y hingegen ist Staatsangehöriger von B, wohnt in C, und hat - soweit überhaupt - sein Vermögen in C und D. Wendet man in A auf die Unterhaltspflicht zwischen Geschwistern das Heimatrecht des Verpflichteten an, und kennt sowohl das Recht von A als auch das Recht von B eine solche Unterhaltspflicht zwischen Brüdern, so ist zwar die vom Recht A geforderte hypothetische Gegenseitigkeit auf dem Papier der in A anzuwendenden Gesetzbücher von A und B gewährleistet, aber von effektiver Gegenseitigkeit kann nicht die Rede sein, wenn in A und B gar kein Gerichtsstand für die Klage in dem hypothetischen Gegenfall gegeben ist, und wenn in C und D - wo ein solcher Gerichtsstand besteht - auf die Unterhaltspflicht zwischen Geschwistern das Wohnsitzrecht des Verpflichteten angewendet würde, und wenn das Recht vonC keine Unterhaltspflicht zwischen Geschwistern kennt. Ist aber nicht vielleicht auch an folgende Situation zu denken: Das im Staat A (eventuell auch in B) auf die hypothetische Unterhaltspflicht des Y anzuwendende Recht B kennt die Unterhaltspflicht zwischen Geschwistern nicht, wohl aber ist sie dem in C und D anzuwendenden Recht von C bekannt. Wäre damit die Voraussetzung einer realisierbaren Gegenverpflichtung als verwirklicht zu betrachten? Oder ist auf die Realisierbarkeit der Gegenverpflichtung deshalb weniger Wert zu legen, weil es sich ja bei der Notunterhaltspflicht um eine rein hypothetische Gegenverpflichtung handelt? b) Auf dem Gedanken der Gegenseitigkeit für den hypothetischen, möglicherweise aber auch bereits aktuell gewordenen, "umgekehrt gelagerten" Fall beruhen offenbar die Normen des Nachbarrechts: Das Recht des Grundstückseigentümers oder -besitzers, von Grundstücksnachbarn ein Unterlassen oder gar ein bestimmtes Tun zu verlangen, kann daher nach Ansicht der wenigen, die sich mit der Frage befaßt haben, bei Grundstücken, die durch die Grenze der Geltungsgebiete verschiedener Sachenrechte getrennt sind, nicht einfach nach Maßgabe des Rechtes des mit nachbarlichen Pflichten "belasteten" Grundstücks, sondern nur unter kumulativer Anwendung dieses Rechts und des Sachenrechts des anderen Landes geltend gemacht werden13 • c) Von großer praktischer Bedeutung ist die stillschweigend vom Privatrechtsgesetzgeber unterstellte Gegenseitigkeit zwischen der im Streit befindlichen konkreten Verpflichtung und der Gegenverpflichtung des Klägers für den umgekehrt liegenden Fall, wenn es darum geht, das anzuwendende Recht für Rechtsfolgen aus Delikt zu bestimmen. Hier wird 13 Vgl. Zitelmann, Internationales Privatrecht, Bd. 2, S. 328, der das Ergebnis in komplizierter Weise völkerrechtlich begründen will. Entgegen der älteren französischen Rechtsprechung will auch Niboyet, Traite, Bd. 4, S. 354, die beiden Rechte kumulativ anwenden, weil Rechte und Pflichten der Nachbarn "indissociables" seien.

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das Problem deutlich, wenn die Haftung aus Delikt im Forumstaat irgendwie von der Staatsangehörigkeit (eventuell auch dem Wohnsitz) des in Anspruch Genommenen abhängig gemacht wird. Man unterstelle, daß ein deutscher und ein französischer Boxer in Frankreich an einem öffentlichen Boxkampf gegeneinander teilnehmen sollen. In den von beiden Teilnehmern unterschriebenen Bedingungen der Veranstalter wird die Haftung für unabsichtlich zugefügte Gesundheitsschädigung ausgeschlossen. Ein derartiger Haftungsausschluß ist nach deutschem Recht wohl rechtswirksam, während die Gültigkeit nach französischem Recht wahrscheinlich zu verneinen ist1 4 • Klagt nun der französische Boxer in Deutschland gegen den deutschen Boxer auf Schadensersatz wegen fahrlässiger Körperverletzung, und erhebt der Deutsche Widerklage, so scheint nach Art. 12 EGBGB ein deutsches Gericht der Klage des Deutschen gemäß der französischen lex loci delicti stattgeben, die Klage des Franzosen hingegen abweisen zu müssen, weil sie nicht auch im deutschen materiellen Recht begründet ist. Demjenigen, der dies als unbillig empfindet, wird man vielleicht entgegenhalten, daß für das internationale (besser: das intergentile) Privatrecht des frühen Mittelalters ein ähnliches Ergebnis auch ohne spezielle Vorbehaltsklausel selbstverständlich war: Wenn uns überliefert ist, daß die Höhe des Wergeldes sich nach dem Stammesrecht des Verletzten richtete15 , so mußte der Sachse, der in eine Rauferei mit einem Bayern geriet, für das abgerissene Ohr des Bayern möglicherweise das Doppelte dessen zahlen, was der Bayer für die entsprechende Untat dem Sachsen zu zahlen hatte (oder zu zahlen gehabt hätte). Gerade dieses Beispiel zeigt indes, daß man wohl die Behauptung wagen kann, daß die Ablösung des Systems der persönlichen Rechte durch das System der lokalen Rechte, und daß das Aufkommen der Kollisionsnorm über die Maßgeblichkeit der lex loci delicti gerade dadurch gefördert wurden, daß auch schon das Mittelalter das Bedürfnis der Wahrung der Gegenseitigkeit bei Deliktobligationen anerkannte 16 , und daß man deshalb die Anwendung unterschiedlicher Rechte auf die Haftung des Beklagten und auf die (aktuelle oder auch nur hypothetische) Haftung des Klägers für sein Vgl. Mazeaud, Traite de la responsabiIite civile, Bd. 35 , No. 2575. Vgl. Brunn er, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, S. 385. Nach Meijers, Rec. C. Ac. D. Int. 49 (1934 III) 557, wurde später das Recht des Verletzten durch das Recht des Verletzers abgelöst. 16 Freundlicherweise wies mich Prof. Dilcher nach Abschluß des Manuskripts auf den Gleichheitseid des älteren germanischen Rechts hin, mit dem der Täter versicherte, er werde sich mit der gleichen Summe des Sühngeldes begnügen, wenn ihm die gleiche Unbill (offenbar von der Sippe des Verletzten oder diesem selbst) widerfahren würde, vgl. Brunner, a.a.O., Bd. 1, S. 227. Da der Gleichheitseid sich noch im 13. Jahrhundert findet, muß er wohl auch in den heterogen verknüpften Situationen aktuell geworden sein, obwohl die Literatur darüber nichts berichtet. 14 15

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eigenes deliktisches Verhalten gegenüber dem Beklagten als unbillig empfand. Obwohl die deutsche Literatur über internationales Privatrecht den art. 12 EGBGB durchweg als verfehlt empfindet17 , hat sie sich aber offenbar nie die Frage vorgelegt, ob es denn dem wahren Sinn der Sachnormen der in Deutschland anzuwendenden ausländischen lex loci delicti entspricht, einem Kläger Ansprüche zu verschaffen, der für eine entsprechende deliktische Schädigung zu Lasten des Beklagten jedenfalls in Deutschland seinerseits nicht oder nicht in dem Umfang haften würde, wie dies das Deliktsstatut im Prinzip für den Beklagten vorsieht1 8 • Interessanterweise hat das gesunde Rechtsempfinden sich im Seerecht besser bemerkbar gemacht. Soweit man hier nicht auf den Schadensersatzanspruch aus schuldhaft verursachten Schiffszusammenstößen in Eigenoder Küstengewässern die lex loci des Uferstaates, und auf Zusammenstöße auf hoher See die lex fori zur Anwendung bringt, sondern soweit man vor allem die Haftung des Schiffs eigentümers für die von der Besatzung verschuldeten Zusammenstöße nach dem Flaggenrecht seines eigenen Schiffes beurteilt, haben nationale Gesetze19 die Haftung unter Vgl. Kegel, a.a.O., S. 244. Eine kuriose Situation entsteht auch, wenn ein nach der lex loci zu beurteilender deliktischer Anspruch davon abhängig gemacht wird, daß der Verletzte ein "absolutes" Recht auf Unterlassung des deliktischen Verhaltens hatte, und wenn das Bestehen dieses absoluten Rechts nicht nach der lex loci, sondern nach einem durch eine persönliche Verknüpfung des Verletzten (oder eines anderen Beteiligten) - wie Wohnsitz oder Staatsangehörigkeit - ermittelten Recht beurteilt wird. Das würde, wenn man mit Dicey-Morris, Conflict of laws, 1967 8 , S. 932, verlangt, daß nach dem Ehewirkungsstatut ein Ehegatte ein "absolutes" Recht gegenüber Dritten auf Unterlassung eines Ehebruchs mit dem anderen Ehegatten haben muß, zur Folge haben, daß in England zwar der Ehegatte, dessen Ehestatut das englische Recht ist, den in einem anderen Lande domizilierten Ehebrecher wegen des in England begangenen Ehebruches auf Schadensersatz verklagen könnte, während ein Schadensersatzanspruch wegen eines ebenfalls in England begangenen Ehebruchs einem außerhalb Englands domizilierten Ehegatten versagt bliebe, wenn das Ehewirkungsrecht des ausländischen Domizils des Ehepaares kein "right to consortium" kennt. Das würde zwar in erster Linie für ein englisches Gericht, unter Umständen aber auch für das Gericht eines anderen Staates gelten, wenn dieses auf den deliktischen Anspruch die lex loci delicti anwenden will. Besonders wenn man an den Fall denkt, daß ein doppelter "gegenseitiger" Ehebruch vorliegt, wäre dieses Ergebnis offensichtlich unbillig. Die Lösung ist allerdings meines Erachtens darin zu suchen, daß die Verpflichtung zur Unterlassung des Ehebruchs allein von der lex loci delicti abhängig ist, und daß es nicht auf das Ehewirkungsstatut ankommt. n Vgl. Art. 674 des portugiesischen Handelsgesetzbuches, Siesby, S",retlige lovkonflikter, 1965, S. 180 f., sowie die Resolution des Institut de Droit International von 1888 über das auf Schadensersatzansprüche aus Schiffszusammenstößen anwendbare Recht. Lyon-Caen, Ann. Inst. D. Int., ed. abr. vol. 2, S. 634, läßt klar erkennen, daß es nicht darum geht, die beiden Flaggenrechte kollisionsrechtlich als zu gleichem Rang anwendbar zu bezeichnen und sich bei Divergenzen zugunsten des für den Haftenden günstigeren Rechts zu entscheiden, sondern daß jeder unter dem Recht seiner Flagge haftet, aber entspre17

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dem Flaggenrecht schon ausdrücklich von der Bedingung abhängig gemacht, daß den Kläger - im konkreten Fall (so bei mitwirkendem Verschulden oder bei Haftung für die Schädigung beider Schiffe beim Fehlen eines nachgewiesenen Verschuldens auf beiden Seiten), oder in einem hypothetischen umgekehrt liegenden Fall- eine entsprechende Haftung unter dem Flaggenrecht seines Schiffes treffen würde. Nicht anders sollte es sein - so ist man jedenfalls auf den ersten Blick geneigt anzunehmen -, wenn der Kläger Y sich auf eine vom Recht des Verhaltensortes A vorgesehene Haftung des Beklagten X berufen möchte, und wenn der Erfolgsort des schädigenden Verhaltens sich im konkreten Fall in einem Lande B befindet, dessen Recht für den Vorfall von der Art, wie er der Klage zugrunde liegt, keine deliktische Schadenshaftung vorsieht. Hier ist die Gegenseitigkeit für den hypothetischen umgekehrten Fall, daß Y den X durch eine in B begangene Handlung schädigt, deren Erfolg in A eintreten würde, schon auf dem Papier der Rechtsordnung des Forumstaates A nicht gewährleistet, wenn der Staat A auf deliktische Ansprüche nur das Recht des Verhaltensortes, nicht aber das Recht des Erfolgsortes anwenden lassen würde. Aber selbst wenn der Geschädigte sich gemäß dem Kollisionsrecht von A alternativ auf das Recht des Erfolgsortes berufen könnte, wenn aber die Realisierbarkeit der hypothetischen Gegenverpflichtung im Forumstaat A zu verneinen wäre, weil der Beklagte dort weder Wohnsitz noch Vermögen hat, so könnte von einer durch den Forumstaat A gewährleisteten Gegenseitigkeit für die hypothetische Gegenverpflichtung keine Rede sein. Dann wäre vielleicht zu prüfen, ob die hypothetische Gegenverpflichtung im Staat B realisiert werden könnte: Würde auch in B auf die deliktische chend dem zu vermutenden Gegenseitigkeitserfordernis in der Sachnorm nicht mehr verlangen kann, als er selbst bei umgekehrten Rollen zu bezahlen hätte. Unverständlicherweise hat Rabel, Confiict of laws, Bd. 2, 19602 , S. 350, offenbar keine Sympathie für diesen Gedanken, ebensowenig Binder, RabelsZ 1955, 492, obwohl der letztgenannte Autor "aus Gründen der inneren Harmonie" die Anwendung eines einzigen Rechts sogar in solchen Fällen vorschlägt, wo deliktische Ansprüche gegen mehrere Personen aus ganz verschiedenen Rechtsgründen, aber dem gleichen Ereignis, bestehen, vgl. Binder, a.a.O., S. 484, Anm.406. Mit dem Gegenseitigkeitsgedanken hat es nichts zu tun, wenn bei verschuldensloser Haftung die Eigentümer von zwei an einem Unfall beteiligten Fahrzeugen gemäß einem Privatrecht die Summe des Schadens an beiden Fahrzeugen hälftig zu teilen haben. Liegen die Dinge so, daß für die Haftung beider Parteien nicht das gleiche Recht anwendbar ist, sondern daß, wie beim Schiffszusammenstoß auf hoher See, zwei Flaggenrechte sich zur Anwendung anbieten, so will Art. 294 des C6digo Bustamante den Gesamtschaden in zwei Hälften teilen und die Haftung für die eine Hälfte nach dem Flaggenrecht des einen Schiffes, die Haftung für die andere Hälfte nach dem Flaggenrecht des anderen Schiffes beurteilen. Ein solches judicium rusticanum ist meines Erachtens dann unbillig, wenn bei unterschiedlicher Beschaffenheit oder Größe der Fahrzeuge eines von ihnen von vornherein für den größeren Schaden prädestiniert ist.

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Handlung, für die der Erfolgsort sich in A, der Verhaltensort sich in B befindet, nur das Recht des Verhaltensortes B angewendet, so wäre auch bei dieser Betrachtungsweise keine Gegenseitigkeit gegeben. Anders wäre es, wenn feststünde, daß in B alternativ oder gar ausschließlich das Recht des Erfolgsortes anzuwenden wäre. Aber auch wenn Verhaltens- und Erfolgsort sich in ein und demselben Staat befinden, und die Anwendbarkeit der Verhaltens- und Haftungsnormen dieses Landes - sei es durch die Gerichte des betreffenden Landes, sei es durch die Gerichte dritter Länder - die anerkannte Lösung ist, können intensive persönliche Verknüpfungen der Parteien zu verschiedenen Ländern die Frage der Gegenseitigkeit aktuell werden lassen. Man denke an den Fall, daß ein zufällig durch das Land A fahrender Tourist Y aus dem Lande B bei einem Autounfall, an dem ein einheimisches Fahrzeug beteiligt ist, verletzt wird, und daß zu Lasten des Eigentümers oder Halters des einheimischen Fahrzeugs nach der lex loci A eine Haftung vorgesehen ist, die im materiellen Recht des Landes B zu verneinen wäre. Wenn der Beklagte X durch Staatsangehörigkeit, Wohnsitz, normalen Aufenthalt und Vermögensbesitz ausschließlich mit dem Lande A verknüpft ist, kann man dann sagen, daß die vom Recht A offenbar vorausgesetzte Gegenverpflichtung des Y für den hypothetischen umgekehrt liegenden Fall dadurch gewährleistet ist, daß ja Y sich ebenfalls gemäß dem Recht A haftbar gemacht hätte, wenn die haftungsbegründenden Tatumstände bei ihm, die den Schadensersatzanspruch rechtfertigenden Tatumstände bei X, und zwar im Lande A, verwirklicht worden wären? Oder ist der Umstand zu berücksichtigen, daß das Land B für Y dessen normale Lebenssphäre darstellt aus denselben Gründen, wie es für X das Land A ist, während für X das Land B nur ein zufälliges Transitland sein könnte? Ist dabei nicht auch zu berücksichtigen, daß die Gegenseitigkeit für den hypothetischen Fall der Verwirklichung einer Haftung des Y gegenüber dem X bei einem Unfall in A deshalb eine papierene Gegenseitigkeit ist, weil Y außer seinem Fahrzeug gar kein Vermögen in A hat, und das in A ergehende Urteil in B nicht vollstreckt würde? Bevor wir zu dieser schwierigen Frage endgültig Stellung nehmen, mag noch ein Blick auf das typische Delikt des Handelsrechts geworfen werden: Sind die Anforderungen an den "lauteren" Wettbewerb in verschiedenen Ländern verschieden, so wird man in der Anwendung des Rechtes des Marktlandes, wenn dieses das strengere Recht ist, zugunsten des ausländischen und zu Lasten des inländischen Wettbewerbers vielleicht dann keine Unbilligkeit sehen, wenn es sich bei den inländischen Beklagten um solche Kaufleute handelt, die ihrerseits mit dem Kläger auch auf dem Markt des anderen Landes (in dem der Kläger seinen Geschäftssitz hat) in Konkurrenz stehen: Sie können sich ja auf das dortige "mil-

Die Gegenseitigkeit von Rechtslagen im internationalen Privatrecht 225 dere" Wettbewerbsrecht berufen, haben also einen Ausgleich dafür, daß sie in ihrem Heimatland auch gegenüber den ausländischen Konkurrenten das strengere heimatliche Recht beachten müssen. Aber wie ist es mit denjenigen, die nur auf dem heimatlichen Markt anbieten? Genügt es, ihnen gegenüber zu sagen, daß sie ja die Möglichkeit hätten, sich im Herkunftsland des ausländischen Wettbewerbers zu betätigen und von den dortigen milderen Wettbewerbsbestimmungen zu profitieren? Exportiert das Land B etwa vorwiegend nur Rohstoffe nach A, während ein innerer Markt für diese Rohstoffe in B gar nicht besteht, und bezieht sich der Export von A nach B auf industrielle Fertigwaren, bei denen der Importhandel nach B mit den im Lande befindlichen heimatlichen Produzenten konkurriert, so kommen die milderen Wettbewerbsregeln von A zwar den Rohstoffexporteuren von B im Verhältnis unter sich und möglicherweise im Verhältnis zu anderen Rohstoffverkäufern auf dem Markt des Landes A zugute, aber nicht den in B heimischen Fertigwarenproduzenten im Verhältnis zu ihren Konkurrenten aus dem Lande A. Eine gewisse Gegenseitigkeit im Heimatstaat desjenigen, der sich im Inland auf das inländische Recht gegen unlauteren Wettbewerb berufen will, setzt nun in der Tat § 28 des deutschen Gesetzes über den unlauteren Wettbewerb (und entsprechend eine Reihe ausländischer Gesetze) voraus: Ehe ein ausländischer Kaufmann sich gegenüber einem Wettbewerber auf dem inländischen Markt auf die inländischen Bestimmungen über den unlauteren Wettbewerb berufen kann, muß feststehen, daß in seinem Heimatland "entsprechende" Bestimmungen gelten und ferner, daß die Anwendung dieser Bestimmungen zugunsten der deutschen Kaufleute nicht durch "diskriminierende" Vorschriften ausgeschlossen ist. Daraus ist vielleicht zu schließen, daß weitergehende Anforderungen in dem Sinne, daß gerade im Verhältnis zwischen den Parteien des im Forumstaat zu entscheidenden Streitfalles eine aktualisierte faktische Gegenseitigkeit im Herkunftsland des ausländischen Klägers bewiesen sein müßte, nicht gestellt werden dürfen. Wir werden darauf später noch zurückkommen. d) Auf dem Gedanken der Gegenseitigkeit für einen nur hypothetischen "umgedrehten" Fall beruht schließlich wohl auch meist das Erbrecht von Seitenverwandten und Ehegatten. Die Konsequenzen, die hieraus bei heterogen verknüpften Erbfällen gezogen werden könnten, sind allerdings nicht einfach zu erkennen. Stellen wir zunächst einmal die Frage, ob dem Erbrecht des überlebenden Ehegatten beim Vorhandensein von Abkömmlingen des Erstverstorbenen entgegengehalten werden sollte, daß dem erstverstorbenen Ehegatten, wenn er den anderen überlebt hätte, nicht ein so großer Erbteil von dessen Nachlaß zugefallen wäre. Auch wenn vorauszusehen wäre, daß der tatsächlich überlebende Ehegatte nur von den gemeinsamen Abkömmlingen überlebt und beerbt 15 Berliner Festschrift für Ernst E. HIrsch

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würde, so hätte doch das Intestaterbrecht des überlebenden Ehegatten, welches das hypothetische Intestaterbrecht des tatsächlich Erstverstorbenen übersteigt, zur Folge, daß der so begünstigte überlebende Gatte und Erbe das ihm Zugefallene zum Nachteil der gemeinschaftlichen Kinder durch Vertrag oder Zuwendung an Dritte mehr beeinträchtigen könnte, als dies bezüglich des Erbteils des anderen Ehegatten der Fall gewesen wäre, wenn der tatsächlich Erstverstorbene den anderen überlebt und beerbt hätte. Hat der tatsächlich überlebende Ehegatte aber noch andere als die mit dem Erblasser gemeinschaftlichen Kinder, oder kommen solche Kinder und eventuell ein zweiter Ehegatte hinzu, so sind die gemeinschaftlichen Kinder offenbar noch mehr benachteiligt. Entsprechendes gilt, wenn das Erbrecht des überlebenden Gatten nicht die Erbrechte gemeinschaftlicher Kinder, sondern anderer Blutsverwandter des Erstverstorbenen beeinträchtigt. Ein Heilmittel, um der Gegenseitigkeit der Gattenerbrechte, wie sie jedes materielle Recht stillschweigend voraussetzt, Rechnung zu tragen, kann hier kaum in einer Kumulation der Erbrechte bestehen, welche zur Folge hätte, daß der überlebende Gatte nur einen Anteil am Nachlaß des Erstverstorbenen bekäme, der sowohl von dem tatsächlich maßgeblichen Erbstatut als auch von dem Erbrecht, welches auf den hypothetischen Erbfall des überlebenden Gatten anzuwenden vväre, gedeckt ist. Schon das Erfordernis, daß ein gleichwertiges Gegenerbrecht gewährleistet ist, könnte überdies zu Schwierigkeiten führen: Kann man von Gleichwertigkeit sprechen, wenn X vom Nachlaß des Y unter dem Recht A 1/4 zu Eigentum, Y hingegen vom Nachlaß des X im umgedrehten Fall unter dem Recht B den Nießbrauch an der Hälfte des Nachlasses erhalten würde? Und wie ist es zu berücksichtigen, daß der Erstverstorbene ja meist auch durch Testament dem überlebenden Gatten zu Lasten der Kinder mehr als das Intestaterbteil zuwenden kann? Man wird sich zur Berücksichtigung der Gegenseitigkeit der Gattenerbrechte also damit begnügen können und müssen, daß zugunsten des überlebenden Gatten vorgesehene Beschränkungen im Erbrecht des Erstverstorbenen, durch Testament über seinen Nachlaß zu verfügen, gegebenenfalls gelockert werden, wenn das Erbstatut, welches die Vererbung des Nachlasses des überlebenden Gatten für den hypothetischen umgedrehten Fall geregelt hätte, nicht entsprechende Beschränkungen aufweist. Auch beim Erbrecht von Seitenverwandten dürfte dann die Wahrung der vom Gesetzgeber vorausgesetzten Gegenseitigkeit in erster Linie den testamentarischen Anordnungen des Erblassers überlassen werden, der dabei nur von gesetzlichen Beschränkungen der Testierfreiheit, die sich nicht auch im Erbrecht des zum Zuge kommenden Seitenverwandten finden, freigestellt werden sollte: Geht nach dem Erbrecht Ades erstverstorbenen Erblassers X sein Nachlaß an den einzigen vorhandenen

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Vetter Y, während die überlebende Ehefrau Z des Erblassers etwa mit dem Nießbrauch an der Hälfte des Nachlaßvermögens abgefunden wird, so ist daraus, daß der Nachlaß des Vetters Y, wenn dieser als erster verstorben und gemäß dem Recht B beerbt worden wäre, ganz oder teilweise an dessen Ehefrau und nur im übrigen an den Vetter gefallen wäre, oder gar daraus, daß der Nachlaß des Vetters (mangels eines ihn überlebenden Ehegatten) an den fremden Staat B gefallen wäre, kaum die Konsequenz zu ziehen, daß in dem wirklich eingetretenen Erbfall der Vetter nur das bekommt, was ihm auch gemäß dem auf seinen eigenen Erbfall anwendbaren Recht zustehen würde (während der Rest an die subsidiären Erben im Sinne des maßgeblichen Erbstatuts des Erstverstorbenen fallen würde). Würden für das Intestaterbrecht das Personalstatut des Erblassers und das Personalstatut des (der) Erbprätendenten kumuliert angewendet, so könnte der Fall eintreten, daß die von beiden Rechten gedeckten Erbansprüche von Verwandten oder Personen, mit denen der Erblasser in einem anderen familienrechtlichen Verhältnis steht, gar nicht den ganzen Nachlaß erfassen, so daß der Rest denjenigen zufällt, die nach dem Erbstatut, welches für den Erblasser und den Erben gemeinschaftliches Personalstatut ist, subsidiäre Erben sind; das ist erträglich, wenn es der Ehegatte, kaum aber, wenn es der Fiskus ist. So wie die Testierbefugnis dazu verwendet werden kann, um solche Erben auszuschalten, denen eine Erbanfallsteuer ihres Heimat- oder Wohnsitzstaates das Erworbene doch wieder großenteils wegnehmen würde, so kann es dem Erblasser überlassen bleiben, wie er in einem Testament darauf reagieren will, daß sein Nachlaß bei Intestaterbfolge solchen Seitenverwandten zufallen würden, von denen er, der Erblasser, wenn die betreffenden Verwandten vor verstorben wären, nichts oder nur weniger bekommen hätte, weil deren Erbrecht die Seitenverwandten schlechter stellt.

IV. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich zunächst einmal, daß das materiellrechtliche Erfordernis der konkreten Gegenrechtslage nicht verwechselt werden sollte mit einer kollisionsrechtlichen Regelung, welche die Bejahung einer Rechtswirkung im Forumstaat abhängig macht davon, daß zwei Privatrechte, die "kumulativ" angewendet werden, den Eintritt der Rechtswirkung bejahen. Der Unterschied äußert sich vor allem darin: Bei kumulativer Anwendung mehrerer Rechte wird der im Einzelfall tatsächlich verwirklichte Tatbestand vom Standpunkt zweier materieller Privatrechte her beurteilt, und im Forumstaat die von einer Partei in Anspruch genommene Rechtswirkung nur dann als gegeben festgestellt, wenn die Sachnormen aus beiden Rechten diese Rechts15'

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wirkung vorsehen. Welche Rechte nun kumuliert anzuwenden sind, ergibt sich allein aus der Kollisionsnorm des Forumstaates. Hierbei taucht die kaum je speziell untersuchte Frage auf, ob es gerade dem Sinn einer kumulierenden Verweisung auf mehrere Rechte entspricht, daß geprüft wird, ob eines der zur Anwendung berufenen Rechte (wenn es sich nicht um die lex fori handelt) selber angewendet werden will, d. h. auch gemäß dem Kollisionsrecht des Urheberstaates der Sachnorm angewendet werden soll. Man könnte fragen, ob bei kumulativer Anwendung mehrerer Rechte ein derartiges Recht, das selbst nicht angewendet werden will, nicht einfach ersatzlos wegfallen kann, falls wenigstens das andere zur Anwendung berufene Recht mit seiner Anwendung einverstanden ist20 ; denkbar ist natürlich auch, daß bei kumulativer Anwendbarkeit mehrerer Rechte die Rück- bzw. Weiterverweisung des fremden Kollisionsrechts - die vielleicht sogar wiederum eine Verweisung auf mehrere andere Rechte zwecks kumulativer oder alternativer Anwendung sein kann - beachtlich ist. Kumulative Anwendung mehrerer Rechte kann nun in der Tat motiviert sein durch das Bedürfnis, Gegenseitigkeitsbeziehungen zwischen den Pflichten bzw. Belastungen der Parteien des streitigen Falles, wie sie jedes von den beiden gleich intensiv mit dem Sachverhalt verknüpften Rechten unterstellt, Rechnung zu tragen. Sie ist aber häufig auch ausschließlich dadurch motiviert, daß zwei nationale Privatrechte als gleich intensiv mit dem Sachverhalt verknüpft aufgefaßt werden, und daß das Kollisionsrecht des Forumstaates sich deshalb unter Berücksichtigung der in seiner lex fori zum Ausdruck kommenden materiellrechtlichen Tendenzen nicht für alternative, sondern für kumulative Anwendung der beiden Rechte entscheidet; so ist es z. B., wenn es um die Begründung eines Recht-Pflicht-Verhältnisses geht 21 , dessen Wirkungen indes - falls die Entstehung des Rechtsverhältnisses nach dem einen und dem anderen Recht zu bejahen ist - wiederum durch die Kollisionsnormen von vornherein einem einzigen Recht unterstellt werden können. Ganz anders liegen die Dinge bei der Fragestellung nach der konkreten "Gegenrechtslage" : Hier wird auf die im Einzelfall streitige Rechtsfrage ein bestimmtes materielles Recht angewendet, und auf Grund der in der Sachnorm aufgestellten Bedingung wird geprüft, ob das auf einen aktualisierten, oder auch nur hypothetischen anderen konkreten Tatbe20 Wenn nach dem deutschen internationalen Privatrecht auf die in Deutschland erhobene Scheidungsklage die deutsche lex fori und das Heimatrecht des Mannes kumulativ angewendet werden sollen, so wird doch nach Ansicht vieler von der Anwendung des letztgenannten Rechts abgesehen, wenn der Heimatstaat es selbst deshalb nicht anwenden lassen würde, weil er das Bestehen einer Ehe verneint, vgl. Soergel-Keget, Anm. 22 zu Art. 27 EGBGB. 21 So im wesentlichen bei dem Zustandekommen der Ehe nach deutschem Recht, vgl. Art. 13 EGBGB.

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stand anzuwendende Recht eine entsprechende Rechtswirkung vorsieht, wie sie im streitigen Fall beansprucht wird. Welches nun das andere Recht ist, nach dem der andere Tatbestand zu beurteilen ist, für diese Frage stehen mehrere mögliche Antworten bereit. Es kann darauf abgestellt werden, wie das nach dem Kollisionsrecht des Forumstaates in diesem Staat gegebenenfalls anzuwendende materielle Recht die "Gegenrechtslage" gestalten würde; es kann, mit anderen Worten, nach der Gegenseitigkeit "im F01·umstaat" gefragt werden. Sinn der Bedingung in der Sachnorm könnte es aber auch sein, daß es eine Rolle spielt, ob und wie ein bestimmter anderer Staat - insbesondere ein Staat, zu dem der Kläger eine bestimmte persönliche Verknüpfung (Staatsangehörigkeit, Wohnsitz) hat - die Gegenfrage beantworten würde; hier kann man von Gegenseitigkeit "im Heimatrecht" des Klägers usw. sprechen. Schließlich aber kann es Sinn der Gegenseitigkeitsbedingung sein, daß darauf abgestellt werden muß, ob der Forumstaat oder irgendein anderer Staat zur zwangsweisen Realisierung der Gegenrechtslage willens ist - was sich in der Zuständigkeit seiner Gerichte hierfür und dem Inhalt des von ihnen anzuwendenden Rechts ausdrückt - und ob er auch dazu fähig ist - was davon abhängt, ob ausreichende Vollstreckungsmöglichkeiten in dem betreffenden Lande bestehen (effektive Gegenrechtslage) . Das Anderssein des Tatbestandes der Gegenrechtslage, von dessen rechtlicher Beurteilung die Bejahung einer bestimmten Rechtswirkung in dem streitigen Fall abhängt, äußert sich unter allen Umständen darin, daß diejenigen rechtserheblichen Tatbestandsmerkmale, die im streitigen Fall auf die eine bzw. die andere Partei zutreffen, in dem Gegenfall als "umgedreht" gedacht werden: Hat im streitigen Fall der A ein dem C gehöriges Auto gefahren und dabei B verletzt, so ist der hypothetische Gegenfall, wenn B in dem streitigen Fall von A und C Schadensersatz verlangt, dahin zu konstruieren, daß B gegenüber dem A als Fahrer des Autos, gegenüber dem C als Eigentümer eines Autos gedacht wird, auch wenn B tatsächlich weder Auto fahren kann noch Eigentümer eines Autos ist. Allgemeine Verhaltensnormen, wie sie vor allem im Deliktsrecht und im Sachenrecht gegeben sind, hat jedes Rechtssubjekt gegenüber jedem anderen Rechtssubjekt zu befolgen, weil und wenn auch diesem anderen Rechtssubjekt entsprechende Verhaltenspflichten obliegen. Daß der Respekt eines jeden vor dem Eigentum eines anderen erst dann aktuell wird, wenn an konkreten Sachen konkrete Eigentumsrechte begründet worden sind, so daß auch derjenige, der zufällig keine Sachen zu Eigentum hat, das Eigentum anderer an ihren Sachen respektieren muß, ändert an dieser generellen Gegenseitigkeit der allgemeinen Verhaltenspflichten, wie sie für die jedermann zugänglichen absoluten subjektiven Rechte typisch sind, nichts.

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Worauf soll es nun ankommen, wenn bei heterogen verknüpften Situationen mehrere Staaten eine Stellungnahme zu der Frage, ob die erforderliche Gegenrechtslage "besteht", abgeben können, wenn in diesen verschiedenen Staaten verschiedene materielle Rechte auf diese Frage als anwendbar gelten, wenn es aber zwischen diesen Staaten auch Unterschiede in der Hinsicht gibt, ob der einzelne Staat zur Durchsetzung der Gegenrechtslage tatsächlich in der Lage ist, und ob ein Gerichtsstand dafür bereitgehalten wird? Um in dieser Frage weiterzukommen, scheint es notwendig, zunächst einmal einen Blick auf die gelegentlich anzutreffenden gesetzlichen Gegenseitigkeitsklauseln zu werfen, da diese in der Tat darauf abstellen, ob in einem anderen Staat als dem Forumstaat, nämlich dem Heimatstaat von Personen, die im Forumstaat bestimmte subjektive Rechte für sich beanspruchen, zwar nicht unbedingt zu gunsten desjenigen, der in dem konkreten Fall verklagt wird, ein entsprechendes subjektives Recht besteht, wohl aber, ob zugunsten seiner Landsleute Gegenseitigkeit im Rechtsgenuß gewährleistet ist. Diese gesetzlichen 'Reziprozitätsbestimmungen, wie sie vor allem noch im internationalen Immaterialgüterrecht vorkommen 22 , haben eine doppelte Tragweite. Sie wollen zunächst einmal, und z. T. sogar ausschließlich, den Schutz bestimmter subjektiver Rechte von Angehörigen anderer Staaten im Forumstaat unter dem dort anzuwendenden materiellen Recht dieses Staates23 - und zwar im Rahmen des diesem Recht auf Grund einer anderen Verknüpfung als der Staatsangehörigkeit zugewiesenen Anwendungsbereiches - davon abhängig machen, daß der Heimatstaat des Ausländers den Schutz entsprechender subjektiver Rechte den Staatsangehörigen des Forumstaates - nämlich gemäß dem in dem fremden Staat anzuwendenden materiellen Recht, und im Rahmen des dort angenommenen und nicht von der Staatsangehörigkeit abhängigen Anwendungsbereiches dieses Rechts - nicht verweigert. In dieser Zielrichtung stellt die Reziprozitätsbestimmung eine Retorsionsvorschrift dagegen dar, daß der ausländische Staat bei der Gewährung von Rechtsschutz für ähnliche Rechte unter seinem Recht fremdenrechtliche Diskriminationen zu Lasten der Staatsangehörigen des Forumstaates vornimmt. Es bleibt aber offen, ob der fremde Heimatstaat der ausländischen Partei überhaupt in seinem materiellen Recht entsprechende subjektive Rechte kennt wie diejenigen, die die Partei gerade im Forumstaat in Anspruch nimmt 24 • 22 Vgl. darüber Troller, Das internationale Privat- und Zivilprozeßrecht im gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht, 1952, S. 17 ff. und passim. 23 Es wäre denkbar, auch den Schutz subjektiver Rechte von Ausländern bei Anwendung des Rechtes eines dritten Staates im Forumstaat von dem Verhalten des Heimatstaates des Ausländers abhängig zu machen. 24 In diesem Sinne will Baum, GRUR 53 (1951) 116, die revidierte übereinkunft betreffend Urheberrechtsschutz verstehen, vgl. dazu Tl'oller, a.a.O., S.151.

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Vielfach aber gehen die Reziprozitätsvorschriften im internationalen Privatrecht über das eben Gesagte hinaus; sie wollen die Entstehung eines subjektiven Rechts bestimmter Art unter der lex fori, im Rahmen des vom Kollisionsrecht des Forumstaates fixierten Anwendungsbereiches der lex fori, davon abhängig machen, daß ein fremder Staat, mit dem derjenige, der durch die lex fori begünstigt zu sein behauptet, durch Staatsangehörigkeit verknüpft ist, im Rahmen eines von dem fremden Staat festgelegten, und mindestens dem Anwendungsbereich der lex fori im Forumstaat entsprechenden Anwendungsbereiches seines eigenen Rechts, gleichwertige subjektive Rechte kennt 25 : Auch wenn der Forumstaat die Entstehung eines Urheberrechts von der Veröffentlichung des Werkes im Inland, oder wenn er die Entstehung eines Patentrechts von der Neuheit der Erfindung im Inland und ihrer Anmeldung beim inländischen Patentamt abhängig macht, kann beim Vorliegen dieser Inlandsverknüpfung der Schutz eines solchen Urheber- bzw. Patentrechts zugunsten eines Ausländers - wobei der "Inlands"charakter des subjektiven Rechtes zusätzlich noch durch die Beschränkung des Verbotes von Rechtsverletzungen auf solche im Inland verstärkt ist - davon abhängig gemacht werden, daß der Heimatstaat des Berechtigten erstens seinerseits Urheber- bzw. Patentrechtsschutz in seinem nationalen Recht kennt, und daß er zweitens diesen Schutz allen zugute kommen läßt, bei denen eine entsprechende Verknüpfung zum Staatsgebiet dieses Staates (also Veröffentlichung in diesem Staatsgebiet usw.) vorliegt. Dagegen genügt es nicht, wenn der Heimatstaat des Ausländers, dessen Recht keinen Patent- oder Urheberrechtsschutz kennt, im Genuß dieser "Freiheit" keine Diskriminationen gegenüber Angehörigen anderer Staaten vornimmt. Obwohl derartige Reziprozitätsbestimmungen sich derzeit vorwiegend nur im Immaterialgüterrecht finden, sind sie auch für das sonstige Privatrecht keineswegs undenkbar. Auch hier wird zunächst einmal gelegentlich schon im positiven Recht Reziprozität in dem Sinne vorgesehen, daß der Heimatstaat dessen, der bestimmte subjektive Rechte im Forumstaat unter dessen materiellem Recht in Anspruch nimmt, bei der Anwendung seines Rechts durch seine Gerichte keine diskriminierende Rechtsschutzverweigerung gegenüber den Staatsangehörigen des Forumstaates vornehmen darf: Ausländern wird unter Umständen der Erwerb von Eigentum im 'Forumstaat - und zwar eben Eigentum unter dem auf Sachen im Forumstaat anwendbaren Sachenrecht der lex fori - verweigert, 25 Dem müßte es allerdings gleichzusetzen sein, wenn der fremde Staat trotz des Vorliegens einer solchen Anknüpfung zu seinem Staatsgebiet wegen anderweitiger Verknüpfungen, die zum Forumstaat bestehen, Entstehung und Inhalt des subjektiven Rechts gar nicht nach seinem Recht, sondern nach dem Recht des Forumstaates beurteilt.

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wenn der Heimatstaat des Ausländers Staatsangehörige des Forumstaates vom Erwerb des Eigentums an entsprechenden Gegenständen auf seinem Gebiet ausschließt. Man könnte sich aber auch denken, daß Ausländern der Abschluß einer Ehe oder eines Adoptionsvertrages, und damit der Genuß von subjektiven Rechten aus der Ehe oder dem Adoptionsverhältnis, "unter Benutzung" des Rechtes des Forumstaates verweigert wird, wenn und weil Angehörige des Forumstaates in dem Heimatstaat der Ausländer von der Benutzung des dortigen Rechts für entsprechende Zwecke ausgeschlossen sind. Darüber hinaus aber läßt sich denken, daß das internationale Privatrecht eines Staates Angehörigen eines anderen Staates den Erwerb subjektiver Rechte aus Ehe, Eigentum usw. unter der lex fori (oder dem im Forumstaat anwendbaren Recht eines dritten Staates) verweigern würde mit der Begründung, daß es im Heimatstaat der betreffenden Ausländer keine gleichartigen Institutionen, wie Ehe, Eigentum usw., gäbe. Daß dies nur selten geschieht, hat folgenden Grund: Wenn schon der unmittelbaren Anwendung eines derartigen ausländischen Rechts - falls dieses nämlich ohnehin nach den normalen Kollisionsnormen des Forumstaates zur Anwendung berufen wäre - entgegengehalten würde, daß es wegen seines Inhalts, nämlich wegen des Fehlens der zur Debatte stehenden subjektiven Rechte, mit dem ordre public des Forumstaates unvereinbar sei, so läßt sich - insbesondere weil im allgemeinen in solchen Fällen ja irgendeine relativ starke Binnenbeziehung zum Forumstaat vorhanden ist - schlecht der Standpunkt vertreten, daß fremdenrechtliche Sondervorschriften des Forumstaates, mit denen man auf den Zustand des Rechtes im Heimatstaat des Klägers reagieren will, ausgerechnet den Inhalt annehmen sollten, den gerade das normale nationale Recht des fremden Staates hat, welches man im Forumstaat als "untragbar" betrachtet26 • Gibt es in einem fremden Staat keinen Patentschutz, so werden die Gerichte des Forumstaates, der selbst Patentrechtsschutz in der lex fori kennt, wohl auch mit Hilfe der ordre public-Klausel keine Unterlassungsoder Schadensersatzansprüche des Erfinders dagegen begründen, daß jemand in diesem fremden Staat Erfindungen eines anderen ausnutzt. Warum begnügt man sich nun aber, wenn die Frage nach der "Gegenseitigkeit" vom Gesetzgeber gestellt wird, nicht mit der Feststellung, daß der Angehörige des fremden Staates, der die sachlichen Voraussetzungen für den Erwerb eines inländischen Patentrechts erfüllt, einerseits auch 26 Daher beschränkte das ältere französische Recht die Gegenseitigkeitsbedingung für den Genuß eines droit dvil (vgl. Art. 11 C. c.) auf solche Rechte, die nicht zu den in allen zivilisierten Nationen bekannten (oder im Naturrecht begründeten) Institutionen gehören. Heute bedarf es eines besonderen gesetzlichen Vorbehaltes, um Ausländern den Genuß eines subjektiven Rechts unter dem gemäß französischem Kollisionsrecht anwendbaren französischen materiellen Recht zu versagen, vgl. Batiffol, Traite elementaire de droit international prive, 19593, S. 202 ff.

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selber zur Respektierung sämtlicher inländischen Patentrechte aller anderen Inhaber verpflichtet ist, und daß andererseits im Heimatstaat des betreffenden Ausländers, wenn es dort überhaupt keinen Patentschutz gibt, ja wiederum auch die Angehörigen des Forumstaates von dieser Freiheit profitieren könnten? Von rechtshistorischen Gründen abgesehen, ist es offenbar der Gedanke, daß im Endresultat die aktive und passive Teilnahme von Angehörigen des Staates B neben solchen des Staates A am Patentschutz gemäß dem Recht des Staates A für die Gesamtheit dieser Staatsangehörigen von B der den Staatsangehörigen von A gegebenen Möglichkeit, aktiv und passiv neben Staatsangehörigen von B an der Freiheit zur Benutzung von Erfindungen anderer im Staat B teilzunehmen, deshalb nicht gleichwertig ist, weil die Zahl der Staatsangehörigen von B, die am Patentschutz in A teilnehmen wollen, größer ist als die Zahl der Staatsangehörigen von A, die an der Freiheit der Nutzung fremder Erfindungen im Staat B interessiert sind. Mit anderen Worten: Der Staat, welcher glaubt, daß die Gestaltung seines eigenen Rechts Ausländer mehr zur Begründung der hierfür notwendigen Inlandsanknüpfungen veranlaßt, als umgekehrt Inländer durch den Stand des ausländischen Rechts veranlaßt werden, entsprechende Verknüpfungen zum Ausland zu begründen, kann versuchen, diesem Gefälle der Zahl der heterogenen Verknüpfungen in der einen bzw. der anderen Richtung durch das Erfordernis der Gegenseitigkeit, so wie es zuletzt umschrieben worden ist, entgegenzuwirken. Der Gesetzgeber strebt, mit anderen Worten, einen globalen Ausgleich des Rechtsschutzes im Verhältnis zwischen der Gesamtheit der Staatsangehörigen des Forumstaates A durch einen anderen Staat und der Gesamtheit der Staatsangehörigen dieses anderen Staates durch den Forumstaat an27 •

v. Es ist in der Tat denkbar, daß zu dem Erfordernis des konkreten Gegenrechts bei Umdrehung der Parteirollen in dem streitigen Fall, wie sie der einzelne im Forumstaat angewendete materielle Rechtssatz voraussetzt, noch die Bedingung des globalen Ausgleichs hinzutritt. Beide Arten der "Gegenseitigkeit" müssen aber als grundverschiedene Dinge ver27 Selbstverständlich sind noch andere Arten globaler Reziprozität denkbar: Es könnte nicht auf die Staatsangehörigkeit des zu Begünstigenden, sondern auf den Wohnsitz abgestellt werden, oder es könnte auf die Bedingung der Reziprozität für subjektive Rechte von Ausländern verzichtet werden, wenn die Ausländer ihren Wohnsitz im Inland haben. Einige amerikanische Staaten machen die Erbberechtigung von Ausländern an Vermögen, das in dem betreffenden amerikanischen Staat belegen ist, davon abhängig, daß der Heimatstaat der Erbprätendenten in seinem Erbrecht eine entsprechende Erbberechtigung kennt bzw. davon, daß er die Inbesitznahme des nach seinem Erbrecht Ererbten durch amerika nische Staatsangehörige nicht durch Bestimmungen seines Außenwirtschaftsrechts behindert.

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standen werden 28, und daher ist das Bestehen einer globalen Gegenseitigkeit noch kein Beweis dafür, daß bei heterogen verknüpften Situationen auch die von der im Forumstaat anzuwendenden Sachnorm geforderte konkrete Gegenrechtslage als gegeben zu betrachten ist. Die Frage, ob die konkrete Gegenrechtslage realisiert ist, wird wohl sicher dann zu verneinen sein, wenn feststeht, daß der Forumstaat selbst faktisch in der Lage wäre, die Gegenrechtslage durch Rechtszwang zu verwirklichen, wenn aber zugleich feststeht, daß er dies nicht tut (bzw. tun würde), weil er entweder keinen Gerichtsstand zur Verfügung stellt, oder weil er ein Recht anwenden läßt, unter welchem die Entstehung der Gegenrechtslage zu verneinen ist: Die Gegenrechtslage für den Unterhaltsanspruch des deutschen Bruders gegen den in Deutschland wohnhaften und dort verklagten Schweizer Bruder ist nicht vorhanden, wenn auch der deutsche Bruder seinerseits in Deutschland wohnt, und wenn auf den hypothetischen Gegenanspruch vom deutschen Richter (dessen Zuständigkeit zu bejahen wäre) deutsches Recht in Anwendung gebracht würde, welches ja die Unterstützungspflicht zwischen Brüdern verneint. Die Gegenrechtslage für den Anspruch aus unerlaubter Handlung, für die der Verhaltensort im Staate A, der Erfolgsort im Staate B liegt, ist im Forumstaat A sicher zu verneinen, wenn der streitige Anspruch dort einerseits - aber eben unter der Bedingung des Gegenrechts - unter dem Recht A begründet ist, und wenn sodann bei der umgedrehten Situation (Delikt des Klägers, Verhaltensort in B, Erfolgsort in A) im Staat A auch Gerichtsstand und Vollstreckungsmöglichkeiten vorhanden wären, aber das in A dann anzuwendende Recht B den Schadensersatzanspruch verneinen würde. Die Gegenrechtslage für ein durch Testament nicht zu beseitigendes Erbrecht des Seitenverwandten Y, wie es das in A auf den Erbfall des X anzuwendende Erbrecht von A voraussetzt, ist zu verneinen, wenn auch der Nachlaß des Y in dem hypothetischen umgedrehten Fall in A abgehandelt werden könnte, dann aber, gemäß dem Kollisionsrecht von A, ein Erbrecht anwendbar wäre, welches ein entsprechendes Noterbrecht zugunsten des X nicht kennt. Wäre der Forumstaat selbst zwar willens, die Gegenrechtslage zu erzwingen, fehlen ihm aber die Möglichkeiten hierzu, so ist die Verwirklichung der Bedingung der Gegenrechtslage sicher dann endgültig zu 28 Die internationalprivatrechtliche Literatur befaßt sich abgesehen von der Literatur über die Vertragsspaltung - im allgemeinen nur mit der Gegenseitigkeitsbedingung als Retorsionsvorschrift gegenüber dem diskriminierenden Ausschluß von Angehörigen des Forumstaates von dem Erwerb (bzw. Genuß) subjektiver Rechte unter der im Heimatstaat eines Ausländers anzuwendenden lex fori, bzw. mit der globalen Gegenseitigkeit, vgl. Niboyet, Rec. C. Ac. D. Int. 52 (1933 II) 252 ff. Louis-Lucas, Rev. Crit. D. Int. Priv. 36 (1947) 13 ff., versteht unter Reziprozität im internationalen Privatrecht das, was heute vorwiegend als "Parität" zwischen den nationalen Privatrechten gesehen wird, vgl. meinen Aufsatz in Eranion Maridakis 1964, Bd. 3, S. 323 ff.

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verneinen, wenn auch in allen anderen Staaten, die die Möglichkeit dazu hätten, die Gegenrechtslage entweder mangels Gerichtsstandes oder wegen des in diesen Staaten anzuwendenden Rechts nicht zu verwirklichen ist. Daher wäre z. B. einem Ausländer, der sich während eines vorübergehenden Aufenthalts im Inland bei einem dort vorgekommenen Unfall auf die Gefährdungshaftung eines inländischen Autohalters berufen möchte, der Schadensersatzanspruch zu versagen, wenn feststeht, daß keiner derjenigen Staaten, in denen der Kläger Vermögen hat, bereit wäre, eine entsprechende Gefährdungshaftpflicht des Klägers für den hypothetischen Unfall im Inland mit umgedrehten Rollen zu verwirklichen; das ist insbesondere dann denkbar, wenn der Staat, in welchem der im Inland geschädigte Ausländer Wohnsitz und Vermögen hat, für den hypothetischen Gegenfall Schadensersatzansprüche verneinen würde, weil dieser Staat, wie z. B. England, die lex loci delicti mit seiner lex fori kumuliert, und diese lex fori eine Gefährdungshaftung verneint, und wenn der betreffende Staat auch ein Urteil des Staates des Unfallortes nicht vollstrecken würde. Hingegen wäre, wie ebenfalls schon oben angedeutet, die konkrete Gegenseitigkeit des Unterhaltsrechts zwischen Geschwistern als gewährleistet anzusehen, wenn derjenige, der im streitigen Fall auf Unterhalt in Anspruch genommen wird und diesen gemäß dem anzuwendenden Recht schuldet, zwar nicht in dem gleichen Forumstaat einen hypothetischen Gegenanspruch verwirklichen könnte (weil dort kein Gerichtsstand für den hypothetischen Gegenanspruch gegeben wäre), wohl aber, wenn im Wohnsitzstaat des Klägers nach dem dort anzuwendenden Recht der hypothetische Anspruch "besteht", ein Gerichtsstand zu seiner Geltendmachung gegeben ist und dort noch am ehesten mit Vollstrekkungschancen gerechnet werden kann. Ist die Gegenrechtslage im Forumstaat zwar auf dem Papier gegeben, aber mangels Gerichtsstandes nicht effektiv zu machen, so ist es denkbar, daß sie zwar unter dem gemäß dem Kollisionsrecht eines fremden Staates zur Anwendung berufenen Recht zu bejahen wäre, daß sie aber in dem fremden Staat deshalb nicht realisiert werden kann, weil dort der Genuß derartiger subjektiver Rechte Ausländern als solchen grundsätzlich verweigert wird. Dann bedeutet das Fehlen der globalen Gegenseitigkeit, daß auch die konkrete Gegenrechtslage nicht gewährleistet ist: X verlangt von dem Grundstücksnachbarn Y, dessen Grundstück sich im Lande B befindet, die Unterlassung von bestimmten Immissionen auf das im Lande A belegene Grundstück des X. Das angegangene Gericht in B darf zugunsten des Klägers X unter dem anwendbaren Recht in B, welches die Zu lässigkeit derartiger Immissionen verneint, der Klage nur dann stattgeben, wenn für den umgedrehten Fall ebenfalls ein Unterlassungsanspruch gewährleistet ist. Unterstellt man, daß die Gerichte von B hier-

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für unzuständig wären, und liegen die Dinge im Staate A so, daß in dessen Sachenrecht zwar der Unterlassungsanspruch zu bejahen wäre, aber Ausländern grundsätzlich die GeltendmacllUng von Ansprüchen aus dem Immobiliarsachenrecht verweigert würde, so wird man im Staat B das Vorhandensein der konkreten Gegenrechtslage verneinen müssen. Selbst wenn das Bestehen der konkreten Gegenrechtslage - sei es im Forumstaat, sei es in einem anderen Staat - zu bejahen ist, so kann aber auch umgekehrt im Forumstaat selbst zusätzlich noch das Erfordernis der globalen Gegenseitigkeit eingreifen und es verhindern, daß ein unter dem im Forumstaat anwendbaren Privatrecht vorgesehenes subjektives Recht jemand zugesprochen wird, der durch Staatsangehörigkeit mit einem anderen Staat verknüpft ist, wenn dieser andere Staat bei Anwendung seines Rechts auf entsprechende Situationen in seinem Gebiet zugunsten von Staatsangehörigen des Forumstaates keinen entsprechenden Rechtsschutz vorsieht. Für eine derartige globale Gegenseitigkeit sind jedoch im allgemeinen besondere gesetzliche Vorschriften erforderlich. Daß sie nicht bloß die Immaterialgüterrechte betreffen, zeigt übrigens § 14 des neuen westdeutschen Pflichtversicherungsgesetzes; er sieht vor, daß die Haftung des Entschädigungsfonds für Autounfälle gegenüber Ausländern von der Gegenseitigkeit abhängig gemacht werden kann. Dabei ist allerdings die Gegenseitigkeitsbedingung auf das Fehlen von diskriminierenden fremdenrechtlichen Bestimmungen beschränkt und erstreckt sich nicht darauf. daß auch im Ausland gleichartige Bestimmungen vorhanden sind, welche eine unmittelbare Gefährdungshaftung eines Fonds für solche Fiille vorsehen, wo der Versicherer des primär haftenden Kraftfahrzeugs aus irgendwelchen Gründen nicht in Anspruch genommen werden kann. Wo globale Gegenseitigkeit verlangt wird, geschieht dies aus Erwägungen dessen, was man als "Privatrechtsaußenpolitik" bezeichnen Jr i5nnte; diese Privatrechtsaußenpolitik ist meist ein Ausschrlitt aus dCi' l\ußenwirtschaftspolitik des betreffenden Staates29 • Dabei wird einseitig Druck ausgeübt, um das zu fördern, was innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als "Harmonisierung" der nationalen Rechte bezeichnet wird, und was eben letztlich internationale Rechtsvereinheitlichung darstellt. Wenn es tatsächlich hierzu gekommen ist, und diskriminierende fremdenrechtliche Bestimmungen fehlen, so wird meist auch das Bestehen der konkreten Gegenrechtslage zu bejahen sein, wenn eine Sachnorm eine von ihr vorgesehene Rechtslage von einer solchen Gegenrechtslage abhängig macht. Überall, wo mehrere Staaten durch 29 Siesby, a.a.O., S. 385, macht darauf aufmerksam, daß im internationalen Privatrecht des Seeverkehrs der Grundsatz der Anwendung des Flaggenrechts - z. B. für den Umfang der Reederhaftung - gewichtige Folgen für die Wettbewerbskraft der Handelsflotten der verschiedenen Staaten haben kann.

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einen Vertrag vorgesehen haben, daß die Vertragsstaaten für bestimmte Materien ein durch den Vertrag bereits mehr oder weniger vereinheitlichtes Recht haben müssen, verringert diese Vereinheitlichung nicht nur das Bedürfnis, globale Gegenseitigkeit zu fordern 30 , sondern vergrößert auch zugleich die Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung der im materiellen Recht geforderten konkreten Gegenrechtslage. Es ist daher denkbar, daß der Vertrag selbst die Vertragsstaaten verpflichtet, jedenfalls beim Vorhandensein bestimmter Verknüpfungen die Gegenrechtslage als verwirklicht anzusehen31 • Solange aber eine internationale Vereinheitlichung des materiellen Rechts nicht stattgefunden hat, ist bei heterogen verknüpften Situationen die Prüfung, ob das Erfordernis der konkreten Gegenrechtslage verwirklicht ist, immer noch aktuell. Zu erkennen, daß eine bestimmte Sachnorm die Verwirklichung einer Rechtslage von einer möglicherweise rein hypothetischen Gegenrechtslage abhängig macht, das erfordert allerdings ein Verständnis der Privatrechtsordnung, wie es durch ein bloßes Fall-Lösungsdenken, dem leider auch die juristische Ausbildung in Deutschland zu verfallen droht, jedenfalls nicht gerade gefördert wird. 30 Daher verbieten solche Verträge nicht nur die diskriminierende Ausschließung von Ausländern bei der Geltendmachung von Ansprüchen unter dem durch Vertrag vereinheitlichten Recht der Vertragsstaaten, sondern verbieten es auch, die Geltendmachung solcher Ansprüche von der globalen Gegenseitigkeit abhängig zu machen, wenn keine restlose Rechtsvereinheitlichung erfolgt ist. So sind die Vertragsstaaten des europäischen übereinkommens vom 20.4. 1959 betreffend obligatorische Haftpflichtversicherung für Kraftfahrzeuge (vgl. BGBl. 1965 II 281 ff.) verpflichtet, einen Entschädigungsfonds für solche Schadensfälle zu errichten, wo nicht aus einer Haftpflichtversicherung Ersatz zu beschaffen ist, oder sie sind verpflichtet, "gleichwertige Maßnahmen zu treffen". Obwohl jeder Vertragsstaat die Voraussetzungen für die Gewährung eines Entschädigungsanspruchs an den Fonds und den Umfang des Anspruchs selbst regeln darf, sollen sich die Staatsangehörigen eines jeden Vertragsstaates in dem anderen in demselben Umfang wie die Angehörigen dieses Staates auf dessen Recht berufen können. Dabei wird offenbar stillschweigend vorausgesetzt, daß der Fonds bei Unfällen, die sich in dem Staat ereignet haben, der den Fonds errichtet hat, einspringt. 31 Das ist wohl auch der Sinn des Art. 7 Abs. 2 der Konvention vom 10. 10. 1957 betreffend Beschränkung der Reederhaftung. Die Sachnormen der Konvention brauchen von einem Vertrags staat nicht angewendet zu werden, wenn er einerseits seine Gerichte für den Anspruch gegen den Reeder als zuständig erklärt, und wenn andererseits der Beklagte weder Wohnsitz noch Geschäftssitz in einem Vertragsstaat hat und das haftende Schiff auch nicht die Flagge eines Vertragsstaates führt. Mit anderen Worten: Für diejenigen Reeder, welche eine der eben genannten Verknüpfungen zu einem Vertragsstaat aufweisen, muß von den Gerichten eines Vertragsstaates die konkrete Gegenrechtslage als verwirklicht angesehen werden, während es den Vertragsstaaten freisteht, bei denjenigen Reedern, die nicht in der genannten Art mit einem Vertragsstaat verknüpft sind, die Anwendung der Haftungsbeschränkung des Vertrages davon abhängig zu machen, daß gewährleistet ist, daß dem Kläger bei umgedrehten Parteirollen in demjenigen Staat, welcher als Wohnsitzstaat, Staat des Geschäftssitzes oder Flaggenstaat des Schiffes am ehesten in der Lage wäre, die Haftung der Gegenseite zu verwirklichen, ebenfalls Haftungsbeschränkungen im Sinne der Konvention zugute kämen.

FRITZ WERNER

Das Bundesbaugesetz in der Bewährung Der Jubilar, dem dieser Band gewidmet ist, hat sich in einem Referat vor dem VI. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Hamburg 1962 in einer nachdenklichen Betrachtung mit den "Problemen der Kodifikation im Lichte der heutigen Erfahrungen und Bedingungen" beschäftigt 1 • In seinen Ausführungen wird das Bundesbaugesetz vom 23. Juni 1960 als eine der großen Kodifikationen der Gegenwart bezeichnet. Es darf daher in diesem Bande der Versuch unternommen werden, der Frage nachzugehen, ob diese Kodifikation ihre erste Bewährungsprobe bestanden hat. Die Fragestellung mag als vorwiegend pragmatisch angesehen werden2 • Sie erlaubt aber auch Einblicke wissenschaftlicher Art.

I. 1. Die Frage nach der Bewährung des Bundesbaugesetzes wird nicht nur von Juristen gestellt. Sie führt auf das allgemeine Unbehagen, das viele von denjenigen haben, die für die moderne Stadtplanung Verantwortung tragen. Nicht selten hat man das Empfinden, daß trotz der bedeutenden Leistungen, die uns die Periode des Wiederaufbaus unserer Städte gebracht hat, doch noch nicht alles geschehen sei, was nötig wäre. Derartige Empfindungen verdichten sich gelegentlich zu scharfen Angriffen auf die geltende Rechtsordnung, der man vorwirft, sie verhindere es, die großen Ziele einer modernen Stadtplanung zu verwirklichen. Aus den zahlreichen Stimmen, die das geltende Recht verantwortlich machen, sei als Beispiel der Schlußsatz aus Ausführungen wiedergegeben, die einer der bedeutendsten Städtebauer der Gegenwart, Ernst May, auf einer der vielen Tagungen, die Problemen der Stadtplanung gelten, gemacht hat. Er schloß seine Ausführungen mit dem Satz: "Der Städtebau in der 2. Hälfte unseres Jahrhunderts wird ein neues Planungsrecht schaffen müssen, oder er wird seinen Namen nicht länger verdienen3 ." Ernst E. Hirsch: Das Recht im sozialen Ordnungs gefüge, 1966, S. 139 ff. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Manuskript Grundlage eines Referats des Verfassers auf dem 8. Deutschen Volksheimstättentag 1967 in Wiesbaden gewesen. 3 Städtebau im Zeitalter der Massen - ein Tagungsbericht, o. J., S. 49. 1

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Diese radikale Absage an das geltende Baurecht wird eine rechtliche Betrachtung nur schwerlich nachvollziehen können. Aber der Jurist sollte sich von der Antwort auf die Bewährungsfrage nicht ausschalten. Die Zulässigkeit der Frage, ob sich ein Gesetz bewährt hat, folgt daraus, daß nahezu jedes Gesetz Experimentcharakter hat. Jedes Gesetz ist im Grunde ein in die Zukunft gerichteter Plan. Ob und wie sich ein solcher gesetzgeberischer Plan verwirklicht, hängt vielfach nicht von dem ab, was sich der konkrete Gesetzgeber bei Erlaß der Normen gedacht hat, sondern von mannigfachen Umständen, insbesondere davon, ob die Prognose, die der Gesetzgeber seinem Vorhaben gestellt hat, zutreffend war. Jeder Gesetzgeber sollte aufmerksam verfolgen, was in der Praxis aus den Normen wird, die er zunächst in der Abstraktheit parlamentarischer Beratungen erarbeitet hat. Das gute Gewissen des Gesetzgebers sollte nicht dabei enden, ein Gesetz erlassen zu haben, sondern sollte erst dann zu einem guten Gewissen werden, wenn er prüft, ob das Gesetz seine Bewährungsprobe in der Praxis bestanden hat. Die Frage, ob sich das Bundesbaugesetz bewährt hat, ist heute nach 7 Jahren nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Die Antwort wird hier lediglich aus einer rechtlichen Betrachtungsweise vorgenommen. Ob aus politischer, soziologischer oder wirtschaftlicher Sicht die Bewährungsfrage positiv oder negativ zu beantworten ist, oder in welchem Gemenge in einer solchen Sicht Positives und Negatives liegen, ist nicht in erster Linie ein Rechtsproblem. Alle baurechtlichen Normen, also auch das Bundesbaugesetz, führen auf eines der zentralen Themen einer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung zu, das Verhältnis von öffentlicher Gewalt und Privateigentum. Damit werden alle Fragen, die der Gesetzgeber auf diesem Gebiet anspricht, über den Bereich ihrer rechtlichen Erheblichkeit hinaus im Grunde zu einem Problem der politischen Moral. Das letzte Wort haben daher bei der Würdigung baurechtlicher Normierungen diejenigen, die für die politische Moral ihrer Zeit verantwortlich sind: das ist in erster Linie das Parlament, aber nicht nur das Parlament, sondern jeder, der einen Auftrag für das PolitischMoralische hat. Dazu gehört auch der Jurist, weil er seinem Wesen nach einen politischen Beruf hat. Jedoch sollte man sich auch davor hüten, die Bewährungsfrage für ein Gesetz allein nach außerrechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen. Da ein Gesetz stets ein Werk des Rechts ist, muß es nicht nur bezüglich seiner Auslegung, sondern auch seiner Fortentwicklung und seiner Novellierung, also seiner Bewährungsfrage an Rechtsmaßstäben gemessen werden. Auch derjenige, der nicht aus Rechtsgründen an die Frage der Bewährung eines Gesetzes herantritt, darf die Rechtsfrage nicht außer acht lassen. Mit Erschrecken kann man gelegentlich feststellen, mit welcher Leichtigkeit auch heute noch Rechtsfragen beiseite geschoben werden.

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Zumeist geschieht es dadurch, daß man die Rechtsfragen als lästige juristische Fragen deklariert. Die Wortverschiebung von "rechtlich" zu "juristisch" bedeutet bereits eine Abwertung, und nicht selten werden rechtliche Fragestellungen als eine Angelegenheit angesehen, die nur einen kleinen Kreis von Juristen interessieren können. Demgegenüber muß darauf hingewiesen werden, daß in dem Staat, so wie wir ihn seit dem Zusammenbruch der Diktatur verstehen, Rechtsfragen nicht Probleme sind, die allein Experten angehen, sondern die Gesamtheit der Nation in ihren vitalsten Interessen berühren. 2. Für unser Vorhaben ist die Frage, ob das verfassungsrechtliche Fundament, auf dem das Bundesbaugesetz steht, nämlich Art. 14 GG, eine tragfähige Basis für ein modernes Baurecht darstellt, anzusprechen. Der Gesetzgeber des Bundesbaugesetzes hatte von Art. 14 GG auszugehen. Darüber gab es keine ernsthafte Diskussion. Die Lage ist heute möglicherweise anders, weil die öffentliche Meinung zu Verfassungsänderungen psychologisch eher geneigt sein mag. Der Gedanke an Verfassungsänderungen ist vertrauter geworden. So sind etwa Kardinalnormen der Verfassung in ihrem organisationsrechtlichen Teil, die die Fragen der bundesstaatlichen Finanzverfassung behandeln, - man möchte sagen - nahezu sang- und klanglos unterwandert worden, und beim Streit um die Reform des Wahlrechts ist der Gesichtspunkt einer etwa in ihr steckenden Verfassungsänderung für die Öffentlichkeit von untergeordneter Bedeutung. Möglicherweise stehen Große Koalitionen Verfassungsänderungen mit größerer Unbefangenheit gegenüber als andere Regierungsgestaltungen. Auch die Chance, Art. 14 GG zu ändern, mag daher kein Phantom mehr sein. Es ist jedoch ein Unterschied, ob organisationsrechtliche Normen geändert werden, oder ob im Grundrechtsteil der Verfassung eine Norm geändert wird, die zu den Zentralpunkten des Grundrechtsteils gehört, nämlich die verfassungsrechtlich garantierte Stellung des Eigentums in unserer politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Art. 14 ist in seinem Kern klassisches Verfassungsgut. Daß er in seiner Ausformung durch das Grundgesetz über den Eigentumsschutz der Weimarer Verfassung hinausgeht, weil er dem Gesetzgeber die entschädigungslose Enteignung versagt, hatte seinen guten Grund, weil dem Parlamentarischen Rat nach den Erfahrungen in der Diktatur das Vertrauen zum Gesetzgeber fehlen mußte, das die Weimarer Nationalversammlung noch hatte. Man sollte nicht unter Berufung auf die sicherlich unbestreitbare Wandelbarkeit des Eigentumsdenkens im Laufe der Geschichte daran gehen, den tragenden Gehalt des Art. 14 zu unterlaufen. Für eine Ordnung, die sich dem Gedanken der Freiheit der Person verschrieben hat, gehört es zur sozialen Aufgabe des Eigentums, dingliches Substrat für die freie Entfaltung des Bürgers als Persönlichkeit zu sein. Es liegt auf der Hand, daß der eigentumslose Bürger in seiner Freiheit stärker als der durch Eigentum 16 Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch

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gesicherte Bürger gefährdet ist. Freiheit und Eigentum gehören deshalb zusammen. Dieser Zusammenhang ist für das Verfassungs denken des Konstitutionalismus eine Selbstverständlichkeit. Heute empfindet man diesen Zusammenhang nicht mehr so stark 4 • Unsere nivellierte "Katastrophengesellschaft" , deren wirtschaftliche Struktur durch zwei Inflationen und zwei verlorene Kriege bestimmt wird, kennt Eigentum mitunter nur noch als vom Staat subventioniertes Eigentum. Aber auch für diese Ordnung gehören Freiheit und Eigentum zusammen5 • Es geht auch nicht an, die Sozialstaatlichkeit, die zu den Leitbildern unserer verfassungsrechtlichen Ordnung gehört, als Instrument anzusetzen, um Grundrechtsverbürgerungen abzubauen 6• Das Sozialstaatsprinzip darf nicht isoliert und aus dem Gesamtzusammenhang unserer politischen und sozialen Ordnung in eine überhöhende Isolierung gehoben werden. Es gerät sonst in die Gefahr, einen Totalitätsanspruch zu erheben. Unsere Verfassung koppelt in glücklicher Weise Sozialstaat und Rechtsstaat durch die Formel, wir seien ein "sozialer Rechtsstaat". So wenig fortschrittlich es klingen mag und so ungern man darauf verzichtet, an der Faszination, die von starken Reformideen ausgeht, teilzuhaben: es kann nicht darum gehen, das Allein-Zweckmäßige als Recht zu deklarieren und den als Hemmnis empfundenen Art. 14 deshalb aufzulockern. Die Zweckmäßigkeit bricht sich im Rechtsstaat am Gedanken des Rechts. Das muß der Planer hinnehmen. Es liegt auf der Hand, daß der Städtebauer naturgemäß stets nach Reserven für seine Planung suchen und fürchten muß, daß diese ihm durch die komplizierte Rechtsordnung vorenthalten werden. Planung ist dynamisch und daher ein 4 über das Eigentumsdenken in unserer Zeit habe ich mich an anderer Stelle geäußert. Werner: Verfassung, Rechtsgefühl und Städtebau (Entwicklungsgesetze der Stadt, Vorträge und Berichte, 1963, S. 23 ff.). 5 Die gewiß unbestreitbare - Kommerzialisierung des Grundeigentums, der der Gesetzgeber entgegenwirken müsse, führt man nicht selten auf die Eigentumsvorstellung der Französischen Revolution zurück. Insbesondere hat von Nell-Breuning (Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 1 S. 307 ff., 1956) wiederholt ausgeführt, daß der gegenwärtige Eigentumsbegriff jakobinischer Herkunft sei. Man darf zweifeln, ob man gerade die Jakobiner für kommerzialisiertes Denken in Anspruch nehmen darf. Im übrigen dürfte die Ausgangsposition für das gegenwärtige Eigentumsdenken viel weiter zurückliegen, und zwar in jenem geistesgeschichtlichen Prozeß, der mit den Begriffen Reformation und Renaissance umschrieben wird. Wenn damals der Versuch unternommen wurde, das Individuum autonom werden zu lassen, so gehörte es zu dieser Freisetzung, daß man es mit einer gewissen Sachherrschaft zur Behauptung seiner Freiheit ausstattete. Wählt man diesen Ansatzpunkt, taucht die Frage auf, ob wir jenen Geschichtsprozeß als so abgeschlossen ansehen können, daß wir in eine neue Variation der europäischen Geistesgeschichte, die auch den Eigentumsbegriff neu sieht, eintreten können. 8 Zu der schwierigen Problematik, die dem System unseres Verfassungsrechts durch das Sozialstaatsprinzip aufgegeben ist, vgl. u. a. W. Weber: Die verfassungsrechtlichen Grenzen sozialstaatlicher Forderungen (Der Staat Bd. 4 S. 376 ff., 1965).

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ständig fortschreitender Prozeß, der flexibel bleiben muß. In welchem Ausmaß die Planung in eine unausgesetzte Dynamik geraten kann, zeigt nicht nur das heutzutage diskutierte Thema "Urbanität und Wohndichte". Man denke ferner daran, daß Industrieansiedlungen mit einem Schlage örtliche und überörtliche Planungen verändern können. Auch das Problem, in welchem Maße sich die Stadtgestaltung dem Diktat des motorisierten Verkehrs unterwerfen darf, gehört zu den variablen Problemen der Planungsleitbilder und manches andere mehr. So steht man vor der Tatsache, daß der veröffentlichte Plan nicht selten durch die Ideen unveröffentlichter Entwürfe schon überholt zu sein scheint. Der Plan von heute, der die Zukunft eigentlich berechenbar machen soll, ist immer auf dem Sprung nach dem Plan von morgen. Demgegenüber ist das Recht darauf bedacht, die Berechenbarkeit privaten und öffentlichen Tuns zu gewährleisten. Der Rechtsstaat ist vom Planer her gesehen kein einfach zu handhabendes Instrument. Letzten Endes hat jeder eine romantische Sehnsucht nach der Vereinfachung von Problemen, und der "terrible simplificateur" steckt in jedem. All diese Bemerkungen wollen warnen, die Grundlage des Bundesbaugesetzes, den Art. 14, in Zweifel zu ziehen. Dagegen steht die Frage, wie diese Norm auszulegen ist, insbesondere inwieweit für ihre Auslegung andere Fundamentalnormen der Verfassung heranzuziehen sind, nämlich das bereits genannte Sozialstaatspostulat der Art. 20, 28 und das Gleichheitspostulat des Art. 3 - in Gestalt der Gleichheit der Bauchance, auf die sich möglicherweise die klassische Baufreiheit konzentriert hat auf einem anderen Blatt. Sie ist weitgehend eine Sache der Judikatur und gehört nicht zum Thema, das sich nicht mit der Rechtsprechung, sondern mit dem Gesetz zu befassen hat. 3. Ebenfalls gehört die Frage nach einer Novellierungsbedürftigkeit der Baunutzungs-VO nicht hierher. Bekanntlich wird an ihrer Neufassung gearbeitet. LetzIich ist das Bedürfnis, sie in einigen Punkten neu zu fassen, darauf zurückzuführen, daß die Verordnung nach langer Vorarbeit in einem Augenblick erschien, in dem das Leitbild der Stadtplanung zu einem Teil einen Kurswechsel vollzog. Das neue Programm für die Stadt von morgen, "Urbanität durch Verdichtung", bedeutet: Man will wieder mehr Wohnungen auf ein Grundstück legen, man ist nicht mehr so begeistert von dem "sozialen Grün", man spricht davon, daß auch ein enges Zusammenwohnen einen humanistischen Effekt haben könne; man weist auf die Lebenszusammenhänge hin, die gerade in engen Siedlungsräumen gepflegt werden könnten. Ob die Baunutzungsverordnung aus dem Wandel solcher Auffassungen Folgerungen ziehen muß, wird zu prüfen sein. Nicht zu behandeln sind ferner die Probleme, die durch den Plan eines Sanierungs- bzw. Städtebauförderungsgesetzes aufgeworfen werden. Das

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Bundesbaugesetz hat bewußt die Sanierungsproblematik nur gestreifF. Daß nunmehr die Zeit zur Entscheidung über die im Bundesbaugesetz insoweit offengebliebenen Fragen reif ist, ist nicht zu bezweifeln8 • 11. 1. Scheiden Art. 14, die Baunutzungs-VO und der Sanierungsgesetzentwurf als näherer Untersuchungsgegenstand aus, bedarf es der Betrachtung des Bundesbaugesetzes selbst. Dabei kann es nicht darum gehen, an eine solche Betrachtung mit der Kreide des Beckmesser heranzugehen und alle Einzelvorschriften des Gesetzes daraufhin zu betrachten, ob man es auch anders hätte machen können, sei es in der Sache selbst oder in der Formulierung. Es kann sich nur darum handeln, die Grundentscheidungen, die dem Gesetz zugrunde liegen, auf ihre Bewährung hin zu betrachten. Die Würdigung eines Gesetzes sollte sich auch nicht auf die Jagd nach Negativem beschränken, sondern sich dort, wo es gerechtfertigt ist, auch zur - unpopulären - Bejahung einer Leistung durchringen, selbst wenn man sich damit den heute rasch erhobenen Vorwurf des Konformismus einhandelt. In einer Welt, zu deren markanten Zeichen die Undankbarkeit gehört, darf man auch eine dankbare Äußerung gegenüber einer gesetzgeberischen Leistung abgeben.

Die Frage, ob sich ein Gesetz bewährt hat, wird man nicht zuletzt danach beantworten müssen, ob die Ziele, die sich der Gesetzgeber bei Erlaß des Gesetzes setzte, erreicht worden sind 9 • In einer Hinsicht wurde das gesetzgeberische Ziel auf jeden Fall erreicht. Eines der Ziele bestand darin, der Rechtsvereinheitlichung zu dienen. Zahlreiche Normen des Reichsrechts, des Landesrechts und des Kommunalrechts aus einem Zeitraum über viele Jahrzehnte hinweg sollten in eine Kodifikation übergeführt werden. Dabei galt es bekanntlich, einige Hürden zu überwinden, insbesondere die Frage der bundesrechtlichen Kompetenz. Sie mußte durch ein Gutachten des Bundesverfassungsgerichts geklärt werden lO • Das Gutachten befriedigte vielleicht nicht alle Freunde des Kodifikations7 Inwieweit das BBauG für die Probleme der Sanierung der Städte und Dörfer ein Instrumentarium abgeben kann, ist aus der sorgfältigen Darstellung von Dittus-Pohl: Die Sanierungsvorschriften des Bundesbaugesetzes, Wissenschaftl. Untersuchungen des Deutschen Volksheimstättenwerks, Folge 15, 1961, ersichtlich. 8 Zur Notwendigkeit eines solchen Gesetzes: Lücke: Städtebau, Gemeinschaftsaufgabe der Zukunft, BBauBl. 1965 S. 160 ff. Ferner Pergande: Bodenpolitische Probleme im Entwurf des Städtebauförderungsgesetzes (Stadtbauwelt 1967 S. 1085 ff.). A. A.: Langer: Die Grundlagen der Sanierung, BBauBl. 1962 S. 227 ff. 9 über die Ziele des BBauG vgl. Ernst-Bonczek-Halstenberg-Zinkahn: Grundgedanken des Bundesbaugesetzes, 1961. 10 Gutachten des BVerfG vom 16. 6.1954 (BVerfGE Bd. 3 S. 407 ff.).

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planes, aber gab dem Gesetzgeber doch einen Maßstab an die Hand, mit dem er sich seiner Aufgabe stellen konnte. Das kodifikatorische Ergebnis läßt sich in einer der Schlußvorschriften des Gesetzes ablesen, die eine Liste der Normen enthält - immerhin 67 Nummern -, die nicht mehr geltendes Recht sind. Die überführung der Materie in Bundesrecht ermöglichte auch eine gesteigerte Revisibilität des Baurechts, die zu den wesentlichen Elementen jeder Rechtsvereinheitlichung gehört. Es ist bekannt, daß in der Bundesrepublik jetzt nicht etwa schlechthin einheitliches Baurecht vorhanden ist. Es ist noch Platz für Landesrecht, und es bedarf des Vertrauens in das viel zitierte Prinzip des kooperativen Bundesstaates, um daran zu glauben, daß auch in den Restbeständen des vom Landesrecht geprägten Baurechts gemeinsame Linien innegehalten werden. Hier existiert eine wesentliche Aufgabe der Länderbürokratien, die sich wie in anderen Bereichen ohne illegitimes Prestigedenken bewußt sein müssen, daß sie maßgeblich die Verantwortung dafür tragen, daß unser Föderalismus nicht ad absurdum geführt wird. 2. Der Angelpunkt des Bundesbaugesetzes ist das Recht der Bauleitplanung. Stellt man hier die Bewährungsfrage, bedarf es zunächst einer Betrachtung darüber, wie die gesetzliche Zuerkennung der sog. Planungshoheit an die Gemeinden zu beurteilen ist l l . Die kommunale Planungshoheit war keine völlig neue Erfindung des Bundesgesetzgebers l2 • Bereits eine Reihe der Aufbaugesetze der Länder nach dem Jahre 1945 hatte sich dazu bekannt. Das badische Aufbaugesetz hatte beispielsweise erklärt: "Die Gemeinde ist kraft ihres Selbstverwaltungsrechts berechtigt und nach Maßgabe dieses Gesetzes verpflichtet, den Aufbau zu planen und die Maßnahmen zu seiner Durchführung zu treffen." In einer solchen Formulierung wird deutlich, woraus die Planungshoheit abgeleitet würde, nämlich aus dem Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden. Diese Ableitung lag nach dem Jahre 1945 um so näher, als sich die deutsche Staatlichkeit von unten her neu bilden mußte. Jedermann weiß, wie hoch die Bedeutung der Gemeinden für die Wiederherstellung der deutschen Staatlichkeit zu veranschlagen ist. Das Problem, wie sich ein Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden mit Belangen anderer Organisationsgestaltungen überschneiden könnte, stellte sich erst im Laufe der Zeit. Der eine oder andere mag heute zweifeln, ob der Begriff der kommunalen Planungshoheit jetzt noch in gleichem Maße überzeugt. Einmal haben wir gegenüber dem Begriff der "Hoheit" unsere geradezu schon selbstver11 Positive Beurteilung zumeist unter Hinweis auf Art. 28 GG durch Baumeister: Freiheit und Bindung des Eigentums nach dem BBauG, DWW 1961 S. 154 ff.; Jensen: Baurecht und Städtebau, DÖV 1961 S. 564 ff.; Urschlechter:

Die städtebauliche Neuordnung und das BBauG, BIGBWR 1962 S. 129 ff.;

Herzner: Die städtebauliche Ordnung, 1965, S. 61 ff.; Kuntzmann-Auert:

Rechtsstaat und kommunale Selbstverwaltung, 1967, S. 83. 12 Gelzer: Das neue Bauplanungsrecht, 1964, S. 9.

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ständlich gewordenen inneren terminologischen Bedenken 13 • Wichtiger aber ist die Frage, ob jeder Gemeinde diese Funktion zustehen soll, oder ob andere Lösungen vorzuziehen wären. Außerhalb der Diskussion steht allerdings die Auffassung, nicht der Gemeinde, sondern dem Staat sei die Planungshoheit zu überantworten. Mit solchen Alternativen verbaut man sich den Weg zu praktischen Lösungen. Es geht auch nicht um ideologisch akzentuierte Konfrontierungen zwischen kommunaler Selbstverwaltung und Staatsverwaltung. Man darf überhaupt zweifeln, ob die Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen der gemeindlichen Selbstverwaltung noch immer in Alternativen geführt werden muß, die in der Welt des 19. Jahrhunderts ihre Heimstatt hatte und damals auch Realitäten hinter sich wußte, die aber nicht mehr gegenwartsnahe ist. Im Grundsatz lautet die idealtypische Vorstellung des Gesetzes dahin, daß sich die parlamentarischen Vertreter einer Gemeinde selbst Leitbilder setzen, wie ihre Stadt gestaltet werden solle. Die Mitwirkung des Staates an der Bauleitplanung ist demgegenüber beschränkt. Dem Staat verbleibt eine nicht sehr intensiv ausgestaltete Aufsicht. Die Aufsichtsproblematik war in den Vorberatungen zum Bundesbaugesetz umstritten. So neigten Kenner der bayerischen Verhältnisse der Meinung zu, daß der Staat stärker zu beteiligen sei. Die Tatsache, daß sich in Bayern nach dem Ende des Reichs das staatliche Leben früher und stärker entfaltete, mag diese Einstellung begünstigt haben. Das Bundesbaugesetz bemüht sich darum, einen Kompromiß zu finden. Im Prinzip unterlag der bayerische Standpunkt. Die Praxis zeigt, daß die Staatsaufsicht im Bauplanungsrecht nicht nur de jure, sondern auch de facto verhältnismäßig schwach ist. Sie ist es bekanntlich nicht nur in diesem Bereich 14 ; die Kommunalaufsicht ist überhaupt schwach. Es läßt sich auch nicht verkennen, daß sich die Staatsaufsicht heute jedenfalls teilweise von der Exekutive auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit verlagert hat. Die Aufsicht über die kommunale Selbstverwaltung im Bauplanungsrecht führen gelegentlich weniger die Regierungspräsidenten oder andere Verwaltungsstellen, sondern die Gerichte. Diese Akzentverschiebung im Bereich unseres Aufsichtsrechts gehört zu den reizvollsten Problemen, die das Dreieckverhältnis Bürger - Verwaltung - Verwaltungsgerichtsbarkeit berühren; sie ist hier nicht weiterzuverfolgen. Der Bundestag ist erfreulicherweise an der Frage, ob sich die Zuerkennung der Planungshoheit an die Gemeinden bewährt habe, stark inter13 Horst Müller: Gedanken über Bodeneigentum und Städtebau (Festschrift für Fritz von Hippel, 1967, S. 265) schlägt den Ausdruck "Bauleithoheit" vor; der Ausdruck ist juristisch exakter, räumt aber die psychologischen Hemmungen nicht hinweg. 14 Zur Situation der heutigen Kommunalaufsicht: W. Weber: Kommunalaufsicht als Verfassungsproblem (Schriftenreihe der Hochschule Speyer Bd. 19), 1963, S. 17 ff.

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essiert. So hat das Wohnungsbauministerium bereits am 14. November 1962, also nach etwa zweijähriger Bewährungszeit des Bundesbaugesetzes - das ist für ein solches Gesetz ein knapper Zeitraum der Bewährung - dem Parlament eine dahingehende Frage beantworten müssen I5 und hat erklärt, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß sich die Planungshoheit der Gemeinden nicht bewährt habe. Der Satz in seiner doppelten Negation wird dahin ergänzt, daß allerdings kleine Gemeinden vielfach nicht in der Lage seien, die Ausarbeitung der Bauleitpläne vorzunehmen, da ihnen hierfür der Verwaltungsapparat fehle. Dies sei dem Gesetzgeber bekannt gewesen. Deshalb enthalte das Bundesbaugesetz die Ermächtigung an die Landesregierungen, durch Rechtsverordnung Stellen zu bestimmen, die auf Antrag der Gemeinden Bauleitpläne ausarbeiten. Die Auskunft weist darauf hin, daß in einigen Ländern Ortsplanungsstellen bei höheren Verwaltungsbehörden bestünden, die die Gemeinden beraten oder für sie die Pläne ausarbeiten. Im übrigen erklärt das Ministerium, daß selbstverständlich das Recht der Gemeinden unberührt geblieben sei, andere geeignete Personen, z. B. freiberufliche Planer mit der technischen Ausarbeitung der Pläne zu beauftragen. Das Ministerium erklärt zusammenfassend noch einmal, es habe keinen Zweifel daran, daß die Gemeindevertretungen befähigt seien, in Gestalt der Bauleitpläne die politischen Entscheidungen über die künftige Entwicklung ihres Gemeindegebiets zu treffen. Diesem Optimismus gegenüber setzt die Kritik an l6 . Man kann fragen, ob das vielerorts bestehende bürgerschaftliche Desinteresse auf kommunaler Ebene es rechtfertigt, die gemeindliche Machtausübung, die in der Planungshoheit liegt, so selbstverständlich hinzunehmen. Die Skepsis steigert sich bis zu Vorschlägen von soziologischer Seite, es bedürfe der Schaffung von besonderen Projektbehörden für die Stadtplanung. Solche Gedanken gehen an der Realität unseres staatlichen und kommunalen Organisationsrechts vorbei. Woher sollten solche neuen Behörden das nehmen, worum es bei der Diskussion der Planungshoheit für die Gemeinden geht, nämlich die ausreichende Verwaltungskraft? In der Tat liegt hier der Ansatzpunkt für die Bedenken gegen die Planungshoheit an Gemeinden jeder Größenordnung. Es läßt sich nicht verkennen, daß der Mangel an Verwaltungskraft dazu führen kann, daß eine Gemeinde lS Anlage 16 zur 48. Sitzung des 4. Deutschen Bundestages. Zwei Jahre später ist eine ähnliche Frage erneut im Plenum des Bundestages erörtert worden (130. Sitzung vom 10. 6. 1964). 16 Hering: Verwaltungs- und Gerichtsverfahren nach dem BBauG, DVBI 1961 S. 217 ff.; Wambsganz: Planungsrecht und Planungspflicht der Gemeinden, Bayer. VerwBl1963 S. 1 ff.; W. Weber: Raumordnung und Raumplanung, DÖV 1963 S. 785; Haarmann: Interkommunale Zusammenarbeit unter besonderer Berücksichtigung der Orts- und Regionalplanung, Die Gemeinde 1965 S. 231 ff.; Thieme: Selbstverwaltungsgarantie und Gemeindegröße DVBl 1966 S. 325 ff.; Schrödter: Komm. zu § 2 Anm. 1 (1964).

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ihre Planungshoheit jemandem anders überläßt; mitunter spricht man von einem "Verkauf" der Planungshoheit. Es wird nicht selten geplant und erschlossen, wie es etwa ein starkes Wohnungsunternehmen oder ein Industrieunternehmen wünschen, die der Gemeinde Planung und Durchführung der Erschließung abzunehmen bereit sind. Die Satzung, die man beschließt, bestätigt im Grunde etwas, was längst abgesprochen und auch finanziert ist. Anders ausgedrückt: wenn man weiß, wer baut, ist es leicht, einen Bebauungsplan zu machen; er ist dann nahezu schon ein Akt einer ausbedungenen Gefälligkeit. Juristisch gesprochen: Rückhalt der Planung sind die vertraglichen Abreden, die der Satzung vorausgehen, mag § 2 Abs. 9 BBauG auch lakonisch den Anspruch auf Aufstellung von Bauleitplänen verneinen. Die Unterwanderung des modernen Verwaltungsrechts oder - freundlicher ausgedrückt - seine Anreicherung durch Verträge und vertragsähnliche Gebilde ist gerade im Baurecht nicht selten. Was diese Erscheinung für die Rechtsquellenlehre des Verwaltungsrechts bedeutet, sei nur als Frage angedeutet. Um auf den Ansatzpunkt dieser Betrachtung zurückzukommen: Der gesteuerte Plan dürfte nicht allein ein Problem der Kleingemeinde sein, die zurzeit in der Bundesrepublik nicht gut ankommt und nach Meinung vieler in der Diskussion um eine Verwaltungsreform auf dem Altar der Modernisierung des Verwaltungsapparats geopfert werden solp7. Planungssünder gibt es auch in Großstädten. Sollte sich der Optimismus, der in der zuvor zitierten Auskunft des Wohnungsbauministeriums zutage tritt, auf die Dauer als übertrieben erweisen, könnte man möglicherweise der Frage nahetreten, ob man die Planungshoheit auf kreisfreie Städte und Landkreise beschränken und den kreisangehörigen Gemeinden sie nur überlassen sollte, wenn sie die dafür erforderlichen Voraussetzungen mitbringen. Dabei wäre als Ventil daran zu denken, daß der Kreis bei der Planung vom Willen der Gemeinde nur aus schwerwiegenden Gründen und nur mit Genehmigung der höheren Verwaltungsbehörde abweichen darf. Hier wird deutlich, daß die Problematik letzten Endes nicht nur baurechtlicher Art ist, sondern mit unserem Kommunalrecht und der Einordnung der Kommunen in das staatliche Organisationsrecht verzahnt ist. In diesem Zusammenhang ist überhaupt darauf hinzuweisen, daß eine Reihe von baurechtlichen Problemen nicht isoliert vom Baurecht her gesehen werden kann, sondern in enger Verklammerung mit anderen Rechtsgebieten, etwa dem Kommunalrecht oder dem Abgabenrecht steht. Ob eine Verschiebung der Planungshoheit politisch durchsetzbar wäre, mag offenbleiben. Größere Realisierungschancen hätte vielleicht der Gedanke, ob 17 Vgl. dazu die höchst aufschlußreichen Verhandlungen der kommunal rechtlichen Arbeitsgemeinschaft auf dem 45. Deutschen Juristentag in Karlsruhe (Bd. II1J).

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die Planungshoheit der Gemeinden stärkerer Kontrolle unterworfen werden sollte. Dazu könnten z. B. eine Änderung des Verfahrens bei der Bildung von Planungsverbänden gehören, weil das jetzige Verfahren nach § 4 schwerfällig ist, ferner intensivere Mittel für die Aufsichtsbehörden, auf die Aufstellung von Bauleitplänen hinzuwirken. Man muß auch bezweifeln, ob es glücklich ist, auf dem Wege über § 36 die Planungshoheit der Gemeinde noch durch ein formales Mitwirkungsrecht zu steigern 18. 3. Aus dem Abschnitt über die Sicherung der Bauleitplanung sei nur eine Anmerkung zum Bodenverkehrsrecht gemacht. Die Vorschriften haben sich bewährt. Ihr Vorgänger, das Wohnsiedlungsgesetz, war eigentlich nur der Versuch eines Gesetzes. Gegenüber seinem Rechtszustand sind entschiedene Fortschritte festzustellen. Dazu gehört der Verzicht auf die Genehmigungsbedürftigkeit obligatorischer Verträge, die Verminderung der genehmigungspfiichtigen Tatbestände, die Formalisierung der Zweckangabe und die Regelung der präjudizierenden Wirkung bestimmter Genehmigungen. Selbstverständlich ist das Recht des Bodenverkehrs nicht zweifelsfrei geworden. So werden Bedenken dagegen geltend gemacht, daß das Gesetz mit der nach Fristablauf fingierten Genehmigungserteilung arbeitet1 9• Ob man überhaupt ohne den juristischen Kunstgriff der fiktiven Genehmigung auskommen könnte, ist allerdings zweifelhaft. Die Praxis wird dagegen zu Recht meinen, daß die Frist von zwei Monaten, von der der Gesetzgeber für die Bearbeitung eines Antrages ausgeht, zu optimistisch ist 20 • Eine allgemeine Fristverlängerung wäre jedoch nicht sinnvoll; man könnte es bei zwei Monaten belassen, wenn das Gesetz die Möglichkeit vorsehen würde, die Frist zu unterbrechen, und zwar dann, wenn besondere Gründe der umgehenden Erledigung entgegenstehen. Aber das ist eine Einzelfrage, die dem allgemeinen positiven Urteil über das Recht des Bodenverkehrs nicht entgegensteht. 4. Die Regelung, die das Gesetz in seinem Teil über die bauliche und sonstige Nutzung getroffen hat, mußte naturgemäß die Rechtsprechung auf den Plan rufen. In der Tat haben die §§ 29 ff. wohl am schnellsten zu einer Konkretisierung des Gesetzes in der Judikatur geführt. Es lag auf der Hand, daß das Gegenüber von Bürger und Behörde hier am ehesten zum gerichtlichen Austrag drängen würde. Man kann heute feststellen, daß die Rechtsprechung in diesem Bereich zu einem gewissen Abschluß gekommen ist. Soweit an ihr Kritik geübt wird, handelt es sich nicht in 18 Dazu Schrödter DVBl. 1966 S. 182 ff.; gegen Schrödter: Kuntzmann-Auert: DÖV 1966 S. 701 ff. 19 Zur Frage, welche Rechtswirkungen der fingierten Genehmigung zukommen, vgl. außer den Komm. zum BBauG Schieder: Aktuelle Fragen aus dem Bodenverkehrsrecht, Bayer. VerwBl1966 S. 231 f. 20 Dazu: Meyer-Tittel-Stich: Komm. zum BBauG RdNr. 19 zu § 19.

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erster Linie um eine Auseinandersetzung mit dem Gesetz selbst, sondern mit dem, was die Gerichte aus der betreffenden gesetzlichen Norm gemacht haben. Insgesamt ist festzustellen, daß das Gesetz in diesem Teil weder den Bürger noch die Verwaltung im Stich gelassen hat und auch die Gerichte in der Lage waren, mit diesen Normen zu Rande zu kommen. Wenn dabei § 35, der die Zulässigkeit von Vorhaben im Außenbereich betrifft, in der Diskussion eine besondere Rolle spielte, so überraschte das in den Jahren, in denen sich die private Finanzkraft in Gestalt von Wochenendhäusern im Außenbereich manifestierte, nicht. Auch im Parlament ist die Entwicklung, die § 35 in der Praxis genommen hat, aufmerksam verfolgt worden. Im vergangenen Jahr wurde aus der Mitte des Bundestages ein Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Bundesbaugesetzes und des Wasserhaushaltsgesetzes vorgelegt21 ; § 35 solle dahin ergänzt werden, daß durch Landesgesetz außer den Vorhaben, die bisher privilegiert waren, auch solche für zulässig erklärt werden können, die sich an eine bereits vorhandene Bebauung anschließen, sofern öffentliche Belange nicht entgegenstehen und die ausreichende Erschließung gesichert ist; der Landesgesetzgeber solle die Möglichkeit haben, den Geltungsbereich der Landesgesetze auf einzelne Landesteile zu beschränken. Anlaß für diesen Initiativentwurf war gewiß auch die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, die § 35 ernst genommen haben 22 • Der Auflockerung, die der Initiativentwurf erreichen will, wird man nach den Erfahrungen, die in den letzten Jahren gemacht worden sind, skeptisch gegenüberstehen müssen. Das Deutsche Volksheimstättenwerk hat in einer Entsc..."'1ließung vom 19. Januar 1967 und der Deutsche Rat für Landespflege in einer Stellungnahme vom 24. Februar 1967 23 gegen das Vorhaben ernste Einwendungen erhoben. Dem ist zuzustimmen. Man muß es auch für bedenklich halten, wenn den Ländern hier eine das Rad der Geschichte zurückdrehende Kompetenz gegeben wird, die überdies noch innerhalb des Landes zu verschiedenartigen rechtlichen Regelungen führen kann. Es ist zu begrüßen, daß der Bundestagsausschuß für Kommunalpolitik, Raumordnung, Städtebau und Wohnungswesen die Beratung über den Entwurf zunächst für ein Jahr ausgesetzt hat 24 • 5. Man hätte annehmen können, daß sich der Teil des Gesetzes über die Enteignung für die Praxis als besonders bedeutungsvoll herausstellen würde. Das ist, soweit man es übersehen kann, nicht der Fall. EntBT. Drucksache V1787. Positiv begrüßt Körner: Das Bauen im Außenbereich, NJW 1965 S. 518 ff., die Rechtsprechung des BVerwG; kritisch: Ackermann: Zur Problematik des § 35 BBauG, DÖV 1964 S. 721. 23 Informationsdienst des Deutschen Volksheimstättenwerks 1967, Folge 4 und 5, ferner Jahresbericht der Statistischen Treuhandstellen für Wohnungsund Kleinsiedlungswesen 1966 S. 111/112. 24 Gegen eine Novelle zu § 35 Ernst: Der Stand der Gesetzgebung, BBauBl. 1963 S. 9. 21

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eignungsverfahren sind selten, vor den Gerichten sogar höchst selten. Offenbar besteht eine Scheu, zum Mittel der Enteignung zu greifen. Das ist jedenfalls insofern gerechtfertigt, weil die Enteignung stets nur das letzte Mittel sein darf. Die Technik des Verfahrens mag die Scheu verstärken. Zu überlegen wäre z. B., ob man sich nicht doch zum Institut der Flächenenteignung durchringen sollte. Dann könnte sich der Begünstigte mit den meisten Beteiligten gütlich einigen, und mit den übrigen Beteiligten könnte das Verfahren weiterlaufen25 • 6. Der Teil, der die Erschließung behandelt, gehört zu den kompliziertesten Teilen des Gesetzes 26 • Zu den Rechtsfragen, die der Gesetzgeber ungelöst hinterlassen hat27 , gehört u. a. die Frage, ob § 129 Abs. 1 Satz 3, der erst im Endstadium ins Gesetz gekommen ist und nach dem die Gemeinde mindestens 10 v. H. des Erschließungsaufwandes zu tragen hat, auch bei dem Abschluß der nicht ungewöhnlichen Erschließungsverträge gilt. Hier stößt man erneut auf das Problem des öffentlichen Vertrages. Ihm wird der Gesetzgeber in Zukunft wegen seiner dringenden Bedeutung ständige Beachtung schenken müssen. Ob das Erschließungsrecht die Funktion erfüllt, zur Ordnung des Bodenmarktes beizutragen, hängt nicht entscheidend von der juristischen Technik ab, die das Gesetz ihm gegeben hat, sondern von der Art, wie die Gemeinden Erschließungspolitik betreiben, ob sie insbesondere mit einer solchen Politik frühzeitig einsetzen und ob sie die Finanzkraft für ein solches Unterfangen besitzen28 • Eine ketzerische Bemerkung zum Erschließungsrecht sei gestattet: Gewiß, die Kompetenz des Bundes war unzweifelhaft. Aber waren Verwaltung und Bürger nicht auf das bis zum Bundesbaugesetz geltende Recht eingespielt? Hat sich der Vereinheitlichungseffekt ausgezahlt? Es ist jedenfalls nicht sicher, daß, wenn eine Kompetenz vorhanden ist, man sie auch auf jeden Fall nutzen soll. Man soll zuvor gleichsam durch25 Eine Anmerkung sei zum Problem der Enteignung zugunsten privater Unternehmungen gestattet. Ihr Schwerpunkt liegt heute bei Enteignungen für Gas-, ÖI- und Hochspannungsleitungen und für Ölraffinerien. Stadtplanerisch hat sich seit dem ersten Weltkrieg im Institut der Enteignung zugunsten Privater eine gewisse Änderung vollzogen. Der Private, den die öffentliche Hand begünstigen will, erhält nicht selbst das Enteignungsrecht. Träger des Enteignungsverfahrens ist die öffentliche Hand. Typisch für eine derartige Konstruktion sind sowohl das RSiedlgsG wie das BBauG mit Nuancen der Ausgestaltung im einzelnen. Die Rechtsfigur des sog. beliehenen Unternehmens ist für die stadtplanerischen Tatbestände im Grunde schwer brauchbar; eher könnte man an eine Spielart der öffentlichen Treuhand denken (dazu Bullinger: Die Enteignung zugunsten Privater, Der Staat Bd. 1 S. 449 ff., 1962). 26 Düppel: Die bisherigen Erfahrungen auf dem Gebiete des Erschließungsbeitragsrechts, DWW 1962 S. 62 ff. 27 Zur Problematik der schematischen Fixierung des satzungsmäßigen Anteils der Gemeinden auf 10 v. H.: Büschel: Gemeindlicher Anteil an den Erschließungs kosten, DWW 1962 S. 68 ff. 28 Ebenso Förster: Komm. Einf. VI vor § 123 BBauG.

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rechnen, ob es sich verlohnt, eine vielfach Jahrzehnte lange Rechtssicherheit durch eine zunächst für eine Reihe von Jahren eintretende Rechtsunsicherheit ablösen zu lassen. 7. Zu den letzten Teilen des Gesetzes wenige Bemerkungen: Man durfte gespannt sein, wie sich der Teil "Ermittlung von Grundstückswerten" bewähren würde. Derjenige, der sehr hohe Erwartungen an das Wertermittlungsverfahren knüpfte, dürfte enttäuscht sein29 • Die Vorschriften über die Wertermittlung haben die Preise auf dem Baumarkt nicht regulieren können. Wohl aber haben sie vielerorts zur Transparenz des Marktes beigetragen. Wertvoll ist dabei die Vorschrift, daß von jedem Kaufvertrag die beurkundende Stelle dem Gutachterausschuß eine Abschrift zu übersenden hat. Die Kaufpreise werden in Kaufpreissammlungen aufgenommen, die im Laufe der Jahre wegen ihrer Vollständigkeit wichtige Unterlagen für die Vergleichswertermittlung darstellen werden. Die zum Bundesbaugesetz ergangene Verkehrswertverordnung hat bewirkt, daß im gesamten Bundesgebiet gleiche Grundsätze bei der Ermittlung von Verkehrswerten angewendet werden. Den erforderlichen qualifizierten Gutachterstab konnte man naturgemäß nicht von heute auf morgen gewinnen. Man kann aber heute den Eindruck haben, daß es in einem erheblichen Umfange gelungen ist. Das Gesetz hat den Gutachten keine Bindungswirkung beigelegt. Aber in der Praxis wirkt die Bedeutung der Gutachten in den Bereich einer solchen bindenden Kraft hinein. Im Prinzipiellen liegt darin ein interessanter Vorgang. Die steigende Rolle des Sachverständigen in unserem modernen Verwaltungsrecht zeigt sich auch hier. Es liegt in der Natur der Sache, daß bei so komplexen wirtschaftlichen Umständen, wie es die Ermittlung von Grundstückswerten ist, die Funktion des Sachverständigen entscheidend ist. Der Gesetzgeber kann die Mitwirkung von Experten vorsehen, und es muß der Praxis überlassen werden, insbesondere der Güte der in das Amt gelangenden Gutachter, ob von solchen Gutachten bindende Wirkungen ausgehen. Die Entscheidung verlagert sich alsdann allerdings von der Verwaltung und den Gerichten weitgehend auf die Experten. Das ist ein Vorgang, der auch in anderen Bereichen anzutreffen ist und in jenen allgemeinen Zusammenhang gehört, für den die Soziologen das Wort von der Macht der Expertokratie gefunden haben. 8. Einige Bemerkungen seien noch zum Schlußteil des Gesetzes, den Übergangsvorschriften, gemacht. Sie mögen mit der Zeit uninteressant werden; einige im Gesetz offengebliebene Rechtsfragen sind inzwischen auch durch die Rechtsprechung geklärt worden. Ein Gesetzgeber - nicht 29 Positiv werten Brüge!mann: Die Ermittlung von Grundstückswerten, DÖV 1961 S. 595 ff. und Wambsganz: Die Bauleitplanung, DVBI 1961 S. 461 ff. diesen Teil des BBauG.

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nur der des Bundesbaugesetzes - muß sich mit ebenso großer Sorgfalt wie bei den sonstigen Teilen eines Gesetzes der Übergangsvorschriften annehmen. Gerade sie müssen eindeutig sein. Das Umschalten von einer in die andere Rechtslage bringt ohnehin Schwierigkeiten mit sich, die auf dem Rücken von Bürger und Verwaltung ausgetragen werden. Es ist zuzugeben, daß Übergangsvorschriften viel Kopfzerbrechen machen können und daß am Ende eines umfangreichen Gesetzes der gesetzgeberische Elan schon etwas müde geworden sein mag. Aber sie sind nicht zweitrangiger Art, sondern münden nicht selten in verfassungsrechtliche Fragen ein, nämlich in die Probleme der Rückwirkung und der Bestandsgarantien. Daher muß ein Übergangsrecht mit viel Umsicht zu Werke gehen, soll nicht Rechtsunsicherheit entstehen, die erst durch mühselige, oft Jahre dauernde Prozesse beseitigt werden muß. Beispiele für eine ungenügende Regelung der Überleitungsvorschriften im Bundesbaugesetz betreffen das Erschließungsbeitragsrecht30 , das zu einer nicht gerade einfachen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geführt hat. Auch die Übergangsvorschriften zum Bodenverkehrsrecht in Gestalt der Verweisung auf § 21 lassen rechtliche Zweifel aufkommen. Der Gesetzgeber hat in diesem Zusammenhang auch vergessen, daß auch die Fälle einer vor dem Inkrafttreten des Gesetzes begründeten Bebauungsfähigkeit einschlägige Fragen aufwerfen. Weder in den Überleitungsvorschriften noch in den §§ 30 ff. finden sich die für die Praxis notwendigen klaren Hinweise darauf, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen sich eine Bebauungsfähigkeit, die nach altem Recht vorhanden war, nunmehr durchsetzen soll, nachdem die neuen Regelungen geschaffen worden sind. Hier taucht eben das Problem der Bestandskraft von Vermögenspositionen auf. 9. Der Überblick läßt naturgemäß eine Fülle von Einzelfragen offen. Dazu gehören u. a. die Frage, ob die Mischung von Muß- und Soll-Vorschriften in § 1 Abs. 4 und 5 praktikabel ist 3 t, ob Probleme wie das des 30 Tittel in Meyer-Tittel-Stich, Komm. zu § 100 RdNr. 6 spricht von einem "Versehen des Gesetzgebers in letzter Minute". Ferner Herpes: Erschliessungsbeiträge nach dem BBauG, NJW 1963 S. 1295,2159 ff. 31 Der Gesetzgeber dürfte mit der Gegenüberstellung von Soll- und MußVorschriften die übliche Vorstellung verbunden haben, daß damit rechtlich zwei streng zu unterscheidende Rechtsfiguren gemeint seien. Jedoch neigt die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung dazu, Soll-Vorschriften wie eine Sonderart von Muß-Vorschriften zu behandeln, und gibt der Verwaltung auf, besondere Umstände darzutun, wenn sie von Soll-Vorschriften abweicht. Der Unterschied zwischen Soll- und Muß-Vorschriften dürfte in der städtebaulichen Praxis heute weniger ein juristisches als ein psychologisches Problem sein. Unter diesem Gesichtspunkt ist es denkbar, daß man von dem Nebeneinander von Soll- und Muß-Vorschriften Abschied nehmen und die Koordinations- und Interessengesichtspunkte, die in den Absätzen 4 und 5 zusammengefaßt worden sind, als Soll-Vorschriften bringen könnte. Eine rechtsstaatliche Gefahr würde nach den Gesichtspunkten, nach denen die Gerichte SollVorschriften handhaben, nicht vorhanden sein. Dagegen wäre eine psycho-

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mehrstufigen Verwaltungsakts und das des öffentlich-rechtlichen Nachbarschutzes vom Gesetz hätten präziser ins Auge gefaßt werden können, ob die Regelung des Vorkaufsrechts glücklich ist32 , ob die Benachteiligung der kommunalen Bodenbevorratung im Gegensatz zu dem der Wohnungsunternehmen vom Gesetz hätte inhibiert werden können, ob das Auseinanderfallen des § 89 Abs. 1 BBauG und der entsprechenden Vorschriften des RHeimstG zur Anwendung von Enteignungsmißbräuchen zu beseitigen wäre. Trotz vieler Einzelfragen wird man die Generalfrage positiv beantworten können: das Bundesbaugesetz gehört zu den großen gesetzgeberischen Leistungen der Bundesrepublik. Aber es meldet sich doch ein großer Zweifel. Wenn man die Bauleitplanung als das gelungene große Fundament des Gesetzes ansieht und ihr bescheinigt, daß es im Prinzip ein brauchbares Instrument für den Städtebau ist, drängt sich für viele mit dieser Feststellung zugleich der Gedanke auf, daß dieses Fundament nur wirklich tragen könnte, wäre es mit dem Institut des Planungswertausgleichs gekoppelt. Zu ihm hat sich der Gesetzgeber bekanntlich nicht entschlossen33 . Ob er es eines Tages tun wird, ist in erster Linie eine politische und wirtschaftliche Frage. Man sollte sich dagegen wehren, daß politische Fragen mit Rechtsideologien untermauert werden. Man sollte auch nicht außer acht lassen, daß ein Gesetz, das das Stadtplanungsrecht kodifiziert, von der Rechtsüberzeugung breiter Schichten getragen sein muß. Ein Baugesetz gehört zu den Leitgesetzen einer neuzeitlichen Gesellschaftsordnung. Will ein solches Gesetz die Wertabschöpfung zu seinen Kernsätzen machen, kann es das tun, wenn es damit rechnen darf, es mit "sozialbereiten" Bürgern34 zu tun zu haben. Dürfen wir das heute, oder liegt nicht vor uns ein immenses Stück staatsbürgerlicher Bildungsarbeit, bis wir davon sprechen können und bis wir die "Planungsverdrossenheit des Bürgers"35 überwunden haben? logische Barriere fortgeräumt, die den Planern und denjenigen, die über die Planung zu beschließen haben, das Unbehagen nimmt, sich zwischen Soll- und Muß-Vorschriften entscheiden zu müssen. Letzten Endes liegt der Inhalt der Abs. 4 und 5 darin, daß sie Leitsatzcharakter für den gesamten Gesetzesinhalt haben. Mit Recht hat die Rechtsprechung angenommen, daß die in § 1 Abs. 4 und 5 genannten Merkmale auch an anderer Stelle im Gesetz eine Rolle spielen, etwa bei der Auslegung der §§ 34, 35 BBauG. 32 Zu diesen Bedenken Hering a.a.O. S. 223; zur Verteidigung der gesetzlichen Regelung: Ernst: Das Bundesbaugesetz, BBauBl1960 S. 297 ff.; Zinkahn: Das Bundesbaugesetz, DVBl 1960 S. 617 ff.; kritisch ZipfeL: Die Beschränkungen des Bodenverkehrs nach dem Bundesbaugesetz, BB 1960 S. 1184; Ebert: Die gesetzlichen Verkaufsrechte nach dem Bundesbaugesetz, NJW 1961 S. 1430 ff. 33 Zu den Motiven des Gesetzgebers für diese Haltung: Ernst: Das Bundesbaugesetz, BBauBl1960 S. 297 ff. 34 So die Formulierung von Dürig in Maunz-Dürig, Komm. zu Art. 1 GG RdNr.52. 35 Klaus Meyer: Aktuelle Rechtsfragen der Bauleitplanung, DWW 1965 S. 92 ff.

Das Bundesbaugesetz in der Bewährung

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10. Bei der Beantwortung der Schlußfrage, ob das Bundesbaugesetz einer umfassenden Revision unterzogen werden sollte, wird man sich einer Bemerkung Rudolf von Iherings erinnern können, der bereits in einer Zeit, der die Gesetzesflut, die sich im modernen Industriestaat täglich über den Bürger ergießt, noch fremd war, feststellte: "Es ist ein ganz anderes Ding um Gesetze, die wir selber haben entstehen sehen" - so liegt es beim Bundesbaugesetz - "und um solche, die wie ein ehrwürdiges Stück Geschichte unseres Volkes aus ferner Vergangenheit in die Gegenwart hineinragen. Die Pietät stellt sich erst beim Enkel ein36 ." Man mag zweifeln, ob die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Satz von der pietätsgetragenen Haltung gegenüber dem Gesetz formuliert wurde, heute noch gelten mag. Ihering fährt dann fort: "Nur da gelangt das Gesetz zu seiner wahren Kraft, wo die Gesetze alt werden; wo im raschen Wechsel ein Gesetz das andere drängt, geht mit dem Ansehen der Gesetze auch die Macht des Gesetzes unter." Diese Warnung ist keine zeitgebundene Betrachtung. Sie gilt für den Gesetzgeber aller Epochen. Gleichwohl drängt sich angesichts des Rufes nach Reform des Bundesbaugesetzes der folgende allgemeine Gedanke auf: Wenn sich bei einer für unsere Gegenwart so grundlegenden Kodifikation, wie es das Bundesbaugesetz ist, der Wunsch nach Reform oder zumindest nach Novellierung, bereits nachdem noch nicht einmal ein Jahrzehnt vergangen ist, meldet, wird darin deutlich, wie moderne Kodifikationen von einer geringeren Beständigkeit sind, als es dem traditionellen Typ der Kodifikation entspricht. Die überkommene Kodifikation arbeitete mit einem ganz anderen Zeitmaß, als es heute der Fall ist. Sie war darauf angelegt, die Rechtsentwicklung gleichsam auf einer Stufe anzuhalten, von der man meinte, sie brauche auf lange Zeit hinaus nicht mehr fortentwickelt zu werden. Der Kodifikationsgesetzgeber ging davon aus, daß ein Abschluß erreicht sei. Das gilt für das Preußische Allgemeine Landrecht bis hin zum Bürgerlichen Gesetzbuch und nicht nur für die Kodifikation innerhalb des deutschen Bereichs, sondern im gesamten kontinental-europäischen Bereich. In der Tat haben diese Kodifikationen ein außerordentlich langes Leben gehabt; bei den Kodifikationen des napoleonischen Zeitalters ist das besonders deutlich. Gegenüber der Zähigkeit und Beständigkeit der klassischen Kodifikationen nimmt sich die Beharrungsfähigkeit einer modernen Kodifikation, wie sie das Bundesbaugesetz darstellt, geringfügig aus. Auch die moderne Kodifikation rückt in die Nähe des Maßnahmegesetzes; sie ist nicht auf lange Dauer angelegt, sondern will konkrete Probleme schrittweise vorantreiben, so daß der Ruf nach dem Gesetzgeber bereits in dem Augenblick laut wird, in dem er den inühevollen Weg bis zur endgültigen Verabschiedung durchlaufen hat. 36 Ihering: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 5. Auf!. 1894, H. Teil S. 62/63.

HERBERT WIEDEMANN

Sacheinlagen in der GmbH Man sagt wohl scherzhaft, die GmbH sei dem Kopf des deutschen Gesetzgebers entsprungen wie einst Pallas Athene dem Haupt des Zeus. Damit haben indes eine Reihe von Problemen Gestalt gewonnen, die sich wie die GmbH selbst göttergleicher Gesundheit erfreuen - und dazu gehört die Problematik der Sacheinlagen. Wandlungen in der Rechtsprechung, Theorienstreitigkeiten in Deutschland wie im Ausland! und zwei Reformdiskussionen haben bisher noch keine einhellige Meinung entstehen lassen. Das neue GmbHG wird einen Teil der offenen Fragen lösen. Dazu darf hier ein Beitrag versucht werden. Die Problematik hängt mit dem kontinentalen Prinzip des Nominalkapitals zusammen. Der Gesetzgeber verlangt von den Gesellschaftern den Einsatz angemessenen Eigenkapitals und sichert dessen Erhaltung, wodurch erst das Privileg der Haftungsbeschränkung und Vermögenssicherung gerechtfertigt wird 2 • Der GmbH soll dem Wert nach ebensoviel zufließen, wie sie nominell als dem Unternehmenszweck angepaßtes Stammkapital ausweist. Wie bringt man es zur Deckung von Kapitalziffer und Kapitalwert? Das deutsche Aktienrecht und ebenso beispielsweise das italienische GmbH-Recht benutzen dazu die Gründungsprüfung. Hier wird die Angemessenheit der für Sacheinlagen zu gewährenden Gesellschaftsanteile von unabhängigen Amtswaltern nachgeprüft. Das deutsche GmbH-Recht kennt keine Gründungsprüfung und wird sie voraussichtlich auch in Zukunft nicht einführen3 • Die Aufgabe der Drittkontrolle muß dann von der Eigenkontrolle der Gesellschafter wahrgenommen werden. Dazu dient die persönliche Haftung. In welchem Umfang man die Haftung hier einsetzen soll, und namentlich wie streng man es mit der effektiven Deckung des Kapitals halten soll, darüber besteht I Vgl. dazu ausführlich Lutter, Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in den Aktien- und GmbH-Rechten der EWG, Eine Untersuchung zur Ausfüllung von Art. 54 Abs. 3 lit. g des Vertrages über die Errichtung einer EWG (1964), S. 218 ff.; dort auch über das Verhältnis zur Unterpari-Emission, S. 280. 2 Vgl. dazu ausführlich Wiedemann, Haftungsbeschränkung und Kapitaleinsatz in der GmbH, Deutsches Landesreferat zur Tagung der Gesellschaft für Rechtsvergleichung 1967, in: Bär-Dabin-Wiedemann, Die Haftung des GmbHGesellschafters (1968). 3 Gessler, Probleme der GmbH-Rechtsreform, GmbH-Rdsch 1966, S. 102 (107).

17 Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch

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Herbert Wiedemann

Streit. Das Problem ist am einfachsten an Hand einer kurzen Rückschau auf seine Geschichte zu analysieren (I). Der Lösungsvorschlag (I!) soll anschließend in Einzelheiten (lI!) geschildert werden.

I. Zunächst stößt man auf ein eigenartiges Phänomen, daß nämlich ein und dasselbe Problem bis zu der bekannten Anmerkung von Boesebeck in DR 1939, S. 436, und - zu einem gewissen Grad - bis heute künstlich zerlegt wurde, obwohl die Antwort im Hinblick auf die Kapitalerhaltung stets gleich lauten muß. Dafür hat man den Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes in die Anwendung der Rechts- und Sachmängelhaftung hineingezogen, wo er entbehrlich ist. Die erwähnte Trennung findet sich zwischen mangelhaften und falsch bewerteten Sacheinlagen. 1. Fälle mangelhafter Sacheinlagen sind etwa: ein untaugliches Kraftfahrzeug, ein mit Dienstbarkeiten belasteter Bauplatz, ein nicht existentes Patent, ein überschuldetes Geschäft. Daß die Gesellschaft mit einer derart mangelhaften Sache kein vollwertiges Entgelt für den Anteil erhält, den sie dem GmbH-Gesellschafter gewährt, liegt zutage. Welche Rechte erwachsen ihr daraus? Würde man die Regelung des Kaufrechts anwenden4, so hätte dies kraft Wandlung oder Minderung zur Folge, daß die GmbH ihren Geschäftsanteil selbst übernehmen müßte. Die Rechtsprechung5 erkannte frühzeitig die damit verbundenen Gefahren. Ein Erlöschen des GmbH-Anteils ist ohne Amortisation oder Kapitalherabsetzung unmöglich; der Erwerb des nicht völlig bezahlten Geschäftsanteils würde dem Sinn der § 33 Abs. 1 GmbHG widersprechen. Ein Rücktritt der GmbH vom Sacheinlagevertrag würde außerdem zu einem formlos nicht zulässigen Ausschluß des GmbH-Gesellschafters und zu einem teilweisen Verzicht auf das Betriebsvermögen führen 6 • Die zunächst von der Rechtsprechung angebotene Lösung, die Gesellschaft müsse deshalb die mangelhafte Sache als mangelfreie behalten, ist mehr als unbefriedigend, vor allem im Hinblick auf eine effektive Vermögensaufbringung. Weder die Mitgesellschafter noch die Gläubiger und ihre Interessen werden hier berücksichtigt. Sie wird deshalb heute überwiegend abgelehnt 6 • Man suchte einen Ausweg unter der Blickrichtung: Gläubigerschutz. Die gesetzliche Fürsorge für das Nominalkapital ersetzt die mangelhafte Leistung ganz oder teilweise durch eine Nachlieferungs-, und wo dies unmöglich, durch eine Barzahlungspfticht. Boesebeck entdeckte dafür innerhalb der Sacheinlageverpflichtung eine subsidiäre §

4 Vgl. etwa RG, HoldhM 1912, S. 193 (195); Liebmann-Saenger (7. Aufl., 1927), 5 GmbHG, Anm. 13. a RGZ 68, S.271 (275); Bö, S. 210 (213); RG, JW 1934, S.3196. 6 Vgl. Fischer (GroßK), § 20 AktG 1937, Anm. 20.

Sacheinlagen in der GmbH

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Nachschußpflicht, eine "Deckungszusage" als Art Ausfallbürgschaft in eigener Sache. Welchen Inhalt hat diese Wertdeckungszusage? Soll nur die Differenz zum Wert der Sache in mangelfreiem Zustand oder soll die Differenz zum übernommenen Stammanteilsbetrag ausgeglichen, werden? Im Interesse der Aufbringung des Nominalkapitals wird die herrschende Meinung 7 der zweiten Alternative den Vorzug geben, um die Stammeinlage voll zu decken. Ganz sicher scheint man sich aber in diesem Punkt nicht zu sein, da auf der anderen Seite unbestritten behauptet wird B, eine Haftung für den Wert der eingebrachten Sache bestehe in der Regel nicht. Darin liegt eine gewisse Inkonsequenz. Obwohl es sich meines Erachtens weitgehend um das gleiche Problem handelt, hat man die Frage bewußter oder unbewußter Falschbewertung eigens untersucht. Wie Robert Fischer in seiner bekannten Anmerkung zu BGHZ 29, S. 300, in LM Nr. 1 zu § 5 GmbHG überzeugend ausführt, hat sich auch in diesem Punkt ein grundlegender Wandel von anfänglich liberaler Vertragsfreiheit zu heute sozial gebundener Verantwortung gegenüber den Gläubigern durchgesetzt. Ursprünglich konnten die GmbH-Gesellschafter beliebig überbewerten 9, weil jedermann sich an Hand der Satzung über Gegenstand und Anrechnungsmodus der Sacheinlage zu orientieren vermöge. In den dreißiger Jahren kommt es, vielleicht schon als vorweggenommene GmbH-Rechts reform, jedenfalls in der Zeit der Beratungen der Akademie für Deutsches Recht, zu einem vollständigen Umbruch in Literatur 10 und Rechtsprechung l1 , weil man einsah, daß eine willkürliche Bewertung der Sacheinlagen die Aufbringung des Stammkapitals zu einer Formalie macht und zu Schwindelgründungen anreizt. Die liberale Auffassung, die den Gesellschaftern einen größeren Bewertungsspielraum einräumt, hat sich hier allerdings teilweise erhalten. Der Umfang der Bewertungsfreiheit ist bis heute umstritten12. Die Problemstreuung führt, wie angedeutet, zu unerfreulichen Ergebnissen13 • Bei reinen Wertdifferenzen wird der Einleger von seinen Pflichten frei, wenn er nur nicht fahrlässig oder geradezu leichtfertig vorging, auch wenn die Sache für den gedachten Zweck unbrauchbar und daher wertlos ist. Liegt dagegen ein geringfügiger Mangel vor, kann die GeVgl. Baumbach-Hueck (12. Aufl., 1966), § 5 GmbHG, Anm. 5 D. RG, LZ 1913, Sp. 682; Hachenburg-SchiHing (6. Aufl., 1956), § 5 GmbHG, Anm.28. D Vgl. RGZ 141, S. 204 (212); KG, JW 1934, S. 1124 (Groschuff); KG, JW 1935, S. 2899 (CrisoUi). 10 Vgl. namentlich Herbig, Aus dem Rechte der Gesellschaft mit beschränkter Haftung, DNotZ 1936, S. 332; Boesebeck, DR 1939, S. 436; vgl. aber schon Hachenburg, Ein Beitrag zum Recht der Sacheinlage, LZ 1909, Sp. 15 (33). 11 RGZ 155, S. 211 (217); 159, S. 321 (335) = DR 1939, S. 431; BGHZ 29, S. 300. l! Vgl. Hachenburg-SchiHing, § 5 GmbHG, Anm. 28 a; Scholz (4. Aufl., 1960), § 5 GmbHG, RdNr.17. 13 Vgl. Lutter, Kapital, S. 282, Anm. 292. 7

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sellschaft Barzahlung in voller Höhe des anzurechenden Betrages verlangen. Man muß auch in Zukunft differenzieren, aber auf andere Weise. Denn unter dem Gläubigeraspekt: wie wird die Kapitalaufbringung sichergestellt? erscheint es belanglos, ob die versprochene Einlage Mängel hat oder sonst minderwertig ist. Die GmbH erhält in jedem Fall nicht das Kapital, das zu besitzen sie vorgibt. Der für das Kaufrecht notwendige Unterschied zwischen Fehlern und Falschbewertung, der sich überhaupt nur an Hand der vertraglich vereinbarten Sollbeschaffenheit der Sache klären läßt, verliert hier im Gesellschaftsrecht seine Berechtigung, sobald das Prinzip der Gläubigersicherung gilt. Im Hinblick auf eine effektive Vermögensaufbringung sind nicht vollwertige Einlagen alle gleich zu behandeln, und die Frage, wie sie zu behandeln sind, hängt vom Inhalt des Leistungsversprechens ab. Das Sacheinlageversprechen enthält keine datio in solutum l 4, auch keine Leistung erfüllungshalber. Eine datio in solutum würde den Rückgriff auf eine Barzahlung unmöglich machen, die Leistung erfüllungshalber dem Gesellschafter die Wahl lassen, statt der Sache Geld zu zahlen, auch wenn die GmbH auf den Vermögengegenstand angewiesen ist.

11. Der Sacheinleger gibt eine doppelte Garantiererklärung ab. Der GmbHGesellschafter verspricht, in gewisser Höhe für das Stammkapital zu haften. Als Grundlage dafür kann man, solange eine Regelung im GmbHG fehlt, auf den im Vergleich zum früheren Recht geringfügig geänderten § 27 Abs. 2 Satz 3 AktG 1965 hinweisen. Der Gesellschafter verspricht außerdem, zur Aufbringung des Betriebsvermögens eine bestimmte Sache an die Gesellschaft zu übertragen. Wir stellen einander gegenüber das Haftungsversprechen und das Einlageversprechen. Die Einlageforderung entsteht mit Vertragsschluß, der Haftungsanspruch mit der Eintragung und damit Existenz der GmbH. Die Haftung für die Kapitalaufbringung muß im Gläubigerinteresse zwingend gelten, das Einlageversprechen im Hinblick auf eine flexible Gestaltung inter partes einer Sonderregelung zugänglich sein. Die Verjährung der Beitragspflicht folgt allgemeinen Regeln, de lege ferenda sollte die Haftungsübernahme wie im französischen Recht nach fünf Jahren erlöschen. Es verspricht wenig Nutzen, den doppelten Inhalt irgendwie primär und subsidiär ordnen zu wollen. Das Modell ist aus der Kommanditgesellschaft bekannt. Wäre die Illationspflicht primär, wie man dies bisher überwiegend annahm, bedürfte es gewisser Ungenauigkeit, um an ihrer 14

Anderer Ansicht Würdinger, Aktien- und Konzernrecht (2. Aufl., 1967),

§ 12 I 2, S. 64.

Sacheinlagen in der GmbH

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Stelle eine subsidiäre Ausfallhaftung entstehen zu lassen, die inhaltlich weiterreicht als die primäre Pflicht. Ein Gesellschafter verspricht beispielsweise, eine Werkstatt gegen eine Stammeinlage von 50000 DM einzubringen. Der Betrieb ist heruntergekommen und deshalb nur 20 000 DM wert. Er wäre aber auch in tadellosem Zustand nur 40 000 DM wert. Eine noch so hoch gespannte Erfolgs- und Garantiehaftung für die Sache endet bei 40 000 DM, weil der Schadensersatz wegen Nichterfüllung, wenn man einmal von Mangelfolgeschäden absieht, die Erfüllung nicht übersteigen kann l5 . Es bedarf also einer unabhängigen Wertübernahme, wenn eine Barzahlungspflicht darüber hinaus entstehen soll. Ihr kann man subsidiäre Bedeutung insofern beimessen, als sie nur bei Nichterfüllung der Sacheinlagepflicht fällig wird. Das Prinzip der Sicherung des Aufkommens des Stammkapitals und der Grundsatz der freien Bewertbarkeit sind folglich nicht, wie der BGH16 annimmt, unvereinbar. III.

1. Zur Wertdeckungszusage Die Wertdeckungszusage beruht nicht auf Erklärungs- oder Vertrauenshaftung für eine publizierte Äußerung - ein Ansatzpunkt, der, würde man ihn wählen, das Haftungsversprechen nach Inhalt und Voraussetzungen abermals manipulierbar machen würde - vielmehr auf dem Gebot der Rechtsordnung, einen bestimmten Einsatz an Kapital zur Verfügung zu stellen, bevor die beschränkte Haftung in Anspruch genommen werden kann. Der Vertrauensgrundsatz wie das Zurechnungsprinzip werden in ihrer juristischen Aussagekraft nicht selten überschätzt. Die Elemente: worauf darf man vertrauen?, und: welches Verhalten ist zurechenbar? lassen sich aus dem formalen Prinzip jeweils nicht ablesen. Die Anforderungen an das Garantiekapital dagegen stellen eine Stütze des Rechts der Aktiengesellschaft wie der GmbH dar, um eine verbotene Risikoüberwälzung zu verhindern. Daraus folgt, daß die Haftung ihrem Charakter nach nur Garantiehaftung 17 sein kann, weil eine Verschuldenshaftung das Fundament in Frage stellt, indem das Risiko einer Falschbeurteilung zu Lasten der Gläubiger geht. Aus dem gleichen Grund umfaßt die Haftung auch unerkennbare Fehler, wenn sich etwa herausstellt, daß das eingebrachte Grundstück nicht bebaubar istt 8 • Eine andere Entscheidung führte zum 15 Zutreffend insofern RG, JW 1934, S. 3196, aber im Ergebnis nicht zu billigen. 16 BGHZ 29, S. 300 (307). 17 Gessler, GmbH-Rdsch 1966, S. 102 (107). 18 Das müßte die herrschende Meinung schon aus dem Kaufrecht entnehmen; auf Erkennbarkeit stellen es die §§ 459 ff. BGB nicht ab.

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Verschuldensgrundsatz zurück. Eine Prüfung durch Sachverständige befreit die Gesellschafter nicht, mindert indes ihr Beweisrisiko. Wenn man einwandte l9 , solchenfalls wäre der Sacheinleger auch bei jeder noch so kleinen überbewertung verpflichtet, den infolge des Minderwerts des einzubringenden Gegenstandes an der Kapitaldeckung fehlenden Betrag in Geld einzuzahlen, und es würden, falls er hierzu außerstande ist, die übrigen Gesellschafter für den Fehlbetrag ohne weiteres nach § 24 GmbHG haften, so stammen diese Einwände aus der Ebene des Einlageversprechens inter partes. Unter welchen Voraussetzungen zusätzliche Leistung und nicht nur vermehrte Haftung zu verlangen ist, wird anschließend dargelegt. Aus dem Charakter der Deckungspfiicht folgt weiter: Es müssen sich alle Inhaber der Gesellschaftsanteile an ihr beteiligen, denen die Haftungsbeschränkung in der GmbH zugute kommt, also neben den Gründern auch spätere Erwerber. Sie brauchen aber nur insofern für die Finanzierungslücke aufzukommen, als dies zur Befriedigung der Gläubiger erforderlich ist, das heißt praktisch nur in einer insolventen GmbH. Der Anspruch ist ein interner subsidiärer Anspruch der Körperschaft. Eine unmittelbare Außenhaftung, wie sie die Schweiz in Art. 802 OR kennt, wird in Deutschland nicht mehr diskutiert. De lege ferenda empfiehlt sich aber nach dem Vorbild des Art. 40 Abs. 2 der Loi sur les societes 20 eine zeitliche Beschränkung der Deckungshaftung auf fünf Jahre nach Einlagevollzug. Laut amerikanischen Statistiken21 über Zusammenbrüche zwischen 1945/1965 - ein deutsches Äquivalent fehlt - entfällt die Mehrheit aller Zusammenbrüche, und zwar zwischen 55,4 0/0 und 77,6 Ofo auf Firmen, die noch nicht fünf Jahre existieren. Da dieser Zeitraum mithin die kritische Phase für den Bestand eines Unternehmens bildet, bietet er sich für die Garantiehaftung an. über den maßgebenden Zeitpunkt der Bewertung besteht Einigkeit. Erkenntnisse "ex post" werden nicht berücksichtigt. Entscheidend ist der Augenblick der Einbringung 22 • Dies stellt keine Besonderheit des Gesellschaftsrechts dar. über die Tilgungswirkung entscheidet bei jeder Leistung der Tag der Erfüllung. Die Gesellschafter versprechen Kapitaldeckung, nicht Verlustdeckung. Schwieriger ist die Frage nach dem Bewertungsmaßstab zu beantworten. Der gemeine Wert scheidet aus. Für ihn ist nicht der Nutzen maßgebend, den der zu bewertende Gegenstand seinem Besitzer tatsächlich gewährt, sondern allein der Nutzen, den man im ungünstigsten Fall aus der Sache ziehen kann 23 • Eine Eröffnungs19 BGHZ 29, S. 300 (306); anderer Ansicht auch v. Godin- WHhelmi (3. Auf!., 1967), § 46 AktG, Anm. 11; Lutter, Kapital, S. 284. 20 Journal Officiell966, S. 6402. 21 Dun & Bradstreet Credit Reports (1965), S. 11. 22 Vgl. Lutter, Kapital, S. 284, Anm. 302. 23 Jacob, Das Bewertungsproblem in den Steuerbilanzen (1961), S. 64.

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bilanz würde dann bei einem neu gegründeten Unternehmen stets einen Verlust ausweisen. Der Anschaffungspreis kommt ebenfalls nicht in Betracht, da er gerade nachgeprüft werden soll. Es bleibt also nur der Zeitwert im Beschaffungsmarkt, der über den wahren Wert der Sacheinlage entscheidet24• 2. Zum Einlageversprechen

Hier empfiehlt es sich, zwischen Bewertung und Mängeln der Sache zu unterscheiden. Außerdem spielt es jeweils eine Rolle, ob eine einverständliche Abrede zwischen den Gesellschaftern zustande kam oder nicht. a) Inter partes verfügen die GmbH-Gesellschafter über gewisse Ermessensfreiheit, welche Wertansätze sie im Statut für die Sacheinlagen vereinbaren. Dies ist aus organisatorischen wie Finanzierungsgründen unumgänglich. Wollen sich ein in Schwierigkeiten geratener Unternehmer und seine Gläubiger zu einer GmbH zusammenfinden, muß man unter Umständen die Aktiva etwas strecken, um dem bisherigen Geschäftsinhaber einen seine Leitungsmacht gewährleistenden Anteil zu erhalten. Eine überbewertung kann erwünscht sein, um zukünftige Gewinne durch Abschreibungen in die Vermögensbindung der Körperschaft aufzunehmen. Einer einverständlichen Regelung steht meines Erachtens nichts im Wege, solange die Bewertung sich im Rahmen ordentlicher kaufmännischer Grundsätze hält, also nicht grob deren Gesetze mißachtet und damit sittenwidrig wird 25 • Fehlt eine Einigung, gilt folgendes: Das Risiko einer schuldlosen oder nur leicht fahrlässigen Falschbewertung tragen alle Gesellschafter gemeinsam. Und zwar deshalb, weil sie alle auch im Falle der Unterbewertung den Nutzen teilen. Daher erscheint es gerechtfertigt, insoweit die nun einmal mit Bewertungen notwendig herbeigeführten Unsicherheiten auf dem Rücken aller Gesellschafter auszugleichen. Eine (interne) Barnachzahlungspflicht entsteht nicht. b) Für Rechts- und Sachmängel soll nach herrschender Meinung das Kaufrecht analog herangezogen werden. Die Analogie kann nur sehr begrenzt gelten. Schönle 26 hat sie kürzlich ganz abgelehnt, weil es sich bei der Sacheinlage um einen unentgeltlichen Vertrag handle. Das überzeugt nicht. Der Charakter der übernahme eines Stammteils ist für Bar- wie Sacheinlagen grundsätzlich der gleiche. Bei Bareinlagen wird man kaum 24 Vgl. BaHerstedt, Kapital, Gewinn und Ausschüttung bei Kapitalgesellschaften (1949), S. 96. 25 BGHZ 29, S. 300 (307). 20 Schönle, Die Haftung des GmbH-Gesellschafters für mangelhafte Sacheinlagen, NJW 1965, S. 2133.

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an der Entgeltlichkeit zweifeln. Im übrigen wären dann die Regeln über das Schenkungs recht analog heranzuziehen. Schönle schlägt vor, die mangelhafte Sacheinlage nach den §§ 119, 123 BGB zu behandeln. Das ist, wie gezeigt, für die Existenz einer Wertzusage nicht notwendig, für die Mängelregelung nicht ausreichend, weil die allgemeinen Vorschriften des BGB zu den Fragen der einseitigen Gestaltungsmöglichkeit, der Verjährung und des Schadensersatzes wegen Nichterfüllung weniger zur Lösung beitragen als das Kaufrecht. Auch die Ansicht von Robert Fischer 27 , ob man das Recht der GmbH, das nicht zur Beseitigung oder Minderung der Einlageverpflichtung des betreffenden Gesellschafters führt, noch als ein Recht auf Wandlung oder Minderung bezeichnen will, sei eine Frage rein terminologischer Art, trifft deshalb wohl nicht zu. Man wird im Innenverhältnis ebenfalls von einer Garantiepflicht des Inferenten ausgehen müssen: er haftet ohne Rücksicht auf Verschulden für eine mangelfreie Sache. Kann er den Mangel nicht beheben und keine andere Sache nachliefern, haftet er auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung. Womit läßt sich das begründen? Es ist damit gerechtfertigt, daß die ganze innere Organisation der Kapitalgesellschaft, also sowohl Verwaltungs- und Stimmrechte wie Gewinnverteilung, an den Kapitalanteilen orientiert sind. Also muß die Grundlage des Gesellschaftsbaues tatsächlich anteilsmäßig, wie verabredet, aufgebracht werden. Gesellschafter mit Sacheinlagen dürfen gegenüber Bareinlegern nicht dadurch bevorzugt werden, daß die GmbH eine mangelhafte Sachleistung behalten muß. Aber auch unter mehreren Sacheinlegern würde ohne Garantiehaftung ein unerträgliches Mißverhältnis entstehen. Der Schadensersatz wegen Nichterfüllung bemißt sich hier am Erfüllungsinteresse einer mangelfreien Sache. Damit sind Folgen wie Voraussetzungen der Mängelhaftung nach den §§ 459 ff. BGB sehr modifiziert, denn das bürgerliche Recht gewährt generell keinen verschuldensunabhängigen Schadensersatz wegen Nichterfüllung. Ein derartiger Anspruch setzt eine Zusicherung oder das Hinzutreten besonderer Umstände voraus. Trotzdem ist das Kaufrecht verwendbar, einmal in der Art der Berechnung der Minderung (§§ 472 ff. BGB), zum anderen mit seinen Verjährungsvorschriften (§§ 477 ff. BGB). Fraglich bleibt die Anwendung des § 464 sowie des § 465 BGB. Sollen die Organe der GmbH durch einseitige Gestaltungserklärung die an die Mangelhaftigkeit anknüpfenden Rechtsfolgen auslösen können oder bedarf es dazu der Vereinbarung oder richterlicher Gestaltung? Die Frage ist für den betroffenen Gesellschafter von großer Bedeutung, nicht nur wegen des dann fälligen Schadensersatzes wegen Nichterfüllung. Vielmehr wird mit der Offenlegung des Mangels und seiner Feststellung 27

Fischer, Fragen aus dem Recht der GmbH. JZ 1954, S. 426 (428).

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durch die Gesellschaft die unter Umständen weiterreichende Wertdeckungspflicht aktuell; vor allem können die Kaduzierung und der Ausschluß aus der GmbH, also ein nicht reversibles Verfahren eingeleitet werden. Daher erscheint es mir diskussionswert, den Grundgedanken der Abwicklung eines mangelhaft erfüllten Kaufvertrages auch ins Gesellschaftsrecht zu übernehmen. Eindeutig bejahen28 läßt sich die Frage, ob die Haftung für Rechts- oder Sachmängel beschränkt oder ausgeschlossen werden kann und ob die Gesellschaft auf Ansprüche aus mangelhaften Leistungen zu verzichten vermag. Für die Erhaltung der Kapitalgrundlage ist anderweit gesorgt. Im Innenverhältnis können die Gesellschafter - nicht die Geschäftsführer - das Verhältnis ihrer Leistungen zueinander variieren. Die Satzung kann auch eine Ausdehnung der Haftung auf die Höhe der Wertdeckung vorsehen, ebenso wie jemand für die Bonität einer Forderung einstehen kann. IV.

De lege ferenda wäre es ein Fortschritt, wenn das neue GmbHG eine dem Art. 40 Abs. 2 der französischen Loi sur les sociE~tes in etwa entsprechende, allerdings nur interne Haftung einführen würde: "Les associes sont solidairement responsable pendant cinq ans, a l'egard des tiers, de la valeur attribuee aux apports en nature lors de la constitution de la societe." Das Innenverhältnis braucht gesetzlich nicht geregelt zu werden. Eine obligatorische Gründungsprüfung wird durch die Eigenkontrolle der Gesellschafter ersetzt. Der Registerrichter behält das Recht, die Eintragungen bei offensichtlichen Überbewertungen abzulehnen.

28 Gleicher Ansicht RGZ 159, S. 333; Scholz, § 5 GmbHG, RdNr. 17; abweichend Fischer (GroßK), § 20 AktG 1937, Anm. 20.