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German Pages 359 [368] Year 1998
Baltzarek · Butschek · Tichy Von der Theorie zur Wirtschaftspolitik - ein österreichischer Weg
Von der Theorie zur Wirtschaftspolitik - ein österreichischer Weg Festschrift zum 65. Geburtstag von Erich W. Streissler
Herausgegeben von Franz Baltzarek, Felix Butschek, Gunther Tichy
Lucius & Lucius • Stuttgart · 1998
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Von der Theorie zur Wirtschaftspolitik - ein österreichischer Weg : Festschrift zum 65. Geburtstag von Erich W. Streissler / hrsg. von Franz Baltzarek ; Felix Butschek ... - Stuttgart: Lucius und Lucius, 1998 ISBN 3-8282-0084-2
© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 1998 Gerokstr. 51, D-70184 Stuttgart
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Druck und Einband: Druckhaus Thomas Müntzer, Bad Langensalza Printed in Germany
Die Herausgeber sind der Bank Austria, der Creditanstalt-Bankverein, der Wiener Börsekammer sowie der Postsparkasse für die finanzielle Unterstützung und dem Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung für die Vorbereitung des Druckes dieser Festschrift zu Dank verpflichtet.
Inhalt Zum 65. Geburtstag Erich Streisslers
1
Methodenstreit in der Nationalökonomie Jürgen Backhaus, Reginald Hansen
3
Finanzierungsstruktur und Kapitalmarkt in Osterreich seit d e m Ende der Monarchie Franz Baltzarek, Wolfgang Zipser
29
Gedanken zum Refereesystem in ökonomischen wissenschaftlichen Zeitschriften Dieter Bös
47
Die Neue Institutionenökonomie, die Osterreichische Schule der Nationalökonomie und der Beitrag Erich Streisslers Felix Butschek
73
Die Dauerhaftigkeit der „Zwischenform": Hayeks Verdikt gegen den Wohlfahrtsstaat nach fünfzig Jahren Günther Chaloupek
85
How to Compare Profits when Firms have Market Power? Egbert Dierker, Hildegard Dierker, Birgit Grodal
109
Taxes, Leverage and the National Return on Outbound Foreign Direct Investment Martin Feldstein
131
New Estimates of Income Levels in Central and Eastern Europe, 1870-1910 David F. Good, Tongshu Ma
147
Zur Rolle der Glaubwürdigkeit in der Theorie der Geldpolitik Otmar Issing Erich Streisslers Beiträge zur Wirtschaftsforschung und zur österreichischen Wirtschaftspolitik. Spurensuche nach d e m „versteckten" Streissler Helmut Kramer On the Appointment and Election of Judges Dennis C. Mueller Globalisierung und Liberalismus - Zurück ins 19. Jahrhundert? Ewald Nowotny Marshall und Philippovich Kurt W. Rothschild
169
181 189
207 227
VI
Paretos Darstellung der Indifferenzkurven durch Differentiale und deren Integration Bertram Schefold
239
Wirtschaftlicher Wettbewerb und Toleranz Jochen Schumann
253
Die österreichische Stabilisierungspolitik 1951/1953 Hans Seidel
267
Die Unmöglichkeit, Notwendigkeit und Unverzichtbarkeit der Wirtschaftspolitik - Elemente einer Theorie wirtschaftspolitischer Regime Gunther Tichy
301
Wie und w a r u m man J u r i s t e n Ökonomie lehrt. B e m e r k u n g e n zu Streisslers „Volkswirtschaftslehre für J u r i s t e n " Erwin Weissei
321
E r i c h W. Streissler - Bibliographie 1958-1997
349
Lebenslauf E r i c h W. Streisslers
357
Autorenverzeichnis
358
VII
Zum 65. Geburtstag Erich Streisslers Erich Streissler ist eine enorm österreichische Persönlichkeit. Das gilt zunächst für seine Verdienste um die Entwicklung der Nationalökonomie in diesem Lande im allgemeinen wie auch an der Universität Wien im besonderen. Er war es, der schon als Assistent und junger Dozent, noch viel mehr, als 1968 aus Freiburg nach Wien berufener Ordinarius, die akademische Nationalökonomie an das ausländische, insbesondere an das anglo-amerikanische, Niveau heranführte - auch methodologisch, indem er als erster ökonometrische Vorlesungen aufnahm. Es muß nicht betont werden, daß er sich nicht nur auf die Weitergabe des ökonomischen Wissens beschränkte, sondern seinerseits in Journalen und Büchern, die im anglo-amerikanischen Raum erschienen, publizierte. Er zählte somit mit Rothschild und Steindl zu jenen Ökonomen, die in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1945 auch im westlichen Ausland beachtet wurden. Des weiteren ist er der einzige, welcher die große Tradition der Österreichischen Schule der Nationalökonomie fortgesetzt hat. Sicherlich nicht in dem Sinne, daß er dieser unmittelbar angehörte. Er war ja, wie gesagt, dem anglo-amerikanischen — makroökonomischen — Paradigma verpflichtet. Sondern indem er einerseits das Wissen um deren Inhalte bewahrte und weitergab, aber auch, indem er immer wieder versuchte, diese für aktuelle Probleme nutzbar zu machen. Hiebei war er in zweifacher Hinsicht seiner Zeit voraus. Einerseits präsentierte er die österreichische Kritik der neoklassischen Ansätze schon bevor die Renaissance der „Austrians" in den USA eingesetzt hatte, andererseits verarbeitete er immer wieder die institutionellen Überlegungen der Österreicher, welche in der Entwicklung des neuen institutionenökonomischen Paradigmas eine zentrale Rolle spielen. Die Zuwendung zu den praktischen Problemen der Wirtschaftspolitik ist sicherlich kein Kennzeichen der akademischen Lehre in Österreich - wenngleich man bei Streissler niemals die weltfernen Konstrukte des amerikanischen Mainstreams finden wird - wohl aber seine Beschäftigung mit den Problemen der Sozialpartnerschaft. Dieses in Österreich am stärksten ausgeprägte Phänomen unternahm er nicht nur zu analysieren, sondern er schaltete sich oft unmittelbar in die Tätigkeit der Sozialpartner ein. Charakteristisch für Streisslers Beschäftigung mit Fragen der angewandten Wirtschaftspolitik ist die Breite der Methodik; er klebte nicht an einem einzigen Modell, sondern wählte, je nach Fragestellung, stets den jeweils passenden Ansatz. Demgemäß wurde es zuweilen als Anpassungsbereitschaft mißverstanden, wenn er einmal im Gewand des Keynesianers, einmal in dem des Neoklassikers auftrat, oft auch unter der von ihm besonders geliebten Maske des „Paläoliberalen"; was immer jedoch die Verkleidung, stets verdeutlichte sie den für das jeweilige Problem adäquaten Ansatz. Ausnah-
2 · Zum 65. Geburtstag Erich Streisslers men davon gab es äußerstenfalls dann, wenn Streissler in wichtigen und in der Öffentlichkeit einseitig diskutierten Fragen bewußt Gegenposition bezog und bravourös die von ihm überaus geschätzte Rolle des Advocatus Diaboli spielte. Letztlich ist auch eine österreichische Eigenart hervorzuheben, welche oft zur Berühmtheit dieses Landes beigetragen hat: die Freude am Wort! Es muß nicht betont werden, daß Streisslers Beiträge stets in klarer Diktion verfaßt sind, nein, oft geht es ihm um das Wortspiel, um die treffende ironische Formulierung. Auf diese Weise erhalten insbesondere seine Vorträge einen zusätzlichen ästhetischen Reiz, der häufig die Zuhörer zu Beifallsstürmen hinreißt. Erich Streissler repräsentiert somit eine seminale Erscheinung in der österreichischen Nationalökonomie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er prägte sie dadurch, daß er sie zunächst an das internationale Niveau heranführte, dann jedoch, indem er es verstand, die wertvolle Tradition der österreichischen Schule nicht nur in die Gegenwart zu führen, sondern sie in die Zukunft zu öffnen. Seine Leistung - und auch das bleibt ein österreichisches Charakteristikum - wird erst in den kommenden Jahren in ihrer ganzen Bedeutung erfaßt werden.
Methodenstreit in der Nationalökonomie Jürgen Backhaus, Reginald Hansen
1. Einleitung Am 4. und 5. Oktober 1993 tagte der Dogmenhistorische Ausschuß des Vereins für Socialpolitik in Teltow, dem inzwischen aufgesiedelten ehemaligen Rittergut Johann Heinrichs von Thünen. Dort hielt Erich Streissler einen Vortrag unter dem Titel „Die Grenzproduktivitätstheorie der deutschen Protoneoklassik unter besonderer Berücksichtigung von Johann Heinrich von Thünen"1). Der Vortrag kontrastierte in auffälliger Weise mit dem Ort der Zusammenkunft, denn Thünen verdanken wir ja nicht nur theoretische Beiträge, sondern vor allem eine einerseits praktisch sozialpolitische Orientierung, andererseits den Versuch, die ökonomische Theorie praktischen Fragen dienlich zu machen und sie auf ein solides empirisches Fundament zu stellen. In der Diskussion machte der Vorsitzende des Ausschusses auf diesen Kontrast aufmerksam, indem er die Frage stellte, welche Absicht der Autor mit dieser pointierten Darstellung verfolge. Die Antwort machte deutlich, daß es sich um ein klar fixiertes Forschungsprogramm handelt. Tatsächlich macht ja ein Blick in das umfangreiche Schriftenverzeichnis Erich Streisslers deutlich, daß er sich vor allem in den letzten Jahren dogmenhistorischen Fragen zugewandt hat, und zwar mit einer besonderen Ausrichtung auf die Darstellung des österreichischen Beitrags zur Geschichte der Nationalökonomie, mit besonderem Schwerpunkt natürlich auf Menger, und es ihm darum geht, die augenblickliche Bedeutung dieses österreichischen Beitrags hinreichend zu würdigen. Unter diesen Umständen scheint es sinnvoll, dem Anliegen entgegenzukommen und noch einmal auf jene Episode zurückzukommen, die wahrscheinlich die meisten Volkswirte mit dem Namen Mengers verbinden: auf den Methodenstreit in der deutschsprachigen Nationalökonomie zunächst zwischen Menger und Schmoller, später dann ausgeweitet und vielfach vertieft2).
') Rieter (1995, S. 17-41). Schüller (1896).
2)
4 · Jürgen Backhaus, Reginald Hansen
2. Die Frontstellungen im sogenannten „älteren Methodenstreit" Eine heftige Kontroverse über die in den Wirtschaftswissenschaften anzuwendende Vorgehensweise wird als erster Methodenstreit in der Geschichte der Nationalökonomie verzeichnet. Als Auslöser und Gegner werden dabei stets Gustav Schmoller und Carl Menger herausgestellt. Schmoller wird dann regelmäßig als „Haupt einer jüngeren historischen Schule" und Menger demgegenüber als Begründer einer theoretisch orientierten, opponierenden „Grenznutzenschule" vorgestellt3). Im Widerspruch zu dieser Darstellung hatte Schmoller aber auch zu den übrigen Vertretern einer historischen Richtung gleichartige Differenzen und diese bestanden ebenso zu den Kollegen, die mit ihm gemeinsam 1872 den Verein für Socialpolitik begründeten und diesem lebenslang angehörten4). Tatsächlich muß man den Begriff „jüngere historische Schule" als wissenschaftspolitischen Kampfbegriff auffassen. Er dient dem einen und einzigen Zweck, einen Unterschied zwischen einerseits Roscher, Knies und Hildebrand und andererseits Schmoller anzubringen. Was hier als „jüngere historische Schule" bezeichnet wird, war tatsächlich eine empirisch fundierte, institutionell reiche und anwendungsorientierte Nationalökonomie, eine Auffassung, die heute weitgehend geteilt wird5). In stark vereinfachter Darstellung wird dennoch zumeist eine historische, angeblich theorielose Faktensammelei Schmollers bemängelt, da dieser Vorgehensweise und Ziele einer vorherrschenden Geschichtswissenschaft in die Nationalökonomie übertragen habe6). Übersehen wird dabei regelmäßig, daß vergleichbare Kontroversen ebenso die Einstellung Schmollers zur methodologischen Vorgehensweise der Zunfthistoriker seiner Zeit belasteten7). 3 ) Schumpeter (1914, S. 104). Zwar berichten Autoren in jüngerer Zeit vorsichtiger und sogar verunsichert. Das Grundmuster der Beurteilung blieb jedoch bis heute erhalten (siehe ζ. B. Schumpeter, 1965, S. 994, Schmölders, 1962, S. 64, S. 76, Pribram, 1983, S. 228, Ott - Winkel, 1985, S. 228). Die sachlichen Differenzen zwischen Schmoller und Menger wurden nie überzeugend dargelegt (siehe auch Hansen, 1968, S. 137). 4 ) Hiezu historische und systematische Darstellung, in Lindenlaub (1967, S. 96). Der Berliner Kollege und einflußreiche Gegenspieler Schmollers, Adolph Wagner, bekannte sich zeitlebens ausdrücklich zu der Methodenlehre Mengers (siehe Wagner, 1892, S. VII, S. 63, Hansen, 1996, S. 182). 5 ) Pearson (1997). 6 ) Menger sprach von einer "historisch-statistischen Mikrographie" der Beiträge Schmollers (siehe Menger, 1884, S. 27, S. 46, Fundstellen hiezu in Hansen, 1993, S. 131, Anm. 75). Nach Max Webers impressionistischer Wortprägung wird Schmoller oft den "Stoffhubern" zugerechnet. Menger wurde andererseits nie als "Sinnhuber" bezeichnet. 7 ) Dies hatte Menger richtig erkannt, wenn er Schmoller vorwarf, nicht zwischen "deskriptiven Wissenschaften" und der "Wissenschaft vom Individuellen" gemäß der Vorgehensweise der Zunfthistoriker zu unterscheiden. Daß Menger sich für seine Denkweise vorzugsweise auf die Philosophen Piaton und Aristoteles bezieht, muß uns noch interessieren (siehe Menger, 1883, S. 173, S. 188, S. 192, S. 205, S. 267), Menger, 1884, S. VI, S. 7, S. 20, S. 27, S. 37, Menger, 1889, S. 471, S. 472 Anm., auch Hasbach, 1895, S. 790, Anm. 3, Schmoller, 1894, S. 544, Hansen, 1968, S. 162, Hansen, 1993, S. 128, insbesondere S. 131, Anm. 75).
Methodenstreit in der Nationalökonomie · 5 Gelegentlich wurde von Nationalökonomen bemängelt, daß Schmollers methodische Grundeinstellung die Wirtschaftswissenschaften drei Jahrzehnte hindurch zu erkenntnismäßiger Sterilität verurteilt habe8). Historiker warfen ihm regelmäßig seine Ablehnung ihrer als grundlegend beurteilten sogenannten methodischen Vorgehensweise einer zeitgemäßen „historischen Ideenlehre" vor, was seiner Anerkennung unter den Kollegen entgegenstand9). Für diese Kritik wird oft auf Mengers Klassifikation der Wirtschaftswissenschaften als richtungsweisend verwiesen. Darin legte Menger den Schwerpunkt aller theoretischen Disziplinen auf die Erkenntnis eines „generellen Wesens" der Erscheinungen. Nach dieser Wissenschaftsauffassung versehen Historiker demgegenüber die Aufgabe, als Erkenntnisobjekt das Einmalige, die jeweilige „Individualität" der Erscheinungen herauszuarbeiten10). Gemeinsames Hilfsmittel der Suche nach Erkenntnissen ist dabei für alle Disziplinen die von Aristoteles in seiner Wissenschaftslehre angeführte dogmatische sogenannte „epagogische Induktionslehre", die auf die „Wirkursachen" als treibende Kräfte, Entelechien der empirischen Realität abstellend, die klassische „Stoff-Form-Metaphysik" voraussetzt11). Entsprechend der von Gottfried W. Leibniz fortentwickelten Denkansätze der klassischen Philosophie, die von den Historikern des 19. Jahrhunderts — insbeson-
8 ) Schneider (1970, S. 295, S. 325). Diese Auffassung konnte sich durchsetzen, da der "Methodenstreit" von den Berichterstattern nie in den Zusammenhang der geistesgeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen im 19. Jahrhundert gestellt wurde. Auch aus der üblichen Darstellung ausbrechende Beurteilungen zeigen diesen Mangel, so etwa Kerschagl (1948, S. 29), hiezu Hansen (1990, S. 48, S. 68). 9 ) Hiezu Fundstellen in Hansen (1993, S. 126). Schmoller sympathisierte mit der Kritik Lamprechts an der eingefahrenen historischen Methodenlehre (siehe Schmoller, 1904, S. 1337, Schmoller, 1894, S. 543, Lamprecht, 1896, S. 27, Lamprecht, 1898, S. 18, Goldfriedrich, 1902, S. 435). 10 ) Lamprecht (1896, S. 4, S. 27, Fundstellen Anm. 7 und 9). n ) D a s Namensregister in Mengers Habilitationsschrift von 1871 (Grundsätze der Volkswirtschaftslehre) zeigt, daß Aristoteles neben Rau, Roscher und Smith die am meisten zitierte Bezugsperson war. Gleiches gilt für Mengers Abhandlungen zur Methode von 1883. In beiden Schriften kommt auch Piaton eine wichtige Rolle zu. Die klassische Philosophie galt Menger als Wissenschaftslehre (siehe hiezu auch Kauder, 1957, S. 416, Kauder, 1962, S. 5, Menger, 1871, S. 287, Menger, 1883, S. 293). Hasbach konnte sich 1895 nicht enthalten zu formulieren: "Aristoteles und Grotius scheinen nach seiner (Mengers, Anm. d. A.) Darstellung geradewegs aus der österreichischen Schule hervorgegangen zu sein" (siehe Hasbach, 1895, S. 756, Schmoller, 1883, S. 986). Eine überzeugende Kritik der dogmatischen aristotelischen Wissenschaftslehre trug Whewell seit 1830 vor (siehe Whewell, 1840, S. 130). Darin kritisierte er insbesondere die aristotelische Epagoge als dogmatische epistemologische Grundlage für eine Induktionslehre. Eben diese kritische Auffassung Whewells übernahm Schmoller bereits frühzeitig, wenn er sich etwa gegen Mills Induktionslehre auf Whewell berief und sich dessen Darlegungen über die Bedeutung von Induktion und Deduktion fast wörtlich zu eigen machte. Schmollers Wendungen werden stets fehlerhaft ausgelegt, da die zugrundeliegende Diskussion nie aufbereitet und berücksichtigt wurde (siehe Whewell, 1840, S. 11, S. 93, Whewell, 1856, Schmoller, 1894, S. 548, S. 555).
6 · Jürgen Backhaus, Reginald Hansen dere zur Zeit der Romantik — aufgenommen wurden, waren danach auch „Individualitäten" als vorbestimmte Formen zu beurteilen12). Eine praktische Verwendung dieser Lehren für die Nationalökonomie fand man dann nach Mengers Wissenschaftsauffassung in der frühen, 1829 von John St. Mill fortentwickelten und für diese Disziplinen im 6. Buch seiner „Logik" später dann in systematischer Hinsicht höchst fragwürdig eingebauten sogenannten „deduktiven Methode". So etwa lassen sich die methodischen Vorstellungen Mengers in seinen verschiedenen Abhandlungen und vor allem in seinen „Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen Ökonomie insbesondere" verkürzt wiedergeben13). Auf die genannte Schrift Mengers wird zusammen mit deren Rezension durch Gustav Schmoller in dessen „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich" des Jahres 1883 denn auch stets für die Frontstellungen im Methodenstreit verwiesen. Schmoller hatte in dieser Rezension Mengers Thesen als Bestandteil einer überholten, veralteten Wissenschaftsauffassung zurückgewiesen14). Menger antwortete 1884 mit einer polemischen und seinen Gegner verunglimpfenden Streitschrift, in der er zusätzlich nachdrücklich auch Schmollers Geschichtsauffassung als abwegig qualifizierte, dessen methodische Ansichten als mit den Auffassungen der Historiker inkompatibel skizzierte und verwarf. Beide Vorwürfe erfolgten von seinem Standpunkt aus zu Recht15). Daher fand Menger bei den führenden Historikern im deutschen Sprachraum Zuspruch.
12) Matzat (1947, S. 43), Schubert-Soldern (1961, S. 101), Pichler (1947, S. 17). Das große Interesse Mengers fur die Philosophie von Leibniz betont Emil Kauder. Es fand in der Systematik der Mengerschen Methodenauffassung einen durchgängigen Ausdruck (siehe Kauder, 1962, S. 7, Anm. 3 und 4, siehe auch S. 3). 13 ) Menger bezieht sich für die deduktive Methode zumeist auf die Verwendungsweise, die diese in der Frühschrift Mills vom Jahr 1829 (On the Definition . . .) gefunden hatte. Diese suchte er im Zusammenhang mit der Epagoge, der aristotelischen Erkenntnislehre, zu interpretieren (siehe Menger, 1883, S. 53). Die spätere Rechtfertigung, die die Frühschrift Mills, gegen die Kritik Whewells gerichtet, im 6. Buch, 9. und 10. Kapitel von dessen "Logik" 1843 gefunden hatte, hielt Menger für abwegig (siehe Menger, 1873 und 1906, Menger, 1883, S. 43, Anm. 19). 14) Schmoller (1883, S. 983), Hasbach (1895, S. 756), Hasbach (1904, S. 315), Darstellung in Hansen (1968, S. 138), Hansen (1993, S. 123), Hansen (1996, S. 183). ,5 ) Menger ließ, gegen Schmollers Wissenschaftsauffassung gerichtet, keinen Zweifel daran, daß er eine Registrierung von bloßen Erscheinungen nach Bacons Rezept der "historia naturalis et Instrumentalis" des "novum organon" aus der "instaurativ magna" als Grundlage für die Gewinnung von Erkenntnissen verwarf (siehe Menger, 1884, S. 21, Anm., Menger, 1889, S. 471, Anm. 2). Menger verweist auf Bernheims Methodenschrift. Für Menger wies allein die Epagoge des Philosophen aus Stagyros den rechten Weg, der den Historiker auch zur Erkenntnis von "Individualitäten" zu führen vermochte.
Methodenstreit in der Nationalökonomie · 7
3. Der Gegenstand der methodologischen Auseinandersetzungen Tatsächlich hatte Menger in seiner früheren, als Grundsätze der Volkswirtschaftslehre bezeichneten Habilitationsschrift den Inhalt dieser theoretisch ausgerichteten Disziplin durch die Definition und Erörterung der als grundlegend beurteilten Begriffe wie „Guth", „Werth", „Tausch", „Preise" und „Geld" vorgetragen 16 ). Zur wissenschaftstheoretischen Rechtfertigung von Definitionen als Erkenntnissen der empirischen Realität verwies Menger in dieser Abhandlung jeweils auf die philosophische Wissenschaftslehre des Aristoteles. Der vorherrschenden Wissenschaftsauffassung seiner Zeit entsprechend konnte Menger auch seinen Begriffen als der empirischen Realität innewohnenden Formen Erkenntnischarakter beimessen. Sie stellten danach nämlich idealtypisch letzte Bausteine des die Realität letztlich bestimmenden Formenkosmos dar 17 ). Diese gewinnen aber in den Erscheinungen jeweils stets nur in verunreinigter Weise Gestalt. Deren formgerechte Realisierung stellt dann nach dieser Auffassung zugleich das der Erkenntnis vorgegebene Ziel für eine rationale Wirtschaftspolitik dar, die von Menger folgerichtig als „Volkswirtschaftspflege" bezeichnet wurde 18 ). Die Wirtschaftspolitik h a t danach, bildlich gesprochen, die Aufgabe, wie ein Gärtner den in der empirischen Realität vorgegebenen Strukturen als den natürlichen Gesetzmäßigkeiten zum Wachstum und Durchbruch in den Erscheinungen zu verhelfen. Dabei kam der Definition eines Idealzustands der Güterversorgung in der Volkswirtschaft durch Optimierung der individuellen Nutzengrößen der beteiligten Wirtschaftssubjekte eine grundlegende Bedeutung zu. Daher richtete sich Mengers Aufmerksamkeit nicht auf von „Willkür, Irrtum" beeinflußte „factische", „reale" Erscheinungen der Wirtschaft. Diese sind - so Menger - nicht „streng determiniert", nicht gesetzlich bestimmt. Sein Interesse galt den „ökonomischen" Preisen, den „ökonomischen" Gütern, den „ökonomischen" Bedürfnissen usw., also nur „Erscheinungen der Wirtschaftlichkeit", Phänomenen, die allein „der exakten Richtung" als Erkenntnisob-
IG
) Menger (1871, S. XI), Inhaltsverzeichnis, hiezu siehe die Rezension der Habilitationsschrift Mengers durch Conrad in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik, 1872, 18, S. 343 (Hansen, 1996, S. 183, Anm. 15). 17 ) Den Gliederungsgesichtspunkten der klassischen Philosophie entsprechend unterschied Menger streng zwischen Stoff und Form, in seiner Terminologie zwischen bloßen "Erscheinungen" und "Erscheinungsformen" und den diesbezüglich ausgerichteten Interessen an Faktensammelei bzw. Gesetzessuche (siehe Menger, 1883, S. 38, Anm. 18, S. 58, S. 67, S. 107, Menger, 1884, S. 17, S. 57, Menger, 1888, S. 3, Anm., Wieser, 1884, S. 1), später wurde für Schmollers Forschungstätigkeit dann oft gemäß dieser Sprachregelung der von Max Weber geprägte abwertende Begriff der "Stoffhuberei" verwendet. Es ist festzuhalten, daß Max Weber in der Tradition der historischen Rechtsschule und der historischen Ideenlehre ausgebildet wurde und daher diese Terminologie entwickelte. 18 ) Menger (1884, S. 43, Anm. 2), Fundstellen bei Hansen (1993, S. 139, Anm. 93), Hansen (1996, S. 202, Anm. 82).
8 · Jürgen Backhaus, Reginald Hansen jekt dienen können19). Diese Konstruktion erklärte die unterstellten, der Gesellschaft innewohnenden geheimnisvollen, im Verhalten der Beteiligten verborgenen „Wirkursachen" und rechtfertigte damit zugleich eine erwünschte liberale Wirtschaftspolitik als natürliche, rationale und einzig richtige Konsequenz. Das Streben des rational handelnden Subjektes nach einem Nutzenmaximum veranlaßt danach alle Beteiligten zu einer Orientierung ihres Verhaltens an dem Grenznutzen des Gütereinsatzes. Dies ist ein logisch notwendiges Kriterium des definitorisch vorausgesetzten Optimalzustands20). Die in der Definition übersehene mangelnde Vergleichbarkeit der Nutzengrößen durch Einführung eines interpersonell verbindlichen einheitlichen Maßstabs, deren Bezugnahme auf eine innere Erlebnissprache und weitere irreale und sogar zu Widersprüchen führenden Annahmen, wie etwa eine unterstellte „Allwissenheit" der Beteiligten - später zur gedanklichen Fiktion von der „vollkommenen Voraussicht" fortentwickelt - führte u. a. zu eigentümlichen, sogar in sich widersprüchlichen Konsequenzen, die die Definition, die theoretische Bedeutung einnimmt, zur Erklärung der empirischen Realität erkennbar belasten mußten21). Hiergegen hatte denn auch frühzeitig bereits um 1830 in England mit der Forderung nach Begründung einer realistischen historischen Schule der Nationalökonomie die Kritik an Erklärungsmodellen mit weltfremden Annahmen angesetzt22). M) Menger (1871, S. 51, S. 153, S. 253), Menger (1883, S. 56, S. 262), Menger (1923, S. 66 Anm.), Hansen (1968, S. 163). 20 ) Die Bedeutung der rationalistischen Philosophie von Leibniz für diese Denkweise ist offenkundig. Danach hat Gott die beste aller möglichen Welten erschaffen, für die daher das Gesetz vom Wirkungsintegral ein denknotwendiger Bestandteil ist. Schmollers Ablehnung der psychologischen Grundlagen der von ihm sogenannten "Utilitätslehre" entsprach der Kritik von Whewell und heutigen Beurteilungen (siehe Schmoller, 1900, S. 73, S. 108, Menger, 1883, S. 264, Whewell, 1852, S. 208, S. 223, Albert, 1967, S. 21, S. 25). 21 ) Zur Kritik dieser zur Erklärung von Vorgängen der sozialen Realität verwendeten Denkmodelle (siehe Albert, 1967, S. 24, S. 5), für die "exakte" Methode Mengers spielen als "Voraussetzungen einer strengen Gesetzmäßigkeit der wirtschaftlichen Erscheinungen" . . . das "Dogma" von dem stets "gleichbleibendem Eigennutze" und das Dogma "von der Unfehlbarkeit und Allwissenheit der Menschen in wirtschaftlichen Dingen" eine eigenartige Rolle (siehe Menger, 1883, S. 74). 22 ) Hiezu Whewell, 1830 und 1833, Whewell, 1859. Whewell hatte sich in vielfältiger Weise in Veröffentlichungen mit deutscher Philosophie, Wissenschaft und Literatur beschäftigt. Zwischen Whewell und den Vorfahren Schmollers, Großvater und Urgroßvater, bestanden ebenso viele wissenschaftliche Berührungspunkte durch Mitgliedschaft in wissenschaftlichen Vereinen und Konferenzen, wie zu dem Großvater der Ehefrau, B. G. Niebuhr, aus dessen Lebenswerk der hochangesehene Professor aus Cambridge Teile dem englischen Publikum 1852 bekanntmachte. Erst experimentelle Forschungen von Whewell ermöglichten es 1864 im übrigen dem ehemaligen Amtsarzt von Heilbronn und Freund der Familie Schmoller, Mayer, die Originalität für die Entdeckung des Wärmeäquivalents zuzuordnen, (siehe Whewell, 1866, S. 858). Schmoller und ebenso dessen Mitarbeiter Wilhelm Hasbach haben sich an entscheidenden Stellen ihrer Ausführungen zu methodologischen Fragen stets auf den englischen Mathematiker, Naturwissenschaftler und Wissenschaftstheoretiker berufen (siehe Schmoller, 1894, S. 546, S. 548, S. 554, S. 557, Hasbach, 1895, S. 472, S. 478, S. 795, Hasbach, 1904, S. 295, S. 309, S. 315, Hansen, 1968, S. 150, Hansen, 1993, S. 129). Whewell hatte bereits 1829 die Lehren des nachklassischen Nationalökonomen Ricardo in ein mathematisch-formalistisches Modell umgesetzt (siehe Whewell, 1830, Whewell, 1833, Whewell, 1850). Er stellte die Un-
Methodenstreit in der Nationalökonomie · 9 Mehr noch: Die Einschränkung der Gedankenführung auf einige wenige grundsätzliche Annahmen, in denen Unterstellungen über das Verhalten der Wirtschaftssubjekte eine wichtige Rolle zukam und die dogmatisch als unmittelbar erkennbar wahr dargestellt wurden, ließ erklärende Denkmodelle entstehen, deren Bezug zur Realität vernachlässigt wurde. Wenn bei Adam Smith zwar noch eine sehr realistische und umfassende Schilderung der historischen Gegebenheiten vorherrschte, so schränkte er jedenfalls ebenso wie seine Nachfolger den Gedankengang auf das ein, was er als wesentliche Ursachen beurteilte. Die Epigonen beschränkten sich sodann gänzlich auf diese Annahmen. Es herrschte dann schließlich die Auffassung vor, daß die Ursachen der Erscheinungen bekannt seien und man aus diesen zur Erklärung der konkreten Wirklichkeit nur zu deduzieren brauche23). Daß der empirischen Realität eine regulative Funktion zur Ausmerzung falscher universeller Hypothesen der theoretischen Nationalökonomie zukommen müsse - eine Forderung, die später von Schmoller ständig wiederholt wurde - , war von J. St. Mill bereits im 6. Buch seiner „Logik" gegen Whewells dreistufige Induktionslehre gerichtet zur Rechtfertigung seiner frühen dogmatischen Lehren für die Moral Sciences zurückgewiesen worden24). Carl Mengers methodologische Schrift unterstellte nunmehr unbrauchbarkeit der Lehren zur Erklärung der empirischen Realität fest. Als Grund sah er die Verwendung unrealistischer Grundannahmen. Er setzte sich daher fortan für eine neuartige "historische" Orientierung der politischen Ökonomie als Wissenschaft ein (siehe Whewell, 1833, Whewell, 1859), Briefwechsel mit Jones, Herschel, Malthus et al., in Todhunter (1876). Aus dieser Erfahrung mit Ricardos Lehren entstand Whewells Interesse an der Formulierung einer praktisch verwendbaren Induktionslehre, an der Bedeutung der Philosophie Kants für die wissenschaftliche Erkenntnis und vor allem an der Verfolgung der Entwicklung der Wissenschaften in Deutschland zur Zeit der Romantik und deren Resultaten. Er wurde somit zum Begründer dessen, was heute "Philosophy of Science" genannt wird. Zur Rechtfertigung der in Zweifel geratenden nachklassischen Nationalökonomie und deren diese tragender deduktiver Methode konzipierte Mill gegen Whewells bis 1840 fertig entwickelte Induktionslehre gerichtet, 1843 seine umfangreiche induktive Logik, deren 6. Buch die von ihm "umgekehrt deduktive Methode" für die "Moral Sciences" enthielt. Erst nach Abschluß dieser "Vorarbeiten" verfaßte Mill 1848 die "Principles of Political Economy". Einzelheiten in Hansen (1968, S. 189), Hansen (1993, S. 129), Hansen (1996, S. 189, Anm. 32). Auch Menger erkannte das Ungenügen der methodologischen Frühschrift Mills von 1836 zur Rechtfertigung der Smith-Ricardoschen Nationalökonomie. Er erkannte auch die Mangelhaftigkeit des Versuchs von Mill im 6. Buch seiner "Logik", die deduktive Vorgehensweise der Nationalökonomie wissenschaftlich zu legitimieren. Daher suchte er der Disziplin eine der Zeitströmung in Deutschland entsprechende, in der Tradition verwurzelte Grundlage zu bereiten (siehe Menger, 1873, Menger, 1906). Daß die Smith-Ricardosche Nationalökonomie in England im Ansehen der Wissenschaftler um 1880 einen Tiefpunkt erreicht hatte, war Menger, wie seine Bibliothek ausweist, bewußt (siehe Ingram, 1879). Auch wußte er, daß Bestrebungen liefen, sie als Disziplin von der Liste der Sektionen der British Association for the Advancement of Sciences zu streichen, in die sie 1835 auf Betreiben des Gründungsmitglieds Whewell gegen starken Widerstand renommierter Wissenschaftler aufgenommen worden war (siehe Hutchison, 1953, S. 1, S. 6, Anm., Political Economy Club, 1876, S. 29). 23
) Mill (1836, S. 120, hier S. 144 und S. 149), Schmoller (1883, S. 979, S. 987), Hasbach (1895, S. 761), Hasbach (1904, S. 315). 24 ) Ziel der Millschen Induktionslehre war, zu sicheren Erkenntnissen über die empirische Realität zu gelangen (siehe Kritik an Whewells Lehren, in Mill, 1844, 3, Kap. 2, § 4). Anders
10 · Jürgen Backhaus, Reginald Hansen ter Rückgriff auf die klassische Philosophie, daß die Entwicklung der Wissenschaften seit Francis Bacons Beiträgen auf Abwege geraten sei. Er stellte, der Denkweise der Zeitströmung in den Geisteswissenschaften folgend, den Bezug zur aristotelischen Philosophie als Wissenschaftslehre, der dem englischen Empirismus abhanden gekommen sei, wieder stärker heraus, nach der die empirische Realität grundsätzlich nicht als Kontrollinstanz für Erkenntnisse über deren strukturelle Zusammenhänge zu dienen vermag25). Die fortentwickelte Mengersche Denkweise gab dann später nach der Jahrhundertwende ebenso Anlaß für den zweiten oder „jüngeren Methoden-
als in den Naturwissenschaften glaubte er hiefur in den "Moral Sciences" nicht auf Experimente zurückgreifen zu können. Andererseits glaubte er in der Nationalökonomie als Axiom für Theorien auf introspektiven Einsichten in die Motivstruktur des menschlichen Verhaltens aufbauen zu können. Diese dienten ihm für Theorien der sozialen Realität in Form eines axiomatisch deduktiven Systems als sichere, generelle, d. h. raumzeitlich unbeschränkte Hypothesen für die sogenannte "umgekehrt deduktive Methode" zur Erklärung der sozialen Realität, siehe 6. Buch, Kap. 9 und 10. Auftretende Widersprüche müssen wir übersehen. Der von Whewell in seiner Induktionslehre entwickelte Gesetzesbegriff war von "guesses", Vermutungen zur Erklärung der Realität, ausgegangen, die zu universell gültigen, an den konkreten Konsequenzen überprüfbaren Hypothesen ausformuliert werden. Erst die Bestätigung der aus einer allgemein gültigen Gesetzeshypothese und Aussagen über das Bestehen singulärer Randbedingungen erschlossene Konklusion durch Beobachtung der empirischen Realität vermag nach Whewell dann eine Theorie zu bestätigen. Die Wahrheit von Hypothesen vermag durch die Bestätigung nicht erschlossen werden, aber wohl ihre Fehlerhaftigkeit. Mills Ansprüchen an ein Naturgesetz als denknotwendig bewiesene Erkenntnis vermochte die Induktionslehre Whewells nicht zu genügen. Auch zwischen Schmoller und seinen Gegnern war diese unterschiedliche Gesetzesauffassung fortwährend von entscheidender Bedeutung, wenn er für sich nur die Feststellung von Regelmäßigkeiten, Hypothesen, beanspruchte und die Suche nach "exakten", denknotwendigen Gesetzen im Sinne der Mengerschen Forderungen in Frage stellte (siehe Schmoller, 1883, S. 979, Schmoller, 1894, S. 553, S. 555, Hansen, 1968, S. 149, Menger, 1883, S. 54). 25 ) Kauder wies wiederholt auf die Bedeutung der klassischen Philosophie für die Methodenlehre Mengers hin (siehe Kauder, 1957, S. 416, Kauder, 1962, S. 5). Whewell hatte nach 1830 seine Aufgabe darin gesehen, eine Wissenschaftslehre zu entwickeln, die sich der dogmatischen Bestandteile der aristotelischen Philosophie entledigte und das am Experiment ausgerichtete Programm Bacons als "novum organon renovatum" revolutionierte. Er richtete seine Denkweise dafür an Denkfiguren aus, die eine undogmatische, praxisbezogene Auslegung der als "kopernikanische Wende" bezeichneten Philosophie Kants genannt werden könnte. Das war für die empiristisch orientierten englischen Denktraditionen höchst fremdartig. Hiergegen gerichtet suchte Mill 1843, der Tradition des englischen Empirismus entsprechend, die aristotelische Denkweise durch seine "Logik" als moderne Induktionslehre mit den am Experiment orientierten Naturwissenschaften nach dem Programm Bacons in Einklang zu bringen. Menger waren diese Zusammenhänge, wie seine Bibliothek ausweist, bekannt. Er sah sein Anliegen darin, die Methodenlehre von Natur- und Geisteswissenschaften wieder stärker an die ursprüngliche aristotelische philosophische, mit der Stoff-Form-Metaphysik verbundenen Induktionslehre (Epagoge) anzubinden. Nach seiner Überzeugung war diese Induktionslehre seit dem Aristotelesverächter Francis Bacon auf Abwege geraten. Daher kündigte Menger 1883 an und bestätigte dies in seiner Streitschrift 1884 nochmals, in einer grundsätzlichen Abhandlung seine Auffassung zu präzisieren, indem er "die Methode der exakten Forschung, die Rolle, welche das Experiment in derselben spielt, das über das Experiment und alle Erfahrung hinausgehende spekulative Element derselben, insbesondere bei Formulierung der 'exakten Gesetze', gesondert zu veröffentlichen" (siehe Menger, 1883, S. 43, Anm. 19, Menger, 1884, S. VII, Hansen, 1993, S. 123). Menger hat seine Ankündigung nie wahrgemacht.
Methodenstreit in der Nationalökonomie · 11 streit" in der Nationalökonomie, der die Zulässigkeit und wissenschaftliche Gültigkeit von allgemein verbindlichen Werturteilen zum Inhalt hatte 26 ). In beiden Fällen war Schmoller die zentrale Figur der Auseinandersetzungen. Tatsächlich ist Schmoller wegen seiner von den zeitgemäßen Auffassungen abweichenden Denkweise auch von den ihm im übrigen politisch nahestehenden Mitgliedern des Vereins für Socialpolitik als Außenseiter beurteilt worden. Nationalökonomen betrachteten ihn zumeist als Historiker. Historiker legten andererseits Wert darauf, ihn als Nationalökonomen zu bezeichnen. Bereits seine 1861 gefertigte Dissertation „Zur Geschichte der nationalökonomischen Ansichten in Deutschland während der Reformationsperiode" fiel völlig aus dem Rahmen der zeitgemäßen historischen Vorgehensweise 27 ). So blieb es dann auch in den späteren Veröffentlichungen. Bereits 1876 beklagte Adolph Wagner, ein Mitbegründer des Vereins für Socialpolitik, wegen der Schmollerschen kritischen Beiträge zu Recht, dieser suche einen Methodenstreit zu provozieren28). Dessen schärfster Widersacher Lujo Brentano schränkte zu gleicher Zeit für eine lange Periode aus denselben Gründen alle Kontakte zu seinem früheren Förderer auf das allernotwendigste ein29). In dem späteren Werturteilsstreit beschuldigten ihn dann seine Gegner, Wertungen unzulässigerweise durch seinem abweichenden politischen Verständnis entsprechende willkürliche politische Zielvorgaben gewissermaßen von außen in das Untersuchungsobjekt einzubringen, anstatt sie in den teleologisch in der Realität angelegten Entwicklungsgesetzen zu erkennen 30 ). Sie bemängelten Schmollers ethischen Relativismus, der in seinen diversen politischen Zielvorgaben auf diese Weise unzulässig zum Ausdruck gelange. Auch dieser Vorwurf entsprach durchaus Schmollers wissenschaftstheoretischen Uberzeugungen.
4. Die Beurteilung der Differenzen in der üblichen Berichterstattung Die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften berichtete bisher zumeist, aus den grundsätzlichen Streitigkeiten für die im ersten Fall stets Menger und Schmoller und in der späteren Kontroverse Max Weber und Schmoller als die Gegner benannt werden, und die nie in historischer Hinsicht ange26
) Hiezu Lindenlaub (1967, S. 443), Hansen (1968, S. 156), Hansen (1993, S. 153). ) Besprechung der Dissertation Schmollers durch Wilhelm Roscher, in Literarisches Centralblatt für Deutschland, Leipzig 1862, Spalte 760. 28 ) Brief Wagners an Stieda vom 13. März 1877, abgedruckt in Rubner (1978, S. 144). Zur Geschichte des Methodenstreits siehe Hansen (1996, S. 180). 29) Brentano (1931, S. 74, S. 134, S. 142). 30 ) Auch jüngere Nationalökonomen, wie Walter Eucken und Edgar Salin, machten Schmoller noch lange nach seinem Tode ähnliche Vorwürfe, mag dies auch oft im Zusammenhang sachlicher Erörterungen verborgen bleiben (siehe Eucken, 1948, S. 111, Hansen, 1993, S. 149). 27
12 • Jürgen Backhaus, Reginald Hansen messen aufgearbeitet wurden, sei jeweils Schmoller als der Unterlegene hervorgegangen. Oftmals heißt es dann einlenkend, es sei eigentlich ein Kampf um eine Vorrangstellung ohne wissenschaftliches ernsthaftes Streitobjekt gewesen, ein Streit, „der überflüssig war wie ein Kröpf'31). Letztlich führten dieserlei Beurteilungen dazu, den wissenschaftlichen Wert von Schmollers Beiträgen in Frage zu stellen und seinem Lebenswerk, der Schaffung der Grundlagen für die deutsche Sozialgesetzgebung im 19. Jahrhundert den wissenschaftlichen Charakter abzusprechen. Bei einzelnen seiner einflußreichen Kritiker war dies sogar das erklärte Ziel ihrer Agitationen32). Die Unterscheidung zwischen einer sogenannten „älteren" (guten) und einer „jüngeren" (abzulehnenden) historischen Schule dient diesem Zweck.
5. Beurteilung des Methodenstreits im Lichte der modernen Wissenschaftslehre: Ein Paradigmawechsel Neuere Forschungen führen zu einer veränderten Beurteilung der Beiträge Gustav Schmollers zu den Sozialwissenschaften. Danach lag der Kern der Auseinandersetzungen darin, daß die Schmollerschen Beiträge mit den für die Geisteswissenschaften seiner Zeit noch vorherrschenden systematischen Grundgedanken nicht vereinbar waren. Die Erklärungsweise Schmollers erforderte nämlich eine völlig neuartige Weltausdeutung. Thomas S. Kuhn hat 1962 in einem Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte auf vergleichbare Bruchstellen in der Entwicklung der Naturwissenschaften aufmerksam gemacht33). 31 ) So etwa Schumpeter (1914, S. 106). Schumpeter vermochte offenbar die zugrundeliegenden Differenzen nicht zu erkennen (siehe Schumpeter, 1965, S. 994, Stauenhagen, 1969, S. 204). Zumeist herrscht heute die Ansicht vor, beide Richtungen seien von gleich großer Bedeutung für die Entwicklung der Disziplin gewesen (siehe Ott - Winkel, 1985, S. 230). In einer neueren Untersuchung zeigt der Verfasser die konkreten praktischen Auswirkungen des Methodenstreits für die Besteuerungswirklichkeit und die Auswirkungen auf die Volkswirtschaft im historischen Ablauf (siehe Hansen, 1996, S. 179). Die Abhandlung zeigt die große Bedeutung des Methodenstreits für tragende Institutionen. 32 ) Tönnies (1912), Brief an Schmoller, abgedruckt in Schmollers Jahrbuch, 36, S. 6, Below (1904 und 1905), in Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 7/8, Lindenlaub (1969, S. 281), Hansen (1996, S. 487). 33 ) Kuhn (1962, deutsch 1967, S. 151). Eine völlig veränderte Auffassung von der Natur führt jeweils zu neuartigen Erklärungsweisen der beobachtbaren Vorgänge. Dabei mag es für unsere Zusammenhänge von Interesse sein zu erfahren, daß Kuhn die sichtverschiebende Umwälzung zum Anbeginn einer neuzeitlichen wissenschaftlichen Chemie mit der Person Lavoisieres in Verbindung bringt (S. 160). Der Großvater Schmollers, Gärtner, bei dem Schmoller erste und bleibende Eindrücke von wissenschaftlicher Tätigkeit erhielt, hatte 1792 bei Kielmeyer in Stuttgart Chemie studiert. Kielmeyer machte die noch neuen Erkenntnisse Lavoisieres in der Chemie, die deren gesamtes theoretisches Verständnis revolutionierten, in Deutschland gegen große Widerstände bekannt. Die erhalten gebliebenen Mitschriften Gärtners für das Wintersemester 1792/93 zeigen sein großes Interesse an den völlig neuen, die Phlogistonlehre
Methodenstreit in der Nationalökonomie · 13 Bemüht man sich, die Einlassungen Schmollers und seiner Widersacher im Lichte der Auseinandersetzungen im 19. Jahrhundert zu interpretieren, so ergibt sich eine von der bisherigen Berichterstattung völlig abweichende Beurteilung. Was zumeist als abwegige theorielose bloße Faktensammelei Schmollers bemängelt wird, war de facto durch eine Veränderung in der Erklärungsweise der Realität durch Übernahme erfolgreicher naturwissenschaftlicher Denkmuster bestimmt. Diese ersetzten in den Naturwissenschaften zunehmend die nach 1800 mit einer ausufernden Romantik einsetzende Rückbesinnung auf die Denkfiguren der klassischen Philosophie mit der aristotelischen Stoff-Form-Metaphysik. Sie brachten die Überzeugung mit sich, daß alle sozialen Erscheinungen in einem ursächlichen und gesetzmäßigen Zusammenhang mit Einstellungen der Wirtschaftsobjekte, mit der Gesetzgebung und dabei vor allem mit den Verhaltensweisen kanalisierenden institutionellen Regelungen stehen. Ziel der Wissenschaft war für Schmoller nicht mehr die kontemplative Suche nach erläuternder begrifflicher Definition der hinter den bloßen Erscheinungen der empirischen Realität verborgenen, den Stoff prägenden Kräfte, Ideen, Entelechien, Wesenheiten, formgebenden Agentien. Historiker hatten diese in Staaten und den vielfältigen politischen Gemeinsamkeiten als Individualitäten gesucht. Für die theoretische Nationalökonomie glaubte man sie in den traditionellen ordnenden Gestaltungen des Wirtschaftsgefüges, wie Märkten, Preisen, Geldregelungen, Wirtschaftsordnungen usw. zu erkennen. Dabei wurde der gesamte Wirtschaftskosmos als von dieserlei nach Realisation strebenden Formkräften beherrscht unterstellt. Geeignete Definitionen durch Abstraktion auf das Wesentliche wurden daher als Gesetze der Realität beurteilt. Eine kontemplativ reagierende, die Realität selektiv betrachtende Denkweise wurde nun in den Naturwissenschaften nach 1840 zunehmend durch eine aktivistische, am Experiment orientierte Durchdringung der Realität ersetzt, eine Vorgehensweise, die uns heute selbstverständlich geworden ist34). Während Carl Menger und ebenso seine beiden Brüder Max und Anton in dem Milieu eines mittleren böhmischen Beamtenhaushaltes heranwuchsen und die Denkweisen der auf Rechtfertigung politischer Gestaltungen abstellenden Orientierungen übernahmen — ähnliches gilt für Adolph Wagner war die familiäre Bezugsperson Gustav Schmollers ein selbständiger und ungebundener bedeutender Naturwissenschaftler. Schmoller berichtete, daß er auf dem Anwesen des Großvaters Carl-Friedrich Gärtner in Calw als Heranwachsender alle Freizeit verbrachte und Einblick in dessen umfangreiche experimentelle Forschungstätigkeit erhielt. Gärtner stand im Brennpunkt wissenschaftstheoretischer Auseinandersetzungen seiner Zeit, indem er die Konsequenzen zentraler herkömmlicher „Glaubensgewißheiten" über
revolutionierenden Erklärungen der Vorgänge, die Lehrer und Schüler daraufhin lebenslang in Freundschaft verbanden (Tod des Lehrers 1844, hiezu Graepel, 1978, S. 80, Anm. 453, 455, Hansen, 1996, S. 189). 34) Hennemann (1959, S. 101, S. 119), Lewin (1930, S. 421), Jordan (1949, S. 123).
14 · Jürgen Backhaus, Reginald Hansen die Artenkonstanz ad absurdum führte35). Er verprobte die aus der vorherrschenden aristotelischen Biologie hergeleiteten zentralen Thesen über die Vermehrung der Pflanzen in fast dreißig Jahre währenden Experimenten in ca. neuntausend Versuchsreihen. Das Ergebnis der Experimente über Bastardisierungsmöglichkeiten zeigte, daß die grundlegenden Konsequenzen dieser herkömmlichen Weltausdeutung, speziell über die Fortpflanzung, nicht aufrechterhalten werden konnten36). Die Vorstellung von einer unveränderbar vorgegebenen Natur war endgültig widerlegt. Diese zeigte sich zwar als invariant vorgegeben, aber gestaltbar - jedenfalls sofern man ihre Gesetze erforschte und bei Eingriffen beachtet. Damit brachen zeitgemäße grundlegende Überzeugungen, die ihre Rechtfertigung aus der traditionellen philosophischen Wissenschaftslehre bezogen hatten, zusammen. Gustav Schmoller erlebte dann als 16jähriger Heranwachsender die heftigen Auseinandersetzungen, die durch den sogenannten „Materialismusstreit" im Jahre 1854 auf der Jahresversammlung der „Deutschen Naturforscher und Ärzte" entbrannten37). Dieser war nicht zuletzt auch ein zeitgemäßes Ergebnis der kurz vorher abgeschlossenen Forschungen des Großvaters. Der Streit war durch das gereizte aggressive Eintreten von Rudolph Wagner für die traditionellen „Glaubensgewißheiten" als naturwissenschaftliche Erkenntnisse provoziert worden. Mit dessen Sohn, dem Nationalökonomen Adolph Wagner, seinem späteren Berliner Kollegen, setzte Schmoller nach 1881 dann die wissenschaftstheoretischen Streitigkeiten lebenslang fort38). Der Weg zu den nach 1860 einen Kulturschock auslösenden Darwinschen und Häckelschen Übertreibungen war letztlich auch durch Gärtners Forschungstätigkeit freigelegt worden. Während Großvater Gärtner seine Forschungsinteressen durch die Züchtung neuer Arten den als fehlerhaft erkannten überlieferten dogmatischen Thesen der Biologie über Fortpflanzung, Artenkonstanz und unterstellte invariante Strukturen im Pflanzenbereich widmete, richtete der Enkel seine Interessen auf menschliche Institutionen und deren wirtschaftliche Relevanz. Ihre Formen, ihre innere Entwicklungen, ihre Veränderbarkeit und vor allem die durch gestaltende Eingriffe ausgelösten konkreten wirtschaftlichen Konsequenzen für Güterversorgung, Einkommenschichtung, Klassen35) Sachs (1875, S. 461), Nordenskjöld (1926, S. 474, S. 596), Mayr (1984, S. 519), Jahn Lotter - Senglaub (Hrsg., 1985, S. 424), Stubbe (1963, S. 91). Zum Verhältnis Schmollers zu seinem Großvater siehe Fundstellen in Hansen (1993, S. 112, Anm. 7 und 14, S. 130, Anm. 72, S. 134, Anm. 82), Hansen (1996, S. 189), Graepel (1978, S. 115). 36 ) Gärtner (1849, S. 633). Beispiele für die vermittels von Experimenten durchgeführte Beweisführung zur Ermittlung der Sexualität der Pflanzen und die künstliche Veränderung der Arten lassen sich in vielen Beiträgen und Rezensionen Gärtners in wissenschaftlichen Zeitschriften nachvollziehen (siehe etwa Rezension Gärtners zu Schelver, 1813). Schelver war Arzt und Schüler Schellings. Die Kritik Gärtners an den verstiegenen Konstruktionen Schellingscher Denkweisen zeigt eine Wissenschaftsauffassung, die wir bei Whewell, Schmoller und Hasbach wiederfinden (hiezu Hansen, 1996, S. 191, Anm. 43). ") Vorländer (1903, S. 426), Degen (1954, S. 271, S. 275), Hansen (1993, S. 120), Hansen (1996, S. 199). 38) Fundstellen in Hansen (1996, S. 192).
Methodenstreit in der Nationalökonomie · 15 bildung, Interessenausgleich, Lebenslage der Bevölkerung usw. beanspruchten bis zu seinem Lebensende seine Aufmerksamkeit. Bereits 1861 war dem Rezensenten von Schmollers Dissertation, Wilhelm Roscher, die völlig aus dem üblichen Rahmen der historischen Ideenlehre abweichende Geschichtsauffassung Schmollers aufgefallen. Zu demselben Thema waren nämlich gleichzeitig zwei Abhandlungen geschrieben worden. Heinrich Wiskemann, ein Historiker und Philologe mit ökonomischen Kenntnissen, suchte in seiner „Darstellung der in Deutschland zur Zeit der Reformation herrschenden nationalökonomischen Ansichten" von 1861 die konkreten Vorstellungen der einflußreichen weltlichen und religiösen Führer herauszuarbeiten. Dabei wollte er die eigenartigen Schwerpunkte des zeitgemäßen Denkens über ökonomische Vorgänge und Zusammenhänge aufzeigen. Dagegen verfolgte der Student Schmoller, der weder hochschulmäßig ausgebildeter Historiker noch Philologe war, in seiner Abhandlung mit dem Titel „Zur Geschichte der nationalökonomischen Ansichten während der Reformations-Periode"39) 1860 das Ziel, die konkreten Wirkungen des religiösen Gedankengutes und der klerikalen und weltlichen Institutionen auf die Versorgung der Bevölkerung auszuloten. Deren Bedeutung für gewerbliche Produktion, Güterpreise und Einkommen und die Rückwirkungen auf die innere Balance der Gesellschaft dienten als erkenntnisleitendes Interesse und als Gesichtspunkt für die Auswahl der verfolgten Vorgänge, Gesetzesregelungen und unterschiedlichen religiösen Uberzeugungen. Schmoller suchte nämlich die Wirkungszusammenhänge, die die Lebensbedingungen letztlich verursachten, herauszuarbeiten. Diese glaubte er nicht, wie Carl Menger, in verborgenen, geheimnisvollen still wirkenden denknotwendigen inneren, als Zweckursachen verstandenen Kräften hinter der empirischen Realität, die es als den bloßen Erscheinungen letztlich zugrundeliegend zu erkennen gelte40); er suchte die konkreten ursächlichen Randbedingungen aufzufinden, die nach seinem theoretischen Vorverständnis für die Entwicklung der konkreten Vorgänge von Bedeutung sein konnten. Die später dann oft beanstandete angeblich „systemlose" und „unwissenschaftliche Faktensammelei" „bloßer Erscheinungen" galt erklärtermaßen ständig diesem Ziel. Der von Zunfthistorikern später bemängelte „Laboratoriumsgeschmack" der Schmollerschen Geschichtsforschung entsprach genau dieser Vorgehensweise41). Die vergleichende Geschichtsforschung als Ersatz für die in den Sozialwissenschaften mangelnden Möglichkeiten zur Durchführung von Experimenten wurde dabei von ihm folgerichtig als Grundlage zur Gewinnung von Erkenntnissen empfohlen und von Schmoller fortlaufend praktiziert42). Im übrigen entwickelte er frühzeitig für zwei große statisti39
) Schmoller (1860, S. 461). «) Menger (1883, S. 107, S. 154), Hansen (1968, S. 164), Hansen (1993, S. 124). •") Schmoller (1894, S. 543), Meinecke (1922, S. 251), Hintze (1928, S. 133), Hintze (1964, S. 519, S. 521). 42 ) Schmoller (1894, S. 546). Schmoller war mit einer Enkelin eines der Begründer der historischen Rechtsschule, Niebuhr, glücklich verheiratet. Er pflegte enge Kontakte und Freundschaften zu allen führenden Historikern, einschließlich seines sehr temperamentvollen intel4
16 · Jürgen Backhaus, Reginald Hansen sehe Erhebungen, die zum Zweck der Beseitigung der von einer hastigen Industrialisierung erzeugten sozialen Notzustände durchgeführt wurden, die wichtigen Fragestellungen für die statistische Datenerfassung und erstellte die theoretische Aufarbeitung43). Durch Schmoller erhielt dabei die Statistik eine neuartige, auf Wirkungszusammenhänge für staatliche Interventionen abstellende Ausrichtung. Die Veränderung gegenüber der noch von Menger und Adolph Wagner vertretenen Queteletschen Statistik war unübersehbar. Im übrigen wurde von Schmoller bereits frühzeitig die Durchführung von Enqueten zur Beantwortung eines Katalogs als wichtig erachteter Fragen und die Erhebung als relevant beurteilter statistischer Datenmengen zu vermuteten Zusammenhängen gefordert und bereits ab 1873 im Verein für Socialpolitik instrumentalisiert44). Schmoller verteidigte fortlaufend dieses „empirisch-historisch induktive Vorgehen" bei der Suche nach gesetzlichen Zusammenhängen des gesellschaftlichen Organismus. Von keinem der einflußreichen Mitglieder, die seine Methodenauffassung als Anhänger der „abstrakt deduktiven Schule" Carl Mengers ablehnten, wie Adolph Wagner, aber - mit Einschränkungen - auch Lujo Brentano, wurde diese Vorgehensweise als Problemlösungsverhalten in Frage gestellt. Dennoch vertraten sie weiterhin in der Öffentlichkeit die hergebrachte Wissenschaftsauffassung45). Noch 1895 polemisierte Menger gegen Schmollers „sozialpolitische Schule" als „im Interesse reaktionärer Parteien und prinziploser Opportunitätspolitiker gelegen"46). Schmollers Intention, durch „empilektuellen Gegners Heinrich von Treitschke, aber mit Ausnahme von dessen ihm mit Haß begegnenden Schülers Georg von Below. Aus seiner undogmatisch kritischen Haltung zur sogenannten theoretischen Ideenlehre der Rankeaner und Nachrankeaner machte Schmoller keinen Hehl. Er brachte diese Kritik an vielen Stellen in seinem "Grundriß" zum Ausdruck (siehe Schmoller, 1904, S. 1334). Dieser Umstand von allerdings großer Tragweite war der wesentliche Punkt der Kritik der Zunfthistoriker, eine Kritik, die sich auch bei dem an einer traditionellen Wissenschaftsauffassung festhaltenden Carl Menger findet (siehe Anm. 7). Schmoller teilte, wie sich aus vielen Rezensionen ergibt, Lamprechts Kritik an der historischen Ideenlehre (siehe Hansen, 1993, S. 129). -13) Für Einzelheiten und Fundstellen siehe Hansen, 1993, S. 117, Anm. 30, S. 140, Anm. 97 und 98. 44 ) Zu Schmollers Beurteilung der Bedeutung von Enqueten als Erkenntnismittel siehe Schmoller, 1894, S. 543. Vermittels der vom Verein für Socialpolitik vorgenommenen statistischen Erhebungen und deren systematischer Aufarbeitung nach verschiedenen als wesentlich erachteten Gesichtspunkten in Verbindung mit Enqueten und sachbezogenen "historischrealistischen Monographien" suchte Schmoller "die sich ständig durch die fortschreitende Industrialisierung verändernde Gesellschaft durchschaubar und regierbar zu machen" (siehe Gorges, 1980, S. 119). Schmoller selbst skizzierte sein Wissenschaftsprogramm frühzeitig in diesem Sinne (siehe Schmoller, 1870, Vorrede S. VI, S. XII, Hansen, 1993, S. 149). 45 ) Lindenlaub (1967, S. 135, S. 434), Hansen (1993, S. 153), Hansen (1968, S. 155). In der sogenannten Werturteilsdiskussion kamen die wissenschaftstheoretischen Differenzen zum Ausdruck. Da die Wissenschaftsauffassungen Schmollers und ebenso Mengers nie zureichend aufgearbeitet wurden, ist die übliche Darstellung fehlerhaft und verzeichnet sogar die Frontstellungen. 46 ) Menger (1895), Rezension Schüller. In einem Nachruf im Almanach des Jahres 1918 für das korrespondierende Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Gustav Schmoller, bedauerte Menger dessen Tod am 27. Juni 1917. Nun würdigte er zwar das
Methodenstreit in der Nationalökonomie · 17 risch-historische induktive" Untersuchungen die gesetzlichen und sozialen Voraussetzungen für einen reibungslosen Ablauf der Marktvorgänge zu erarbeiten und einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen, wurden und werden heute noch zumeist fehlerhaft interpretiert. Einer wissenschaftskritischen stellten sich hergebracht dogmatische Denkstrukturen entgegen, die obendrein der Wirtschaftspolitik angeblich „richtige" Gestaltungen vorzugeben suchten.
6. Die industrielle Revolution und die neuartigen Anforderungen an die Nationalökonomie als Grundlage der Gesellschaftspolitik Die neuartige Sozialforschung und als Teil davon die Nationalökonomie sollte für Schmoller von einer veränderten, in den Naturwissenschaften bewährten Methode Gebrauch machen. Die durch eine stürmisch fortschreitende Industrialisierung sich wandelnde Gesellschaft sollte durchschaubar und dadurch regierbar gemacht werden. Wirtschafts- und Socialpolitik sollten auf einer neuartigen wissenschaftlichen Grundlage ausruhen. Die Beiträge Schmollers waren daher im Kern gegen eine einseitig liberalistische Politik gerichtet, die aus der klassischen und nachklassischen Nationalökonomie hergeleitet wurde und in den Zeiten des Übergangs ernste, bedrohliche soziale Probleme nicht zu lösen vermochte. Schmoller suchte nach wissenschaftlichen Grundlagen, die es erlauben konnten, die Entwicklung befriedigend in soziale Bahnen zu lenken. „Der praktische Zweck (der Wissenschaft, Anm. d. A.) ist die Voraussagung und die damit erreichte praktische Herrschaft über die Dinge"47), so gab er seine Intention wider. Er suchte im Grunde nomologische generelle Hypothesen, die — den universellen Gesetzaussagen der Naturwissenschaften ähnelnd —, interpersonell überprüfbare Regelmäßigkeiten von praktischer Relevanz darstellten. Diese ermöglichen nun einmal Prognosen, deren Richtigkeit als Bestätigung der Gesetzesaussagen zu dienen vermag. Aber Schmoller sah auch die dieser Vorgehensweise von der fortschreitenden Entwicklung der sozialen Verhältnisse gezoVerdienst, das der Verstorbene sich durch seine "historisch-ethische" Richtung vermittels des Vereins für Socialpolitik zur Eindämmung einer "in den Dienst eigennütziger Klasseninteressen geratenen" . . . "liberalen Nationalökonomie" erworben habe. Zugleich bedauerte er jedoch, daß Schmoller "seine Gegnerschaft auch auf Richtungen der Forschung ausdehnte", . . . "welche die theoretische Nationalökonomie, und zwar ganz insbesondere die der sogenannten klassischen Nationalökonomie, mit sichtbarem Erfolge zu reformieren und aufrichtigere Grundlagen zu stellen bemüht waren". Für "eine gerechte Beurteilung der Bestrebungen auf dem Gebiete der Wirtschaftstheorie" hätten ihm, so Menger, "offenbar die nötigen Voraussetzungen gefehlt" (siehe Menger, 1918, S. 450). In einem Nachruf für den am 8. November 1917 verstorbenen Adolph Wagner im selben Almanach, S. 423, erwähnte Menger mit keinem Wort, daß dieser Anhänger der von ihm selbst vertretenen Methodenauffassung über "die nötigen Voraussetzungen" mithin wohl verfügte, aber dennoch zu völlig andersartigen wirtschaftstheoretischen und ordnungspolitischen Auffassungen gelangt war. 47) Schmoller (1894, S. 558).
18 · Jürgen Backhaus, Reginald Hansen gene Beschränkung der Erkenntnis. Daher vermerkte er: „Je mehr man (überhaupt) die Untersuchung einschränkt auf einen bestimmten wirtschaftlichen Kulturzustand und diesen vorläufig, was sicher ein erlaubter methodischer Kunstgriff ist, als stabil annimmt, desto leichter wird man dazu kommen . . . die erkennbaren, typisch sich wiederholenden Vorgänge des wirtschaftlichen Prozesses zu erklären." . . . „Ob man sie Gesetze oder hypothetische Wahrheiten nenne, sie sind in richtiger Begrenzung gebraucht das große Instrument der Erkenntnis und die Stützen jeder guten Staatspraxis und Verwaltung", so führte er in seinem gegen den sich zu Mengers Methodenlehre bekennenden Adolph Wagner und dessen Auffassungen kritisierenden Methodenaufsatz 1894 aus48). Konkret setzte er damit das Ziel, institutionelle Gestaltungen zu erarbeiten, die bei vorgegebenen strukturellen Rahmenbedingungen erwünschte soziale Konsequenzen bewirken können. Schmollers vergleichende historische Forschungen sollten als Ersatz für Ex48
) Daß Schmollers 1894 im Handwörterbuch der Staatswissenschaften veröffentlichter Methodenaufsatz ein Resümee und zugleich klare Frontstellungen in den Streitigkeiten mit Wagner und den übrigen Anhängern der von diesem repräsentierten Denkweise schaffen sollte, ergeben Rezensionen und Briefwechsel der beiden Berliner Kollegen (hiezu Fundstellen in Hansen, 1996, S. 180, Anm. 3, insbesondere S. 194). Im übrigen hielt der an allgemein anerkannten sozialpolitischen Zielvorstellungen orientierte Nationalökonom Schmoller in dem Methodenaufsatz fest: "Man wird auf diese Weise mit etwas gröberen oder feineren ungefähren Generalisationen ausreichen, welche Nebenumstände und kleine Modifikationen beiseite lassen", S. 559. Und: "Jedenfalls sind sie nicht letzte Wahrheiten und sie ruhen auf der Fiktion eines stabilen Kulturzustands", S. 560 (siehe auch Schmoller, 1902, S. 110). Schmoller wollte also keineswegs von dem unverrückbaren Ziel der Wissenschaften Abstriche machen, zu universell gültigen generellen Hypothesen der sozialen Erscheinungen, also allgemein gültigen Gesetzen zu gelangen. Die Suche nach Regelmäßigkeiten, also "Quasi-Gesetzen" mit "Quasi-Konstanten", nach Systemen mit essentieller Beziehung auf ein bestimmtes kulturelles Raum-Zeit-Gebiet, war für Schmoller mithin ausdrücklich nur von begrenzter Bedeutung, aber ein notwendiges Hilfsmittel für praktische Zwecke (Albert, 1957, S. 65, Albert, 1967, S. 415). Die Ähnlichkeit der Wissenschaftsauffassung Schmollers mit der neuerlich von Karl Popper entwickelten Wissenschaftslehre ist oftmals verblüffend. Sie betrifft nicht nur Typenbildung, Begriffsbildung, Gesetzesvorstellung, Falsifikationsprinzip, dreistufige Induktionslehre usw., sie umfaßt ebenso letztlich die auf dieser Denkweise aufbauende sogenannte "Sozialtechnologie", die mit Hilfe einer "Stückwerk Sozialtechnik" (Piecemeal Engineering) dazu dienen kann, auf Grundlage der Kenntnis der Zusammenhänge überschaubarer Bereiche der Vorgänge die soziale Entwicklung in erwünschte Bahnen zu lenken (siehe Popper, 1971, S. 47, S. 51). Das Rätsel um die Gemeinsamkeiten löst sich auf, sobald man berücksichtigt, daß Schmoller sich die wissenschaftstheoretischen Erkenntnisse von Whewell zu eigen machte, der mit Großvater Gärtner durch verschiedene wissenschaftliche Gremien verbunden war. Tatsächlich stellt die Wissenschaftslehre Poppers eine Weiterentwicklung und Ausarbeitung der Beiträge Whewells zu dessen Philosophy of Science dar. Diesbezüglich vom Verfasser 1968 mehrfach befragt, wich Popper stets unverbindlich aus. Inzwischen weisen mehrere Gegner, aber auch Freunde Poppers, auf dessen mangelnde Originalität hin (siehe Medawar, 1984, S. 164, Feyerabend, 1986, S. 275). Neuerdings informiert ein Enkelschüler dahingehend, daß Popper die von Whewell aus den Erfahrungen mit fragwürdigen Theorien nachklassischer Nationalökonomen zur Erklärung der ökonomischen Vorgänge erarbeitete Wissenschaftslehre Whewells wiederentdeckt habe. Erklärungsbedürftig bleibt dabei, daß Popper 1934 in seiner "Logik der Forschung", in der er seine Wissenschaftslehre erstmals vortrug, Whewell nicht anführt, obgleich er sich mehrfach auf Ernst Mach bezieht (siehe Popper, 1935, Wettersten, 1992, S. 28, S. 190, Hansen, 1993, S. 169, Anm. 195).
Methodenstreit in der Nationalökonomie · 19 perimente die Verprobung von Vermutungen und Arbeitshypothesen erlauben. Ebenso hatte sein Großvater Carl Friedrich Gärtner um 1849 die vorherrschenden Thesen der Aristotelisch-Schellingschen Biologie in Experimenten endgültig als falsch nachgewiesen und damit die Tür für die spätere Entwicklung einer modernen Genforschung und der Veränderung der Arten geöffnet. Demgegenüber unterstellte die aus dem von der klassischen und nachklassischen Nationalökonomie übernommene, von der aristotelischen Wissenschaftslehre fortentwickelte Suche nach wesensgemäßen Wirkungselementen durch Abstraktion von accidentiellen Randdaten der sozialen Realität weiterhin „still wirkende treibende Kräfte" als deren Essenz oder Erscheinungsform, die dann als typische Charakteristika einer „wirtschaftlichen Wirklichkeit" ausgegeben wurden. Diesen in der Realität angelegten teleologischen Zweckursachen und Entwicklungsgesetzen kam in der traditionellen Lehre entscheidende Bedeutung zu. Durch Anwendung der sogenannten „deduktiven Methode"49) sollten die konkreten Konsequenzen zur
,19 ) Menger verbesserte gelegentlich in seinem Handexemplar den Terminus "deduktive" Methode in "compositive" Methode, was dem Grundgedanken der dogmatischen "epagogischen" Induktionslehre der klassischen Philosophie näher kam und auf dem seit Bacon - wie er glaubte - eingeschlagenen Irrweg wieder zurückführte (siehe Hayek, 1942, S. 287). Zum Verständnis der Epagoge siehe Fritz (1964, S. 49). Menger hatte sich so wie Schmoller intensiv mit der Wissenschaftslehre Mills und ebenso Whewells auseinandergesetzt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß weder Mill noch Menger über naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügten. Bezüglich Mill hat Whewell, der Mathematiker und Naturwissenschaftler war, dies mehrfach bedauert. Schmoller hatte sich bereits an der Tübinger Universität schwerpunktmäßig für Naturwissenschaften interessiert. Während Mill nun mit dem Ziel antrat, die Nationalökonomie als theoretische Wissenschaft in Form eines axiomatisch deduktiven Systems aufzubauen und nach der von Bacon geschaffenen Tradition in das Gebäude eines auf Experimenten aufruhenden, also empirisch fundierten Bauwerks einzugliedern, suchte Whewell in einer "kopernikanischen Wende" der Verstandesleistung durch Einführung von Erklärungseinfallen entscheidende Funktionen zu übertragen und dem Experiment nur regulative Funktion zur Ausmerzung falscher Theorien zu belassen. Aus Bacons "novum organon" entwickelte er so sein "novum organon renovatum" (siehe Whewell, 1858, Buch 2), in dem auch die "Moral Sciences" eine Stelle einnahmen. Während der praxisorientierte Schmoller infolge seiner Kenntnisse naturwissenschaftlicher Forschungstätigkeit das Wissenschaftskonzept Whewells übernahm, hatte auch Menger an der empirischen Ausrichtung der Wissenschaften seit Bacon Entscheidendes auszusetzen. Als wichtigstes "Erkenntnisziel" beurteilte Menger nämlich die Erforschung der "inneren Gesetzmäßigkeit der Naturerscheinungen", die er für die Nationalökonomie als "exakte Forschung auf dem Gebiete der Menschheitserscheinungen" bezeichnete und von der weniger wichtigen Feststellung bloß "äußerer Regelmäßigkeiten", "empirischer Gesetze" derselben streng abgegrenzt wissen wollte. Menger sprach in diesem Zusammenhang auch von der Erforschung "der rationalen Erscheinungsformen der menschlichen Wirtschaft", der "rationalen Zweckbeziehungen der letzteren" und entsprechend von "Gesetzen der Wirtschaftlichkeit" (siehe Menger, 1887, Handbuch . . ., S. 581-583, Menger, 1883, S. 53, S. 71, S. 263). Die Erforschung der "realen Erscheinungen" könne, so Menger, demgegenüber nur weniger wichtige empirische Regelmäßigkeiten zutage fördern, da die Phänomene der realen Welt nun einmal "zum Theile solche der Unwirthschaftlichkeit sind" (Menger, 1886, S. 583). Da die naturwissenschaftlich vorgebildeten Schmoller und Hasbach die Vorstellung für abwegig hielten, die Erforschung dieser Art "innerer Gesetze" der Natur habe die erfolgreiche Entwicklung der aufstrebenden Naturwissenschaften bestimmt (Menger, 1887, S. 582, Menger, 1883, S. 53), äußerte
20 · Jürgen Backhaus, Reginald Hansen Ausrichtung der Politik aus den der Realität innewohnenden, erkennbaren Prinzipien oder Zweckursachen vermittels Unterdrückung accidentieller, störender Erscheinungen hergeleitet werden. Nachdem Mengers Schüler Richard Schüller 1895 nochmals in Übereinstimmung mit seinem Lehrer die den klassischen und nachklassischen Nationalökonomen zugrundehegenden wissenschaftstheoretischen traditionellen Gemeinsamkeiten dargestellt hatte, zeigte Schmollers langjähriger methodologisch vorgebildeter Mitarbeiter Wilhelm Hasbach in einer längeren Rezension noch ein letztes Mal die alten, offenbar unveränderten Differenzen zu der an einer neuartigen Wissenschaftsauffassung orientierten Forschungsmethode auf50). Sein Urteil knüpfte an frühere Feststellungen Schmollers bei Übernahme der Herausgeberschaft seines „Jahrbuchs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich" des Jahres 1881 an. Darin hatte Schmoller die als überholt bekämpfte Wissenschaftsauffassung entsprechend dem sogenannten „Dreistadiengesetz" von Comte in ein inzwischen antiquiertes „metaphysisches" oder sogar „theologisches" Zeitalter der Wissenschaftslehre eingeordnet51).
7. Die Bedeutung des Methodenstreits in der Nationalökonomie für die moderne ordnungspolitische Diskussion Die Beiträge Gustav Schmollers haben offensichtlich im 19. Jahrhundert eine breite Diskussion um die Bedeutung der empirischen Sozialforschung für die Nationalökonomie angeregt, die sich im 20. Jahrhundert fortsetzte. Sie haben darüber hinaus ein frühes Verständnis für eine Wirtschaftsordnung geweckt, die heute als „soziale Marktwirtschaft" bezeichnet, die unverzichtbaren Vorteile marktwirtschaftlicher Regelungen durch Korrekturen unerwünschter Folgeerscheinungen zur allgemeinen Wohlstandsförderung gewährleistet. Bereits zu Ende des 19. Jahrhunderts zeigte sich im Deutschen Reich, daß während eines gewaltigen Wirtschaftswachstums auch die minderbemittelten Schichten im Unterschied zu den anderen westlichen Industrieländern durch höhere Realeinkommen profitierten52). Die Armut und Schmoller in seiner Besprechung der "Untersuchungen" 1883, einen Naturwissenschaftler mit derartigen dogmatischen Überzeugungen "würde man (ihn) sofort aus dem Laboratorium hinauswerfen" (Schmoller, 1883, S. 979, Hasbach, 1895, S. 761). Schmoller hielt 1883 fest, daß es offenbar Mengers Intention sei, "der theoretischen Nationalökonomie ihre wahre Methode zu retten mit der 'praktischen Spitze', die Verirrungen der historischen Schule bloßzulegen . . ." (Schmoller, 1883, S. 975). Menger sei kein "Reformator", sondern ein "Epigone", so hielt er fest (Schmoller, 1883, S. 987). Für Schmollers Methodenauffassung vgl. Whewell (1860, S. 292). «θ) Hasbach (1896, S. 857). 51 ) Schmoller (1881, S. 7), Schmoller (1894, S. 533), Schmoller (1900, S. 70). 52 ) Schmoller (1918, S. 251, S. 266). Nach Abelshauser zeigt ein Vergleich zwischen England und Deutschland, daß der Durchbruch zur Industriegesellschaft der Arbeiterschaft in Deutschland deutlich weniger Opfer abverlangte, als in England. Es wurden im 19. Jahrhundert als Folge eines hohen Investitionsvolumens zuerst mäßige und dann beachtliche Reallohn-
Methodenstreit in der Nationalökonomie · 21 die soziale Bedrängnis der unteren Klassen konnte hier als vermeidbares Übel erkannt werden. Das „eherne Lohngesetz" mußte als widerlegt gelten. Drei Richtungen beherrschten zur Zeit der Jahrhundertwende die Vorstellungen über eine richtige oder zweckmäßige sozialwissenschaftliche Vorgehensweise. Diese fanden sich bei den drei Brüdern der Familie Menger geradezu idealtypisch vereint: Carl Menger vertrat den Standpunkt des „Konservativismus oder Liberalismus des alten Typs". Der jüngere Bruder Anton war in ständiger Opposition im Elternhaus aufgewachsen 53 ). Wie Carl glaubte auch er die Realität zu erklären und Konsequenzen zu zeigen, wenn er Wert- und Wirklichkeitserkenntnis nicht trennte und neben die dogmatisch und historisch arbeitende Rechtswissenschaft eine „legislativ politische Jurisprudenz" treten lassen wollte 54 ). In seinem Hauptwerk suchte der leidenschaftliche Mathematiker und ordentliche Professor für Prozeßrecht, der hochangesehene Dekan und mit dem Hofratstitel ausgezeichnete Rektor der Wiener Universität des Jahres 1895 Material für die Durchsetzung des „Rechts auf den vollen Arbeitsertrag" als Grundlage einer „neuen Staatslehre" zu entwickeln. Von dem Fortschritt durch wissenschaftliche Vernunft überzeugt, wurde er einer der bedeutendsten sozialistischen Schriftsteller überhaupt, der in Berlin jedoch wegen seiner dortigen Bucheinkäufe unter Beobachtung stand 55 ). Die dogmatische Uberzeugung von der Erkenntnis letzter Bausteine der empirischen Realität sei es in Formen, Entelechien oder unmittelbar einsichtigen Prinzipien, die infolge der aristotelischen Weltverdoppelung in eine erklärbare Welt der Essenzen und eine unerklärbare der accidentiellen, bloßen Erscheinungen einer empirischen Kontrolle entzogen sind, erwies sich als mögliche Grundlage für höchst unterschiedliche und unvereinbarliche konkrete politische Auslegungen. Dagegen wurde der ältere Bruder Max Menger ein Vertreter Schmollerscher Denkweisen. Er sympathisierte mit dem Verein für Socialpolitik und beteiligte sich als Mitglied des Reichsrates und Vertreter des radikalen Flügels der liberalen Partei intensiv an Erörterungen konkreter Gesetzesinitiativen der Donaumonarchie 56 ). Wie berichtet wird, standen die drei Brüder zeitlebens in bestem Einvernehmen. Für diametral entgegengesetzte politische Konsequenzen bezogen sich sowohl der Professor für Nationalökonomie und Erzieher von Kronprinz Rudolf, Carl Menger, als auch der sozialistische Weltverbesserer Anton Menger auf die unmittelbare Erkenntnis einer normativ strukturierten Realität absoluten Charakters, die der ältere Bruder Max zur Verwirklichung
Zuwächse mit entsprechend steigendem Lebensstandard ermöglicht (siehe Abelshauser, 1982, S. 71, S. 91, Abelshauser, 1995, S. 148, S. 161, Ritter, 1983, S. 28, S. 77, Ritter, 1995, S. 147, Mommsen, 1990, S. 248, Fuchs, 1983, S. 99). 53 ) Wegen starrer Verweigerung des Gehorsams in Religionsfragen mußte Anton Menger 1859 das katholische Staatsgymnasium in Teschen verlassen. Er legte die Maturitätsprüfung 1860 als Externer in Krakau ab (siehe Hayek, 1968, (1), S. VII, Grünberg, 1908, S. 3). 54) Westernhagen (1988, S. 85), Grünberg (1908, S. 16). 55) Westernhagen (1988, S. 82), Schmoller (1887, S. 395). 56) Charmatz (1914, S. 222), Westernhagen (1988, S. 88), Boese (1939, S. 74).
22 · Jürgen Backhaus, Reginald Hansen politischer Zielvorgaben nach Erörterung und Verarbeitung statistischer Erhebungen durch konkrete Gesetzesinitiativen - etwa zur Steuerreform - in geeignete Bahnen zu lenken suchte. Der fortwährenden Kritik Schmollers, daß es sich bei Erkenntnissen, die erklärtermaßen durch Uberprüfung an der empirischen Realität nicht scheitern können, um unverbindliche und inhaltsleere Formeln handele, traten Carl Menger und sein Bruder Anton dennoch stets leidenschaftlich entgegen57).
8. Zum Schluß In diesem Aufsatz haben wir versucht, dem hochverehrten Jubilar insofern gerecht zu werden, als wir ein Kernthema seiner wissenschaftlichen Arbeit zum Anlaß einer ausführlichen dogmenhistorischen Erörterung nehmen. Wir versuchen, seine wertvollen Arbeiten in den größeren Kontext der hiezu gehörenden Literatur zu stellen, sodaß sie auch den weniger mit diesen Materien vertrauten Fachkollegen in ihrer Bedeutung besser deutlich werden58). Man kann den in vieler Hinsicht wichtigen Methodenstreit, dem ja noch weitere Auflagen folgen sollten, in der Nationalökonomie nur dann gut verstehen, wenn man möglichst viele Facetten ins Auge faßt. Wir haben versucht, vor allem die Bedeutung der Schmollerschen Arbeiten in ihrer radikalen Wendung zur Empirie einerseits und zur Anwendung des gewonnenen Gedankengutes andererseits herauszustellen. Das kaiserlich und königlich konstituierte Österreich bot weniger (aber durchaus) den Rahmen für derart kühne sozialpolitische Gesetzgebungen. Diese Gesetzgebungsvorhaben wurden aber von Gelehrten wie Menger nicht unterstützt. Dies kann im historischen Sinne schwerwiegende Folgen gehabt haben, und auch hierin liegt Mengers Bedeutung.
57 ) Zur angeblichen Erkenntnis naturrechtlicher dogmatischer Strukturen der Wirklichkeit siehe Albert (1972, S. 80), Bobbio (1965, S. 102). Zu politischen Leerformeln siehe Topitsch (1960, S. 262). Zur Familie Menger siehe Hayek (1968, S. XXXIII, Anm. 37 und 39), Sieghart (1932, S. 21). 5 8 ) Das Fach Dogmengeschichte wird an deutschsprachigen Fakultäten der Wirtschaftswissenschaften augenblicklich sehr stark vernachlässigt. Nach der Wiedervereinigung kann man feststellen, daß an den deutschsprachigen Fakultäten etwa die Hälfte des Wochenstundenvolumens für dieses Fach bereitgestellt wird, das in der untergegangenen DDR üblich war. Man kann nur hoffen, daß auch ein lOOprozentiger Produktivitätsgewinn realisiert werden kann. Tatsächlich berichten auf eine kürzlich wiederholte Umfrage gerade Universitäten aus den neuen Bundesländern, daß verstärkte Bemühungen unternommen werden, das Fach Geschichte der ökonomischen Lehrmeinungen auch als integrative Klammer zwischen Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre zu nutzen. Vgl. hiezu im einzelnen Backhaus - Jeserich (erscheint demnächst).
Methodenstreit in der Nationalökonomie · 23
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Finanzierungsstruktur und Kapitalmarkt in Osterreich seit dem Ende der Monarchie Franz Baltzarek, Wolfgang Zipser Im wissenschaftlichen Werk des Jubilars finden sich immer wieder auch Aussagen über die Rolle des Kapitalmarktes und dokumentieren sein großes Interesse an dieser Thematik. Der gegenwärtig beschleunigte Wandel der Rahmenbedingungen auf den Finanzmärkten und die zunehmende integrations· und globalisierungsbedingte Konfrontierung der überkommenen österreichischen Bankenzentrierung mit anderen Finanzsystemen legt einen makroökonomischen Rückblick auf Entstehung und Entwicklung der Finanzierungsstrukturen nahe. Dabei sollen auch einige Überlegungen zum Stellenwert des österreichischen Kapitalmarktes angestellt werden.
1. 1918/1937 Wegen des Scheiterns einer politischen Verteilung der fiskalischen Folgelasten von Krieg und Währungstrennung mit dem Zerfall des alten Reichs wurden die daraus resultierenden Budgetdefizite zwischen 1918 und November 1922 durch die Seignorage finanziert. Zu Ende der Hyperinflation Ende August 1922 war der Notenumlauf zu 50% durch Staatsschuld gedeckt. In Reaktion auf die Verbraucherpreissteigerung von insgesamt 14.059% zwischen Juli 1914 und August 1922 und den zeitweiligen Verlust der Geldfunktionen war die Haltung von nominal fixierten Aktiven bis zum Sommer 1922 nahezu vollständig eingestellt worden. Zum Zeitpunkt der Stabilisierung Ende August 1922 betrug der reale Notenumlauf je nach Preisindex zwischen 18% und 28% des für das Bundesgebiet geschätzten Wertes von 1913. Kredite waren in Beteiligungen umgewandelt worden und erhöhten die Risken der Geschäftsbanken. Die Staatsschulden in Inlandswährung waren großteils entwertet. Die Inflation wurde durch Bindung der Währungs- und Fiskalpolitik an die Kontrolle des Finanzkomitees des Völkerbundes, durch erfolgreiche Wechselkursfixierung, Einstellung der Defizitfinanzierung sowie durch vom Völkerbund vermittelte Kredite an den Bund beendet. Kapitalimporte mit einer starken kurzfristigen Komponente strömten ein, bevor die Finanzmärkte aus der kriegs- und inflationsbedingt geringen inländischen Ersparnis Breite und Liquidität entwickelt hatten, und finanzierten eine kurze Börsenhausse 1923/24. Mit Ende der Hausse fiel der Kurswert der an der Börse notierten Aktien bis 1925 um 63% ihres Wertes von
30 • Franz Baltzarek, Wolfgang Zipser Ende 1923 (Österreichisches Institut für Konjunkturforschung 1933). Kurswerte und Liquidität der Aktienbörse blieben auf lange Sicht gedämpft. Die Kurse und Umsätze von 1923 wurden bis 1937 nicht mehr erreicht. Die Notenbank versuchte den Abfluß von Kapitalimporten durch kurzfristige Devisenkostgeschäfte zu verhindern und den Umfang der Bankenzusammenbrüche durch Beteiligung an Stützungsaktionen zu begrenzen. Die für das Brechen der Inflationserwartungen entscheidende Einhaltung des Wechselkurszieles hing von den Kapitalimporten der Banken ab, aus denen die offiziellen Reserven dotiert wurden. Von der Bankenkrise 1924/25 bis zur Creditanstaltskrise 1931 setzte die Nationalbank den Diskontsatz über dem inländischen Geldmarktsatz fest und hielt ein wechselndes Differential zum Diskontsatz der Reichsbank aufrecht. Die expansive Refinanzierungspolitik der Notenbank verringerte den Anpassungsdruck und ermöglichte gemeinsam mit der Kreditexpansion der Geschäftsbanken den Aufschwung von 1926 bis 1928 {Zipser, 1997, S. 72-129). Die Expansion der Finanzmittel zwischen dem Ende der Hyperinflation 1923 und der Konjunkturwende 1928 war vom raschen Wachstum des Kreditvolumens getragen. Die gesamten Einlagen wuchsen um 130%, die Spareinlagen durch das Auffüllen der Bestände um 170%. Das Kreditvolumen übertraf 1928 jenes von 1924 um 123%. Der Kurswert der Aktien war dagegen am Höhepunkt der Konjunktur um 50% geringer als 1923 {Österreichisches Institut für Konjunkturforschung, 1933). Auslandskredite waren neben den garantierten Krediten an den Bund vorwiegend dem öffentlichen Sektor und den großen Aktienbanken gewährt worden. Industrieanleihen waren wenig verbreitet. Der Bund war infolge der Entwertung der Staatsschulden durch die Hyperinflation die ganze Periode der zwanziger Jahre und bis nach der Creditanstaltskrise im Inland nicht kapitalmarktfähig. Dem Anleihenmarkt fehlte die Grundlage langfristiger Staatspapiere.
Tabelle 1: Marktkapitalisierung in Österreich-Ungarn 1901 Börsekapitalisierung in Mill. Kronen Börse Wien 7.533,6 = Börse Budapest 1.000,5 = Österreich-Ungarn zusammen 8.534,1 =
97% der Einlagen Zisleithaniens 39% der Einlagen Transleithaniens 83% der Gesamteinlagen Österreich-Ungarns
Sicht- und Termineinlagen in Mill. Kronen
Sichteinlagen Termineinlagen Insgesamt In % der jeweiligen Börsekapitalisierung
Zisleithanien
Transleithanien
ÖsterreichUngarn
2.287 5.455 7.742 103
643 1.886 2.529 253
10.271 120
Q: Tabellen zur Währungsstatistik, verfaßt im k.u.k. Finanzministerium, 2. Ausgabe, 2. Teil, Wien, 1904. Compass, Finanzielles Jahrbuch für Oesterreich-Ungarn, 1902/1904, 35/37.
Finanzierungsstruktur und Kapitalmarkt in Österreich · 31 Während die Marktkapitalisierung der Börse von 1924 bis 1928 von 18% auf 14% des Bruttonationalproduktes gesunken war, hatten die Spareinlagen von 40% auf 56% des BNP zugenommen. Die Bankenorientierung des Finanzsystems war nach dem Ende der Inflation infolge der schwachen Börsenentwicklung wesentlich gestiegen (vgl. Tabelle 1). Auch verglichen mit Daten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist eine deutliche Zunahme der Bankenzentrierung des Finanzsystems festzustellen (vgl. Tabelle 2). Tabelle 2: Marktkapitalisierung in Österreich 1928 Mill. Schilling Sichteinlagen Termineinlagen
2.425 4.144
Gesamteinlagen
6.569
Börsekapitalisierung
1.660
Q: Österreichisches
= 25% der Gesamteinlagen 14,2% BNP
Institut für Konjunkturforschung
(1933), Zipser (1997).
Als die Kreditexpansion durch Verringerung der internationalen Liquidität 1928 zum Stillstand kam, waren weder bei der Leistungsbilanzanpassung noch bei der Erhöhung des Eigenkapitals der Banken Fortschritte erzielt worden. Die geringe Rentabilität des Realkapitals hatte Kriegs- und Inflationsverluste nicht kompensiert und weitere Verluste entstehen lassen. Die an der Wiener Börse notierten Aktiengesellschaften hatten nach der Berechnung von Oskar Morgenstern einschließlich aller erfolgten Kapitalerhöhungen zu konstantem Preisniveau zwischen 1913 und 1930 79,11% ihres Kurswertes von 1913 verloren. Bis 1923 waren 78,5% des Kurswertes von 1913 vermehrt um Kapitalerhöhungen verloren. Nach der Stabilisierung waren zu Kriegs- und Inflationsverlusten in geringem Umfang neue Verluste hinzugekommen. Die Banken hatten mit 87,4% der seit 1913 bestehenden und mit 88,6% der danach gegründeten Bankaktiengesellschaften überdurchschnittlich stark an Kurswert verloren. Die Kapitalmobilisierung über die Börse war seit 1923 zurückgegangen. Die Kapitalerhöhungen hatten sich im Jahresdurchschnitt zwischen 1923 und 1930 gegenüber der Periode 1913 bis 1923, die ja auch die Kriegsjahre umfaßte, in realen Größen um 20% verringert (Morgenstern, 1932, S. 251-255). Durch eine Reihe von Fusionen mit gefährdeten Instituten wurden Risken bei den verbleibenden Großbanken, schwergewichtig bei der Creditanstalt, konzentriert. Die Intransparenz der Bilanzen - das österreichische Aktienrecht sah keine unabhängigen Rechnungsprüfer vor — behinderte sowohl die Informationsfunktion der Kapitalmärkte als auch in Verbindung mit dem Fehlen wirksamer Bankenaufsicht die Kontrolle der Solvenz und der Auslandspositionen der Banken durch die Nationalbank (vgl. Länderbank, 1938). Die andauernde Wirtschaftskrise erzwang im Mai 1931 die Aufdek-
32 · Franz Baltzarek, Wolfgang Zipser kung der Verluste der Creditanstalt. Die Bank wurde durch den Bund rekapitalisiert und das laufende Geschäft von der Notenbank refinanziert, um den Zugang zu internationalen Kapitalmärkten zu erhalten. Die Ausdehnung des Zentralbankgeldumlaufs und die bei der Bankenstützung eingegangenen Verpflichtungen des Bundes erhöhten die Inflationserwartungen. Währungsflucht ließ die Währungsreserven der Nationalbank unter die statutarische Minimaldeckung sinken, während der Notenumlauf durch Finanzwechsel der Creditanstalt von Mai 1931 bis Februar 1932 ausgedehnt wurde. Die Wechselkursbindung mußte vorübergehend aufgegeben werden. Die Bedienung der Auslandsschulden in Fremdwährung wurde einem Moratorium unterworfen. Kontenabhebungen und die ab 1932 einsetzende restriktive Kreditpolitik reduzierten die Geldmengenaggregate drastisch. Die Schätzung für die Geldmenge M l sank 1930 bis 1933 um rund 40%, jene für die weitere Geldmenge M2 um 29%. Die Verringerung der Geldmenge sowie die mit neuerlicher direkter Kontrolle der Fiskal- und der Währungspolitik verbundenen Völkerbundkredite ermöglichten zusammen mit Kapitalverkehrskontrollen und einer Abwertung die inoffizielle Bindung des Schillings an den Kurs der verbliebenen Goldwährungen und die Verringerung des Leistungsbilanzdefizits (Zipser, 1997, S. 158-183). Banken wurden aus öffentlichen Mitteln rekapitalisiert. Die Auslandsverschuldung in Fremdwährung wurde zwischen 1932 und 1935 von 44% des BNP 1932 auf 33% abgebaut. Kontenabhebungen, Kreditkürzungen und sinkende Einkommen verringerten vom Beginn der Weltwirtschaftskrise bis zur Beilegung der Bankenkrise 1934 die gesamten Bankeinlagen um 59% (die Sichteinlagen um 65%). Sinkende Nachfrage nach Krediten und Rationierung durch die Geschäftsbanken reduzierten das Kreditvolumen um 21%. Der Industrieaktienindex war in der beschleunigten Deflation der Anlagewerte im selben Zeitraum um weitere 64% gesunken. Die börsenotierten Aktien verloren bis Ende 1932 54% ihres Wertes von 1928 und 77% des Wertes von 1923 {Österreichisches Institut für Konjunkturforschung, 1933). Die Deflation der Anlagewerte hatte die Risken und Informationsprobleme der Finanzierungsbeziehungen erhöht und das zur Risikotragung notwendige Eigenkapital schrumpfen lassen. Der internationale Kapitalverkehr war in Mitteleuropa nach 1931/1933 zusammengebrochen. Die Banken schränkten die Kreditgewährung nach dem Tiefpunkt der Krise weiter ein. Liquidität staute sich in Kassenbeständen und erreichte den Kapitalmarkt in einer Börsenhausse bei sehr geringen Umsätzen. Die Bankeinlagen waren nach der Währungsstabilisierung von 40% des BNP 1924 auf 32% in den Jahren 1931 und 1932 zurückgegangen und stiegen langsam auf rund 40% des BNP 1937, wobei vermehrt Spareinlagen gehalten wurden, deren Stand von 22% des BNP nach der Stabilisierung auf 34% 1936 anstieg. Der Industrieaktienindex stieg 1934 bis 1937 um 95%. Die Marktkapitalisierung betrug damit 1937 1647,7 Mill. S oder 16,8% des BNP, wobei nur 51% der Kapitalisierung von inländischen Unternehmen stammte (Osterrei-
Finanzierungsstruktur und Kapitalmarkt in Österreich · 33 chisches Institut für Konjunkturforschung, Monatsberichte, 1938, (2), S. 63). Bis 1937 wurde die Fremdwährungsschuld gegenüber dem Ausland auf 19% des BNP verringert. Durch Kreditkürzungen und Substitution kurzfristiger Auslandsverschuldung durch inländisches Mittelaufkommen hatten die Kreditinstitute ihre Auslandsschulden in Fremdwährung von 13% des BNP 1932 auf 3% 1937 abgebaut (Wiener Institut für Wirtschaftsforschung, 1938; vgl. hier Tabelle 3).
Tabelle 3: Sachkapitalbildung und Leistungsbilanz 1 9 2 4 / 1 9 3 7 in % des B N P Bruttoanlageinvestitionen
1924/1928 1929/1933 1934/1937 1924/1937
8,5 8,2 6,6 7,9
Nettoanlageinvestitionen
Abschreibungen
7,2 7,6 8,3 7,6
-
Lagerbewegung und statistische Differenz
1,3 0,5 1,7 0,2
Nettosachkapitalbildung
8,5 0,0 0,0 2,7
-
Leistungsbilanz Saldo
9,8 0,5 1,7 2,9
-
7,9 4,9 1,1 5,0
Q: Kausei, Α., Nemeth, N., Seidel, H., Österreichs Volkseinkommen 1913-1963, 1965.
Tabelle 4: Sachkapitalbildung 1955/1995 in % des B I P
1955/1960 1960/1965 1965/1970 1970/1975 1975/1980 1980/1985 1985/1990 1990/1995
Bruttosachkapitalbildung
Abschreibungen
Ersparnis, Inland
24,8 28,1 29,0 29,8 27,5 23,7 24,6 26,0
11,6 12,1 11,9 11,7 11,5 12,4 12,3 12,7
13,2 16,2 16,4 17,7 13,8 11,1 12,5 12,6
Transfers, Ausland
-
Innenfinanzierung Inland
0,7 0,4 0,3 0,3 0,1 0,1 0,0 0,5
-
Transfers und statistische Differenzen -
0,7 0,5 0,3 0,8 2,4 0,3 0,1 1,2
-
0,1 0,6 0,3 0,1 0,1 0,1 0,0 0,5
Finanzierungsalden 1955/1995 in % des B I P Ausland 1955/1960 1960/1965 1965/1970 1970/1975 1975/1980 1980/1985 1985/1990 1990/1995
-
0,7 0,1 0,6 0,8 2,3 0,2 0,2 0,7
Haushalte 4,0 5,8 6,7 6,2 6,8 5,8 8,3 9,1
Unternehmen
_ -
-
4,2 6,6 7,6 7,5 6,6 3,1 5,0 5,9
Q: Oesterreichische Nationalbank, Berichte und Studien, 1996, 2.
Staat -
-
0,4 0,7 0,3 0,5 2,5 2,9 3,1 4,0
Inland -
0,7 0,1 0,6 0,8 2,3 0,2 0,2 0,7
34 · Franz Baltzarek, Wolfgang Zipser Von 1924 bis 1937 wurde das gesamtwirtschaftliche Vermögen um etwa 2% vermindert, da die kumulierten Leistungsbilanzdefizite von 4,9% des BNP die Nettosachkapitalbildung von etwa 2,9% des BNP übertrafen (vgl. Kausei — Nemeth - Seidel, 1965, und hier Tabelle 3: Sachkapitalbildung und Leistungsbilanz 1924-1937). Der Aufbau von Sachvermögen von 1924 bis 1928 war vor allem auf Lagerbildung und statistische Differenz zurückzuführen. Die Verringerung des Leistungsbilanzdefizits in der Depression war mit nahezu völligem Stillstand der Nettosachkapitalbildung verbunden. Die weitere Verbesserung der Leistungsbilanz zwischen 1934 und 1937 war nur unter Verzehr von Sachkapital möglich, ohne daß insgesamt ein Vermögensaufbau stattgefunden hätte. Die Finanzmärkte blieben über die gesamte Periode mit der krisenhaften politischen Entwicklung eng verbunden und waren selbst Quelle von Schocks, die vom Verhalten der Geschäftsbanken ausgingen, nicht neoklassischer Schleier über den realen Größen. Ursache dafür waren Vernichtung der Vermögen durch Krieg, Währungstrennung und Inflation, mangelhafte Transparenz und schließlich die unverzichtbare Rolle, welche die Geschäftsbanken bei der Sicherung der Glaubwürdigkeit der Wechselkursfixierung und der Währungspolitik spielten. Die Einrichtung wirksamer Bankenaufsicht durch die Gesetzgebung wurde verhindert (.Knett, 1985).
2. 1945/1995 Die Ausgangslage 1945 war von der Notwendigkeit bestimmt, das Geldvermögen dem gesunkenen Gütervolumen anzupassen, da die deutsche Kriegsfinanzierung bei sinkender Gütermenge das Preisniveau und die Löhne eingefroren hatte, deren Kaufkraft nicht mehr gegeben war. Im Gegenwert zu dem so erzwungenen Kontensparen hatten die Banken Reichsschatzscheine übernommen. Daraus resultierte ein potentiell inflatorischer Geldvermögensüberhang. Bei etwa halbiertem Sozialprodukt und geregeltem Preisniveau betrugen Zentralbankgeld und Spareinlagen 1945 zusammen mit etwa 22,5 Mrd. S rund 478% der Stände von 1937. Nach zwei 1945 unternommenen Ansätzen zu einer Währungsreform, wodurch Konten vorübergehend gesperrt worden waren, erfolgte die endgültige Abschöpfung und Neustrukturierung des Geldvermögens für den Wiederaufbau im Währungsschutzgesetz vom Dezember 1947. Die Währungsreform ordnete die Grundausstattung mit Finanzbeständen und die Geldversorgung den festgelegten Investitionsbedürfnissen unter. Das frei verfügbare Geldvolumen wurde um 24% verringert, die der Liquiditätsausstattung der Kreditinstitute dienenden Einlagen bei der Oesterreichischen Nationalbank um 37% und die dem Betriebskapital der Unternehmen zugerechneten freien Sichteinlagen bei den Geschäftsbanken um 21%. Von den Spareinlagen wurden 89% abgeschrieben (Zipser, 1983). Hohe Innenfinanzierungskraft der Unternehmen durch administrierte Preise auf den Gütermärkten, später um die Möglichkeit vorzeitiger Ab-
Finanzierungsstruktur und Kapitalmarkt in Österreich · 35 Schreibung ergänzt sowie leichte Kreditverfügbarkeit, die von 1948 bis 1952 gemäß dem Marshallplan durch ERP-Counterpartmittel und begleitende Finanzierungsmöglichkeiten erweitert wurde, ermöglichten in der Wiederaufbauperiode hohe Investitionen und rasches Wachstum bei rudimentären Finanzmärkten (Ehrlicher, 1985). Kreditkontrollen zwischen 1951 und 1952 verlangsamten die Kreditexpansion bis zur Wechselkursfixierung im Mai 1953. Von Ende 1948 bis Ende 1955 wuchsen die Bankeinlagen von 6,55 Mrd. S bzw. 18,5% des BNP mit jährlich etwa 21% auf 25,28 Mrd. S etwas schneller als das nominelle Bruttoinlandsprodukt. Das Kreditvolumen der Geschäftsbanken belief sich auf 18% des BIP. Angesichts hoher Inflationsraten und geringer Vermögensbestände sowie der gewählten Finanzierungsstruktur des Wiederaufbaus blieb die Geldvermögensbildung relativ nieder und stark auf liquide Anlagen konzentriert. Das BIP übertraf 1955 real das BNP von 1937 um 64%. Der Bestand an Bankeinlagen war jedoch mit 23% BIP relativ niedriger als jener von 1937 mit rund 40% des BNP. 1955 betrug der Spareinlagenanteil 44,8%, 1937 waren 71,6% der Bankeinlagen in weniger liquider Form gehalten worden. Dies war hauptsächlich der unterschiedlichen konjunkturellen Lage zuzuschreiben. Der Anleihenumlauf stieg dagegen nur von 2% des BIP 1949 auf 5,1% 1955. Das Konzept der Stabilisierung von Wechselkursen und des Nominalzinsniveaus sowie der Steuerung des Kreditvolumens wurde über die Wiederaufbauperiode hinaus bis Ende der siebziger Jahre, Regulierungen des Kapitalmarktes wurden bis in die Periode der Vorbereitung der EU-Integration beibehalten. Es wurde ergänzt durch selektive Geldschöpfung sowie aktivoder passivseitige Kreditkontrollen. Der Primärmarkt für Anleihen war durch Bewilligungspflicht der Emissionen, durch die Identität des Staates als Emittent und Aufsichtsbehörde sowie durch Konsultationen zwischen Emittenten bestimmt. Nach dem Abbau der Reglementierung des Zahlungsverkehrs mit dem Ausland im Zug der Konvertibilitätserklärung des Schillings 1959 und nach dem Ende der Dollarbindung im Gefolge des Zusammenbruchs des Systems der fixen Wechselkurse erhöhten die Kreditinstitute ihre kurzfristigen Auslandstransaktionen und beschleunigten die Integration in internationale Kapitalmärkte (Mooslechner, 1983). Die Wirkungen der weltweiten Krise von 1975 beeinflußten die Struktur der Vermögensbildung nachhaltig. Der öffentliche Sektor wurde nun dauerhaft zur Defiziteinheit, der gesamte private Sektor erzielte seither Finanzierungsüberschüsse. Die stärker werdende internationale Verflechtung in Gestalt des wachsenden Auslandsgeschäftes der Kreditinstitute und kurzfristiger Portfolioumschichtungen verschärften 1979/80 die Widersprüche zwischen Nominalzins- und Wechselkurszwischenziel (Winckler, 1989). Nach dem Ende der Politik der Nominalzinskonstanz 1980 erfolgte ab 1981 eine schrittweise Devisenverkehrsliberalisierung durch die OeNB. In einer mehrjährigen Ubergangsperiode wurde das Regulierungsregime auf den Finanzmärkten umge-
36 · Franz Baltzarek, Wolfgang Zipser stellt. Von 1986 bis 1991 wurden in mehreren Liberalisierungsschritten im Vorfeld der europäischen Integration die aus der Bewirtschaftung stammenden Regelungen durch liberalere EG/EU-konforme ersetzt. Das Ziel war die Vorbereitung weiterer Finanzmarktintegration: (Liberalisierung der Veranlagung von Ausländern in Osterreich 1981, Erwerb ausländischer Wertpapiere durch Inländer, Erwerb nicht börsennotierter ausländischer Wertpapiere durch Inländer 1986; ab 1989 Erwerb ausländischer Grundstücke und Beteiligungen 1990 Freigabe sämtlicher Transaktionen außer der Wertpapieremissionen von Ausländern oder im Ausland, 1991 vollständige Liberalisierung (vgl. Aspetsberger, 1992). Die Kapitalmarktreformen des Börsegesetzes von 1989 und des Kapitalmarktgesetzes von 1992 zielten auf weitere Deregulierung der inländischen Wertpapiermärkte. Der Übergang zum Renditentenderverfahren bei der Emission von Bundesanleihen 1991 (Brandner, 1991) integrierte ein Segment des Primärmarktes für festverzinsliche Wertpapiere in weitere internationale Anleihenmärkte. Die Reformen mündeten in vermehrter Emission und Verbreiterung des Marktes für Bundesanleihen, und ermöglichten die Aufnahme der österreichischen Werte in internationale Staatsanleihenindizes. Durch die Deregulierung wurden allerdings auch Strukturprobleme offengelegt. Mit dem Import von Finanzdienstleistungen entstand und entsteht ein potentieller Druck auf die Erträge inländischer Intermediäre und auf die Finanzierungskosten im Inland, der bis jetzt noch nicht im ganzen Ausmaß wirksam geworden ist.
2.1 K a p i t a l b i l d u n g Die Bruttosachkapitalbildung von 9.098,8 Mrd. S zwischen 1955 und 1995 wurden 47,2% durch Abschreibungen, zu 50,7% durch inländische Ersparnis, zu 0,2% durch Transfers und zu 1,2% durch das Ausland finanziert (vgl. Andreasch — Knechtl — Neudorf er, 1996). Die internationale Schuldnerposition Österreichs betrug 1995 237,8 Mrd. S (OeNB, 1996). Die Vermögensbildung aus Nettosachkapitalbildung und Veränderung der Verpflichtungen gegenüber dem Ausland verlangsamte sich nach 1975. Bis 1975 wuchs die Bruttosachkapitalbildung schneller als das BIP und übertraf die ebenfalls steigende inländische Ersparnis, sodaß Mittel aus ausländischen Quellen zur Finanzierung der Kapitalbildung herangezogen Wiarden. Das inländische Sparen schwächte sich zunächst im Jahrfünft zwischen 1975 und 1980 ab, sodaß der Finanzierungssaldo des Auslands weiter zunahm, bevor zwischen 1980 und 1985 die Sachkapitalbildung eingeschränkt wurde. Gemessen an der Summe aller Finanzierungssalden nahm die Divergenz der Finanzierungspositionen der Uberschuß- und Defizitsektoren von knapp 9% 1970/1975 auf 15% des BIP 1975/1980 zu. Sie stieg nach einer Reduktion auf 12% Mitte der achtziger Jahre auf 19% des BIP bis 1995. Dies war in verstärktem Ausmaß durch die entgegengesetzten Positionen von Haushalten und Staat bedingt,
Finanzierungsstruktur und Kapitalmarkt in Österreich · 37 Seit 1975 erzielte der öffentliche Sektor laufend Defizite, seit 1977 der gesamte private Sektor Finanzierungsüberschüsse. Das Sparen hat sich auf den privaten Sektor verlagert. Dabei erhöhten die Haushalte ihr Sparen nach 1975 stärker als die Unternehmen ihre Finanzierungsdefizite verringerten. Die Finanzierungssalden des öffentlichen Sektors wechselten bis 1955 und waren insgesamt bis 1975 schwach positiv, seither sind sie deutlich negativ mit der Entwicklung des nominellen BIP korreliert. Der Zusammenhang zwischen Finanzierungsüberschüssen des Auslands und der inländischen Produktion hat sich abgeschwächt.
2.2 Bestände an Finanzierungstiteln Extreme Intermediatisierung und hohe Internationalisierung kennzeichnen die Bestände an Finanzierungstiteln. Die größten Bestände wurden bis 1995 am Kreditmarkt mit 105% des BIP aufgebaut, gefolgt von den Bankeinlagen mit 89%, den Auslandsverbindlichkeiten mit 80%, den Auslandsforderungen mit 69%, dem Anleihenumlauf mit 60%, dem Vermögen der Investmentfonds mit 14% und der Börsekapitalisierung mit 13% des BIP. 1953 hatten die Bankeinlagen 21%, die Kredite 16% und der Anleihenumlauf 2% des BIP ausgemacht (Butschek, 1996, OeNB, Statistische Monatshefte). Die internationale Vermögensposition des Inlands war 1995 bei der Bruttoposition an Forderungen zu 58% und bei der Bruttoposition an Verpflichtungen zu 59% auf die Positionen der Kreditinstitute zurückzuführen. 48,6% des Anleihenumlaufs waren 1995 von Kreditinstituten emittiert. Verschärfte Eigenkapitalvorschriften beschränkten seit Mitte der achtziger Jahre die Zuwächse an bilanzsummenwirksamen Geschäften der Kreditunternehmen. Die Bilanzsumme der Kreditunternehmen war von 1975 bis 1985 in Relation zum Bruttoinlandsprodukt um nahezu 80% auf 228% gestiegen und stand 1995 auf etwa demselben Niveau (Tichy, 1983, Handler - Mooslechner, 1986). Das Ausmaß an gegenläufiger Entwicklung am Kredit- und Beteiligungsmarkt war auch für bankenzentrierte Finanzsysteme hoch. Neben unterschiedlicher Kapitalmarktfähigkeit und Unterschieden der steuerlichen Behandlung führten besonders Kreditsubventionen zu dieser Entwicklung. Die subventionierten Kredite machten 1965 41,6%, 1977 38,6% 1988 41,6% aller Direktkredite an inländische Nichtbanken, 1991 23% aller Direktkredite der Banken aus (vgl. Oesterreichische Nationalbank, Monatshefte 1966, (8), 1979, (6), 1989, (8), Oesterreichische Nationalbank, Berichte und Studien, 1991, (1)). Am Aktienmarkt hatte die Verstaatlichung Aktien von 0,65 Mrd. S aus einem Markt mit einem Nennwert von 1,1 Mrd. S genommen, der durch relativ geringen Streubesitz geprägt war (Rintersbacher, 1956). Nach einer kurzen starken Steigerung von 1959 bis 1961 überstiegen die Börseumsätze an Aktien und Partizipationsscheinen nach zwanzigjähriger Stagnation erst 1982 jene von 1962. Bis 1990 folgte eine Explosion der Umsätze auf 9.190%
38 · Franz Baltzarek, Wolfgang Zipser des Stands von 1983. Der gesamte Kurswert war 1982 etwa so hoch wie 1961 (Butschek, 1996). Die Börsekapitalisierung sank von 12% des BIP 1961 bis Mitte der sechziger Jahre auf die Hälfte des Wertes und verharrte in der ersten Hälfte der achtziger Jahre bei 2% des BIP. Nur in den Jahren 1990/1992 und 1993 wurde die Börsekapitalisierung von 1961 mit 16% deutlich übertroffen. 1994 war die Börsenkapitalisierung in Relation zur laufenden Produktion mit 13% knapp höher als 1961. Die Kurswerte der Börse machten 1961 35% der Bankeinlagen und 40% des Kreditvolumens und 1994 15% der Einlagen und 12% der Kredite aus. Der Aufholprozeß kompensierte aber die Steigerung der Intermediation durch Banken nicht.
2.3 Finanzierungsströme Die Transaktionen, welche die Entwicklung der Finanzierungssalden hervorbringen, sind erst durch den in jüngster Zeit erfolgten Aufbau der gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsrechnung erfaßbar. Arbeitsteilung und im Zuge der Entwicklung stärker divergierende Portefeuilles der Überschuß- und Defizitsektoren ließen die laufenden Finanzierungstransaktionen in Relation zum Einkommen auf Güter- und Dienstleistungsmärkten steigen. Die Financial Interrelations Ratio nahm von 17,98% 1960/1965 auf 37,41% 1978/1983 (vgl. Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, 1985, 45). Die Financial Interrelations Ratio ist eine StromgrößenFormulierung des Bestandsgrößen-Konzeptes von Goldsmith (vgl. Goldsmith, 1969). Sie stieg bis 1995 auf 40%. Die Finanzierungsintensität des Outputs stieg (Mooslechner — Nowotny, 1981) mit dessen Niveau. Sie liegt seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre über jener Deutschlands von 37,4% 1995 CDeutsche Bundesbank, 1997, S. 17-42). 33% aller erfaßten Transaktionen zur Geldvermögensbildung und Außenfinanzierung gingen 1995 direkt auf inländische Nichtbanken, Haushalte, Unternehmen und den öffentlichen Sektor zurück, auf deren realwirtschaftliche Entscheidungen die Finanzmärkte aufbauen. Bezüglich des Auslands und des öffentlichen Sektors ist ein Vergleich der Finanzierungsströme von 1995 mit jenen von 1970 bis 1983 möglich. Der Internationalisierungsgrad des Transaktionsvolumens übertraf 1995 gemessen am Anteil des Auslandssektors an der Transaktionssumme aller Sektoren mit 19,9% den Durchschnittswert von 18,1% zwischen 1970 und 1983 in vergleichsweise geringem Ausmaß. Der Anteil des öffentlichen Sektors an den erfaßten finanziellen Umsätzen stieg von 7,9% zwischen 1970 und 1983 auf 10% 1995. (Anteile der jeweiligen Sektorgrößen an den Durchschnitten von Geldvermögensbildung und Außenfinanzierung aller Sektoren; vgl. Mooslechner, 1984, S. 424, OeNB, 1996). Im Vergleich der finanziellen Umsätze der Sektoren zwischen 1983 und 1995 hatte sich das Gewicht an den Gesamttransaktionen zum privaten Sektor verlagert: Privater Sektor 1995 23% nach 17,2% 1983, öffentlicher Sektor 10% nach 11,4%, finanzieller Sektor bestehend aus Kreditunternehmen,
Finanzierungsstruktur und Kapitalmarkt in Österreich · 39 OeNB und Versicherungen 47,8% nach 48,8%, Ausland 19,9% nach 22,4% (vgl. Mooslechner, 1984, Übersicht 2, OeNB, 1996). Rund 47% der Transaktionen waren auf den finanziellen Sektor zurückzuführen. Sowohl im Vergleich mit den Werten von 1983 als auch verglichen mit den deutschen Werten von 1995 waren die finanziellen Transaktionen stärker im privaten Sektor konzentriert (Deutsche Bundesbank, 1996). Das private Geldvermögen wurde dagegen in Österreich stärker bankenzentriert gehalten. Zunehmende Verbriefung erhöhte den Anteil der Umsätze mit festverzinslichen Wertpapieren von 37% der gesamten Transaktionen 1983 auf 46% 1995, während die Einlagen bei Kreditinstituten von 13% auf rund 10% zurückgingen.
2.4 Struktur des Geldvermögens im privaten Sektor Die Geldvermögensbildung von Haushalten und Unternehmen stieg von 1955 bis 1994 von 47,6 Mrd. S auf 3.328,3 Mrd. S (Butschek, 1996). Dies entspricht einer Steigerung des Vermögensbestands in Relation zum laufenden Einkommen von 44,3% des BIP 1955 auf 147% 1994. Der schnellste Vermögensaufbau erfolgte bis 1975. Die Zuwächse wurden aus Steigerungen der nominellen Einkommen dotiert. Von 1975 bis 1994 verringerte sich die durchschnittliche nominelle Vermögenssteigerung von 16% auf 10%. Der Vermögenszuwachs aus erhöhter Sparneigung und gestiegenen Erträgen beschleunigte zwischen 1980 und 1990 wieder den Vermögensaufbau relativ zum BIP. Die höchsten Wachstumsraten und Verschiebungen zwischen den Anteilen der großen Komponenten des privaten Geldvermögens fanden bis zum Jahrfünft 1975/1980 statt. Danach sank die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 16% auf 10,7%. Das private Geldvermögen war nach 1955 im Verhältnis zur laufenden Produktion gering und wurde vorwiegend in liquidesten Anlagen gehalten: 26,9% als Bargeld, 40% in Bankeinlagen. Die Liquidität der Anlagen wurde über die gesamte Periode betrachtet verringert. Bis 1975 wurde privates Geldvermögen vorrangig bei Banken gebildet. Die Spareinlagen erreichten in der Periode zwischen 1975 und 1980 mit über 54% des gesamten Geldvermögensbestands ihren höchsten Wert. Dank der Sparförderungen und entsprechender Rahmenbedingungen auf den Wertpapiermärkten und trotz gestiegener Inflationsraten erfolgte das verstärkte Sparen nach der Krise Mitte der siebziger Jahre in traditionellen Sparformen. Zwischen 1975 und 1980 stieg die Wertpapierkomponente von 10,2% auf 15,7%. Im Gefolge der Devisenverkehrsliberalisierung verdoppelte sich der Anteil der Auslandsforderungen von 1985 und 1990 auf 8,6%. Diversifizierung, Verbriefung und Internationalisierung des Gesamtportefeuilles wurden ab Mitte der achtziger Jahre verstärkt getragen von Anlagen in Auslandsforderungen, Forderungen gegen Lebensversicherungen, Fremdwährungseinlagen, Investmentfonds und Aktien. Die größte Steigerung in der Gewichtung unter den inländi-
40 · Franz Baltzarek, Wolfgang Zipser sehen Komponenten erfuhren von 1980 bis 1994 die Forderungen gegen Lebensversicherungen. Angesichts erfolgter und sich abzeichnender Leistungsverringerungen in der Alterssicherung der Sozialversicherung wiesen sie eine Zunahme von 4,5% auf 8,5% des gesamten Geldvermögens auf. Tabelle 5: Struktur des Geldvermögens des privaten Sektors in % des BIP 1955/1994 Bargeld
Einlagen bei Banken insgesamt
Spareinlagen
Fremdwährungseinlagen
Wertpapiere insgesamt
Forderungen gegen Lebensversicherung
11,9 11,6 11,3 9,6 8,8 8,5 7,6 6,9 6,7
17,9 29,3 36,7 44,0 52,6 65,2 72,8 78,9 82,6
0,0 18,9 26,9 34,1 41,3 54,1 60,7 64,1 65,9
0,0 0,4 0,3 0,6 0,4 0,9 1,6 3,1 6,2
1,5 4,3 6,2 7,3 8,0 15,6 16,7 19,4 20,9
0,7 1,1 1,7 2,3 3,1 4,5 6,9 9,2 12,5
Investmentzertifikate
Genußscheine
Aktienkapital
Partizipationsscheine
Auslandsforderungen
Insgesamt
1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1994
0,0 0,2 0,2 0,4 0,4 0,3 0,9 5,0 7,0
0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,5 0,6 0,2
12,2 3,7 2,2 4,1 3,5 3,0 2,8 4,5 4,4
0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,6 0,3
0,0 0,2 0,3 1,5 1,9 2,4 4,8 11,8 12,5
44,3 50,3 58,6 69,2 78,3 99,5 113,0 136,8 147,1
Q: Butschek
(1996).
1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1994
Mit 147% des BIP 1994 war der Geld Vermögensbestand deutlich geringer als jener der nichtfinanziellen Unternehmen und Haushalte in Deutschland (1995 205% des BIP). Zudem war er weniger diversifiziert und stärker auf Bankeinlagen konzentriert als in dem ebenfalls bankenzentrierten Nachbarland. Von den vergleichbaren Komponenten hielten Haushalte und Unternehmen in Österreich mit einem Anteil von 60,8% zu 40% wesentlich mehr in Bargeld, Bank- und Bauspareinlagen. Deutlich kleinere Teile des Geldvermögens hielt der österreichische private Sektor mit 3% zu 13,4% vor allem in Aktien und als Ansprüche gegen Versicherungen mit 8,5% zu 14%. Bei Investmentzertifikaten war der Anteilsunterschied mit 4,7% zu 6,2% geringer. Diese Ergebnisse beinhalten gewisse Ungenauigkeiten, da festverzinsliche Wertpapiere in der statistischen Gliederung für Österreich nicht eindeutig abgrenzbar sind (Butschek, 1996, Tabelle 1.12.0, Deutsche Bundesbank, 1996).
Finanzierungsstruktur und Kapitalmarkt in Österreich · 41 Die Höhe des Geldvermögens österreichischer Haushalte wich stark von der Einkommensposition ab. In einem Vergleich der Geldvermögen in Prozent des BIP in 11 Ländern lag Osterreich 1993 am neunten Rang (vgl. Mooslechner, 1995). Die Vermögensbildung war bis 1975 durch das Zusammentreffen von aus der Bewirtschaftung stammenden fortgeführten Finanzmarktregelungen sowie geringer internationaler Kapitalverflechtung charakterisiert, die den Umfang der Zeit vor der großen Weltwirtschaftskrise noch nicht wieder erreicht hatte. Die bilanzsummenwirksamen Finanzierungsbeziehungen wuchsen nach der Wiederaufbauphase in der 2. Republik in Relation zum laufenden Einkommen schnell an. Die Bankenorientierung der Finanzierungsstruktur nahm gegenüber der Zwischenkriegszeit weiter zu. Der Staat erzielte wechselnde Finanzierungssalden. Nach der Krise 1974/75 verringerte sich die Höhe und änderte sich die Struktur der Vermögensbildung. Kreditinstitute und Staat trieben die Internationalisierung der Finanzierungsstruktur voran. Das Sparen verlagerte sich auf den privaten Sektor, der Staat wurde zum Defizitsektor. Ab 1981 begann eine Periode der Deregulierung und der Vorbereitung der Integration der inländischen Finanzmärkte. Die Zunahme an Intermediatisierung, in der Kreditunternehmen verpflichtend zwischen Kapitalgeber und Kapitalnehmer treten, verringerte sich. Ein im Vergleich bezogen auf das BIP geringes Geldvermögen wurde mittels eines nicht im selben Ausmaß geringen (Vergleichsdaten 1960/1983 siehe Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, 1985, S. 45) Transaktionsvolumens in ungewöhnlich hohem Ausmaß durch Intermediäre in Außenfinanzierungsinstrumente transformiert (vgl. Handler — Schebeck, 1990).
3. Eigenheiten des österreichischen Kapitalmarktes Im internationalen Vergleich ist die Kapitalisierung durch und über die Börse und den Aktienmarkt in Österreich weit im Rückstand. Sie betrug 1997 rund 16% des BNP und lag damit an letzter Stelle im Rahmen der OECD- bzw. EU-Staaten. Im Vergleich dazu lag 1997 die Kapitalisierung über die Börse bei den Spitzenreitern Großbritannien bei 111%, Schweiz bei 106% und Japan bei 86% des BNP (vgl. Tabelle 7). Diese Unterentwicklung ist umso bemerkenswerter, als das private Geldvermögen 1996 mit 3.700 Mrd. S, oder dem l,5fachen des BNP, eine der höchsten Sparquoten der OECD erreichte. Relevante Märkte in Aktien und Industrieobligationen sind in Österreich als rudimentär und bescheiden zu bezeichnen. Der Wertpapiermarkt insgesamt ist für Investitionsfinanzierung nur partiell relevant. International gesehen besteht eine vernachlässigte Kultur der Börse und der Aktiengesellschaften. Diese Situation ist ein Produkt langfristiger historischer Besonderheiten. Im einzelnen lassen sich folgende Problemfelder orten: 1. Antikapitalistische (und lange Zeit auch antisemitische) Tendenzen, die politisch von rechts und von links gepflegt wurden. Seit dem Durchbruch
42 · Franz Baltzarek, Wolfgang Zipser des Industriekapitalismus am Kontinent um die Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es immer wieder antikapitalistische Kritik, die den Kapitalmarkt der Börse verdammt. Nahezu ein geflügeltes Wort auch in Osterreich war der Ausspruch des deutschen Arbeiterführers Ferdinand Lassalle: „Die Börse ist derjenige Ort, wo die Ausbeutung am reinsten in Erscheinung tritt". Der spätere Wiener Bürgermeister Dr. Karl Lueger äußerte im Niederösterreichischen Landtag 1890: „Die Börse ist eine Spielhölle, in der mit dem Kredit des Staates, der Gemeinden usw. gespielt werde. . . . Die Existenz der spekulierenden Börse ist Raub am Volkseigentum" ( B a l t z a r e k , 1973, S. 103).
Tabelle 6: Aktienbesitzer in 9'a der Gesamtbevölkerung Tschechien Schweden Rußland Kanada USA Finnland Großbritannien Schweiz Frankreich Japan Norwegen Niederlande Deutschland Belgien Österreich
57,0 36,3 27,0 25,0 21,0 20,0 17,5 13,0 10,1 9,0 8,3 5,8 5,4 5,0 4,0
Q: Aktienforum (1997).
2. Die zeitlich weitreichenden Folgen waren: die international gesehen sehr frühe Einführung einer diskriminierenden Effektenumsatzsteuer in Österreich (1892!) und saftige Besteuerung der Börseschlüsse. Zeitweise sehr hohe Besteuerung der Aktiengesellschaften im Vergleich zu Einzelunternehmen. Bis vor kurzer Zeit behinderte auch die unangenehme Doppelbesteuerung der Aktiengesellschaften. Auch im Vergleich zum Ausland bestand sehr hohe Besteuerung, so wurde schon 1904, anläßlich der Industrieenquete, darauf hingewiesen, daß damals Aktiengesellschaften in Österreich (Zisleithanien) mit 12% bis 25% besteuert wurden, im Deutschen Reich hingegen nur mit 4% bis 9%. Lange Zeit waren weiters sehr hohe Mindeststückelungen beim Aktiennominale vorgeschrieben, sodaß Wertpapiere für Kleinanleger nicht sinnvoll einsetzbar waren. Ζ. B. waren vor dem Ersten Weltkrieg pro Aktie 400 Kronen üblich. Um 1900 verdiente etwa ein subalterner Beamter als Akzessist jährlich 2.000 Kronen. Noch in den fünfziger Jahren lag das österreichische Aktiennominale bei mindestens 1.000 S, während im internationalen Vergleich auf der untersten Skala Finnland Aktienstückelungen bis 10 S kannte.
Finanzierungsstruktur und Kapitalmarkt in Österreich · 43 Tabelle 7: Börsenkapitalisierung in % des BIP
111
Großbritannien Schweiz Japan USA Niederlande Schweden Irland Belgien Dänemark Frankreich Norwegen Deutschland Spanien Italien Österreich Q: Aktienforum
106 86 70 66 63 40 36 33 33 32 24 23 17 16 (1997).
3. Die Verstaatlichung nach 1945 bereitete letzten Endes den Weg zu bedeutender Veränderung des Aktienmarktes. Von den 1945 an der Wiener Börse notierten Aktien, fielen zunächst die nichtösterreichischen fort und deren Unternehmen wurden dann mit der Machtübernahme der Kommunisten in den Volksdemokratien nationalisiert. Mit der Verstaatlichung in Österreich 1946/47 kamen etwa 73% des gesamten damaligen österreichischen Aktienkapitals in öffentliche Hand, rund ein Fünftel aller notierten Aktienwerte verschwanden vom Wiener Kursblatt. Die Privatisierung verstaatlichter Unternehmen, unter Raab/Kamitz um die Mitte der fünfziger Jahre propagiert und mit „Volksaktien" bei zwei Großbanken sowie einigen ehemaligen USIA-Betrieben der abgezogenen sowjetischen Besatzungsmacht durchgeführt, blieben Eintagsfliegen. Österreich hat sich international gesehen nach dem Auslaufen des Keynesianismus erst sehr spät zur Entstaatlichung entschlossen ( B a l t z a r e k , 1994, S. 151ff). Die sozialistisch-sozialdemokratische Tradition seit den Tagen von Schärf, Pittermann und Waldbrunner, aber auch die „austrokeynesianische" Politik hielten an der Verstaatlichung fest. Noch von dem sozialdemokratischen Finanzminister Lacina wird berichtet, daß er kein Volk von Aktiensparern wollte. 4. Ferner ist zu beachten, daß Österreich nach dem Zerfall der Donaumonarchie ein Land mit fast ausschließlich Klein- und Mittelbetrieben geworden ist, für die die Rechtsform der Aktiengesellschaft nicht sinnvoll anwendbar war und ist. Kleine offene Wirtschaften können große — für Aktiengesellschaften geeignete — Unternehmen nur unter bestimmten Bedingungen des Außenmarktes ausbilden. Der Zerfall des Binnenmarktes der Donaumonarchie und die ungünstige weltwirtschaftliche Situation der Zwischenkriegszeit behinderten den Aufbau kräftiger, international tätiger Unternehmen. Durch die Verstaatlichung sind außerdem gerade die größten Unternehmen lange Zeit dem Kapitalmarkt entzogen gewesen.
44 · Franz Baltzarek, Wolfgang Zipser 5. Österreich ist traditionell ein Land mit geringer Aktionärsdichte (vgl. Tabelle 6). Mit Ausnahme der großen Spekulationsperioden vor 1873 und nach 1919 spielten Aktien in der Veranlagung der Österreicher nur eine geringe Rolle. Erst ab 1890 bis zum Ersten Weltkrieg bildete sich auch in Österreich ein reger, gefestigter Aktien- und Industrieobligationenmarkt aus. Die Börsekapitalisierung erreichte damals ihren höchsten Wert, trotz der teilweise antikapitalistischen Politik. Die Dynamik des Industriekapitalismus war eben auch durch den Weg über die Börse charakterisiert. Bereits damals zeigte sich aber eine gewisse Bankenzentrierung des österreichischen Finanzsystems und das Ausweichen des Publikums in Richtung festverzinslicher Werte. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts hat der international anerkannte und auch in Westeuropa tätig gewesene Banker Karl Morawitz auf diese Umstände hingewiesen: das Publikum versteife sich auf nur einige wenige Aktien bekannter Gesellschaften, begnüge sich mit zuweilen gegenüber Westeuropa relativ hohen Zinssätzen bei Sparbucheinlagen und ziehe im übrigen Staatspapiere den Aktien wegen sicherer jährlicher Verzinsung vor {Morawitz, 1912, S. 24). Derzeit haben 4% der Österreicher in Aktien veranlagt, im Vergleich dazu 36% der US-Bürger. 6. Als institutionelle Anleger sind in Österreich Pensionskassen und Pensionsfonds - trotz hoher Zuwachsraten in den letzten Jahren erst im Aufbau, nach wie vor steht die Selbstversicherungssäule im Schatten der Sozialversicherung. Innerhalb der Veranlagungen von Versicherungen, Pensionsfonds wie auch der privaten Vermögensbildung spielen Aktien nach wie vor eine untergeordnete Rolle. In den USA hingegen kontrollieren Pensionskassen große Teile des Aktienmarktes und auch sonst ist die Streuung des Aktienbesitzes in der Bevölkerung groß. 7. Österreichische Unternehmen greifen seit Jahrzehnten lieber auf geförderte Kredite zurück. Die Angebotspalette diesbezüglich ist relativ groß, wird aber in Zukunft eher rückläufig sein. Geförderte Kredite sind für Unternehmer bisher billiger gewesen, und vor allem auch bequemer. Eine Reduktion dieser geförderten Kredite (mit Ausnahme der wohl auch weiterhin notwendigen Exportförderungskredite) wird sicherlich zur Belebung des Kapitalmarktes beitragen. Der Gang zum Kapitalmarkt der Börse ist notwendigerweise auch immer mit einer gewissen Offenlegung und Kontrolle der wirtschaftlichen Verhältnisse der Unternehmen verbunden (Gnan, 1990, S. 55ff). An diese neuen Verhältnisse werden sich die Unternehmer in Zukunft gewöhnen müssen. 8. Die Dominanz von Banken im österreichischen Finanzsystem ist groß. Die Entstehung der Bankenzentriertheit des Systems geht - wie in I und II gezeigt worden ist — weit in die Vergangenheit zurück. Sie ist insbesondere in der 2. Republik verstärkt worden durch die geförderten staatlichen Sonderkreditmaßnahmen. Diese wurden und werden von den Kreditinstituten verwaltet und sind auch Instrumente staatlicher Industriepolitik. Die staatlichen Kreditförderungen lagen seit jeher auch im Interesse der Banken, weil sie ihre Vorrangstellung in der Finanzintermediation gegen-
Finanzierungsstruktur und Kapitalmarkt in Österreich · 45 über dem Kapitalmarkt einzementieren halfen. Darüber hinaus haben die österreichischen Banken als Inhaber von großen Aktienpaketen seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine große Tradition. Als Gründungsbanken der Industrie behielten sie immer wieder eine große Zahl von Aktien in ihrem Portefeuille. Dies hatte seit jeher mehrere Ursachen. Einerseits blieben sie auf Aktien sitzen: die Risikoscheuheit der Österreicher, in Dividenpapiere zu gehen, war groß; es war auch die Unbekanntheit der gegründeten Unternehmen, die ausländische Investoren abschreckte. Andererseits aber war es immer wieder auch der Versuch der Banken, in den Industrien ein gewichtiges Wort mitzusprechen, große Aktienpakete in der Hand der Banken reduzierten die Möglichkeiten eines Einstiegs für das Publikum. 9. Die Börse als Institution des Kapitalmarktes ist dabei, eine neue Ausgestaltung zu erhalten: die traditionelle Wiener Börse im neuen Gewand, die ÖTOB seit 1991, die fit-Börse seit 1997. Die neue Wertpapieraufsicht ist eine wichtige organisatorische Verbesserung, die verbesserte Börsekultur, mehr Transparenz, Abbau der Enge des Aktienmarktes und mehr Bewegung bringen wird und soll. Erst das Aufbrechen der alten Strukturen durch den neuen Binnenmarkt in der EU, durch Globalisierung sowie Entstaatlichung und Privatisierung, durch die Veränderungen in der Vermögenshaltung angesichts der Pensionsreform und einer neuen Erbengeneration, macht den Weg frei zu neuen Dimensionen eines Kapitalmarktes, auf dem die Aktie zumindest wieder jenen Stellenwert einnehmen könnte, den sie vor dem Ersten Weltkrieg bereits hatte.
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Gedanken zum Refereesystem in ökonomischen wissenschaftlichen Zeitschriften Dieter Bös*) 1. Einleitung Rund 70% der ökonomischen wissenschaftlichen Zeitschriften wenden das sogenannte „Refereesystem" an 1 ). Danach werden bei einer Zeitschrift eingereichte wissenschaftliche Arbeiten typischerweise an zwei anonyme Gutachter geschickt, deren Stellungnahmen für die Entscheidung des Schriftleiters grundlegend werden und auch dem Autor als Grundlagen der Entscheidung zugesandt werden 2 ). Das Refereesystem hat den Diktator-Schriftleiter abgelöst, der ohne externe Expertenmeinung über Annahme und Ablehnung von Aufsätzen entschied. Bei ökonomischen wissenschaftlichen Zeitschriften ist kein besseres System für eine Schriftleitung denkbar 3 ). Bei einer generellen Zeitschrift könnte ein Schriftleiter gar nicht auf die Idee kommen, er sei über alle Teilgebiete der MikroÖkonomik und MakroÖkonomik vollständig informiert. Selbst bei spezialisierten Zeitschriften, etwa zur Finanzwissenschaft, Außenwirtschaftstheorie oder Arbeitsökonomik ist die Spezialisierung innerhalb der jeweiligen Gebiete inzwischen so weit fortgeschritten, daß eine Allzuständigkeit eines Schriftleiters ausgeschlossen werden muß. Dazu kommt die Internationalisierung unseres Faches, die zu einer hohen Zahl einschlägiger Aufsätze bei jeder relevanten Fragestellung führt, damit die wissenschaftliche Konzentration auf Spezialgebiete erzwingt und damit aber erneut die Allzuständigkeit eines Schriftleiters ausschließt. In der Volkswirtschaftslehre gilt inzwischen die Zahl der Aufsätze in referierten Journalen als das maßgebliche Kriterium für die Beurteilung der
*) Für wertvolle Diskussionsbeiträge zu einer Erstfassung dieses Beitrags danke ich Manfred J. Holler, Rudolf Richter, Christian Scheer und Christian Seidl. ') Miller - Punsalan (1988) bieten einen Überblick über 215 ökonomische Journale (davon 119 aus den Vereinigten Staaten). Von diesen Zeitschriften wenden 150 das Refereesystem an, das sind 70%. 2 ) Dies ist eine hinreichend genaue Arbeitsdefinition. Zu detaillierter Diskussion über die Definition dessen, was eine referierte Zeitschrift ist, siehe Miller - Punsalan (1988, S. viii-xi). 3 ) Anders etwa bei juristischen wissenschaftlichen Zeitschriften im deutschen Sprachraum, aufgrund der nationalen Begrenztheit der Rechtsordnung und damit auch des Kreises der potentiellen Referees.
48 · Dieter Bös wissenschaftlichen Leistung4), wobei noch ein striktes Ranking zwischen den verschiedenen Journalen vorgenommen wird5). Bei einer solchen Einschätzung wissenschaftlicher Leistung werden Bücher oft mit dem Stellenwert Null angesetzt, ebenso Beiträge in Sammelwerken. Der hohe Stellenwert, der damit dem Refereesystem zugewiesen wird, ist einer der Gründe, warum es mir zweckmäßig erscheint, in diesem Beitrag eine Vielzahl mich persönlich bewegender Probleme des Refereesystems zu behandeln. Bei dem vorliegenden Aufsatz handelt es sich um einen subjektiven Bericht. 1998 ist es gerade 25 Jahre, daß ich Schriftleiter der Zeitschrift für Nationalökonomie wurde. Als eine der ersten Entscheidungen als Schriftleiter habe ich damals das Refereesystem in der Zeitschrift strikt eingeführt, und dies ist sicher einer der entscheidenden Gründe für die Qualitätsverbesserung der Zeitschrift seit 1973. Ein zweiter Grund liegt in dem entschiedenen Ubergang zu Englisch als alleiniger Sprache der inzwischen als Journal of Economics titulierten Zeitschrift. Dies attrahierte das internationale Autorenfeld und ermöglichte auch die vollständige Internationalisierung des Refereesystems, da englischsprachige Aufsätze weltweit verschickt werden können. „Subjektiver Bericht" bedeutet, daß in vielen Passagen dieses Aufsatzes meine ganz persönliche Meinung zum Ausdruck gebracht wird. Dies erklärt auch die weitreichende Verwendung der Ich-Form in dieser Arbeit. Sollte der Leser anderer Meinung sein, so würde mich seine Gegenposition interessieren. Zuschriften sind also erwünscht, gerade auch kritische. Abbildung 1: Der ASRS-Zyklus1) Inhalte dieses Aufsatzes: Abschnitt Abschnitt Abschnitt Abschnitt
2: 3: 4: 5:
Α schickt Aufsatz an S, S schickt Aufsatz an R, R schickt Aufsatz an S, S entscheidet über Ablehnung, Revision oder Druck
S
s I
Druck
') A . . . Autor, S . . . Schriftleiter, R . . . Referee.
4 ) International wird bei sehr qualifizierten Wissenschaftlern auch eine Bewertung danach vorgenommen, wie oft Arbeiten in referierten Journalen zitiert werden, da der Social Sciences Citation Index (SSCI) solche Zahlen liefert. Eine solche Studie ist etwa Medoff (1989). Für Details zu diesem SSCI siehe auch Blaug (1986, S. viii-ix). Eine Auswertung des SSCI ist auch aufschlußreich für Vergleiche von Forschungsaktivitäten zwischen europäischen Ländern und zwischen den Spitzenuniversitätsinstituten in europäischen Ländern (siehe etwa Kirman Dahl, 1994, speziell S. 514-517). Zur kritischen Auseinandersetzung mit solchen Vergleichen siehe etwa Johnes (1990) am Beispiel Großbritanniens. 5 ) Hiezu siehe zuletzt Laband - Piette (1994A).
Gedanken zum Refereesystem · 49 Die vorliegende Arbeit gliedert sich nach dem ASRS-Zyklus, den ein Aufsatz durchläuft, wenn er bei einer wissenschaftlichen Zeitschrift eingereicht wird (Abbildung 1). In einem Schlußabschnitt werden dann Vor- und Nachteile des Refereesystems abgewogen.
2. Der Autor i m ASRS-Zyklus 2.1 Ersteinreichung Das Refereesystem hat direkte Auswirkungen, wenn es um das Verhalten von Autoren bei der Ersteinreichung geht. Ich sehe hiebei vor allem zwei Wirkungen: 1. Gleichzeitiges Einreichen desselben oder eines sehr ähnlichen Aufsatzes bei mehreren Zeitschriften lohnt sich nicht6). Ein solches Verhalten wird nämlich im Refereesystem meist schnell entdeckt. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß die Schriftleiter mehrerer Zeitschriften dieselbe Person als Referee bitten, vor allem deswegen, weil sie ein besonderer Spezialist des betreffenden Themas ist. Den eklatantesten solchen Fall erlebte ich voriges Jahr, als ein Autorenteam gleichzeitig fünf (!) ähnliche Aufsätze bei verschiedenen referierten Zeitschriften einreichten, die wegen der Enge der Thematik alle bei ein- und demselben Referee nachfragten, der daraufhin auf das generelle Problem aufmerksam machte (mit der köstlichen Formulierung: „Obviously, there are too many papers chasing too few ideas"). Im System des Diktator-Schriftleiters wird ein solches Problem erst ex post entdeckt, wenn zwei oder mehrere sehr ähnliche Arbeiten bereits erschienen sind, oder wenn bei gleichzeitiger Einreichung des gleichen Aufsatzes der Verfasser plötzlich einen bereits zur Veröffentlichung angenommenen Aufsatz zurückzieht. 2. Ein unvermeidlicher Mißbrauch des Refereesystems besteht darin, daß gerade junge Autoren ihre Arbeiten an renommierte Zeitschriften, wie etwa Econometrica oder American Economic Review, schicken, wissend, daß sie sicher abgelehnt werden, aber auch wissend, daß sie sehr qualifizierte Refereeberichte erhalten werden, die ihnen bei der weiteren Umarbeitung des Aufsatzes nützlich sein werden7). Für den Schriftleiter und die Referees ist dies natürlich unerfreulich, weil es den Arbeitsaufwand künstlich e
) In letzter Zeit gab es auch eine Diskussion darüber, ob gleichzeitiges Einreichen desselben Manuskriptes bei mehreren Zeitschriften zugelassen werden solle. Ich selbst möchte mich Pressmans (1994) Position anschließen, der sehr fundiert gegen dieses Mehrfacheinreichen plädiert. Nicht überzeugt hat mich das Modell von Ng (1991), in dem Mehrfacheinreichungen optimal sind. 7 ) Im Zitationsranking höher bewerteter Zeitschriften gelingt es, im Zitationsranking höher bewertete Wissenschaftler als Referees zu gewinnen, die dann - hoffentlich - auch qualitativ höherwertige Refereeberichte schicken. Aus diesem Grunde empfiehlt auch Hamermesh (1992) in seinem "Young Economists' Guide", bei Publikationsversuchen stets mit einem möglichst hoch gereihten Journal zu beginnen.
50 · Dieter Bös aufbläht. Andererseits entstehen aber positive externe Effekte, denn die jungen Autoren profitieren von den Referees dieser besonders qualifizierten Zeitschriften. Insofern würde ich dieses Vorgehen nicht allzu negativ bewerten.
2.2 Einreichen einer revidierten Version Die sicherste Methode, die Ablehnung einer revidierten Version zu erreichen, besteht darin, den Aufsatz kaum zu revidieren, und in einem Begleitschreiben zu verstehen zu geben, daß die dummen Referees die Thesen des klugen Autors eben nicht verstanden haben. Dies kränkt den Schriftleiter, den ja die culpa in eligendo für diese als dumm bezeichneten Referees trifft, und es kränkt auch die betreffenden Referees. Der Weg zur Akzeptanz einer revidierten Version beginnt dagegen damit, daß der Autor die Refereeberichte ernst nimmt und seine Arbeit gründlich umarbeitet. Die Referees sind eine Stichprobe aus der potentiellen Leserschaft eines Aufsatzes: Wenn ein Referee als Leser des Aufsatzes etwas nicht versteht, dann war mit Sicherheit die Präsentation zu wenig klar und muß verbessert werden (auch wenn der Autor selbst von der Schlüssigkeit seiner Formulierung überzeugt war und ist). Liest man einen aufgrund von Refereeberichten revidierten Aufsatz nach einigen Jahren wieder, so merkt man meist selbst, daß der Aufsatz durch die Umarbeitung gewonnen hat. Es ist auch empirisch bewiesen, daß die Qualität 8 ) wissenschaftlicher Arbeiten mit der Revision aufgrund von Refereeberichten steigt (Laband, 1990). Es ist inzwischen üblich geworden, bei Einreichen einer revidierten Version auf eigenen Beilageblättern anzugeben, in welcher Form und in welchem Ausmaß auf die Empfehlungen der Referees eingegangen wurde. Dies hilft nicht nur dem Schriftleiter, die beiden Versionen des Aufsatzes zu vergleichen, es ist auch dem Referee ein wichtiger Hinweis darauf, daß der Autor die Empfehlungen ernst genommen hat. Typischerweise sind bei entsprechender Begründung auf einem solchen Beilageblatt die Referees auch bereit zu akzeptieren, wenn ein oder zwei Punkte ihres Berichts nicht zur Umarbeitung geführt haben. Die sorgfältige Begründung des Nichtbefolgens von Refereeratschlägen ist übrigens der einzige Ausweg, der einem Autor bei sich widersprechenden Vorschlägen mehrerer Referees bleibt. Manche Schriftleiter berichten allerdings davon, daß Autoren in ihren Begleitbriefen den Referees so schmeichelten, daß diese bei der zweiten Durchsicht und Begutachtung des Manuskripts weit weniger kritisch waren als bei der ersten. Ich selbst habe in dieser Hinsicht keine negativen Erfahrungen gemacht, würde aber in einem solchen Falle die entsprechenden Begleitbriefe nicht an die Referees weiterleiten.
8
) Gemessen anhand der Häufigkeit, mit der ein Aufsatz zitiert wird.
Gedanken zum Refereesystem · 51
3. Die Auswahl der Referees durch den Schriftleiter 3.1 Ersteinreichung Die wichtigste Aufgabe eines Schriftleiters besteht darin, für eingereichte wissenschaftliche Arbeiten geeignete Referees zu finden 9 ). Autoren glauben meist, der Kreis potentieller Referees sei sehr eng. Das ist grundlegend falsch. Bei einer internationalen Zeitschrift ist auch das „Refereeteam" international 10 ). Der Aufsatz eines italienischen Autors kann durchaus an einen japanischen und einen amerikanischen Referee gehen, an die der Autor nie gedacht hätte. Der Schriftleiter hat natürlich Faustregeln, nach denen er die Referees auswählt, aber es gibt viel mehr solche Regeln, als die Autoren meist glauben11). Fragen wir uns zunächst, wo ein Schriftleiter seine Referees finden kann. Der Kreis ist weit und umfaßt folgende Personengruppen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): • in den Literaturangaben des Aufsatzes zitierte Autoren, die jüngst in diesem Spezialgebiet gearbeitet haben12), • Wissenschaftler, die auf einem jüngsten Kongreß einen Vortrag zum betreffenden Thema gehalten haben 13 ) (dieser Unterpunkt ist besonders wichtig, weil er zahlreiche junge Referees ins Spiel bringt, die man sonst nicht so gut kennt), • Wissenschaftler, die in anderen referierten Zeitschriften jüngst zum Thema geschrieben haben (das Journal of Economic Literature ist in dieser Hinsicht eine Fundgrube; aber auch über Internet lassen sich solche Wissenschaftler ausfindig machen), • Autoren, die gerade einen thematisch einschlägigen Aufsatz bei der betreffenden Zeitschrift eingereicht haben oder vor kurzem publiziert haben,
9 ) In seiner empirischen Studie kommt Laband (1990, S. 341) zu folgendem Ergebnis: "Referees' comments demonstrate a positive impact on subsequent citation of papers, while comments made by editors show no such impact. Value-adding by editors appears to derive principally from efficient matching of papers with reviewers." 10 ) Für Details der regionalen Aufteilung der Referees der von mir herausgegebenen Zeitschrift siehe unten Tabelle 2. ")Eine interessante empirische Untersuchung zu dieser Frage liefert Hamermesh (1994, speziell S. 155-158). Vier allgemeine und drei spezielle Journale lieferten ihm Material über jeweils 50 Refereebitten (Ersteinreichung). Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung bestätigen die im Text aufgestellte Hypothese. Hamermesh stellt zum einen fest:". . . referees are disproportionately the top people in their speciality. But editors also rely heavily on scholars to whom they have easy access" (S. 156). Er untersucht des weiteren, ob es wirklich stimmt, daß wenig bekannte (junge) Forscher weniger gute Referees erhalten, auf deren Meinung der Schriftleiter weniger gibt. Nach Ausschluß statistischer "Ausreißer" kann Hamermesh diese Hypothese falsifizieren:". . . the matching process appears random" (S. 157). 12 ) Wenn jemand daher bewußt seine Feinde nicht zitiert, kann dies gegebenenfalls den gewünschten Erfolg haben, voreingenommene Referees auszuschalten. Siehe aber unten Fußnote 14. 13 ) Ein guter Schriftleiter sammelt daher Kongreßprogramme.
52 · Dieter Bös • Mitherausgeber der Zeitschrift, • Assistenten oder Bekannte der Mitherausgeber, die diese dem Schriftleiter bekannt gegeben haben, • Fakultätskollegen oder Assistenten, • Freunde, • Wissenschaftler, die einem als Ersatz angegeben werden, weil der ursprünglich Angeschriebene keine Zeit oder keine Lust hat, den Aufsatz selbst zu referieren 14 ). Fragen wir uns als nächstes, wie die thematische Ausrichtung der Referees vorgenommen werden sollte. Verzerrungen sollten hiebei nach Tunlichkeit vermieden werden. Dies bedeutet etwa, daß man neo-ricardianische Aufsätze eigentlich von Neo-ricardianern referieren lassen und nicht justament an einen Kollegen in Chicago schicken sollte und vice versa. Andererseits muß hiebei eine Kartellbildung von Autoren und Referees vermieden werden und diese Gefahr ist groß, wenn es um sehr spezialisierte Aufsätze geht. Bei einem Aufsatz über Sraffa oder über das Goodwin-Modell weiß der Verfasser von vornherein, daß er in vielen Zeitschriften gar keine Chance hat (was natürlich bei aufgeschlossenen Schriftleitern ohne ideologische Scheuklappen nicht der Fall sein sollte). Daher versammeln sich die wenigen Autoren des betreffenden Forschungsgebiets im Wartesaal der wenigen Zeitschriften, bei denen sie eine Chance sehen. Besteht man nun in einem solchen Fall darauf, wieder nur Angehörige dieses Gebiets als Referees zu bitten, so sind diese Referees typischerweise gerade im Wartesaal anwesend und wissen das auch voneinander. Hier entstünde ein Kartell; die Außenkontrolle gegenüber einer Gruppe von Wissenschaftlern wäre dann trotz Refereesystem nicht mehr gegeben. In solchen Fällen empfiehlt es sich, zwar als ersten Referee einen engeren Angehörigen dieses Gebiets zu wählen 15 ), ihm aber als zweiten Referee ganz bewußt einen Außenseiter zur Seite zu stellen. Allerdings muß man von diesem Außenseiter wissen, daß er die in Frage stehende Forschungsrichtung nicht von vornherein ablehnt, wie gut der Aufsatz auch nach richtungsimmanenter Bewertung sein möge. Es gibt auch Probleme bei der regionalen Auswahl der Referees. Bestimmte Probleme, die für das Verständnis europäischer Wirtschaften wesentlich sind, bleiben US-amerikanischen Wissenschaftlern verschlossen 16 ), und wichtige ökonomische Modelle kommen daher nicht zum Zuge, wenn amerikanische Referees herangezogen werden. Die Theorie der Festpreisgleichgewichte war ein gutes Beispiel. Ich selbst habe negative Erfahrungen gesammelt, als ich darüber schrieb, daß Wirtschaftspolitiker fallweise öffentliche M
) Der nichtzitierte Feind findet sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf dieser Liste des nicht zur Beurteilung bereiten Wissenschaftlers. 15 ) Vertreter ideologie-beeinflußter Forschungsbereiche vermuten übrigens stets ideologische Gründe, wenn sie einen negativen Refereebericht erhalten, auch wenn dieser von einem Angehörigen der gleichen ideologischen Richtung stammt und eben nachweist, daß der Aufsatz schwerwiegende logische Fehler aufweist oder selbst für einen Vertreter der betreffenden Richtung einfach langweilig ist. 16 ) Zu dieser Problematik siehe Frey et al. (1984) sowie Frey - Eichenberger (1993).
Gedanken zum Refereesystem · 53 Preise verzerren, um den Verbraucherpreisindex niedrig zu halten. Beide (amerikanischen) Referees schrieben, ich hätte da zwar ein nettes Modell, aber nie (sie!) würde sich ein Wirtschaftspolitiker so verhalten, und daher müsse der Aufsatz eben abgelehnt werden. Beide Referees der englischen Zeitschrift, die den Aufsatz schließlich veröffentlichte, betonten dagegen in ihren Stellungnahmen, daß es sich hier um ein gerade für Großbritannien (damals der Heath-Regierung) sehr relevantes Problem handle17). Die regionale Auswahl von Referees geschieht offenbar meist unbewußt. Wenn ein Schriftleiter nachdenkt, fallen ihm eben zunächst Wissenschaftler seines eigenen Landes als potentielle Referees ein. Autoren selbst zitieren wohl auch überproportional Wissenschaftler des eigenen Landes und erhöhen damit die Wahrscheinlichkeit, einen Referee aus dem eigenen Land zu erhalten. Dieses Problem wurde zuletzt — auch in der deutschen Tagespresse — intensiv am Beispiel der European Economic Review diskutiert. Hauptschriftleiter dieser Zeitschrift ist seit einiger Zeit ein Franzose. Der Vorwurf lautete nun, daß ein französischer Autor bei dieser Zeitschrift eine größere Chance habe, daß sein Aufsatz angenommen werde als etwa ein deutscher Autor. Grundlage dieses Vorwurfs war die regionale Streuung der Akzeptanz eingereichter Aufsätze, wie sie in Tabelle 1 wiedergegeben wird. Tabelle 1: European Economic Review, Entscheidungsfälle und Akzeptanzraten nach Ländern 1990 Entscheidungs- Akzeptanzraten fälle Benelux Deutschland Frankreich Italien Skandinavien Großbritannien USA Rest Insgesamt
1994 Entscheidungs- Akzeptanzraten fälle
35 21 12 8 10 37 79 78
14,3 4,8 50,0 25,0 30,0 13,5 15,2 11,5
48 18 25 19 29 55 90 91
14,6 11,1 24,0 10,5 13,8 10,9 13,5 6,6
280
16,1
375
12,0
Q: Report of the Editors of the European Economic Review: 1994, European Economic Review, 1996, 40, S. 1156-1157. Die angegebene Quelle enthält auch die entsprechenden Daten für 1991, 1992 und 1993. Die absoluten Zahlen für die Entscheidungsfalle errechnen sich aus den Gesamtzahlen, obige Quelle, S. 1156, mal den auf S. 1157 angegebenen Prozentwerten.
Zunächst könnte man natürlich überlegen, ob der Vorwurf nicht überhaupt falsch ist. Schließlich ist die absolute Zahl der akzeptierten französischen Arbeiten relativ niedrig: 1994 ergab sich bei einer Annahme von 6 aus 25 eingereichten Arbeiten eine Akzeptanzrate von 24,0%. Zum anderen schwanken die Akzeptanzraten sehr stark, was bei den relativ kleinen Zah17
) Bös (1978).
54 · Dieter Bös len auch zu erwarten ist. Aber trotz aller Schwankungen sind die Akzeptanzraten französischer Arbeiten stets die höchsten aller von Europäern eingereichten Arbeiten. Wir müssen daher doch die Frage stellen, wodurch eine solche Verzerrung zustande kommen kann. • Zum einen wäre es möglich, daß der französische Schriftleiter bei den Entscheidungen über Annahme oder Ablehnung parteilich ist, etwa im Sinne einer DeGaulleschen Kulturpolitik agiert. Ich möchte diese Erklärung aus jahrelanger persönlicher Kenntnis des französischen Schriftleiters ausdrücklich ausschließen. • Zum anderen könnte es möglich sein, daß französische Autoren ihre guten Aufsätze lieber zu einem französischen Schriftleiter (EER) schicken, als sie von einem amerikanischen Schriftleiter (AER) nach Monaten der Beurteilung abgelehnt zu erhalten. • Als drittes bleibt die für unser Thema so relevante Erklärung übrig, daß der französische Schriftleiter überproportional französische Referees heranzieht, die ihrerseits auch nicht parteilich agieren, aber doch eben Probleme für wichtig finden, die hauptsächlich französische Autoren behandeln, und auch die Gedankenführung französischer Autoren automatisch klarer finden als die von nichtfranzösischen Autoren. (Für einen französischen Referee ist das schlechte Englisch eines französischen Autors besser verständlich als das schlechte Englisch eines deutschen Autors, vielleicht sogar als das gute Englisch eines britischen Autors.) Als Finanzwissenschaftler sieht es der Verfasser dieser Arbeit mit Bedauern, daß das Journal of Public Economics, das bisher von zwei englischen Hauptschriftleitern geführt wurde, nun zwei amerikanische Hauptschriftleiter bekommt. Wieweit sich die zwei europäischen Ko-Schriftleiter durchsetzen werden, die den beiden Amerikanern an die Seite gegeben werden, wird erst noch zu sehen sein. Meines Erachtens wird hier vieles an Einseitigkeit ohne jede böse Absicht entstehen. So ist einer der beiden neuen amerikanischen Schriftleiter dem National Bureau of Economic Research (NBER) in Cambridge, MA, eng verbunden. Er kann es gar nicht verhindern, daß andere NBER-Wissenschaftler glauben, jetzt größere Chancen für eine Veröffentlichung in diesem Journal zu haben als früher. Die Zahl der beim Journal of Public Economics eingereichten NBER-Aufsätze wird daher sprunghaft zunehmen. Und als beste Referees von NBER-Aufsätzen werden dem betreffenden Schriftleiter wiederum andere NBER-Wissenschaftler einfallen. Alles in bester Ordnung, wenn man diese Art wissenschaftlicher Arbeit besonders schätzt. Aber weniger in Ordnung, wenn man überlegt, welchen anderen wissenschaftlichen Ausrichtungen der Finanzwissenschaft es nun wesentlich erschwert werden wird, im Journal of Public Economics zu publizieren.
3.2 Einreichen einer revidierten Version Wird eine revidierte Version einer Arbeit eingereicht, so muß sich der Schriftleiter zunächst fragen, ob er diese Version neuerlich einem Referee-
Gedanken zum Refereesystem · 55 verfahren unterzieht. Dies ist nicht unbedingt erforderlich. Wenn die von den Referees beim ersten Durchlaufen des ASRS-Zyklus geforderten Revisionen nur geringfügig sind, kann der Schriftleiter selbst leicht nachprüfen, ob die Revision zufriedenstellend ist. Auch bei etwas weitergehender Revision ist ein solches Verfahren oft noch möglich und im Interesse der Schnelligkeit der Publikation empfehlenswert. Der Autor kann durch detaillierte Darlegung seiner Änderungen gegenüber der Erstfassung dazu beitragen, eine zweite Versendung an Referees zu vermeiden, und die Annahme seiner Arbeit beschleunigen. Anders ist es, wenn die Referees eine grundlegende Umarbeitung verlangten, wenn deutlich ist, daß der Autor die Refereeberichte nicht ernst genommen hat (also etwa glaubt, zwei Seiten grundlegender Bedenken eines Referee mit einer kurzen Ergänzungsfußnote abtun zu können). In diesem Fall geht die revidierte Fassung der Arbeit neuerlich in den Revisionsprozeß. Grundsätzlich sollten hiebei die gleichen Referees gefragt werden wie beim ersten Mal. Nur so ist ja gesichert, daß der Refereeprozeß konvergiert und der Autor nicht im Kreis herumgeführt wird.
4. Der Referee 4.1 Der Wissenschaftler als potentieller Referee Wissenschaftler, die von einem Schriftleiter um Refereetätigkeit gebeten werden, können darauf in verschiedener Weise reagieren. Hamermesh (1994, S. 158-160) unterscheidet sehr plastisch „Doers", „Refusers" und „Losers". „Doers" schreiben einen Refereebericht, und zwar meist innerhalb der ersten zwei Monate nach Anschrift oder unmittelbar nach der Mahnung, die ich nach genau zwei Monaten verschicke. „Refusers" antworten umgehend, daß sie der Refereebitte nicht entsprechen können, weil sie keine Zeit haben, unzuständig sind18) oder sich befangen fühlen. Sehr oft erfolgt dies durch einen einfachen Vermerk auf dem Anschreiben, manchmal einfach nur „Sorry, no time". Das eigentliche Problem sind die „Losers", die auf das Anschreiben und die Mahnung einfach nicht reagieren. Hamermesh (1994, S. 159) vermerkt: „. . . they seemingly lose the papers they are sent". Während die Ablehnung der Refereetätigkeit es dem Schriftleiter erlaubt, rasch einen Ersatzreferee anzuschreiben, lähmen die „Losers" den Betrieb. Ich habe dieses Problem anhand einer Stichprobe der ersten 50 im Jahre 1996 beim Journal of Economics (Zeitschrift für Nationalökonomie) erstmals eingereichten Aufsätze überprüft. Ich habe den Beginn des Jahres 1996 genommen, weil ein Brief mit Refereebitte, geschrieben Anfang 199619), und bis zur Fertigstellung dieses Aufsatzes Mitte April 1997 nicht beantwortet, mit
18
) Etwa, weil sie inzwischen ein anderes Spezialgebiet bearbeiten. ) Mit einer expliziten Mahnung nach zwei Monaten.
19
56 · Dieter Bös Fug und Recht als „lost" bezeichnet werden kann. Für die Beurteilung dieser 50 Aufsätze schrieb ich 155 Wissenschaftler mit der Bitte um Refereetätigkeit an. Davon waren 73% Doers, 12% Refusers und 15% Losers20). Tabelle 2: Regionale Verteilung der Loser Zahl der Loser
Refereebitten
Loserquote (%)
USA Deutschland Großbritannien Australien Frankreich Japan Niederlande Rest
11 6 2 1 1 1 1 0
33 43 9 4 8 10 6 42
33,3 14,0 8,0 25,0 12,5 10,0 17,0 0,0
Insgesamt
23
155
15,0
Q: Eigene Berechnung.
Vergleichen wir dieses Ergebnis mit dem, das Hamermesh (1994) für seine Stichprobe von sieben amerikanischen Zeitschriften ermittelt hat: Bei ihm waren 78% Doers, 17% Refusers und nur 5% Losers. Beide Stichproben bestätigen, daß die meisten Wissenschaftler einer Bitte um Refereetätigkeit entsprechen. Die Zahl der Loser ist allerdings bei Hamermesh signifikant niedriger. Dies kann wohl damit erklärt werden, daß die Stichprobe von Hamermesh sehr hochrangige amerikanische Zeitschriften enthält, auf deren Refereebitte die entsprechenden amerikanischen Wissenschaftler reagieren, während sie die Refereebitte eines im deutschsprachigen Raum erscheinenden Journals eher zu ignorieren bereit sind. Denn gemessen an der Zahl der Refereebitten ist das Loser-Problem in meiner Stichprobe offenbar ein Amerikaner-Problem: Jede dritte Refereebitte an einen Amerikaner war „lost", aber nur jede siebente an einen Deutschen. Tabelle 2 gibt einen genaueren Überblick.
4.2 Warum schreibt ein Referee e i n e n Refereebericht? Wird man von einer wissenschaftlichen Zeitschrift um einen Refereebericht gebeten, so kann man, wie oben ausgeführt, den Bericht schreiben, gleich ablehnen oder die Sache verdrängen. Wenn man ihn schreibt, warum schreibt man ihn eigentlich? Geldmäßige Anreize werden meist nicht geboten. Finanzielle Prämien, die von einigen Zeitschriften für einen Refereebe-
20 ) Zwei als Referees gebetene Wissenschaftler wurden von mir zu einem späteren Zeitpunkt ausdrücklich von der Bitte um Refereetätigkeit wieder entbunden. Diese beiden sind in der Zahl von 155 nicht mitgezählt.
Gedanken zum Refereesystem · 57 rieht ausgesetzt werden, sind viel zu niedrig, um das Arbeitsleid der Erstellung eines Refereeberichts aufzuwiegen 21 ). Ein materieller Anreiz dafür, Refereeberichte zu schreiben, besteht eigentlich nur für die Mitherausgeber einer wissenschaftlichen Zeitschrift, die als Entgelt für ihre Mitherausgeberschaft ein Freiexemplar der Zeitschrift erhalten, das sie bei Verweigerung der Refereetätigkeit nach einiger Zeit verlören 22 ). Finden wir hier also einen Bereich vor, in dem Ökonomen ohne ökonomische Anreize tätig werden? Jeder Schriftleiter macht die Erfahrung, daß die meisten um eine Refereetätigkeit ersuchten Wissenschaftler dieser Bitte entsprechen (siehe oben). Die wichtigsten Gründe, warum Wissenschaftler viel Zeit und Mühe verwenden, Refereeberichte zu schreiben, sind wohl die folgenden: • Wissenschaftler fühlen sich der Wissenschaftlichkeit verpflichtet und wollen, daß nur gute Aufsätze veröffentlicht werden. Sie sind bereit, zu dieser öffentlichen Aufgabe beizutragen und schreiben daher Refereeberichte. Sie geben hiebei uneigennützige Verbesserungsvorschläge beziehungsweise empfehlen Ablehnung, wenn sie nach gründlicher Prüfung keine Verbesserungsmöglichkeiten sehen. Solche Referees verhalten sich wie Agenten der mikroökonomischen Theorie, die an Maximierung der Wohlfahrt interessiert sind. Nach meiner langjährigen Erfahrung ist dieser Typ sehr häufig 23 ). • Routine-Referees haben keine so hehren Beweggründe, sondern haben sich einfach irgendwann entschlossen, im Wissenschaftsbetrieb mitzumachen und beurteilen dann jedes Manuskript, das im eigenen Arbeits- bzw. Interessengebiet liegt. • Machtorientierte Wissenschaftler schreiben Refereeberichte, um ihre wissenschaftliche Richtung durchzusetzen. Erforderlichenfalls werden sie daher einen nicht so qualifizierten Aufsatz ihrer eigenen „Schule" zur Veröffentlichung empfehlen, einen relativ guten Aufsatz der Gegenrichtung dagegen zur Ablehnung vorschlagen. Ein machtorientierter Wissenschaftler muß aber noch nicht blind sein, er kann also sehr wohl bei wirklich schlechten Aufsätzen der eigenen Richtung auf Ablehnung plädieren und bei sehr guten Aufsätzen der Gegenrichtung die Veröffentlichung empfehlen. Dieser Typ von Wissenschaftler findet sich vor allem in ideologisch determinierten Wissenschaftlerriegen, gleichgültig, ob ihr zentraler Ort nun Bremen oder Chicago ist. Auch dieser Typ von Referee ist relativ häufig.
21 ) Auch eine niedrige Prämie vermag aber die Refereetätigkeit zu beschleunigen, wenn sie etwa nur dann gezahlt wird, wenn der Bericht innerhalb von sechs Wochen abgeliefert wird. Siehe dazu Abschnitt 4.5.2. 22 ) Ein Jahresabonnement des Journal of Public Economics kostet gegenwärtig etwas über 2.360 HF1 (einschließlich Steuern). Auch wenn ein privater Subskribent hierauf einen Nachlaß erhält, ist ein Gratisabonnement dieser Zeitschrift durchaus ein materieller Anreiz. Deswegen gibt etwa das Scandinavian Journal of Economics bei schneller Refereetätigkeit ein einzelnes Jahresabonnement als Prämie. 23 ) Vgl. auch das in Fußnote 26 wiedergegebene Zitat von Deaton et al. (1987).
58 · Dieter Bös • Der machtorientierte Referee wird zum rein ideologischen Referee, wenn er die Ideologie so weit internalisiert hat, daß er nur noch Aufsätze der eigenen Richtung für gut finden kann (hier aber auch alle), während er ebenso automatisch alle Aufsätze anderer Richtungen schlecht findet. Dieser Typ ist relativ selten und disqualifiziert sich in seiner Einseitigkeit selbst. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen persönliche Gründe dafür ausschlaggebend sind, einen Refereebericht zu verfassen: • Autoren, die gerade bei der betreffenden Zeitschrift einen Aufsatz im Begutachtungsverfahren haben, schreiben Refereeberichte über andere Aufsätze, weil sie es vermeiden wollen, den Schriftleiter zu verärgern. • Autoren, die gerade in der betreffenden Zeitschrift einen Aufsatz veröffentlicht haben, schreiben Refereeberichte, weil sie eine Zeitschrift, in der sie gerade selbst publiziert haben, qualitativ hochschätzen und in ihrem eigenen Interesse zur Qualitätsverbesserung dieser Zeitschrift beitragen wollen.
4.3 Sollte das Verfahren doppelt-blind sein? Der Referee wird durch seine Anonymität abgesichert. Persönliche Animositäten, die sonst unvermeidlich wären, werden im Falle eines negativen Berichts dadurch vermieden, daß der Autor den Namen des Referees nicht kennt. In jüngster Zeit ist viel diskutiert worden, wieweit Objektivität im Refereesystem erfordere, daß nicht nur der Autor den Namen des Referees nicht kennt, sondern daß auch der Referee den Namen des Autors nicht kennt double-blind, system, doppelt-blindes Verfahren). Immerhin wendet etwa die Hälfte der referierten ökonomischen Zeitschriften dieses Verfahren an24). Kann ein solches Verfahren weniger bekannte Autoren oder Autoren weniger bekannter Universitäten vor negativer Voreingenommenheit der Referees schützen? Kann zum Beispiel eine mögliche Benachteiligung weiblicher Autoren durch männliche Referees verhindert werden (bzw. eine Bevorzugung durch weibliche Referees)? Die American Economic Review hat zu diesem doppelt-blinden System eine Fallstudie durchgeführt: Zwei Jahre hindurch wurde nach einem Zufallsprozeß die Hälfte der eingereichten Aufsätze nach einem doppelt-blinden System bearbeitet, die andere Hälfte nach einem nur einfach-blinden System25). Das Ergebnis war wie folgt: Im doppelt-blinden System wurden weniger Aufsätze angenommen, und die Refereeberichte waren kritischer. Hiebei bestand kein signifikanter Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Autoren. Bei Autoren hochrangiger Universitäten und Autoren ganz 24
) Von den in Miller - Punsalan (1988) erfaßten 150 referierten ökonomischen Zeitschriften wenden 73 Zeitschriften ein doppelt-blindes System an. 25 ) Das Experiment fand statt von Mai 1987 bis Mai 1989. Insgesamt betraf es rund 1.500 Manuskripte. Für Details siehe Blank (1991).
Gedanken zum Refereesystem · 59 niedrigrangiger Hochschulen hatte der Übergang zum doppelt-blinden System praktisch keinen Einfluß auf die Refereetätigkeit. Autoren von Hochschulen nahe der Hochrangigkeit und Autoren nichtakademischer Institutionen verzeichnen beim doppelt-blinden System niedrigere Annahmequoten. Meiner Meinung nach ist ein doppelt-blindes System unnötig. Ich persönlich glaube nach vielen Jahren als Schriftleiter nicht daran, daß Referees die Autoren nach persönlichen Kriterien beurteilen. Sollte eine zu enge persönliche Nahbeziehung zum Autor bestehen, so lehnen Referees typischerweise aus Befangenheitsgründen ab, tätig zu werden 26 ). Persönliche Animositäten sind typischerweise Animositäten gegenüber einer bestimmten wissenschaftlichen Richtung. In einem solchen Falle hilft es aber nichts, dem Referee den Namen des Autors zu verheimlichen. Daß beim doppelt-blinden System die Annahmequoten zurückgehen und die Refereeberichte kritischer werden, scheint mir ebenfalls kein Argument für dieses Verfahren zu sein. Die Annahmequoten bei den erstklassigen Zeitschriften sind schon jetzt sehr niedrig und die Refereeberichte sehr kritisch. Ich glaube nicht, daß hier eine Verschärfung nötig ist. Daß gerade Autoren von Hochschulen nahe der Hochrangigkeit und Autoren nichtakademischer Institutionen beim doppelt-blinden System niedrigere Annahmequoten verzeichnen, würde ich als eklatanten Nachteil dieses Systems bezeichnen. Manfred Holler berichtet mir in einem Brief über seine Erfahrungen als Schriftleiter des European Journal of Political Economy, bei dem fünf bis sechs Jahre das Double-blind-Verfahren durchgeführt wurde. Er sieht ein besonderes Problem darin, daß die Gutachter den Namen des Autors falsch raten und nicht auszuschließen ist, daß dieses falsche Raten das Gutachten beeinflußt. Erstaunlich viele Gutachter, die ihm ihre Vermutungen in bezug auf den Autor mitteilten, seien falsch gelegen. Das Double-blind-Verfahren habe eher zu Verzerrungen geführt als die „Information über den Autor", die in späteren Jahren des EJPE an die Gutachter weitergegeben wurde. Hollers Schätzung, nach der nur in rund 50% der Name des Autors erraten werde, liegt nahe bei der Auswertung des Tests der American Economic Review: Blank (1991) berichtet, daß in ihrer Stichprobe 55% der Referees im doppelt-blinden Verfahren den Autor nicht identifizieren konnten. Ich finde diese Zahlen erstaunlich hoch und kann nicht wirklich an sie glauben 27 ). Ich persönlich habe jedenfalls den Namen des Autors noch immer erraten, wenn ich als Referee einer „doppelt-blinden" Zeitschrift gebeten wurde 28 ). In meinem engen Fachgebiet ist es zunächst recht wahrscheinlich, daß mir der Autor seinen Aufsatz bereits persönlich zugesandt hat oder ich ihn auf einer letzten Konferenz gehört habe. Ist dies nicht der Fall, so genügt meist ein 26
) Vgl. dazu auch die Formulierung von Deaton et al. (1987, S. 204): "Our practical experience suggests that referees nearly always act honestly, state their prejudices if they have them, or disqualify themselves in cases where personal conflicts arise." 2T ) Ahnlich skeptisch in dieser Frage sind auch Deaton et al. (1987, S. 204). 28 ) Dies haben mir die Schriftleiter bestätigt, oder ich fand es bei Publikation des Aufsatzes heraus.
60 · Dieter Bös schneller Blick in die Literaturangaben am Schluß des Aufsatzes. Der sonst unbekannte Autor, von dem hier plötzlich drei Forschungsmemoranden und zwei Aufsätze in recht unbekannten Zeitschriften zitiert werden, ist der Verfasser des betreffenden Aufsatzes. Besonders leicht wird es natürlich, wenn der Verfasser etwa selbst auf Seite 13 sagt: „Wie ich schon in meiner Arbeit aus 1989 ausführte .. ."
4.4 Die Infallibilität des Referees Bei Ablehnung eines Manuskripts gibt es fallweise Autoren, die sich über den Refereebericht beschweren. Soweit sie hiebei nur ihre frühere Ansicht wiederholen, ist dies eine sinnlose Trotzgeste. Der Schriftleiter wird in einem solchen Fall direkt mitteilen, daß er bei seiner Entscheidung bleibe. Scheint dem Schriftleiter die Gegenstellungnahme des Autors dagegen bemerkenswert, so wird er sie an die Referees mit der Bitte um kurze Stellungnahme weiterleiten. (Ich zumindest mache dies, aber nur einmal, um endlose Diskurse zu vermeiden.) Meist bringt aber auch diese Gegenstellungnahme nichts, obwohl ich in einigen Fällen bereits Referees hatte, die ihre negative Stellungnahme korrigierten. Wie negativ ist nun diese Infallibilität der Referees zu bewerten? Ich finde sie nicht so schlimm wie die Infallibilität der Diktator-Schriftleiter früherer Zeiten. Schließlich handelt es sich ja bei den Referees um wirklich ausgewiesene Spezialisten des jeweiligen Fachgebiets, die Gefahr von Mißverständnissen ist also wesentlich geringer als beim allzuständigen Diktator-Schriftleiter. Außerdem gibt es heutzutage viel mehr Zeitschriften als früher, und bei Ablehnung ist daher stets die Möglichkeit gegeben, sich an eine andere Zeitschrift zu wenden. Sollte der Schriftleiter dieser Zeitschrift den gleichen Referee noch einmal fragen, so lehnt dieser typischerweise ab, denselben Aufsatz noch einmal als Referee zu beurteilen, damit der Autor eine neue unabhängige Chance bekommt. Allerdings schickt ein solcher Referee im allgemeinen seinen früheren Refereebericht mit und versorgt damit den Schriftleiter mit Munition gegen den betreffenden Aufsatz. Er gibt außerdem meist einen Hinweis auf die Umarbeitungswilligkeit des Autors, indem er etwa ausdrücklich darauf hinweist, daß der Autor die weitreichenden Kritikpunkte des Referees einfach in den Wind geschlagen und die unveränderte Version bei einer anderen Zeitschrift eingereicht hat. Auch bei Ablehnung empfiehlt es sich daher, den Aufsatz den Refereeberichten entsprechend umzuarbeiten und dann erst bei einer anderen Zeitschrift einzureichen. (Übrigens: Auch wenn mir ein Referee schreibt, daß er diesen Aufsatz für Econometrica schon abgelehnt habe, so kann dies für mein Journal immer noch ein sehr guter Aufsatz sein. Ich weiß selbst, daß trotz meiner vieljährigen Anstrengungen meine Zeitschrift nicht den Rang von Econometrica hat.) Natürlich haben auch Referees schon Fehlurteile getroffen, die zur Ablehnung qualitativ hochwertiger Aufsätze geführt haben. So ist etwa Akerlofs bekannter Aufsatz über den Market for Lemons von drei amerikanischen Spitzenzeitschriften abgelehnt worden, bevor das Quarterly Journal of Eco-
Gedanken zum Refereesystem · 61 nomics ihn veröffentlichte. Gans — Shepherd (1994) bieten eine lange Liste von Aufsätzen besonders prominenter Autoren, die von referierten Journalen abgelehnt wurden, und nach erfolgter Publikation in einem anderen Journal zu vielzitierten Klassikern wurden. Grundlage dieser Liste ist eine Umfrage bei 140 führenden Ökonomen, darunter allen lebenden Nobelpreisträgern und John Bates Clark Medaillenträgern. Welche Gründe führen diese Ökonomen nun dafür an, daß einige ihrer führenden Arbeiten negative Refereeberichte erhielten? Zum einen die mangelnde Einsicht von Referees in die Bedeutung einer neuen und originellen Idee. Des weiteren bis zum Beginn der siebziger Jahre die Aversion gegen zu komplizierte mathematische Herleitungen von Resultaten. (Der Aufsatz über „Expectations and the Neutrality of Money" von Lucas ist ein gutes Beispiel hiefür.) Fallweise führte aber gerade eine sehr einfache Präsentation zur Ablehnung durch Referees, die die Arbeit als trivial einstuften, weil sie zu leicht lesbar war. (Jedenfalls führt Akerlof die Ablehnung seines klassischen Aufsatzes auch auf diesen Grund zurück.) Ganz im Sinne meiner früheren Ausführungen betonen Gans und Shepherd allerdings: „A rejection usually does not kill a paper; among our examples, a rejected paper usually finds life at another journal, even if the paper is unorthodox"29). Die zeitliche Verzögerung zwischen Ersteinreichung und endgültiger Veröffentlichung kann allerdings auch prominente Autoren entmutigen und sie fallweise sogar um die Früchte der Erstentwicklung einer wissenschaftlichen These bringen.
4.5 Die Schnelligkeit des Referees Ergebnisse einer
Stichprobe
Ich darf hier wieder auf die Ergebnisse der Stichprobe der ersten 50 im Jahre 1996 beim Journal of Economics (Zeitschrift für Nationalökonomie) erstmals eingereichten Aufsätze zurückgreifen. Betrachten wir hiebei nur die 113 „Doers", so ergibt sich die in Abbildung 2 wiedergegebene Evidenz. Deutlich zeigt sich, daß die Mehrheit der Refereeberichte relativ schnell eingeht: • nach 5 Wochen (« 1 Monat) ist ein Drittel der Refereeberichte eingelangt, • nach 9 Wochen (« 2 Monate) ist ein weiteres Drittel eingegangen, • nach 22 Wochen 5 Monate) sind praktisch alle Refereeberichte da30). Diese Evidenz entspricht ungefähr dem Bild, das Hamermesh (1994, S. 158) von seiner Stichprobe sieben amerikanischer Zeitschriften liefert. Die amerikanischen Referees seiner Stichprobe sind etwas schneller. So berichtet Hamermesh, daß die Hälfte der Refereeberichte der Doers binnen 29) Gans - Shepherd (1994, S. 177). 30 ) Keine Stichprobe ohne Ausreißer: Ein Refereebericht ging erst nach rund 6!4 Monaten ein.
62 · Dieter Bös 6 Wochen ihren Bericht abliefert (bei mir 7 Wochen), und daß 75% aller Berichte binnen 10 Wochen da sind (bei mir 11 Wochen). Abbildung 2: Einlangen der Refereeberichte π
Q: Eigene Berechnungen, π . . . Prozentzahl der noch nicht eingelangten Refereeberichte sogenannter „Doers", t . . . Zeit in Wochen.
Wie katm der Refereeprozeß beschleunigt werden? Ein Mahnschreiben nach sechs bis acht Wochen führt oft dazu, daß ein Refereebericht endlich gesandt wird; Mahnungen via Fax wirken hiebei signifikant besser als solche mittels Brief. Hilft auch ein Mahnschreiben nicht weiter, so sollte schnell ein neuer Referee angeschrieben werden. Drei Monate nach Einreichen der Arbeit ist hiebei besser als fünf Monate nachher, wie Hamermesh (1994, S. 162) vorschlägt. Daß man dann gegebenenfalls drei Refereeberichte erhält, hat noch nie Schaden angerichtet. Wie für Ökonomen typisch, kann man auch an Zahlungen an Referees denken, die innerhalb einer bestimmten Zeitspanne ihren Bericht abliefern. Gegebenenfalls können hiebei auch verschiedene, nach Zeitablauf gestaffelte Zahlungen vorgesehen werden. Hamermesh (1994) hat die Wirksamkeit solcher Zahlungen empirisch untersucht. In seiner Stichprobe von sieben Zeitschriften zahlte eine Zeitschrift (ZI) einen geringfügigen Betrag, wenn der Refereebericht innerhalb von sechs Wochen eingehe31)· Die anderen sechs Zeitschriften (Rest der Stichprobe) zahlten dagegen nichts. Hamermesh schätzte nun die tägliche hazard-rate h, also die tägliche Wahrscheinlichkeit,
31
) Die in solchen Fällen gezahlten Beträge sind wirklich niedrig. Die American Economic Review zahlt etwa 35 $.
Gedanken zum Refereesystem · 63 daß ein Aufsatz aus der Schlange der noch nichtreferierten Aufsätze referiert wird. Die Ergebnisse sind in Abbildung 2 wiedergegeben. Auf der Abszisse ist die Zeit t in Wochen angegeben. Es zeigt sich ein signifikanter Einfluß der Zahlung an die Referees. Abbildung 3: Zeitabhängige Zahlung an Referees h
•
ZI
—•— Rest der Stichprobe
Q: Hamermesh (1994), S. 161.
5. Die Entscheidung des Schriftleiters aufgrund der Refereeberichte 5.1 Wie entscheidet ein Schriftleiter? Zum Unterschied von den Referees ist ein Schriftleiter wenigstens zum Teil „Residual Claimant" des Ergebnisses seines Entscheidungsprozesses 32 ). Daher hat er einen hohen Anreiz, Entscheidungen zu treffen, die den Erfolg der Zeitschrift fördern. Denn Schriftleiter einer erfolgreichen Zeitschrift zu sein, ist ein persönlich zurechenbarer Erfolg. Was bedeutet nun „Erfolg einer Zeitschrift"? Das heute vor allem im anglo-amerikanischen Bereich sehr übliche Ranking wissenschaftlicher Zeitschriften beruht im allgemeinen darauf, wie oft Aufsätze zitiert werden, die in der betreffenden Zeitschrift veröffentlicht wurden. Grundlage ist der Social Sciences Citation Index (SSCI). Ein Schriftleiter sollte also danach trachten, möglichst solche Aufsätze zur Veröffentlichung anzunehmen, die reichlich zitiert werden. Wie ist dies zu bewerkstelligen? • Der marktorientierte Schriftleiter wird tatsächlich die Qualität eines Aufsatzes anhand des SSCI-Ranking messen. Er wird Modethemen fördern 32
) Vgl. Laband (1990, S. 343).
64 · Dieter Bös und Nichtmodethemen unterdrücken33). Er wird sehr gute Aufsätze ablehnen, wenn sie sich auf sehr spezielle Fragestellungen beziehen. Er wird auch Aufsätze jüngerer Wissenschaftler diskriminieren, weil die Wahrscheinlichkeit geringer ist, daß sie oft zitiert werden. Die Zahl der Fälle, in denen eine Zeitschrift zitiert wird, kann auch dadurch erhöht werden, daß man den Seitenumfang der Zeitschrift erhöht. (Irgendwie werde ich den Verdacht nicht ganz los, daß die European Economic Review mit ihren inzwischen rund 1.800 Seiten Jahresvolumen genau diesen Weg beschreitet.) Am schlimmsten ist es, wenn der Schriftleiter den Autoren in der eigenen Zeitschrift empfiehlt, weitere Aufsätze aus dieser Zeitschrift zu zitieren. Schriftleiter berücksichtigt die Qualität der Auf• Der wohlfahrtsorientierte sätze und nur diese. Dieser Schriftleiter geht davon aus, daß Aufsätze höherer Qualität öfter zitiert werden als solche schlechter Qualität. Dies setzt allerdings voraus, daß es einen klaren und objektiven Maßstab für die Qualität eines wissenschaftlichen Aufsatzes gibt, und zwar unabhängig von der Zahl der Zitationen. • Der machtbewußte Schriftleiter kann nach Förderung der von ihm vertretenen Wissenschaftsrichtung trachten, verbunden mit der Vorstellung, daß die zur Veröffentlichung angenommenen Aufsätze von anderen Vertretern seiner Richtung ausgiebig zitiert werden würden. Nachdem wir damit die Zielfunktion des Schriftleiters skizziert haben, kommen wir zum eigentlichen Entscheidungsprozeß. Dieser ist charakterisiert durch verschiedene Formen unvollständiger Information des Schriftleiters und der Referees: (51) Der Schriftleiter ist unvollständig informiert über die Qualität des Aufsatzes. Die Referees als Agenten des Schriftleiters sind hierüber besser informiert 34 ). In einem Modell würde man etwa annehmen, die Referees kennen die tatsächliche Qualität des Aufsatzes, der Schriftleiter dagegen kenne aufgrund seiner Erfahrung die Verteilung der Qualität der bei seiner Zeitschrift eingereichten Arbeiten. (52) Der Schriftleiter ist unvollständig informiert über die Qualität des Referees: welchem Typ von Referee gehört er an (wohlfahrtsorientiert oder 33
) Fallweise schwimmen hier Schriftleiter bewußt gegen den Strom. Sie begründen dies mit langfristiger Marktorientierung. So wählte Rudolf Richter 1978 mit der Ausrichtung seiner Zeitschrift auf die damals wenig angesehene Institutionenökonomie eine langfristige Strategie in der Hoffnung, Aufsätze eines Gebiets veröffentlichen zu können, die sich später als viel zitierte Aufsätze eines neuen ökonomischen Schwerpunktthemas erweisen würden (siehe Richter, 1994, S. 605-606). 34 ) In ihrem theoretischen Modell eines Refereeprozesses unterstellen Glazer - Rubinstein (1996), daß Schriftleiter und Referee gleich schlecht informiert sind - symmetrische unvollständige Information. Ihr "Leader Mechanism" nimmt einfach einen der n-Agenten und postuliert, daß diese Person die endgültige Empfehlung erteilt, die die Entscheidung bestimmt. Ein expliziter Prinzipal tritt in ihrem Modell nicht auf. Die Annahme symmetrischer unvollständiger Information scheint nur gerechtfertigt, wenn ein Aufsatz in das enge Spezialgebiet der wissenschaftlichen Forschung des Schriftleiters fallt. Generell ist die im Text getroffene Annahme asymmetrischer Information zutreffend.
Gedanken zum Refereesystem · 65 machtbewußt), wie gut ist er eigentlich informiert über die Qualität des Aufsatzes, wieviel Zeit wird er sich nehmen, um den Bericht zu schreiben usw. (Rl) Die Referees selbst sind gegebenenfalls auch unvollständig über die Qualität des Aufsatzes informiert, auch wenn sie besser informiert sind als der Schriftleiter. In modellhafter Sprache würde man etwa sagen, daß die Referees nur mit einer Wahrscheinlichkeit ρ die wahre Qualität eines Aufsatzes erfahren (während der Schriftleiter sie nur durch Befragung der Referees erfahren kann). Nun sieht eine Art impliziter Verfassungsvertrag vor, daß Schriftleiter verpflichtet sind, ein Refereesystem anzuwenden. Dieser Vertrag sieht auch vor, daß typischerweise zwei Refereeberichte vorliegen müssen, wenn der Schriftleiter seine Entscheidung trifft. Gegeben die oben dargestellten Informationsdefizite der Beteiligten ist es einleuchtend, daß nicht nur ein Refereebericht vorliegen sollte. Dies wäre nur dann ausreichend, wenn der Referee über die Qualität des Aufsatzes vollständig informiert wäre und der Schriftleiter über die Qualität des Referees und beide Parteien dies voneinander wüßten. Dann könnte der Schriftleiter alle erforderliche Information bereits durch einen Refereebericht erhalten. Die Informationsdefizite (S2) und (Rl) machen dies aber unmöglich. Bei den gegebenen Unsicherheiten würde man aber dann fast automatisch verlangen, daß drei Refereeberichte vorliegen sollten, sodaß immer eine eindeutige Mehrheit des „Refereekollegiums" besteht, die der Schriftleiter als Empfehlung für seine Entscheidung akzeptiert. Warum sind es dann nur zwei Refereeberichte? Transaktionskosten, speziell der Zeitverlust durch Heranziehung eines dritten Referees, wären eine erste plausible Erklärung für die Beschränkung auf zwei Berichte. Eine boshaftere Erklärung würde in der Beschränkung auf zwei Refereeberichte den geglückten Versuch der Schriftleiterzunft erblicken, trotz Refereesystems eine möglichst hohe eigene Einflußsphäre zu behalten. Denn bei zwei Refereeberichten ist ja die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, daß einer positiv und einer negativ ist. Und in diesem Falle ist der Schriftleiter vollkommen frei, wie er entscheidet. Die Beschränkung auf zwei Refereeberichte reduziert daher den Einfluß der Referees und erhöht den des Schriftleiters.
5.2 Zur Infallibilität des Schriftleiters Das Infallibilitätsproblem bestand vor allem beim Diktator-Schriftleiter35). Gerade das Refereesystem ist ein Verfahren zur Einschränkung der Schriftleitermacht. Das Refereesystem verwandelt ja den Schriftleiter vom absoluten Diktator zu einem konstitutionellen Monarchen, der sich an bestimmte Verfassungsregeln der Wissenschaftlerzunft zu halten hat. Ein Schriftleiter, der ohne Refereeberichte oder aufgrund unqualifizierter Berichte entschei-
35
) Vgl. etwa Gans - Shepherd (1994, S. 174-176) zu Ablehnungen berühmter Aufsätze durch Keynes in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts.
66 · Dieter Bös det, bekommt Ärger mit den Autoren. Ein Schriftleiter, dem beide Referees mitteilen, die Arbeit sollte nach Revision angenommen werden, ist praktisch an diese Äußerungen gebunden 36 ). Gerade die guten Referees fragen nach, was denn aus der betreffenden Arbeit geworden ist, und ein Schriftleiter, der es etwa wagen würde, die Meinungen solcher Referees zu unterdrücken, würde nicht nur diese Referees als Gutachter verlieren, sondern auch ganz allgemein in der ökonomischen Zunft einen schweren Stand bekommen. Zahlreiche Verfahren sind vorgeschlagen worden, um den Schriftleiter vom konstitutionellen Monarchen zum Schiedsrichter demokratischer Publikationsentscheidungen zu machen. Dem dient zunächst die Einsetzung eines Schriftleiterkollegiums anstelle einer Einzelperson, sodaß im Kollegium zu starke Machtorientierung eines einzelnen von den anderen in Schach gehalten werden kann. (Gemeint sind also nicht Schriftleiterkollegien, bei denen von vornherein jeder Schriftleiter wiederum konstitutioneller Monarch für sein Teilgebiet ist, und nur bei Streitigkeiten über Gebietsabgrenzungen das Kollegium als Ganzes korrigierend eingreift.) Besteht ein solches Schriftleiterkollegium, so können viele Verfahren ersonnen werden, um „demokratische Schriftleiterentscheidungen" zu erzwingen. Zählen wir einige davon auf37): • Alle Manuskripte werden zu einem Schriftleiter geschickt, der daraufhin den Namen des Autors vom Manuskript entfernt und die Arbeit erst dann einem Teilbereichsschriftleiter zugehen läßt. Der zentrale Schriftleiter wechselt hiebei im Turnus 38 ). • Ob ein Manuskript ohne Refereeberichte abgelehnt wird, muß von mindestens zwei Mitgliedern des Schriftleiterkollegiums entschieden werden. • Die Auswahl der Referees ist von mindestens zwei Mitgliedern des Schriftleiterkollegiums zu treffen. • Es bestehen bestimmte Beschränkungen hinsichtlich der Refereeauswahl, die im Schriftleiterkollegium erforderlichenfalls offenzulegen sind: so dürfen etwa nicht beide Referees aus der gleichen Universität stammen, oder es darf kein Referee aus der gleichen Abteilung stammen wie der Schriftleiter, es dürften auch nicht die beiden Assistenten des Schriftleiters sein usw. • Die endgültige Entscheidung über Annahme und Ablehnung eines Aufsatzes wird von mindestens zwei Mitgliedern des Schriftleiterkollegiums getroffen.
3e
) Als eine Art empirischen Beleg zu dieser Stellungnahme vgl. die AER-Studie von Blank (1991), die auf S. 1042 festhält: "Referee ratings are generally highly correlated with acceptance rates of papers and show the same patterns, indicating that co-editors largely follow referee advice." 37 ) Vgl. Miller - Punsalan (1988, S. viii-ix). 38 ) Meine generellen Bedenken gegen die Wirksamkeit solcher Namensentfernungen habe ich allerdings schon ausgeführt. In diesem speziellen Fall, bei dem auch der Teilbereichsschriftleiter den Namen des Autors nicht kennt, besteht die zusätzliche Gefahr, daß ein Aufsatz an den Autor selbst als Referee geschickt wird oder an einen engen Freund oder Fakultätskollegen des Autors (vgl. auch Blank, 1991, S. 1046).
Gedanken zum Refereesystem · 67 Ich habe obigen Katalog absichtlich vollständig wiedergegeben. Die großen Nachteile aller dieser Verfahren liegen auf der Hand. Es sind die gleichen Nachteile, die jedem aus der Gruppen- und Gremialuniversität geläufig sind. Entscheidungen werden durch solche Vorkehrungen oft so zeitaufwendig, und erfordern soviel Ellenbogenvermögen im Gremium, daß sich gerade die besten und sensibelsten Wissenschaftler aus solchen Schriftleitergremien zurückziehen. Besondere Experten gremialer Entscheidungsmanipulation sitzen dann in diesen Schriftleiterkollegien, und die Qualität der betreffenden Zeitschrift wird dann keineswegs besser als unter einem motivierten Einzelschriftleiter. Im schlimmsten Falle blockieren sich die Mitglieder einer Schriftleitung gegenseitig - ein deutsches finanzwissenschaftliches Journal bietet in letzter Zeit ein gutes Beispiel.
5.3 Die Schnelligkeit des Schriftleiters Die Schnelligkeit der Schriftleiterentscheidung hängt von der Schnelligkeit der Referees ab, aber kumulativ, weil ja typischerweise auf zwei Refereeberichte gewartet werden muß. Dazu kommt noch der Schriftleiter-lag, der dadurch entsteht, daß nach Einlangen des zweiten Refereeberichts fallweise einige Zeit vergeht, bis der Schriftleiter seine Entscheidung trifft. Auch Schriftleiter sind ja zwischenzeitlich auf Konferenzen, Vortragstourneen oder auf Urlaub. . .. Für Details sei ein weiteres Mal auf die Ergebnisse der Stichprobe der ersten 50 im Jahre 1996 beim Journal of Economics (Zeitschrift für Nationalökonomie) erstmals eingereichten Aufsätze zurückgegriffen. Die in Abbildung 4 wiedergegebene Evidenz gibt jeweils den Zeitraum vom Einlangen des Manuskripts bei der Schriftleitung bis zur Entscheidung über Ablehnung oder Revision des Aufsatzes an: Abbildung 4: Schriftleiterentscheidungen TT
Q: Eigene Berechnung, π . . . Prozentzahl der Manuskripte, über die noch nicht entschieden ist, t . . . Zeit in Wochen.
68 · Dieter Bös • nach 8 Wochen 2 Monate) ist über ein Drittel der eingegangenen Aufsätze entschieden, • nach 13 Wochen (« 3 Monate) über ein weiteres Drittel, • nach 22 Wochen (« 5 Monate) sind praktisch alle Schriftleiterentscheidungen getroffen. „Praktisch alle" bedeutet, daß es einen Ausreißer gab: Über einen Aufsatz aus den 50 Arbeiten der Stichprobe konnte erst nach ungefähr 7% Monaten entschieden werden. Um zwei Refereeberichte für diesen Aufsatz zu erhalten, wurden sieben Wissenschaftler angeschrieben, hievon waren drei Loser und zwei Refuser; und letztendlich dann auch zwei Doer. Die Entscheidung war übrigens eine positive: die Autoren wurden zur Revision zugelassen.
5.4 Einige Sonderprobleme Ich möchte hier einige Sonderfälle behandeln, die recht kontrovers diskutiert werden können: 1. Was soll ein Schriftleiter mit einem Aufsatz tun, den hintereinander sechs bis zehn Referees zu begutachten abgelehnt haben, ohne dem Schriftleiter hiebei weitere Hinweise über den Inhalt des Aufsatzes zu liefern? Typischerweise ist an einem solchen Aufsatz irgend etwas nicht in Ordnung. Möglicherweise ist es ein „Wanderpokal", den die in Frage kommenden Referees schon so oft gesehen haben, daß sie sich gar nicht mehr äußern mögen. Möglicherweise ist der Autor ein besonders netter Mensch, dem die potentiellen Referees nicht weh tun wollen. Oder es ist ein Aufsatz, der zwei Gebiete so verbindet, daß potentielle Referees des Fachgebiets Α finden, daß zu Α nichts Neues geboten wird, aber möglicherweise zu Fachgebiet Β und vice versa bei den potentiellen Referees des Gebiets B. Als Schriftleiter hat man seine Erfahrung und weiß in solchen Fällen, daß mit hoher Wahrscheinlichkeit ein schlechter Aufsatz vorhegt. Es ist aber gegen die Spielregeln, einen Aufsatz mit der Begründung abzulehnen, daß sechs Wissenschaftler abgelehnt haben, als Referee tätig zu werden. (Nach den allgemeinen Spielregeln sind Ablehnungen von Aufsätzen ohne Refereeberichte nur unmittelbar nach Einreichen des Aufsatzes gestattet, also nicht erst, wenn die vielen Monate verstrichen sind, die erforderlich waren, um sechs oder gar mehr Wissenschaftler zu ersuchen, als Referee tätig zu werden.) Es bleibt einem Schriftleiter also in diesem Falle nichts anderes übrig, als selbst einen Bericht zu schreiben (oder einen Assistenten zu bitten) und als zweiten Gutachter einen Mitherausgeber der Zeitschrift heranzuziehen39). 2. Was soll ein Schriftleiter tun, der selbst einen Aufsatz als Referee für eine andere Zeitschrift entschieden abgelehnt hat und nun den gleichen Aufsatz unverändert für seine eigene Zeitschrift eingereicht erhält? Wäre der 39
) Beim oben angeführten Ausreißer war übrigens ein Refereebericht ein echter Außenseiterbericht; der zweite kam von einem Mitherausgeber.
Gedanken zum Refereesystem • 69 Schriftleiter unentschieden, so könnte er ja einen Ko-Schriftleiter oder einen Mitherausgeber bitten, die Sache zu betreuen und dann dessen Empfehlung befolgen. Was ist aber, wenn er in der Sache stark empfindet, also die eingereichte Arbeit für ausgemachten Schwachsinn hält. Muß er ein neutrales Refereeverfahren einleiten? Kann er das überhaupt? Kann er aber andererseits verpflichtet werden, einen Aufsatz aus seinem Spezialgebiet zu veröffentlichen, den er für völlig verfehlt hält? Er wird ja dann mit diesem Aufsatz identifiziert, weil er in seiner Zeitschrift erschienen ist! Der beste Ausweg aus diesem Dilemma scheint der folgende zu sein: Der Schriftleiter teilt dem Autor mit, daß er erfahren habe, dieser Aufsatz sei bereits bei Zeitschrift X ablehnt worden (Beilage: der eigene alte Refereebericht) und daß ihm, dem Schriftleiter, die Argumente dieses Berichts so überzeugend erscheinen, daß er ihn nicht veröffentlichen möchte.
6. Abschluß: Vor- und Nachteile des Refereesystems 6.1 V o r t e i l e Der Hauptvorteil des Systems ist die Verbesserung der Qualität der publizierten Aufsätze. Sind die beiden Refereeberichte grundsätzlich negativ, so wird der Aufsatz nicht zur Veröffentlichung angenommen, eine erste Qualitätshürde. Sind die Bewertungen grundsätzlich positiv, so wird der betreffende Autor aufgefordert, seinen Aufsatz im Lichte der Refereeberichte zu revidieren und dann die revidierte Version noch einmal einzureichen 40 ). Dies ist eine zweite Qualitätshürde. Beide Hürden sorgen dafür, daß das Niveau der Aufsätze in referierten Zeitschriften höher ist als in nichtreferierten 41 ). Darin liegt eine besondere Chance der referierten Zeitschriften. Die Selektion guter Aufsätze und die Verbesserung der Qualität von Aufsätzen ist der wichtigste Beitrag, den diese Zeitschriften für die wissenschaftliche Allgemeinheit erbringen. Ins Internet kann jeder Unsinnsaufsatz eingespeist werden, der Internetsurfer muß die Qualitätskontrolle selbst vornehmen, und die Qualitätsverbesserung durch Referees geht verloren. Die Überlebenschance der wissenschaftlichen Zeitschriften liegt also gerade im Refereesystem. Zur Qualitätsverbesserung tragen auch einige Nebeneffekte des Refereesystems bei. Nepotismus zwischen Autor und Schriftleiter wird im allgemei-
40 ) In ganz seltenen Fällen kann auch bei einer referierten Zeitschrift geschehen, daß ein Aufsatz ohne Revision zur Veröffentlichung angenommen wird. Notwendige Voraussetzung hiefur ist typischerweise, daß ein Referee ganz überschwenglich lobt und keine weitere Umarbeitung verlangt, und daß der zweite Referee aus welchen Gründen auch immer ausfallt. Daß zwei anonyme Gutachter Veröffentlichung ohne Revision empfehlen, kommt praktisch nie vor. 41 ) Laband (1990) bietet eine empirische Untersuchung zu dieser Frage, die bestätigt, daß die Refereetätigkeit die Qualität der referierten Arbeiten verbessert.
70 · Dieter Bös nen unterbunden42). Der Schriftleiter selbst übernimmt oft eher die Rolle eines Schiedsrichters als eines wohl- oder übelwollenden Diktators. Zumindest wäre dies die Idealvorstellung vom Schriftleiter. Vielleicht sollte man vorsichtiger formulieren: Diktatorische Richtungsentscheidungen sind auch durch das Refereesystem nicht auszuschließen, bei nichtreferierten Journalen sind sie aber das alleinige Entscheidungskriterium des Schriftleiters.
6.2 Nachteile Wenn die Zahl der Aufsätze in referierten ökonomischen Journalen den Stellenwert eines Wissenschaftlers bestimmt, so wird er danach trachten, die Zahl solcher Aufsätze zu maximieren, und sonstige Emanationen wissenschaftlichen Denkens zu unterlassen. Maximierung der Zahl publizierter Aufsätze ist am ehesten dadurch zu erreichen, daß man einen bereits vorhandenen Aufsatz geringfügig verändert, gewissermaßen ein Epsilon hinzufügt43). Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, daß der Autor des bereits vorhandenen Aufsatzes als Referee gewählt wird und im Interesse seiner Eitelkeit, beziehungsweise zur Erhöhung seines Ranking im SSCI, eine Veröffentlichung empfiehlt. Ein grundlegend neuer wissenschaftlicher Wurf läuft dagegen große Gefahr, abgelehnt zu werden. Eine solche Entwicklung wirkt wissenschaftlich konservierend, und erzeugt den typischen kurzatmigen Stil, der unsere gegenwärtigen wissenschaftlichen Debatten charakterisiert. Außerdem fördert diese durch das Refereesystem erzeugte Epsilontik bestimmte wissenschaftliche Methoden, nämlich solche, die es leicht machen, durch geringfügige Veränderung einer Annahme schon wieder einen neuen Aufsatz zu generieren. Typische Beispiele für solche Methoden sind nicht nur verschiedene neoklassische Modelle, etwa wenn es um die Frage geht, unter welcher Milderung der Annahmen ein allgemeines Gleichgewicht (mit öffentlichen Gütern, mit Migration usw.) besteht. Das gleiche gilt für angewandte ökonometrische Arbeiten, wo ein- und dieselbe Fragestellung mit unterschiedlichen Datensätzen getestet jeweils wieder einen Aufsatz ergibt, oder derselbe Datensatz mit geringfügig veränderten Schätzgleichungen aufsatzmaximierend eingesetzt wird. Es gilt etwa auch für die social-choice-Richtung: Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sens liberalem Paradox hätte sicher 5 bis 10 erstklassige Aufsätze verdient, die restlichen 500 haben keine eigentliche ökonomische Einsicht mehr gebracht.
42 ) Die empirische Untersuchung von Laband - Piette (1994B) betrifft Aufsätze in referierten ökonomischen Journalen, die von Kollegen oder Absolventen der Fakultät des Schriftleiters stammen. Laband - Piette zeigen, daß es zwar durchaus auch Substandardaufsätze in dieser Gruppe gibt, daß aber oft gerade Aufsätze dieser Gruppe besonders hohen Zitationsrang aufweisen. Letzteres erklären sie daraus, daß Schriftleiter aktiv nach Manuskripten suchen und hiebei gerade die besten Manuskripte aus ihrer Umgebung besser kennen als andere Schriftleiter. 43) Fölster (1995) bestätigt diese Hypothese in einem experimentellen Test basierend auf einem Modell der evolutionären Spieltheorie.
Gedanken zum Refereesystem • 71 Zur Maximierung der Zahl publizierter Aufsätze empfiehlt es sich auch, statt einer Monographie viele miteinander verzahnte Aufsätze zu verfassen. Diese Aufsätze lassen sich dann zu einem Buch kompilieren44). Man merkt solchen Büchern stets an, daß sie nicht als Buch konzipiert wurden, im schlechten Falle weisen sie viele Überlappungen zwischen den einzelnen Kapiteln auf und verwenden unterschiedliche Terminologie in den einzelnen Kapiteln. Wir kommen damit zum nächsten großen Nachteil des Refereesystems in ökonomischen wissenschaftlichen Zeitschriften: Bücher sind passe. Während Aufsätze einer externen anonymen Qualitätskontrolle unterliegen, fehlt eine solche Kontrolle bei Büchern entweder vollkommen, oder ist zumindest nicht so gründlich wie bei Zeitschriften. Auch wenn Verlage Wissenschaftler bitten, Buchmanuskripte als Referees anzusehen, so geht die Qualitätskontrolle doch nie so tief als bei Aufsätzen: Einen zwanzig Seiten langen Aufsatz kann man als Referee sehr gründlich durcharbeiten, ohne daß der Arbeitsaufwand prohibitiv wird. Bei einem 400 Seiten langen Buch geht das nicht mehr. Bücher sind daher wegen mangelnder bzw. unzulänglicher Außenseiterkontrolle gegenüber Aufsätzen von vornherein diskreditiert. Eine Buchkultur gibt es nur noch für Lehrbücher. Die durch das Refereesystem bei Zeitschriften bedingte Diskreditierung der wissenschaftlichen Monographie ist sehr problematisch. Bis vor nicht allzu langer Zeit waren viele große Wissenschaftler gerade durch ihre Bücher bekannt. Ohne allzu weit in die Vergangenheit zu gehen, seien hier nur etwa Schumpeter, Musgrave, Krelle, Blaug, aber auch Sen angeführt45). Abschließend möchte ich das Refereesystem in einen wissenschaftshistorischen Bezug stellen (wobei ich mir bewußt bin, daß ich als Ökonom stets nur über meine eigene Wissenschaft sprechen kann). Das Refereesystem ist ein Teil einer Bewegung vom Einzelgängerwissenschaftler zum Kollektivwerk. Es liegt insofern ganz auf der gleichen Linie wie der immer stärker werdende Trend zur Mehrautorenschaft bei wissenschaftlichen Arbeiten. Hinter diesen Entwicklungen liegt eine zunehmende Risikoscheu: So sichert sich etwa ein Autor durch Hinzunahme eines Koautors. Die strikte Anwendung des Refereesystems kann auch als Zeichen der Risikoscheu der heutigen Schriftleiter angesehen werden. . . . Wissenschaftshistoriker werden später einmal Schwierigkeiten haben, zu beurteilen, welche Ideen von den Autoren kommen und welche von Koautoren und von Referees. Es wird auch nicht so einfach möglich sein, festzustellen, wo ein kapitaler Irrtum begangen wurde. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit werden viel stärker geglättet, als dies der Fall war, als noch Einzelgängerwissenschaftler unser Fach dominierten.
44 ) Ein schönes Beispiel der jüngsten Vergangenheit ist das sehr bekannte Buch von Laffont - Tirole (1993). 45 ) Blaug (1985, S. 224) schreibt: "Amartya Sens reputation is squarely based on two books, Collective Choice and Social Welfare and On Economic Inequality and one extremely influental article, 'The Impossibility of a Paretian Liberal'".
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Literaturhinweise 46 ) Blank, R. M., „The Effects of Double-Blind versus Single-Blind Reviewing: Experimental Evidence from The American Economic Review", American Economic Review, 1991, 81, S. 10411067. Blaug, M., Great Economists since Keynes. An Introduction to the Lives & Works of One Hundred Modern Economists, Wheatsheaf Books, Brighton, 1985. Blaug, M., Who's Who in Economics. A Biographical Dictionary of Major Economists 1700/1986, Wheatsheaf Books, 2. Auflage, Brighton, 1986. Bös, D., „Cost of Living Indices and Public Pricing", Economica, 1978, 45, S. 59-69. Deaton, Α., Guesnerie, R., Hansen, L. P., Kreps, D., „Econometrica Operating Procedures", Econometrica, 1987, 55, S. 204-206. Fölster, S., „The Perils of Peer Review in Economics and Other Sciences", Journal of Evolutionary Economics, 1995, 5, S. 43-57. Frey, Β. S., Eichenberger, R., „American and European Economics and Economists", Journal of Economic Perspectives, 1993, 7, S. 185-193. Frey, Β. S., Pommerehne, W. W., Schneider, F., Gilbert, F., „Consensus and Dissension Among Economists: An Empirical Inquiry", American Economic Review, 1984, 74, S. 986-994. Gans, J. S., Shepherd, G., „How Axe the Mighty Fallen: Rejected Classic Articles by Leading Economists", Journal of Economic Perspectives, 1994, 8, S. 165-179. Glazer, J., Rubinstein, Α., „What Motives Should Guide Referees? On the Design of Mechanisms to Elicit Opinions", New York University, C. V. Starr Center for Applied Economics, Economic Research Report RR, 1996, (96-01). Hamermesh, D. S., „The Young Economist's Guide to Professional Etiquette", Journal of Economic Perspectives, 1992, 6, S. 169-179. Hamermesh, D. S., „Facts and Myths about Refereeing", Journal of Economic Perspectives, 1994, 8, S. 153-163. Johnes, G., „Measures of Research Output: University Departments of Economics in the U.K., 1984-1988", Economic Journal, 1990, 100, S. 556-560. Kirman, Α., Dahl, Μ., „Economic Research in Europe", European Economic Review, 1994, 38, S. 505-522. Laband, D. N., „Is There Value-added from the Review Process in Economics? Preliminary Evidence from Authors", Quarterly Journal of Economics, 1990, 105, S. 341-353. Laband, D. N., Piette, M. J. (1994A), „The Relative Impacts of Economics Journals: 1970-1990", Journal of Economic Literature, 1994, 32, S. 640-666. Laband, D. N., Piette, M. J. (1994B), „Favoritism versus Search for Good Papers: Empirical Evidence Regarding the Behavior of Journal Editors", Journal of Political Economy, 1994, 102, S. 194-203. Laffont, J.-J., Tirole, J., A Theory of Incentives in Procurement and Regulation, M.I.T. Press, Cambridge, MA, 1993. Medoff, Μ. H., „The Ranking of Economists", Journal of Economic Education, 1989, 20, S. 405415. Miller, A. C., Punsalan, A. J., „Refereed and Nonrefereed Economic Journals. A Guide to Publishing Opportunities", Greenwood Press, New York, 1988. Ng, Y-K., „Polish and Publish: The Economics of Simultaneous Submission", Monash University, Melbourne, Department of Economics, Seminar Paper, 1991, 91(6). Pressman, S., „Simultaneous Multiple Journal Submissions", American Journal of Economics and Sociology, 1994, 53, S. 316-333. Richter, R., „Methodology From the Viewpoint of the Economic Theorist - Thirty Years On", Journal of Institutional and Theoretical Economics (JITE), 1994, 150, S. 589-608.
46 ) Dies ist keine vollständige Literaturliste, nicht einmal zum Refereesystem im speziellen, geschweige denn zur Literatur über die Publikationspraxis ökonomischer wissenschaftlicher Zeitschriften, zum Ranking ökonomischer Institutionen, Zeitschriften oder Autoren. Der an weiteren Literaturhinweisen interessierte Leser sei etwa verwiesen auf die Literaturdatenbank WISO II, ECONIS, etwa zum Schlagwort "Literaturanalyse".
Die Neue Institutionenökonomie, die Osterreichische Schule der Nationalökonomie und der Beitrag Erich Streisslers Felix Butschek
1. Die Kritik der Neoklassik Die nahezu unbestrittene Dominanz neoklassischer Ansätze, welche die Wirtschaftspolitik in den letzten beiden Jahrzehnten charakterisierte, geht mit einer fundamentalen Infragestellung des neoklassischen Paradigmas in der Theorie einher, welche auch für Erich Streissler einen Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit bildet. Sämtliche Annahmen über den individuellen Tausch werden im Rahmen dieser Diskussionen in Frage gestellt. So ist etwa mit der Kritik jener des zweckrationalen Verhaltens eine umfassende Diskussion über die Determinanten des menschlichen Verhaltens in Gang gekommen, die vielfach über die Grenzen der Nationalökonomie hinausgeht und psychologische wie soziologische Argumente einschließt (siehe etwa Schlicht, 1990). Im Zuge dieser Debatte wird natürlich auch die Annahme der beidseitigen vollständigen Information verworfen (Conlisk, 1996), ebenso wie die Stabilität der Präferenzen. Jene der Abwesenheit aller Kosten des Tausches rief den umfangreichen Forschungszweig der Transaktionskostenökonomie ins Leben (Williamson, 1993) und die Kritik der Annahme über die vollständige Konkurrenz reicht schon sehr weit zurück. Wie denn überhaupt gesagt werden kann, daß solche Auseinandersetzungen - wenngleich viel weniger massiv - die Neoklassik eigentlich stets begleitet haben. Wenn sich die Kritik in der Vergangenheit nicht durchzusetzen vermochte, so vorwiegend deshalb, weil sie dem hochentwickelten und oft auch fruchtbaren analytischen Instrumentarium dieser nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen vermochte. Erst in jüngerer Zeit etabliert sich ein neuer theoretischer Ansatz, der sich auf dem Wege zu einem ähnlich umfassenden Paradigma zu bewegen scheint wie die Neoklassik, nämlich die Neue Institutionenökonomie. Die Wurzeln ihrer Entwicklung reichen eigentlich schon weit zurück, weil Coase seinen grundlegenden Artikel „The Nature of the Firm" bereits 1937 verfaßt hatte. Doch erst in den sechziger Jahren entstand, unter seinem Einfluß, der „Property-Rights"-Ansatz, der sich mit den unterschiedlichen Ausprägungen der Nutzung von Verfügungsrechten und deren ökonomischen Konsequenzen beschäftigte. Parallel dazu entwickelte sich die „PublicChoice"-Schule, welche die neoklassische Analyse auf die Politik anwandte
74 · Felix Butschek und sich zur „Verfassungsökonomik" weiterentwickelte. Die „Agency Theorie" behandelte das Verhältnis zwischen dem Prinzipal und dem Agenten, welches durch unterschiedliche Nutzenfunktionen und einen unterschiedlichen Informationsstand charakterisiert ist. Einen wesentlichen Beitrag zur neoinstitutionalistischen Diskussion erbrachte die schon erwähnte „Transaktionenkostenökonomik", welche sich mit den Kosten der „Nutzung des Marktes" auseinandersetzt und schließlich entwickelte North die institutionenökonomische Analyse der wirtschaftsgeschichtlichen Abläufe. Obwohl alle diese Ansätze unterschiedliche Probleme behandelten und diese auch unterschiedlich analysierten, ergänzen sie einander auch in vieler Hinsicht. Allen ist jedoch gemeinsam, daß sie den Institutionen eine zentrale Rolle in der Bestimmung individueller Verhaltensweisen zuschreiben. Und in jüngster Zeit mehren sich die Versuche, diese verschiedenen Ansätze zu einem geschlossenen theoretischen System zusammenzufassen (siehe etwa Richter - Furubotn, 1996).
2. Die Grundannahmen der Neuen Institutionenökonomie Versucht man die gemeinsamen Grundzüge der NIE nachzuzeichnen, ist festzuhalten, daß auch diese von einer Kritik der neoklassischen Annahmen über den individuellen Tauschakt ausgeht. So verursache dieser durch die Nutzung des Marktes ganz erhebliche Aufwendungen. Solche der Anbahnung (Such- und Informationskosten), des Abschlusses von Verträgen (Verhandlungs-, Entscheidungskosten usw.) sowie Kosten der Überwachung und Durchsetzung von Leistungspflichten (Richter, 1990, S. 577), zusammenfassend „Transaktionskosten". Die Existenz dieser Kosten erweitert die unternehmerische Aufgabe dahin, nicht nur die Produktions-, sondern auch die Transaktionskosten, also die Gesamtkosten zu minimieren. Erweisen sich die Transaktionskosten auf dem Markt höher, als innerhalb des Betriebes, dann ist es ökonomisch, einen solchen zu führen — daraus erklärt sich überhaupt erst die Existenz von Betrieben mit mehreren Produktionsstufen. Als Regelungsmechanismus für die Transaktionen treten dann innerhalb des Betriebes an Stelle des Marktes die Hierarchie, hybride Formen (Williamson, 1993, S. 16) oder andere, kooperative Regelungsmechanismen (Ghoshal - Moran - Almeida-Costa, 1995). Erweist sich also die Annahme der kostenlosen Transaktion als unrealistisch — die Transaktionskosten machen einen hohen und stets steigenden Anteil der Gesamtkosten aus (North - Wallis, 1987) - so gilt dasselbe für jene der vollständigen beiderseitigen Information. Man kann davon ausgehen, daß diese in der Regel asymmetrisch ist, einmal durch den Umstand, daß die kognitiven Fähigkeiten der Informationsverarbeitung unterschiedlich entwickelt sind, ferner dadurch, daß unterschiedliche Positionen im Transaktionsprozeß zwangsläufig zu verschiedenartigem Informationsniveau führen müssen, vor allem aber dadurch, daß auch dieses durchaus kostenabhängig
Neue Institutionenökonomie · 75 ist. Das Wirtschaftssubjekt kann seine Informationen verbessern, wenn es bereit ist, dafür zusätzliche Ressourcen aufzuwenden oder es entscheidet auf der Basis seines eingeschränkten Informationsstandes. Schon aus diesen Überlegungen folgt, daß sich die Wirtschaftssubjekte nicht zweckrational verhalten können, also nicht in der Lage sind, mit konstanten Präferenzen, alles — auf Grund beidseitiger vollständiger Information - vorauszusehen, die Alternativen abzuwägen und zwischen ihnen eine optimale Entscheidung zu treffen oder, bei Entscheidung unter Unsicherheit, die Wahrscheinlichkeitsverteilung der relevanten Variablen zu kennen. Eine überwältigende Flut empirischer Untersuchungen beweist, daß dem natürlich nicht so ist (Conlisk, 1996), daß die Wirtschaftssubjekte zwar intentional rational agieren, aber eben aufgrund ihres beschränkten Informationsstandes und ihrer begrenzten kognitiven Fähigkeiten nur im eingeschränkten Maße. Man spricht deshalb von „eingeschränkter Rationalität" (bounded rationality — Simon, 1957). Es liegt auf der Hand, daß mit diesen Einwendungen auch die Vorstellung des Gleichgewichts fällt — sowohl mikrowie auch makroökonomisch. Eigentlich glaubt heute ja niemand mehr daran, daß man ein solches Verhalten der Wirtschaftssubjekte unterstellen kann, wie das die Neoklassik annimmt, und über Frage, was eigentlich ihr Verhalten bestimmt, ist eine fast unübersehbare Diskussion entstanden. Die Argumente reichen von den „positive economics" Friedmanns (1953), wonach das einzig relevante Kriterium für die Qualität einer Theorie, deren Prognosefähigkeit sei, über Alchians (1950) Hypothese des „as if' bis zum Entwurf eines „homo sociooeconomicus" (Lindenberg, 1990). Diese Auseinandersetzung ist im vollen Gange und weit davon entfernt, abschließend beurteilt werden zu können. Hier geht es freilich in erster Linie um eine Darstellung der von der NIE vertretenen Auffassungen, wenngleich sich sagen läßt, daß ihre Argumente in der jüngeren Debatte der Verhaltensbestimmung eine wichtige Rolle spielen. Freilich nimmt auch die NIE an, daß die Nutzenmaximierung grundsätzlich das Verhalten der Wirtschaftssubjekte im Tauschakt determiniert. Doch stellt sich die Frage, wie, nach welchen Regeln und mit welchen Beschränkungen die Minimierung der Produktions- und Transaktionskosten angestrebt wird. Nach Auffassung der NIE geschieht das durch „Institutionen". Diese sind „. . . the humanly devised constraints, that structure political, economic, and social interactions. They consist of both informal constraints (sanctions, taboos, customs, traditions, and codes of conduct) and formal rules (constitutions, laws, property rights)" (North, 1991, S. 97) oder mit anderen Worten . . . "institutions are the rules of the game of a society and consist of formal and informal constraints constructed to order interpersonal relationships" (Denzau - North, 1994, S. 4). Materialisieren sich Institutionen in mehr oder minder formellen menschlichen Gruppen, spricht man von Organisationen: „It is the interactions of institutions and organizations that shapes the institutional evolution of an
76 · Felix Butschek economy. If institutions are the rules of the game, organizations and their entrepreneurs are the players" (North, 1994, S. 361). Es stellt sich also heraus, daß die Verhaltensweisen der Wirtschaftssubjekte in hohem Maße exogen bestimmt werden, und zwar nicht nur durch die rechtlichen Rahmenbedingungen, was auch vom neoklassischen Standpunkt einigermaßen akzeptabel erschiene - diese wären Inhalt des „Datenkranzes" - sondern darüber hinaus durch eine Fülle von Gewohnheiten, Usancen und Traditionen, welche die Wirtschaftssubjekte internalisiert haben und die dazu dienen, die Einschränkungen der Rationalität teilweise durch soziales Lernen zu kompensieren. Das Individuum entwickelt durch Lernprozesse „mentale Modelle", um die Außenwelt zu interpretieren. Je mehr sie einander ähneln, desto einfacher wird die zwischenmenschliche Kommunikation auch im ökonomischen Bereich. "Mental models are shared communication, and communication allows the creation of ideologies and institutions in a co-evolutionary process. The creation of ideologies and institutions is important for economic performance, as there exist gains from trade and production that require coordination. As various authors have written, a market economy is based on the existence of a set of shared values such that trust can exist. The morality of a business person is a crucial intangible asset of a market economy, and its nonexistence substantially raises transaction costs" (Denzau — North, 1994, S. 20). Entwicklungsniveau oder Effizienz einer Volkswirtschaft hängen vom gegebenen Netzwerk der Institutionen und Organisationen, der „governance structure" (Williamson, 1993, S. 16) ab. Dessen Qualität läßt sich schon an der Existenz des Marktes ablesen. Dieser ist nicht einfach „da". Er repräsentiert eine soziale Einrichtung sich wiederholenden Tausches zwischen einer Mehrheit von Marktteilnehmern. Persönliche Kontakte, soziale Beziehungen oder Kooperation spielen hiebei eine Rolle. Er kann als eine Organisation betrachtet werden, als ein Netzwerk von relationalen Verträgen zwischen den Marktteilnehmern zum Zwecke des effizienten Tausches und kann die unterschiedlichsten Formen annehmen — vom Flohmarkt bis zur Börse (Richter - Furubotn, 1996, S. 297). Dieses Netzwerk von Verträgen überzieht den gesamten wirtschaftlichen Bereich einer Gesellschaft. Die NIE unterscheidet hiebei zwischen „klassischen" und „relationalen" Verträgen. Erstere erfassen präzise Leistung und Gegenleistung im festen zeitlichen Rahmen (sharp in by clear agreement, sharp out by clear performance, Mcneil, 1974, S. 738), letztere schaffen eher einen allgemeinen Rahmen und treten vorwiegend in geschäftlicher Dauerverbindung oder am Arbeitsmarkt auf. Ihre Flexibilität ermöglicht eine rasche Anpassung an geänderte Verhältnisse und damit eine Reduktion der Transaktionskosten. In welcher Weise beeinflussen nun die Institutionen den Tausch, wie tragen sie dazu bei, die Transaktions- und damit auch die Gesamtkosten zu senken? Zwei Probleme sind im Rahmen des - unpersönlichen - Tausches vorrangig zu lösen. Einerseits die Messung des Gutes und der Leistung, andererseits die Kontrolle des Vertragsvollzuges.
Neue Institutionenökonomie · 77 In Abwesenheit entsprechender Institutionen entstünden gewaltige Informationskosten für die Tauschpartner über Menge, Gewicht und Qualität der Güter und Leistungen sowie über die Eigentumsverhältnisse; im Falle der Leistungen zunächst deshalb, weil der Prinzipal und der Agent unterschiedlichen Präferenzen folgen. Aber diese Problematik reicht schon in den Bereich der Vollzugskontrolle. Da das Motiv der Einkommensmaximierung auch zu unkorrektem Verhalten (Opportunismus) anreizt, hängt die Höhe der Transaktionskosten von jenen Institutionen ab, welche eine effiziente Kontrolle des Vertragsvollzuges ermöglichen. Dazu sei freilich vermerkt, daß die Prinzipal-AgentBeziehung vielfach weit überpointiert wird. Gerade in neoinstitutionalistischer Sicht ist die Gesellschaft als eine Ansammlung von Betrügern nicht zu halten (siehe etwa Schlicht, 1990, S. 134 oder Ghoshal - Moran — AlmeidaCosta, 1995). Aber es können einfach unterschiedliche Auffassungen über den Vertragsvollzug entstehen. In der Vollzugskontrolle nimmt der Staat nach Ansicht der NIE eine zentrale Funktion ein. Auch dessen Handlungen lassen sich theoretisch fundieren, so etwa daß er - oder zumindest die herrschende Organisation oder Person — Leistungen (Rechtssystem, Gewaltmonopol) gegen Erträge (Steuern, Abgaben) anbietet. Jedenfalls ist unstrittig, daß die vom Staat geschaffenen Institutionen für die Performance einer Volkswirtschaft von zentraler Bedeutung sind.
3. Eine Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung Auf der Basis dieser Überlegungen hat North eine umfassende Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung konzipiert (North, 1988, 1992). Er geht davon aus, daß Wirtschaftswachstum durch zunehmende Arbeitsteilung sowie Ausweitung der Märkte zustande kommt. Dieser Prozeß kann sich aber nur vollziehen, wenn Institutionen entstehen, welche die Transaktionskosten reduzieren, weil sie Eigentumsrechte spezifizieren, die Messung von Gütern und Leistungen ermöglichen sowie die Vollzugskontrolle sicherstellen. In diesem Sinne führt North das wirtschaftliche Wachstum in der Antike auf die Herausbildung des Staates zurück, der durch seine Schutzfunktion die kommerzielle Tätigkeit in ihrer arbeitsteiligen Form ermöglichte und damit die Transaktionskosten senkte. Die Ausbildung des Privateigentums führte zu höherer Effizienz, und die Entstehung des Rechtsstaates vor allem im römischen Reich, zur weiteren Reduktion der Transaktionskosten. Umgekehrt ergab sich sein Zerfall nicht nur aus dem Verlust der militärischen Überlegenheit bzw. den steigenden Kosten der äußeren Sicherheit, sondern auch daraus, daß das Reich die Durchsetzung der Eigentumsrechte in der entsprechenden Form nicht mehr zu garantieren vermochte. Im Rahmen des Feudalismus konnten doch soweit Eigentumsrechte sowie eine gewisse Sicherheit zu entstehen, daß wirtschaftliches Wachstum möglich wurde, insbesondere in den Städten, wo sich jene Institutionen entwik-
78 · Felix Butschek kelten, welche schließlich zur signifikanten Verringerung der Transaktionskosten führen sollten. Schließlich seien es auch wieder institutionelle Veränderungen gewesen, welche die Basis für die Technische Revolution sowie für Innovationen auf breiter Basis geschaffen hätten, nämlich die Einführung des Patentrechts. Dieses hätte den Anreiz für letztere entscheidend erhöht und damit einen wesentlich Beitrag zur industriellen Revolution geleistet. Dazu sei noch der Umstand gekommen, daß die Veränderung der Produktionsmethoden, vom Handwerk über das Verlagssystem zur Fabrik, die Qualitätskontrolle der Produkte wesentlich erleichterte und die Rationalisierung des Erzeugungsvorganges begünstigte, wodurch hohe Transaktions- in niedrige Produktionskosten verwandelt werden konnten. Freilich seien mit der stets zunehmenden Arbeitsteilung und Spezialisierung auch Kosten entstanden, die sich immer wieder in gesellschaftlichen Instabilitäten niedergeschlagen hätten. Darauf würden von Interessengruppen Versuche unternommen, neue Institutionen zu etablieren. North sieht darin ein Element des institutionellen Wandels. Damit gelangt man zu diesem schwierigen Problem. In manchen Fällen vermag die Änderung relativer Preise einen institutionellen Wandel herbeizuführen und neue „effiziente" Institutionen zu schaffen, doch weist die historische Erfahrung darauf hin, daß dem absolut nicht immer so ist. Da ist einmal die Beständigkeit von Institutionen. Diese sind dadurch charakterisiert, daß sie sich nur sehr langsam und schrittweise ändern - was ja ein wichtiges Element der sozialen Stabilität darstellt. Weiters können unbedeutende historische Ereignisse die Entwicklung in eine suboptimale Richtung lenken, welche durch die „path-dependence" lange Zeit beibehalten wird. Vermitteln solche Institutionen überdies steigende Erträge, bleibt der Anreiz zu Veränderungen gering, vor allem, weil diese Erträge bestimmten - herrschenden - Gruppen zufließen, für die damit kein unmittelbarer Anreiz zu Änderungen besteht (North, 1992, S. 98). Letztlich bestimmt nicht nur die Tendenz zur Einkommensmaximierung das menschliche Verhalten, sondern das tun auch Ideologien, also Systeme individueller Uberzeugungen und Handlungsanleitung, welche keineswegs auf höhere Effizienz gerichtet sein müssen. Wie solche Ideologien zustande kommen bleibt vorerst eine offene Frage.
4. Eine Renaissance der Österreichischen Schule? Wenn eingangs festgestellt wurde, daß die frühere Kritik der Neoklassik zumeist deshalb wirkungslos blieb, weil sie dieser kein entsprechend geschlossenes System entgegenstellen konnte, so gilt das sicherlich nicht für die Österreichische Schule der Nationalökonomie. Wiewohl sie zu den Trägern der marginalistischen Revolution zählte, nahm diese doch eine signifikant andere Entwicklung als die Neoklassik. Mit ihren Auffassungen wurde
Neue Institutionenökonomie · 79 sie zum wichtigsten Vorläufer der NIE und erlebt seit Mitte der siebziger Jahre in den USA eine Renaissance als „Austrian Economics". Feldmann (1995, S. 33) weist in seiner dogmenhistorischen Untersuchung über die Vorläufer der NIE darauf hin, daß die Österreicher den Institutionen stets höchstes Augenmerk zuwandten. So hätte Menger in seiner Kritik der Historischen Schule betont, daß diese sehr wohl einer theoretischen Analyse zugänglich wären. Er unterschied solche, die „das Resultat einer auf ihre Begründung und Entwicklung gerichtete Zwecktätigkeit der Menschen (der Übereinkunft der Gesellschaftsglieder, beziehungsweise der positiven Gesetzgebung)" seien (Menger, 1883, S. 143), worunter er vor allem das gesetzte Recht verstand und solchen, die „das unreflektierte Ergebnis der auf die Erreichung wesentlich individueller Zwecke gerichteten menschlichen Bestrebungen (die unbeabsichtigte Resultate dieser letzteren", S. 145) seien. Darunter subsumierte er Sprache, Religion, Recht und Staat, Märkte und Geld. Alle diese Institutionen wären spontan aus dem eigeninteressierten Handeln der Individuen entstanden. Die von der NIE festgestellte Dualität der Institutionen findet sich also bereits bei Menger. Böhm-Bawerk widmete sich stärker der später von der Property-Rights Schule behandelten Problembereich. Er demonstrierte, daß Güter Komplexe von Nutzleistungen enthalten, der Inhalt dieser Nutzungsrechte aber unterschiedlich ausgestaltet sein kann, diesem demnach ein unterschiedlicher Wert zukommt und die Rechte auf einzelne Nutzleistungen eines Gutes auf verschiedene Wirtschaftssubjekte verteilt sein können. Böhm-Bawerk wies nach, daß nicht die Verfügung über Güter schlechthin, sondern der Inhalt, die Verteilung und die Durchsetzbarkeit der Rechte auf Nutzleistungen von Gütern ökonomisch entscheidend seien (Feldmann, 1995, S. 35). Den umfassendsten und bedeutendsten Beitrag zur Erforschung der Institutionen und ihrer Funktion leistete jedoch zweifellos Hayek. Er geht von der menschlichen Wahrnehmung aus und zeigt, daß das Individuum die aus seiner Umwelt empfangenen Eindrücke, einem geistigen Schema, einer „Landkarte" der Außenwelt einordne. Dieses Schema versetzte ihn in die Lage, die vielfältigen äußeren Eindrücke rasch zu interpretieren und entsprechende Handlungen zu setzen. Die Entwicklung dieses Schemas wie auch die Einordnung der Wahrnehmungen in dieses erfolge gänzlich unbewußt. Als Beispiel dafür nennt er das Sprach- oder Rechtsgefühl. Die dadurch geschaffene Routine habe es möglich gemacht immer neue Probleme aufzugreifen, deren Lösungen wieder neue Routine schaffe (Hayek, 1945, S. 117). Auf diese Weise hätten sich im Laufe der Geschichte Verhaltensregeln ausgebildet, die es ermöglichten, die Tätigkeiten einer immer größeren Zahl von Menschen zu koordinieren. Dadurch seien nicht nur Sprache und Recht, sondern auch die Familie, das Privateigentum, der Markt und das Geld entstanden. Alle diese Institutionen hätten eine spontane Ordnung menschlichen Handelns geschaffen, welche den Menschen durch die größtmögliche Nutzung individuellen Wissens eine Steigerung ihres Wohlstandes ermöglicht habe.
80 • Felix Butschek Es zeigt sich also, daß die österreichische Schule der Nationalökonomie tatsächlich wesentliche Bereiche der Neuen Institutionenökonomie vorweggenommen und ein recht umfassendes und theoretisch geschlossenes System entwickelt hat. Wiewohl die der NIE nahestehenden Autoren immer wieder auf Hayek zurückgreifen, wird auf die Osterreichische Schule insgesamt weniger Bezug genommen, obschon sie in manchen Bereichen fast überzeugender argumentiert als die NIE. Das gilt vor allem für die Analyse des individuellen Tauschprozesses, in welcher sie nicht nur die Kritik der NIE gleichfalls vorwegnimmt, sondern in der positiven Formulierung dieses Vorganges schlüssiger vorgeht (siehe zuletzt Kirzner, 1997). In dieser Überzeugungskraft mag auch die Renaissance der „Austrians" in den USA begründet sein, ohne, daß freilich erkennbare Kontakte zur NIE entstanden wären. In Österreich ist diese Schule fast vollkommen in Vergessenheit geraten. Nach der Emeritierung ihrer letzten Vertreter nach dem Zweiten Weltkrieg orientierte sich die akademische Diskussion lange Zeit an der Neoklassischen Synthese, um sich — im Gleichklang mit der internationalen Entwicklung — immer stärker an der mathematisch akzentuierten Neoklassik zu orientieren; mit der einen, freilich relevanten, Ausnahme — Erich Streissler!
5. Erich Streissler und die Tradition der österreichischen Schule Wiewohl er als jener Vertreter der akademischen Nationalökonomie betrachtet werden kann, der von Beginn seiner Universitätslaufbahn an bemüht war, die internationale Entwicklung seines Faches in Wien präsent zu machen, verlor er die Bedeutung der Osterreichischen Schule nie aus den Augen. Sein gesamtes Lebenswerk ist in hohem Maße durch Arbeiten über diese geprägt, durch sein Bestreben, sie der Gegenwart bewußt zu machen. Das geschah nicht nur durch eine Fülle von Übersichtsartikeln, sondern durch Anwendung ihrer Hypothesen auf aktuelle Probleme von Theorie und Politik, so etwa auf jene des Wirtschaftswachstums (1969A) und der Wirtschaftsstruktur (1969B), oder als er die Frage prüfte, welche Art mikroökonomischer Fundierung die Makroökonomie erfordere (1977). Ein wesentlicher Teil dieser Arbeiten betrifft aber genau jene Bereiche, welche heute Schwerpunkte der neoinstitutionalistischen Forschung darstellen. So beschäftigt sich der Aufsatz „To What Extent Was The Austrian School Marginalist?" schon 1972 mit der Problematik des individuellen Tausches. Darin hebt Streissler den informationstheoretischen Ansatz Mengers hervor, der davon ausgeht, daß das Wissen der Wirtschaftssubjekte begrenzt ist, diese sich jedoch bemühen, dieses zu vergrößern auch dadurch, daß sie Institutionen schaffen, welche die Informationsausweitung erleichtern (Streissler, 1972, S. 432) — ein Problem, das Streissler übrigens immer wieder aufgreift (siehe etwa Streissler, 1994). Gleicherweise zeigt er, daß Menger deutlich feststellt, der Tausch sei nicht kostenlos, so daß es keinen bestimmten Gleichgewichtspreis geben könne. Das von Wieser formulierte „Gesetz des
Neue Institutionenökonomie · 81 Preisausgleiches" bringe schon den dynamischen Aspekt des Tauschvorganges zum Ausdruck. Menger wollte die Kräfte beschreiben, welche in Richtung eines Gleichgewichts wirksam werden, ließ jedoch offen, wann und wie man diesem näher komme. Zwar kenne auch er einen Auktionsvorgang, jedoch einen der durch permanente Informationsbeschaffung charakterisiert ist. „Walras's tatonnement takes a minute; Menger's tatonnement takes a century! Needless to say, with Menger we are most of the time out of equilibrium in the sense that the equilibrium price has not yet been found" (Streiss• ler, 1972, S. 440). Noch weiter geht Streissler, sich immer wieder auf die Österreicher berufend, in einer Studie über die völlige Abwesenheit des Unternehmers in der Neoklassik C.Kritik des neoklassischen Gleichgewichtsansatzes als Rechtfertigung marktwirtschaftlicher Ordnungen", Streissler, 1980). Nicht nur präsentiert er darin eine umfassende Kritik des neoklassischen Paradigmas, wobei er sich intensiv mit dem zeitlichen Ablauf und dem daraus erfließenden dynamischen Charakter des Marktprozesses beschäftigt sowie mit der Rolle des Unternehmers darin. Darüber hinaus geht er aber im besonderen auf die Bedeutung der Institutionen ein. Diese repräsentierten, im Gegensatz zur neoklassischen Auffassung, keine „Friktionen", sondern ein Wesenselement des Marktes. Dazu rechnet er die „informationserhöhenden", wie die Börse und die Instrumente des Finanzwesens, welche gleichzeitig „transaktionskostenmindernd" wirken sowie „risikomindernde" wie Versicherungen, Wertsicherungsklauseln, Konventionalstrafen und Haftungsregeln. Das gleiche gelte auch für beschränkte Haftung und das Konkursrecht. Ebenso seien die Organisationsformen von Unternehmen hinzuzurechnen, welche zu einer klareren Fassung von Eigentumsrechten geführt habe. Besonderes Gewicht legt er auf Unternehmer- und Arbeitnehmervertretungen, welche in der Neoklassik als störendes Element betrachtet werden. „In Wahrheit wurden sowohl Unternehmerverbände wie Arbeiterverbände, insbesondere Gewerkschaften, von Anfang an in der Unternehmerwirtschaft ausgebildet und gehören untrennbar zu ihr. . . . Sie sind Instrumente der Subsidiarisierung und Dezentralisierung von Entscheidungen, der Übernahme in Selbsthilfe von Funktionen eines funktionsunfähigen und wirtschaftsfremden Staates" (Streissler, 1980, S. 51). Womit er wieder wesentliche Gedanken der neoinstitutionalistisch inspirierten Korporatismusforschung vorwegnimmt! Diesem Komplex sind auch jene seiner Überlegungen zuzurechnen, welche die Neoklassik deshalb kritisieren, weil sie das Individuum isoliert betrachtet. Vollständige Konkurrenz schließt Kooperation ja begrifflich aus. Andererseits gebe es auch keine Plankonflikte und keine wechselseitigen Beschränkungen in der Durchsetzbarkeit von Plänen. Tatsächlich entstehen aber in der Marktwirtschaft eine Fülle von „diffusen" oder „expliziten" Interaktionen, die weitgehende Auswirkungen auf die Wirtschaftssubjekte zeitigen (Streissler, 1980, S. 57).
82 · Felix Butschek Immer wieder beschäftigt sich Streissler mit Problemen von Institutionen und Organisationen, so etwa in einem Aufsatz über „Preissystem, Eigentumsrechte und politische Wahlprozesse als soziale Entscheidungsfindung" (Streissler, 1976) oder „Zum Zusammenhang zwischen Korruption und Wirtschaftsverfassung" (Streissler, 1981) oder „Probleme der Unternehmensbesteuerung im Lichte der Principal-Agent-Theorie" (Neudeck — Streissler, 1991). Streissler's Neigung, sich mit solchen Themen auseinanderzusetzen, mag auch damit zusammenhängen, daß er trotz aller theoretischen Kompetenz, stets den wirtschaftspolitischen Problemen Österreichs, insbesondere auch dessen wirtschaftlichen Interessensorganisationen, größte Aufmerksamkeit schenkte und, umgekehrt, auch von der korporatistischen Struktur dieses Landes geprägt wurde. Versucht man, aus all den hier angestellten Überlegungen, Schlüsse zu ziehen, dann ergibt sich, daß die Österreichische Schule der Nationalökonomie, vor allem in den Komplexen des individuellen Tausches sowie des Einflusses der Institutionen auf das Verhalten der Wirtschaftssubjekte, die Ansätze der NIE vorweggenommen hat. Und gerade im Zusammenhang mit dieser für die Nationalökonomie so wichtigen neueren Theorieentwicklung nimmt Erich Streissler eine wichtige Position ein. Nicht nur, daß er die Tradition des österreichischen nationalökonomischen Denkens, entgegen allen herrschenden Paradigmen, weiterführte, seine Arbeit nahm die jüngste Entwicklung in beträchtlichem Maße vorweg. Einerseits in der Kritik des neoklassischen Ansatzes und der Würdigung des dynamischen österreichischen Modells, andererseits dadurch, daß er den Institutionen und den Organisationen — insbesondere jenen der Sozialpartner — ein hohes Gewicht beimaß. Er zählt damit zu jenen bedeutenden Wissenschaftlern, welchen es gelungen ist, die Tradition in die Zukunft weiterzuführen.
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Neue Institutionenökonomie · 83 Neudeck, W., Streissler E., „Probleme der Unternehmensbesteuerung im Lichte der PricipalAgent-Theorie", in Aktuelle Fragen der Finanzwirtschaft und der Unternehmensbesteuerung. Festschrift für Erich Loitlsberger, Wien, 1991. North, D. C., Wallis, J. J., „Institutions, Transaction Costs and Economic Growth", Economic Inquiry, 1987, (4). North, D. C., Structure and Change in Economic History, New York, 1981, (deutsch): Theorie des institutionellen Wandels, Tübingen, 1988. North, D. C., „Institutions", Journal of Economic Perspectives, 1991, (5). North, D. C., Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge, 1990; (deutsch): Institutionen, Institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen, 1992. North, D. C., „Economic Performance trough Time", American Economic Review, 1994, 84(3). Richter, R., „Sichtweise und Fragestellungen der Neuen Institutionenökonomik", Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 1990, (4). Richter, R., Furubotn, E., Neue Institutionenökonomik, Tübingen, 1996. Schlicht, E., Rationality, „Bounded or not, and Institutional Analysis", Journal of Institutional and Theoretical Economics, 1990, (4). Simon, Η. Α., Models of Man - Social and Rational, New York, 1957. Streissler, Ε. (1969A), „Hayek on Growth: A Reconsideration of his Early Theoretical Work", in Haberler, G., Lutz, F. Α., Machlup, F. (Hrsg.), Roads to Freedom. Essays in Honour of Friedrich A. von Hayek, London, 1969. Streissler, Ε. (1969B), „Structural Economic Thought - On the Significance of the Austrian School Today", Zeitschrift für Nationalökonomie, 1969, 29. Streissler, Ε., To What Extent was the Austrian School Marginalist?, History of Political Economy, 1972, (2). Streissler, E., „Preissystem, Eigentumsrechte und politische Wahlprozesse als soziale Entscheidungsfindung", Wirtschaftspolitische Blätter, 1976, (5). Streissler, E., „What Kind of Microeconomic Foundations of Macroeconomics are Necessary?", in Harcourt, G. C. (Hrsg.), The Microeconomic Foundations of Macroeconomics, London-Basongszoke, 1977. Streissler, E., „Kritik des neoklassischen Gleichgewichtsansatzes als Rechtfertigung marktwirtschaftlicher Ordnungen", in Streissler, E., Watrin, Ch., Zur Theorie marktwirtschaftlicher Ordnungen, Tübingen, 1980. Streissler, E., „Zum Zusammenhang zwischen Korruption und Wirtschaftsverfassung. (Korruption im Vergleich der Wirtschaftssysteme)", in Brünner, C. (Hrsg.), Korruption und Kontrolle, Wien-Köln-Graz, 1981. Streissler, E., „Hayek on Information and Socialism", in Colonna, M., Hagemann H., Hamouda, O. F. (Hrsg.) The Economics of Hayek, F. Α., Aldershot, 1994, 2. Williamson, Ο. Ε., „The Economic Analysis of Institutions and Organisations - in General and with Respect to Country Studies", OECD, Economics Department, Working Papers, 1993, (133).
Die Dauerhaftigkeit der „Zwischenform": Hayeks Verdikt gegen den Wohlfahrtsstaat nach fünfzig Jahren Günther Chaloupek*)
1. Einleitung Im Zentrum von Friedrich August von Hayeks Denken steht die Frage, ob und wie die Menschen kollektiv durch bewußtes Handeln die Entwicklung der Gesellschaft, welche sie bilden, beeinflussen können. Bei seinen Untersuchungen über das Funktionieren der Institutionen, welche den gesellschaftlichen Zusammenhalt konstituieren, und insbesondere darüber, wie sich diese Institutionen bilden, ist Hayeks Denken in einem Maße, wie dies kaum auf einen anderen Theoretiker zutrifft, vom Bezug auf die theoretischen Gegenwelten der existierenden Realität bestimmt worden. Seine tiefen Einsichten in die Bedeutung von Markt und Wettbewerb als dezentraler Entscheidungsmechanismus und ihre Verallgemeinerung in der Theorie über den Gebrauch des Wissens in der Gesellschaft verdanken ihre wichtigsten Argumente der theoretischen Auseinandersetzung über die Möglichkeit und Unmöglichkeit des „Sozialismus", d. h. eines auf Staatseigentum und zentraler Planung beruhenden Wirtschaftssystems. Das steigende Ansehen, dessen sich die Österreichische Schule seit längerer Zeit in der ökonomischen Theorie, aber auch in der Wirtschaftspolitik erfreuen darf, beruht nicht zuletzt auf dem Umstand, daß Hayek — und vor ihm Ludwig von Mises — den Mißerfolg dieses Systems viele Jahrzehnte vor dessen Ende und sogar schon zu einer Zeit, als es noch kaum in der Realität etabliert war, vorhergesehen haben. Im Unterschied etwa zu Schumpeter 1 ) hat Hayek seine langfristige Perspektive der wirtschaftlichen Entwicklung nicht systematisch dargestellt. Aber wie bei allen großen ökonomischen Theoretikern finden sich in seinen Schriften zahlreiche Aussagen zur langfristigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Es ist ein Ausdruck der intellektuellen Redlichkeit F. A. *) Für Kommentare und Anregungen danke ich Felix Butschek und Robert Schediwy, die eine erste Version dieses Beitrages einer kritischen Lektüre unterzogen haben. Ich danke auch Manfred Prisching, dessen zahlreichen Schriften zum gegenständlichen Thema eine unentbehrliche Grundlage für meine Überlegungen waren, für die Überlassung eines unveröffentlichten Manuskripts sowie von Sonderdrucken seiner zahlreichen Aufsätze über den Wohlfahrtsstaat. 0 Schumpeter
(1920/21, 1945).
86 · Günther Chaloupek Hayeks, daß er seine Thesen nie in der Art formuliert hat, daß sie gegen eine Falsifikation möglichst immun sind - eine Kunst, die heute zu großer Perfektion entwickelt ist, allerdings nicht zum Vorteil der ökonomischen Wissenschaft. Hayek wollte nicht nur seine theoretischen Argumente entwikkeln, sondern diese auch auf die Realität angewendet wissen: „Selbstverständlich können wir jeden Handlungsablauf einer Prüfung unterziehen; die Frage lautet aber, ob jene Ergebnisse eintreten werden, von denen behauptet wird, daß sie eintreten würden. Dies ist ohne Zweifel eine wissenschaftliche Frage" (Hayek, 1977, S. 42). Thesen über zu erwartende „Ergebnisse" hat Hayek nicht nur bezüglich des Sozialismus aufgestellt, sondern auch für den Wohlfahrtsstaat als Gestaltungskonzeption der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die in der Nachkriegszeit in den nichtsozialistischen Ländern des Westens eine dominierende Stellung erlangt hat. In diesem Beitrag werden Hayeks Thesen zur langfristigen Entwicklungsperspektive der westlichen Industriegesellschaften unter dem Gesichtspunkt ihres Charakters als Wohlfahrtsstaaten in ihrem grundlegenden Argumentationszusammenhang zunächst dargestellt und dann mit der realen Entwicklung, von der wir inzwischen gut fünf Jahrzehnte überblicken, konfrontiert. Drei zentrale Aspekte der Hayekschen Kritik des modernen Wohlfahrtsstaates werden dabei näher beleuchtet: die allgemeine Sozialversicherung (Kranken-, Pensions-, Arbeitslosenversicherung), die kollektive Einkommensfestsetzung durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, und schließlich die unter dem Einfluß der Keynes'schen Theorie an makroökonomischen Zielsetzungen, insbesondere an der Vollbeschäftigung orientierte Wirtschaftspolitik des Staates2). Hayeks Kritik des Wohlfahrtsstaates ist angesichts des langen Zeitraums (fast fünf Jahrzehnte), in welchem sie immer wieder vorgetragen wurde, durch eine bemerkenswerte Kontinuität der Argumentation gekennzeichnet. Dennoch erscheint es sinnvoll, zwei Versionen, gewissermaßen auch Stufen der Kritik zu unterscheiden: die Version im „Weg zur Knechtschaft", und die spätere Form der Kritik, wie sie systematisch erstmals in der „Verfassung der Freiheit" formuliert ist und sich in zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen sowie in „Recht, Gesetzgebung und Freiheit" findet.
2
) Im Unterschied zu dieser hier unter konkreten ökonomischen Aspekten vorgenommenen Evaluierung der Hayekschen Sozialstaatskritik hat Prischitig (1989) in seinem Aufsatz "Friedrich Hayeks Sozialstaatskritik" die Thesen Hayeks unter den generalisierenden Gesichtspunkten Planung und Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Evolution von Regeln und Institutionen, Anpassungsfähigkeit und Innovation untersucht, wobei die Resultate meines Erachtens völlig kompatibel sind.
Die Dauerhaftigkeit der „Zwischenform" · 87
2. Der Weg zur Knechtschaft In dem 1944 erschienenen Buch „Der Weg zur Knechtschaft" (deutsche Übersetzung 1945) ging es Hayek darum, vor den Gefahren einer Einführung des Sozialismus „durch die Hintertür" eines Systems der umfassenden wirtschaftlichen Planung zu warnen. Die Widmung des Buchs an „die Sozialisten in allen Parteien" bringt zum Ausdruck, daß die Idee einer umfassenden wirtschaftlichen Planung zur Erreichung und Sicherung der Vollbeschäftigung sich nicht nur in sozialdemokratischen Parteien großer Sympathien erfreute. Anders als im totalitären System des Sowjetkommunismus sollte bei grundsätzlicher Beibehaltung des Privateigentums an den Produktionsmitteln eine gesamtwirtschaftliche Steuerung der Nachfrageseite der Volkswirtschaft, insbesondere der Investitionen, ein Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung ermöglichen und eine Wiederholung der Depression der Zwischenkriegszeit vermeiden. Im „Weg zur Knechtschaft" ging es Hayek darum zu zeigen, daß das marktwirtschaftliche System der dezentralen Entscheidung über die Ressourcenallokation durch selbständig entscheidende Unternehmungen und Konsumenten mit der konsequenten Umsetzung eines staatlichen Planes, auch wenn dieser sich auf gewisse makroökonomische Aggregate beschränkt, nicht vereinbar und das Abdriften eines solchen Systems in einen planwirtschaftlichen Sozialismus unvermeidlich sein würde. Dabei ist es irrelevant, daß eine solche Entwicklung nicht in den Intentionen der Vertreter eines solchen gemischten Systems entspricht, genausowenig wie die ihnen von Hayek grundsätzlich konzedierte demokratische Gesinnung ein Abdriften des politischen Systems in den Totalitarismus verhindern werde, wenn einmal die Eigendynamik der Entwicklung voll in Gang gekommen sei. Wohlfahrtsstaatliche Institutionen der sozialen Sicherung sind in Hayeks Kritik an den Konzeptionen einer planwirtschaftlichen Steuerung ein Nebenaspekt. Anders als die gesamtwirtschaftliche Planung werden sie nicht völlig negativ bewertet, sind aber mit denselben Risken des Verlustes an wirtschaftlicher Effizienz und der Freiheit behaftet. Wirtschaftliche Sicherheit als eine der Voraussetzungen wirklicher Freiheit hinzustellen sei zwar nicht völlig falsch. „Eine gewisse Sicherheit ist wesentlich, wenn die Freiheit erhalten bleiben soll, denn die meisten Menschen sind nur so lange bereit, das mit der Freiheit verbundene Risiko zu tragen, als es nicht zu groß ist" {Hayek, 1945, S. 172). Zufolge der Unbestimmtheit und Zweideutigkeit des Begriffs könne jedoch „die allgemeine Zustimmung, die die Forderung nach Sicherheit findet, zu einer Gefahr für die Freiheit werden. Weit davon entfernt, die Chancen für die Freiheit zu erhöhen, erwächst aus dem allgemeinen Streben nach Sicherheit, wenn diese zu absolut aufgefaßt wird, in der Tat die ernsteste Bedrohung für die Freiheit" {Hayek, 1945, S. 156). Zwei Arten von Sicherheit müßten sorgfältig unterschieden werden: „eine begrenzte, die allen Menschen gewährleistet werden kann und die deshalb kein Vorrecht ist, sondern ein durchaus berechtigter Anspruch, und die absolute Sicherheit, die in einer freien Gesellschaft nicht allen gewährleistet werden
88 · Günther Chaloupek kann und die nicht als ein Vorrecht verliehen werden sollte . . . einerseits die Sicherheit eines Mindesteinkommens und andererseits die Sicherheit des besonderen Einkommens, auf das jedermann Anspruch zu haben glaubt" {Hayek, 1945, S. 156f). Hayek sieht keinen Grund dafür, daß eine Gesellschaft mit relativ hohem Wohlstandsniveau nicht ein Mindesteinkommen garantieren sollte, auch wenn die Festlegung der Höhe des zu garantierenden Standards eine schwierige Frage sei. Uber dieses Postulat einer Mindestsicherung vor echter Armut geht Hayek an dieser Stelle eindeutig hinaus, wenn er weiters auch keinen Grund dafür sieht, „warum der Staat die Individuen nicht in der Vorsorge für jene gewöhnlichen Wechselfälle des Lebens unterstützen sollte, gegen die wegen ihrer Ungewißheit nur wenige sich ausreichend sichern können." Soweit es sich wie bei Krankheit und Unfall um echte versicherungsfähige Risiken handle, spreche „sehr viel für die staatliche Hilfe bei der Organisierung einer umfassenden Sozialversicherung" {Hayek, 1945, S. 158). Diese Art von Sozialversicherung darf jedoch nicht durch Eingriffe in den Markt erfolgen, sondern es „muß außerhalb des Marktes für die Sicherheit gesorgt werden, und dem Funktionieren des Wettbewerbs dürfen keine Hindernisse in den Weg gelegt werden" (Hayek, 1945, S. 171f). Im Unterschied zu solchen mit der Marktwirtschaft kompatiblen Formen der sozialen Sicherung sieht Hayek alle sozialpolitischen Eingriffe, die für bestimmte Gruppen oder Berufe ein bestimmtes, als angemessen betrachtetes Einkommen garantieren sollen, als wirtschaftlich schädlich und mit der Freiheit unvereinbar an. In diesem Zusammenhang wendet er sich gegen Versuche, Einkommensverluste von Personen, deren Qualifikation durch technische Neuerungen entwertet wird, durch staatliche Eingriffe hintanhalten zu wollen. Solche Vorrechte gehen auf Kosten der anderen, mit der Konsequenz, daß immer mehr Gruppen nach solchen Vorrechten der Sicherheit eines bestimmten Einkommens verlangen, „bis schließlich kein Preis dafür als zu hoch erscheint, selbst der der Freiheit nicht" {Hayek, 1945, S. 161). In ähnlicher Weise argumentiert Hayek gegen Beschränkungen der Gewerbefreiheit durch Zugangsbeschränkungen, Preis- und Lohnfestsetzungen. „Wenige Schlagworte haben so viel Unheil angerichtet wie das Ideal einer .Stabilisierung' bestimmter Preise (oder Löhne), die zwar einigen das Einkommen sichern, dafür aber die Lage der übrigen immer prekärer werden lassen" (Hayek, 1945, S. 168). Als Prototyp eines solchen Systems sieht Hayek Deutschland, das lange vor der nationalsozialistischen Machtübernahme ein „Beamtenstaat" gewesen sei, „in dem nicht nur in der eigentlichen Beamtenlaufbahn, sondern in fast allen Bereichen des Lebens das Einkommen oder die Rangstellung von irgendeiner Behörde angewiesen und garantiert wurden" (Hayek, 1945, S. 170). Jeder Art von wirtschaftlichen Planung inhärent ist die Tendenz, damit auch ein „subjektives Ideal gerechter Verteilung zu verwirklichen" (Hayek, 1945, S. 144). Diese steht jedoch in direktem Gegensatz zum fundamentalen rechtsstaatlichen Prinzip der formalen Gleichheit vor dem Gesetz. Alle Menschen mit ihrer individuellen Verschiedenheit in dieselbe Lage bringen zu
Die Dauerhaftigkeit der „Zwischenform" · 89 wollen erfordert, sie verschieden zu behandeln, sodaß jede Politik, „die sich direkt das substantielle Ideal der Verteilungsgerechtigkeit zum Ziel setzt, zur Zerstörung des Rechtsstaates führen muß" {Hayek, 1945, S. 109). Hayek hält also Sozialpolitik durch direkte Eingriffe in die marktmäßigen Preis- und Lohnbildungsprozesse für wirtschaftlich schädlich und für politisch gefährlich. Dem Gedanken „umfassender Sozialversicherungssysteme" steht er jedoch in seinem Buch „Weg zur Knechtschaft" nicht prinzipiell ablehnend gegenüber, wenngleich er auch hier zur Vorsicht mahnt. Er stellt dabei auf zwei Kriterien ab, nämlich auf die Beschränkung auf die Sicherung eines Mindeststandards zum Schutz vor Armut, und weiters darauf, daß „diese Sicherheit allen außerhalb und neben der Marktwirtschaft gewährleistet werden kann" {Hayek, 1945, S. 157), also auf Verallgemeinerungsfähigkeit und Marktkonformität, wobei er behauptet, daß sich diese beiden Kriterien weitgehend decken.
3. Die Verfassung der Freiheit Gegenüber dem Jahr 1944, in welchem „Der Weg zur Knechtschaft" erschienen war, hatte sich 1960 (Erscheinungsjahr der englischen Originalausgabe von „The Constitution of Liberty") die Konstellation der allgemeinen wirtschaftspolitischen Diskussion grundlegend geändert. Mit Genugtuung konnte Hayek feststellen, daß die Erkenntnis, „daß eine sozialistische Organisation der Produktion nicht mehr, sondern viel weniger produktiv ist als privates Unternehmertum", die willkürliche soziale Praxis der zentralen Planwirtschaft und der politische Despotismus der kommunistischen Systeme {Hayek, 1971, S. 325) im Westen auch in den sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien zu einer weitgehenden Abkehr von der Idee eines planwirtschaftlichen Sozialismus geführt hätten. Die „Verteidiger der Freiheit" hätten aber damit keineswegs einen endgültigen Sieg errungen. Vielmehr habe die neue Situation „ihre Aufgabe stark verändert und schwieriger gemacht" {Hayek, 1971, S. 329). Denn der Wohlfahrtsstaat sei die neue Hintertür, die letztendlich zum „Sozialismus" führen solle. Zwar ließen sich manche Ziele des Wohlfahrtsstaates ohne Schaden für die Freiheit verwirklichen, doch bestehe die neue Gefahr darin, daß dazu Mittel angewendet werden, welche die Freiheit beeinträchtigen. Unter Verweis auf die entsprechende Passage im „Weg zur Knechtschaft" unterscheidet Hayek drei Bedeutungen von sozialer Sicherheit: 1. „Zusicherung eines gegebenen Existenzminimums für alle" als Schutz vor (extremer) Armut"; 2. „Zusicherung eines bestimmten Lebensstandards, der durch Vergleich des von einer Person oder einer Gruppe genossenen Standards mit dem anderer bestimmt wird"; 3. die Zielsetzung, „die Macht der Regierung dazu zu gebrauchen, eine gleichmäßige oder gerechtere Verteilung der Güter zu sichern" {Hayek, 1971, S. 330).
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3.1 Sozialversicherung In Fortsetzung des Gedankens einer umfassenden Sozialversicherung, dabei eindeutiger als 1944 argumentiert Hayek in der „Verfassung der Freiheit" zumindest für eine allgemeine Versicherungspflicht in Analogie zur zwangsweisen Haftpflichtversicherung der Autofahrer. „Wenn es einmal eine anerkannte Pflicht der Öffentlichkeit geworden ist, für die dringendsten Bedürfnisse im Alter, bei Arbeitslosigkeit, im Krankheitsfall usw. zu sorgen, und insbesondere wenn Hilfe in einem solchen Ausmaß zugesichert wird, daß sie zu einem Nachlassen der persönlichen Bemühungen führt, scheint es eine auf der Hand hegende Schlußfolgerung zu sein, sie zu zwingen, sich gegen diese allgemeinen Gefahren des Lebens zu versichern oder sonst vorzusorgen" {Hayek, 1971, S. 362). Hayek konzediert sogar noch, daß theoretisch betrachtet einheitliche Zwangsversicherungsanstalten technisch einfacher und daher wirtschaftlicher wären. Diese Vorteile würden jedoch in der Praxis mehr als aufgewogen durch die unvermeidliche Bürokratisierungstendenz sowie durch die politische Eigendynamik einer solchen Institution, welche ihre Verwendung für Ziele der substantiellen sozialen Gerechtigkeit unausweichlich erscheinen läßt. Letzteres gilt primär für die Pensionsversicherung. Während im kommerziellen Versicherungssystem niemand mehr bekommt als seinem vertraglichen Anspruch entspricht, kann „ein monopolistischer staatlicher Versicherungsdienst nach dem Prinzip der Zuteilung nach Bedürftigkeit vorgehen, ohne Rücksicht auf den vertraglichen Anspruch. Nur eine solche Organisation mit Ermessensgewalten wird in der Lage sein, . . . einen einheitlichen ,sozialen Standard' zu erreichen" {Hayek, 1971, S. 364). Langfristig sei die Verschärfung von politischen Verteilungskämpfen zwischen den Generationen vorprogrammiert3). Bei der Krankenversicherung weist Hayek auf die Schwierigkeit hin, einen „normalen Versorgungsstandard objektiv zu definieren, bei der Arbeitslosenversicherung, bei der Arbeitslosigkeit auf die Gefahr, daß instabile Wirtschaftszweige durch die anderen systematisch subventioniert werden. Anhand einiger illustrativer Beispiele, die hauptsächlich der englischen und der amerikanischen Realität entnommen sind, diagnostiziert Hayek bereits 1960 eine generelle „Krise der sozialen Sicherheit". Als Ausweg sei ein Übergang zu privaten Versicherungssystemen nur für die Kranken- und die Arbeitslosenversicherung realistisch, während die staatliche Pensionsversicherung der Gesellschaft „eine ständig wachsende Last auf(erlegt), von der sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach immer wieder durch Inflation zu befreien versuchen wird" {Hayek, 1971, S. 385).
3 ) Hayeks Polemik geht hier so weit, daß er von "Konzentrationslagern fur die Alten" spricht, "die sich nicht selbst erhalten können", da "deren Einkommen vollkommen von einer Zwangsausübung auf die Jüngeren abhängt" (Hayek, 1971, S. 377).
Die Dauerhaftigkeit der „Zwischenform" · 91
3.2 Gewerkschaften Hayek anerkennt das Koalitionsrecht und auch das Streikrecht, „die Arbeit gemeinsam niederzulegen" {Hayek, 1971, S. 339ff). Die Kritik Hayeks richtet sich primär gegen den Zwang, den Gewerkschaften ausüben können. Noch stärker als bei der Sozialversicherung sind die Aussagen Hayeks über die Rolle der Gewerkschaften von der englischen und von der amerikanischen Realität mit Institutionen wie dem „closed shop" geprägt. Einerseits laufe der Zwang, den die Gewerkschaften unter ausdrücklicher oder faktischer Duldung des Staates ausüben, den Prinzipien der Freiheit entgegen, andererseits werde der Zwang auf die Arbeitnehmer in einer Weise ausgeübt, der bestimmte Gruppen unter ihnen privilegiert, die Gesamtheit jedoch wirtschaftlich schlechter stellt. Die Gewerkschaften können das allgemeine Reallohnniveau kaum beeinflussen, wohl aber die relativen Löhne der einzelnen Branchen und Berufszweige. Dazu müssen sie das Angebot in einzelnen Bereichen beschränken, wofür die Zwangsmittel vor allem eingesetzt werden. Zugute kommt diese Strategie tendenziell den ohnehin höher entlohnten Gruppen, während die schwach organisierten Bereiche dadurch unter das von ihnen sonst erreichbare Lohnniveau gedrückt werden. Während die Gewerkschaften das Reallohnniveau nicht nennenswert beeinflussen können, haben sie sehr wohl einen maßgeblichen Einfluß auf die Geldlöhne. Unter den Bedingungen der von der herrschenden Keynes'schen Doktrin beherrschten Wirtschaftspolitik könne „kaum ein Zweifel bestehen, daß die gegenwärtige Gewerkschaftspolitik zu dauernder und progressiver Inflation führen muß" {Hayek, 1971, S. 355). Schon der Widerstand gegen jede Herabsetzung einzelner Löhne führe dazu, daß notwendige Veränderungen in den Relationen der Löhne verschiedener Branchen oder Berufe nur durch ein Steigen der Geldlöhne insgesamt erreicht werden kann. Und erst recht führe das Bestreben jeder einzelnen Gewerkschaft, den Geldwert einzuholen, zu immer weiteren Lohnforderungen und damit zu progressiver Inflation, vorausgesetzt, daß diese Bewegungen durch eine Ausdehnung der Geldmenge alimentiert werden. Die beiden dem Gewerkschaftswesen inhärenten Gefahren führen nach Hayeks Ansicht auf längere Sicht in den „Sozialismus". Der Mißbrauch der Machtstellung in einzelnen Branchen zu Lasten der Konsumenten und die daraus resultierenden unerwünschten Allokationswirkungen mache eine staatliche Lenkung notwendig, um die schädlichen Partikulärinteressen zu kontrollieren. So habe „das Gewerkschaftswesen, wie es heute ist, die Tendenz, gerade das System sozialistischer Gesamtplanung hervorzubringen, das wenige Gewerkschaften wünschen und das zu vermeiden gewiß in ihrem eigenen Interesse liegt" {Hayek, 1971, S. 347). Eine ähnliche Konsequenz ergebe sich aus dem Umstand, daß die inflationäre Wirkung der Lohn-PreisSpirale nicht unbegrenzt toleriert werden kann. „Es wird gefordert werden, daß die Löhne von der Regierung festgesetzt, oder daß die Gewerkschaften ganz abgeschafft werden." Eine Regierung, welche die im Rahmen einer „Einkommenspolitik" die Löhne festsetzt, muß auch die Arbeit zuteilen, und
92 · Günther Chaloupek diese Politik würde „notwendig die gesamte Gesellschaft in ein zentral geplantes und verwaltetes System verwandeln. . ." {Hayek, 1971, S. 357). Die Gewerkschaften hätten auch die Möglichkeit, sich einer solchen Einkommenspolitik als „williges Werkzeug" unterzuordnen - „für die Arbeitnehmer würde es völlige Unterwerfung unter die Macht eines Ständestaates bedeuten" (Hayek, 1971, S. 359). Hayek ist allerdings nicht prinzipiell gegen Gewerkschaften. „Gewerkschaften ohne die Macht zu zwingen, würden wahrscheinlich im Lohnbildungsprozeß eine nützliche und wichtige Rolle spielen" (Hayek, 1971, S. 350). Innerbetriebliche Sozialleistungen lassen sich am besten mit einer kollektiven betrieblichen Arbeitnehmervertretung verhandeln, ebenso ein Lohnschema, dem dadurch leichter breite Akzeptanz gesichert werden kann. Auch für die Festlegung der Arbeitsbedingungen, die für die betriebliche Arbeitsorganisation eine wichtige Funktion haben, ist ein gewerkschaftlicher Verhandlungspartner für die Unternehmensleitung nützlich. Daß Hayek „die Frage offen (läßt), ob irgend eines der angeführten Argumente Gewerkschaften von größerem Umfang als dem eines Betriebs oder Unternehmens rechtfertigt" (Hayek, 1971, S. 351), soll wohl eher Skepsis zum Ausdruck bringen.
4. Soziale Gerechtigkeit (distributive justice) Wohlfahrtsstaat - Sozialismus Die Beziehungen zwischen dem Streben nach „sozialer Gerechtigkeit" durch soziale Bewegungen und durch politische Parteien, vor allem sozialdemokratische Parteien, zwischen den im Sinne dieser Zielsetzung getroffenen Maßnahmen wohlfahrtsstaatlicher Politik und dem wirtschaftlichen und politischen Ordnungssystem bilden nicht nur jeweils eines der zentralen Themen in den Hauptwerken „Die Verfassung der Freiheit" und „Recht, Gesetzgebung und Freiheit", mit ihnen beschäftigt sich Hayek auch in zahlreichen Aufsätzen und kleineren Schriften. Die Frage der Anwendbarkeit der Idee der Gerechtigkeit auf die Verteilung der Einkommen hat für Hayek zwei Aspekte. Es gilt zunächst zu klären, ob dem Begriff „soziale Gerechtigkeit" in einer Marktwirtschaft überhaupt irgendeine Bedeutung zukommt; danach, ob es in einer Marktwirtschaft möglich ist, ein bestimmtes, durch kollektiven Entscheidungsprozeß festgelegtes Schema der Entlohnung für alle durch staatliche Machtmittel zu implantieren (Hayek, 1981/82, Band 2, S. 99). Soziale Gerechtigkeit als solche ist nach Hayek eine atavistische Vorstellung, die aus vormarktwirtschaftlichen Ordnungen herrührt, in denen die Arbeitsteilung noch keinen nennenswerten Grad erreicht hatte, die jedoch mit einer marktwirtschaftlichen „Großgesellschaft" (Hayeks Begriff ist „extended order") unvereinbar ist. Wenn wir uns heute generell des „Marktes als Entdeckungsverfahren" bedienen und damit ein unvergleichlich höheres Niveau der Bedürfnisbefriedigung sichern können, so müssen wir die positi-
Die Dauerhaftigkeit der „Zwischenform" · 93 ven und die negativen Folgen der Verhaltensanreize, welche den marktwirtschaftlichen Produktions- und Austauschprozeß in Gang halten, akzeptieren. Rechtens oder nicht rechtens können Handlungen der Akteure des Marktgeschehens sein. Aber „da ihre vollkommen gerechten Handlungen Konsequenzen für andere haben, die weder beabsichtigt noch vorhergesehen waren, werden diese Wirkungen dadurch weder gerecht noch ungerecht. Tatsache ist einfach, daß wir der Beibehaltung und Durchsetzung einheitlicher Regeln für ein Verfahren zustimmen, daß die Chancen der Bedürfnisbefriedigung aller stark verbessert hat, allerdings zu dem Preis, daß alle Individuen und Gruppen das Risiko eines unverdienten Scheiterns eingehen" {Hayek, 1981/82, S. 102f). Hayek betont in diesem Zusammenhang, daß neben Eigenschaften wie Geschicklichkeit, Schläue, das Glück und der Zufall eine wesentliche Rolle für Erfolg oder Mißerfolg spielen. „Aber der entscheidende Punkt ist nicht, daß der Preismechanismus im großen und ganzen bewirkt, daß Entlohnungen in einem angemessenen Verhältnis zu Geschicklichkeit und Anstrengung stehen, sondern daß selbst dort, wo uns klar ist, daß Glück eine große Rolle spielt", ein Festhalten an diesem Selektionsmechanismus „im allgemeinen Interesse hegt" {Hayek, 1981/82, Band 2, S. 105). Die Entlohnung für die Tätigkeiten hängt ab von der Marktbewertung der Güter, die als solche keinen moralischen Gehalt hat. „Obwohl moralischer Wert oder Verdienst eine Art von Wert ist, ist nicht jeder Wert ein moralischer Wert und unsere meisten Werturteile sind keine Urteile der Moral. Daß dies in einer freien Gesellschaft so sein muß, ist von größter Wichtigkeit; und daß zwischen Wert und Verdienst nicht unterschieden wurde, war eine Quelle ernsten Mißverstehens" {Hayek, 1971, S. 119). Die Entlohnung nach „Verdienst" (,,merit") setzt eine einheitliche Werthierarchie voraus und ist daher mit individueller Freiheit nicht vereinbar. Die These, daß der Wohlfahrtsstaat eine nach allgemein-abstrakten Vorstellungen gestaltete Einkommensverteilung für alle Mitglieder der Gesellschaft zwangsläufig realisieren werde und müsse, durchzieht alle einschlägigen Schriften Hayeks von der „Verfassung der Freiheit" bis zu seinem letzten Werk „The Fatal Conceit". Das Adjektiv „sozial" mit seinem scheinbar harmlosen „Appell an das Gewissen der Öffentlichkeit, sich mit den Unglücklichen zu befassen und sie als Mitglieder derselben Gesellschaft anzuerkennen", entwickelte sich allmählich zu der Vorstellung, „daß ,die Gesellschaft' sich für die besondere materielle Position aller ihrer Mitglieder und für die Gewährleistung, daß jeder erhalte, was ihm ,zustehe', für verantwortlich halten sollte. Sie implizierte, daß die Prozesse der Gesellschaft bewußt auf bestimmte Ergebnisse hingelenkt werden sollten, und stellte die Gesellschaft. . . als ein Subjekt dar, . . . fähig, sich von moralischen Prinzipien leiten zu lassen" {Hayek, 1981/82, Band 2, S. 113). Gewerkschaftliche Strategien der Koordination lohn- und einkommenspolitischer Forderungen und Vorgangsweisen, bildungspolitische Maßnahmen für andere Bevölkerungsgruppen als minderjährige Kinder mit dem Ziel, mehr Chancengleichheit im Berufsleben zu ermöglichen {Hayek, 1981/82, S. 119), führen ebenso hin zum Sozialismus wie überhaupt Markteingriffe zugunsten bestimmter
94 · Günther Chaloupek Gruppen: „Sobald es einmal Gewohnheit geworden ist, Forderungen auf Markteingriffe zugunsten bestimmter Gruppen nachzugeben, kann wenigstens eine demokratische Regierung sich nicht weigern, dies zugunsten aller Gruppen zu tun, von deren Wählerstimmen sie abhängig ist. Wenn auch der Prozeß langsam und schrittweise vorangehen mag, eine Regierung, die damit beginnt, Preise zu kontrollieren, um populären Vorstellungen von Gerechtigkeit zu entsprechen, wird Schritt für Schritt dahin getrieben, alle Preise zu kontrollieren; und da dies das Funktionieren des Marktes zerstören muß, wird die Regierung zur zentralen Lenkung der Wirtschaft greifen müssen. Selbst wenn Regierungen nicht versuchen, solche zentrale Planung als Instrument zu verwenden, aber in dem Bemühen fortfahren, eine .gerechte' Verteilung herbeizuführen, werden sie dazu getrieben, zentrale Lenkung als einziges Instrument einzusetzen, da es ermöglicht, die gesamte Einkommensverteilung festzulegen" (Hayek, 1977, S. 47f). Auch explizit hat Hayek darauf insistiert, daß es keine stabile Mittelposition zwischen Marktwirtschaft und Sozialismus in Form eines sich selbst seiner Grenzen bewußten und diese fest abstekkenden Wohlfahrtsstaates gibt. In einem Gespräch mit Franz Kreuzer erklärte Hayek sogar, er könnte sich mit einer solchen „half-way-Position" abfinden, „wenn sie stabil sein könnte. Aber, leider Gottes, wenn ein Teil der Gesellschaft Ansprüche erhebt, die sich auf soziale Gerechtigkeit gründen, stellen alle anderen ähnliche Ansprüche. . . . Meine Einwendung gegen die Zwischenform ist, daß sie auch wider den eigenen Willen in immer größere, zentralere Gesellschaftsformen hineingetrieben wird. Langfristig ist daher ein gemäßigter Sozialist genauso gefährlich wie ein Kommunist" (Kreuzer, 1983, S. 43).
5. Hayek und Mises Diese Vorstellung, daß im Effekt sozialdemokratisch-gemäßigte und kommunistische Politik in denselben Zustand einer staatlichen Planwirtschaft einmünden, geht zurück auf Ludwig von Mises, der in seinem mehr als zwei Jahrzehnte vor dem „Weg zur Knechtschaft" erschienenen Buch „Die Gemeinwirtschaft" die „Mittel, deren sich sozialistische Politik bedient, in zwei Gruppen" einteilt: „in die, die unmittelbar darauf abzielen, die Gesellschaft in den Sozialismus überzuführen, und in die, in denen dieses Ziel nur mittelbar auf dem Wege über die Zertrümmerung der auf dem Sondereigentum beruhenden Wirtschaftsverfassung angestrebt wird" (Mises, 1922, S. 458f). Mises spricht vor allem im Zusammenhang mit letzteren von „Destruktionismus": „Die Einmischung des Staates in das Wirtschaftsleben, die sich als Wirtschaftspolitik bezeichnete, war in Wahrheit auf Vernichtung der Wirtschaft gerichtet" (Mises, 1922, S. 459). Als Mittel dieser destruktionistischen Politik werden der gesetzliche Arbeitsschutz, die Sozialversicherung, die Tätigkeit der Gewerkschaften, die staatlichen und kommunalen Betriebe, die Steuerpolitik und die Inflation angeführt.
Die Dauerhaftigkeit der „Zwischenform" · 95 Hayeks These, daß - dem „Fluch der bösen Tat" entsprechend, die „fortzeugend immer Böses muß gebären", ein Markteingriff eine Kette weiterer Eingriffe auslöst, bis hin zur zentral geplanten Wirtschaft, ist vom Gedankengang her von Mises übernommen, den dieser anhand des Beispiels der preispolitischen Eingriffe entwickelte: „Zum Befehl, keinen höheren Preis als den vorgeschriebenen zu fordern, müssen nicht nur der Befehl, die Vorräte zu verkaufen, und die Rationierung hinzutreten, sondern auch Preistaxen für die Güter höherer Ordnung und Lohntarife und schließlich Arbeitszwang für Unternehmer und Arbeiter. Und diese Vorschriften dürfen sich nicht auf einen oder einige wenige Produktionszweige beschränken, sondern sie müssen alle Zweige der Produktion umfassen. Es gibt eben keine Wahl als die: entweder von isolierten Eingriffen in das Spiel des Marktes abzusehen oder die gesamte Leitung der Produktion und der Verteilung der Obrigkeit zu übertragen. Entweder Kapitalismus oder Sozialismus; ein Mittelding gibt es nicht" (Mises, 1929, S. I i i ) . Der Unterschied zu Hayek besteht lediglich darin, daß dieser den ganzen Prozeß durch die politische Dynamik von Wählerstimmenmaximierung und Verbändeinteressen angetrieben sieht, während er sich für Mises aus der Logik der Sache selbst zu entfalten scheint. Auffallend ist auch, daß Hayek trotz der weitgehenden Identität des Argumentationsgangs den Begriff des „Interventionismus" offenbar vermeidet, während dieser Begriff für Mises ein zentrales Objekt der Kritik bildet (siehe auch Mises, 1940, S. 646ff). Von der Realität des Wohlfahrtsstaates akzeptiert Hayek deutlich mehr als Mises. Mises bejaht zwar die Entwicklung des Armenwesens von bloßer Mildtätigkeit zu einer „Pflicht des Gemeinwesens" zur Versorgung der Armen. Er warnt jedoch davor, dies mit einem durchsetzbaren Anspruch des Empfängers zu verbinden (Mises, 1922, S. 466f). Die Sicherung eines Existenzminimums, eine wie immer auch karge Arbeitslosenversicherung und Versicherungspflicht für Krankheit und Alter konnte man in der zweiten Hälfte diese Jahrhunderts nicht mehr so kompromißlos ablehnen, wie Mises dies unter dem Eindruck der nachhallenden Revolutionsparolen Anfang der zwanziger Jahre offensichtlich notwendig erschien.
6. Der Wohlfahrtsstaat als Zwischenform: stabil oder instabil? Hayeks schwerster Vorwurf an den Keynesianismus ist dessen Kurzsichtigkeit C,in the long run we are all dead"; Hayek, 1983, S. 49). Demgegenüber besteht er mit großem Nachdruck auf der Langfristigkeit der Wirkungszusammenhänge. Wirtschaftspolitische Konzeptionen und Strategien dürfen solche langfristigen Zusammenhänge und Wirkungen nicht vernachlässigen. Hayeks Verdikt gegen den Wohlfahrtsstaat und gegen die Keynes'sche Vollbeschäftigungspolitik (siehe Abschnitt 9) beruht auf den seiner Ansicht nach langfristig negativen bis desaströsen Folgen. Hayek hat nicht gesagt, wie
96 · Günther Chaloupek viele Jahrzehnte verstreichen müssen, bis ein abschließendes Urteil über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer These möglich ist. Was seine Thesen über den Wohlfahrtsstaat betrifft, sollten fünf Jahrzehnte jedenfalls eine ausreichende Grundlage abgeben für eine Zwischenbilanz, die uns in die Lage versetzt, die nächsten Jahrzehnte besser abzuschätzen. Kurz zusammengefaßt, sieht eine solche Zwischenbilanz etwa wie folgt aus. Der Wohlfahrtsstaat war bisher nicht die „Hintertür" zum Sozialismus, und dies ist auch in Zukunft weniger plausibel als 1960, dem Erscheinungsjahr der „Verfassung der Freiheit". Auf der generellen Argumentationsebene sind zwei Gründe dafür maßgeblich. Zum einen hat sich die These von der Eigendynamik interventionistischer Wirtschaftspolitik, welche in ein System der gesamtwirtschaftlichen Planung mit letztlich allen Konsequenzen, vor denen im „Weg zur Knechtschaft" gewarnt wurde, münden würde, nicht bewahrheitet. Wann immer Regierungen vor der Alternative zwischen Interventionen, welche das marktwirtschaftliche System substantiell in Frage gestellt hätten, und einer Zurücknahme des Niveaus des Staatseinflusses gestanden sind, haben sie sich für die letztere Wahlmöglichkeit entschieden. Beispiele dafür aus jüngerer Zeit sind der Kurswechsel der sozialistischen Regierung in Frankreich 1983 und die Wende in der schwedischen Wohlfahrtsstaatspolitik in der Krise der frühen neunziger Jahre 4 ). Insbesondere hat Hayek den Pragmatismus sozialdemokratischer Parteien unterschätzt, es besteht aber in dieser Frage auch eine wesentliche, im theoretischen Bereich liegende Differenz zwischen ihm und der Freiburger Schule und deren Konzept der Sozialen Marktwirtschaft 5 ). Alfred Müller-Armack, einer der wichtigsten Repräsentanten dieser Richtung, hielt bereits 1932 den Österreichern entgegen, daß „es keineswegs so (ist), wie es die meist gegen den Interventionismus geschriebene Theorie des Interventionismus wahrhaben will, daß dieses System in sich eine Unmöglichkeit darstellt, die schon aus diesem Grunde in eine andere Form überzugehen bestimmt sei" (Müller-Armack, 1932, S. 125). Auch hinsichtlich der zweiten Hayekschen Fundamentalkritik am Wohlfahrtsstaat, nämlich der den hinter dem Wohlfahrtsstaat stehenden politischen Kräften unterstellten Absicht, eine politisch festgelegte Einkommensverteilung realisieren zu wollen, haben sich Hayeks Thesen in der Realität nicht bestätigt. Seine immer wiederkehrende Behauptung, Ziel der gewerk4
) Ein Abrücken der Wirtschaftspolitik hatte von der Idee der Planwirtschaft hatte Hayek bereits in der "Verfassung der Freiheit" (Hayek, 1971, S. 323ff) konstatiert. Diese Tendenz setzte sich bis zur Liquidierung noch bestehender Uberreste makroökonomischer Planungssysteme in den achtziger Jahren fort (Chaloupek - Teufelsbauer, 1987). Daß ein planwirtschaftliches Regime in einem einzelnen Sektor konsequent eingeführt werden kann, ohne daß dies ein Ausufern der Planwirtschaft in die anderen Bereiche nach sich zieht, zeigt der Agrarbereich, in dem mit tiefgreifenden Interventionen vor über 60 Jahren begonnen wurde. 5 ) Diese Differenz läßt sich auch nicht auf eine bloß semantische reduzieren, wie Hayek in seiner Bemerkung meint, daß er den Gebrauch von "sozial" im Zusammenhang mit "Marktwirtschaft" bedauere, "obwohl einige meiner Freunde in Deutschland (und jüngst auch in England) offenbar mit seiner Hilfe gelungen ist, die Art Gesellschaftsordnung, für die ich auch eintrete, schmackhaft zu machen" (Hayek, 1981/82, Band 2, S. 230).
Die Dauerhaftigkeit der „Zwischenform" · 97 schaftlichen Lohnpolitik und der wohlfahrtsstaatlichen Transfereinkommen sei es, die Kopfgeburt einer nach Verdienstkriterien entworfenen Einkommensverteilung, die jedem seinen Platz anweist, der ihm zusteht, in der Realität umzusetzen, zielt ins Leere. Hier muß man zunächst fragen, wie Hayek dazu kommt, dem Wohlfahrtsstaat eine solche Finalität zu unterstellen. Ein Beweis zumindest für die Intentionen der Vertreter wohlfahrtsstaatlicher Politik wären programmatische Dokumente, die von Hayek allerdings nie zitiert werden. Die am meisten an Gleichheit der Einkommensverteilung orientierte Version des Wohlfahrtsstaates ist zweifellos das schwedische Modell. Der primäre Hebel für die Erreichung einer möglichst ausgeglichenen Sozialstruktur ist im schwedischen Modell immer die Vollbeschäftigung gewesen, und zwar nicht nur im Sinne einer möglichst niedrigen Arbeitslosenrate, sondern auch einer möglichst hohen Erwerbsquote. Darüber hinaus wird im schwedischen Wohlfahrtsstaatsmodell eine Verringerung der marktverursachten Ungleichheit durch „solidarische" Lohnpolitik der Gewerkschaften und durch ein hohes Niveau staatlicher Versorgung für alle durch eine hohe Staatsquote (Ausgaben bzw. Steuern in % des BIP) angestrebt 6 ). Wenn durch die Steigerung der Staatsquote in Schweden „die Gesellschaft allen das Recht auf einen guten Standard garantiert" (.Meidtier — Hedborg, 1984, S. 56), so hat dies zwar ein hohes Volumen an Redistribution zur Folge, geht aber doch deutlich weniger weit als von Hayek unterstellt wird. Die vom marktwirtschaftlichen System gesteckten Grenzen werden im schwedischen Modell insofern nicht überschritten, als sich der Staat von der Sphäre der Produktion ebenso fernhält wie von dem Versuch, diese zu planen: „Die Gesamtplanung der industriellen Entwicklung ist eine Strategie, die von der Arbeiterbewegung nicht vertreten wird. . . . Realiter weist man in der Arbeiterbewegung eine Gesamtplanung der Wirtschaft zurück, weil man in ihr Gefahren für eine zentrale Bürokratie und damit verbundene Effizienz sieht" (Meidner - Hedborg, 1984, S. 194). Sowohl in der Programmatik wie in der Praxis war der schwedische Wohlfahrtsstaat das Modell mit den am weitesten gehenden Ansprüchen. Die anderen Länder Europas blieben, wenn man die Staatsquote als groben Indikator der Reichweite des Wohlfahrtsstaates anerkennt, deutlich hinter diesem zurück. Parteiprogramme wären als Nachweis für die politischen Ziele sozialdemokratischer Parteien unzureichend, da bei weitem nicht alle programmatischen Aussagen tatsächlich handlungsanleitende Bedeutung gehabt haben. Aber selbst in den Programmen finden sich kaum Belege für den von Hayek den Sozialisten unterstellten „ignis fatuus der .sozialen Gerechtigkeit'" {Hayek, 1981/82, Band 2, S. 137). Die Aussagen zur Einkommensverteilung bestehen typischerweise darin, daß die Richtung der Politik, nämlich ein Abbau von bestehenden Ungleichheiten, bezeichnet wird, nicht aber irgend ein angestrebter Endzustand. Dafür hat Hayek die Sozialisten kriti-
6 ) Hinsichtlich der Besteuerung hat man in Schweden schon seit längerem erkannt, daß mit zunehmender Höhe der Gesamtsteuerquote die Progressionswirkung des Steuersystems abnimmt (siehe Meidner, 1974, S. 23f).
98 · Günther Chaloupek siert: „Nicht Gleichheit im absoluten Sinn, sondern ,größere Gleichheit' ist das einzige Ziel, das er (der Sozialismus, Anm. d. A.) ernsthaft verfolgt. Zwar klingen diese beiden Ideale sehr ähnlich, aber für unser Problem sind sie so verschieden wie nur möglich. . . . solange wir nicht gewillt sind, jeden Fortschritt in der Richtung auf völlige Gleichheit zu begrüßen, bleiben fast alle Fragen, die der Planer zu entscheiden haben wird, unbeantwortet" {Hayek, 1945, S. 145). Diese Kritik charakterisiert eigentlich sehr gut den Pragmatismus, den die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften in dieser Frage in der Regel an den Tag gelegt haben. Wenn die erklärten und die aus den politischen Aktionen erschließbaren Absichten wohlfahrtsstaatlicher Politik die weitgehenden Unterstellungen Hayeks nicht dokumentieren, so wären sie allenfalls noch mit der Zwangsläufigkeit der Entwicklung, die sich ohne oder auch gegen die Intentionen der Handelnden vollzieht, zu begründen. Daß Eingriffe in die Einkommensverteilung langfristig dazu führen, daß der Staat jedem eine bestimmte Position anweist, läßt sich jedoch genauso wenig plausibel machen wie die These, daß Interventionen in das Marktgeschehen irgendwann zum Sozialismus führen müssen. Die von Hayek unterstellte Tendenz zu einer weitgehenden Vereinheitlichung der Erwerbstätigeneinkommen durch progressive Besteuerung und nivellierende Lohnpolitik scheint implizit auf einem „marxistischen" Vorurteil zu beruhen, dem sowohl Empirie als auch praktisch-politische Alltagserfahrung widersprechen. Nach der Verelendungstheorie hätte es zu einer Polarisierung der Einkommensverteilung kommen sollen, welche die Interessenkonstellation für eine massive vertikale Umverteilung von wenigen Reichen zur Masse wenig differenzierter und niedrig entlohnter Arbeiter entstehen läßt. Die Einkommensverteilung der hochentwickelten Länder entspricht einer solchen Vorstellung indes nicht. In der Realität wäre der rechnerische Zugewinn für die untere Hälfte der Einkommensbezieher aus einer wirklich einschneidenden Besteuerung der obersten 1% bis (maximal) 5% bescheiden. Eine stärkere Einebnung der Unterschiede zwischen allen Arbeitseinkommen würde vielmehr eine fühlbare Umverteilung zwischen der oberen und der unteren Hälfte der Arbeitseinkommen erfordern, also große Teile der besser entlohnten Arbeitnehmer zu Verlierern werden lassen 7 ). In einer solchen Konstellation der Interessen sind der vertikalen Umverteilung ziemlich enge Grenzen gezogen, was Hayek allerdings nie erkannt hat 8 ).
7 ) Aus eben diesem Grund sind auch die Möglichkeiten einer Umverteilung durch die Anhebung der gesetzlich-administrativen Armutsgrenzen eingeschränkt (siehe Barr, 1992, S. 778). 8 ) Die problematische Seite einer überzogenen wohlfahrtsstaatlichen Gleichheitsideologie scheint mir primär auf der politischen Ebene erkennbar. Wenn Gleichheit im öffentlichen Bewußtsein als primär moralisches Konzept verankert wird, "ist Ungleichheit nicht mehr Ergebnis eines Spiels, in dem Gewinner und Verlierer vorhanden sind, . . . sondern Ergebnis einer Ungerechtigkeit, an der irgend jemand schuld sein muß. Ungleichheit muß dann zwangsläufig auf Diskriminierung beruhen, und die Ausschaltung von Diskriminierung wird plausiblerweise zur Staatsaufgabe. Jeder Mangel an Erfolg wird dann 'erklärt' und 'angeklagt' durch einen
Die Dauerhaftigkeit der „Zwischenform" · 99 Wie immer man die Sache betrachtet, nach mehreren Jahrzehnten praktischer Erfahrung und der empirischen Beobachtung spricht kaum etwas dafür, daß die „Zwischenform" ein Weg zum Sozialismus ist. Zwar sind die wohlfahrtsstaatlichen Systeme nicht „stabil" in dem Sinn, daß sie eine endgültige Form erreicht haben, sondern sie befinden sich in ständiger Veränderung auch in dem Sinn, daß ihr Finanzierungsgleichgewicht prekär ist und daß der Expansion immer wieder rücknehmende Korrekturen erfolgen. Aber ein solches Finden von Grenzen durch trial and error ist auch in anderem Zusammenhang kein ungewöhnlicher Vorgang und per se kein Grund gegen die langfristige Existenzfähigkeit und Tragfähigkeit des Systems. Das Ausmaß an sozialer Sicherheit, welches „allen außerhalb und neben der Marktwirtschaft gewährleistet werden kann", deckt sich eben nicht, wie Hayek behauptete {Hayek, 1945, S. 157), mit der Garantie eines Mindesteinkommens. Hier liegt wohl auch der Grund dafür, daß Hayeks Aussagen zum Wohlfahrtsstaat in der „Verfassung der Freiheit" und in späteren Schriften das Kriterium „außerhalb und neben der Marktwirtschaft" nicht mehr erwähnt.
7. Aspekte von Hayeks konkreter Kritik am Wohlfahrtsstaat Gegenüber der Fundamentalthese von der Unmöglichkeit eines Wohlfahrtsstaates in einem marktwirtschaftlichen System kommt Hayeks Kritik an Teilsystemen und einzelnen Institutionen eine untergeordnete Bedeutung zu. Es kann daher in diesem Beitrag darauf verzichtet werden, auf Hayeks diesbezügliche Ausführungen im Detail einzugehen. Daß seine speziellen Problemanalysen in der Realität vielfach bestätigt wurden, bedarf keiner näheren Begründung. Dies trifft allerdings nicht oder nur sehr eingeschränkt auf seine Behandlung der Gewerkschaften zu. Was Hayeks Gewerkschaftskritik betrifft, so hat Richardson (1996) gezeigt, daß Hayek die Bedeutung der Möglichkeit, Streikbrecher durch Gewaltanwendung an der Aufnahme der Arbeit zu hindern, weit überschätzt, daß dann aber die Mittel, mit denen die Gewerkschaften Druck auf die Unternehmer ausüben, sich in ihrer Natur nicht grundsätzlich von jenen der Gegenseite unterscheiden. Die nützliche Rolle, welche Hayek den Gewerkschaften zugesteht, können sie auf eigenständige Weise kaum ausüben ohne Zwangswirkung der kollektiven Vereinbarungen und ohne Druckmittel gegenüber den Arbeitgebern, außer man definiert ihre
oberflächlichen Verweis auf 'gesellschaftliche Ungerechtigkeit1. Es ist schwierig genug, die Unterschiede zwischen dieser pauschalmoralisierenden Utopie und dem, was der Wohlfahrtsstaat wirklich leisten kann, klarzumachen. Denn die Moralisierung der Ungleichheit löst Interventionsdynamiken aus" (Prisching, 1996, S. 271). Die Knappheit der Finanzmittel wird indes auch in dieser Hinsicht der Agitation und Lizitation engere Grenzen setzen, wenn nicht ein Übermaß an Frustration bei den politischen Klientelgruppen erzeugt werden soll.
100 · Günther Chaloupek Rolle von vornherein als die einer willenlosen Vermittlungsinstanz zwischen der Unternehmensleitung und den einzelnen Arbeitnehmern. Das Bild, welches Hayek von den Gewerkschaften zeichnet, ist extrem einseitig und entspricht in keiner Weise der Realität ζ. B. Deutschlands oder Österreichs. Er sieht ein großes Stabilitätsrisiko in einer Lohnlizitation unter verschiedenen Gruppen, die einander gegenseitig überbieten und überholen — daß die Rolle von umfassenden Gewerkschaftsorganisationen auch darin bestehen k a n n (und auch tatsächlich besteht), Kollektiwertragsverhandlungen verschiedener Branchen zu koordinieren, zu verhindern, daß es zu einem „leapfrogging" kommt, daß diese Koordination bewirkt, daß die Entwicklung des Lohnniveaus mit anderen Makrodaten konsistent ist, berücksichtigt er in keiner Weise. Eine solche Rolle der Gewerkschaften liegt offenbar außerhalb seiner Vorstellungs- und Wahrnehmungskraft. In bezug auf die von Hayek so verabscheute Einkommenspolitik besteht nicht nur die Möglichkeit, daß die Gewerkschaften als willenloses Werkzeug zu Exekution von regierungsamtlichen Lohnleitlinien fungieren. Die Gewerkschaften können autonom ihre Lohnforderungen im Rahmen eines Spielraums begrenzen, der von gesamtwirtschaftlichen Prognosen abgesteckt wird, welche von allen Verhandlungspartnern anerkannt werden, ohne daß sich die Regierung in den gesamten Lohnverhandlungsprozeß überhaupt einmischt. Die freiwillige Selbstdisziplin h a t in der Praxis viel besser funktioniert und war viel dauerhafter als die Versuche mit staatlich gegängelter Lohn- und Einkommenspolitik. Letztere h a t sich in keinem OECD-Land auf Dauer gehalten, die These, daß die Einkommenspolitik einen Pfad zu einem System der gesamtwirtschaftlichen Planung und damit zum Sozialismus eröffne, h a t sich überhaupt nicht bewahrheitet.
8. Für eine realistische Sicht des Wohlfahrtsstaates Am Ende des Zweiten Weltkrieges mag die Einführung einer gesamtwirtschaftlichen Planung ä la Beveridge als die hauptsächliche Bedrohung des marktwirtschaftlichen Systems erschienen sein. Fünfzehn J a h r e danach, in der „Verfassung der Freiheit", sah Hayek in der gesamtwirtschaftlichen Planung keine relevante Bedrohung mehr für die Marktwirtschaft, da dieses Konzept die reale Politik nicht mehr beeinflußte. Wie sich seither herausgestellt hat, war diese Einschätzung völlig richtig. Selbstverständlich war sie es aus der Sicht der sechziger Jahre allerdings nicht, denn es gab noch bis weit in die siebziger J a h r e hinein eine Fülle von theoretischen Schriften und programmatischen Äußerungen nicht n u r von sozialdemokratischen Parteien, welche a n der Intention zur Einführung eines solchen Planungssystems festhielten, ganz abgesehen davon, daß Länder wie Frankreich und Norwegen die Fassaden ihrer Planungssysteme bis in die achtziger J a h r e beibehielten (Chaloupek - Teufelsbauer, 1987). Ganz anders entwickelte sich Hayeks Einschätzung des Wohlfahrtsstaates. In bezug auf diesen wurde Hayek nie müde, Formen, welche selbst die idealistisch-programmatischen Versionen
Die Dauerhaftigkeit der „Zwischenform" · 101 beträchtlich übersteigerten, als reale Bedrohung vehement zu kritisieren und zu bekämpfen. Eine realistische Sicht des Wohlfahrtsstaates, welche die handlungsanleitenden Vorstellungen mehr aus der Sozial- und Wirtschaftspolitik zu erschließen versucht als aus offiziöser Programmatik 9 ), kommt zu einem deutlich anderen Bild. Die Kluft zwischen Ideologie und Realität beruht wahrscheinlich zu einem nicht geringen Teil auf der Doppelbedeutung des Wortes „Umverteilung", die es im Deutschen genauso h a t wie im Englischen. Der Bedeutungsinhalt um· faßt sowohl den Transfer von Einkommen zwischen verschiedenen Einkommensstufen (vertikale Umverteilung, gewöhnlich verstanden als Umverteilung von oben nach unten) als auch den Transfer von Einkommen zwischen verschiedenen Bedürfnislagen und Lebenssituationen, die an Merkmalen wie Alter oder Kinderzahl anknüpft, aber nicht am Einkommen (horizontale Umverteilung, ζ. B. Pensionen, Krankenversicherung, Familienlastenausgleich). Systemen mit primär horizontalem Umverteilungsziel wird in der politischen Diskussion oft ein vertikales Umverteilungsziel unterstellt und zum Vorwurf gemacht oder auch ein solches positiv für sie in Anspruch genommen. Darauf beruhen Aussagen wie diejenige, daß wir mit einem riesigen Volumen an Steuern und Transferzahlungen „keine oder nur geringe Umverteilungseffekte" erzielen und daß der Wohlfahrtsstaat deswegen „ineffizient" sei. In bewußter oder unbewußter Ausnutzung der Begriffsambivalenz wird durch den normativen Gehalt der Aussage die vertikale Umverteilung angesprochen, gleichzeitig ein massiver Umfang von Umverteilung als Faktum vorausgesetzt, was allerdings nur für die horizontale Umverteilung richtig ist. Der Ausbau der sozialen Transfersysteme, wie sie heute in den hochentwickelten Ländern bestehen, begann etwa 1960, also zu jener Zeit, als Hayek bereits die große Krise des Wohlfahrtsstaates heraufkommen sah. Bis 1980 hat sich der Anteil der sozialen Transferzahlungen am BIP in Europa fast verdoppelt, seit 1980 h a t sie nur mehr wenig zugenommen 10 ). In der Phase der wirtschaftlichen Prosperität bis 1975 war der überproportionale Anstieg der Sozialleistungen durchaus wachstumsfördernd. Die Verbesserung der sozialen Sicherheit stärkte das Vertrauen der Bevölkerung in die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung und damit auch die Konsumneigung breiter Schichten, während die kräftige Steigerung des Sozialproduktes trotz zunehmender Belastung durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen für Erhöhungen des verfügbaren Einkommens noch Spielraum bot. Dies h a t sich seit den achtziger J a h r e n allerdings grundlegend geändert, als n u n m e h r die Erhöhung des Erwerbseinkommens und der Bedarf nach mehr Transferzahlungen aufgrund steigender Arbeitslosigkeit als Ansprüche auf ein nur
9
) Eine auch nur annähernd einheitliche Programmatik des Wohlfahrtsstaates hat es nie gegeben, was angesichts seiner ideologisch höchst unterschiedlichen Ursprünge gar nicht anders sein kann (siehe Prisching, 1986, S. 153ff). 10 ) Siehe dazu Chaloupek - Rossmann (1994, S. lOlf).
102 · Günther Chaloupek noch langsam zunehmendes Sozialprodukt miteinander in Konkurrenz treten»)· Aufgrund dieser seit über einem J a h r z e h n t anhaltenden Situation ist der Wohlfahrtsstaat überall in Europa einer starken Belastungsprobe ausgesetzt. Die bereits vorgenommenen und teilweise auch in Zukunft noch notwendigen Modifikationen und Begrenzungen des Leistungsumfanges erfolgen jedoch im Rahmen des Systems und unter Beibehaltung seiner Substanz, sodaß das immer wieder proklamierte „Ende des Wohlfahrtsstaates" als krasse Übertreibung - meist zu Zwecken politischer Polemik — erscheint. Gleichzeitig müssen die Befürworter des Wohlfahrtsstaates erkennen, daß die künftigen Anspruchsniveaus an wohlfahrtsstaatliche Leistungen realistisch dargestellt werden müssen. Langfristig können zahlenmäßig fixierte Ansprüche ζ. B. in Form einer bestimmten Einkommensersatzquote nicht garantiert werden 12 ). Dies bedeutet zwar ein geringeres Maß a n Lebensstandardsicherung, die aber prinzipiell durch das System weiterhin gewährleistet bleibt. Wenn mehr Leistungsempfänger aus einer gleichbleibenden Sozialquote befriedigt werden müssen, ist die in keiner Weise gleichbedeutend mit einem „zurück ins 19. Jahrhundert", als die Sozialquote deutlich weniger als 10% betrug 13 ). Auch die in fast allen Industrieländern ab dem zweiten J a h r z e h n t des kommenden J a h r h u n d e r t s einsetzenden demographischen Verschiebungen in Richtung eines Anstiegs des Anteils der über 60jährigen a n der Bevölkerung ist im Rahmen des bestehenden Systems bewältigbar durch eine Kombination von Maßnahmen bei den drei zentralen Variablen des Systems: Erhöhung des Pensionsantrittsalters, Senkung der Ersatzquote, Erhöhung der Beitragsquoten. Dies bedeutet einerseits, daß eine exakte Fixierung der individuellen Ansprüche und Verpflichtungen bezüglich Pensionsalter und -höhe und Beiträge längerfristig nicht möglich ist, andererseits aber, daß der Unsicherheitsspielraum, der durch individuelle, private Vorsorge weiter reduziert werden kann, in der Lebensperspektive keine unzumutbare Größe hat 14 ). Aus der Sicht der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates in Österreich war bei dessen Ausbau die Umverteilung von oben nach unten war dabei nicht
n ) E i n e aus dem Druck zunehmender Arbeitslosigkeit resultierende Erhöhung der Steuerquote ist wahrscheinlich Wachstums- und vor allem beschäftigungsdämpfend, wenn die Erhöhung durch eine relative Mehrbelastung der Arbeit als Produktionsfaktor entsteht. Generell läßt sich aber aufgrund von Makrodaten kein Schluß auf negative Auswirkungen des Wohlfahrtsstaates auf das Wirtschaftswachstum oder auf die Wachstumsabschwächung seit 1973 ziehen (Maddison, 1995, S. 407). 12 ) Dem hat ζ. B. das österreichische Sozialversicherungsrecht durch die Umstellung auf die "Nettoanpassung" bei der Bemessung der Pensionsansprüche bereits Rechnung getragen, allerdings ohne daß dies von der breiten Öffentlichkeit registriert worden ist. 13 ) Nach den von Flora et al. zusammengetragenen Daten lag die Staatsquote zu Beginn diese Jahrhunderts in den westeuropäischen Ländern bei 10% bis 15%, wovon nur der kleinere Teil auf Sozialausgaben entfiel (Flora et al., 1983, 1, S. 257ff). H ) Diese Unsicherheit ist bei der privaten Rentenversicherung in wirtschaftlicher Hinsicht wahrscheinlich größer, da das Risiko größerer Inflationsschwankungen von kommerziellen Versicherungen nicht übernommen werden kann.
Die Dauerhaftigkeit der „Zwischenform" · 103 der dominante Gesichtspunkt, auch nicht bei den Systemen, die am meisten dafür in Frage kommen. Die Pensionsversicherung knüpft am früheren Erwerbseinkommen an und hat die Funktion, den Lebensstandard nach dem aktiven Erwerbsleben zu sichern. Familienbeihilfen und Wohnbauförderung sind nicht bzw. nur schwach einkommensabhängige Transfers. Die vertikale Komponente besteht hauptsächlich in der Sicherung eines Mindesteinkommens für Pensionisten. Eine Umverteilung von oben nach unten ergibt sich auch aus Transfers wie einem einheitlichen Betrag pro Kind, da dieser zu einem niedrigen Familieneinkommen mehr beiträgt als zu einem hohen. Für Österreich wurde empirisch festgestellt, daß auf diese Weise von den Staatsausgaben ein vertikaler Umverteilungseffekt ausgeht, der nicht dramatisch, aber stärker als jener von der Steuerseite ist (Guger et al., 1996). Auch die Wirkungen der Lohnpolitik für eine Reduktion der Ungleichheit der Einkommensverteilung dürfen nicht überschätzt werden. Der Hauptgrund dafür liegt zum einen darin, daß die wirklich hohen Arbeitseinkommen (Managereinkommen) durch die Gewerkschaften nicht beeinflußt werden können, zum anderen in dem Umstand, daß die Löhne und Gehälter, die kollektiwertraglich erfaßt sind, innerhalb einer solchen Bandbreite liegen und eine Verteilung aufweisen, daß bei einer stärkeren Umverteilung von oben nach unten große Teile der relativ „besserverdienenden", absolut aber nicht besonders hoch entlohnten Arbeitnehmer zu Verlierern würden. Im allgemeinen war eine möglichst gleichmäßige Teilnahme aller Erwerbstätigen am durchschnittlichen Produktivitätszuwachs einer Volkswirtschaft dort das hauptsächliche Ziel der Lohnpolitik, wo es eine branchen- und berufsübergreifende Gewerkschaftsbewegung gibt (,,solidarische Lohnpolitik" im österreichischen Sinn). Daneben wird eine etwas überproportionale Anhebung niedriger Lohn- und Gehaltsgruppen als Ziel verfolgt, im Sinne einer relativen Anhebung des Mindesteinkommensstandards. Eine Politik der gezielten Reduktion der Lohnunterschiede nicht bezüglich der hohen Einkommen, sondern der Masse der Arbeiter und Angestellten, wie sie die schwedischen Gewerkschaften in den siebziger Jahren betrieben haben (,,solidarische Lohnpolitik" im skandinavischen Sinn), ist in Europa die Ausnahme geblieben. Auch die progressive Einkommensteuer ist in der Realität nicht der „große Gleichmacher", als welchen sie Hayek ins Visier nimmt {Hayek, 1971, S. 387ff). Für Österreich hat sich gezeigt, daß das Steuersystem insgesamt nicht progressiv, sondern am ehesten proportional ist (Guger et al., 1996). Die proportionale bis regressive Wirkung von Umsatzsteuer, Verbrauchssteuern und Sozialversicherungsbeiträgen gleicht die progressive Wirkung der Einkommensteuer wieder aus. Dies scheint in anderen Ländern durchaus ähnlich zu sein 15 ).
15
tur.
) Siehe dazu
Maddison
(1995, S. 402) sowie die bei
Prisching (1996,
S. 274) zitierte Litera-
104 · Günther Chaloupek
9. Beschäftigung und Arbeitslosigkeit Eine theoretisch umfassende Behandlung der Problematik würde nicht nur den Umfang dieses Beitrags sprengen, sondern auch die Kompetenz des Autors übersteigen. So wie in den vorhergehenden Abschnitten werden auch in diesem einige grundlegende Aussagen und Hypothesen Hayeks mit realen Erfahrungen und Entwicklungen konfrontiert. Hayek hielt die Erklärung der Arbeitslosigkeit der Zwischenkriegszeit durch ein unzureichendes Niveau der aggregierten Gesamtnachfrage für falsch, wobei sich seine Argumentation gegen die makroökonomische Betrachtungsweise als solche richtete. Die Dominanz der Keynes'schen Theorie in der Wirtschaftspolitik habe dazu geführt, „daß sowohl die Lohnstruktur als auch das Lohnniveau in zunehmendem Maße von den Marktverhältnissen unabhängig sind" {Hayek, 1968, S. 261f). Demgegenüber betonte Hayek stets, daß das Reallohnniveau, zu dem Vollbeschäftigung möglich ist, von der Lohnstruktur bzw. von deren Anpassung an sich ändernde Nachfrage- und Produktionsbedingungen abhängig ist. Daraus folgt, daß, „wenn bei Veränderung der Verhältnisse die Relationen zwischen den verschiedenen Löhnen unverändert bleiben, das Reallohnniveau, bei dem Vollbeschäftigung eintritt, entweder ständig sinken oder doch nicht so schnell steigen wird, wie sonst möglich wäre." Weiters folgt daraus, daß eine Manipulierung des Reallohnniveaus durch die Währungspolitik keinen Ausweg aus den Schwierigkeiten bietet, die durch die Starrheit der Lohnstruktur verursacht wurden. Ebensowenig kann hier irgendeine praktisch mögliche ,Einkommenspolitik' einen Ausweg bieten" (Hayek, 1968, S. 263). In seiner Rede anläßlich der Verleihung des Nobelpreises im Dezember 1974, als die erste schwere Rezession der Nachkriegszeit in Europa bereits begonnen hatte, mußte die folgende Aussage wie ein ceterum censeo klingen: „The very measures which the dominant 'macro-economic' theory has recommended as a remedy for unemployment, namely the increase of aggregate demand, have become a cause of a very extensive misallocation of resources which is likely to make later large scale unemployment inevitable. . .. What this policy has produced is not so much a level of employment that could not have been brought about in other ways, as a distribution of employment which cannot be indefinitely maintained and which after some time can be maintained only by a rate of inflation which would rapidly lead to a disorganization of all economic activity" (Hayek, 1975, S. 272). Hat nicht die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre diese Sicht der Dinge bestätigt? Im großen und ganzen könnte man meinen, ja, wenn man global den Zustand der europäischen Wirtschaft mit ihren fast 11% Arbeitslosen betrachtet, der nun schon zehn Jahre andauert. Ein Beweis für die Hayekschen Erklärungen und für die Plausibilität seiner Therapien ist dies allerdings nicht. Zunächst einmal trifft die für seine Argumentation grundlegende Behauptung Hayeks nicht zu, daß die Lohnstruktur unabhängig von den Nachfrageund Produktionsbedingungen von den Gewerkschaften nach Kriterien der sozialen Gerechtigkeit - was auch heißen kann, daß alle Löhne sich streng
Die Dauerhaftigkeit der „Zwischenform" · 105 parallel entwickeln — manipuliert wird. Auch wenn die Gewerkschaften eine solidarische Kollektiwertragspolitik (im österreichischen Sinne) betreiben, sind in der Realität über längere Zeiträume kaum irgendwo die effektiven Lohnrelationen konstant geblieben 16 ). Das bedeutet aber, daß die Marktverhältnisse einen Einfluß auf die Lohnrelationen und ihre Veränderungen haben, und daß es unplausibel ist, daß die Wirkungen sich ändernder Marktverhältnisse durch die Kollektiwerträge ausgeschaltet werden. Ein faktisches Gegenbeispiel gegen Hayeks These von der Unmöglichkeit, durch eine Makro-Einkommenspolitik ein hohes Beschäftigungsniveau zu halten, ohne dabei eine Strukturversteinerung zu erzeugen, ist Osterreich. Die Orientierung der Aggregatzahl „Lohnsumme pro Kopf an anderen aggregativen Indikatoren (gesamtwirtschaftliche Produktivität, Lohnstückkosten) kann entscheidend zur Sicherung eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts beitragen, während marktmäßige Lohnbildungsprozesse nicht selten Bewegungen auslösen, welche von diesem Gleichgewicht wegführen. Auf der anderen Seite des wirtschaftspolitischen Spektrums ist Großbritannien, das unter der Regierung Thatcher in vielem den Hayekschen Ansichten und Therapievorschlägen gefolgt ist, alles andere als eine „Erfolgsstory". Man kann aus verschiedenen Gründen der Ansicht sein, daß in Großbritannien 1979 ein Kurswechsel notwendig war. Dies besagt jedoch nicht gleichzeitig, daß ähnliche oder auch erheblich bessere Resultate der Wirtschaftspolitik unter anderen institutionellen und politischen Bedingungen sich nicht mit einer ganz anderen wirtschaftspolitischen Strategie erzielen lassen. Die sogenannte „Deregulierung" des Arbeitsmarktes hat bei weitem nicht die von den Vertretern der neoliberalen Politik erwartete und versprochene Verbesserung der Arbeitsmarktlage gebracht ( B r a s s l o f f , 1996). Es ist zu einer Zunahme der niedrig entlohnten Beschäftigungen und der Unsicherheit der Jobs gekommen, während die Beschäftigungszunahme in Großbritannien im internationalen Vergleich schwach und die Inflationsanfälligkeit hoch geblieben ist 17 ). Hayek hat den mangelnden Erfolg der Thatcherschen Wirtschaftspolitik in der Anfangsphase darauf zurückgeführt, daß die zu sehr darum bemüht war, schockartige Wirkungen zu vermeiden. Im Unterschied dazu hätte er empfohlen, solche bewußt herbeizuführen. „Es ist politisch möglich, die Inflation zu überwinden, wenn man es schnell macht und dadurch auf sechs Monate 20% Arbeitslosigkeit hervorruft; man kann's aber politisch nicht langsam machen, wenn man statt dessen auf drei Jahre 10% Arbeitslosigkeit hervorruft. Dieses Problem haben wir jetzt: Langsam geht es leider nicht" (Kreuzer, 1983, S. 53)18). Inzwischen gibt es auch ein
1β
) Trotz dieser keineswegs geringen Veränderungen ist allerdings die branchenweise Lohnhierarchie über sehr lange Perioden und auch im Ländervergleich erstaunlich ähnlich. Thaler (1989, S. 191) "find(s) the pattern of industry wages difficult to understand unless we assume that firms pay attention to perceived equity in setting wages, an assumption that only an economist would find controversial." 17 ) Ausführliche empirische Belege bei Brassloff (1996) und Deakin (1997). 18 ) Erst im Lichte dieser Aussage wird Hayeks (1975; in der Wochenzeitschrift "Profil" vom 2. Jänner 1975) aufgestellte Behauptung verständlich, bei einer damaligen Inflationsrate von
106 · Günther Chaloupek reales Beispiel für einen solchen schockartigen Anstieg der Arbeitslosigkeit: In Finnland schnellte die Arbeitslosenrate von 3,5% 1990 auf 18% 1993 hinauf — offenbar ohne daß dadurch günstige Voraussetzungen für einen raschen Strukturwandel geschaffen worden sind. Aus solchen Erfahrungen ist der Schluß zu ziehen, daß sich das Beschäftigungsproblem nicht auf die Frage der relativen Lohnflexibilität reduzieren läßt. Es wäre zwar falsch, diese zu negieren, aber ebenso falsch wäre es, makroökonomische Zusammenhänge für irrelevant zu erklären.
10.Wohlfahrtsstaat: Mißgeburt des Konstruktivismus oder Produkt der Evolution? In einer umfassenden systemtheoretischen Betrachtungsweise waren es vor allem die Soziologen, welche die Komplementarität von Wohlfahrtsstaat und Marktwirtschaft betont haben. Wenn den Menschen als Arbeitskräften in der Theorie eine maximale und in der Realität eine sehr hohe und immer weiter steigende Mobilität und Flexibilität abverlangt wird, so geht damit eine Tendenz zur Individualisierung einher, welche traditionelle Bindungen an homogene soziale Milieus und an Familienstrukturen auflöst oder schwächt. Mechanismen der sozialen Absicherung im Fall von Mißerfolg oder Mißgeschick werden dadurch schwächer oder gehen überhaupt verloren, ihre Funktionen müssen von Sicherungssystemen übernommen werden, welche wesentlich größere gesellschaftliche Kollektive umfassen (Prisching, 1994, S. 50ff). Zumindest implizit hat Hayek diese Notwendigkeit auch anerkannt, er will jedoch dem Staat als Organisator und Betreiber der Sicherheitssysteme auch in der „Großgesellschaft" nur eine minimale Rolle zukommen lassen und hält Versicherungen auf kommerzieller Basis prinzipiell für überlegen. Sowohl theoretische Überlegungen als auch die praktischen Erfahrungen zeigen, daß dies nicht zutrifft19). Gewiß haben staatliche Krankenversicherungen und Pensionsversicherung spezifische Funktionsprobleme und Fehlentwicklungsrisken, doch trifft dies wahrscheinlich in noch stärkerem Maße auf soziale Absicherungen privatwirtschaftlicher Natur zu. Es waren auch nicht die Sozialisten, welche den Wohlfahrtsstaat „erfunden" haben — im Gegenteil, lange Zeit lehnten diese Parteien die Möglichkeit zur durchgreifenden Verbesserung der sozialen Sicherheit im Kapitalismus aus theoretischen Gründen ab und erwarteten eine solche Verbesserung erst von einem neuen Wirtschaftssystem. Aufgrund von Konzepten und Ideen, die zunächst von bürgerlichen oder konservativen Politikern und Sozialreformern kamen, entwickelte sich der Wohlfahrtsstaat von Anfang an in
10% werde für eine Stabilisierung der Preise eine Arbeitslosenrate von 10% bis 12% hingenommen werden müssen. Sie war damals genausowenig plausibel wie sie heute, über 22 Jahre später erscheint. 19 ) Eine nüchterne Diskussion der Vor- und Nachteile staatlicher und privat organisierter Absicherung sozialer Risiken findet sich bei Barr (1992).
Die Dauerhaftigkeit der „Zwischenform" · 107 pragmatischer Weise. Wie andere Formen des Interventionismus auch ist der Wohlfahrtsstaat eben nicht eine rationalistische Konstruktion, welche die Gesellschaft nach einem vorgefaßten Plan und unter Hinwegsetzung über bestehende Realitäten von Grund auf neu gestalten möchte, sondern setzt auf gegebenen marktwirtschaftlichen Grundlagen und Strukturen auf, die er modifiziert. Das Resultat dieser Modifikationen wird nicht als unverrückbares Ziel vorher festgelegt, sondern die Zielsetzungen selbst verändern sich mit den im Veränderungsprozeß gemachten Erfahrungen über Möglichkeiten und Grenzen der Intervention. Auch der Wettbewerb spielt in der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates eine Rolle. Zwar haben die wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen innerstaatlich meist eine Monopolstellung, doch stehen unterschiedliche Systeme international zueinander in Konkurrenz. Dies gilt sicherlich auch in dem trivialen Sinn, daß auch durch die internationale Konkurrenz der Volkswirtschaften dem Umfang des Wohlfahrtsstaates Grenzen gesetzt werden, aber andere Aspekte haben in diesem Zusammenhang eine größere Relevanz: Nicht jene Gesellschaften haben die höchste Rate an Innovation, in denen der Markt alle Lebensbereiche dominiert und wo nur ein Minimalniveau an sozialer Sicherheit garantiert ist, sondern diejenigen, welche das richtige Maß an sozialer Sicherheit bereitstellen, daß Individuen und Gruppen die für die Innovation notwendigen Risken zu tragen und Veränderungen auf sich zu nehmen bereit sind {Prisching, 1990, 1996). Von einer anderen Seite her betrachtet, hat sich die Schaffung des Wohlfahrtsstaates deshalb als gangbarer Weg erwiesen und Hayeks Prognose sich nicht erfüllt, weil entgegen Macher politischer Rhetorik die Vertreter und Gestalter des Wohlfahrtsstaates nicht der konstruktivistischen Anmaßung, die Hayek ihnen unterstellt, erlegen, sondern einer pragmatischen Orientierung gefolgt sind. Professor Streissler (1993, S. 21) hat vorgeschlagen, „den Hayekschen Vorwurf der Unmöglichkeit jeder interventionistischen Wirtschaftspolitik . . . als Aussage über die graduelle Unmöglichkeit der Wirtschaftspolitik, als Aussage über den höheren oder geringeren Grad ihrer Möglichkeit" zu verstehen. Wenn wir Hayek mit dieser Interpretation „gegen den Strich" (seiner politischen Vorurteile) bürsten, können wir den Wohlfahrtsstaat als Produkt einer evolutorischen Wirtschaftspolitik sehen.
Literaturhinweise Barr, N., „Economic Theory and the Welfare State: A Survey and Interpretation", Journal of Economic Literature, Juni 1992, XXX, S. 741-803. Brassloff, W., „The Political Economy of Thatcherism", Wirtschaft und Gesellschaft, 1996, 22(1), S. 358-384, 22(2), S. 569-591. Chaloupek, G., Teufelsbauer, W., Gesamtwirtschaftliche Planung in Westeuropa, CampusVerlag, Frankfurt am Main, 1987. Chaloupek, G., Rossmann, Β. (Hrsg.), Die Zukunft des Wohlfahrtsstaates, Wirtschaftswissenschaftliche Tagungen der AK Wien, Orac-Verlag, Wien, 1994, 2.
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How to Compare Profits when Firms have Market Power? Egbert Dierker, Hildegard Dierker, Birgit Grodal
Abstract Profit maximization is a well defined goal, provided that the following two highly restrictive assumptions are both satisfied: Markets are complete and firms do not have market power. In partial equilibrium analysis of imperfect competition the problem of how to measure profits is usually assumed away, since markets are supposed to be complete and profits are expressed with respect to some a priori specified numeraire commodity. However, the maximization in terms of a specific numeraire can only be justified if shareholders consume and own only that numeraire. We discuss ways to formulate the objective of an imperfectly competitive firm in terms of relative prices without recourse to a numeraire provided that the assumption of a complete system of markets is maintained. Furthermore, we analyze the case in which shareholders' demand for their firm's product becomes very small, a case which is of particular relevance for a rather substantial part of the models commonly used in the field of industrial organization.
1. When is Profit Maximization Well Defined? Consider a sentence such as the following one, quoted from the entry "profit and profit theory" by M. Desai in The New Palgrave (1987): "In neoclassical theory, the competitive firm (the entrepreneur) maximizes the quantity of profits to decide the level of output and inputs". In an assessment of such a statement economists usually tend to relate the objective of a firm as expressed above to other aspects of reality. For instance, some economists will emphasize the importance of agency problems and insist that they should not be disregarded. Others will say that a firm deviating from profit maximization over a long time period is likely to be driven out of the market or to be taken over by a strictly profit oriented competitor. However, only a few theorists will point out that the above sentence is neither (approximately) correct nor false, but simply does not have a precise meaning in a theoretical model unless highly restrictive assumptions are made, which we are going to discuss below. There is a serious conceptual point pertaining to the sentence stated in the beginning that often remains hidden in economic
110 · Egbert Dierker, Hildegard Dierker, Birgit Grodal discussions and appears to be as important to us as the question of whether the assumption of profit maximization is sufficiently realistic. Like in all informal considerations we tend to tacitly assume that the words we employ are well defined as long as they are commonly used. From a theoretical viewpoint this attitude is unsatisfactory. Thus we are led to ask which assumptions have to be imposed in order to give the notion of profit maximization a well defined meaning. This question is rarely asked because the word profit has a clear connotation in real life. Also, the size of profits is always expressed in real numbers. If we have a list of numbers each of which is associated with a certain production plan, how could it be a problem to say which element in this list is the largest one?1) 1.1 Incomplete Markets To see that there actually are severe difficulties associated with the notion of profit maximization, assume for example that there are (at least) two time periods t = 0 and t = 1. At t - 0 uncertainty prevails over the state that will realize at t = 1. The following extremely simple scenario suffices to describe the nature of one of the problems that is often disregarded. Suppose that there is just one commodity at each time and state and that there is also a unique producer. Since the production process takes time, inputs at t - 0 are converted into an output at t = 1 the size of which depends on the realization of the state of nature. In this simple setting shares of the firm are the only asset available to consumers in order to transfer wealth across time. It is crucial here that it is not possible to buy, at t = 0, certain amounts of the product to be delivered at t = 1 in the different states, i.e., markets are incomplete. Incompleteness of markets is a highly common phenomenon. It entails that we do not have a full price system available which would enable us to relate values of commodities across time in the same way as we are used to compare values of commodities that can be bought simultaneously. In the above example the formula "profits equal sales minus costs" cannot even be used ex post after the state at t = 1 has realized, since sales occur at t = 1 and cost are incurred at t - 0 and there is no intertemporal price system linking the two. In this example the only connection between t = 0 and t — 1 is given by the market for the shares of the firm. The market price q for a share is the amount of units of the good at date t = 0 consumers give up to obtain one share and is determined by the condition that the share market clears. It reflects consumers' desire to transfer wealth into period one, but it cannot capture the value of one unit of output in each of tomorrow's individual states expressed in units of the input today. The usual definition of profits relies on
') At least if one abstracts from some points mathematicians could come up with such as the distinction between a maximum and a supremum.
How to Compare Profits when Firms have Market Power? · 111 the existence of a price system that can simultaneously be used to compute costs and sales. If markets are incomplete, such a price system will, in general, not exist. Different shareholders typically want to transfer wealth to the states possibly occurring tomorrow in different proportions. However, their wishes are incompatible due to the insufficiency of financial instruments. As a consequence, there is no price system fully equalizing the marginal rates of substitution across consumers. That is to say, the "state prices" of the individual shareholders are not identical. The share price q is the price for one unit of the asset, which pays out a fixed amount in each state, but the opportunity to buy individual amounts would be needed to fully equalize state prices. By definition, such a complete price system does not exist in case of incomplete markets. As a consequence, if there are many shareholders, then there are also many different views on how to relate the values of the output at the different states tomorrow to the value of the input today. Obviously, it is neither clear what profits are nor what the firm ought to do, if it wants to act in the interests of its shareholders. Of course, if the firm has a unique original owner and shares are not traded, maximization of the owner's utility is the appropriate goal. On the other hand, we do not want to think of profit maximization as being a special case of utility maximization that is applicable in some rare cases only. Notice that the problem of how to define profits persists even if it is not assumed that firms maximize profits, for instance, because managers also pursue other interests. Clearly, profits do matter, too, in case of considerable managerial slack. The problem of how to define the objective of a firm if markets are incomplete has been widely disregarded. To our knowledge the only branch of economics explicitly addressing this problem is general equilibrium theory. In particular, Dreze (1974) proposed a definition in a seminal paper. We are not going here to explain Dreze's concept of the objective of a firm, since this paper is devoted to another question, but we want to remark that his notion is very different in nature from the maximization of some kind of profit function. For instance, the solution concept proposed by Dreze is based on the idea of a fixed point and resembles, in this respect, the definition of a rational expectation equilibrium. Certainly, more research is needed to obtain a better understanding of the objectives of firms acting in a setting in which markets are incomplete.
1.2 Imperfect Competition The concept of profit maximization is certainly well defined if we are in the framework of the classical theory of general equilibrium such as presented in Debreu (1959). In this case the following two strong assumptions are made: i) There is a complete system of markets; ii) Every economic agent is a price taker.
112 · Egbert Dierker, Hildegard Dierker, Birgit Grodal Moreover, it is assumed that managers can be fully controlled by owners. This additional requirement is not formally listed above because it is of a different nature. Properties i) and ii) refer to a framework in which a firm is regarded as one entity. Managerial theories of the firm investigate the interaction within a firm, whereas we focus here on the behavior of firms on markets. Of course, taking additional questions into account such as how to design appropriate incentive structures does not resolve the original problem of what profit maximization might mean. Next we are going to discuss the role of condition ii). Obviously, profits can formally be defined by using some good, e.g., (a certain type of) labor, as numeraire, provided that one assumes the existence of a full price system, i.e., complete markets. However, this method is not convincing. The following citation from the textbook on microeconomic theory by Kreps (1990, p. 727) is instructive here: "The notion that shareholders necessarily want managers of their firms to maximize profits is a long-standing component of the folklore of capitalism. But it is incorrect folklore, if the firm has market power and if its shareholders participate, even indirectly, in the markets that are affected by the operations of the firm." Furthermore, on page 729 Kreps adds: "The usual pat answer to all these questions is: The firm should maximize the value of current shareholder's equity. There is a large literature concerning why this might be so (and what it means), which comes down to: This makes sense (once again) only if the firm is a price-taker, where being a price taker in this context involves many more conditions." Although written several years ago, this last statement is especially remarkable today where a hot political debate on shareholder values takes place. Today's dispute obviously relates to strategic actions of powerful firms. As pointed out by Kreps, microeconomic theory does definitively not provide a sound foundation of the maximization of the value of equity in the presence of market power, although economists participating in the debate on shareholder values often argue as if this would be the case. This example shows that economists should devote more effort towards the clarification of the conceptual assumptions underlying economic arguments. A main advantage of general equilibrium theory is its conceptual clarity. However, general equilibrium theory has lost much of its popularity during the last twenty years and is considered, by a substantial part of our profession, to be more like an intellectual exercise than a theoretical model of existing economies. One reason for this attitude lies in the fact that general equilibrium theory is based on a well-defined, abstract model and its results are formally deduced from sets of assumption that appear restrictive. However, it is worth emphasizing that quite often assumptions explicitly made in general equilibrium theory, but hardly elsewhere, continue to be implicitly used by many economists who deny the importance of general equilibrium theory and of the assumptions they are bound to exploit themselves. Clearly, the assumption that markets are complete is far from realistic, but underlies a huge part of the economic literature. As we have seen in the previous subsection the meaning of such central concepts as profits becomes unclear if
How to Compare Profits when Firms have Market Power? · 113 completeness of markets is not stipulated. The same holds true, if markets are complete, but competition is imperfect. We would like to point out that the basic problem is the following one: It is not just the validity of some results of general equilibrium theory, for instance, the first fundamental theorem of welfare economics, that breaks down if assumptions i) and ii) are given up. More importantly, the very meaning of major concepts used to formulate these results is lost2). As the questions discussed in this paper clearly indicate, our profession tends to ignore such conceptual problems. To make this point precise, let us assume that profits are measured in terms of a numeraire commodity the price of which is not strategically influenced by an oligopolist. The difference between a situation in which ii) is satisfied and one in which ii) is violated lies in the fact that higher profits and hence higher wealth are not necessarily desirable if prices also change. It is usually argued that the wealth effect associated with a rise in profits completely dominates the price effect. More precisely, if a firm uses its market power in order to increase profits, then it is assumed that shareholders gain so much more through their increase in wealth than they loose as customers by paying higher prices that the latter effect can be totally disregarded, since shareholders' aggregate demand for the firm's product is negligible. There are several reasons why such an argument is not convincing. First, ownership tends to be more and more dispersed. Empirical investigations show that the extent to which portfolios are diversified has increased greatly. For instance, about half of all corporate equity in the USA is held by institutions such as pension funds, mutual funds, insurance companies, etc. Due to a large diversification shareholders often form a non-negligible part of all consumers. Second, not only the relative magnitudes of the wealth and the price effects but their infinitesimal changes matter. Assume that profits are measured with respect to some numeraire good. Then marginal profits must vanish at a profit maximum. Therefore, every shareholder consuming an arbitrarily small amount of any good the prices of which are strategically affected by his firm strictly prefers prices to be lowered. Moreover, those shareholders who do not consume any of these products are indifferent with respect to an infinitesimal price change. Thus, it seems reasonable that the firm aims at decreasing prices below the level at which profits are maximized. Third, theories of imperfect competition are often used in models of international trade. In such models it is not plausible that price effects are negligible. To circumvent the problem it is sometimes assumed that free entry entails a situation in which profits disappear so that it does not matter in which manner they are normalized (e.g., Kletzer and Srinivasan, 1994). For this to be true one needs to have recourse to situations in which positive 2
) An illuminating discussion of some major conceptual problems arising in the theory of imperfect competition is contained in Hart (1985).
114 · Egbert Dierker, Hildegard Dierker, Birgit Grodal profits attract new entrants. But how can entry be induced if the objective of a firm is unspecified? Whether the entry game is explicitly modeled or whether it is simply assumed to have the solution just mentioned, its payoff constitutes necessarily part of its description. Thus the above argument is not compelling. As a consequence, the use of profits measured with respect to some numeraire commodity as an objective function of a firm is, in general, neither theoretically nor empirically well-founded. Furthermore, questions of comparative statics in international trade and elsewhere are often examined on the basis of computable general equilibrium models. If such a trade model is calibrated and then a change of the parameters is performed, the resulting solution will depend on the way in which the objective function is specified. Thus the price normalization issue matters for discussions of policy questions. We are shortly going to describe the nature of the difficulty for those readers who are not familiar with the price normalization problem in imperfect competition. For an extensive account see the survey by Grodal (1996). To understand the price normalization problem consider the case of Cournot (i.e., quantity) competition among 2 single-product firms. Although the phenomenon occurs in all kinds of oligopoly games, this example is particularly well suited as an illustration, since strategies have a clear meaning and strategy spaces are naturally defined 3 ). When a firm decides on the quantities it puts on the market given the strategies of its competitors, it anticipates a market clearing price system. However, if ρ = (pv p2) clears all markets, so does λρ for any λ > 0. That is to say, the market clearing condition gives rise to a relative price system only. But how does one compare profits at two different relative price systems if no price level is given? Each system of relative prices together with a certain amount of wealth gives rise to a budget set. However, budget lines corresponding to different strategies may very well intersect. In this case it is unclear which of the strategies should be considered to be the one yielding higher profits. Of course, this problem does not arise, if an indirect utility function is given as in the case of a unique owner, because such functions are tools designed to order budget sets. Therefore, we are led to ask whether profit maximization must necessarily be considered as part of utility theory or whether it can be defined independently of any notion of utility as it is done in case of perfect competition. The question of whether utility theory or Pareto theory can or should be used in order to define the objective of a firm acting in the interest of its shareholders will be discussed below. In a seminal paper on Cournot competition in a general equilibrium context Gabszewicz and Vial (1972) have introduced price normalization rules in order to define absolute price systems that can be used to compare profits at 3
) In case of Bertrand competition two additional points, which have caused confusion in the literature, must be treated with special care. First, strategies have to be defined in real terms. Second, when changing payoffs by choice of another price normalization care must be taken to not alter the game by modifying the sets of strategies available to the individual players.
How to Compare Profits when Firms have Market Power? · 115 different strategies. However, the question of how to select such rules has remained open. The purpose of this paper is to motivate and to discuss a solution to the price normalization problem in intuitive terms. A more formal analysis is contained in Dierker and Grodal (1996B, 1997).
2. Can the Generation of Profits be Separated from its Spending? In the previous section we have stated the reasons why the notion of profit maximization has a clear-cut meaning only if one is willing to make heroic assumptions. We shall now look at two special cases, in which profit maximization is well defined. In these cases there is a strong link between profits and shareholders' utility. First, if markets are complete and perfectly competitive, the marginal rates of substitution of all consumers and hence of all shareholders are equalized. Therefore, a change of the firm's strategy that leads to higher profits simply amounts to a shift of each shareholder's budget hyperplane in the direction of the gradient of his utility function. However, if markets are incomplete, Gossen's Second Law becomes partially violated, since there are not enough instruments to induce agents to fully adjust their marginal utilities. Hence, even small strategy changes affect different shareholders quite differently. As a consequence, the theory of the firm and consumer theory have not (and, perhaps, cannot) be separated successfully from each other. Second, if markets are complete, but imperfectly competitive, the following assumptions are very often, at least implicitly, made. All shareholders only own or consume a (composite) commodity which is different from any of the goods offered on the market on which the firm has power. If profits are measured in units of this good, then profit maximization amounts to maximizing the utility of each shareholder, because the amount consumed of this numeraire measures utility by assumption. The purpose of the assumption on shareholders' demand is precisely to establish an immediate link between profits and shareholders' utility. On the other hand, if prices are normalized, say, in such a way that their length always equals 1, then the link between shareholders' welfare and the size of profits is clearly disrupted. Indeed, the price normalization problem can be attributed to the lack of such links if arbitrary normalization rules are used. Thus, we are led to ask how one can establish a link between profits and shareholders' desires in order to define the objective of an imperfectly competitive firm in a more general setting than the polar case mentioned above. Therefore, a third case different from profit maximization under perfect competition and also from the maximization of profits measured in terms of a numeraire as discussed above deserves special interest. Assume that the firm under consideration produces one good of which shareholders' initial
116 · Egbert Dierker, Hildegard Dierker, Birgit Grodal endowment is zero. Moreover, suppose that the consumer surplus of each shareholder is well-defined and let the firm's objective be to maximize shareholders' social surplus4). We want to emphasize here that the production and consumption side both enter the objective of the firm in a perfectly symmetric way because shareholders' social surplus is the sum of producer's surplus and shareholders' consumer surplus. Although it is definitely not just producer's surplus, i.e., profits, which is incorporated in the goal of the firm, it is hard to argue why this objective function is inappropriate, provided it is as clearly defined as in case of quasilinear preferences. It is worth considering the first order condition of the firm just described. At an optimum the following condition must be fulfilled5), which is to be contrasted with the subsequently stated first order condition for profit maximization: (FOC)Surplus Marginal profits equal marginal expenditures on shareholders' optimal aggregate nettrade. (FOC'ϊρτομ Marginal profits are zero. Clearly, the first order condition for surplus maximization does, in general, not coincide with the one for profit maximization. However, there is an interesting special case in which both first order conditions happen to be identical. Assume that shareholders only own and consume the input commodity 0 and let this good also serve as numeraire. Then shareholders' optimal nettrade is a certain quantity of good 0 the value of which happens to be fixed due to the fact that the price of good 0 is fixed to 1. Therefore, we can conclude: Profit maximization in the usual partial equilibrium models of industrial organization coincides with the maximization of shareholders' social surplus, provided that shareholders are only interested in the numeraire. Furthermore, if the condition stated at the end of the last sentence is not made, then the maximization of profits measured in units of good 0 is no longer justified on economic grounds, whereas the maximization of shareholders' social surplus remains a meaningful objective. In view of the last observation it is worthwhile to ask whether the price normalization problem in the theory of imperfect competition affects both objectives, the maximization of profits and that of shareholders' social surplus, in a similar way. For that purpose we consider first (FOC)Proflt and then (FOC)Surplus. As we shall see, (FOC)Surplus is invariant with respect to price normalizations, whereas (FOC)Proflt is not. Let Π 0 (Ρ) denote profits measured in terms of good 0, if the firm sets the relative price of its output equal to P. That is to say, Π 0 (Ρ) are the profits the firm obtains, if prices are of the form (1, P). If we take another normaliza-
1 ) To be specific, assume that there are only two commodities, 0 and 1, and one monopolistic firm producing good 1 using good 0 as input. Each shareholder i consumes both goods and has a quasilinear utility function of the form u' (XQ, = Xq + g (x{). Then every shareholder's con-
sumer surplus is unambiguously defined and the usual conceptual difficulties associated with various surplus concepts disappear. Generalizations are discussed in Section 3. 5 ) For details see Dierker and Grodal (1997), section 2.2.
How to Compare Profits when Firms have Market Power? · 117 tion, e.g., if we normalize prices such that their sum is identically equal to 1, n 0 (F) then profits Π 0 (Ρ) are transformed into "jTjTp · As a consequence, if marginal profits in the normalization based on good 0 as numeraire vanish, i.e., if Π 0 (Ρ) = 0, then marginal profits in the other normalization with prices adding to 1 are Π0(Ρ)(~|ρ j + ρ ) · The latter expression vanishes if and only if profits Π 0 (Ρ) themselves do. On the other hand, consider (FOC)Surplus and let Ζ denote shareholders' agA
A
gregate nettrade at the optimum under consideration, i.e., Ζ = D(P) - e, A
A
where D(P) denotes shareholders' aggregate demand at the optimal price Ρ and where e denotes their aggregate initial endowment. Then, using good 0 Λ d , d as numeraire, (FOC)Surplus becomes ^ Π 0 ( Ρ ) \ P = p = P) Z\ p = p. Now, if we renormalize prices such that their sum equals 1, both profits and expenn 0 (P) ditures are divided by (1+P). Thus (FOC)Surplus becomes L ( i + P). p = ρ d_ a . P)z ρ p. Obviously, invariance obtains due to the fact that both, dP L(1 + P)J = profits and expenditures, are simultaneously divided by the same expression. Clearly, it does not matter that the normalization factor is
. Hence, in-
variance with respect to arbitrary normalizations obtains. Thus, only (FOC)Proflt but not (FOC)Surplus suffers from not being independent of price normalizations. Therefore, we are led to ask what causes profit maximization to have this deficiency. Obviously, it is the inclusion of shareholders' consumer surplus that makes the difference between both approaches. (FOC)Surplus is a well-formulated equation since it requires the marginal changes of two values to be equal. On the other hand, the statement that marginal profits are 0 is hard to interpret, unless a particular normalization is chosen, since it is unclear which economic item the number 0 actually is supposed to represent. To summarize the above discussion, it is precisely the fact that consumers' surplus has been combined with producer surplus that renders (FOC)Surplus invariant with respect to normalizations. Thus, the way profits are spent cannot be disregarded if one wants to define the objective of a firm in a meaningful manner.
118 · Egbert Dierker, Hildegard Dierker, Birgit Grodal
3. Profits and Shareholders' Utility The notion of surplus maximization dates back to Dupuit (1844) and is thus older than utility theory. A major weakness of Dupuit's concept has been discovered by Walras (1874, pp. 382 ff.), who criticized Dupuit's considerations because of "une confusion complete entre la courbe d'utilite ou de besoin et la courbe de demande". The notion of consumer surplus has been made popular through the enormous influence of Marshall's "Principles of Economics" (1890), but Marshall ignored Walras' substantial criticism although utility theory had been developed between the appearance of Dupuit's and Marshall's work. This deplorable fact entailed a conceptual confusion that has not yet totally disappeared. Various non-equivalent definitions of consumer surplus have been presented. However, it is, for instance, not obvious which of the four Hicksian concepts (if any) should be used to extend the discussion of the previous section to the case in which utility functions are not required to be quasilinear. Thus, we want to maintain the economic intuition underlying the notion of consumer surplus, but employ the clear language of Pareto theory. More precisely, we are now going to discuss the relationship between the example in the previous section and second best Pareto theory. Consider, for the ease of exposition, the following simple framework. There are 2 goods, one firm producing good 1 by means of good 0. Consumer i has a demand function U(P) = (D'0(P), D\(P)), where i's wealth is taken to be the value of his initial endowment together with his profit share at P. Assume for the moment that shareholders' utility functions are quasilinear and let Ρ be a strategy maximizing shareholders' social surplus. The group of shareholders is denoted I and the utility level shareholder i reaches at Ρ is denoted i2'. Now suppose the firm would charge Ρ Φ P r a t h e r than P. Then the amount
D\(p)dp of the nume-
raire (which can be positive or negative) would be needed to keep shareholder i on his utility level ΰ1. Therefore, to achieve a Pareto improvement for its shareholders, the firm has to pay them more than
Jf> D\(p)dp in ad-
dition to the original profits Π0(Ρ). However, since Π0(Ρ) + Σ , Ε if ρ D\(p)dp < Πο Φ)
+
Σ1£
l
j ρ D\(p)dp
by definition of P, the change in profits
Π0(Ρ) - Π0(Ρ) < Σ , if ρ D\(p)dp is insufficient to do so. Hence, there is no Ρ that can give rise to a Pareto improvement for the shareholders. We say that strategy Ρ potentially Pareto dominates strategy P' iff shareholders' aggregate demand D(P) at Ρ can be redistributed among them such that every shareholder reaches a utility level exceeding the one he obtains at P \ Obviously, this definition is quite general and does, in particular, not rely
How to Compare Profits when Firms have Market Power? · 119 on a quasilinearity assumption. The argument given at the end of the previous paragraph shows that a strategy Ρ maximizing shareholders' social surplus cannot be potentially Pareto dominated. Actually Ρ yields a second best Pareto optimum in the following, stronger sense: Even if the firm could, given some strategy P, take any bundle χ on the budget line corresponding to Ρ and shareholders' total wealth W 0 (P) and distribute this bundle freely among the shareholders, it would not be possible to raise their utility levels above ώ\ The term "second best" is used here because market prices and budget lines restrict individual transactions. Notice that it is, in general, not true that all shareholders agree that strategy Ρ rather than P ' should be chosen if Ρ potentially dominates P'. This is due to the fact that potential Pareto improvements disregard distributional aspects. It is precisely this property which presents the strength of potential Pareto improvements. There are, in general, extremely many Pareto optimal strategies, but it may happen that only one of them is potentially Pareto undominated in the sense of the above definition. We have just seen that second best potential Pareto theory can be used in order to extend the definition of a social surplus maximum of the shareholders. Therefore, we are lead to ask how useful such an extension would be. Clearly, the price normalization problem does not arise, since there is nothing which cannot be stated in real terms. However, the extension just described suffers from another severe drawback. To understand the problem we shall first look again at the case in which all shareholders have quasilinear utility functions. Let Ρ be an arbitrary strategy of the firm and 0{P))ul = be the corresponding optimal consumption plans of the shareholders. The set of all commodity bundles at least as good as If{P) is denoted U\P) and U(P) = Ziei U'(Ρ) is the aggregate preferred set associated with strategy P. The boundary of U(P) is traditionally called Scitovsky indifference curve. Due to quasilinearity the set U(P) depends only on the aggregate wealth of the shareholders but not on its distribution across shareholders. Moreover, for the same reason, we have either i/(P') c U(P") or U(P") c U(P') for any pair (Ρ', P"). That is to say, Scitovsky indifference curves don't cross each other in this setting. Surplus maximization results in a strategy Ρ such that A
U(P) c U(P) for all P. In other words, it is impossible to reach points within A
U{P) by choice of another strategy. That is to say, no D(P) can be distributed such as to give all shareholders utility levels higher than (ul(I/(P)))iel. Maximization of shareholders' social surplus appears to be a desirable goal in this setting, if the distribution of profits among the shareholders is considered to be of minor importance. Since Scitovsky indifference curves don't intersect, the picture resembles the one in which the firm has a unique owner. The maximization of shareholders' social surplus amounts to maximizing the utility of that owner. This
120 · Egbert Dierker, Hildegard Dierker, Birgit Grodal owner must be interpreted as representing a large number of identical consumers, since the owner as a consumer is supposed to take prices and wealth as given. An individual owner ought to be aware of the fact that the amount he pays in excess of unit costs is fully returned to him as part of the firm's profits. Clearly, if we have a representative owner, existence of an optimal strategy is no issue. Shareholders' Scitovsky curves don't intersect each other and the usual continuity argument can be invoked in order to show that there is a highest Scitovsky indifference curve on a compact set. However, representative consumer models of an economic sector tend to be problematic and have often been heavily criticized for quite substantial reasons. Indeed, in the present setting the representative consumer model constitutes only a special, non-robust case. More precisely, if the picture is slightly perturbed and Scitovsky curves cut each other, existence of an undominated strategy Ρ can easily break down. The important point here is an intrinsic nonconvexity which arises necessarily if firms have market power. Clearly, Scitovsky curves can be assumed to have the usual convex shape even if individual preferences are not convex, since shareholders are treated as price takers and hence must be sufficiently numerous to generate, due to the usual convexification by aggregation, a convex aggregate preferred set U(P) = Σ ίεΙ ί/'(Ρ). Thus, the origin of the nonconvexity must lie elsewhere. Indeed, it turns out that the nonconvexity is rooted in the very definition of imperfect competition. An imperfectly competitive firm has, by definition, an influence on prices. Given the choices of the firm's competitors, a strategy Ρ defines relative prices and profits and thereby shareholders' total wealth. Thus, there corresponds, to each strategy Ρ of the firm under consideration, an aggregate budget set AB(P) of its shareholders. Of course, the firm can freely choose among its strategies Ρ and thereby vary AB(P). Therefore, the firm can make any bundle that lies in some set AB(P) available to its shareholders. That is to say, the aggregate budget set of the shareholders AB is the union of all sets AB(P). Each budget line defines a halfspace. Hence a union of halfspaces must be taken with respect to the strategies Ρ of the firm. Clearly, a union of halfspaces is the complement of an intersection of halfspaces. Therefore, shareholders' aggregate budget set AB - ^jpAB(P) is the complement of a convex set. Whenever the firm has some market power, this set cannot be convex! This fact leads to problems which are similar to those discussed in Guesnerie's seminal article (1975) in the context of marginal cost pricing in the presence of nonconvex technologies. As Guesnerie has shown, the following seemingly paradoxical situation can arise in economies without any pathological features: a) Prices must equal marginal costs at a Pareto optimum. b) Marginal cost pricing equilibria do exist. c) No marginal cost price equilibrium is Pareto efficient.
How to Compare Profits when Firms have Market Power? · 121 Indeed, Guesnerie presented an illuminating example in which two marginal cost price equilibria exist that potentially Pareto dominate each other. Thus, none of them can be Pareto efficient. The geometric picture underlying such an economy is precisely the same as the one described above: Scitovsky indifference curves do intersect each other and a nonconvexity enters the characterization of the attainable states. It is worth emphasizing that one only needs an arbitrarily small perturbation of the preference pattern of the representative consumer to destroy the existence of potential Pareto efficient outcomes in our second best setting. The difficulties arising in Guesnerie's setting as well as here due to an intrinsic nonconvexity are pertinent to many welfare theoretic problems. As a consequence, potential Pareto theory does not lend itself to a definition of the objective of an imperfectly competitive firm. Also, the following fact is worth noticing. Even if potentially Pareto undominated strategies happen to exist, the firm needs to be informed about shareholders' Scitovsky indifference curves. Thus, the information required in this case exceeds by far the information a perfectly competitive firm uses in order to maximize profits. Clearly, it is desirable to develop an informationally less demanding concept of an objective of a firm acting on an imperfectly competitive market. In case of perfect competition profit maximization is defined independently of any considerations concerning shareholders' utility or demand. In section 2 we have argued that such a strict separation gives rise to the price normalization problem if competition is imperfect and, can, therefore, not be maintained. The present section has made it clear that the objective of an imperfectly competitive firm should also not be based on utility and Pareto theory. The goal of the following section is to formulate this objective in an intermediate way, which is only based on shareholders' aggregate demand and not on their utility functions. Of course, the definition should be such that the price normalization problem does not arise and such that optimal strategies exist in a sufficiently general framework.
4. Profit Maximization and the Objective of the Firm As in the previous section we shall consider an economy with two commodities and one price setting firm that uses good 0 as input to produce good 1. Consumers initially don't own the product, i.e., their initial endowment takes the form e — (e0, 0). The ownership structure is supposed to be fixed and a priori determined. The price of the product is P, if the firm is willing to exchange one unit of output against Ρ units of the composite commodity. Observe that Ρ has a clear interpretation since it is a relative price. If good 0 is used as numeraire, prices take the form (1, P). As before, the profits corresponding to this normalization are denoted Π0(Ρ). According to the budget identity profits equal the value of shareholders' aggregate nettrade. This statement is independent of any price normaliza-
122 • Egbert Dierker, Hildegard Dierker, Birgit Grodal tion, because it simply says that two commodity bundles, i.e., the firm's production plan (its input-output combination, where the input has a negative sign) and shareholders' aggregate nettrade, He on the same budget line. Clearly, the firm is supposed to know the size of its profits at any price P. For convenience, we work with aggregate nettrades and hence we shift shareholders' aggregate budget line by their initial endowment e. Thus the budget line becomes BL(P) = {χ ε R 2 I (1, Ρ) χ = Π0(Ρ)}. We have assumed that the shareholders are initially not endowed with the firm's product. Therefore, shareholders' aggregate nettrade for the product coincides with their aggregate demand DX(P) for the product. We shall assume that the firm knows where shareholders' aggregate nettrade (D 0 (P) - e0, DY{P)) lies on the budget line BL(P). First, we would like to point out that it is sufficient to assume the firm to know the composition of shareholders' aggregate nettrade. If the direction δ of this vector in the commodity space is given, then the vector of nettrades itself can be simply obtained by scaling δ according to the size of profits Π0(Ρ). Basically, the firm is supposed to envisage the proportion in which shareholders spend profits on the numeraire and on the firm's product, respectively. Second, we would like to emphasize that the definition of the firm's objective to be given below can be used independently of whether the firm's view of the composition of shareholders' aggregate nettrade is correct. The firm's goal will be well-defined and independent of any price normalization rule even if it is based on an incorrect perception of δ or, equivalently, of Όλ{Ρ). However, if the firm assesses DX{P) incorrectly, then its strategic behavior will, of course, adversely affect the well-being of its shareholders, because it is imperfectly adjusted to their demand. In a sense to be specified below, the firm will then serve the interests of the shareholders it imagines to have and not of those it does actually have. As we shall see, the size of this discrepancy can easily be described using marginal profits Πό and the difference D^P) — Όλ(Ρ), where Dl stands for the falsely perceived demand. The situation is comparable to that of a firm which has a wrong perception of its cost function and replaces its true marginal costs C' incorrectly by some perceived C'. Thus, the objective criterion proposed below becomes easily applicable. The firm may, for instance, think that there is no systematic bias between the typical demand pattern of its shareholders and that of an average consumer in the economy. Another viewpoint, which corresponds to the by far most common practice in industrial organization, relies on the assumption that only those agents are shareholders that do not consume the firm's product, but use their profit share fully to buy more of the composite commodity 0. In this case profits Π0(Ρ) measured in terms of the numeraire are maximized. It should be obvious that the viewpoint underlying the maximization of Π0 is extreme. This fact becomes even clearer in case of quantity rather
How to Compare Profits when Firms have Market Power? · 123 than price competition. Then the assumption implicitly made in the partial equilibrium literature on industrial organization must be strengthened as follows: No shareholders of any of the firms competing on the market under consideration must consume any of the products offered on that market. We are now going to describe how shareholders' aggregate nettrade enters the description of the behavior of the firm. As in case of perfect competition the firm aims at making an "appropriate" aggregate budget set available to its shareholders. However, two different budget lines BL(P) and BLiP 1) will often intersect if the assumption of perfect competition is given up. In such a case it is a priori unclear whether P i s a better strategy than P'. Assume now that the shareholders can satisfy their demand D(P) at Ρ also if the firm chooses P'. More precisely, let (1, P%D(P) - e) < Π0(ΡΟ· Then we say that shareholders' real wealth is increased if the firm replaces strategy Ρ by P'. The firm's goal is to maximize shareholders' real wealth, i.e., to find a strategy Ρ such that shareholders' real wealth cannot be further increased. Λ
Definition: Strategy Ρ maximizes shareholders' real wealth iff the A
A
value of shareholders' aggregate nettrade D(P) satisfies (1, P)(D(P)-e) > T10(P) for all available strategies P. Notice first that the definition of real wealth maximization is independent of any price normalization. For instance, if we replace all price systems (1, P) f 1 Ρ } by systems of the form ^ + ρ > γ + ρ ) so that prices always add up to one, then profits will also be multiplied by the factor γ~+p
an(
i the above ine-
quality characterizing the real wealth maximizing strategy Ρ remains invariant. Similarly, if the normalization factor
i n this example is re-
placed by an arbitrary factor α (Ρ) > 0, then both sides of the inequality, the value of shareholders' aggregate nettrade and profits, are multiplied by α (Ρ), which leaves the inequality unaltered. Thus, the use of Π0 in the definition of real wealth maximization is merely a matter of convenience. Clearly, real wealth maximization coincides with the maximization of profits Π0 measured in terms of the numeraire, if shareholders' aggregate demand Z)X(P) for the product vanishes. Conversely, if Ρ maximizes shareA
A
holders' real wealth, then D^P) must be 0 if Ρ maximizes profits Π0 measured in units of good 0. It is instructive to consider the first order condition for real wealth maximization. A quick calculation shows that, in terms of the numeraire normali-
124 · Egbert Dierker, Hildegard Dierker, Birgit Grodal Λ
A
zation, this condition reads as Πό(Ρ) = D^P) 6). In particular, marginal profits A
Πό do, in general, not vanish at a real wealth optimum P. The interpretation d of the first order condition is as in Section 2. Since ^ p [(1, P)(D(P) - (e0, 0)] = D^P), marginal profits must equal marginal expenditures on shareholders' nettrades at the optimum. Thus, as far as the first order condition is concerned, we are in the same situation as in case of the maximization of shareholders' social surplus or, more generally, as in case of potential Pareto efficiency. On the other hand, real wealth maximization is less demanding than potential Pareto efficiency.
5. The Relationship between Real Wealth Maximization and the Maximization of Profits Π0 In this section we want to compare real wealth maximization to the maximization of profits in terms of a numeraire as the latter is widely used in partial equilibrium models of imperfect competition. As before, it suffices to consider the two-commodity model from above and to assume that the firm has constant unit costs c > 0, since generalizations can easily be obtained by an appropriate change of notation. We say that shareholders' real wealth at strategy P " is higher than at strategy P', iff shareholders' aggregate demand D(P') at P' lies in the interior of their aggregate budget set at P". In symbols: P' 0}. It is assumed that the firm under consideration has many small shareholders each of whom takes his budget set as given. Consumer i's demand function d ' is homogeneous of degree 0 and satisfies the budget identity (1, P)d\{ 1, P), Wl) = W\ His wealth at prices (1, P) equals W0(P) = (1, P)e' + θ'Π 0 (Ρ). We assume throughout that profit expectations are correct, i.e., the demand based on consumers' wealth expectations and on prices (1, P) generates precisely the profits Π 0 (Ρ) That is to say, profits fulfill the equation n0(.P) = (P- c)d1(P), where dx(P) = Σ Τ=ι ) is the total demand of all consumers for good 1. Here we do not want to discuss the assumptions needed to solve this system of equations for Π 0 (Ρ). Notice, however, if we assume that demand func-
126 · Egbert Dierker, Hildegard Dierker, Birgit Grodal tions are linearly homogeneous in wealth, then the solution of the system is given by a continuous profit function. In general, though, Π0 is a (multivalued) correspondence. In this section we assume that Π0 is a smooth function. That is to say, all shareholders have the same rational profit expectations depending smoothly on the firm's strategy. We show that, under certain weak conditions, real wealth maximization approximates profit maximization in the following sense. Let ε" be a sequence of economies which is converging to the economy ε in which shareholders consume the numeraire only. Think, for instance, of ε" as being generated by a small perturbation of the preferences of the shareholders in ε. In the limit economy ε the firm's profit simply becomes n
0
( P ) =( P - c ) T d [ ( a , P ) 4 ) it I
and shareholders' aggregate demand equals D ( P ) = (D
0
(P),
0) = jn 0 (F) + Σ 4 oj.
Let Πβ and If 1 be the profit function and shareholders' aggregate demand function in the economy ε", respectively. We make the following assertion: Assume Π^Ρ)
Π0(Ρ) for
all
Ρ and
I T ( P )
(D
0
(P),
0) uniformly in
P.
If
P 1 maximizes real wealth in economy ε" and P 1 converges to P, then Ρ maximizes profits Π 0 in ε. To prove the assertion, assume that there is P ' such that Π 0 (Ρ') > Π0(Ρ). Hence, (1, ists
η
P % D
0
( P ) ,
0) =
such that for all Λ
η
D
>
0
( P ) = Π
η
0
( Ρ ) + e0
0 . Indeed, for any strategy P' with P1 < P', we have P' 2) Flood - Isard (1989). I 3 ) Vgl. Lohmann (1992). M ) Vgl. Walsh (1995) sowie Persson - Tabellini (1995). 15) Svensson (1995).
Zur Rolle der Glaubwürdigkeit in der Theorie der Geldpolitik · 175 Gegen alle diese Vorschläge hat es Einwände gegeben, die ζ. B. auf interne Inkonsistenzen und Probleme der Praktikabilität verweisen16). Grundsätzlich ist in diesem Zusammenhang der Vorwurf von McCallum, daß Vertragsansätze lediglich Scheinlösungen böten17). Ein Vertrag zwischen Regierung und Notenbank kann das Glaubwürdigkeitsproblem nur dann überwinden, wenn an dem Vertrag auch dann festgehalten wird, wenn er sich ex post als nicht optimal erweist, und die Regierung dementsprechend auf einer Bestrafung auch dann besteht, wenn die Notenbank - durchaus in Ubereinstimmung mit dem Interesse der Regierung — die Vorgaben nicht einhält. Gerade dies ist aber nach dem allgemeinen Verständnis solcher Ansätze nicht glaubwürdig. Das Problem ist also nur verschoben, nicht wirklich gelöst. Generell kann man auch bezweifeln, ob Vertragsstrafen für Notenbanken je ein hinreichendes Mittel sein können, geldpolitische Disziplin durchzusetzen18).
4. Unabhängigkeit der Notenbank und Glaubwürdigkeit Vor diesem Hintergrund ist die Aufmerksamkeit wieder stärker auf die Bedeutung der Zentralbankverfassung gelenkt worden. Dabei geht es nun nicht mehr um eine gesetzlich vorgegebene Geldmengenregel, sondern darum, die Notenbank auf das Ziel der Geldwertstabilität zu verpflichten und ihre Unabhängigkeit bei der Verfolgung dieses Zieles per Gesetz abzusichern. Dieses institutionelle Arrangement kann nur mit hohen politischen Kosten gebrochen werden und verdient deshalb Glaubwürdigkeit. In der Tat haben viele der oben erwähnten Vorschläge, werden sie breit interpretiert, eine Unabhängigkeits-Dimension. So ist ζ. B. die RogoffLösung nur dann sinnvoll, wenn man der Notenbank die unabhängige Verfolgung einer Zielfunktion zubilligt, die von derjenigen der Regierung — sprich Gesellschaft - abweicht. Lohmanns Ansatz ist dem Grundgedanken einer „bedrohten" Unabhängigkeit verpflichtet. Persson und Tabellini sehen die Unabhängigkeit der Zentralbank als eine spezielle Vertragsvariante in ihrem Modell, die umso sinnvoller ist, je eher man davon ausgehen muß, daß die Regierung auf der Basis kurzfristiger, ζ. B. wahltaktischer Überlegungen handelt. Tatsächlich hat sich die Kernthese von den Vorzügen einer unabhängigen Notenbank als sehr robust erwiesen und - etwa bei der Diskussion um die Europäische Zentralbank - Eingang in die politische Praxis gefunden. Die Vorstellung, daß mit der Gewährung von Unabhängigkeit an die Zentralbank ein gutes Stück an Glaubwürdigkeit für eine Stabilitätspolitik erreicht werden kann, war Anlaß für eine Reihe von empirischen Untersu16)
Vgl. ζ. B. Green (1996). ") McCallum (1995). '8) Vgl. Richter (1996).
176 · Otmar Issing chungen. Dabei wurde geprüft, ob tatsächlich ein Zusammenhang zwischen Unabhängigkeit und Preisstabilität besteht und ob gegebenenfalls die Stabilitätserfolge durch ungünstigere Ergebnisse bezüglich der realen Entwicklung erkauft werden müssen. Überwiegend kommen solche Studien zu dem Ergebnis, daß Unabhängigkeit und niedrigere Inflationsraten in der Tat miteinander einhergehen, und daß die Stabilitätspolitik nicht auf Kosten größerer konjunktureller Schwankungen erkämpft werden muß 19 ). Inwieweit solche Ergebnisse kausal interpretiert werden dürfen oder ob Drittfaktoren für diesen Befund mitentscheidend sind, ist allerdings Gegenstand einer anhaltenden Debatte 20 ). Ein wichtiges Argument in der Diskussion um die Glaubwürdigkeit stellt die zeitliche Dimension dar. Ein „prisoner-dilemma" ist umso wahrscheinlicher, je geringer — in der Sprache der Spieltheorie — die Möglichkeit zur „Revanche" ist. Beachtet man aber, daß Geldpolitik ein fortwährender Prozeß ist, so wird die Versuchung der Notenbank, durch überraschende Inflation Beschäftigungseffekte zu erzielen, durch den damit drohenden Verlust an Reputation gemindert 21 ). Der Verlust an Reputation bringt anhaltende Kosten, während die auf Überraschungen basierte Geldpolitik allenfalls vorübergehende Erträge abwirft. Selbst im Falle einer Notenbank, die sich an sich weniger der Stabilitätspolitik verpflichtet fühlt, wird deshalb die Wahrscheinlichkeit niedriger Inflationsraten erhöht, wenn man über den Tag hinausdenkt 22 ). Insoweit läßt die Ausweitung des Zeithorizonts die Notwendigkeit eines Disziplinierungsmechanismus für die Notenbank weniger dringlich erscheinen. Dieser Gedanke hat McCallum dazu veranlaßt, von einem Trugschluß zu sprechen, wenn davon ausgegangen wird, daß eine „prisoner-dilemma"Situation unweigerlich zu einer suboptimalen Lösung führen müsse 23 ). Aus seiner Sicht ist eine unabhängige Notenbank nicht in der Zwangslage, nach einem formalen Selbstdisziplinierungs-Mechanismus suchen zu müssen — sie verhält sich einfach stabilitätsgerecht und überzeugt mit ihren Taten das Publikum. Verfolgt man dieses Argument allerdings konsequent weiter, so kann man vor dem Hintergrund sich wiederholender Spiele auch die Notwendigkeit für eine unabhängige Notenbank in Zweifel ziehen, wenn auf Dauer Fehltritte doch aufgedeckt werden. Hier muß man dann den Bogen weiter ziehen und auf die Theorie politischer Einflüsse in der Demokratie zu sprechen kommen. Dies würde den Rahmen der hier angestellten Überlegungen sprengen 24 ).
19
) So stellen ζ. B. Debelle - Fischer (1994, S. 201) fest: "On balance, the existing evidence suggests that central bank independence is a free lunch: It brings lower inflation and lower inflation volatility, at no cost in terms of lower output growth or greater output variability." 20 ) Vgl. ζ. Β. Posen (1993), Walsh (1996), Bleany (1996). 21 ) Vgl. ζ. B. Barro - Gordon (1983). 22 ) Vgl. Backus - Drifill (1985). « ) Vgl. McCallum, 1995. 'M) Für einen Überblick über einschlägige Themen vgl. Persson - Tabellini (1994).
Zur Rolle der Glaubwürdigkeit in der Theorie der Geldpolitik · 177
5. Das Problem der Unsicherheit Statt dessen soll das Kaleidoskop einschlägiger Ansätze durch ein weiteres Element ergänzt werden, das die vorangehenden Erkenntnisse wiederum in einem etwas anderen Licht erscheinen lassen kann: Das Problem unvollständiger Informationen. Das Informationsproblem stellte von vornherein ein Kernstück der Diskussion dar. Schon im Grundmodell müssen die Privaten Entscheidungen unter Unsicherheit treffen; das Risiko, die zukünftige Geldpolitik falsch einzuschätzen, ist die eigentliche Ursache des Gefangene ndile mm as. Die Unvollständigkeit der Informationen kann sich auf verschiedene Punkte beziehen: Ungewißheit bezüglich der Präferenzen der Notenbank, bezüglich der Schocks, die die Wirtschaft treffen, und bezüglich der Exaktheit, mit der die Notenbank ihr Ziel steuern kann. Die verschiedensten Kombinationen dieser Unsicherheiten sind denkbar. Es hat dabei traditionellen Ansätzen entsprochen, Unsicherheit über die Ziele der Notenbank als „exogen" und unerwünscht anzusehen. Die Grundüberlegung, wonach der Mangel an Sicherheit über das künftige Verhalten der Notenbank optimale Lösungen blockiert, steht in dieser Tradition. Auf dieser Linie hegen die Ansätze, wonach Zentralbanken besonderen Wert darauf legen, Informationsunvollkommenheiten zu beseitigen, um nicht in falschen Verdacht zu geraten. Andererseits haben neuere politische Erklärungsansätze des Zentralbankverhaltens gezeigt, daß für die Notenbank auch Anreize bestehen können, Ungewißheiten zu schaffen, um hinter diesem Schleier eine stabilitätswidrige Politik oder einfach geldpolitische Fehler zu verbergen 25 ). Die Neigung, komplexe Indikatorsysteme, die die Öffentlichkeit nur in Grenzen nachvollziehen kann, oder unpräzise Steuerungsverfahren zu verwenden, sind mit solchen Argumenten in Verbindung gebracht worden 26 ). Generell gilt, daß solche Unsicherheiten die Effizienz von Selbstbindungsregeln und die Disziplinierungskraft von Reputationsüberlegungen schwächen 27 ). Der grundsätzliche Vorteil, den man aus der öffentlichen Ankündigung von Zielen für die Geldpolitik erwarten kann, ist aus dem Vorangegangenen klar geworden. Eine ganze Reihe von Zentralbanken sind deshalb in den vergangenen Jahren dazu übergegangen, ihren Stabilitätswillen durch die Bekanntgabe offizieller Inflationsziele zu unterstreichen. Eine Zielvorgabe oder ein Zielkorridor für die zukünftige Inflationsrate sagt allerdings noch nichts darüber aus, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Grundsätzlich ist ein ganzes Spektrum von Geldmengen- oder Zinsregeln denkbar, die alle auf lange Sicht zur gleichen durchschnittlichen Inflationsrate führen. Die Wahl zwischen ihnen wirft die Frage auf, ob und inwieweit die Zentralbank auf
25
) Siehe Cukierman - Meitzer (1991) und Cukierman 26) Vgl. ζ. B. Goodfriend (1986). =") Vgl. ζ. B. Canzoneri (1985).
(1992, Kap. 8 bis 12).
178 · Otmar Issing Schocks reagieren soll, die den Wirkungszusammenhang zwischen dem geldpolitischen Instrument und der Inflationsrate stören. Sucht man nach einer Antwort auf diese Frage, so stößt man erneut auf das Problem unvollständiger Information. Sind die Wirkungszusammenhänge bekannt und lassen sich die Schocks einwandfrei identifizieren, so sind flexible Reaktionen auf Schocks einer starren Regelbindung der Geldpolitik eindeutig überlegen. Besteht jedoch Unsicherheit über die Struktur der Ökonomie und die Wirkungsweise geldpolitischer Maßnahmen, so müssen die Zentralbanken bei ihren Reaktionen auf Schocks weit vorsichtiger vorgehen, als es die Ableitung optimaler Feedback-Regeln im Rahmen einfacher stochastischer Modelle suggeriert. Lockert man zum Beispiel die Annahme vollständiger Information über die Art und Dauer der Schocks, so zeigt sich, daß einfache Faust-Regeln komplexen Feedback-Regeln überlegen sein können 28 ). Ein Streitpunkt ist generell, inwieweit die Berücksichtigung von Unsicherheit etwas zur Beantwortung der Frage beitragen kann, ob eher ein Zwischenziel oder das endgültige Ziel direkt angekündigt werden soll29). In diesem Zusammenhang sind verschiedene Überlegungen angestellt worden 30 ). Es besteht weitgehender Konsens darüber, daß Zentralbanken die Geldmenge genauer und zeitnäher kontrollieren können als die Preisentwicklung. Andererseits sind direkte Ankündigungen von Inflationszielen - so sie glaubwürdig sind — für die Erwartungsbildung der Öffentlichkeit möglicherweise transparenter. Welche Konsequenzen sich aus solchen Überlegungen für die Diskussion um das Für und Wider der beiden Strategien ergeben, ist nicht immer ganz klar und sehr von den Ausprägungen der verwendeten Modelle abhängig. Ein offensichtlich größerer Mangel an Kontrollierbarkeit der Preise durch die Notenbank — im Vergleich zur Kontrolle der Geldmengenentwicklung — erleichtert bei Zielverfehlungen deren Entschuldigung. Dies kann in dem Sinne ausgelegt werden, daß Notenbanken, die sich der Kontrolle entziehen wollen, diese Strategie bevorzugen. Andererseits weisen aber gerade auch solche Überlegungen darauf hin, daß Notenbanken mit geringer Glaubwürdigkeit mit einem solchen Ansatz am wenigsten gedient ist, wenn es darum geht, einem „prisoner-dilemma" zu entgehen. Sie müßten im Interesse eines Reputationsaufbaus besonders an einer Strategie interessiert sein, die ein Zwischenziel in den Vordergrund stellt. Soweit dies nicht geschieht, kann als Begründung ein gerade entgegengesetztes Argument dienen. Angemessene Abweichungen von einem Zwischenziel im Falle von Störungen im finanziellen Sektor können sich am ehesten jene Notenbanken erlauben, die bereits über ein hohes Ansehen verfügen.
28
) Für eine formale Begründung dieses Arguments siehe Levine (1992). ) Für eine These grundsätzlicher Äquivalenz vgl. King (1996). 30) Vgl. ζ. B. Cukierman (1995). 29
Zur Rolle der Glaubwürdigkeit in der Theorie der Geldpolitik · 179
6. Schlußbemerkungen: Was wird bleiben? Die Diskussion um die Probleme der Glaubwürdigkeit ist von der Wissenschaft eher spät aufgegriffen worden. Umso umfangreicher ist nun die Literatur mit einer Fülle interessanter Beiträge. Was davon den Tag überdauern wird, ist nicht einfach zu beurteilen. Beunruhigen muß, daß eine Reihe von Ergebnissen, die aus solchen Modellen abgeleitet werden, sich als nicht sehr robust gegen Modifikationen erweist. Und was Abwandlungen in der Modellstruktur überlebt, hat man vielfach auch vorher schon geahnt, wenn auch nicht immer mit der erwünschten Eleganz „nachweisen" können. Den Notenbanken war, wenn auch in unterschiedlichem Maße, schon immer bewußt, wie wichtig Glaubwürdigkeit ist, wenn es darum geht, Erwartungen zu beeinflussen. Dieses Bewußtsein erfordert auch eine gewisse Selbstbeschränkung, um nicht in die Falle übertriebenen Ehrgeizes zu geraten. Dies legt es nahe, daß sich Zentralbanken eindeutig auf das konzentrieren, was ihnen auf längere Sicht ohnehin nur möglich ist: Die Bewahrung der Geldwertstabilität. Damit geben sie einen wichtigen und wertvollen Rahmen für die Volkswirtschaft.
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Erich Streisslers Beiträge zur Wirtschaftsforschung und zur österreichischen Wirtschaftspolitik. Spurensuche nach dem „versteckten" Streissler Helmut Kramer Nicht auszuschließen, daß die folgenden Bemerkungen nicht frei von Subjektivität sind: Erich Streissler stellte im persönlichen Leben des Autors eine entscheidende Weiche, als er ihn dem damaligen Leiter des Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO), Franz Nemschak, empfahl. In Streisslers Seminar (1962) hatte ein Student die - von ihm kaum wirklich verstandenen Arbeiten Shackles über Risiko bei wirtschaftlichen Entscheidungen zusammengefaßt. Jenes Shackle, dem Streissler vier Jahre zuvor die erste einer imponierend langen Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten gewidmet hatte. Streissler begleitete und begleitet die Tätigkeit dieses Instituts als Konsulent, später und bis heute als Vorstandsmitglied und Vizepräsident mit wissenschaftlichem und politischem Interesse und mit einem auch menschlich wohltuendem Maß an Zuneigung und Loyalität, ohne daß dieses ihn je von Kritik abgehalten hätte. Streissler trug außerordentlich viel dazu bei, daß es zum Kriterium von WIFO-Arbeiten wurde — von ein paar Ausreißern, die ihm (oder den anderen Konsulenten Kurt Rothschild oder Gunther Tichy) durchrutschten, abgesehen — theoretische Überlegungen, wirtschaftspolitische Relevanz und sorgfältige empirische Analyse zu verbinden. Seine eigenen Arbeiten entsprechen überwiegend denselben Kriterien. 35 Jahre Naheverhältnis zum WIFO prägten beide Seiten und unterstützten die Intentionen seiner drei Leiter in diesem Zeitraum, die sich mit denen Streisslers in den Grundzügen immer deckten. Als Vizepräsident trägt er darüber hinaus durch sein ceterum censio dazu bei, daß sich die Finanzgewaltigen zumindest ein wenig genieren, dem Institut nicht mehr Mittel zu bewilligen. Umgekehrt bezog auch er vom WIFO manche Anregung. Es stärkt die Autorität einer wirtschaftswissenschaftlichen Abhandlung entscheidend, wenn deren Adressaten gewiß sein können, daß sich nicht nur die theoretischen Hypothesen, sondern auch die Empirie auf ein solides Fundament stützen. Dazu kommt, daß nirgends in Streisslers Werk der an der Beobachtung der Praxis geschärfte ökonomische Hausverstand verletzt wird, was nicht ausschließt, daß er nicht selten eine intellektuelle Freude an Paradoxa erkennen läßt.
182 · Helmut Kramer Das Oeuvre Streisslers ist von erstaunlicher Vielseitigkeit: kritische und stimulierende Übersichten über den Stand der Theorie und Arbeit an deren Fortschritt, wirtschaftspolitisch orientierte Analysen, Empfehlungen zuhanden der Entscheidungsträger, und schließlich, zuletzt öfter und aufwendiger, die Beschäftigung mit dem Einfluß, den unsere Wissenschaft und einige ihrer großen Geister, vornehmlich die „Österreicher", in der Geschichte und Gegenwart ausübten und ausüben, des allen ist er mächtig. Es ist ein mächtiges Werk, nicht nur im Sinn von umfangreich, sondern vor allem auch im Sinn von einflußreich. Die geschilderten Disziplinen verbindet er - Idealfall eines Wissenschaftlers - zu wechselseitiger Befruchtung. Seine theoretische Analyse gewinnt ihre Ausgangshypothesen aus der Beobachtung aktueller Vorgänge in der realen Wirklichkeit der Politik und der Wirtschaft, seine wirtschaftspolitischen Empfehlungen aus einem soliden theoretischen Fundament. Diesen Anspruch stellt er auch an seine Kollegen, und er geißelt sie, wenn sie kürzer greifen und sich mit puren theoretischen Konstrukten von wenig mehr als akademischer Relevanz einerseits, oder mit billigem, wenngleich unfundiertem Pragmatismus andererseits zufrieden geben. Die Ökonomen des WIFO hatten über Jahre hinweg das Vergnügen und den Gewinn, Streisslers Auseinandersetzung mit den Jahresgutachten des deutschen Sachverständigenrats mitverfolgen zu dürfen. Nicht ließ er dabei die „fünf Weisen" recht wenig als solche aussehen: nicht aus Beckmesserei, sondern aus ernsthafter, sorgfältiger und fairer Kritik an eingeflossenen Vorurteilen, Trugschlüssen und politischer Opportunität. Diese Referate hat Streissler vor dem Vortrag immer handschriftlich notiert. So sie noch irgendwo auffindbar sind, müßten sie seinem Werkskatalog unbedingt hinzugefügt und den Studenten der Wissenschaft erhalten werden. Ebenso wie es seine mit Witz und beachtlicher Rhetorik vorgetragenen Laudationes für liebe Fachkollegen verdienen würden; ich erinnere mich an jene für Theodor Pütz zu dessem Achtziger. In ähnlicher Weise wären es seine Beiträge wert, erhalten zu werden, die er in direkter Funktion als Politikberater Finanzministern, Staatssekretären und Parteiobmännern dieser Republik — gar nicht immer zu deren unmittelbaren Entzücken - zuteil werden ließ. In den seltensten Fällen wurden sie befolgt, richtig sind sie daher zumeist noch immer. Neben diesen, wie zu befürchten ist, für immer unveröffentlicht bleibenden Gedanken Streisslers, gibt es eine Reihe von wichtigen Arbeiten, die man vielleicht unter dem Motto „der versteckte Streissler" zusammenfassen könnte. Angesichts der eindrucksvollen Vielfalt der regulär veröffentlichten Arbeiten ist es vielleicht überraschend, daß es darüber hinaus überhaupt möglich ist, diese Liste noch durch einige „indexierte" Werke zu ergänzen. Der Autor sieht seinen Beitrag zum Fest darin, auch diese ans Licht zu bringen.
Wirtschaftsforschung und Wirtschaftspolitik · 183
1. Streissler als Wirtschaftsforscher Streissler stützte die meisten seiner wirtschaftspolitisch orientierten Arbeiten sehr wohl auf die ihm vorliegenden Ergebnisse der empirischen Wirtschaftsforschung, selbst empirisch gearbeitet hat er nur ausnahmsweise wenngleich diese Studien dann seinen beachtlichen methodischen Skill offenbaren. In dieser Hinsicht steht Streissler in einer Reihe mit älteren Großen der österreichischen Nationalökonomie: Haberler, Hayek, Schumpeter. In dem vorliegenden vorläufigen Werkskatalog klafft eine bemerkenswerte Lücke: 1969 legte Streissler in der WIFO-Schriftenreihe „Vorträge und Aufsätze" eine durch und durch empirische Analyse vor zum Thema „Die österreichische Industrieproduktion im Konjunkturverlauf'1). In dieser Reihe, in der sonst nur die Vorträge Franz Nemschaks über die Situation der österreichischen Wirtschaft zum Jahreswechsel erscheinen durften, wurde Streisslers Studie untergebracht, weil sein Prestige das aller WIFO-Referenten übertraf, andererseits aber nur solche Zugang zu den analytischen „Sonderheften" hatten. Wie der unvollständige Katalog zeigt, wäre sie, derart deplaziert, tatsächlich beinahe übersehen worden. Diese Arbeit eines offensichtlich geübten Wirtschaftsforschers geht von folgenden Hypothesen aus: über einen Konjunkturzyklus hinweg verändert sich die Streuung der Branchenkonjunkturen. An den Wendepunkten streuen sie sehr stark, an den Konjunkturhöhe- und -tiefpunkten ist die Entwicklung einheitlich. Daraus lassen sich nicht nur Diagnosen, sondern möglicherweise auch Prognosen ableiten. Die zweite Hypothese nahm an, daß dennoch die Maxima und Minima zeitlich nicht ein-, sondern mehrgipfelig sein könnten. Die empirische Analyse bestätigte auf Basis von Monatsdaten für den Beobachtungszeitraum 1954 bis 1967 im wesentlichen Streisslers Annahme charakteristischer Muster der Branchenkonjunkturen: „Am Weg zu den Wendepunkten wird die Konjunktur jeweils uneinheitlich, sodaß die Streuungsreihen ein Maximum angeben!" In der Frage der Synchronisierung der Höhe- und Tiefpunkte fand Streissler, was jahrzehntelang im Wortschatz der Wirtschaftsforscher plastisch eingesetzt wurde: die „Kamelhöckerigkeit" der Höhepunkte, „das Auftreten von Haupt- und Sekundärkonjunktur. Von einem Sekundäranstieg der Produktion soll immer dann gesprochen werden, wenn er sich mindestens drei Monate ununterbrochen manifestiert" (Streissler, 1969, S. 31f). Streissler führt den zweiten Kamelhöcker auf eine Investitionsnachkonjunktur zurück. Typisch für die österreichische Industriestruktur wirken Impulse von der Auslandsnachfrage zunächst auf die Grundstoffindustrien. Erst wenn diese ihre Kapazitätsgrenzen absehen, entfalten sie Investitionsgüternachfrage .
') Streissler, E., Die österreichische Industrieproduktion im Konjunkturverlauf, WIFO, Vorträge und Aufsätze, Wien, 1969, (27).
184 · Helmut Kramer Im Konsulentenvertrag des WIFO mit Erich Streissler war vorgesehen, daß er seine Verpflichtungen regelmäßig auch in Form von empirischen Konjunkturanalysen erfüllen könne. Obgleich die gerade geschilderten Beobachtungen Streisslers originell waren und durchaus eine empirische Nachprüfung aus heutiger Sicht — nach starken Veränderungen der Produktions- und Nachfragestrukturen - lohnend erscheinen ließen, erkannten Streissler und das Institut dennoch, daß sein komparativer Vorteil eher in der Beratung der Referenten und in der Förderung der Rezeption neuer Ansätze und neuer Erkenntnisse aus der akademischen Ökonomie zu sehen sei. Mit den wirtschaftspolitischen Eigenheiten der Wirtschaftsforschung setzte sich Streissler in der Festschrift aus Anlaß des Ausscheidens des langjährigen Leiters, Prof. Nemschak, auseinander, eingehend und einfühlend wie kein anderer. Der Wirtschaftsforscher müsse zum Unterschied vom akademischen Ökonomen zu den Daten die Theorie und nicht umgekehrt finden. Seine Autorität gebiete es ihm, „nach allen denkbaren Erklärungskonzepten zu bestimmten Daten zu suchen" und nicht etwa „Daten zur Illustration bestimmter Theorien zu finden." Es sei Aufgabe des Wirtschaftsforschers, „nicht nur eine Theorie als empirisch relevant darzustellen, sondern alle im speziellen Fall empirisch relevanten Theorien der politisch relevanten Expertokratie zur Auswahl und zum Weiterdenken anzubieten"2).
2. Wirtschaftspolitische Beratung Streisslers Arbeiten greifen immer wieder die Frage nach der wirtschaftspolitischen Relevanz der Ökonomie auf. Bei der ungeheuren Breite seiner Interessen sind dennoch einige Schwerpunkte erkennbar. Zeitweise konzentrierte er sich auf den Komplex: Einkommensverteilung — Verwendungsstrukturen des Sozialproduktes - Investitionen, Konsumverhalten - Wachstum, also eines Komplexes in der Nachfolge des historischen KaldorArtikels 3 ); dies übrigens auch ein zentrales Interesse eines anderen Senior Fellow des Instituts, Joseph Steindl, doch bei Streissler nicht wie bei diesem in geistiger Nähe zu Kalecki, sondern eher in wissenschaftlicher (und persönlicher) Verbindung mit Hicks. Die Verteilungsfrage beschäftigt Streissler vor allem angesichts des sozialpartnerschaftlichen Anschauungsmaterials in Österreich. Sich mit den inneren Gesetzmäßigkeiten der Sozialpartnerschaft und ihren Vorbedingungen in der Einkommensverteilung zu beschäftigen, war damals noch kein risikoloses Unterfangen. Streisslers hochinteressanter, damals provokativer Artikel über „Sozialpartnerschaft und Gewinne" erschien
2 ) Streissler, E., "Das Monopol wirtschaftsempirischer Wahrheit. Denkstil und Verantwortlichkeit", in Seidel, H., Kramer, Η. (Hrsg.), Wirtschaftsforschung in Österreich. Festschrift für F. Nemschak, WIFO, Wien, 1972, S. 35f. 3 ) Kaldor, N., "Stability and Full Employment", Economic Journal, Dezember 1938, S. 642657.
Wirtschaftsforschung und Wirtschaftspolitik • 185 im Heft 4/1976 der von der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft herausgegebenen und von Meinhard Supper mutig geleiteten „Wirtschaftspolitischen Blätter". Doch wie dieser Artikel erschien! Seine Ankündigung auf dem Titelblatt unterblieb wegen des extremen Mißfallens, den er beim Präsidenten der Kammer, Rudolf Sallinger, ausgelöst hatte. Immerhin: Insider wußten, wo er zu finden war, während ungefähr gleichzeitig eine Studie des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen über die Sozialpartnerschaft überhaupt in den Schubladen verschwand (wenige, wertvolle Exemplare zirkulieren in Wien in hektographierter Form). Sallinger dazu: „Sozialpartnerschaft macht man, man redet nicht darüber". Was konkret den Kammerherrn so sehr irritierte, läßt sich heute nicht mehr eindeutig klären: die Feststellung, daß die Unternehmereinkommen in den Jahren vor dem Erscheinen des Artikels (1970 bis 1973) „zum großen Sprung nach vorne ansetzten", hätte allenfalls die Verhandlungsposition der Gewerkschaften verhärten können, oder war es die Definition der Einkommen der Landwirtschaft als Unternehmereinkommen, oder vielmehr die Feststellung von der konjunkturellen Flexibilität bei längerfristiger Stabilität der Gewinnquote? Heutzutage alles nicht nur recht unverdächtige, sondern allgemein akzeptierte Feststellungen. Streisslers Artikel war möglicherweise schon allein deshalb zwar zu verstecken, aber nicht zu unterdrükken, weil er — wie meist bei Streissler — die Autorität empirischer Beobachtung für sich hatte. Heute, wo mitunter ihre Existenzberechtigung als solche in Frage gestellt wird, würden die Sozialpartner den Schlußfolgerungen Streisslers wahrscheinlich mit Freude applaudieren. „Durch die Sozialpartnerschaft wird ein guter Teil der Wirtschaftspolitik der kurzfristigen Veränderlichkeit der Regierungsentscheidungen entzogen. Erst der Vergleich mit dem Ausland lehrt, wie wichtig gerade für die Unternehmer das Fehlen jeder Hektik dauernd geänderter wirtschaftspolitischer Direktiven ist4)." Streisslers Interesse wendete sich neben der zentralen Funktion der Einkommensverteilung und vor allem des Gewinns, um die seine Überlegungen immer wieder kreisten, ab den späten siebziger Jahren erkennbar den Grundfragen makroökonomischer Steuerung zu: „Wieviel Monetarismus kann die österreichische Wirtschaftspolitik vertragen?" (1975) und „Fiskalismus kontra Monetarismus" (1977) etwa, oder „Das Ende des Keynesianismus" (1982) und schließlich „Was kann die Geldpolitik von den neuesten Entwicklungen der Geldtheorie lernen?" (1988). Ich widerstehe der Versuchung, im Rahmen der Suche nach dem versteckten Streissler auch darüber zu referieren, was Streissler sehr bewußt den oberflächlichen Blicken entzog. Bekam man nämlich das Manuskript zu letzterem Aufsatz in die Hand, so fand man auf der ersten Seite ein einziges Wort (gedruckt mit 24 Punkt-
4
) Streissler, E., "Sozialpartnerschaft und Gewinne", Wirtschaftspolitische Blätter, 1976, (4), S. 50.
186 · Helmut Kramer Schrift): „Nichts". Erst wenn man weiterblätterte, blieb er die Erklärung für seine Apodiktik nicht schuldig. Ich möchte nicht übergehen, daß Streissler mit dem gleichen Engagement wie auf die genannten Grundfragen auch auf Konjunkturzyklen, Inflation, Kapitalmarkt, Besteuerung und viele andere Themenkreise immer wieder einging. Dem Autor erscheinen seine beiden Arbeiten über die Rolle der Werbung (1965 und 1979) als, selbst über den deutschen Sprachraum hinaus, pionierhaft. Auffallend ist vielleicht, daß Streissler die Themen Beschäftigung, Arbeitsmarkt oder Arbeitslosigkeit nur ausnahmsweise explizit anging. Das bedeutet nicht, daß er die wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme deshalb übersah, aber man geht wohl nicht fehl anzunehmen, daß er sie in den Rahmen der ökonomischen Zusammenhänge von Märkten verwies und nicht verabsolutierte, wie das die österreichische politische Debatte gewohnheitsmäßig tat.
3. Umweltpolitik Ein letzter versteckter Streissler verdient es, als solcher enthüllt zu werden. An Streissler erging Mitte der achtziger Jahre die Einladung des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen, einer Arbeitsgruppe Umweltpolitik vorzusitzen. Anders als einzelne Fachkollegen, die es sich leisteten einer solchen „Einladung" eingedenk des bekannten Umstands, daß der Beirat solche Dienste nicht zu honorieren pflegt, aus dem Weg zu gehen, übernahm er den Auftrag. Wer jemals erfuhr, wie angesichts unüberbrückbar erscheinender Formulierungsklüfte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern der Vorsitzende und seine wirtschaftspolitische Weisheit und noch mehr seine sprachliche Phantasie gefordert sind, anerkennt eine solche Bereitschaft, zumal der persönliche intellektuelle Einsatz der Nachwelt. . . versteckt bleibt. Die Arbeit erschien unter der Herausgeberschaft des Beirats 5 ). Streisslers Beitrag wird im Vorwort vom heutigen Präsidenten der Arbeiterkammer bedankt. Man wird nicht fehlgehen anzunehmen, daß Streissler insbesondere das Kapitel „Volkswirtschaftliche Aspekte der Umweltpolitik" maßgeblich beeinflußte. Er griff dabei die sich anbahnende Integration von ökologischem und ökonomischem Wachstumsmodell auf und versuchte, sie auf die vorliegenden empirischen Befunde abzustützen. Für die Zukunft erwartet er eine immer deutlichere Win-win-Situation einer verstärkten Umweltpolitik in den Industrieländern: „Während die in den makroökonomischen Untersuchungen festgestellten leicht produktivitätshemmenden Effekte von Umweltschutzinvestitionen durch mikroökonomische Untersuchungen nicht immer bestätigt werden, weisen daneben vor al-
5
) Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, "Umweltpolitik", Publikationen des Beirats, Wien, 1986, (51).
Wirtschaftsforschung und Wirtschaftspolitik · 187 lern die in Zukunft noch verstärkt zu erwartenden sozialen und externen Nutzen auf eine produktivitätssteigernde Wirkung"6). Möge dieses Buch und der Augenblick des Rückbesinnens auf ein großes Werk gewährleisten, daß Streisslers Leistung für die ökonomische Wissenschaft ebenso wie seine Gedanken und Anleitungen zur österreichischen Wirtschaftspolitik ins gebührende Licht gerückt werden.
6
) Beirat für Wirtschafte- und Sozialfragen, "Umweltpolitik", Publikationen des Beirats, Wien, 1986, (51), S 68.
On the Appointment and Election of Judges Dennis C. Mueller Erich Streissler's writings are characterized by a remarkable breadth and depth of focus. One reason for this is that European economists as a rule seem to have broader interests and general knowledge than their American counterparts. In Erich Streissler's case, however, I think that an additional explanation lies in his training in law. Although many North American economists now work in the field called "law and economics", their work is largely an effort to infuse legal reasoning with economic logic. Streissler's economic writings, in contrast, reflect from time to time the logic and perspective of the jurist. My contribution to this volume honoring the scholarly work of Erich Streissler picks up on the judicial thread in his background and writings. One of the most striking differences between the U.S. judicial system and Continental European judicial systems lies in the American practice of electing judges to office in many states, where in Europe judges are invariably appointed to office like any other civil servant, or in the higher courts, by the parliament. These differences in selection procedure raise in turn the question of whether a judge is, or should be, a representative of the citizens like other elected officials, or should a judge be an expert on legal matters with sufficient independence to ensure impartiality. These issues were raised dramatically in a pair of U.S. Supreme Court decisions earlier in this decade. In these the Supreme Court ruled that the Voting Rights Act applies to the election of judges at state and local levels (Chisorn et al., v. Roemer, 1991, Houston Lawyers Assoc. v. Texas, 1991). Black minorities who feel that the election laws discriminate against their fair representation on the bench can, according to the Court, challenge those laws under the Voting Rights Act as amended in 1982. The decisions hinged on the Court's interpretation that judges are representatives as defined in the statute, and on the intent of Congress in passing the legislation. My concern here is not whether the majority was correct in its interpretation of the statute, or in error as Justice Scalia (joined by Chief Justice Rhenquist and Justice Kennedy) argued in dissent. My concern is rather in the broader issues raised by the cases. What is the role of the judiciary in a democratic system and, given this role, what is the appropriate procedure for selecting judges? I shall argue that there are certain assumptions that citizens might make when writing the constitution that would make the popular election of judges the optimal selection procedure. Under other assumptions, however, citizens would play only an indirect role in the process of selecting judges. In the course of the argument, I shall demonstrate that the assumptions that justify
190 · Dennis C. Mueller the popular election of judges are inconsistent with those underlying the Voting Rights Act, the suits filed under that Act in these particular cases, and existing empirical evidence on voting behavior. However, my main interest is in the more basic issues raised by Chisom et al., and Houston Lawyers — whether judges ought to be elected at all, and if not how should they be selected? I begin by discussing the role of the judiciary in a constitutional democracy (Section 1). In Section 2 the logic behind electing judges is presented, given their assigned role. Section 3 questions whether the logic for electing judges is compatible with the rationale underlying the Voting Rights Act and the cases involving the election of judges brought under it. In Section 4 the merits of various procedures for appointing judges are discussed. An alternative procedure for selecting judges, which I believe is more consistent with the primary role of the judiciary as perceived by most citizens, is described in Section 5. The arguments are summarized in the final section.
1. The Role of the Judiciary 1.1 Arbitrator of the Constitutional Contract Assume that the citizens of a polity were to write a constitution defining the political institutions under which the polity would subsequently function. They seek to create that set of institutions that will maximize their expected welfare in the future. The setting and individual motivations resemble those assumed by Buchanan and Tullock in the Calculus of Consent (1962), and by Mueller in Constitutional Democracy (1996). In such a setting one can easily envisage the constitution drafters creating a representative body to pass laws and determine government expenditure and tax policies, call this the legislative branch; and an executive branch to ensure that these policies are implemented. If in creating these institutions the framers of the constitution could envisage all future actions and interactions of these two institutions, they might be able to design them so that no ambiguities and conflicts would ever arise. But such omniscience cannot be expected. An arbitrator of the constitutional contract to resolve disputes between the legislative and executive branches, as well as between a citizen and the state, and between citizens will be needed. A judicial branch will need to be defined to fulfill this role. Under this interpretation, the citizens in creating the judiciary will wish that it act as their surrogate, that it makes the decisions the citizens themselves would have made at the constitutional convention had they been able to envisage the dispute in question. For example, when writing the constitution the convention might well choose to define a right for citizens to enter into contract with one another to enable future citizens to achieve the mutual gains from cooperation that private contracting creates. When standing
On the Appointment and Election of Judges · 191 in judgment in a private dispute involving the terms of a contract, those writing the constitution would wish that the judge acts so as to preserve and strengthen the institution of free contracting. In a dispute between the executive and legislative branches over a specific interpretation of what the powers of one branch are, the citizens writing the constitution will wish the judiciary to decide the matter so as to preserve and strengthen the effectiveness of these institutions of government at revealing and executing the preferences of the citizens - the goal the constitution framers would have in establishing these two branches in the first place. Thus, if we think of the constitution as a contract joining the citizens of a polity, the judiciary can be thought of as the institution for arbitrating that contract. If two individuals were to write a contract, and as a part of it selected a third party to arbitrate any future disputes involving the contract, one would expect them to be able to agree on the identity of the third party arbitrator, only if both expected that person to be neutral with respect to the interests of the two persons forming the contract. The necessity of both parties having to agree to all terms in the contract before signing it would ensure that each thought the arbitrator to be impartial at that point in time. By analogy, if we think of the constitution as a contract among all citizens in the polity, then the unanimous agreement among the citizens that produces the constitution will ensure that the institution of the judiciary, if created to arbitrate the constitutional contract, will be designed in such a way as to ensure impartiality in its decisionmaking process1).
1.2 Instrument of Majoritarian Democracy One of the important decisions citizens will have to make at the constitutional convention is to choose the rules for electing representatives to the legislature in the future, and the voting rule to be used by the legislature to reach decisions2). Rae (1969) has examined the choice of voting rule in a constitutional setting under the assumptions that (1) all future decisions are mutually exclusive binary choices, (2) each citizen at the constitutional convention believes that he has an equal probability of being on either side of
') Of course, no contract has ever been literally agreed to by all citizens in a community of any size. Thus our analysis can be regarded as quasinormative, as can the Calculus of Consent and Constitutional Democracy, in that they describe institutions that ought to exist if rational, self-interested individuals were to design them to advance their mutual interests. Many state constitutions have been ratified by popular referendum, however, sometimes with required majorities of two thirds. To the extent that actual constitutions are written in such a way as to receive the widespread endorsement of all citizens, their properties should resemble those described in this article. 2 ) The choice of voting rule could, in principle, be left to the legislature along with other procedural decisions it must make, but given the importance of this particular choice to the outcomes from the democratic process one expects that the constitution framers would like to make it themselves. See discussion in Buchanan - Tullock (1962, pp. 63-91), and Mueller (1996, Chapter 11).
192 · Dennis C. Mueller any future binary choice, and (3) that his gain if he wins on a particular vote would to equal his loss if he loses. Under these assumptions citizens at the constitutional convention will unanimously choose the simple majority rule as the optimal legislative voting rule, as it maximizes their expected utility under future collective decisions3). Rae's theorem, and a closely related theorem of May (1952), can be regarded as analytic justifications of majoritarian democracy under the assumption that individuals are rational and self-interested and design their political institutions so as to maximize their expected utility from collective decisions4). They also can be used to justify the popular election of judges under a plurality/majority rule selection process. Consider, for example, a law against driving faster than a given speed with an attached penalty for breaking it. This might be thought of as the kind of binary issue for which the equal intensity assumption justifying the simple majority rule is warranted. Some individuals favor a low speed limit with a high penalty for speeding, say, others a high limit with small penalties5). A simple majority vote chooses that option that maximizes the expected benefits from the community. Now consider a case brought to court in which a citizen is accused of exceeding the speed limit under whatever law was passed. The driver seeks to have the charge dropped on the grounds that his car is old, and the speedometer sometimes registers the wrong speed. A judge who is "tough" on speeders might find the driver guilty, reasoning that the driver should have had the speedometer checked and fixed. A more lenient judge might dismiss the charge, and recommend that the driver have his speedometer fixed. Are the citizens best served by a tough or lenient judge in this case? By the same logic used to defend the majority rule to pass the law against speeding one can defend a plurality/majority rule to select the judge to rule upon its application. If a majority favors a low speed limit and tough penalties, and this outcome is deemed best for the community on the grounds that it maximizes the expected gain to the community, then the interests of the community will be best served also if the majority gets to select a judge, who will interpret
3 ) Let m be the fraction of the community favoring χ with then (1-m) favoring the lone alternative y. If G is the gain an individual expects at the constitutional stage if he favors χ and χ is implemented, then, under the equal intensity assumption, G is also the loss an individual at the constitutional stage anticipates if χ is implemented, but the individual favors y. His expected utility from the implementation of χ is then E(Ux) = mG - (l-m)G = 2mG - G The expected utility from implementing χ is greater than zero, so long as the fraction favoring χ is greater than Vi. The majority rule ensures that * is implemented whenever Vi of the community favor it over the alternative. 4 ) The assumptions that all future decisions are binary, and involve equal intensity are also crucial. 5 ) One might question the binary choice assumption here arguing that the issue actually has several continuous dimensions (the maximum speed allowed, the penalty for exceeding it, the resource devoted to enforcing the law). When pressed these become arguments against the Rae/May-type justification of majority rule, and thus are not pursued further here.
On the Appointment and Election of Judges · 193 the law the way the majority of the community would like to see the law interpreted. Thus, under this conceptualization of majoritarian democracy, the judiciary is seen as a part of the policymaking process. The legislature decides what the policy is, the executive implements it, and the judiciary sees that the will of the majority is carried out in situations of uncertainty over what the policy is or how it is to be implemented.
2. The Arguments in Favor of the Election of Judges 2.1 The Election of Impartial Arbitrators A justification for popular elections as a procedure for selecting judges can be obtained by slightly modifying the arguments the Marquis de Condorcet first used to defend the simple majority rule over 200 years ago. We have argued that the citizens, who first meet to write the constitutional contract, being incapable of predicting the kinds of disputes that will arise in the future, will seek to establish an impartial judiciary. At any point in time, the average citizen is also uncertain about the kinds of disputes between citizen and state, between two citizens, etc., that may arise in the future. Thus, one might reasonably hypothesize that the average citizen cannot predict which side she might favor in future judicial disputes. Under this supposition, the average citizen may be assumed to favor the selection of impartial judges, just as the citizen at the constitutional convention favors establishing an impartial judiciary. If so, then all voters have the same objective when selecting judges - to pick the most competent and impartial person that they can, so as to create the best judicial system possible6). Of course at some point in time in the future, a particular citizen might find herself in court charged with speeding, say, and then wish that the judge assigned to her case was lenient toward speeders. But at the time she votes she does not know that this will happen, and thus votes for the candidate for a judgeship, who seems most competent and impartial. If we now assume that the probability that a given voter votes for the best of two candidates for a judgeship is greater than the probability that she votes for the other candidate, where all voters judge the quality of a candidate by the same yardstick of competence and impartiality, then the probability that the candidate receiving the most votes is the best candidate is greater than 0.5, and increases with the size of the absolute majority in favor of the winning candidate7). Thus, the citizens themselves can be relied upon 6 ) The issue of what characterizes a good judge, and how one would recognize these characteristics in a candidate is a difficult one. See, for example, the discussion in Dubois (1980, pp. 13-14). 7 ) We follow Black's (1958, pp. 160-165) explication of Condorcet's work with appropriate modifications. Let ρ be the probability that the candidate receiving the most votes is the best
194 · Dennis C. Mueller to choose the best persons to be judges, if one can assume that they possess even a modest capability to judge the relative qualities of candidates, and they assess the quality of candidates by the same standard differing only in their assessments of which candidate best meets the standard8).
2.2 The Election of Judges in a Majoritarian Democracy Under the interpretation given of majoritarian democracy above, judges like members of the legislative and executive branches should be accountable to the people ( D u b o i s , 1980, pp. 25-29, 237-239, Corsi, 1984, pp. 259-263). The popular election of judges using either the plurality or the majority rule, e.g., a run-off between the two leading vote recipients should no candidate receive an absolute majority, is the obvious way to achieve this kind of accountability.
3. A s s e s s i n g t h e T w o Rationales for E l e c t i n g J u d g e s Both of the arguments put forward above in favor of the popular election of judges rest on the existence of uncertainty over an individual's future position in an important way. The role uncertainty plays in each is quite different, however. Under the majoritarian democracy justification for electing judges, citizens at any point in time are assumed to differ in their views as to what makes for a good judge (e.g., whether he should be tough or compassionate), just as they differ in their views as to what the law should be and on other government policy. The rationale for using the majority rule to resolve these differences, assumes, however, that at the constitutional stage all citizens are uncertain as to both which issues will come up in the future, and which side of a given issue they will be on. Coupled with the assumptions of an equal probability of being on either side of a binary issue, and equal intensity for winners and losers, this uncertainty of future positions at the constitutional stage can justify the simple majority rule to select policies, and candidate, υ be the probability that a voter votes for the best candidate, e be the probability that a voter votes for the other candidate, h be the number of voters voting for the winning candidate, k be the number of voters voting for the other candidate, and ζ = h + k be the winning candidate's absolute majority, then p
z
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~ v +e ~ D z dp y ζ In y ν (υ z In υ - e 2 In e) = dz D Ef dp (t> *)2 In ν + ν z e z In υ - (ι> ZY In υ - u2 e z In e dz~ D* dp ν z e 2 (In ν - In e)
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) For additional discussion of the Condorcet Jury Theorem, see Grofman et al. (1983), Miller (1986), Ladha (1992).
On the Appointment and Election of Judges · 195 the popular election of judges using the majority rule. Thus, under the majoritarian-democracy justification for electing judges, citizens are assumed to differ at the time they vote for a judge as to the characteristics they deem a good judge should have. It is uncertainty of future position at the constitutional stage that makes the election of judges the appropriate selection procedure. Under the alternative argument, all citizens are assumed to employ the same criterion when electing a judge. They all seek to elect the most impartial and competent person. If they vote for different candidates it is because they have different information about the candidates, and make mistakes. Under the impartial-judge rationale for popular elections of judges, all citizens would vote for the same candidate if they all had the same information. Under the majoritarian-democracy rationale, they would not. Uncertainty plays two roles in the former argument for electing judges: a citizen at the time he votes for a judge does not know the kinds of decisions the judge will have to make in the future, and what the citizen's views on these decisions will be, and the citizen is uncertain over which of the judicial candidates best meets the common standard of impartiality he and all other citizens apply. These differences in the assumed criteria by which voters evaluate judicial candidates allow us to assess the merits of each argument for the popular election of judges according to how well the behavior each presumes about voters corresponds to the actual behavior of voters. If the interests and ideologies of voters affect how they vote for judges, the presumptions of the first defense are supported, but not the second. If voters are generally only concerned with the impartiality and competence (e.g., knowledge of the law) of judicial candidates, the second argument becomes more persuasive. Evidence on voting in state elections points rather clearly to the ideology of a judicial candidate, as measured by his party affiliation, or the affiliation of the group that nominated him, being an important factor in a voter's choice. Voters are if anything less well informed about judicial candidates than they are about other candidates for office. When information about a judicial candidate's party affiliation is available, however, voters use it and vote along party lines (Dubois, 1980, Chapter 3). This behavior is rational for voters, who have a particular ideology and wish to select judges whose decisions will be consistent with that ideology, since a judge's party affiliation does predict how he will vote in future cases (Dubois, 1980, pp. 156-241). Neither of these facts is what one anticipates if judges decide cases impartially, and not on the basis of their own personal ideology or the ideology/interests of those who elected them, and voters wish to elect the most impartial and competent of the candidates. The importance of interests and ideology in the election of judges is further illustrated by the challenges by black interest groups to election laws in some states in the USA that we cited at the beginning (Chisom et al. v. Roemer, 1991, and Houston Lawyers Assoc. u. Texas, 1991). In these cases black groups argued successfully that the at-large election methods used to elect judges in Louisiana and Texas violated the rights of black voters, as pro-
196 • Dennis C. Mueller tected under the Voting Rights Act of 1965, as amended in 1982, because they resulted in the underrepresentation of blacks on the bench. The proportion of black judges elected in these states has been significantly less than the proportion of blacks in the population. This experience is attributed to the fact that white voters vote overwhelmingly for white candidates for judgeships. By shifting to single-member-district representation of judges in the courts, voters in predominantly black districts will be able to elect black judges in rough proportion to their numbers in a state, assuming that black voters vote predominantly for black candidates for judgeships. If the premise behind the challenges is correct, i.e., whites do vote predominantly for white judicial candidates and blacks for blacks, then the premise underlying the Condorcet-jury-theorem rationale for electing judges is undercut. Voters do not share a common standard of impartiality and competence when evaluating judicial candidates, and vote for different candidates because they have different information about how well each candidate meets this standard. Presumably, when voting for a member of one's own race a citizen believes that members of their own race share some common ideology or interest with them, perhaps even a bias for them, and it is this commonality that produces the racially segregated pattern of voting. The crucial piece of information in determining why citizens vote for different candidates appears to be the color of the candidate's skin, a piece of information that all or nearly all voters probably have. If the factual basis upon which the cases in Louisiana and Texas were brought is correct, then Condorcet's defense of majority rule cannot be used to justify the popular election of judges. The challenges to at-large voting methods for electing judges brought under the Voting Rights Act also seriously undercut the rationale for the popular election of judges based on a Rae/May-type defense of majoritarian democracy. Rae sees individuals at the constitutional stage choosing a voting rule from behind a veil of ignorance that conceals their future positions on issues. An individual at the constitutional stage is uncertain whether she, or her children, or their children will be rich or poor, liberal or conservative, etc., and thus chooses that rule that promises the highest expected benefits. But is it reasonable to assume that citizens at the constitutional stage will ignore the color of their own skin, their ethnic group, or their religion? Is it reasonable to assume that individuals at the constitutional stage will assume that their grandchildren have an equal probability of having these basic characteristics? If participants at the constitutional convention in Philadelphia had thought that way, the treatment of slavery in the U.S. Constitution would presumably have been different. If the color of a citizen's skin is an important determinant of the side of a particular issue the citizen will be on, like which of two candidates should be chosen to be a judge, it seems inconceivable that citizens at the constitutional stage will ignore the colors of their own skins and choose a voting rule as if they had an equal chance of being on either side of this issue. For issues in which the color of one's skin matters to the position one takes, those who are
On the Appointment and Election of Judges · 197 in the minority at the constitutional convention should favor a voting rule more protective of the minority's interests than the simple majority rule. For decisions like the selection of judges, where alternative selection techniques to popular election are possible, the minority race can be expected to favor those procedures that best protect minority interests, and accordingly would not favor the popular election of judges. Thus, both arguments in favor of majoritarian procedures for electing judges presume a form of impartiality on the part of citizens, when they vote for a judge, or when they vote for a rule to select judges, that is belied by the way individuals actually do vote and the criteria that they think are relevant in the selection of judges. Moreover, the permanence of race as a characteristic of individuals is such that one cannot imagine members of a minority race agreeing to the establishment of majoritarian democracy as the fundamental rule for making future decisions in areas where race matters, for that would make them vulnerable to a perpetual "tyranny of the majority". The same logic applies to ethnic, linguistic and religious characteristics where these are salient. We shall therefore ignore the Rae-May-type of defense of majoritarian democracy until the concluding section, and concentrate on procedures for selecting impartial judges to arbitrate the constitutional contract that joins all citizens.
4. The Popular Election of Judges in a Racially Mixed Policy If black voters only choose between black candidates for judgeships, and white voters between white candidates, the Condorcet-jury-theorem might once again be invoked to justify the popular election of judges. With race eliminated as a criterion for selecting a judge, all voters might now share the same standard for selecting a judge, and differ only in their views as to which candidate, from those they are allowed to vote for, best meets this standard. The remedy sought in the Louisiana and Texas cases, that judges be elected from single-member districts whose lines have been drawn in such a way so that blacks predominate in some districts, whites in the others, would then be consistent with this rationale for the popular election of judges. A problem arises, however, when one presses further and asks why it is that blacks and whites think that race is an important attribute of a judge, if impartiality and competence are the main criteria for selecting from among the candidates. The only way to reconcile the importance of the race of a candidate for a judgeship and the criterion of selecting impartial judges is to assume that the impartiality of a judge depends on his or her race. Since citizens favor candidates from their own races, the presumption must be that they expect more impartial treatment when brought before a judge of their own race. If this presumption is correct, then impartiality before the law will not be achieved merely by ensuring that minorities are "represented" on the bench
198 · Dennis C. Mueller in proportion to their numbers in the polity. Such proportionality guarantees neither that a citizen is tried by a judge of her own race, nor that she has the same probability as all other citizens of being tried by a judge of her race. If blacks make up 25 percent of the population of a polity, and 25 percent of the membership of the judiciary, a black has a one and four chance of drawing a judge of her race, a white has a three in four chance. If impartiality before the bench can only be achieved when citizens are tried by judges of their own race, then the polity must not only be divided into districts so that blacks and whites can both elect members of their own race, but judicial districts must coincide with electoral districts so that citizens of each race when they appear in court can be assured that they will be tried by a judge of their own race. Complications will arise when a member of one race commits a crime in a district of another race, or when citizens from different races and districts sue one another. Thus, if the underlying rationale for the popular election of judges is the logic of the Condorcet theorem, and yet race is an important criterion in determining voter choices of judicial candidates, then the optimal system is one in which members of each race choose between candidates of their race, and are tried only before judges of their own race, i.e., judicial apartheid. We consider next some less segregationist solutions to the problem of selecting impartial judges.
5. The Appointment of Judges in the USA In the USA three alternatives to popular elections are used to select judges: (1) election by the legislature, (2) appointment by the chief executive subject to the advice and consent of a house of the legislature, or a special council to the chief executive, and (3) under the merit plan (Corsi, 1984, pp. 107-114).
5.1 Appointment by the Legislature Judges are elected by a simple majority vote of the legislature in four states. Since members of the legislature are themselves elected under plurality rules that produce two-party majoritarian democracy, appointment by a state legislature is no more likely to protect minority interests than are popular elections. A member of a racial minority fearful of biased treatment before the courts by the racial majority is unlikely to favor the election of judges by the state legislature under the simple majority rule. A second difficulty can arise with the appointment of judges to the state supreme court by the legislature. Part of the constitutionally assigned task of the highest court is to arbitrate disputes between the executive and legislative branches. If one branch is granted sole authority to appoint members of the judiciary, the danger arises that it will appoint individuals, who are favorably inclined toward that branch. Canon (1972) found that state legisla-
Oil the Appointment and Election of Judges · 199 tures favored the appointment of judges with legislative experience who, should they show any bias at all, would presumably favor the interests of their former home and source of appointment. A citizen at the constitutional stage, who sought to have future disputes between the executive and legislative branches impartially arbitrated, is unlikely to authorize one branch to fill vacancies in the judiciary.
5.2 Appointment by the Chief Executive Clearly substituting the chief executive for the legislature in the appointment process will not eliminate bias in the judiciary between the two branches, but will only change its direction. One of the complaints lodged against U.K. in the Declaration of Independence concerned the impartiality of judges in the colonies, who were appointed by the king, and the early constitutions of the individual states, which often authorized the governor to appoint judges were accused of producing a "spoils system" by reformers in the Jacksonian era (Dubois, 1980, p. 3). The Jacksonian reforms led to the popular election of judges in several states. The requirement that a nominee of the chief executive be approved with the advice and consent of a house (typically the upper) of the legislature tends to mitigate the possible bias in the judiciary between the two branches of government. But it does nothing to protect the position of racial minorities, should their position be threatened by the partisan appointment of judges. State governors tend to appoint individuals to judgeships, who are of their own party, ideological predilection, and ethnic group {Nagel, 1973). Since chief executives at both the national and state levels are elected under the principles of majoritarian democracy, as are members to their legislatures, there is no reason to expect their selections of judges to be more reflective of minority interests than would occur from popular elections.
5.3 Merit Plans Out of dissatisfaction with both the popular election of judges and their appointment by governors/legislatures a group of legal scholars called the American Judicature Society developed the procedure in which a nonpolitical commission nominates candidates for judgeships, who only some time later go before the voters for recall should the voters be dissatisfied with the individuals so appointed. Since 1937 fourteen states have adopted this "merit plan" of judicial selection (Dubois, 1980, pp. 4-11, Corsi, 1984, pp. 104-107). The intent of the merit plans is to take partisan politics out of the selection of judges by entrusting this task to professional lawyers. Since blacks make up an even smaller percentage of lawyers that they do of the population (nationally the figures are 3.4 percent of lawyers versus 12 percent of the population, Greenhouse, 1991, p. A13), this reform seems unlikely to affect the racial composition of the courts, whatever its other effects. In practice, it has
200 · Dennis C. Mueller not generally succeeded in removing partisan politics from the judicial selection process either, but rather has merely pushed it back a stage to the process for selecting membership to the nominating commissions (Watson — Downing, 1969, Dubois, 1980, pp. 4-20). The most significant finding regarding the characteristics of state judges is how little they vary across states as a function of the procedures used to select them (Jacob, 1964, Canon, 1972).
5.4 An Alternative Procedure The impartiality of the judiciary could be secured if all citizens were to concur in the selection of judges. As a practical matter all citizens cannot directly choose judges under the unanimity rule, but in principle their representatives in the legislature could. More realistically, the legislature could be authorized to appoint judges using a supramajority rule of say % or 5/e. Such a rule would generally require the support of representatives of all major minorities for any judges appointed and would thereby tend to ensure their impartiality. The higher the majority required to appoint a judge, the greater the likelihood that the legislature will be unable to agree on any person, and judgeships will remain vacant to the entire community's loss. This danger, although a possibility, should not be exaggerated. At issue is the impartiality and intelligence of a candidate for a judgeship. Although individuals and their representatives may disagree on substantive issues, this will not necessarily prevent them from agreeing that a particular person can be expected to interpret the law fairly. Nevertheless, if the danger of deadlock on the appointment of judges is deemed to be sufficiently high, it could be avoided by investing some person or group with the authority to nominate candidates for judgeships, and stipulating that the nominees will assume their posts after a specified interval of time, say six months, unless the legislature agrees by the required supramajority to substitute another identified person in the nominee's place. This procedure would ensure that judgeships do not remain vacant should the legislature not be able to agree on any individual to fill a judgeship, but allows the people's representatives to substitute a person they deem to be better suited to be a judge than the one nominated, when they can agree on a substitute. Should the nominators under this procedure be in the legislative, or the executive or the judicial branches? Rather obviously they cannot be in the legislative branch, as say a judiciary appointments committee of the legislature, for if they were, to ensure impartiality this committee would have to contain representatives from all minorities so that all citizens were represented, and use the same supramajority rule as the full legislature uses to approve judicial appointments. But then, this committee would be vulnerable to the same danger of deadlock as the legislature as a whole. Nor could an elected chief executive be entrusted with the authority to nominate judges if impartiality is desired. The chief executive is invariably a
On the Appointment and Election of Judges • 201 member and quite likely the leader of one of the parties. She is likely to nominate candidates with ideological positions supportive or sympathetic to that party's ideology, and if a supramajority of the parliament is required to replace her nominee with another person, the chief executive will be nearly free to appoint all members of the judiciary (see again, Dubois, 1980, pp. 3, 239-241). Impartiality is surely lost. The third possible location of a nominator of judicial candidates is in the judiciary itself. All judicial systems have hierarchical structures. Cases are tried at the lowest level of courts, appealed to one or more intermediate levels, with a superior court of last appeal at the top. The career pattern for a typical judge would be to be appointed to a judgeship at the lowest level of courts, and perhaps from there to be nominated to judgeships at higher levels. In the USA, judges appointed to the lowest levels are typically trial lawyers. Those in the best position to observe which trial lawyers have the potential to be good judges at the lowest court level, are the judges at that level, i.e., those hearing the cases prepared by the trial lawyers. Similarly, the people in the best position to appraise the talents of a lower court judge are the judges at the next higher level, who must review the opinions of the lower court judges on appeal. These considerations suggest that the best place to locate the nominators of judges is in the judiciary itself. Vacancies at a particular level of the judiciary could be filled by nominees of the judges in office at that level at the time the vacancies occur, unless the legislature voted by the constitutionally required supramajority to substitute some other person9). The reader might object that such a system would present the danger that the judiciary would become a self-selecting and self-perpetuating institution. If it ever became populated by individuals who were incompetent or corrupt, it might prove difficult to displace them and reform the system. I have two responses to this charge. First, note that there are incentives built into the system to encourage competency. The work at any level of the judicial hierarchy is likely to be lighter and more enjoyable for a given judge if his colleagues at that level are industrious and intelligent rather than slothful and dull. Thus the judges at a given level do have a selfish interest in seeing the most competent of the possible candidates join them, as well as a social responsibility to nominate those persons who will best serve the interests of the community. An individual ambitious to move to higher levels in the judicial hierarchy will carry out his judicial responsibilities to the best of his ability so as to impress his superiors. Of course, one's chances for promotion will be greater, the weaker one's peers are. Thus, it might be feared that the judges at one level would 9
) Article II of the U.S. Constitution provides that the President nominate candidates for the Supreme Court. However, it further stipulates the "Congress may by Law vest the Appointment of such inferior Officers as they think proper, in the President alone, in the Courts of Law, or in the Heads of Departments." Should judges beneath the Supreme Court be deemed to be "inferior Officers," then the U.S. Constitution would allow a procedure like that described in the text.
202 · Dennis C. Mueller choose to appoint weak candidates to join them, so as to look better to their superiors. While an individual judge might think that way, or even all secretly, it is difficult to envisage individuals openly advocating that the best candidates be passed over for nomination in favor of inferior ones, or that a coalition overtly or tacitly would form in favor of promoting mediocrities 10 ). The same arguments hold for corruption, although here one can more readily imagine an outside group being so powerful, e.g., the Mafia, that it could bribe a majority of the judges at a given level, and thereby determine that only their candidates get promoted. The second line of defense is the authority the legislative would possess to substitute its own nominees for those of the judiciary. If an incompetent or corrupt judiciary were to devolve under such a system, the legislative would possess the capability to reform the judiciary by substituting its own preferred candidates over those nominated by the judiciary. If the judiciary came into need of reform, the citizens through their elected representatives could replace the existing cadre of judges11). Let me recapitulate. The impartiality and competence of the judiciary can be best preserved if judges are the consensus choice of the citizens. As a practical matter this argument favors having judges approved by a supramajority vote of the citizens' representatives. If the Constitution is sufficiently effective to ensure that minorities are fairly represented in the legislature, then the requirement that a supramajority of the legislature agree to any person they would appoint should protect minorities from the appointment of judges biased against them. The collective benefits from an honest and competent judiciary are sufficiently great that it should generally be the case that the legislature could both nominate and approve judiciary appointments. Should the requirement that a supramajority approve appointments to the judiciary lead to unfilled judiciary posts, the judiciary itself could nominate candidates with the legislature retaining the right to substitute its own preferred
l0 ) Academic departments in the USA function in much the same way as I have described the judiciary functioning, with university administrations playing the role of parliament as potential vetoers of a department's nominations. In general professional pride and standards induce members of academic departments to promote the best of the candidates available. While it sometimes happens that academically weak departments promote academically weak people, rather than firing them and going outside to hire better ones, I am unaware of examples, and find it difficult to believe that there would be many weak departments that would refuse to promote strong candidates and instead promote weak ones. A modicum of professional pride and standards should suffice to ensure that the judges at a given level nominate the strongest of the potential candidates from the available pool. " ) T h e requirement that a supramajority (say three fourth) of the parliament agree on a substitute for a nominee of the judiciary would allow an organization like the Mafia to sustain a corrupt judiciary by "buying" the votes of only a fourth of the parliament. To curb corruption at this level the citizens would have to be sufficiently exorcised to defeat the members of parliament who had been bought, and thereby force the parliament to reform the judiciary.
On the Appointment and Election of Judges · 203 choices in place of those persons nominated, if it could agree on who these persons should be within the stipulated time interval12).
6. Summary and Conclusions Democratic systems divide into two fundamentally different categories. In constitutional democracies authority rests ultimately with those who draft the constitution. To the extent that the constitution is a contract among all of the citizens, ultimate authority rests with all of the citizens. The constitution creates political institutions, and procedures for selecting individuals to serve in those institutions. The authority and legitimacy of these institutions remain subsidiary to the constitution that defines them, however, and the individuals, who serve in them are best regarded as agents of the citizens themselves. Minorities are provided some protection against discriminatory political actions by the requirement that they concur with the rules creating these political institutions at the constitutional stage13). Under majoritarian democracy all authority lies with a majority of the citizens usually as expressed through an assembly of their representatives. This representative assembly combines the executive and legislative functions of government, and its authority dominates that of the judiciary. No court can overrule a decision of the majority. The role of the courts is to see that the laws passed by the representative assembly are carried out in the way intended. The authority of the parliamentary majority is absolute, and a minority has no place to seek protection should the majority turn upon it. A minority that had reason to fear the actions of the majority would not rationally choose to join or create a majoritarian democracy. In writing the constitution citizens may choose to create certain majoritarian institutions: plurality rules for electing representatives, the simple majority rule for voting in the assembly(ies) of representatives. Their objective in defining these institutions will be to advance the interests of all citizens, however, since all must concur in their creation. We have seen that there are assumptions under which the citizens might choose to create majoritarian institutions for electing judges. These assumptions are not consis12 ) We have not discussed the voting rule to be used if the judges themselves nominate candidates. I would not view this to be a difficult issue. Nevertheless, no consensual candidate may on occasion exist, and thus cycling could be a danger if say the simple majority rule were used. An attractive alternative that avoids cycling but has many of the same normative properties of the simple majority rule is voting by veto (Mueller, 1978, 1984, Moulin, 1981A, B). In this particular situation it would work as follows: Each existing judge would propose a person to fill the vacant position. These names and a status quo name (say someone nominated in a previous year) become the proposal set. An order of veto voting is then determined by some random process. Following this randomly determined sequence each judge eliminates one name from the proposal set. When all have cast their votes only one name is left in the set. This person is the group's nominee. 13 ) For further discussion of the properties of a constitutional democracy see Mueller (1996), and with special emphasis on the USA, Ackermann (1991).
204 · Dennis C. Mueller tent, however, with the premises underlying the challenges to the electoral laws for selecting judges that have been made in the USA under the Voting Rights Act. Indirectly these challenges undermine the rationales for popularly electing judges in a constitutional democracy. Investigations of the various procedures for selecting judges in the USA indicate that all tend to produce "political results", and are more in keeping with the principle of executing the will of the majority than of protecting the rights and interests of minorities. Only a procedure that requires the consent of minorities to the choice of judges can ensure that these choices are not biased in favor of the interests of the majority. I have outlined how one such process might work. This procedure resembles in many respects those that exist today in Europe. In Germany judges pursue separate courses of study, and serve as "apprentices" in lower level courts, before being promoted to the higher courts. Only the judges at the highest level court are appointed by a supramajority vote of the parliament (Langbein, 1985). In practice, however, a certain degree of "logrolling" seems to occur in appointments to the highest court with each party receiving "its share" of the appointments. Perhaps, this procedure creates a sufficient "balance of power" on the court to preserve impartiality. If it does not, the alternative of having the highest court nominate its own replacements, subject to parliamentary substitutions, might better achieve this goal.
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Globalisierung und Liberalismus - Zurück ins 19. Jahrhundert? Ewald Nowotny
1. Vorbemerkung Erich Streissler gilt als der führende liberale Ökonom Österreichs und wohl auch des deutschen Sprachraums - und ich nehme an, daß er, bei aller Skepsis gegenüber Ein- und Rangordnungen, diese Einschätzung wohl akzeptieren würde. In diesem Beitrag soll versucht werden, eine kritische Diskussion mit diesem wichtigen und (auch für den Verfasser) einflußreichen Aspekt des umfangreichen wissenschaftlichen Werkes von Erich Streissler aufzunehmen. Ausgangspunkt ist Streisslers - bewußt - provozierende These, die wirtschaftspolitischen Illusionen des 20. Jahrhunderts seien zu Ende, „ins 21. Jahrhundert gehen, heißt im Sturmschritt zurück ins 19. Jahrhundert"1). Die angesprochenen wirtschaftspolitischen Illusionen seien die Vorstellung der „wirtschaftspolitischen Autonomie des Einzelstaates" einerseits und des „fürsorglichen Wohlfahrtsstaates" andererseits. Grundlage dieser Illusionen sei die implizite Prämisse Keynes' vom Ende der Weltwirtschaftsintegration und des Goldstandards gewesen. Tatsächlich aber sei die „wirtschaftspolitische Zwangsgewalt" des Einzelstaates nur als Reflex von Kriegen und Kriegsfolgen entstanden, langer Frieden läßt die wirtschaftspolitische Zwangsgewalt von Einzelstaaten dahinschmelzen". Das Ende des „Kalten Krieges" und die damit verbundene - bzw. zum Teil ermöglichte - wirtschaftliche Globalisierung führt aus der Sicht von Erich Streissler damit wieder zu Voraussetzungen, wie sie für den Siegeszug des Liberalismus im 19. Jahrhundert bestanden. Liberalismus und Globalisierung sind damit engst verbundene Phänomene, der Erfolg der einen Komponente stärkt die jeweils andere. Aus dem Zusammenspiel beider ergibt sich die Perspektive einer langfristig wohlhabenden und friedlichen Gesellschaft. Im folgenden soll diese, dem Optimismus der „unsichtbaren Hand" verpflichtete These näher analysiert werden. Es wird zu zeigen sein, daß sowohl das Konzept des Liberalismus, wie das Konzept der Globalisierung sehr differenziert zu erfassen ist. Damit ergeben sich auch für die zukünftige Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik vielfaltige - und zum Teil einander widersprechende - Entwicklungslinien. ') Streissler (1996, S. 3).
208 · Ewald Nowotny
2. Liberalismus, Marktwirtschaft und Demokratie Wie für jede gesellschaftlich interessante Geistesrichtung gibt es auch für die Position des Liberalismus so vielfache Begriffsbestimmungen und Akzentuierungen, daß es müßig wäre, nach einer einheitlichen „Definition" zu suchen. Dies entspricht auch Erich Streisslers pluralistischem LiberalismusVerständnis 2 ). Dazu kommt die sehr unterschiedliche Bedeutung des Begriffs „liberal" im europäischen und im amerikanischen Sprachgebrauch, sodaß dementsprechend für die USA vielfach dem europäischen Begriff „liberal" der Begriff „libertär" gleichgesetzt wird. Zentrum liberalen Denkens ist jedenfalls das Postulat der menschlichen Freiheit. Dieser Anspruch war ja die Triebfeder der europäischen Aufklärung. Aus dieser Wurzel haben sich zwei Stränge aufgeklärt-liberalen Denkens entwickelt, die vielfach verbunden, häufiger aber noch als Gegensätze oder zumindest in unterschiedlichen Akzentuierungen geschichtsmächtig geworden sind. In verkürzter Form kann in diesem Sinn zwischen der Entwicklungslinien des Wirtschaftsliberalismus und der Linie des politischen Liberalismus unterschieden werden. Diesen Linien entspricht der Unterschied zwischen einem „positiven Freiheitsbegriff' (Freiheit als Möglichkeit zu einem menschenwürdigen Leben) und einen „negativen Freiheitsbegriff' (Freiheit als Leben ohne staatliche Einschränkungen) 3 ). In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und bis zur französischen Revolution laufen diese Entwicklungslinien gemeinsam. Seither zeigen sich deutlich unterschiedliche gesellschaftliche Akzentuierungen — bis hin zur jüngeren Gegenwart, wo von manchem Historikern der (tatsächliche oder vermeintliche, endgültige oder vorübergehende) Sieg des Wirtschaftsliberalismus als das Ende der „Nachrevolutionären Geschichte von 1789" interpretiert wird (T. G. Ash). Die Positionen des Wirtschaftsliberalismus lassen sich zurückführen auf die englisch-schottische Moralphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts (J. Locke, D. Hume) und fanden in Adam Smith eine noch heute gültige Ausprägung. Es ist dies die Tradition, der sich Erich Streissler, der große Kenner der englischen Geistesgeschichte, verpflichtet fühlt und die „Klassikern" des modernen Wirtschaftsliberalismus wie Hayek und Friedman zugrunde liegt. Der politische Liberalismus geht von der teils rationalistischen (Voltaire), teils romantischen (Rousseau) Tradition der französischen Aufklärung aus, lag der Erklärung der Menschenrechte und der Demokratiebewegung des 19. und 20. Jahrhunderts zugrunde und findet sich heute in den Konzepten des
2
) "Liberalism must always allow a plurality of approaches" (Streissler, 1969, S. XII). ) Für eine ausfuhrliche Diskussion dieser zentralen Begriffe siehe u. a. Machlup (1969), Rawls (1993) und Ferge (1996). Zur Abgrenzung zwischen "englischem und französischem Liberalismus" und eine eingehende Darstellung wirtschaftsliberaler Positionen siehe Streissler (1997, S. 83ff). 3
Globalisierung und Liberalismus - Zurück ins 19. Jahrhundert? · 209 modernen Wohlfahrtsstaates und der „Bürgergesellschaft", auf die später eingegangen wird. Beiden Strängen des Liberalismus gemeinsam ist das aufklärerische „sapere aude", Kants Wahlspruch der Aufklärung „Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen." Gesellschaftspolitisch ist dies das Postulat der „offenen Gesellschaft" im Sinn eines herrschaftsfreien Diskurses. Die Unterschiede zwischen wirtschaftlichem und politischem Liberalismus im Sinn der angedeuteten Entwicklungslinie liegen nicht in den jeweiligen gesellschaftspolitischen Bezugsfeldern, sondern meines Erachtens wesentlich tiefer, nämlich in Unterschieden des Menschen- und Gesellschaftsbildes. Grundlegend für die Position des Wirtschaftsliberalismus ist — bei aller nötigen Vereinfachung - das Menschenbild des nutzenmaximierenden Individuums. Nutzenstiftend - und damit Zweck aller wirtschaftlicher Tätigkeit ist dabei letztlich der (primär individuelle) Konsum 4 ). Streissler (1994, S. 4) hat zurecht darauf hingewiesen, daß es sich bei dieser zentralen und vordergründig unmittelbar plausiblen Position der klassischen Nationalökonomie und des Wirtschaftsliberalismus um ein Werturteil handelt, aus dem abzulesen ist, daß als wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Beurteilungsmaßstab auf das Konsumenteninteresse abzustellen ist5). Dies ist von unmittelbarer aktueller Relevanz. Bedeutet doch heute das (Wieder-)Erstarken wirtschaftsliberaler Positionen eine Verstärkung des Konsumenten - gegenüber dem Produzenteninteresse, wobei die damit verbundenen Verteilungsaspekte nicht zu berücksichtigen sind. Dies drückt sich nicht nur in einer (zumindest angestrebten, zum Teil auch realisierten) Verschärfung der Wettbewerbsintensität aus, sondern ζ. B. auch in dem Zurückdrängen von Interessenlagen der Arbeitnehmer als Produzenten (geringeres Gewicht der Zielsetzung der Vollbeschäftigung, keine Rücksichtnahme auf familiäre Beschränkungen bei Festlegen von Geschäftszeiten und Mobilitätserfordernissen, Betrachtung von Arbeitsschutzbestimmungen als Wettbewerbshemmnissen usw.). Hier liegt auch ein unmittelbarer Bezugsbereich zur Globalisierungsdiskussion. Wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden wird, gibt es in der Tat eine Vielzahl realwirtschaftlicher Argumente, die von Globalisierungsten4
) Vgl. die von Streissler oft zitierte, für den Wirtschaftsliberalismus zentrale Position Adam Smiths: "Consumption is the sole end and purpose of all production, and the interest of the producer ought to be attended to, only sofar as it may be necessary for promoting that of the consumer" (Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776, IV. Buch). 5 ) Der Bezug auf dieses Werturteil ist dabei wieder nicht unabhängig von soziologischen Strukturen und ökonomischen Interessenlagen. So hat Streissler (1997, S. 117) darauf hingewiesen, daß diese Konsumorientierung im Sinne Smiths - und damit eine Politik des Wirtschaftsliberalismus - in Kontinentaleuropa historisch vor allem von der Hochbürokratie betrieben wurde, also dem "einkommensgesicherten Mittelstand". Vgl. auch die kritische Charakterisierung der auf die Psychologie des Konsumenten abstellenden Wiener Grenznutzenschule als die "Ökonomie der Rentiers". In diesem Sinn kann das Erstarken wirtschaftsliberaler Position seit den siebziger Jahren auch in Verbindung gesetzt werden mit der zunehmenden Bedeutung von Rentier-Einkommen in Phasen langer politischer und monetärer Stabilität.
210 • Ewald Nowotny denzen positive Wohlfahrtseffekte erwarten lassen. Ihre gesellschaftspolitische Brisanz erhält die Globalisierungsdebatte aber aus der Verknüpfung mit weltweiter Deregulierung als Folge von „Politikwettbewerb". Hier stellt sich dann massiv das Problem einer einseitigen — und damit verzerrenden — Wohlfahrtsbewertung, wenn die Vorteile der Globalisierung — wie dies der Argumentation der wirtschaftspolitischen Praxis häufig entspricht — im Ermöglichen tieferer Konsumgüterpreise gesehen werden. Das bedeutet, wie oben angeführt, eine einseitige Orientierung am Konsumenteninteresse und eine Nichtbeachtung von Aspekten der inländischen und ausländischen Produzentenseite (ζ. B. in bezug auf Kostenvorteile durch Kinderarbeit, „ÖkoDumping usw.). Zwar k a n n eingewandt werden, daß eine rationale Berücksichtigung langfristiger Konsumenteninteressen auch entsprechende „Kostenfaktoren", wie Umweltschutz- und Sozialmaßnahmen in den Konsumentennutzen einzubeziehen habe. Die konkrete, auf internationalen Preiswettbewerb reduzierte Praxis wirtschaftsliberal orientierter Ansätze der Wirtschaftspolitik sieht aber anders aus, wie etwa die Verhandlungen im Rahmen der WTO gezeigt haben. Neben dem methodischen und inhaltlichen Abstellen auf das Individuum (genauer: den einzelnen Konsumenten) Hegt der zweite zentrale Ansatzpunkt des Wirtschaftsliberalismus im Konzept der „spontanen Ordnung", wonach die „unsichtbare H a n d des Marktes" eine weitgehende Harmonie zwischen den Interessen der Einzelnen und der Gesellschaft herstellt. Zwar gibt es gewisse gemeinschaftliche, vom Staat zu erfüllende Aufgabenstellungen in bezug auf Festlegung und Sicherung von Eigentumsrechten, als „Hauptprinzip" des Wirtschaftsliberalismus gilt aber, daß „wir uns in allen Stücken so weit wie möglich auf die spontanen Kräfte der Gesellschaft stützen und so wenig wie möglich zu Zwangsmaßnahmen greifen sollten" (Hayek, 1975, S. 37). Dem liegt die Sicht der Gesellschaft als einer „spontan e n Ordnung" zugrunde, entstanden zwar „aus menschlichem Handeln, aber nicht nach menschlichem E n t w u r f ' . Gesellschaftliche Erscheinungen sind demnach als evolutionär, traditionsgeformte Phänomene zu interpretieren, nicht als Ergebnis rationaler Entwürfe, wirtschaftspolitischer Bedeutung, gerade auch in bezug auf (wirtschafts-)liberaler Konzeptionen in bezug auf Fragen der Globalisierung, ist dabei die aus dieser Sicht abgeleitete Position, daß es unzulässig, aber auch undurchführbar sei, auf die Einkommensverteilung in Sinne einer „sogenannten sozialen Gerechtigkeit" einzuwirken. Hayek (1991) gibt dafür folgende Gründe an: • Der Versuch, soziale oder distributive Gerechtigkeit (i. S. des Abbaus von Unterschieden in der materiellen Position der einzelnen) zu verwirklichen, führe zu einer Zerstörung der „persönlichen Freiheit", die als Abwesenheit staatlicher Einflußnahme verstanden wird. Denn ein solcher Versuch bedeute, daß die „zweckunabhängige spontane Ordnung" der Gesellschaft durch hoheitliche staatliche Eingriffe ersetzt werde, die auf ein bestimmtes — distributives — Ziel abstellen.
Globalisierung und Liberalismus — Zurück ins 19. Jahrhundert? · 211 • Es gibt kein allgemeines Einverständnis über die relative Wichtigkeit der einzelnen Ziele einer staatlichen Politik, insbesondere hinsichtlich des Verteilungsziele s. • Eine „spontane Ordnung" wie der Marktmechanismus, kann gar nicht „ungerecht" sein, da niemand für das Ergebnis dieser quasi naturgesetzlichen Ordnung verantwortlich ist. „Gerechtigkeit" ist nur als Kategorie individuellen Verhaltens, im Sinne von „Fairneß", nicht als soziale Kategorie aufzufassen. • Gegenüber der natürlichen, spontanen Ordnung der Gesellschaft eine unbeschränkte Machtsetzungsautorität der Volksvertretung, insbesondere die Macht der Mehrheit anzuerkennen, ist ein konstruktivistischer Irrtum. Eine Einkommensumverteilung (ζ. B. durch progressive Besteuerung), bei der eine Mehrheit einer Minderheit gegen deren Willen belastet, stellt eine „willkürliche Diskriminierung" dar. Die Position des politischen Liberalismus stellt in ihrem Menschenbild auf die von Aristoteles übernommene und vom christlichen Humanismus weitergeführte Vorstellung vom Menschen als „zoon politikon", dem Menschen als (auch) gesellschaftliches und auf die Gemeinschaft bezogenes Wesen, ab. Diesem Menschenbild entspricht die Annahme von Verhaltensweisen, die nicht nur an individueller Nutzenmaximierung orientiert sind und wo neben Einkommen bzw. Konsum speziell auch der Aspekt der Sicherheit verhaltensbestimmend ist. Gerade Aspekte der individuellen und der sozialen Sicherheit führen die Menschen dazu, sich nach einem „contrat social" in großen Gemeinschaften zu organisieren, wobei die Organisation dieser Gemeinschaften den Prinzipien der Menschenrechte zu entsprechen habe. Die evolutorische Entwicklung von Gesellschaften kann damit ergänzt — oder auch ersetzt werden - durch bewußte Schritte der gesellschaftlichen Reform. Dabei ist entgegen der wirtschaftsliberalen Vorstellung der „unsichtbaren Hand" eine Ubereinstimmung zwischen individueller Nutzenmaximierung und gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt in vielen Bereichen, insbesondere wo es um Fragen der Macht- und Einkommensverteilung geht, nicht zu erwarten und auch empirisch nicht belegbar. Es kann daher erforderlich sein, gesamtwirtschaftliche Interessen gegenüber Einzelinteressen abzuwägen und notfalls zu Lasten des Einzelinteresses durchzusetzen. Entscheidend ist demnach die Position, daß es neben dem individuellem auch ein gesellschaftliches Interesse gibt6). Damit stellt sich die Frage nach der Ermittlung des „gesamtgesellschaftlichen Interesses". Hier stehen autoritäre Ansätze, wo diese Ermittlung auf Grund der vermeintlichen höheren Einsicht eines einzelnen oder einer Gruppe erfolgt, und demokratische Verfahren im Sinne des politischen Liberalismus einander gegenüber. Aus dem demokratisch ermittelten „gesellschaftlichen Interesse" ist auch die Legitimation für verteilungspolitische Eingriffe gegeben, wenn sie erforderlich
6
) Vgl. demgegenüber den bekannten Ausspruch Margaret Thatchers: "There is no such thing as society".
212 · Ewald Nowotny sind für die Sicherung wesentlicher Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben auch der wirtschaftlich Schwächeren einer Gesellschaft. Das Ausmaß dieser Eingriffe ist dabei je nach Staat und Weltregion unterschiedlich. Im europäischen Kontext Hegen dafür Konzeptionen wie die „Soziale Marktwirtschaft" oder der „Wohlfahrtsstaat" zugrunde, die beide im unterschiedlichen Maß - auf Marktkorrekturen abstellen. Zentral für alle diese Konzeptionen sind dabei zwei Elemente (vgl. Nowotny, 1996, S. 20ff): • Bereitstellung von höherer Sicherheit in elementaren Problemlagen, wie Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit als dies über Marktprozesse möglich ist 7 ). • Bereitstellung sozialer Leistungen aufgrund von öffentlich-rechtlichen Ansprüchen und nicht aufgrund individueller Gnade oder Wohltätigkeit. Die gesellschaftspolitische Brisanz, an der ja auch der Liberalismus im 19. Jahrhundert gescheitert ist, ergibt sich heute aus der Gefahr einer zunehmenden Unvereinbarkeit von wirtschaftlichem Liberalismus einerseits und politischem Liberalismus im Sinn einer funktionsfähigen Demokratie andererseits. Wirtschaftlicher Liberalismus stellt im Kern darauf ab, Verteilungsfragen als außerhalb der politischen Kompetenz zu betrachten. Die mit „freien Märkten" verbundenen Konzentrationstendenzen in bezug auf Einkommen und Vermögen 8 ) sind als „naturgegeben" zu akzeptieren. In der berühmten Fragestellung „Macht" (d. h. politische Einflußnahme) „oder ökonomisches Gesetz" (d. h. Marktbestimmung) zeigt sich die „Rückkehr zum 19. Jahrhundert" in der zunehmenden Vorherrschaft der Märkte gegenüber Versuchen der gesellschaftspolitischen Einflußnahme 9 ). Die Wirtschafts- und Sozialpolitik hat sich dabei insbesondere der Kontrolle durch die „internationalen Kapitalmärkte" zu unterwerfen, deren Bedeutung durch globale Deregulierung und durch die stärkere Rolle von Kapitaldeckungsverfahren der Alterssicherung rapide zunimmt. Da der Mensch - im Gegensatz zu anderen Produktionsfaktoren - aber in der Lage ist, sich zu organisieren, um in als ungerecht empfundene Verteilungskonstellationen einzugreifen, zeigt sich in zunehmendem Maß eine
7
) "The welfare state can be viewed as an insurance contract entered voluntarily by riskaverse individuals behind John Rawls 'Veil of Ingnorance'" (Barr, 1992, S. 795). 8 ) Liberale, die auf das Prinzip der "Chancengleichheit" abstellen, wie etwa John Stuart Mill, traten für hohe Erbschaftssteuern ein - was aber ohne politische Relevanz blieb und in Zeiten "liberaler" Kapitalmärkte auch zunehmend undurchführbar wird. 9 ) Dabei ist darauf hinzuweisen, daß Böhm-Bawerk (1995), der Urheber dieser Fragestellung, sehr viel differenzierter argumentierte, als dies in der Regel von wirtschaftsliberaler Seite heute geschieht. Das Wirken von "Marktgesetzen" bezieht sich nach seiner Analyse nur auf den Bereich der funktionalen Einkommensverteilung, während er in bezug auf die (gesellschaftlich relevantere) personelle Einkommensverteilung sehr wohl Gestaltungsmöglichkeiten sah. Zur kritischen Einschätzung des liberalen - aber eben kontinental-europäischen - Ökonomen Böhm-Bawerk hinsichtlich der verteilungspolitischen Wirkungen des "freien Wettbewerbs" vgl. auch folgendes Zitat: Es "wird jeder Unbefangene auf den ersten Blick erkennen, daß die egoistische Tauschkonkurrenz gewiß nicht zu der gesellschaftlich fruchtbarsten, mit dem größten reinen Nutzen für die Lebenserhaltung und die Entfaltung des Volkes (!) verbundenen Distribution gefuhrt hat" (Böhm-Bawerk, 1924).
Globalisierung und Liberalismus — Zurück ins 19. Jahrhundert? · 213 Diskrepanz zwischen dem ökonomischen Legitimationsdruck „der Märkte" und dem politischen Legitimationsverfahren des allgemeinen gleichen Wahlrechts. Dieser Widerspruch zwischen dem Willen der Wähler und dem Willen „der Märkte" bestimmt heute wesentlich das politische System Europas. Dabei darf nicht übersehen werden, daß die Blütezeit des Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert nicht zuletzt dadurch bedingt und ermöglicht war, daß weite Teile der Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen waren - die Opfer sich also nicht legitim wehren konnten, sondern außerhalb des politischen Systems agieren mußten 10 ). Der Fortschritt des 20. Jahrhunderts bestand eben darin, diese Wirkungen des wirtschaftlichen Liberalismus durch das Erstarken des politischen Liberalismus zurückzudrängen. Dieser Fortschritt erscheint - jedenfalls in Europa11) - unumkehrbar. Im Zuge der Globalisierung sieht sich Europa freilich mit Systemen konfrontiert, die in dieser Hinsicht im 19. Jahrhundert leben. Auf die entsprechenden Spannungen wird im folgenden eingegangen.
3. Perspektiven der Globalisierung Ohne hier im Detail abgesicherte Definitionen zu versuchen, ist im Zusammenhang mit unserer Fragestellung mit Globalisierung ein Zustand gemeint, wo für die Wirtschaftspolitik auf nationalstaatlicher Ebene immer geringere oder im Extremfall gar keine Spielräume bestehen. Es ist dabei sinnvoll, nach einzelnen Märkten zu differenzieren, also insbesondere nach Gütermärkten, Kapitalmärkten und Arbeitsmärkten. In bezug auf die Gütermärkte sind zwei Entwicklungen zu unterscheiden: Zum einen sehen wir einen Aufholprozeß der Staaten, die in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung in der Vergangenheit durch autoritäre Planwirtschaften behindert waren. Dies gilt für die europäischen Reformstaaten, für Asien und zum Teil für Südamerika. Wenn diese Staaten nun schneller wachsen als die Industriestaaten Europas und Amerikas, so ist dies ein Nachholprozeß und keine Bedrohung. Wenn China etwa im Jahr 2010 das Land mit dem größten Sozialprodukt der Welt sein wird, heißt dies einfach, daß sich der gewaltige Abstand der Pro-Kopf-Einkommen zu den Industriestaaten etwas verringert hat - eine Entwicklung, die, für sich betrachtet, nicht als Nachteil, sondern als Vorteil für alle Beteiligten gesehen werden kann.
10 ) "It is highly doubtful whether the achievements of the Industrial Revolution would have been permitted if the franchise had been universal" (Heilbronner, R. L., Thurow, L. C., The Economic Problem, 7 th ed., Prentice Hall, Engle Wood Cliffs, 1972, 7/1, S. 46). Auch in bezug auf die "erfolgreichste liberale Maßnahme in Mitteleuropa", die deutsche Währungsreform von 1948 weist Streissler (1997, S. 125) daraufhin, daß sie "Ausfluß diktatorischen Handelns" war. u ) In den USA ist die praktische Bedeutung des allgemeinen gleichen Wahlrechts durch den Trend zu sinkender Wahlbeteiligung - der der sozialen Segmentierung der Gesellschaft entspricht — und die zentrale Rolle der Wahlkampffinanzierung durch Wirtschaftsgruppen inzwischen deutlich gesunken.
214 · Ewald Nowotny Von dieser Aufholentwicklung zu unterscheiden ist eine generelle Tendenz einer zunehmenden weltwirtschaftlichen Verflechtung, die selbstverständlich durch das Öffnen neuer Märkte beschleunigt wird. Dennoch ist hier die Entwicklung nicht so dramatisch, wie es das Schlagwort der Globalisierung suggeriert, wenn es als Quelle der Angst oder als Mittel der Drohung eingesetzt wird. Einen ersten empirischen Anhaltspunkt bietet die Beobachtung der Entwicklung des Exponiertheitsgrades, das heißt, der Summe von Exporten und Importen als Prozent des jeweiligen Sozialproduktes. Diese Exponiertheitsgrade haben für die meisten OECD-Staaten in der Mitte der achtziger Jahre ihren Höhepunkt erreicht und weisen seither wieder eine leicht sinkende Tendenz auf. So betrug der Exponiertheitsgrad für Osterreich 1985 80% und liegt in den neunziger Jahren etwa bei 75% des Sozialproduktes. Generell spiegelt sich in den sinkenden Exponiertheitsgraden zum einen der Ersatz von Exportaktivitäten durch Direktinvestitionen und zum anderen der wachsende Anteil des Dienstleistungssektors am Sozialprodukt. Denn wenn es auch einige spektakuläre Beispiele für Verlagerungen von EDVLeistungen usw. gibt, so gilt doch insgesamt, daß die räumliche Mobilität des Dienstleistungssektors im Vergleich zum Industriebereich deutlich geringer ist. Sicherlich stellt der Industriesektor in vielem noch den Motor der wirtschaftlichen Entwicklung dar, die Globalisierungsdebatte - und auch die Wirtschaftspolitik - tendiert aber dazu, die beherrschende gesamtwirtschaftliche Rolle des Dienstleistungssektors zu unterschätzen. Ein weiterer Aspekt, der aus der Analyse der Exponiertheitsgrade sichtbar wird, ist der - an sich ja selbstverständliche - Zusammenhang zwischen Größe eines Wirtschaftsraums und außenwirtschaftlicher Exponiertheit. So liegt der Exponiertheitsgrad in Österreich bei 75%, in Deutschland etwa bei 50%, in Belgien bei 130%, in den USA und in Japan dagegen bei rund 20%. Auch die EU weist gegenüber Drittstaaten einen Exponiertheitsgrad von etwa 20% auf. Das heißt: Große Wirtschaftsräume sind heute keine geschlossenen Volkswirtschaften, sind aber doch wesentlich weniger außenwirtschaftlich exponiert als kleine Staaten. Ihre wirtschaftspolitische Orientierung ist daher wesentlich stärker binnengelenkt, wie es sich ja deutlich an den USA zeigt. Für Europa macht es daher einen wesentlichen Unterschied aus, ob die Staaten der EU für sich allein agieren oder zu gemeinschaftlichen Strategien, etwa auch im Bereich der Währungspolitik, finden. Schließlich als weitere Differenzierung zur Globalisierungsthese: Auch in Zeiten niederer Transportkosten gilt: Die Geographie zählt. So gingen 1995 etwa 63% der österreichischen (60% der deutschen) Exporte in die EU. Als aktuelle Illustration: Die Exporte Deutschlands nach Österreich, die etwa 40 Mrd. DM betragen, sind größer als die Exporte Deutschlands nach China und Japan zusammengenommen, deren Volumen rund 30 Mrd. DM ausmacht. Nun erfaßt die Betrachtung von Handelsvolumina noch nicht die volle Bedeutung des Welthandels, da auch relativ kleine Volumensänderungen unter Umständen erhebliche Auswirkungen auf Weltmarktpreise ausüben können.
Globalisierung und Liberalismus - Zurück ins 19. Jahrhundert? · 215 Insgesamt ist aber doch festzuhalten, daß es für den güterwirtschaftlichen Bereich, also für den Bereich, wo in bezug auf Globalisierungstendenzen die größten Befürchtungen bestehen, wo aber auch die Ökonomen die größten Wohlfahrtsgewinne erwarten, zwar bemerkenswerte Einzelentwicklungen gibt, gesamtwirtschaftlich aber kein dramatischer Trendbruch festzustellen ist12). Anders ist es im Bereich der Geld- und Kapitalmärkte. Hier hat tatsächlich ein Globalisierungsschub stattgefunden. Auf den Finanzmärkten ist es vor allem durch Maßnahmen der Deregulierung und durch technische Entwicklungen im Kommunikationsbereich zu einer Explosion der Volumina gekommen, wobei die entsprechenden Zahlenangaben je nach Abgrenzung freilich erheblich schwanken13). Die stärkste unmittelbare Analogie zu den liberalen Wirtschaftsstrukturen des 19. Jahrhunderts ergibt sich demnach im Bereich der Kapitalmärkte und hier vor allem in bezug auf grenzüberschreitende Direktinvestitionen. Entsprechende Studien14) zeigen, daß hier in absoluten Werten zwar eine erhebliche Zunahme zu verzeichnen ist, daß die gesamtwirtschaftliche Dimension aber nicht überschätzt werden soll. Für den gesamten OECDBereich hat sich das Ausmaß der aktiven Direktinvestitionen (outflows) vom Jahrzehnt 1971/1980 zum Jahrzehnt 1981/1990 um 234% auf 1.009 Mrd. $ erhöht, für die passiven Direktinvestitionen (inflows) erfolgte im gleichen Zeitraum eine Erhöhung um 346% auf 839 Mrd. $. Mißt man die grenzüberschreitenden Direktinvestitionen als Prozent des BIP, so sind die passiven Direktinvestitionen in Österreich von 1983/1993 von 0,3% auf 0,5% des BIP angestiegen. Österreich liegt damit deutlich unter anderen Industriestaaten wie etwa den USA (0,8%) oder den Niederlanden mit 1,0%. Bei den aktiven Direktinvestitionen zeigt sich in Österreich ein deutlicher Anstieg von 0,3% im Jahr 1983 auf 0,7% des BIP im Jahr 1993. Dieser Wert liegt unter dem Deutschlands mit 1,2% und deutlich unter dem der Niederlande, dem in dieser Beziehung verflochtendsten Staat mit 3,8% des BIP. Sowohl bei den passiven, wie auch insbesondere bei den aktiven Direktinvestitionen zeigt sich dabei nach Studien der OECD, daß es sich hier nur im geringeren Maß um Verlagerungen handelte, sondern vor allem um Strategien der Marktsicherung auf wichtigen bisherigen Exportmärkten. Die vielleicht dramatischste Globalisierungsentwicklung liegt dagegen in der rasch zunehmenden weltwirtschaftlichen Bedeutung institutioneller Investoren. Dabei ist eine Tendenz einer zunehmenden internationalen Diversifizierung der Portfolios zu beobachten, die zu einer gewaltigen internationalen Kapitalrealallokation führen kann. Die Größenordnungen, um die es
12
) Für Österreich siehe dazu u. a. Hofer - Pichelmann (1997). ) So schätzt etwa die Bank für internationalen Zahlungsausgleich den Tagesumsatz auf den Devisenmärkten bei "Normalbetrieb" auf rund 1.200 Mrd. $. 14 ) UN CTAD, World Investment Report 1996, New York-Geneva 1996, OECD, International Direct Investment Statistics Yearbook 1996, Paris, 1996. 13
216 • Ewald Nowotny sich hier handeln, sind empirisch schwer abschätzbar 15 ). Es sind jedenfalls diese internationalen Investoren (Investmentfonds, Pensionskassen und ihre beratenden Institute) die heute die „Rentier-Interessen" als „Meinung der Märkte" repräsentieren. Gegenüber dem, ebenfalls wesentlich von Rentier-Interessen bestimmten, fin-de-siecle des 19. Jahrhunderts hat hier eine Akzentverschiebung insofern stattgefunden, als die Macht dieser Interessen im Zeitalter der Globalisierung bei vergleichsweise wenigen „Leitakteuren" konzentriert ist und sehr volatil eingesetzt werden kann. Die Vertretung der Geldkapitalinteressen ist damit gegenüber der Vertretung der produktionsorientierten Realkapitalinteressen noch wirkungsvoller geworden. Die von Keynes aufgezeigte „Rentier-Problematik" ist damit in ihren langfristigen Wirkungen noch schwerwiegender, was zunehmende ökonomische und soziale Konflikte im Rahmen einer wirtschaftsliberalen Weltordnung befürchten läßt. Jedenfalls hat mit dieser rasch wachsenden Bedeutung institutioneller Investoren auf deregulierten Geld- und Kapitalmärkten ein Trendbruch stattgefunden, wo es durch neue Akteure auch zu einer weltwirtschaftlichen Machtverschiebung gekommen ist. In bezug auf die Arbeitsmärkte ist wieder nach Preis- und Mengeneffekten zu unterscheiden, bei international gehandelten Gütern führt Freihandel langfristig zu einer Konvergenz der Faktorpreise (siehe ζ. B. Freemann, 1995). Differenzen bestehen längerfristig nur im Ausmaß der Transportkosten und der Unterschiede in den Arbeitsproduktivitäten. Das bedeutet für die Industrieländer eine Tendenz einer zunehmenden Spannung zwischen exponierten und geschützten Sektoren einer Volkswirtschaft, wie auch eine zunehmende Einkommensdifferenzierung nach Produktivität und wirtschaftlicher Macht. Weniger Beachtung findet in der Globalisierungsdiskussion der Mengenaspekt der Arbeitsmärkte. Selbst innerhalb des relativ homogenen Wirtschaftsraums der EU hat sich gezeigt, daß ein einheitlicher Arbeitsmarkt zu sozialen Spannungen führen kann. Generell zeigt sich in kaum einem Bereich eine so starke Reglementierung und Abschottung wie in bezug auf die Arbeitsmärkte. Und auch für Europa stellt ja wohl die Frage des einheitlichen Arbeitsmarktes das größte ökonomische und politische Hindernis dar für eine Osterweiterung der europäischen Union. Die Tatsache des gewaltigen Wohlstandsgefälles und der leichteren und billigeren Transportmöglichkeiten bedeutet auf der anderen Seite ein gewaltiges Potential für legale oder auch illegale Arbeitskraftmobilität. Es ist das der sichtbarste und politisch sensibelste Aspekt einer Globalisierung, ein Aspekt, der vielfach zu heftigen politischen Gegenbewegungen geführt hat, sei es in Deutschland und Österreich, aber auch in Kalifornien und der Schweiz. Auch hier zeigt ein Blick ins 19. Jahrhundert die enge — und bri15 ) Um einen Hinweis auf Größenordnungen zu geben: Fidelity Investments, die größte Fondsgesellschaft der Welt, verwaltet ein Anlagevermögen von 4.410 Mrd. S, das entspricht rund 180% des BIP von Österreich.
Globalisierung und Liberalismus - Zurück ins 19. Jahrhundert? · 217 sante — Verknüpfung ökonomischer und politischer Entwicklungen. Die Nichtbewältigung der „sozialen Frage" bewirkte eine Verschärfung und Radikalisierung nationaler Ressentiments, was insgesamt dann zum Verfall des politischen Liberalismus im 19. Jahrhundert führte. Dies galt insbesondere dort, wo kein „Ventil" in Form attraktiver Besiedlungsmöglichkeiten, wie sie etwa die USA aufwiesen, bestand. Ein besonders ausgeprägtes Beispiel — mit verheerenden weitreichenden Folgen — war dabei der innerstaatlich uneingeschränkte Mobilitätsbereich Österreich-Ungarns, wie entsprechende historische Forschungen eindrucksvoll belegen 16 ). Versucht man ein Gesamtbild der empirischen Grundlagen, so zeigt sich eine Tendenz einer zunehmenden weltwirtschaftlichen Verflechtung. Mit Ausnahme der Kapitalmärkte ist diese Tendenz aber als Fortsetzung eines langfristigen Trends und nicht als eine völlig neue Welt zu sehen. Politisch relevant erscheinen vor allem zwei Aspekte: 1. Die Globalisierung erfolgt zwischen Güter, Kapital- und Arbeitsmärkten ungleichmäßig. Hier sind Spannungen und entsprechende Auseinandersetzungen zu erwarten. 2. In den wirtschaftspolitisch besonders sensiblen Bereichen ist die Globalisierungstendenz nicht nur als folge technologischer und wirtschaftlicher Änderungen zu sehen, sondern in erheblichem Maß Wirkung bewußter Deregulierungsschritte, speziell in bezug auf Kapitalmärkte oder auch Formen der innerstaatlichen Vermögensbildung. Globalisierung und Deregulierung stehen in einem engen Zusammenhang. Deregulierung ist aber im wirtschaftspolitischen Bereich entstanden und bietet daher auch Ansatzpunkte für wirtschaftspolitisches Handeln. Wirtschaftspolitischer Ansatzpunkt ist daher nicht so sehr die Frage nach der Entwicklung des Wettbewerbs auf Güter- und Faktormärkten, sondern nach der Form weltwirtschaftlicher Steuerungssysteme.
4. Liberalismus, Globalisierung und Systemwettbewerb Wie gezeigt, beruht die Überlegung, das 21. Jahrhundert werde nach den „Irrwegen des 20. Jahrhunderts" den Grundlinien des 19. Jahrhunderts entsprechen, vor allem auf folgender Perspektive: In Zeiten langen und durch eine Hegemonialmacht gesicherten - Friedens können sich die Marktkräfte durch Abbau von staatlichen Deregulierungsformen durchsetzen, was sich vor allem in zunehmender außenwirtschaftlicher Verflechtung niederschlägt, die dann selbst wieder weitere Deregulierungen erzwingt. Damit werden wirtschaftsliberale Prinzipien (wieder) zur entscheidenden gesellschaftlichen Ordnungsnorm. Der zentralen Rolle der Außenwirtschaftsbeziehungen als Grundlage des Wirtschaftsliberalismus entspricht die prägende Stellung, die der Freihan-
16
) Siehe dazu eingehend ζ. B. Harmann, B., Hitlers Wien, München, 1996.
218 · Ewald Nowotny delsdoktrin historisch im Rahmen des Wirtschaftsliberalismus zukommt17). Die Position der vom Wirtschaftsliberalismus bestimmten klassischen und der neoklassischen Außenhandelstheorie ist hier eindeutig: Größere Märkte erlauben größere Arbeitsteilung, damit Produktivitätsgewinne durch Spezialisierung und damit höhere Realeinkommen. Gleichzeitig bedeuten größere Märkte auch höheren Wettbewerb, und damit wiederum Effizienzgewinne und steigende Realeinkommen. Diese Erwartung gilt auch für die Wohlfahrtsgewinne durch größere Wirtschaftsgemeinschaften, wie die Europäische Union. Bei weltweiter Betrachtung spielt vor allem der Aspekt unterschiedlicher Faktorproportionen und damit der unterschiedlichen Preise für Arbeit und Kapital eine Rolle. In jedem Fall ist die Schlußfolgerung die, daß alle beteiligten Länder von Freihandel und damit Globalisierung profitieren. Dies war die Grundlage der Freihandelspolitik im 19. Jahrhundert und ist die Grundlage der weltweiten Freihandelsbemühungen, in deren Zentrum heute die World Trade Organization (WTO) steht. Die Freihandelsposition war und ist freilich nicht unangefochten. So gab es im Deutschland des 19. Jahrhunderts eine starke Gegenbewegung, ausgehend von den Ökonomen der historischen Schule, wie insbesondere Friedrich List, die sich auch wirtschaftspolitisch durchsetzte. Der deutsche Zollverein und das Deutsche Reich unter Bismarck betrieben ja eine relativ protektionistische Wirtschaftspolitik und es gibt etliche Wirtschaftshistoriker, die davon ausgehen, daß diese Politik wesentlich zum Aufholprozeß Deutschlands gegenüber der damals führenden Industriemacht Großbritannien beigetragen hat18). Heute zeigt die neue Außenhandelstheorie, vertreten etwa durch Krugman (1995), daß in einer Welt, wo Skalenerträge, also Fixkostendegression, eine zentrale Rolle spielen, wo es Produktdifferenzierung und unvollkommene Mobilität gibt, Freihandel nicht mehr automatisch dazu führt, „daß alle Länder gewinnen". Es gibt also „Globalisierungsgewinner" und „Globalisierungsverlierer". Damit im Zusammenhang gibt es eine umfangreiche Diskussion über das Verhältnis zwischen „Core and Periphery", also zwischen zentralen und peripheren Ökonomien. Insgesamt bedeutet dies, daß auch die „optimistische Version" der außenwirtschaftlichen Perspektive des Wirtschaftsliberalismus der Konfrontation mit internationalen und innernationalen Verteilungsfragen nicht entgeht. Unter der Perspektive langfristiger gesellschaftspolitischer Entwicklungen stellt sich die zentrale Problemstellung für den Zusammenhang zwischen Liberalismus und Globalisierung freilich in bezug auf die Frage „Politikwettbewerb versus Politikkoordinierung". Auf der einen Seite steht entsprechend der Position des Wirtschaftsliberalismus ein System der weltweiten Wirtschaftspolitik, aber auch der europäischen Wirtschaftspolitik, wo die Staaten in einem Standortwettbewerb ohne einen ordnungspolitischen Rah17 ) "Freihandel i s t . . . (das) Leitfossil wirtschaftsliberaler politischer Entscheidung" (Streissler, 1997, S. 89). 18) Vgl. ζ. B. Haussherr (1966).
Globalisierung und Liberalismus - Zurück ins 19. Jahrhundert? • 219 men, der über Schutz und Durchsetzung von Eigentumsrechten hinausgeht, gegeneinander antreten. Der Sicht des politischen Liberalismus entspricht dagegen ein System, wo wirtschaftlicher Wettbewerb verbunden ist mit Koordinierungsmaßnahmen und ordnungspolitischen Grund- und Mindestnormen auch in wirtschaftlichen und sozialen Bereichen. Zentral ist demnach nicht die Frage nach der realwirtschaftlichen Entwicklung der Globalisierung, sondern die Frage nach Intensität und Ausmaß von Regulierungsnormen. Dies gilt für Aspekte des Steuerwettbewerbs, für Aspekte des Regulierungswettbewerbs im Umwelt- und im Sozialbereich und auch für die Geldund Währungspolitik. Es besteht zu diesem Thema eine umfangreiche wissenschaftliche Diskussion, auf die hier nur kurz eingegangen werden kann19). Extreme Marktwirtschaftler gehen bei dieser Diskussion davon aus, daß die Vorzüge des nationalen Wettbewerbs auch auf einen internationalen Wettbewerb staatlicher Regelungen übertragen werden können. Einen entsprechenden Ansatzpunkt bietet etwa das einflußreiche Tiebout-Modell der Regionalökonomie (vgl. Nowotny, 1996, S. 138f). Die Grundidee ist dabei folgende: Einzelne Standorte bieten unterschiedliche Steuer-/Leistungspakete an. Wirtschaftssubjekte, die hohe öffentliche Leistungen wollen, werden bereit sein, Standorte mit hohen Steuern zu wählen, Wirtschaftssubjekte, die geringe öffentliche Leistungen präferieren, werden Standorte mit niedrigen Steuern wählen. Bei vollkommener und kostenloser Mobilität wird sich dann eine wohlfahrtsoptimale räumliche Verteilung der Wirtschaftsaktivitäten ergeben. Dieses Modell ist elegant, für die wirtschaftspolitische Übertragung freilich kraß unrealistisch und damit irreführend. Dies gilt etwa für die Annahme gleicher regionaler Ausgangsbedingungen in bezug auf Einkommen, Vermögen und damit regionale Steuerbasis. Für unsere Fragestellung von besonderer Bedeutung ist der Aspekt der Mobilität, die für die einzelnen Produktionsfaktoren und Einkommensgruppen deutlich unterschiedlich ist. Der Faktor Geldkapital ist mobiler als der Faktor Realkapital und dieser wieder längerfristig mobiler als der Faktor Arbeit, wo hohe Mobilität nur am obersten und am untersten Ende der Einkommensskala besteht. Im Bereich der Besteuerung wird daher ζ. B. eine Politik des Steuerwettbewerbs zu einer tendenziellen Verschiebung der Steuerlast vom Faktor Kapital zum Faktor Arbeit und von hohen zu mittleren Einkommen bedeuten. Ebenso führt dies dazu, daß Unternehmen Infrastruktur und Sozialstrukturen nutzen, ohne sich an der Finanzierung zu beteiligen. In der EU, wo es eine Steuerharmonisierung ja nur für die indirekten, aber nicht für direkte Steuern gibt, hat dies bereits zu sehr eindeutigen Effekten geführt, wie etwa aus dem Jahreswirtschaftsbericht 1997 (S. 67ff) der EU-Kommission deutlich wird. Demnach hat die Steuerbelastung des Faktors Arbeit (Gesamtsteuerbelastung des Produktionsfaktors, bezogen auf das Faktoreinkommen) von 1980 bis 1994 von 34,7% auf 40,8% zugenommen, während 19) Siehe u. a. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium (1994), Gerken (1995), Nowotny (1997).
der Finanzen (1994), Sinn
220 • Ewald Nowotny sich gegenläufig die Steuerbelastung für Kapital- und Unternehmereinkommen von 40,1% auf 35,2% reduziert hat. Bei der Bewertung dieser Entwicklung sind zwei Aspekte auseinanderzuhalten. Der eine betrifft eine Politik im nationalen Rahmen, wo bewußt Steuersenkungen etwa als Instrument der Wachstumspolitik gesetzt werden. Es ist zweifelhaft, ob dies generell ein zielführender Ansatz ist. Für unsere Fragestellung ist dies aber nicht von Relevanz, entscheidend ist, daß es sich bei diesem Aspekt um eine bewußte, wenn auch vielleicht falsche, Wirtschaftspolitik handelt. Der andere Aspekt besteht darin, daß Staaten gezwungen sind, als Folge des Steuerwettbewerbs für bestimmte Bereiche ein Steuerniveau und eine Steuerstruktur zu akzeptieren, die sich von dem unterscheiden, was sich in diesen Staaten aufgrund der jeweiligen demokratisch manifestierten Präferenzen ergäbe. D. h. generell: Der Staat mit der niedrigsten Besteuerung mobiler Faktoren, mit den niedrigsten Umweltund den niedrigsten Sozialstandards beeinflußt ceteris paribus die entsprechenden Niveaus aller anderen Staaten, wobei die Wirkung selbstverständlich je nach Märkten, Mobilität und Größenordnung verschieden sein wird. Stellt man auf eine Welt perfekter Märkte ohne spezielle Berücksichtigung von Verteilungswirkungen ab, können entsprechende Wirkungen des Systemwettbewerbs als insgesamt wohlfahrtserhöhend betrachtet werden. Geht man dagegen — realistischer Weise — von unvollkommenen Märkten und der Relevanz von Verteilungsfragen aus, kann man unter Bezugnahme auf Überlegungen der Spieltheorie oder der Theorie externer Effekte zeigen, daß Systemwettbewerb als nichtkooperatives Verhalten erhebliche gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsverluste erwarten läßt. In der Diskussion Politikwettbewerb versus Politikkoordinierung gibt es freilich noch eine zweite Argumentationslinie, die sich auf Ansätze der Public-Choice-Theorie stützt. Hier wird internationaler Politikwettbewerb gesehen als Instrument zu Machtbegrenzung des nationalen Leviathan-Staates und der steuermaximierenden Politiker, die diesen Staat beherrschen20). Wenn einem Wirtschaftssubjekt das öffentliche Preis-Leistungs-Verhältnis nicht paßt, bleibt ihm bei Politikwettbewerb immer die Möglichkeit des „Voting by Feet", d. h. der Abwanderung. Politikkoordinierung wird dagegen als Kartellbildung der Politiker gesehen (wobei dieser Ansatz besonders schwer übertragbar ist etwa auf die Problematik des Umweltdumpings - es sei denn - man leugnet die Existenz von Umweltproblemen). Wie freilich gerade die Public-Choice-Theorie zeigt, gibt es für die Entscheidungssituation innerhalb eines Staates eine Abwägungsnotwendigkeit zwischen den politischen Nutzen zusätzlicher öffentlicher Ausgaben und den politischen Kosten zusätzlicher öffentlicher Finanzierung. Dies ist ja der Kern demokratischer Verfahren auf der Basis des allgemeinen und gleichen Wahlrechts. Der entscheidende Effekt von internationalem Steuerwettbewerb besteht aber nun darin, eben diese allgemein demokratischen Prozesse zu unterlaufen. Denn bei „Voting by Feet" werden die Füße unterschiedlich 20
) In Weiterfuhrung von Hayek (1991) siehe dazu insbesondere Brennan - Buchanan (1985).
Globalisierung und Liberalismus — Zurück ins 19. Jahrhundert? • 221 weit tragen, je nachdem ob es sich um Kapitaleigner oder um Arbeitnehmer handelt. Politikwettbewerb wird unter diesem Aspekt demnach zum Instrument, um sich demokratisch legitimierten Entscheidungs- und auch Verteilungsstrukturen zu entziehen. Und darin liegt ja die politische Machtverschiebung, die mit dem Konzept der Globalisierung verknüpft ist. Das so viel genannte Urteil der internationalen Märkte, speziell der Kapitalmärkte, ist nicht notwendigerweise ein Urteil über ökonomische Effizienz, es ist vielfach ein Urteil über Verteilungswirkungen. Auch hier zeigt sich wieder ein Aspekt, wo das Ende des 20. Jahrhunderts Ähnlichkeiten mit dem fin de siecle des 19. Jahrhunderts aufweist: Für weite Bereiche der Finanz- und Sozialpolitik gilt nicht das allgemeine gleiche Stimmrecht, sondern ein Kuriensystem, wobei die Anknüpfungskriterien nun freilich andere sind. Wer internationale Politikkonkurrenz nutzen kann, hat größere reale Macht als die breite Masse derer, die auf nationaler Ebene agieren. Der eingangs geschilderte Konflikt zwischen wirtschaftlichem und politischem Liberalismus gewinnt damit eine neue weitreichende Dimension. Nun gibt es zweifellos Aussagen der Public-Choice-Theorie, die auch — und gerade — aus der Sicht des politischen Liberalismus ernst zu nehmen sind. Dies gilt etwa für Fragen nach Incentivestrukturen bei der staatlichen Aufgabenerfüllung, das Problem, wie sichert man in einer Demokratie die Verfolgung langfristiger Interessen gegenüber kurzfristigen oder grundsätzlich die Frage, welche Grenzen soll der politische Bereich gegenüber dem wirtschaftlichen haben. Hier läßt sich die Notwendigkeit von ordnungspolitischen Begrenzungen in einer parlamentarischen Demokratie ableiten. Beispiele sind etwa das Konzept der Unabhängigkeit einer Notenbank, unter Umständen Verfassungsgrenzen der Verschuldung, wenn sie konjunkturpolitisches Reagieren erlauben usw. Die Grundfrage ist aber stets, ob und in welchem Ausmaß solche Grenzen bewußt und demokratisch legitimiert gesetzt werden oder ob sie sich durch generelle politische Übertragung von Wettbewerbsmodellen ergeben.
5. Künftige Aufgaben und Spielräume der Wirtschaftspolitik Versucht man, aus den bisherigen Überlegungen Perspektiven für die künftige Entwicklung abzuleiten, so sind diese Perspektiven geprägt von der bereits vielfach aufgezeigten Diskrepanz zwischen ökonomischer und politischer Dynamik: Eine, unter Globalisierungsaspekten immer stärker wirtschaftsliberalen Störungen entsprechende wirtschaftliche Entwicklung gerät tendenziell in zunehmenden Konflikt mit grundlegenden Wert — und Organisationsvorstellungen des politischen Liberalismus und dem ihm zugrunde liegenden „positiven Freiheitsbegriff'21). Nun kann davon ausgegangen wer21
) Vgl. dazu auch die umfangreiche Diskussion zwischen Kapstein und Krugmann et al.
(1996).
222 · Ewald Nowotny den, daß - zumindest in Europa - der dem politischen Liberalismus zugrunde liegende Gedanke der - zumindest in wesentlichen Teilen faktischen und nicht nur formalen — „Volkssouveränität" fest verankert ist. Dies bedeutet, daß auch wesentliche Elemente des Sozial- und Wohlfahrtsstaates, die auf Basis dieser Volkssouveränität entstanden sind, weiter bestehen werden. Das schließt (vielfach notwendige) Änderungen in der Struktur des Sozialund Wohlfahrtsstaates nicht aus, bedeutet aber jedenfalls, daß in bezug auf die Höhe der Staats- und Abgabenquoten ein „Zurück zum 19. Jahrhundert" nicht zu erwarten ist. Die entscheidende Frage wird demnach sein, wie und ob sich der dem positiven Freiheitsbegriff des politischen Liberalismus verpflichtete Interventionsstaat in einer von Wirtschaftsliberalismus geprägten Weltwirtschaft behauptet. Zur Entschärfung - nicht Lösung - dieses Problems erscheint es sinnvoll, sich nicht auf die grundsätzliche Diskussion zu beschränken, sondern auf konkrete empirische und wirtschaftspolitische Fragestellungen einzugehen. So wurde versucht, aufzuzeigen, daß die Probleme der Globalisierung nicht so sehr im realwirtschaftlichen Bereich, sondern im Bereich wirtschaftspolitischer Steuerungsmechanismen liegen. Nicht eine wachsende weltwirtschaftliche Verflechtung ist eine Gefahr für die Entwicklung unserer Gesellschaft, sondern eine Konstellation des ungeregelten Politikwettbewerbs. Wohlgemerkt: des ungeregelten. Denn nicht der Standortwettbewerb als solcher ist das Problem, sondern das fehlen von Koordinierungs- und Ordnungsstrukturen. Ordnungsstrukturen setzen eine gewisse gesellschaftspolitische Übereinstimmung und Homogenität voraus. Die Intensität und Durchsetzbarkeit solcher ordnungspolitischer Strukturen werden daher auf globaler Ebene notwendigerweise wesentlich geringer sein als etwa auf Ebene der Europäischen Union oder im nationalen Bereich. Die Frage nach konkreten wirtschaftspolitischen Antworten spitzt sich damit zu auf die Frage, welche Strategien im Rahmen der Weltwirtschaft durch die EU und in der EU möglich sind. Aus wirtschaftsliberaler Position ist die europäische Integration als Prozeß des Souveränitätsabbaus im Sinne weitgehender Deregulierung zu sehen (vgl. Margaret Thatcher: „Die EU ist das größte Deregulierungsprogramm der Weltgeschichte"). Aus der Position eines am Prinzip der Volkssouveränität orientierten politischen Liberalismus liegt die Aufgabe der europäischen Integration dagegen im Ersatz wirkungslos gewordener nationaler durch wirkungsvollere supranationale Regulierungsmechanismen, was daher auch eine entsprechende stärkere Gewichtung der politischen Institutionen der europäischen Integration erfordert22).
22
) Die (zum Zeitpunkt der Abstimmung gegebene) starke Zustimmung der Österreicher zur europäischen Integration ist demnach auch nicht notwendiger Weise, wie dies Streissler (1997, S. 127) annimmt, als Ausdruck e i n e s "gesellschaftlichen Wertewandels" in Richtung Wirtschaftsliberalismus zu interpretieren. Das realistische Anerkennen (national-)staatlicher Steuerungsdefizite ist per se noch nicht (Wirtschafts-)Liberalismus, sondern kann Anlaß sein, nach wirkungsvolleren Formen der gesellschaftspolitischen Intervention zu suchen.
Globalisierung und Liberalismus - Zurück ins 19. Jahrhundert? · 223 Hier liegt damit auch die große gesellschaftspolitische Aufgabe der europäischen Integration: In einer Welt der Globalisierung ein europäisches Gesellschafts- und Sozialmodell, ein Modell einer sozialen Marktwirtschaft im weiteren Sinn zu sichern und zu ermöglichen 23 ). Es ist dies ein spezifisches Modell einer Balance von wirtschaftlichem und politischem Liberalismus, das sich deutlich abhebt von den Gesellschaftskonzepten des nordamerikanischen Wettbewerbskapitalismus und eines konfuzianisch geprägten Kapitalismus, wie er sich in Asien entwickelt. Bei der Frage nach Orientierungslinien für eine entsprechende europäische Politik ist an den historischen Erfahrungen der Weltwirtschaft in diesem Jahrhundert anzuknüpfen. Dabei werden zwei spezielle Grundelemente sichtbar: Erstens die Gefahr, auf Wirtschaftsprobleme mit Ad-hoc-Entscheidungen und ohne klaren ordnungspolitischen Rahmen zu reagieren. Zweitens aber auch die Gefahr, eine unkoordinierte Wirtschaftspolitik gegeneinander zu betreiben, also das zu tun, was Joan Robinson für die Zwischenkriegszeit als „Beggar my Neighbour-Policy" bezeichnet hat. Was Joan Robinson unmittelbar gemeint hat, war eine Strategie des wirtschaftspolitischen Wettbewerbs durch kompetitive Abwertungen, die dann letztlich niemandem nutzten und die in der Folge einen planlosen Interventionismus und Handelsbarrieren nach sich gezogen haben. Dieser Aspekt wird für „Kerneuropa" durch die Währungsunion gelöst sein und spielt auch global keine zentrale Rolle mehr. Wo derzeit eine „Beggar my Neighbour'-Politik praktiziert wird, ist vor allem der Bereich der Steuerpolitik. Für einen einzelnen Staat mag es — zumindest kurzfristig — ökonomisch sinnvoll sein, sich auf eine Strategie des Steuerwettbewerbs einzulassen. Langfristig wird ein ungebremster Steuerwettbewerb die Erfüllung zentraler Staatsaufgaben im Bereich der Infrastruktur und der Zukunftssicherung gefährden und zu einer verteilungspolitisch nicht akzeptablen Verzerrung der Steuerstrukturen führen. Für eine ordnungspolitische Regulierungsstrategie stellt eine verstärkte Steuerharmonisierung im Rahmen der EU eine der wichtigsten Aufgaben dar, wo es nicht bloß um technische Aspekte geht, sondern letztlich um die finanzielle Absicherung eines Gesellschaftsmodells. Es gibt gegenwärtig auf der EU-Ebene rund 20 Harmonisierungsvorschläge im Rahmen der Steuerpolitik — vom Bereich der Körperschaftssteuer im Sinne einer Weiterführung des „Ruding Reports" bis zu einer europäischen Energiebesteuerung (vgl. Nowotny, 1997). Alle diese Vorschläge sind durch das Einstimmigkeitsprin-
23 ) Zur kritischen Diskussion des Konzeptes der "Sozialen Marktwirtschaft" siehe u. a. Streissler (1992). Es ist allerdings darauf hinzuweisen, daß das Konzept der "Sozialen Marktwirtschaft" in der von Eucken und Müller-Armack entwickelten Form nicht von der Vorstellung einer "Marktwirtschaft mit Adjektiv" ausgeht ("sozial" - mit kleinem "s" als Eigenschaft der Marktwirtschaft), sondern ein politisches Programm darstellt ("Sozial" mit "großem" S): Marktwirtschaft kann durch entsprechende staatliche Interventionen mit sozialen - und unter Umständen auch ökologischen - Zielsetzungen kompatibel gestaltet werden. Dies entspricht Streisslers Position, daß "private Unternehmerwirtschaft immer nur ein System der Teilzielerfullung sein kann" (Streissler, 1992, S. 18).
224 · Ewald Nowotny zip im Ministerrat blockiert. Es wird daher notwendig sein, dieses Einstimmigkeitsprinzip im Bereich der Besteuerung sinnvoll einzuschränken und zumindest die Möglichkeit von Mindeststandards für wichtige grenzüberschreitende Bereiche zu schaffen. Von besonderer Bedeutung ist dies dort, wo es sich um eine steuerliche adäquate Erfassung von Einkünften aus Geldkapital handelt. Analoge Überlegungen lassen sich, wie dargestellt, anstellen für den Bereich sozialer Mindeststandards und für den Bereich von Umweltstandards, wo als aktuelles Beispiel etwa hinzuweisen wäre auf eine EU-weite adäquate Anlastung der sozialen Kosten des Straßenverkehrs im Rahmen einer europäischen Wegekostenrichtlinie. Gegenüber anderen Industriestaaten sind angesichts der aufgezeigten Größenordnungen auch von anspruchsvollen ökologischen und sozialen Mindeststandards keine wesentlichen gesamtwirtschaftlichen Probleme zu erwarten. Von erheblicher volkswirtschaftlicher Relevanz ist dagegen die Koordinierung mit den Reformstaaten Ost- und Zentraleuropas, die Mitglieder der EU werden wollen. Hier wird es notwendig sein, für die speziell sensiblen Bereiche eine Synchronisierung zwischen Öffnung und Koordinierung zu sichern. Gegenüber der europäischen Ebene sind Koordinierungsbemühungen auf der weltwirtschaftlichen Ebenen quantitativ weniger bedeutsam und auch politisch wesentlich mühevoller. Hier wird es für die EU als Partner der Welthandelspolitik nötig sein, sich auf wenige zentrale Bereiche zu konzentrieren. Im Bereich der Umweltpolitik bedeutet das eine Unterscheidung zwischen nationalen und globalen Umweltproblemen. Bei nationalen Umweltproblemen ist zu akzeptieren, daß sich hier je nach Einkommenshöhe unterschiedliche Präferenzordnungen ergeben. Bei globalen Umweltproblemen, wie insbesondere dem Problem des Treibhauseffekts, besteht eine legitime Strategie darin, Anreizstrukturen zu schaffen, die in Richtung eines global verantwortungsbewußten Handelns gehen. Liberalisierungsschritte im Welthandel sind daher mit der Erfüllung klarer, nicht diskriminatorischer Umweltkriterien für global sensible Bereiche zu verbinden. Die Existenz eines gemeinsamen und mit Sanktionen belegten Ordnungsrahmens hilft gerade auch Reformökonomien Fehler zu vermeiden, die später oft nur mühsam bereinigt werden können. Im Sozialbereich kann und soll es nicht darum gehen, Lohnunterschiede als solche kurzfristig auszugleichen. Wohl aber ist es sinnvoll, Anreizstrukturen in ordnungspolitischer Hinsicht zu schaffen. Dies gilt etwa für das Verbot von Kinderarbeit oder die Zulassung gewerkschaftlicher Organisationen. Hier geht es ja primär um innerstaatliche und nicht um außenwirtschaftliche Kostenstrukturen. Es ist ja nicht so, wie oft kurzsichtig argumentiert wird um, daß ein Verbot von Kinderarbeit notwendigerweise eine Reduzierung der Familieneinkommen bewirkt. Wer die Realität der betroffenen Staaten kennt, weiß, daß hier — wie im Europa des 19. Jahrhunderts — Kinderarbeit als Substitut für die etwas teurere Arbeit von Erwachsenen eingesetzt wird. Eine Reduzierung der Kinderarbeit würde demnach bewirken, die Arbeitslosigkeit der Erwachsenen zu senken. Bei diesem Problem ist erfreu-
Globalisierung und Liberalismus - Zurück ins 19. Jahrhundert? · 225 licherweise schon eine erhöhte Sensibilität der Verbraucher in den Industriestaaten zu vermerken. Man kann daher erwarten, daß von den Märkten selbst ein gewisser positiver sozialer Druck ausgeübt wird, der allerdings, wie überall, einer rechtlichen Abstützung bedarf. Es kann in diesem Rahmen auf weitere Beispiele nicht eingegangen werden. Entscheidend ist der grundlegende gesellschaftspolitische Ansatz, mit dem eine am positiven Freiheitskonzept des politischen Liberalismus orientierte Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik die Herausforderungen, die sich aus der Globalisierung ergeben, aufnimmt. Die umfangreiche Diskussion, die in jüngster Zeit zum Thema Globalisierung geführt wird, steht dabei zwischen zwei Gefahren: Dem Glauben an die umfassende Gestaltbarkeit von Wirtschaftspolitik einerseits und der Versuchung andererseits, sich mit dem Hinweis auf Marktgesetze der gesellschaftlichen Verantwortung zu entziehen. Die Wirtschaftsgeschichte, deren Bedeutung als unverzichtbaren Erkenntnisfundus Erich Streissler zu Recht stets betont, zeigt ein stetes Pendeln zwischen diesen gesellschaftspolitischen Positionen. Auch wenn derzeit weltweit zweifellos eine Tendenz besteht, im Sinne wirtschaftsliberaler Positionen stärker auf die gesellschaftliche Steuerung durch Marktprozesse zu setzen, ist es wohl nicht angebracht, diese Tendenz als „Sturmschritt zurück ins 19. Jahrhundert" zu extrapolieren 24 ). Was wir unter dem Einfluß der in diesem Beitrag geschilderten Kräfte erleben, ist wohl eher eine Entwicklung in Richtung einer neuen Balance von Marktsteuerung und gesellschaftspolitischer Intervention, d. h. einer neuen Balance von wirtschaftlichem und politischem Liberalismus. Diese neue Balance dürfte sich weniger auf die Ziele, als auf die Mittel beziehen 25 ). Bei Aufrechterhaltung der elementaren politischen Mitwirkungsrechte werden für die politische — und letztlich auch wirtschaftliche — Stabilität einer Gesellschaft Formen des verpflichtenden — und nicht bloß gnadenhalber gewährten - sozialen Ausgleichs unabdingbar sein. Das traditionelle Instrument dieses sozialen Ausgleichs ist der im 20. Jahrhundert immer stärker ausgebaute steuerfinanzierte Wohlfahrtsstaat. Hier, in diesem instrumentalen Bereich, sind zukünftig Änderungen erwartbar, die auf andere, zum Teil indirekte, Formen dieser Aufgabenerfüllung abstellen. In diesem Sinn hat bereits Gunnar Myrdal (1961, S. 75), der große Theoretiker des Wohlfahrtsstaates, eine Synthese von wohlfahrtsstaatlichen und liberalen Positionen antizipiert, wenn er davon ausgeht, daß langfristig der Staat nur mehr beschränkt direkt auftritt, „sobald er die allgemeinen Regeln für jene weit verstreuten Aktivitäten aufgestellt und durch seine Politik die Vorbe-
24
) Gegenüber dieser "optimistischen Perspektiven", die auf Möglichkeiten politischer Gestaltbarkeit abstellt, vergleiche freilich die "pessimistischere" Sicht des (eher politisch- als wirtschafts-)liberalen Dahrendorf (1996, S. 18): "Hält unter dem Globalisierungsdruck auch der Sozialdarwinismus wieder Einzug, so wird das Gemisch tödlich. In mancher Hinsicht scheint, zumindest in Europa, das ausgehende 20. Jahrhundert frappierende Ähnlichkeiten mit dem späten 19. zu haben" . . . "Das staatliche Gesundheitssystem, das Recht auf Bildung, das garantierte Mindesteinkommen werden im Namen eines Amok laufenden Ökonomismus geopfert". 25 ) In diesem Sinn vgl. etwa auch Nowotny (1992) und Stiglitz (1994, S. 253ff).
226 · Ewald Nowotny dingungen für die Zusammenarbeit und die Kollektiwerhandlung dahingehend beeinflußt hat, daß gerechte und für alle annehmbare Resultate erzielt werden, die dem im demokratischen Prozeß ermittelten, politischen Willen der Bevölkerung entsprechen. . .. Der Wohlfahrtsstaat von morgen hätte damit einen Gesellschaftstyp verwirklicht, der in vielen Grundelementen John Stuart Mill und alle frühen liberalen Philosophen, die vor hundert Jahren lebten, tief befriedigt hätte, das heißt, wenn sie die Phantasie hätten aufbringen können, sich die letzten Folgen einer Entwicklung vorzustellen, deren erste Anfänge sie beobachteten".
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Marshall und Philippovich Kurt W. Rothschild Der Titel dieses Beitrags wird — so vermute ich — einigen Lesern merkwürdig oder sogar absurd vorkommen. Was soll diese gemeinsame Nennung eines Riesen in der Geschichte der ökonomischen Theorie und eines doch sicherlich nicht besonders hervorragenden Vertreters des Fachs? Eine Entschuldigung für die Wahl dieses „schockierenden" Titels ist gerade in dieser Festschrift gegeben: Erich Streissler hat es immer verstanden, durch überraschende und zum Widerspruch reizende Formulierungen und Kontrastierungen seinen pointierten und gedankenreichen Ideen zusätzlichen Reiz zu verleihen. Ohne zu beanspruchen, der Qualität und Eleganz seiner Beiträge folgen zu können, nehme ich doch an, daß er für den ungewöhnlichen Titel Verständnis haben wird. Aber dies ist selbstverständlich nicht der einzige Grund für die Wahl dieses Titels. Vielmehr dient er, wie sich zeigen wird, vor allem dazu, einige „unfrisierte" Überlegungen zum Verlauf und Einfluß der „Osterreichischen Schule" der Nationalökonomie anzustellen, wobei auch verschiedene Bemerkungen zu den Themen Forschung, Lehre und die Rolle von Lehrbüchern zur Sprache kommen werden. Wiewohl sich die Wirtschaftswissenschaft, so wie alle Wissenschaften, mehr oder weniger kontinuierlich weiterentwickelt und ständig Neues zum Alten hinzugefügt wird oder an dessen Stelle tritt, so besteht doch Konsens, daß es gelegentlich „Brüche", „Revolutionen" gibt, welche die Entwicklung relativ plötzlich (in historischen Zeitmassen gemessen) in eine neue Bahn lenken. Wann und ob bestimmte Neuerungen schon eine „Revolution" bedeuten oder bloß eine wichtige und beschleunigte „Normal"-Entwicklung, darüber mag es Meinungsverschiedenheiten geben (wie ζ. Β bei der „Imperfect Competition Revolution" der frühen dreißiger Jahre); aber wenig Zweifel besteht darüber, daß der „Einbruch" der Klassik vor mehr als 200 Jahren ebenso wie der 100 Jahre später erfolgte Auftritt der Grenznutzenschule als Revolutionen zu werten sind. Schon weniger einheitlich sind die Meinungen über die „keynesianische Revolution" und der Begriff ist überhaupt schwer anwendbar, wenn es um Richtungen geht, die sich neben oder außerhalb des Mainstreams entwickelten (Marxismus, historische, institutionelle Schule usw.). Diese zweifelhaften Fälle müssen wir hier aber nicht klären, da es um Fragen in Zusammenhang mit der „Marginal Revolution" geht. Ausgangspunkt ist die Sonderstellung der Marginal Revolution, die darin besteht, daß sie in Gegensatz zu den anderen „berühmten" Umbrüchen nahezu gleichzeitig und unabhängig voneinander an drei verschiedenen Orten
228 · Kurt W. Rothschild von drei genialen Theoretikern in die Welt gesetzt wurde, wobei es natürlich wie in den anderen „Revolutionen" Vorläufer gab, die aber keine so umfassende Theoriestruktur geliefert hatten. Während der Sprung in die entwikkelte Klassik deutlich mit dem Namen von Adam Smith verknüpft ist (mit Ricardo als hervorragendem und weiterführendem Nachfolger) und die keynesianische Revolution schon in ihrem Namen den Bezug zu einer einzelnen Person hervorhebt (trotz Kalecki), ist die Marginal Revolution — wie jeder weiß - mit drei Namen verknüpft: Jevons, Menger, Walras. Selbst die Imperfect Competition Revolution (falls wir sie als solche bezeichnen wollen) reicht trotz ihrer „Doppelentdeckung" nicht daran heran, nicht nur weil es sich dabei nur um zwei Protagonisten handelt (Joan Robinson, Edward Chamberlin), sondern auch, weil in diesem Fall sowohl der Vater wie die Mutter der neuen Theorie aus dem gleichen Sprachgebiet stammten und durch ein eng verzahntes, mehr oder weniger gemeinsames theoretisches Milieu geprägt waren, während Jevons, Menger und Walras in verschiedenen Sprach- und Traditionsbereichen wirkten. Wenn wir von der Gemeinsamkeit der drei Autoren und ihrer „Entdekkung" sprechen, heißt es natürlich nicht, daß ihre Theorien vollkommen übereinstimmen. Davon k a n n keine Rede sein und es ist ein interessantes dogmengeschichtliches Thema, die Unterschiede zwischen ihnen herauszuarbeiten. So h a t ζ. Β Schumpeter stets die besondere Leistung und Stellung von Walras als Schöpfer des allgemeinen Gleichgewichts hervorgehoben (Schumpeter, 1965, S. 1010) und Erich Streissler ist es gelungen, die sehr entscheidenden Unterschiede in Mengers Werk aufzuzeigen, insbesondere in Hinsicht auf Probleme der ökonomischen Dynamik und der Unsicherheit (Streissler, 1973). Aber bei allen Unterschieden bleibt doch die Tatsache eines fundamentalen Gleichschritts im theoretischen Neuerungsprozeß bestehen, der methodologisch in der weitreichenden Verwendung des Marginalprinzips und inhaltlich in der Schlüsselstellung des Grenznutzenprinzips und seiner Derivate zum Ausdruck kommt. Doch das Schicksal dieser drei Varianten war keineswegs einheitlich. Walr a s fiel von Anfang an aus dem Rahmen, da sein mathematischer Ansatz einem Großteil seiner Fachkollegen den Zugang zu seinem Werk versperrte, sei es — was die Regel war—, daß ihnen die nötige mathematische Ausbildung fehlte, sei es, daß sie (wie etwa Marshall) der Mathematik nur beschränkte Möglichkeiten f ü r den Bereich sozialwissenschaftlicher Analysen zubilligten. Auch daß Walras von Lausanne aus und in französischer Sprache schreibend die Szene betrat, schränkte zunächst seinen Wirkungskreis etwas ein. Seine Bedeutung wurde erst viel später, dann allerdings mit großer Wirkung erkannt 1 ). Ganz anders - und in vielem nicht unähnlich - waren die Ausgangsbedingungen bei Jevons und Menger. Sie wirkten beide in einem Großstaat und in
') Walras selbst ahnte das. An einen Freund schrieb er: "Wenn man schnell ernten will, muß man Mohren und Salat pflanzen; hat man aber den Ehrgeiz Eichen zu pflanzen, muß man sich einsichtsvoll sagen, meine Enkel werden es mir danken" (Schumpeter, 1965, S. 1012).
Marshall und Philippovich · 229 einem noch weit größeren Sprachgebiet, sodaß ihre Werke unmittelbar einen größeren Kreis von Gelehrten und Universitäten ansprechen konnten und dies umso mehr, als sie in ihrer Darstellungsweise weniger vom üblichen Brauch abwichen als Walras. Und tatsächlich konnten ja auch Jevons und Menger weit mehr als Walras unmittelbar einen Kreis von bedeutenden Kollegen in ihren Bann ziehen, welche die neuen Gedanken begierig aufnahmen und weiterentwickelten. Im Falle von Österreich war dies besonders deutlich sichtbar, da die unmittelbaren Nachfolger Mengers - Böhm-Bawerk und Wieser — nicht nur bedeutende Theoretiker waren, sondern in einer eher unterbelichteten Szene der ökonomischen Theorie stärker hervorstachen als das im breiteren und viel mehr Personen umfassenden Spektrum englischer Ökonomen möglich war, wo die Nachfolger sich in einem Milieu intensiver theoretischer Diskussionen bewegten. Im Gegensatz zu diesen Ähnlichkeiten in den Ausgangsbedingungen zwischen der englischen und der österreichischen Variante der Grenznutzentheorie kam es in der weiteren Entwicklung zu einer deutlichen „Bifurcation". In Gegensatz zu England, wo die Anstöße, die von Jevons ausgegangen waren, in einem ständigen Diffusionsprozeß kontinuierlich weiterentwickelt und modifiziert wurden und nahezu nahtlos in das übergingen, was am Vorabend der keynesianischen Revolution die herrschende Mainstream-Theorie darstellte, nahm die Österreichische Schule einen ganz anderen Verlauf. Nach einem steilen Aufstieg und einer Blütezeit, die etwa fünf Jahrzehnte währte, begann sie in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts an Lebenskraft zu verlieren und hauchte sie allmählich völlig aus. Die Wiederbelebung einer „Austrian Economics", die sich neuerdings ausbreitet, fand bezeichnenderweise nicht in Österreich oder im deutschsprachigen Raum statt, sondern ging von Amerika aus und ist überdies dadurch gekennzeichnet, daß sie überwiegend an Schriften der „Klassiker" der Österreichischen Schule oder an neuere Literatur anknüpft, da in dem dazwischenliegenden „Loch" wenig zu finden ist. Diese Divergenz in der Entwicklungsgeschichte der englischen und der österreichischen Variante hat sicherlich mehrere Ursachen, wie etwa die kontinuierliche politische und staatliche Entwicklung in England einerseits und der Zusammenbruch des österreichischen Empires und die nachfolgenden politischen und sozialen Erschütterungen in Österreich andererseits und/oder die allmählich aufkommende weltweite Tendenz zu engerer Spezialisierung und „Exaktheit", welcher der Jevonsche und Walras'sche Ansatz mehr entgegenkam als die gesellschaftswissenschaftlich, psychologisch und philosophisch breiter angelegte Perspektive Mengers. Wie dem auch sei, im folgenden wird versucht, einen weiteren Aspekt zu behandeln, der für das ungleiche Schicksal der englischen und der österreichischen Variante eine Rolle gespielt haben dürfte (könnte?). Und zwar geht es um die Rolle und den Einfluß der Lehre (bzw. der prägenden Lehrbücher) in der Verbreitung neuer Ideen, sowohl was Form wie Inhalt betrifft. In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, zunächst auf eine Besonderheit hinzuweisen, die sowohl die Jevonsche wie die Mengersche „Revolution"
230 • Kurt W. Rothschild betrifft und sie vom „Normalfall" der meisten anderen „Revolutionen" unterscheidet. Der Fortschritt der Wissenschaft beruht nach herrschender Ansicht (zumindest in unserem Kulturkreis) u. a. bekanntlich auf der Verknüpfung von Forschung und Lehre. Idealerweise soll der Forscher sein Wissen und seine Ergebnisse auch als Lehrer an die Studierenden (die „Lehrlinge" und „Gesellen") weitergeben und jene, die vorwiegend lehren wollen und können, sollen auch engen Kontakt zur Forschung haben, umso das lebendige Wissen authentisch vermitteln zu können. Der Forscher als (gleichzeitiger) Lehrer ist natürlich dann besonders gefragt, wenn er „revolutionär" Neues zu bieten hat, für das erst der Boden bereitet werden muß. So ist es wohl kein Zufall, daß all die Repräsentanten der „großen" Revolutionen, die ich erwähnt habe, nicht nur Forscher, sondern auch Lehrer und Verfasser von bedeutenden Lehr- oder lehrbuchähnlichen Werken waren: Adam Smith' Wealth of Nations (mit Ricardos Principles als wichtigem Nachfolger), Jevons' Theory of Political Economy, Mengers Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Walras' Elements d'economie politique pure, Keynes' General Theory. All diese Werke waren ein entscheidendes Element, um den neuen Ideen zum Durchbruch zu verhelfen. Während aber Smith, Walras und Keynes lange Zeit, und wenn man will bis heute, unmittelbar durch diese Werke weiterwirken konnten und Diskussionsstoff blieben, ist dies bei Jevons und Menger nicht der Fall. Sei es, daß ihre Werke didaktisch nicht genügend ankamen, sei es, daß geplante Erweiterungen ausblieben 2 ), oder auch nur der pure Zufall, daß sich bald bedeutende Lehrbuchautoren einfanden, Tatsache ist, daß ihre Ideen, d. h. die englische Variante der Grenznutzenschule einerseits und die österreichische andererseits, knapp 20 Jahre nach ihrer Verkündigung in je einem umfangreichen und systematischen Lehrbuch verankert wurden, die dann gegen Beginn dieses Jahrhunderts und für längere Zeit eine führende Stellung in der Verbreitung der neuen Lehren übernahmen und natürlich auch Einfluß auf die Form dieser Verbreitung ausübten. Gemeint ist natürlich Alfred Marshalls Principles of Economics und Eugen von Philippovichs Grundriß der Politischen Ökonomie. Von diesen beiden Werken und ihren Autoren, von Parallelen sowie Unterschieden und deren mutmaßlichen Wirkungen, soll im folgenden die Rede sein. Zunächst möchte ich die Gemeinsamkeiten aufzeigen. Beide Wissenschaftler - Marshall (1842/1924) und Philippovich (1858/1917) - gehörten zu einer Generation, die nur knapp auf Jevons (1835/1882) und Menger (1840/1921) folgte, sodaß sie — ein Umstand, der uns noch beschäftigen wird — ihre ökonomische Erziehung noch unter dem Einfluß älterer Ökonomen erhielten, aber dann relativ bald und nahezu gleichzeitig ihre grundlegenden
2 ) Beide diese Faktoren spielten bei Menger eine Rolle. Seine Grundsätze der Volkswirtschaftslehre waren der erste Teil eines größer geplanten Werks, dessen Rest aber nie erschien, und was die Gestaltung der Materie betrifft, so urteilt Hayek "(that) though always clear, it is labored, and it is doubtful whether his doctrines would ever have had wide appeal in the form in which he stated them" (Hayek, 1968, S. 459).
Marshall und Philippovich · 231 Einführungsbücher schrieben, in denen die Grenznutzentheorie bereits inkorporiert war und durch sie verbreitet wurde. Dies umso mehr, als sowohl Marshall wie Philippovich - beide nach akademischen Positionen in anderen Universitäten - an führenden Universitäten lehrten: Marshall in Cambridge von 1885 bis 1908, Philippovich in Wien von 1893 bis zu seinem Tod im Jahre 1917, eine der längsten Perioden eines Ökonomieprofessors an der Wiener Universität in der Zeit der Monarchie. Die beiden Werke, von denen hier die Rede ist, erschienen nahezu zu gleicher Zeit (Marshalls Principles im Jahr 1890, Philippovichs Grundriß im Jahr 1893) und beide erlebten in kürzester Zeit einen steilen Aufstieg als führende Lehrbücher im englischen bzw. im deutschen Sprachraum und darüber hinaus. Marshalls Bedeutung in dieser Hinsicht ist hinreichend bekannt und wird auch immer wieder dokumentiert. Aber Philippovichs damaliger Einfluß ist mit dem Abklingen der spezifischen Bedeutung der Österreichischen Schule (mit dem wir uns noch beschäftigen werden) in Vergessenheit geraten und muß daher betont werden. Wie Marshall war Philippovich nicht nur Lehrer, sondern auch Forscher, allerdings - im Gegensatz zu Marshall - fast ausschließlich in mehr angewandten Bereichen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Er war „kein Mann der Theorie" (Schumpeter, 1965, S. 1041). Aber sein Lehrbuch, dessen wichtiger erster Band Allgemeine Volkswirtschaftslehre allein uns hier beschäftigt, ist durchaus auch theorieorientiert und zeichnet sich durch didaktische Qualitäten aus, die ihm seine führende Rolle sicherten. So kann Schumpeter wahrscheinlich mit Recht Philippovich als einen der „größten Lehrer der Periode" bezeichnen, dessen „berühmtes Lehrbuch . . . ein Musterbeispiel dessen (ist), was dem Studenten geboten wurde" (Schumpeter, 1965, S. 1041). Philippovichs Lehrbuch dominierte nicht nur den Unterricht in Wien und an österreichischen Universitäten, es war auch ein Vehikel für die Einführung der Grenznutzentheorie im Unterrichtsbetrieb Deutschlands („the bestknown general treatise in German . . . and a main source for many Germans of their knowledge of marginal utility", Howey, 1960, S. 166) und zum Teil auch in Japan (Matsuura, 1973, S. 270). Bis zum Tod Philippovichs (1917) waren elf, zum Teil überarbeitete Auflagen seines Buchs erschienen, denen dann weitere sieben unveränderte Nachdrucke bis ins Jahr 1924 folgten, dann aber keine weiteren mehr. Und damit sind wir bei einem ersten entscheidenden Unterschied zwischen Philippovich und Marshall. Auch Marshall konnte vor seinem Tod (1924) laufend neue und revidierte Auflagen herausbringen - die letzte Revision erfolgte 1920 in der achten Auflage - , aber in Gegensatz zu Philippovich verschwand sein Werk nicht in der Versenkung, sondern wird bis heute alle drei bis vier Jahre wieder aufgelegt, findet neue Leser und regt Diskussionen an. Damit sind wir bei dem Thema der Unterschiede der beiden Lehrbücher angelangt, das uns dann auch zum Unterschied in den Schicksalen der österreichischen und englischen Grenznutzenschulvarianten führen soll. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die beiden Autoren mit ihren Lehrbüchern zwar entscheidend zur Verbreitung der neuen Theorie beitrugen,
232 · Kurt W. Rothschüd selbst aber nicht in dieser Tradition aufgewachsen waren. Marshall, der weitaus ältere, hatte einen wesentlichen Teil seiner formativen Jahre noch unter dem intensiven Einfluß der damals herrschenden englischen Klassik mit Ricardo und Mill als stärkstem Einfluß - verbracht, ehe Jevons seine Theorie publizierte 3 ), und Philippovich, 18 Jahre jünger als Menger, stand in seiner Studienzeit unter dem dominanten Einfluß des an der Wiener Universität bis 1885 lehrenden Lorenz von Stein 4 ), einem „brillanten Gelehrten" (Schumpeter, 1965, S. 1038) und Lehrer, welcher - vorwiegend geschichtlich und wirtschaftspolitisch interessiert - der im deutschen Sprachraum am stärksten vertretenen historischen Schule wohl näher stand als der klassischen Tradition (ohne ihr allerdings direkt anzugehören). Beide Wissenschaftler, Marshall ebenso wie Philippovich, waren somit „Konvertiten", die imstande waren, in den entscheidenden Jahren des Durchbruchs der Marginaltheorie besonders erfolg- und einflußreiche Lehrbücher zu schreiben. Noch etwas hatten sie gemeinsam: beide waren friedfertige Konvertiten, die nicht bereit waren, ihren alten „Glauben" zu verteufeln. Ganz im Gegenteil, beide versuchten eine Brücke zwischen der alten und der neuen Sicht zu errichten, beide sahen sich und agierten als Vermittler zwischen ihrer Tradition und dem neuen Ansatz. Diese Einstellung kam schon in Äußerungen zum Ausdruck, die vor der Publikation ihrer großen Lehrbücher erschienen und setzte sich dann in Form und Inhalt dieser Bücher fort. So schrieb Marshall bereits 1872 in einer Besprechung von Jevons' Theory of Political Economy in Academy III bei einem Vergleich von Jevons und Ricardo: „Although the difference between the two sets of theories is of great importance, it is mainly a difference in form" (zitiert nach Howey, 1960, S. 63). Und Philippovich führte 1886 in seiner Antrittsrede als Professor in Freiburg u. a. aus: „Ich bin vollkommen der Meinung Schmollers, ,daß die konkrete Erfassung der realen Zustände, einschließlich der psychologischen, geographischen, sozialen, technischen Vorbedingungen jeder sozialen und politischen Erscheinung die Brücke sei, auf welcher allgemeine Sätze der Theorie allein zu fruchtbarer Wirksamkeit geführt werden', ohne mich jedoch der weiteren Ansicht anschließen zu können, ,daß ohne dieses Bindeglied zwischen Theorie und Leben die allgemeinen Formeln der Nationalökonomie ebenso oft Irrlichtern gleichen als Leuchten, die den wahren Weg zeigen'" (Philippovich, 1886, S. 46). Diese grundlegende vermittelnde Einstellung, die sich aus der „gespaltenen" Entwicklung der Autoren und ihrer Fairneß ergab, bedeutete, daß sie beide die neuen Ideen „gefiltert" vortrugen und weitergaben. Obwohl beide 3
) Marshall deutete bei einigen Gelegenheiten an, daß er schon vor Jevons - nicht zuletzt auf Grund der Schriften von Thünen und Cournot - die Idee des Grenznutzens konzipiert habe. Allerdings bestehen Zweifel, wie bedeutsam diese früheren Überlegungen waren, da er nie dazu etwas publizierte und "Grenznutzen" bei ihm erst in den Principles auftaucht (Howey, 1960, S. 81-92). 4 ) In Wien "hatte Jahre hindurch Lorenz von Stein die Studenten gefesselt, aber außer Philippovich meines Wissens nicht einen einzigen zu irgendeiner positiven Arbeit angeregt" (Hainisch, 1920, S. 27).
Marshall und Philippovich · 233 von ähnlichen Motiven geleitet waren, nämlich die neuen theoretischen Ideen in die akademische Lehre einzubauen und gleichzeitig den Kontakt mit der Realität zu bewahren 5 ), mußten doch verschiedene Werke entstehen, da sie verschiedene „Filter" verwendeten. Diese Differenz kommt sowohl im Aufbau der beiden Bücher zum Ausdruck wie auch in vielen Details und zwar auch dann, wenn man von der speziellen Genialität und Kreativität Marshalls absieht, die seinem Werk einen besonderen und einmaligen Stempel aufdrücken. Sehr deutlich wird dieser Unterschied schon in der Grobstruktur der beiden Bücher erkennbar, wie ein Vergleich der beiden Inhaltsverzeichnisse zeigt. Beide Werke6) enthalten tiefgegliederte, über mehrere Seiten reichende Inhaltsverzeichnisse, insbesondere das von Marshall, und beide wählen zufälligerweise die gleiche Zahl von Hauptsektoren („Bücher") — nämlich sechs - , die dann in Kapitel und diese wieder in Paragraphen untergegliedert sind. Marshalls Principles umfassen 55 Kapitel mit - im Durchschnitt 6 bis 7 Paragraphen pro Kapitel, bei Philippovich sind es 30 Kapitel mit durchschnittlich 4 bis 5 Paragraphen pro Kapitel. Da es hier nur um einen Vergleich in sehr groben Umrissen geht, sollen nur die sechs Hauptsektoren miteinander konfrontiert werden. Diese Gegenüberstellung ist in Tabelle 1 enthalten, die neben den Titeln der einzelnen „Bücher" (Sektoren) auch den Anteil (in Prozent) angeben, den die Seitenzahl der einzelnen Abschnitte an der Gesamtseitenzahl des Textteils (d. h. ohne Inhaltsverzeichnis, Vorwort und Index) haben. Wie man sieht, bestehen Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten im Aufbau. Beide Autoren setzen zwei „Bücher" an die Spitze, die allgemeine Überle-
5 ) Dieser den beiden Ökonomen gemeinsame Wunsch, die Realitätsnähe und Anwendbarkeit theoretischer Forschung anzustreben, bewahrte beide vor einer zu rigiden und dogmatischen Haltung und regt den Leser zu Skepsis und Offenheit an. Dies kommt in den Vorworten beider Autoren zum Ausdruck. So heißt es bei Marshall: "There is not in real life a division between things that are and are not Capital, or that are or are not Necessaries, or again between Labour that is and is not Productive . . . The more simple and abstract an economic doctrine is, the greater will be the confusion which it brings into attempts to apply economic doctrines to practice, if the dividing lines to which it refers cannot be found in real life" (Marshall, 1994, S. VIII). Und Philippovich: "Alle Versuche, durch Scheidung von Statik und Dynamik, einer sozialen Wirtschaftstheorie und einer historisch-empirischen Darstellung die Aufgabe der allgemeinen Volkswirtschaftslehre ganz auf abstrakte Probleme zu beschränken, werden gegenüber dem praktischen Bedürfnis nicht nur der Lehre, sondern auch des realen Lebens in Verwaltung und Politik erfolglos bleiben. Dagegen ist es zweifellos notwendig, darauf hinzuweisen, daß die allgemeine Volkswirtschaftslehre mehrere wissenschaftliche Betrachtungsweisen vereinigt und dadurch jenen Charakter des Unsicheren, Unexakten erhält, den man ihr immer vorwirft" (Philippovich, 1911, S. IV). e ) Alle Angaben in den folgenden Seiten beziehen sich auf die letzten von den "Meistern" revidierten Ausgaben. Das ist bei Marshall die 8. Auflage aus dem Jahr 1920 und bei Philippovich die 9. Auflage aus dem Jahr 1911. In dieser Form beeinflußten sie also die Studenten vor etwa 80 Jahren. Trotz Erweiterungen und Veränderungen hatten sie aber ihren ursprünglichen Charakter im wesentlichen beibehalten. Seitenhinweise beziehen sich bei Philippovich auf die Originalausgabe von 1911, bei Marshall auf einen Nachdruck aus dem Jahr 1994 (Marshall, 1994/1920).
234 · Kurt W. Rothschild gungen, Begriffe und Definitionen sowie generelle Prinzipien bezüglich des Wirtschaftsprozesses und der Wirtschaftswissenschaft enthalten. Der „harte Kern" theoretischer Argumentation (sowohl bei Marshall wie bei Philippovich durchsetzt mit realistisch-deskriptiven Hinweisen) beginnt mit Teil III, wenn auch in anderer Anordnung. Im wesentlichen fällt Marshall IV in Philippovichs Abschnitt III, während Philippovich IV am ehesten Marshall III und V, und Philippovich V am ehesten Marshall VI entspricht; Philippovich VI hingegen f ü h r t ein Eigenleben: Hier gibt er einen Einblick in die sozialphilosophischen Grundlagen des Individualismus, des Sozialismus (mit eigenen Abschnitten über England, Frankreich und Deutschland) und der sozialreformatorischen Ideen katholischer und protestantischer Provenienz.
Tabelle 1: Die Struktur der Lehrbücher bei Marshall und Philippovich Marshall
Philippovich In %
I II
Preliminary Survey Some Fundamental Notions
III Wants and their Satisfaction IV The Agents of Production: Land, Labour, Capital V General Relations of Demand, Supply and Value VI The Distribution of National Income
6,7 4,8 7,5 25,6 24,8 30,6
In % I Einleitung II Die Entwicklungsbedingungen der Volkswirtschaft III Produktion und Erwerb IV Wert, Preis, Geld und Kredit V Einkommen und Güterverbrauch VI Die wirtschaftspolitischen Ideenrichtungen
15,5 11,8 22,4 18,0 19,4 12,9
Die unterschiedliche Anordnung einzelner Bereiche ist f ü r unsere Betrachtungen belanglos. Von Bedeutung ist hingegen eine Gegenüberstellung der unterschiedlichen Gewichtung der überwiegend theoretisch-analytischen Bereiche (ohne weitere Berücksichtigung der Qualität der Darbietung und der Durchsetzung mit deskriptivem Material) und der mehr definitorischen, historischen und deskriptiven Bereiche. Ganz grob gesehen können wir die Abschnitte I und II bei Marshall und Philippovich dem „deskriptiven" Bereich zurechnen und ebenso Philippovich VI. Die Abschnitte III bis VI bei Marshall und III bis V bei Philippovich stellen dann den „harten" theoretischen Kern dar. Und der nimmt bei Marshall, wie wir sehen, fast 90% des Textes ein 7 ), bei Philippovich jedoch nur knapp 60%.
7 ) Dieser Prozentsatz bezieht sich auf den Haupttext Marshalls, dem er zahlreiche Appendices hinzufugt, deren Umfang ein Sechstel des Hauptteils ausmacht und in denen sowohl historisch-institutionelles Material wie auch verschiedene theoretische Detailfragen einschließlich aller mathematischen Ableitungen (die Marshall bewußt - aus didaktischen und prinzipiellen Gründen - nicht in den Haupttext aufnahm) enthalten sind. Trennt man die deskriptiven von den theoretischen Appendices und betrachtet man dann die Struktur des Gesamtwerks (einschließlich der Appendices) so sinkt der theoretische Anteil leicht auf 83,8%.
Marshall und Philippovich · 235 Dieser deutliche Unterschied in der „Theorielastigkeit" der beiden Bücher, die dadurch bedingt ist, daß Marshalls Nostalgien Diskurse mit dem Theoretiker Ricardo auslösen, während Philippovichs Nostalgien neben der klassischen Ökonomie immer wieder den Einfluß der deutschen historischen Schule erkennen lassen. So ist es bezeichnend, daß bei Philippovich in der ausführlichen „Einleitung" (Abschnitt I), in der die „Geschichte der Volkswirtschaftslehre" den Hauptplatz einnimmt, ein achtseitiger Paragraph „Adam Smith und der klassischen Schule" gewidmet ist, etwas mehr als sechs Seiten erhalten „Sozialismus" und die „Historische Schule", aber nur knapp zwei Seiten gelten dem Paragraph „Die neuere theoretische Richtung", in dem neben von Stein, Schäffle und Adolf Wagner kurz Menger und die „Österreichische Schule" angeführt werden, „deren Eigentümlichkeit im wesentlichen (!) in der Betonung des Wertes rein theoretischer Untersuchung besteht" (Philippovich, 1911, S. 73). Ebenso vielsagend ist das Verzeichnis der Abkürzungen für jene Bücher (Philippovich, 1911, S. XII), die im Text häufig zitiert werden. Es enthält (in alphabetischer Reihenfolge) folgende Namen: Hermann, Knies, Mangoldt (2mal), Menger (2mal), Mill, Mohl, Rau, Roscher, Schäffle (2mal), Schmoller, Schönberg, Wagner. Die strukturellen Unterschiede der Werke von Marshall und Philippovich, die hier nur angedeutet wurden, die aber methodologisch8) wie inhaltlich in den meisten Kapiteln Spuren hinterlassen, haben — wie eingangs erwähnt — ihre Ursachen in den unterschiedlichen nationalen Traditionen und in den bedeutsamen persönlichen Charakteristiken der beiden Autoren, sie waren aber selbst wieder Ursache für ihre erfolgreiche Aufnahme in ihrem jeweiligen Kulturkreis. Marshall hatte einen ökonomisch-theoretisch interessierten Leser- und Studentenkreis vor Augen, der ein überwiegend theoretisch ausgerichtetes Lehrbuch zu schätzen wußte, während Philippovich sich an Leser und Studenten richten mußte, die ihre Ausbildung an juridischen Fakultäten erhielten und überwiegend an juridischen und staatswissenschaftlichen Fragen interessiert waren und daher für die Traditionen der historischen Schule besonders aufgeschlossen waren. Ein Lehrbuch wie das von Marshall hätte zu Beginn dieses Jahrhunderts die große Mehrzahl der akademischen Lehrer- und Studentenschaft in Österreich und Deutschland nicht ansprechen können. Die Bemerkung, daß Philippovich für viele Deutsche und Österreicher die erste Begegnung mit der Grenznutzenschule ermöglichte (Howey, 1960, S. 166), steht daher nicht in Widerspruch zu der Tatsache, daß die meisten deutschen Rezensionen die Idee des Grenznutzens überhaupt nicht erwähnten (Howey, 1960). Philippovich war eben „kein Mann der Theorie" (Schumpeter, 1965, S. 1041), sondern ein wirtschaftspolitisch und historisch ausgerichteter Gelehrter, der aber die Notwendigkeit einer theoretischen Untermauerung zu schätzen wußte, ebenso wie Marshall (umgekehrt) als „Mann der Theorie" die Notwendigkeit einer historisch-institutionellen Er-
8
) So verwendet Marshall bereits die später bei Ökonomen so populäre diagrammatische Darstellung, während bei Philippovich kein einziges Diagramm zu finden ist.
236 · Kurt W. Rothschild gänzung der Theorie anerkannte 9 ). Es ist diese „Zweiäugigkeit", welche bei beiden Büchern zu deren Erfolg beigetragen hat. Aber die historisch-wirtschaftspolitische Schlagseite des PhilippovichLehrbuchs und des Einflusses, den es ausübte, konnte nicht ohne Folgen bleiben. Eine Folge, die uns aber hier nicht weiter berührt, war das „Aussterben" des Philippovich-Buchs nach 1924, das so deutlich in Gegensatz zu Marshall steht. Es ist klar, daß (unabhängig von qualitativen Unterschieden) ein Werk, in dem historische und institutionelle Fakten eine bedeutende Rolle spielen, durch den Zeitablauf rasch an Bedeutung verlieren muß und das insbesondere in so dramatischen Jahren, wie sie nach dem Tod Philippovichs (1917) weltweit und insbesondere in Österreich folgten. Ein Weiterleben des Buchs hätte umfangreiche Revisionen seitens des Autors benötigt. Aber hier geht es um etwas anderes, und zwar um die eingangs gestellte Frage, ob Philippovich mit dem Sonderschicksal der Österreichischen Schule in Verbindung gebracht werden kann. Wie mir scheint, ist ein gewisser Zusammenhang nicht unwahrscheinlich. Menger, so scheint es, zog als Lehrer und Neuerer eine kleine Zahl äußerst begabter Studenten und Forscher in seinen Bann - allen voran natürlich Böhm-Bawerk und Wieser - , die sich der Grenznutzentheorie aus seiner Perspektive näherten und sie dann zum Teil modifizierten, aber auf jeden Fall ein enges Geflecht bildeten, das die Glanzzeit, aber auch zugleich den Höhepunkt einer spezifisch Österreichischen Schule bildete. Das betraf aber nur einen kleinen Kreis von Personen. Menger agierte als Lehrer, nicht als eifernder Missionar, der eine ergebene Gefolgschaft heranziehen will. Hainisch berichtet in seinen Erinnerungen, daß Menger in seinem Seminar und seinen Vorlesungen „außerordentlich wenig vorausgesetzt (hat). Menger beschränkte sich mehr darauf, die jungen Leute in die Elemente der Wissenschaft einzuführen, als sie zu selbständigen Arbeiten zu veranlassen" (Hainisch, 1920, S. 27). Diese Einstellung hatte natürlich gute Gründe, da Volkswirtschaftslehre an der juridischen Fakultät gelehrt wurde und die Mehrzahl der Studenten nicht speziell am Fach Volkswirtschaftslehre interessiert war. Als Folge davon und der Tatsache, daß weder Böhm-Bawerk noch Wieser ein einführendes Lehrbuch schrieben, Philippovich jedoch ein äußerst brauchbares und erfolgreiches Lehrbuch für den deutschen Sprachraum bereitstellte, bot sich die Grenznutzenschule generell und speziell außerhalb Wiens vorwiegend in der „verwässerten" Form einer Beimischung bzw. Ergänzung zur vertrauten klassischen und historischen Tradition dar. Es fehlten Anstöße, die neuen Gedanken als ein wichtiges Forschungsgebiet aufzunehmen, das weiter zu entwickeln sei und in dessen Rahmen dann die spezifischen Charakteristika der Mengerschen Variante (im Vergleich zu Jevons, Walras und Marshall) stärker sichtbar geworden und sichtbar geblieben wären. Mit anderen Worten, es kam nicht zur Herausbildung einer genügend
9 ) So betont Marshall die Bedeutung der deutschen Ökonomen, da "they have brought side by side the social and industrial phenomena of different countries and different ages. . . . It would be difficult to overrate the value of their work" (Marshall, 1994, S. 634).
Marshall und Philippovich · 237 großen „kritischen Masse" in Wien und erst recht nicht im restlichen deutschen Sprachraum, um eine lebendige „Schulentwicklung" zu ermöglichen. In Gegensatz dazu formte Marshall in einer lebendigen „theoriegesättigten" Atmosphäre ein Bindeglied zwischen klassischer Schule und Marginaltheorie, das auf einer breiten Basis eine mehr oder weniger kontinuierliche Weiterentwicklung der Theorie ermöglichte, die später über Sraffa, Joan Robinson, Hicks und andere zu einem wesentlich erweiterten theoretischen Globalbild am Vorabend der keynesianischen Revolution führte. Das Fehlen einer solchen kontinuierlichen theoretischen Entwicklung in Österreich und im deutschen Sprachraum bedeutete natürlich nicht, daß es in Osterreich nach Böhm-Bawerk und Wieser keine begabten Ökonomen oder keine bedeutende theoretische Forschung mehr gab. Ganz im Gegenteil; in den späten zwanziger Jahren und frühen dreißiger Jahren, als an der Wiener Universität unter den Professoren Hans Mayer als einziger noch der Menger-Tradition zugeschrieben werden konnte, ohne diese allerdings in Lehrbuchform weiterzugeben oder gar auf einen neueren Stand zu bringen, brachte der Wiener Boden - nicht zuletzt als Spätlese der durch Menger ausgelösten Theorieorientierung - eine jüngere Generation von Spitzentheoretikern hervor, die bald Weltruhm erlangen sollten: Schumpeter, Mises, Hayek, Haberler, Machlup, Morgenstern, Tintner, um nur die wichtigsten zu nennen. Abgesehen vom genialen Schumpeter, der wie ein erratischer Block eine Sonderstellung einnimmt (..Schumpeterian Economics") und von Mises, die beide in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zur Welt kamen, liegen die Geburtstage all der anderen genannten Ökonomen rund um 1900, sodaß sie erst in den frühen zwanziger Jahren zu Nationalökonomen heranreiften. Neben Mises war es dann nur Hayek, der durch Betonung von Unsicherheit und Ungewißheit, durch einen extremen methodologischen Individualismus sowie durch verschiedene andere Merkmale Mengersche Eigenheiten bewahrte und (eventuell) der Österreichischen Schule zugerechnet werden kann. Die anderen konnten für ihr theoretisches Talent und Forschungsinteresse in der dünn gewordenen Luft der Österreichischen Schule kein ausreichendes Betätigungsfeld mehr finden. Zunehmend tauchten sie in die lebendigen, nicht zuletzt durch Marshalls Wirken inspirierten Diskussionen und Forschungsprogramme des anglosächsischen Raums ein, zunächst ideenmäßig und schließlich auch physisch. Letzten Endes war ihre österreichische Herkunft nur noch am Akzent ihrer Sprache, nicht aber an dem ihrer Forschung erkennbar.
Literaturhinweise Black, R. D. C., Coats, A. W., Goodwin, C. D. W. (Hrsg.), The Marginal Revolution in Economics, Duke University Press, Durham (North Carolina), 1973. Hainisch, M., „Erinnerung an Eugen von Philippovich", in Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik zu den Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Deutschen Reiche und DeutschÖsterreich und zur Sozialisierungsfrage, Duncker & Humblot, München-Leipzig, 1920.
238 · Kurt W. Rothschild Hayek, F. A. von, „The Austrian School", in International Encyclopedia of the Social Sciences, Macmillan and Free Press, New York, 1968, Vol. 4. Howey, R. S., The Rise of the Marginal Utility School, 1870/1889, University of Kansas Press, Lawrence (Kansas), 1960. Marshall, Α., Principles of Economics (8th edition), Macmillan, London, 1994/1920. Matsuura, T., „Marginalism in Japan", in Black - Coats - Goodwin (1973). Philippovich, E. von, Über Aufgabe und Methode der Politischen Ökonomie, J. C. B. Mohr, Freiburg im Breisgau, 1886. Philippovich, E. von, Grundriss der Politischen Ökonomie, J. C. B. Mohr, Band 1, 9. Auflage, Tübingen, 1911. Schumpeter, J. Α., Geschichte der ökonomischen Analyse, Vandenhock & Ruprecht, Göttingen (Ubersetzung von History of Economic Analysis, Oxford University Press, Oxford, 1954), 1965. Streissler, E., „To what extent was the Austrian School marginalist?", in Black - Coats Goodwin (1973).
Paretos Darstellung der Indifferenzkurven durch Differentiale und deren Integration Bertram Schefold*) Pareto ist in der Theoriegeschichte als Schöpfer bedeutender Werke in der Ökonomie und Soziologie gleichermaßen bekannt, die umso erstaunlicher wirken, als sie zum größten Teil erst nach dem 50. Lebensjahr erbracht wurden - vor ihnen liegt ein aktives Leben in Wirtschaft und Verwaltung unter öffentlicher Anteilnahme an den politischen Geschehnissen Italiens. Sehr vielfältige Anregungen gingen von ihm aus, welche die Gleichgewichtsanalyse und das paretianische Gesetz der Einkommensverteilung - die Begriffe, die der heutige Ökonom am ehesten mit dem Namen Pareto verbindet - weit überschreiten. Die meisten Theoretiker dürften mit seinem Namen die Vorstellung eines ganz abstrakten Modelldenkens verbinden - eine Vorstellung, die dadurch bestätigt wird, daß Pareto logisches und alogisches Handeln streng unterschied und das logische Handeln der Ökonomie, das alogische der Soziologie zuwies. Indessen stellt man fest, daß in einigen der brillantesten Passagen des Manuale, seines zusammenfassenden ökonomischen Lehrbuchs, eine andere, nicht rationale, sondern von elementaren Kräften beherrschte Welt dem Leser immer wied.er wie durch Blitze erleuchtet gegenübertritt. So wie Ökonomie und Soziologie trotz grundsätzlich scharfer Abgrenzung beim Lehrbuch ineinander verwoben werden, trennte er zwischen deduktiver Theorie und induktiver Verallgemeinerung und suchte sie dann doch zusammenzuführen. Er wollte auch einen exakten und auf Meßtechniken abgestützten Gebrauch der Mathematik in deskriptiven Theorien von einem nur metaphorischen Gebrauch derselben unterscheiden. In einer Fußnote zu seiner Theorie der Elastizität fester Körper, seiner schon im Alter von 21 Jahren vorgelegten Dissertation, heißt es: „Per me sono persuaso che ο si debbono dare teorie rigorose, oppure formule empiriche basate sulla sperienza, ma che assolutamente debbano bandirsi dalla scienza quei ragionamenti coi quali si viene a dare un'apparenza superficiale di veritä a false teorie"1).
*) Eine Vorfassung dieses Aufsatzes erschien als mein Geleitwort im Vademedum zu einem Klassiker der Ökonomie und Soziologie (Kommentarband zum Wiederabdruck der 1906 erschienenen Erstausgabe des Manuale di Economia Politico von Vilfredo Pareto, erschienen 1992 im Verlag Wirtschaft und Finanzen, Düsseldorf). ') Pareto, V., "Scritti teorici", (herausgegeben von G. Demaria), R. Malfasi, Mailand, 1952, S. V.
240 • Bertram Schefold Sein Beispiel für den falschen Schein der Exaktheit ist die Anwendung der Formel von Bernoulli, υ = die richtig ist für laminare Strömungen, die aber auf die turbulente Strömung des Dampfes aus einem Ventil nicht, wie es zuweilen geschehe, angewendet werden dürfe. So etwas sei nichts anderes als „vera poesia" — ein frühes Beispiel für Paretos berühmte, sich später häufende bissige Randbemerkungen. Der Spannung zwischen Deduktion und Induktion begegnen wir bei Pareto im Rahmen seines Versuchs einer Begründung der ordinalen Nutzentheorie, die zwischen zwei ganz verschiedenen Ansätzen schwankte: einer Rechtfertigung des Gebrauchs von Indifferenzkurven unter dem heute vorherrschenden Gesichtspunkt einer reinen Rationalität der Wahlhandlungen einerseits und einer ihm ganz eigentümlichen Abstützung auf eine empirische oder experimentelle Feststellung von unreflektierte Empfindungen beschreibenden Indifferenzkurvenstücken andererseits. Offenbar sollte die Gleichgewichtstheorie doch nicht nur logische Bedingungen der Gleichgewichtsfindung erörtern, sondern eine gewisse deskriptive Gültigkeit beanspruchen. Und um diese zu gewährleisten, war die ordinale Theorie trotz der damit verbundenen Meßprobleme empirisch abzustützen. Obwohl der von Pareto dazu beschrittene Weg wieder aufgegeben wurde, hat er die Aufmerksamkeit der Kommentatoren auf sich gezogen 2 ). Ich will versuchen, einen kleinen Beitrag zur mathematischen Klärung des Problems zu leisten, ohne auf dogmenhistorische Einzelheiten mit Einzelnachweisen einzugehen. In der Konsumtheorie werden seit langem Phänomene betrachtet, die relativ zur neoklassischen Theorie als Paradoxa anzusehen sind und die teils empirischer Beobachtung, teils der Deduktion unerwarteter Schlußfolgerungen aus axiomatischen Systemen, teils aber auch der experimentellen Wirtschaftsforschung entstammen. Bekannt ist „Giffens Paradox", das schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts diskutiert wurde. Eine Vorstellung war, daß ein Steigen des Brotpreises bei der Masse des einfachen Volkes zu einer gesteigerten Nachfrage nach diesem wichtigsten Konsumgut führen könne, weil das knappe Budget dann den Kauf von Fleisch nicht mehr erlaube, sodaß der Hunger nur durch gesteigerten Brotkonsum gestillt werden könne 3 ). Ein modernes Beispiel entstammt dem Experiment: Man beobachtet, daß Bevorzugung und monetäre Bewertung von Ereignissen mit gleichem Erwartungswert auseinanderfallen können 4 ). Ein niedriger Gewinn, der mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartet wird, wird einem hohen Gewinn mit
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) Vgl. den Sammelband "Preferences, Utility and Demand", in Chipman, J. S., et al., Harcourt Brace, New York, 1971, und darin besonders Chipmans "Introduction" zu "Part Two". Vgl. ferner Malinvaud, E., "Das 'Manuale' und die moderne Preistheorie", in Vademedum zu einem Klassiker der Ökonomie und Soziologie, a. a. O., S. 143-220. 3 ) Vgl. Walker, D. Α., Eintrag "Giffens paradox", im New Palgrave Dictionary of Economics, Vol. 2, S. 523-524. 4 ) Vgl. de Marchi, Ν., Eintrag "Paradoxes and anomalies", im New Palgrave Dictionary of Economics, Vol. 3, S. 796-799.
Paretos Darstellung der Indifferenzkurven · 241 niedriger Wahrscheinlichkeit im Experiment vorgezogen, und doch wird dem letzteren ein höherer monetärer Wert beigemessen. Am auffallendsten sind die Paradoxa, bei denen die Transitivität der Präferenzen bei Individuen gegeben ist, aber bei Gruppen verletzt wird. Diese Möglichkeit kennt man zunächst aus der Analyse von Abstimmungen. Es seien etwa drei Personen 1, 2, 3 gegeben, die zwischen drei Objekten A, B, C wählen können. Es möge die erste Person Α gegenüber B, und Β gegenüber C vorziehen; die zweite Person Β gegenüber C und C gegenüber A; die dritte Person C gegenüber A, und Α gegenüber B. In einer sehr bekannten, sich an Condorcet (1785) anlehnenden Analyse kann man feststellen, daß hier eine Mehrheit Α gegenüber Β vorzieht (nämlich 1 und 3), eine andere Mehrheit Β gegenüber C (1 und 2), sodaß man konsistenterweise eine Bevorzugung von Α gegenüber C der Gruppe insgesamt erwarten müßte; es gibt aber eine Mehrheit (nämlich 2 und 3), die C gegenüber Α vorzieht. Das Paradox läßt sich ohne Schwierigkeiten auf die Wahlhandlungen einer einzelnen Person übertragen, wenn man annimmt, daß diese je nach der gesellschaftlichen Rolle, die sie einnimmt, verschiedene Präferenzen hat. Es mag ein Vater das Wandern höher schätzen als das Lesen, und dieses höher als das Fernsehen. Zugleich mag dieselbe Person als Lehrer das Lesen dem Fernsehen, und dieses dem Wandern, in der Muße aber das Fernsehen dem Wandern und dieses dem Lesen vorziehen. In solchen Fällen kann man analoge Widersprüche erkennen: wenn man die Rollen einzeln konfrontiert, wenn man sie alle drei wahrnehmen will oder, wie in der Abstimmung, sie einander paarweise gegenüberstellt. Man kann sich aber auch situationsbedingt in Widersprüche verwickeln. Bei einer Examensklausur wurde verlangt, das Verhalten eines Konsumenten zu analysieren, der bei einer ersten Einladung aus Bescheidenheit das kleine Steak dem großen vorzieht, der bei einer zweiten Einladung lieber Fisch ißt als ein kleines Steak, weil man ihm sonst unterstellen könnte, er möge keinen Fisch, und der bei einer dritten Einladung lieber ein großes Steak als einen Fisch wählt, weil es ihm besser schmeckt und weil er, indem er dies zeigt, die Großzügigkeit des Gastgebers anerkennt. Dieser Konsument enthüllt bei der ersten Einladung einem Beobachter, daß er ein kleines Steak einem großen vorzieht, während aus der Beobachtung der zweiten und dritten Einladung geschlossen werden müßte, daß ihm das große Steak lieber wäre als das kleine5). Die Paradoxa sind offenbar ganz unterschiedlicher Natur. Das hier zuerst angeführte Paradox der Nachfrage konnte mit dem unterschiedlichen Charakter von Luxusgütern und notwendigen Gütern erklärt werden. (Gerade das notwendige Gut war hier ein Giffen-Gut, während beim Snob-Effekt nach Veblen ein Luxusgut bei höherem Preis stärker nachgefragt wird.) Man 5 ) Zur Inkonsistenz des individuellen Verhaltens vgl. Krause, U., Steedman, J., "Goethe's Faust, Arrow's Possibility Theorem and the Individual Decision Taker", in Elster, J. (Hrsg.), "The Multiple Self', University Press, Cambridge, 1986, S. 197-231.
242 · Bertram Schefold versucht, den erwähnten paradoxen Umgang mit dem Erwartungsnutzen der Unwissenheit des Konsumenten über den wahrscheinlichkeitstheoretischen Zusammenhang zuzuschreiben. Beobachtbare Inkonsistenzen der Präferenzen kann man durch die wechselnden gesellschaftlichen Aufgaben, die ein Individuum zu erfüllen hat, zu erklären suchen. Und es gibt schließlich situationsbezogene Beweggründe, die ein paradoxes Wahlverhalten bewirken können, indem moralische Erwägungen oder der Wunsch zu gefallen zu einer rein hedonistischen Bestimmung des eigenen Geschmacks in einen Gegensatz treten, wie in unserem letzten Beispiel. In Paretos Begriff des logischen Handelns war angelegt, ein rationales Individuum durch Axiome über Wahlhandlungen zu definieren, welche die Transitivität der Präferenzen und damit Widersprüche der zuletzt genannten Art ausschließen. Dies beweist die spätere Entwicklung der aus Pareto hervorgewachsenen Theorie der Präferenzen. Durch Hicks wurde eines der Paradoxa aufgelöst und die Möglichkeit des Giffen-Guts in die Indifferenzkurvenanalyse einbezogen. Insoweit Pareto aber auch der Möglichkeit nichtlogischer Handlungen besondere Bedeutung zumaß, ja in weiten Bereichen des Lebens ein logisches oder ein in unserem Sinne rationales Handeln als Ausnahme betrachtete, ließ seine Begrifflichkeit die Betrachtung eines inkonsistenten Konsumentenverhaltens zu. Ein in unserem Sinne inkonsistentes Konsumentenverhalten nimmt bei ihm jedoch aufgrund eines anderen methodischen Zugangs bedeutenden Raum ein. Er legte auf die Betrachtung der Indifferenzkurven solchen Wert nicht nur, weil sie ein ordinales Nutzenkonzept an die Stelle des kardinalen zu setzen gestatten, sondern weil er wiederholt die Vorstellung vertrat, die Indifferenzkurven seien das eigentlich empirisch Gegebene. Im Anhang zum Manuelgeht er nämlich davon aus, man könne, was wir heute die Substitutionsrate zwischen zwei Gütern χ und y nennen, beobachten. Eine Gleichung der Form (1)0 = fldx + f2dy ist Ausdruck für die Rate der Substitution (2)
dx~ f2' die zumindest für kleine Veränderungen durch Befragen festgestellt werden mag. Sie beschreibt, welche Kompensation dy bei einer Veränderung dx den Konsumenten indifferent läßt. Pareto gibt sich damit auf zu prüfen, ob sich von diesem Ausgangspunkt ausgehend eine besondere Form der Nutzentheorie entwickeln läßt und welche Eigenschaften sie hat. Wir beginnen formal. Unter gewissen, recht allgemeinen, weiter unten näher zu erfassenden Bedingungen läßt sich ein Differentialausdruck wie (1) integrieren, indem man ihn durch eine einfache Substitution auf ein gee
) Französische Ausgabe, hier nach deren englischer Übersetzung: Pareto, V., Manual of Political Economy, translated by Schwier, A. S., in Schwier, A. S., Page, A. N. (Hrsg.), New York, A. M. Kelley, 1971 (1927). Dahinter steht Paretos Aufsatz: L'ofelimitä nei cicli non chiusi (1966), in Scritti teorici, Mailand, 1952, S. V (keine durchgehende Paginierung).
Paretos Darstellung der Indifferenzkurven · 243 wohnliches Integral zurückführt. Dazu wird der Punkt (x, y) in der Ebene als Funktion eines Parameters t aufgefaßt, der sich in einem abgeschlossenen Intervall 0 < t < 1 bewege, sodaß unser Punkt einen (zusammenhängenden, stückweise stetig differenzierbaren) Pfad in der Ebene beschreibt. Diejenigen Pfade, auf denen inkonstant bleibt und dF= 0 gilt, entsprechen den Indifferenzkurven. Wir schreiben den Ausdruck (1) als Differential einer unbekannten Funktion F: dF = f1dx + f2 dy. Die Funktion F wird längs des eben definierten Weges durch Integration gewonnen: (3) F (χ (t), y (£)) - F(x (0), y (0))
ο Die Funktion f(x,y) ist eindeutig definiert, sofern die Integration längs jedem Pfad, der den gegebenen Anfangs- und Endpunkt verbindet, denselben Wert ergibt. Versuchen wir uns zu vergegenwärtigen, was dies ökonomisch bedeutet. Pareto hatte die Vorstellung, daß die Gleichung für die Substitutionsraten (2) experimentell bestimmt wird. Diese Gleichung (2) kann offenbar als eine einfache Differentialgleichung für eine Schar von Indifferenzkurven in der Ebene angesehen werden. Durch die Integration (3) erhält man hieraus einen Nutzenindex, der allerdings zunächst vom gewählten Integrationsweg abhängt. Der Nutzen ändert sich nicht entlang einer Indifferenzkurve, für die im Kleinen (1) bzw. (2) gilt. Die Integration ist wegunabhängig zwischen zwei festen Punkten genau dann, wenn F (x, y) für jeden Pfad, auf dem man von (x (0), y (0)) nach (x (t), y (t)) gelangen kann, denselben Wert annimmt. Dies wird genau dann der Fall sein, wenn das Differential (1) ein totales Differential ist, d. h. genau dann, wenn eine Funktion F (x, y) mit dem Differential (4)dF = f1dx + f2dy, existiert, mit _dF _dF ® ^ " dx dy ' Der Nutzenindex F ist also unter speziellen Bedingungen vom Weg unabhängig wählbar. Wenn eine Funktion F mit totalem Differential nach (4), unter der Bedingung (5), existiert, ist sie bis auf eine Konstante bestimmt, deren Größe in (3) durch die untere Grenze der Integration festgelegt wird. Insofern ist der Nutzenindex dann eindeutig. Offenbar kommt es bei wegabhängiger Integration dagegen auf die Sequenz der Konsumakte an. Der Nutzen ist nicht derselbe, je nachdem, ob (in Paretos Beispiel) erst die Suppe und dann der Braten verspeist werden oder ob man die gewohnte Reihenfolge umkehrt. Wenn χ die Menge der genossenen Hauptspeise, y die Menge der genossenen Vorspeisen mißt, sind bei se-
244 · Bertram Schefold quentiellem Vorgehen zwei Wege des Konsums vom Nullpunkt (0, 0) zu einem Punkt (x*, y"), bei dem je die Mengen x* der Hauptspeise und y" der Vorspeise verzehrt wurden, möglich: Man kann sich entweder der x-Achse entlang bewegen, wobei y = 0, bis zum Punkt (x*, 0), und von dort, ohne χ zu vermehren, bis zu (x*, y"). Oder man kann sich zuerst der ^-Achse entlang bewegen bis (0, y*) und dann parallel zur x-Achse bis (x*, y"). Im letzteren Fall ist die Reihenfolge der Vorspeise und Hauptspeise die normale, und wir werden zeigen, daß sich ein höherer Wert für F (x*, y') ergeben kann als bei Verfolgung des ersten Konsumpfades bzw. Integrationsweges. Pareto verzichtet darauf, das Paradox der je ungleichen Bewertung desselben Konsumgüterbündels durch einen Versuch der Datierung der Konsumgüter aufzuheben. Er nimmt recht mechanisch an, daß nur die Substitutionsraten fest gegeben sind, wie in einem Tierexperiment, bei dem nicht direkt nach der Konsistenz von Plänen gefragt werden kann. Um nun festzustellen, ob die Integration von Ausdrücken wie in Gleichung (1) allgemein wegunabhängig gelingt, benötigen wir den folgenden Satz, der gleich für höherdimensionale Räume (mehr als zwei Güter) formuliert werde: In einem einfach zusammenhängenden Gebiet G des /i-dimensionalen Raumes 7 ) seien die Funktionen f1 (x1( . . ., x j , f2 (x1; . . ., x^),. . ., fn (x1( . . ., xn). gegeben, die stetige partielle Ableitungen besitzen. Es gibt dann und nur dann eine nach den η Veränderlichen differenzierbare Funktion F(xv . . ., x j , die dort überall die Bedingungen 3F (6) ä T = /"v"v = 1 ' · · · ' n> V erfüllt, wenn die η (η - 1) / 2 Integrabilitätsbedingungen df df 2 /ι; ^δχ^δχ'μ