Der Parlamentarische Rat 1948-1949: Die Entstehung des Grundgesetzes 9783525105658, 9783647105659, 3525105657

Am 1. September 1948 trat in Bonn erstmals der Parlamentarische Rat zusammen, um Verfassungsstrukturen für das westliche

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German Pages 266 [140] Year 2019

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Der Parlamentarische Rat 1948-1949: Die Entstehung des Grundgesetzes
 9783525105658, 9783647105659, 3525105657

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INDES Vandenhoeck & Ruprecht

Heft 4 | 2018 | ISSN 2191-995X

ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

HEIMAT Ulrike Guérot  Gedanken über die Heimat  Stephan Lessenich  Heimat und Zugehörigkeit  Habbo Knoch ­Konjunkturen des Heimat­begriffs  Liane Bednarz  Heimat in Stadt und Land  Klaus Dörre  Marsch durch die Betriebe? 

Ein zEntRalEs KaPitEl in DER GRünDunGsGEschichtE DER BunDEsREPuBliK DEutschlanD

Michael F. Feldkamp Der Parlamentarische Rat 1948–1949 Die Entstehung des Grundgesetzes Überarbeitete Neausgabe 2019. Ca. 272 Seiten, ca. 23 Abb., gebunden ca. € 30,00 D ISBN 978-3-525-10565-8 eBook ca. € 23,99 D | ISBN 978-3-647-10565-9

Zunächst als Provisorium konstruiert, hat sich das Grundgesetz mittlerweile glänzend bewährt und wird weltweit geschätzt. Das Buch gibt einen spannenden Einblick in die Gründungsgeschichte unserer Verfassung. Am 1. September 1948 trat in Bonn erstmals der Parlamentarische Rat zusammen, um eine Verfassung für das westliche Nachkriegsdeutschland zu erarbeiten. Am 23. Mai 1949 war sein Auftrag erfüllt: Das Grundgesetz wurde verkündet. Michael F. Feldkamp schildert in diesem Buch sachkundig den konfliktreichen Weg zum Grundgesetz. Er beschreibt die Vorgänge und Diskussionen im Parlamentarischen Rat selbst, aber auch die Ereignisse im Hintergrund. So entsteht ein plastisches Bild von den parteipolitischen Auseinandersetzungen und vom Ringen um Kompromisse zwischen verschiedenen Vorstellungen staatlicher Ordnung.

EDITORIAL ΞΞ Jens Gmeiner / Matthias Micus

Das Thema »Heimat« hat in den letzten Jahren in Deutschland eine auf den ersten Blick erstaunliche Renaissance in Politik, Medien und Gesellschaft erfahren. Wenig verwunderlich mag noch erscheinen, dass die auch in der Bundesrepublik mit Aplomb emporgekommene politische Rechte die Notwendigkeit von kultureller Identität, völkischer Gemeinschaft und nationaler Heimat als Arznei gegen das vermeintliche Gift grenzüberschreitender Globalisierung und weltweiter Migrationsbewegungen deutet. Intuitiv plausibel ist auch die Erweiterung des Innenministeriums um den Zuständigkeitsbereich Heimat unter der Ägide eines Ressortchefs von der CSU. Überraschend mutet dagegen – ebenso spontan – die aktuelle Konjunktur des Heimat-Themas im Spektrum links-liberaler Parteien, Literaten, Kulturschaffender an. Man erinnere nur an die Erzählungen des französischen Soziologen Didier Eribon; an die Streitschrift von Thea Dorn; oder an jüngere Redebeiträge bspw. des sozialdemokratischen Bundespräsidenten Frank-­ Walter Steinmeier oder des Bundesvorsitzenden der Grünen, Robert H ­ abeck, der den Heimatbegriff nicht kampflos der AfD überlassen will. Was ist also davon zu halten, wenn nun auch linke Parteien die Bedeutung der Heimat hochhalten – und eine neugegründete linke Sammlungsbewegung nicht mehr primär die internationale, sondern zuförderst die nationale Solidarität propagiert? Freilich: Gar so verblüffend ist die aktuelle Affinität der politischen Linken zur Heimat-Rhetorik nicht. Und sie resultiert keineswegs nur aus der Einsicht der Parteistrategen, im permanenten Kampf um öffentliche Zustimmung die Besetzung positiv konnotierter Begriffe nicht dem politischen Gegner überlassen zu dürfen. Die Göttinger Parteienforschung und namentlich der frühere Herausgeber dieser Zeitschrift, Franz Walter, haben in ihrer Orientierung auf sozialkulturelle Stabilisationsfaktoren von Parteibindungen und politischen Mentalitäten vielmehr schon seit Langem auf die Heimat-Semantiken zur Beschreibung auch linker Vergemeinschaftungen zurückgegriffen. Prägnant umschrieb Walter in einer Publikation im Jahr 2000 das sozialdemokratische 1  Franz Walter u. Tobias Dürr, Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000, S. 69 f.

Milieu so: »Die Organisation als Heimat, der Funktionär als Heimatpfleger, der Marxismus als Heimatideologie – das waren lange Zeit die Stabilitätspfeiler der chronisch angefeindeten und gefährdeten Sozialdemokratie.«1 Gerade im Verlust der Heimatqualität und in dem damit korrespondierenden

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Gefühl der »Heimatlosigkeit« aufseiten ihrer Mitglieder und Anhänger machten Walter und sein Ko-Autor Tobias Dürr damals ganz generell die Gründe für die Niedergangserscheinungen und Krisentendenzen der Volksparteien aus. Die oben zitierte Textpassage verdeutlicht zugleich einen Widerspruch im landläufigen Heimat-Verständnis: Einerseits rekurriert Heimat auf das eigene Herkommen und mithin auf etwas Unvergängliches und Unverfügbares;2 andererseits wird Heimat gemacht – von den »Heimatpflegern«, die allerdings nicht immer und überall Funktionäre sein müssen –, weshalb das Verständnis dessen, was Heimat ist, einem ständigen Wandel unterliegt. Das betrifft nicht zuletzt den geografischen Raum, auf den sich Heimat bezieht. Habbo Knoch verweist in diesem Heft darauf, dass nicht zuletzt Kampagnen zur Identitätsbildung darauf Einfluss nehmen, ob sich Heimat­gefühle mit dem familiär-nachbarschaftlichen Nahraum, mit regionalen Einheiten wie den deutschen Bundesländern oder mit dem Nationalstaat verbinden.3 Dazu genügt ein Blick auf das europäisch-transatlantische Ausland: Während dem »Brexit«-Votum und der von Donald Trump ausgegebenen Parole »America first« ein nationales Heimatbewusstsein zugrunde liegt, beziehen sich die separatistischen Bewegungen etwa in Spanien auf substaatliche Regionen. Verbindend, so scheint es, ist den verschiedenen Heimatbezügen dagegen die Wahrnehmung des Verlustes. Die

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EDITORIAL

2  Siehe den Beitrag von Habbo Knoch in diesem Heft.

»Sehnsucht danach«, also nach Heimat, so hat es zutreffend der schon erwähnte Grünen-Vorsitzende Habeck beschrieben, »wird in Exilmomenten dringend«. Dies dürfte ebenso der Grund dafür sein, dass in der Vergangenheit vor allem auch in Exilantengemeinschaften intensiv über Heimat diskutiert wurde, wie auch dafür, dass Heimat-Diskurse regelmäßig mit Phasen rapider Veränderungen und fundamentaler Strukturbrüche zusammenfallen – ein Kennzeichen übrigens, welches die Gegenwart mit dem »Zeitalter der Nervosität« um 1900 verbindet, jener Zeit, als ein politisches Konzept von Heimat überhaupt erst aufkam. Aber: Lässt sich dergleichen historisch verallgemeinern, k ­ orrespondieren Heimat-Konjunkturen generell und nicht bloß punktuell mit tiefgreifenden gesellschaftlichen, ökonomischen und/oder kulturellen Transformationen? Besteht die auf den ersten Blick anachronistisch anmutende Attraktivität der Idee der Heimat per se darin, dass sie sich »am mentalen Verkehrsknotenpunkt von Globalisierung, romantischem Neo-­ Konservatismus und neuen politischen und gesellschaftlichen Konfliktlinien« (­Cornelia Koppetsch) befindet? Und welchen Veränderungen unterliegen (und unter­lagen) das Verständnis, die Bedeutung sowie die Inszenierung von Heimat im historischen Verlauf? Diesen und weiteren Fragen will die aktuelle INDES aus – wie stets – verschiedenen Perspektiven nachspüren. Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre. EDITORIAL

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INHALT

1 Editorial ΞΞJens Gmeiner / Matthias Micus

>> INTERVIEW 7 »Heimat lässt sich nur in einem sozialen Zusammenhang denken« ΞΞEin Gespräch mit Stephan Lessenich über den Heimatbegriff, Umweltschutz und das Unheimliche

>> ANALYSE 19 »Heimat«

Konjunkturen eines politischen Konzepts ΞΞHabbo Knoch

35 Der Wald im Zeitalter ­seiner



medialen Repro­duzierbarkeit

Wenn man vor lauter Wäldern den Baum nicht mehr erkennt ΞΞFrank Uekötter

42 Die DDR als Heimat

Geschichte einer Desillusionierung ΞΞArthur Schlegelmilch

49 Die heimatlosen Gesellen der AfD

Warum die Klimaleugner nicht gut für unser Land sind ΞΞFritz Reusswig / Claus Leggewie

56 Fremdheit und Heimat in Stadt und Land Über Gemeinsamkeiten und Unterschiede ΞΞLiane Bednarz

66 Der Heimatfilm

Themen, soziale Anliegen und filmische ­Formen ΞΞJürgen Heizmann

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76 Mehr Nation wagen

Warum gerade die Linke Nationalstaat und Heimat nicht den Rechtspopulisten ­überlassen darf ΞΞMichael Bröning

86 »Nun sag, wie hast du’s mit



dem Trans­nationalismus?«

Die transnationale Konfliktlinie und ihre Erklärungskraft für den Rechtsruck ΞΞGregor Kreuzer

>> ESSAY 96 Die Hürden des Suchens und Findens Gedanken über die Heimat ΞΞUlrike Guérot

PERSPEKTIVEN >> ANALYSE 106 Von den Volksparteien zu den Catch-all parties Otto Kirchheimer revisited ΞΞElmar Wiesendahl

124 Marsch durch die Betriebe?

Rechtspopulistische Orientierungen in der Arbeitswelt ΞΞKlaus Dörre

Inhalt

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SCHWERPUNKT: HEIMAT

INTERVIEW

»HEIMAT LÄSST SICH NUR IN EINEM SOZIALEN ZUSAMMEN­ HANG DENKEN« ΞΞ Ein Gespräch mit Stephan Lessenich über den Heimatbegriff, Umweltschutz und das Unheimliche

Der Heimatbegriff hat in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt, die sich schon vor dem Heimatministerium, auch vor der AfD, etwa im Kontext des »Party­ patriotismus«, abzeichnete. Welche Entwicklungen sehen Sie als ursächlich für die Wiederkehr des Begriffes an? Ich glaube, dass es insgesamt an den gesellschaftlichen Verunsicherungen liegt, die wir in etwa seit der Wende erleben und die nun durch eine neue Phase der Globalisierung einen anderen Charakter erhalten haben. Es ist nicht nur eine Gegenbewegung zu wahrgenommener Entgrenzung und Heterogenisierung der Gesellschaft, sondern in den letzten Jahren eine direkte Reaktion auf die Fluchtmigration und die Frage danach, wie sich dieses Land womöglich durch Zugewanderte verändert und durch weitere Zuwanderung verändern wird. Insofern ist »Heimat« ein Abwehrbegriff. Er ist aber auch ein Kompensationsbegriff. In Deutschland sind Begriffe wie »Nation«, »Volk« oder auch »Deutschland« selbst lange Zeit ein Tabu gewesen und nicht besetzt worden – wenn doch, dann nur von der völkischen oder extrem nationalistischen Rechten. Die Debatte um Heimat scheint mir auch der Versuch zu sein, nicht unbedingt intentional, mehr als erspürte Möglichkeit, wieder etwas Nationales in den Vordergrund zu rücken, was aber nicht per se und nicht automatisch den gleichen exklusiven Charakter hat wie Nation oder Volk. Wenngleich Heimat im Kern nur exklusiv zu denken ist, ist sie als politische Semantik nicht automatisch mit Ausschlussprozessen verbunden, so wie es sich mit Volk oder Nation assoziieren ließe. Wenn man sich, mit Bezug auf Sigmund Freud, fragt, was das Unheimliche an den gegenwärtigen Verhältnissen ist, lassen sich zwei Varianten des Heimlichen unterscheiden, gegen die sich das Unheimliche antagonistisch

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abgrenzt: Heimlich ist einerseits das Geheime, das verborgen bleibt; andererseits meint es das Heimelige. Ebenjenes heimelige Gefühl, das mit der Heimat transportiert wird, ist auf der Affektebene besonders relevant. In einer Phase, in der sich Dinge entgrenzen und öffnen, man mit äußeren Entwicklungen und auch physisch mit Menschen konfrontiert ist, die von außen kommen, gewinnt das Heimelige, Vertraute, Gemeinsame und Unge­störte eine neue Bedeutung. Sagt die Wiederkehr des Heimatbegriffes also auf einer kollektiven seelischen Ebene etwas über den emotionalen und psychologischen Gemütszustand der ­Gesellschaft aus? Unbedingt. Als Soziologe bin ich ohnehin der Meinung, dass die weitgehend abhandengekommene Verbindung zwischen Soziologie und Sozialpsychologie, die für die Kritische Theorie in den 1930er Jahren zentral war, wiederbelebt werden müsste. Ich glaube nicht, dass Menschen individuell, intentional und dann aggregiert, wie es sich im methodologischen Individualismus ausdrücken würde, auf die Idee kämen, dass man – wenn sich Dinge verändern, Verhältnisse verschieben, Ungewissheiten prominent werden – dann jedenfalls immer noch seine Heimat hat. Heimat scheint mir ebenso ein Kollektivgefühl zu sein, wie es ein Kollektivbegriff ist. Heimat lässt sich nur in einem sozialen Zusammenhang denken – schließlich ist man nur heimisch, wo auch andere ihre Heimat haben. Insofern kann und muss der Begriff auch sozialpsychologisch kollektiv-emotional verstanden werden. Durchaus intentional genutzt wird der Heimatbegriff allerdings im politischen Prozess, wo entsprechende Ratgeberkreise Heimat systematisch zu lancieren versuchen. Das zeigte sich bspw. im bayerischen Landtagswahlkampf, wo der dortige Spitzenkandidat der LINKEN seine Partei als die »eigentliche« Heimatpartei benannte. Das zieht sich also von den LINKEN über die Grünen, die nun zahlreiche Heimatkongresse veranstalten, und Grünen-nahe Bürgerinitiativen, die sich »Heimatboden« nennen, bis hin zu der CSU und der AfD sowieso. Die CSU ist dahingehend, jedenfalls in Bayern, stilprägend geworden. Offensichtlich sehen politische Akteure das Heimatkonzept als eines an, das anschlussfähig ist und mit dem sie die kollektive Psyche der Leute berühren können. Dass ein politischer Begriff emotional positiv anschließt, ist äußerst selten – möglicherweise ist dies noch beim Sicherheitsbegriff der Fall, beim Fortschrittsbegriff dagegen nicht mehr, da er nicht eindeutig positiv konnotiert ist. »Heimat« aber ist ein solcher Begriff, und deshalb versuchen die linken oder progressiven Akteure, diesen offensiv nicht exklusiv zu wenden und zu pluralisieren. Das kommt auf einer Sinnebene allerdings einem

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Heimat — Interview

Ethnopluralismus gleich: Jeder hat seine Heimat und soll diese auch haben, solange er auch in seiner Heimat bleibt. Auf der einen Seite sehen wir jene, die Heimat exklusiv verstehen, sich gegen das vermeintlich Fremde verteidigen wollen und sich gegen eine Pluralisierung der Heimat und Gesellschaft positionieren. Auf der anderen Seite stehen jene, die ebenjene Pluralisierung fordern und für Toleranz und Weltoffenheit eintre­ ten. Entspinnen sich hier, anhand des Heimatbegriffes, neue gesellschaftliche Konfliktlinien? Womöglich ist der Heimatbegriff lediglich ein semantischer Kristallisationspunkt. Progressiv Denkende würden wohl durchaus sagen: »Wir müssen für diejenigen, die herkommen, die Rahmenbedingungen schaffen, damit sie so leben können, wie wir das tun.« Vielleicht würden sie auch wollen, dass die Menschen hier eine neue Heimat finden, so wie sie schließlich auch sagen, dass die Menschen ihre Heimat verloren haben. Ich halte das Konzept für einen semantischen Anschluss an die Sorgen, die hierzulande um Verlust oder Veränderung der eigenen Heimat bestehen, um argumentieren zu können: Die Leute haben auch ihre Heimat verloren. Das sind sozusagen Heimatvertriebene, die wir in Deutschland gut kennen. Dafür haben wir Umverteilung organisiert und das haben wir auch geschafft. Der Heimatbegriff scheint in dem Sinne jedoch eine Oberflächensemantik zu sein. Es ist fraglich, ob wir in fünf Jahren noch davon reden werden und ob der Heimatbegriff letztlich eine ähnlich stabile Semantik der Inklusion sein wird wie »Nation« oder »Volk«. Auf jeden Fall aber steht er für Verteidigung, für Schutz, für Abwehr von Veränderung des Vertrauten, Gewohnten, Lokalen und somit also durchaus für eine gesellschaftliche Spaltung. Mit Blick auf die Überlagerung von Spaltungslinien sozioökonomischer, kultureller und ideologischer Art machen einige Sozialwissenschaftler nun eine Spaltungslinie von Kommunitarismus und Kosmopolitismus auf, die ich allerdings für verquer halte, da diese beiden Begriffe auf ganz unterschiedlichen Ebenen liegen. Aktuell lassen sich bei Akteuren des gesamten politischen Spektrums widersprüch­ liche Versuche feststellen, diese Spaltungslinien auszuhandeln – etwa auch bei der von Sahra Wagenknecht gegründeten linken Sammlungsbewegung »Aufste­ hen«. Wie weit ist dieser Konflikt innerhalb des Mitte-links-Spektrums vorange­ schritten und inwieweit ist er auflösbar? Ich glaube, der Konflikt ist weit vorangeschritten. In der gesellschaftspolitischen Linken insgesamt ist diese Spaltungslinie diejenige, an der sich Ein Gespräch mit Stephan Lessenich

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Positionen und Parteien in Zukunft ausdifferenzieren und neue Sammlungsbewegungen entstehen werden, sich insgesamt eine Rekonfiguration des Parteien- und politischen Glaubenssystems ergeben wird. Die zentrale Frage lautet, ob wir im weitesten Sinne – also militärisch, politisch und sozial – stärker auf eine nationale Sicherheitsstrategie oder aber auf einen Kosmopolitismus setzen, wenngleich dieser Begriff womöglich nicht der richtige ist und im politischen Konflikt mittlerweile als Kampfbegriff benutzt wird. Früher hätte die Formel »Internationalismus« geheißen, als ein Versuch – im Sinne der Arbeiterbewegung –, die Interessen der hiesigen lohnabhängigen Proletarier, der Beherrschten, mit den Interessen der lohnabhängigen Proletarier aller Länder zu verknüpfen. Ich glaube, dass die zentrale Achse des Konflikts jene entlang der nationalen vs. internationalen Perspektive ist. Deswegen kann meines Erachtens auch gesagt werden, dass Migration sicher nicht die Mutter, aber doch der Kristallisationspunkt aller Probleme ist, weil sich darin zentrale Fragen spiegeln, nicht nur des Aufenthalts-, Asyl- oder Staatsbürgerrechts, sondern Fragen der moralischen Ökonomie. Wem soll was warum und unter welchen Bedingungen zukommen? Diese Frage stellt sich für Bildung, Gesundheit, Teilhabe am Arbeitsmarkt, gute und sichere Arbeit sowie Wohnraum. Entlang dieser Frage – ob wir entweder einen nationalen oder einen prinzipiell offen gedachten, wenngleich nicht unbedingt vollständig grenzenlosen Sozial-, Sicherungs-, Anspruchs- und Teilhaberaum haben – verläuft die zentrale Achse, an der sich einiges entscheiden, im Sinne von unterscheiden, wird. Einstweilen sieht es so aus, dass die gesellschaftspolitische Linke dies nicht zusammenführen kann, obwohl rein logisch denkbar wäre, dass es eine nicht-exklusive Form der Solidarität geben könnte. Allerdings folgt dem zweiten Durchdenken immer der Schluss, dass irgendwo Grenzen gezogen werden, dass Umverteilungsraum irgendwo begrenzt werden muss. In dem von Ihnen mitunterzeichneten Aufruf »Solidarität statt Heimat« wird eine globale Solidarität gefordert. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob diese Forderung nicht das Ziel links-progressiver Politik, nämlich die Bändigung der Marktkräfte, konterkariert? Ist diese Bändigung nicht gerade auf den National­ staat angewiesen? Ja, das ist sie gegenwärtig. Ich bin Institutionalist genug und habe auch lange genug über die nationalen Wohlfahrtsstaaten geforscht, um zu wissen, dass die im nationalen Rahmen vollzogene Umverteilung einen wichtigen historischen Schritt für die Berechtigung der Menschen darstellt – der jetzt allerdings aus inneren Dynamiken heraus und im Kontext der Globalisierung

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Heimat — Interview

gefährdet ist. Deswegen bedeutet die Forderung »Solidarität statt Heimat« nicht »Solidarität statt nationaler Wohlfahrtsstaat«. Die Kunst wird sein, wohlfahrtsstaatliche Institutionen so zu öffnen, dass unter gesellschaftlich zu bestimmenden Bedingungen auch Nichtnationale und Zuwandernde jenen Satz an Rechten bekommen, der auch den Staatsbürgern oder bisher als Staatsbürgern Anerkannten zukommt. Theoretisch und konzeptionell war der Wohlfahrtsstaat immer im Kontext relativer kultureller Homogenität und nationaler politischer Verfasstheit gedacht. Eine konzeptionell-theoretische Revolutionierung, die eigentlich einhergehen müsste mit einem Neuaustarieren von Nationalismus und Internationalismus, wäre es, Wohlfahrtsstaatlichkeit tatsächlich global zu denken oder sie im Sinne global institutionalisierter sozialer Rechte auszuweiten. Viele Heimaten heißt auch viele Berechtigungen vor Ort sowie ein Recht auf Rechte, gerade trotz eines Wechsels des Sozialraumes. Daran anknüpfend: Wer hat Anspruch auf unsere Heimat, wer ist Teil eines ­Sozialstaates und bei wem wird die Grenze gezogen? Ich denke, dass die eben benannte Arendt’sche Frage nach dem Recht, Rechte zu haben, eine vorgelagerte ist und wir – nicht nur im deutschen Kontext, sondern in allen fortgeschrittenen demokratischen Kapitalismen der westlichen Welt – grundsätzlich einer Doppelmoral folgen: Das, was die Staatsbürgerinnen und -bürger legitimerweise für sich beanspruchen und einfordern, sowie die Rechte, die ihnen die politisch Verantwortlichen versprechen oder auch zukommen lassen, werden anderen verwehrt, und zwar nicht einmal rhetorisch oder politisch-programmatisch, sondern de facto. Das gilt zum Beispiel für das Wahlrecht, sodass wir es mit einer doppelten Krise der Repräsentation zu tun haben. Ein Forscherteam um Armin Schäfer hat in einer Studie zum Zusammenhang von sozialer Lage und Wahlbeteiligung eine enge Korrelation und damit einen großen Einfluss des Sozialstatus auf die politische Partizipation festgestellt. Dies eingebettet in die Frage danach, wer sich überhaupt an Wahlen beteiligen darf – im Bundesland Berlin bspw. darf ca. ein Drittel der Bevölkerung im wahlberechtigten Alter nicht wählen –, ergibt die Situation, dass in armen Vierteln viel seltener als in reichen Vierteln gewählt wird. Das ist eine doppelte Strukturkrise der Demokratie. Wie ließe sich bewirken, dass Wahlberechtigte ihr Recht auch wieder in Anspruch nehmen, statt davon auszugehen, ohnehin nichts zu sagen zu haben? Zugleich ist es unbegreiflich, dass Bürgerinnen und Bürger, die zum Teil seit Jahrzehnten in Deutschland leben, noch immer vom Demos ausgeschlossen werden. Wie sollen sich diese Leute hier heimisch fühlen? Heimat ist immer Ein Gespräch mit Stephan Lessenich

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auch etwas, das man sein Eigen nennen kann. Dazu gehört in einer demokratischen Vorstellung von Heimat auch, mitbestimmen zu können. Wie kann etwas zum Eigenen werden, wenn einem stets signalisiert wird, nicht wirklich dazuzugehören, wenn über sämtliche Bedingungen des eigenen Alltagslebens andere entscheiden? Wer nicht gerade EU-Bürger ist und sich wenigstens bei Kommunalwahlen beteiligen kann, entscheidet nicht darüber mit, wie ausgebaut etwa der ÖPNV ist oder ob es eine Mietpreisbremse gibt. Bei all den Dingen, die das Alltagsleben maßgeblich bestimmen, spielen viele keine Rolle. Der Begriff »Heimat« beinhaltet nicht nur diesen nationalstaatlichen Aspekt. Für viele bedeutet »Heimat« primär die Stadt oder die Gegend, aus der sie kommen. Ist es typisch, dass Menschen sich im Lokalraum verorten, oder spe­ zifisch deutsch, weil man sich nach wie vor schwertut, Heimat auf National­ ebene zu verorten? Ich würde Heimat als eine Dimension und spezifische Ausdifferenzierung von Zugehörigkeit beschreiben. Man kann Zugehörigkeit einerseits objektiv feststellen – bspw. durch Netzwerkanalysen, die darstellen, welchen sozialen Kreisen Menschen angehören. Aus subjektiver Wahrnehmungsperspektive ist Zugehörigkeit andererseits ein soziales Gefühl, das in historisch veränderbaren Formen ausgelebt wird. Eine soziale Konstante ist die territoriale Zugehörigkeit: eine basale Form der Zugehörigkeit durch die Bindung an den überschaubaren sozialen Raum, in den man hineingeboren oder hineinsozialisiert wird. Man kann sich einem territorialen Ort, im Wissen, dort geboren zu sein, allerdings auch dann zugehörig fühlen, wenn die Verbundenheit mit diesem Ort verloren gegangen ist, kein Gefühl von Heimat mehr aufkommt. In der Semantik des Heimatgefühls ließe sich dann fragen: »Wo gehöre ich eigentlich hin, wo komme ich her, wo will ich einmal beerdigt werden?« Dass dies lokal verortet ist, ist sozial typisch. Historisch gesehen ist es eher ein Sonderfall, sich tatsächlich und auf der Einstellungsebene zu einem eindeutig abgegrenzten territorialisierten Sozialraum zugehörig zu fühlen. Der deutsche Fall ist aufgrund des National­ sozialismus allerdings besonders – ebenso speziell wie vertrackt. In dem, zumindest in einer bestimmten historischen Phase, in Einstellungsumfragen dokumentierten europäischen Zugehörigkeitsgefühl der Deutschen drückt sich eine Kompensationshaltung aus: Wenn wir keine normalen Deutschen sein dürfen, werden wir eben gute Europäer. Man hat sich zudem damit beholfen, sein Selbstbewusstsein, statt aus einer politisch-territorialen Zugehörigkeit, aus der Zugehörigkeit zu einer starken Ökonomie zu gewinnen,

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Heimat — Interview

zu Deutschland als Exportweltmeister oder als Standort der deutschen Autoindustrie, die stark aufgeladen ist; und zwar nicht nur damit, dass sie unseren Wohlstand sichert, sondern »deutsche Wertarbeit« ist und uns die »Freude am Fahren« beschert – als solche wird sie auch zum Teil der eigenen Identität. Letztlich glaube ich, die lokale, territoriale Verankerung ist etwas Normales in jedem Gemeinwesen. Die Höherskalierung auf das Nationale hat eine historische Zeit, die irgendwann im 19. Jahrhundert beginnt und irgendwann vielleicht auch wieder endet. Dass dieses Nationale dann in Verruf geraten ist, hängt mit der politischen Gewaltgeschichte des Nationalen zusammen – in Deutschland ganz besonders. Kommen wir nun zu einem weiteren Aspekt von »Heimat«. Die klassische Tren­ nung von Öffentlichkeit und Privatheit löst sich zunehmend auf, ehemals relativ kohärente Kulturen differenzieren sich in Teilöffentlichkeiten aus: Bieten jene so etwas wie neue Heimatzugehörigkeitsgefühle oder fordern sie vielmehr das Hei­ matkonzept heraus, da alternative Konzepte angeboten werden? Dies hatte ich mit dem Konzept der Zugehörigkeit bereits angedeutet: In der Soziologie gibt es spätestens seit den 68er-Jahren, aber auch schon früher, zahlreiche Forschungen zu Subkulturen wie der Punk-, der Popper- oder der Techno-Kultur. Das alles sind Formen der sozialen Zugehörigkeitskonstruktion und der gefühlten Zuordnung zu einer Gemeinschaft der Gleichgesinnten, der Gleichhandelnden, der Gleichtickenden, der offenbar und sichtbar Gleichlebenden. Im Grunde genommen sind dies funktionale Äquivalente zur Heimat. In einer Gesellschaft, die sich nicht nur in Bezug auf verschiedene Öffentlichkeiten und soziale Milieus pluralisiert, sondern die auch insgesamt mobiler wird, nimmt die lokale Heimatdimension von Zugehörigkeit ab. Es wird nicht mehr das ganz Leben automatisch an einem Ort verbracht, sondern es wird umgezogen. Dann wird das Individuum vielleicht Wahlberliner und gibt sich Mühe, sich dort hineinzufinden. Allein durch diese territoriale Mobilität nimmt die schon benannte lokale Heimatdimension der Zugehörigkeit ab. In einer ausdifferenzierten und flexibilisierten Gesellschaft gibt es viele funktionale Äquivalente dieser Zugehörigkeit, die weniger in einem Konkurrenzverhältnis stehen, als dass sie sich ergänzen. Schließlich gibt es Leute, die sagen, Berlin habe ihnen nicht gefallen und sie seien daher wieder »nach Hause« gezogen. Statt eines starken emphatischen Heimat­begriffes drückt sich darin hauptsächlich der Gedanke aus, dass die Dinge dort einfacher waren, man sich auskannte und Freunde hatte. Dafür den Heimatbegriff zu bemühen, halte ich für übergestülpt, nicht für einen Bottom-Up-, sondern für einen Top-Down-Begriff. Ein Gespräch mit Stephan Lessenich

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Die zugehörigkeits- und identitätsstiftende Wirkung, die ehemals vor allem von Subkulturen wie der Punk- oder der Popper-Kultur ausging, scheint heute mehr und mehr von Sammlungsbewegungen und lokalen Gruppen auszugehen, die sich zusammenschließen und durch bestimmte Aspekte definieren. Gibt es dort neue politische Anschlussfähigkeiten? Der Wunsch nach dem Gefühl, dazuzugehören und unter Gleichgesinnten zu sein – dies ist die andere Seite von Echokammern –, ist soziologisch sehr verständlich. Dieselbe Sprache zu sprechen und ähnliche Einstellungen ebenso wie Überzeugungen zu haben, bedeutet auch, sich einem politisch-sozialen Milieu zugehörig zu fühlen. Aus neomarxistischer Perspektive heraus gesprochen, ließe sich sagen: Neben oder tendenziell sogar anstatt sozioökonomisch geprägter Praxisformen von Zugehörigkeit und Zugehörigkeitskommunikation gibt es eine Vielzahl anderer, kulturell geprägter Formen gemeinschaftlicher Praxis. Das ist etwas ganz Normales, was erst dann zum Problem wird, wenn solche Teilsegmente von Öffentlichkeiten entweder gar nichts mehr miteinander zu tun haben oder wild aufeinander losgehen, wenn also anstelle einer einigermaßen beständigen und geregelten Kommunikation entweder Non-Kommunikation oder Konfrontation entsteht. So wenig ich die Kommunitarismus-Kosmopolitismus-Achse begrifflich nachvollziehen kann oder gar in ihren politisch-strategischen Implikationen teile, so sehr ich sie vielleicht sogar ablehne, so klar ist meines Erachtens aus einer diagnostischen Perspektive, dass es natürlich unterschiedliche Communities gibt, die wenig miteinander zu tun haben. Soziologinnen und Soziologen erkennen dies wenigstens teilweise, weil sie eben diese Milieus erforschen und mit ihren Aufnahmegeräten dort hingehen, das Feld aber meist erleichtert wieder verlassen. Dies gilt nicht nur für Frauen in neonazistischen Gruppen, sondern ebenso etwa für das Dienstleistungsproletariat bei Amazon, das den forschenden Soziologen aufatmen lässt, selbst nicht so arbeiten zu müssen und vielleicht nicht ganz so prekär beschäftigt zu sein. Außerhalb dieses Kontextes existiert üblicherweise kaum Kontakt, jedenfalls nicht über flüchtige Begegnungen hinaus, etwa mit dem Paketlieferanten, der einem eine Lieferung aushändigt. In solchen Situationen kommen jedenfalls keine Gespräche über Arbeitsbedingungen zustande oder darüber, warum er so in Eile ist oder ob ihm geholfen hätte, ihm das Paket bereits im Erdgeschoss abzunehmen. Das sind keine Blasen der Kommunikation in dem Sinne, sondern durch die Strukturbedingungen der Lebensführung in dieser Gesellschaft abgegrenzte Sozial- und Funktionsräume, in denen sich jeder und jede Einzelne jeweils bewegt.

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Heimat — Interview

Ist das Reden von Heimat ein Anzeichen dafür, dass die Zukunftsorientierung einer Vergangenheitsorientierung, die Utopie der Retropie gewichen ist? Sind die wirkmächtigen Heimatbilder nur Anrufungsversuche einer entschwundenen Ver­ gangenheit oder birgt Heimat auch das Potenzial des zukünftig Gestaltbaren? Wenngleich das Heimatkonzept klare Anteile einer Vergangenheitsorientierung aufweist, glaube ich nicht, dass es allein in einer Rückwärtsgewandtheit aufgeht. »Heimat« steht für das noch Unversehrte, Unangetastete, Vertraute und Natürliche. Für manche bedeutet »Heimat« Gelsenkirchen und rauchende Schlote. Doch wenn von »Heimat« die Rede ist, drängt sich in Deutschland doch fast zwangsläufig zuerst das Bild eines stilisierten Oberbayern auf, verziert mit grünen Wiesen, glücklichen Kühen und Kirchen mit Zwiebeltürmen. Eine Vergangenheitsorientierung besteht darin, dass Heimat assoziativ an den Gedanken gekoppelt ist, die Welt sei früher noch in Ordnung gewesen. Diese Ordnung wiederherzustellen oder aber zumindest das zu bewahren, was noch in Ordnung ist: Danach lässt sich streben. Und damit hat Heimat auch einen starken Gegenwartsbezug. Zygmunt Bauman oder auch Hartmut Rosa, die sich mit Zeitstrukturen beschäftigen, stellen fest, dass das utopische Moment verschwindet. Wie handelt man in der Krise? Man unternimmt beständige Anpassung und den Versuch, das Bestehende vorsichtig weiterzuentwickeln, anstatt den großen Wurf zu machen. Denn der gilt womöglich erstens als gefährlich, zweitens fehlt ein gesichertes Wissen über dessen Umsetzung und drittens gibt es diese erfahrungsgesicherte Ahnung, dass jene großen Würfe in den Strukturen und Prozessen des politischen Systems oder der öffentlichen Meinungsbildung zermahlt werden würden. Heimat ist etwas Wiederherstellendes von Altem, das damit zugleich einen Gegenwartsbezug aufweist. Ich selbst sehe im Heimatbegriff aber gerade deshalb kein Zukunftskonzept. Das Wiederherstellende ist vor allem gegenwartsbezogen und Zukunft ist als reine Dauer gedacht. Wir stellen etwas wieder her, was dann bestehen bleibt. Zukunft ist für mich nicht Sein und Bleiben, sondern auch Veränderung, das Offene und Ungewisse, das Unplanbare, das Kontingente. Deswegen steht Heimat, wenn es für ein Zukunftskonzept steht, für eine Zukunft des Bestehenden und nicht für eine Zukunft des Veränderns. Ist die in Zeiten gesellschaftlicher Beschleunigung aufkommende Sehnsucht nach Heimat also eine Sehnsucht nach, in Hartmut Rosas Terminologie, Ent­ schleunigungsoasen und damit letztlich als Reaktion auf Veränderungsprozesse zu begreifen? Ein Gespräch mit Stephan Lessenich

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Wenn wir von Hartmut Rosa ausgehen, ist nicht Entschleunigung, sondern Resonanz die Antwort auf Beschleunigung. Beschleunigungsprozesse führen demnach zum Abgeschnittenwerden von Resonanzbeziehungen, und zwar in der Politik, in der Ökonomie, ja, eigentlich in der gesamten Lebenswelt. Ich glaube schon, dass sich das Heimatkonzept mit seiner, wenn nicht rückwärtsgewandten Dimension, wohl aber einer des Stillstellens, auf abstrakter Ebene gegen Beschleunigungstendenzen richtet. Allerdings glaube ich nicht, dass Beschleunigung das zentrale Gegenmotiv der Heimat-­Semantik ist, wenngleich sie mit hineinspielt. Eine größere Rolle spielen Verunsicherungen und Ungewissheiten, die etwa durch Migrationsbewegungen aller Art und den Klimawandel ausgelöst werden. Dass weitreichende, auch strukturelle Veränderungen stattfinden und unsere Lebensverhältnisse womöglich schon innerhalb der nächsten zehn Jahre in ihren Grundfesten angegriffen werden, durch physische, körperliche Bewegungen einerseits und physikalische, stoffliche Bewegungen andererseits, führt zu einer Grundungewissheit, zu einem massiven Unbehagen. In einer Freud’schen Perspektive würde ich sagen: »Das ist Menschen unheimlich.« In diesem Kontext gedacht, meint Heimat dann tatsächlich das Heimelige, das im Gegensatz zu jenem Unheimlichen da draußen steht, das man nicht haben möchte, von dem man aber ahnt, dass es kommt, und gegen das man sich individuell nicht wehren kann. Heimat wird dann zum Schutzraum gegen das Unheimliche, das gefühlt von draußen kommt, etwa in Form schmelzender Polkappen oder nur vermeintlich entfernter Bürgerkriege. Das damit verbundene Gefühl kann meines Erachtens nicht als Angst bezeichnet werden; vielmehr entwickeln sich unterschwellige Bedrohungsgefühle. In Gesellschaften, die so verfasst sind wie unsere und in denen es relativen Wohlstand für relativ viele Menschen gibt, ist ein Unbehagen an dem, was global passiert, sehr verständlich – ebenso verständlich wie wachsende Bedürfnisse nach Ordnung, Zugehörigkeit und Stillstellung. Nachvollziehbar ist auch, wenn politische oder sonstige öffentliche Akteure in einer solchen Situation auf Heimat setzen. Ich sehe allerdings wenig Progressives an einer Idee des Heimatschutzes. In Versuchen, im Kontext eines derartigen Heimatschutzes bspw. das Baumfällen oder die Stromtrasse vor der Haustüre zu verhindern, sehe ich hauptsächlich partikulare, selbstbezogene Formen des Umwelthandelns. Wie würde denn ein nicht-selbstbezogenes, nicht-partikulares Heimatverständ­ nis aussehen? Ich ironisiere gerne den Begriff »pluraler Heimaten«; weil mir scheint, dass er oft politisch-strategisch genutzt wird. Diesen konzeptionell ernst zu

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nehmen, würde ja bedeuten, den Begriff in den Diskurs um Fluchtursachenbekämpfung zu überführen. Wenn wir nun im Rahmen dessen anerkennen, dass alle Menschen Heimaten haben sollen, die geschützt werden müssen, dann hieße das, Umweltschutz und solcherlei Dinge nicht nur partikular für sich selbst zu betreiben, sondern zu fragen, warum die Menschen wandern und in Zukunft womöglich noch mehr wandern werden, als es in einer vorherigen historischen Phase der Fall war. Auch wäre zu fragen, inwiefern die Lebensverhältnisse bspw. durch die Veränderung in der natürlichen Umwelt bedingt sind. Wer tatsächlich Heimatschutz für alle möchte, müsste eine sehr harte sozialökologische Transformationsstrategie entwickeln – und zuallererst bei sich daheim umsetzen. Jedoch hat niemand den Mut, das auch deutlich zu sagen. Die Grünen etwa stehen für eine Wohlfühlökologie, eine ökologische Transformation light, nach dem Motto: Wir können das regeln. Wir müssen zwar etwas konsequenter sein, aber im Grunde brauchen sich die Lebensführungsmuster nicht radikal zu verändern. Verbrennungsmotoren werden durch E-Mobilität ersetzt, große Stromtrassen durch dezentrale Energie, Plastikverbote verhängt, eine konsequentere Wiederverwertung von Ressourcen gefordert – und ansonsten kann im Prinzip alles weitergehen wie bisher. Dass man aber den Ressourcenbedarf und den Energieverbrauch hierzulande radikal – und »radikal« meint hier wirklich radikal – senken müsste, das wird nicht gesagt. Unsere politisch verfasste Ökologiebewegung ist eine, die nicht wehtun soll und will. So stellt sich dann auch die Sozialstruktur der Wählerschaft der Grünen dar: Das sind diejenigen mit den höchsten Einkommen, für die Umweltschutz natürlich Ehrensache ist. Er kostet sie zwar etwas, aber nicht derart viel, dass es ihnen tatsächlich wehtun oder sich stark auf die eigene Lebensführung auswirken würde. Gleichzeitig ist dies das Milieu nicht nur der sozioökonomisch am besten Gestellten, sondern auch derjenigen mit dem größten ökologischen Fußabdruck. Das ist eine verquere Konstellation, denn die Leute werden repräsentiert von einer parteipolitischen Kraft aus demselben Milieu, die sich als Speerspitze ökologischen Denkens und Handelns versteht. Ich verurteile das nicht, es ist schlicht die politisch-soziale Realität; doch im Grunde genommen gibt es aus nachvollziehbaren Gründen keine Trägergruppe für eine radikale sozialökologische Transformationsstrategie, die nötig wäre, um »Heimatschutz« wirklich zu globalisieren. In Zeiten, in denen sich eine globale Elite problemlos zwischen verschiedenen Städten bewegt, während zugleich andere es sich nicht mehr leisten können, in der Stadt ihrer Wahl zu wohnen, stellt sich die Frage: Ist Heimat etwas, das man sich leisten können muss? Ein Gespräch mit Stephan Lessenich

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Ja, ist es. Allerdings suggeriert Heimat als Konzept immer eine soziale Homogenität. Heimat ist zwar auch ein territorialer Raum, doch vor allem ein Sozialraum der Gleichen. Darin kommen Klassenunterschiede oder soziale Differenzierungen nicht vor. Man ist unter sich. Das Heimatkonzept blendet in solchen Lokalräumen die zum Teil gravierenden sozialen Ungleichheiten aus. Auch in der oberbayerischen Heimat, in der alles blendend scheint, gibt es natürlich arme Rentnerinnen neben jenen Jetsettern aus Traunstein, die am Wochenende von München nach Wien fliegen, um dort die Oper zu besuchen. Von daher blendet der Begriff »Heimat« systematisch soziale Strukturdifferenzen aus. Aus der globalen Perspektive muss man sich leisten können, auf die Unantastbarkeit seiner Heimat zu pochen oder diese wiederherzustellen. Gleichzeitig gibt es diejenigen, die alternative Konzepte von Heimat leben – und dort hat die Kosmopolitismus-Kritik einen Punkt. Zu jenen Milieus, die ihre Transnationalität zelebrieren und als Distinktionsmerkmal einsetzen, die große Stücke darauf halten, wie weltgewandt sie sind, lässt sich sagen: Solch eine Form der Heimat, nämlich überall zu Hause zu sein, ist nicht allen gegeben. Oder umgekehrt ausgedrückt: Mehr noch vielleicht als Heimat muss man sich im Hinblick auf kulturelles, soziales, ökonomisches, auch korporales Kapital Heimatlosigkeit in der Tat leisten können. Das Gespräch führten Marika Przybilla-Voß, Jöran Klatt und Luisa Rolfes.

Prof. Dr. Stephan Lessenich, geb. 1965, Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Politische ­Soziologie sozialer Ungleichheit, Wohlfahrtsstaatsforschung, ­Kapitalismustheorie und Soziologie des Alter(n)s.

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Heimat — Interview

ANALYSE

»HEIMAT« KONJUNKTUREN EINES POLITISCHEN KONZEPTS ΞΞ Habbo Knoch

Vom rechten Rand bis zu den Grünen und auch bei manchen Linken erlebt »Heimat« neuerdings eine unerwartete politische Konjunktur. Der Begriff wird angesichts der Krisendiskurse über »Flüchtlinge«, »Globalisierung« und »soziale Spaltung« als Ressource für Vergemeinschaftung und Zusammenhalt in Stellung gebracht. Er fungiert als Gefühlssynonym für »Vertrauen«, »Sicherheit« und »Tradition«. Wer politisch so von »Heimat« spricht, blickt tatsächlich oder metaphorisch zurück und assoziiert mit ihr etwas, das sich vermeintlich nicht ändert: Kindheitserlebnisse und Landschaftsbilder, Gemeinschaftsvisionen und »bessere Zeiten«, nicht selten auch die rassistische Idee einer primordialen Abstammung und eine darin begründete exklusive »Leitkultur«. Je unsicherer und unwirtlicher die Zukunft erscheint und gezeichnet wird, desto größer scheint nicht nur das so geäußerte Bedürfnis nach Unvergänglichem, sondern auch der politische Diskurs darüber zu werden: »Retrotopia«1 hat Zygmunt Bauman diese gegenwärtig verbreitete Sehnsucht nach Nostalgie genannt. Dabei hat sich der Begriff »Heimat« in den vergangenen Jahrzehnten von seiner ursprünglich konservativ-nationalistischen Umklammerung gelöst und ist pluralistischer geworden. »Heimat« tritt heute vor allem als Konsumgegenstand in Erscheinung: im Allgäu oder Wattenmeer, als Rezeptbuch oder Lebensratgeber, als Standortwerbung oder Fernsehkulisse im »Tatort«. Vor 1  Zygmunt Bauman, ­Retrotopia, Frankfurt a. M. 2017. 2  Vgl. grundlegend und mit weiterer Literatur: Jens Jäger, Heimat, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 09.11.2017, URL: http://docupedia.de/zg/ Jaeger_heimat_v1_de_2017 [eingesehen am 08.01.2019].

der aktuellen politischen Renaissance schien der Begriff seine appellative Bedeutung längst verloren zu haben, die er vor allem vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre mit unterschiedlichen Konjunkturen und Bedeutungen besaß.2 Nun aber zeigt sich, wie tief »Heimat« als antimoderne und modernisierungsskeptische Denkfigur weiterhin in der politischen und gesellschaftlichen Kultur der Bundesrepublik verankert ist und nicht zuletzt in einer Vielzahl von Institutionen – wie Heimatmuseen, Heimatverbänden

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oder Heimattagen – gründet.3 Die neue Heimatpolitik ist deshalb ohne ihre bis in die Gegenwart aktualisierbaren Ursprünge und deren Adaptionen nicht zu verstehen. I. E  RFUNDENE HEIMAT: ENTSTEHUNG UND RADIKALISIERUNG EINER POLITISCHEN IDEE »Heimat« ist eine Erfindung der »langen« Jahrhundertwende um 1900. Die politische Verwendung des Begriffs ist somit weitaus jünger, als es frühe und viele spätere Protagonisten der Heimatpolitik glauben machen wollten und wollen. In ihrer ursprünglichen, in der Romantik entstandenen und bis heute prägenden Variante verkörpert »Heimat« eine modernisierungskritische Sehnsucht nach identitätsstiftenden Bezugspunkten, die keiner Veränderung zu unterliegen scheinen. Als politisches Konzept beruht »Heimat« auf der Suggestion, es gäbe so etwas wie Vergangenheit ohne deren permanente Konstruktion als Geschichte. Es lebt von Geschichtspolitik, Manipulationen und Lügen, aber ebenso von diffusen Ängsten und begründeten Sorgen. »Heimat« kann ein Segen für diejenigen sein, die sie haben; aber sie ist ein Fluch für diejenigen, denen sie verwehrt wird. Dabei sind weder Begriff noch Konzept ein deutsches Unikat – doch hat »Heimat« in Deutschland ihre ganz eigene Geschichte, die nicht von ihren politischen Ordnungen zu trennen ist. »Heimat« hat sich in Deutschland nicht nur als eine utopische Idee oder ein romantisches Gefühl entwickelt, sondern gründet in einer breiten, von Staat und Gesellschaft organisierten kulturellen Infrastruktur und zahlreichen interessenpolitischen Spielern. Als politisches Konzept repräsentiert sie eine antipluralistische und antiemanzipatorische Machtordnung, da bestimmte Akteure anderen Menschen, die ihrer Lebenswelt ohnehin nur schwer entkommen können, letztlich durch deren Romantisierung vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben – und anderen die Freude am Fremden madig machen. Am Anfang waren das vor allem lokale Akademiker: »Heimat« wurde um 1900 als antimoderne Bewegung und identitätspolitische Kategorie bedeutsam, die von vielen ihrer Protagonisten immer wieder politisiert wurde. Einerseits bettete das Konzept emotionale Bindungen an einen begrenzten Raum (einen konkreten Ort, eine Landschaft oder eine Region) in überindividuelle und translokale Sinnstiftungen wie die »Nation« ein; andererseits gewann das, was unter »Nation« verstanden wurde, durch den Bezug auf »Heimat« eine lokale Verankerung.4 In dieser doppelten Form als politisches Konzept und kulturelle Infrastruktur ist »Heimat« ein Produkt der späten deutschen Nationalstaatsbildung

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3  Zur spezifisch deutschen Ideengeschichte des Begriffs vgl. Peter Blickle, Heimat. A Critical Theory of the German Idea of Homeland, Rochester 2002; Rolf Petri, Deutsche Heimat 1850–1950, in: Comparativ, Jg. 11 (2001), H. 1, S. 77–127; Jost Hermand u. James Steakley (Hg.), Heimat, Nation, Fatherland. The German Sense of Belonging, New York 1996. 4  Vgl. Celia Applegate, A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley 1990; Alon ­Confino, The Nation as a Local Metaphor. Württem­berg, Imperial ­Germany, and National Memory, 1871–1918, Chapel Hill 1997.

im 19. Jahrhundert in ihren welthistorischen Zusammenhängen. Wie heute erwuchs sie aus einer konservativen Kritik an der Modernisierung der Lebenswelten: »Heimat« verhieß Gleichmaß statt Beschleunigung, Gemeinschaft statt Gesellschaft. Je mehr Wandel, Veränderung und als fremd Empfundenes, desto stärker wurde die Bewahrung des Nahen, Vertrauten und Eigenen betont. Das ist eine bis in die Gegenwart reichende Grundressource des deutschen Heimatgefühls. Trotzdem ließ es sich mit Ansprüchen auf eine globale Vormachtstellung vereinbaren – ebenfalls eine hochaktuelle Verbindung. Denn waren kollektive räumliche Identitätsbezüge zunächst nur lokal oder regional angelegt, verschmolzen sie im Kaiserreich mit dem Konzept der ihrerseits zusehends in globaleren Kontexten definierten »Nation«.5 Dabei wurden Lokalismen und Regionalismen national(-istisch) kodiert, sollten aber ihre Eigenständigkeit nicht verlieren. Nationalismus, völkische Gruppen und Naturschutzbewegung machten aus »Heimat« eine kollektive Identifikationsmetapher, die als Gegensatz zu den vielfältigen Veränderungen im Zuge der industriellen Moderne propagiert wurde. »Heimat«-Propaganda und globale Erfahrungen schlossen sich nicht aus: Kulturelle Fremdheits­ erfahrungen im Kolonialismus, auf Fernreisen und in Kriegen verstärkten 5  Vgl. Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006.

eine damit einhergehende dichotomische Wahrnehmung des »Eigenen« und des »Fremden«, die oft rassistisch aufgeladen war.6 Dies hat nicht zuletzt Georg Simmel früh herausgearbeitet: »Heimat« sah er unlösbar mit – oft exkludierenden – Bestimmungen jener wandernden »Fremden« verbunden,

6  Vgl. Jens Jäger, Colony as »Heimat«? The formation of colonial identity in Germany around 1900, in: German History, Jg. 27 (2009), H. 4, S. 467–489.

mischen herausfordern.7

7 

Siehe Georg Simmel, Exkurs über den Fremden, in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, S. 509–512.

wie Heimatmuseen neben bewahrenden vor allem erzieherische Ziele. Sie

8  Vgl. Friedemann Schmoll, Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 2004; John Alexander Williams, »The Chords of the German Soul Are Tuned to Nature«. The Movement to Preserve the Natural Heimat from the Kaiserreich to the Third Reich, in: Central European History, Jg. 29 (1996), H. 3, S. 339–384.

als Bindungsversprechen und Antwort auf soziale Krisenphänomene der In-

die bleiben wollen und so die fixierten Identitätskonstruktionen der EinheiDie Heimatpolitik selbst hatte einen engeren Fokus: Die im 19. Jahrhundert in großer Zahl gegründeten heimatkundlichen Vereine verfolgten ebenso setzten auf Inszenierung, Romantisierung und Mythologisierung einer lokalen Verwurzelung, die als »ursprünglich« und »authentisch« vermittelt wurde. Affirmative Gefühle für die eigene »Heimat« zu empfinden, wurde dustrialisierung inszeniert. »Heimat« war aber weit mehr als ein Gefühl: In Schützenvereinen, im Kyffhäuserbund oder in verschiedensten lokal organisierten nationalistischen Verbänden, die dem »Heimatschutz« und dem Naturschutz dienten,8 fand das Konzept »Heimat« eine breit gefächerte organisatorische Substruktur, die es eng mit Idealen von Wehrhaftigkeit und Kriegsverehrung verknüpfte. Für soziale und diskriminierte Minderheiten wie etwa Juden oder »Zigeuner« Habbo Knoch — »Heimat«

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wirkten die mit dem Ideologem der »Heimat« verbundenen Integrationscodes oft hochgradig exkludierend, während sich mit der »Diaspora« eine Figur und Lebensweise der »Heimat« in der »Fremde« gerade für diskriminierte und staatenlose Gruppen herausbildete.9 Nach dem Ersten Weltkrieg geriet »Heimat« mit dem Aufkommen der »Volksgeschichte«, den Grenzlandkämpfen und einer zunehmenden Politisierung des Regionalbewusstseins zur politischen Kampfvokabel im Zeichen primordial begründeter Abgrenzungen.10 Vor allem das völkische Lager wollte dies auf überzeitliche Grundlagen stellen. Der antikommunistische Slogan »Rettet die Heimat« kam mit den Freikorpswerbungen der 1920er Jahre auf und blieb bis zu den Wahlplakaten der CDU nach dem Zweiten Weltkrieg gebräuchlich. Dem entsprach eine visuelle Idealisierung dörflicher Idylle und des »Bauern« als Sinnbild einer postulierten organischen Urverbindung von (»arischem«) Menschen und (»deutscher«) Landschaft, das in der Ikone des »Wehrbauern«, der die Heimat heroisch verteidigt, militarisiert wurde. Im Nationalsozialismus erlebte »Heimat« dann nicht nur in der »Blut-und-­BodenIdeologie« ihre rassistische Zuspitzung, sondern im Naturschutz unter völkischen Vorzeichen auch einen signifikanten Aufschwung – u. a. mit dem »Reichsnaturschutzgesetz« von 1935.11 Von der Ausweisung zahlreicher Naturschutzgebiete und ihrer Inszenierung des Natürlichen profitieren Tourismus­ regionen wie die Lüneburger Heide bis heute. Die Nationalsozialisten setzten sich jedoch von der traditionellen Heimatbewegung ab, indem sie ein zentralistisches Konzept der Mobilisierung von »Stämmen« und »Regionen« verfolgten. »Volk«, »Gemeinschaft« und »Volksgemeinschaft« wurden durch exkludierende Zugehörigkeitskategorien wie politische Loyalität, rassistische Merkmale oder soziale und sexuelle Verhaltensweisen radikalisiert.12 Insbesondere Juden wurde jedes Recht auf Deutschland als »Heimat« abgesprochen; denn »Heimat«, »Volk« und »Natur« waren Synonyme, die der mit »Demokratie« und »Judentum« verbundenen »Moderne« entgegengesetzt wurden. So machte sich Martin Heidegger 1933 zum Ideologen einer romantisierten Provinz, die er zum Ideal einer standesübergreifenden Gemeinschaftserfahrung verklärte. Sie galt ihm als Urzelle einer organisch und deterministisch

9  Vgl. Ofer Ashkenazi, The Non-Heimat Heimat. Landscapes and Identity in German-Jewish Films from Weimar to the Cold War, in: New German Critique, Jg. 42 (2015), H. 3, S. 115–144. Zum Konzept der »Diaspora« vgl. Miriam Rürup (Hg.), Praktiken der Differenz. Diasporakulturen in der Zeitgeschichte, Göttingen 2009. 10  Vgl. Karl Ditt, Raum und Volkstum. Die Kulturpolitik des Provinzialverbandes Westfalen 1923–1945, Münster 1988; Willi Oberkrome, »Deutsche Heimat«. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (1900–1960), Paderborn 2004. 11  Vgl. Frank Uekötter, The Green and the Brown. A History of Conservation in Nazi Germany, New York 2006; Franz-Josef Brüggemeiner u. a. (Hg.), How Green Were the Nazis? Nature, Environment, and Nation in the Third Reich, Athens (Ohio) 2006. 12  Vgl. Claus-Christian W. ­Szejnmann u. Maiken Umbach (Hg.), Heimat, Region, and Empire. Spatial identities under national socialism, Basingstoke 2012; Dietmar von Reeken u. Malte Thießen (Hg.), »Volksgemeinschaft« als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesell­ schaft vor Ort, Paderborn 2013.

gedachten Nation, die vom ahistorischen Ideal einer rassistisch konstruierten, »reinen« Herkunftseindeutigkeit bestimmt werden sollte.13 Bauernmythos und Wiederaufrüstung waren kein Widerspruch: Sie sollten sich schließlich in der zerstörerischen Politik der »Germanisierung« als wechselseitige Radikalisierungsmomente erweisen.

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Heimat — Analyse

13  Siehe Martin Heidegger, Schoepferische Landschaft. Warum bleiben wir in der Provinz? (1933), in: Ders., Aus der Erfahrung des Denkens (1910–1976), Heidelberg 1983, S. 9–13.

II. V ERLORENE HEIMAT: DISKURS UND WIRKLICHKEIT DER NACHKRIEGSZEIT Schon während des Nationalsozialismus, aber auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit waren es ins Exil geflohene Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler, die ihre Entrechtung als Heimatverlust beschrieben.14 So konstatierte Hannah Arendt 1949, die »Rechtlosen« dieser Jahre – vor allem die Millionen Displaced Persons (DPs) im Europa der Nachkriegszeit – hätten »zunächst einmal« ihre Heimat verloren und damit die »gesamte soziale Umwelt, in die sie hineingeboren wurden und innerhalb derer sie sich ihren Platz in der Welt geschaffen hatten«.15 Entrechtung hieß für sie, die Möglichkeit zur Mitgestaltung einer Gemeinschaft zu verlieren. »Heimat« war für Arendt somit nichts Primordiales, sondern eine politisch zu schaffende Option auf Partizipation, die auf dem »Recht« gründete, »Rechte zu haben«.16 Ohne ein (nationalstaatliches) Recht, das die Staatsbürgerrechte für alle Menschen unbedingt garantierte, waren die Menschen14  Vgl. Gregor Streim, Konzeptionen von Heimat und Heimatlosigkeit in der deutschsprachigen Exilliteratur nach 1933, in: Edoardo Costadura u. Klaus Ries (Hg.), Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016, S. 219–241. 15  Hannah Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, in: Die Wandlung, Jg. 4 (1949), H. 8, S. 754–770. 16  Vgl. Miriam Rürup, Vom Recht der Rechtlosen. Staatenlosigkeit als Zeitsignatur des ersten Nachkriegsjahrzehnts, in: Arndt Engelhardt u. a. (Hg.), Ein Paradigma der Moderne. Jüdische Geschichte in Schlüsselbegriffen, Göttingen 2016, S. 79–92.

rechte für Arendt letztlich wertlos. Sie verstand »Heimat« als Utopie, die sich für die von ihr vor allem in den Blick genommenen jüdischen DPs mit der Gründung des Staates Israel erfüllen sollte. Das Dilemma von Juden, nach 1945 wieder in Deutschland zu leben, hat Anthony Kauders hingegen unter dem Titel »unmögliche Heimat« rubriziert.17 Die Bundesrepublik ihrerseits stand nach ihrer Gründung mehrere Jahrzehnte lang im Zeichen einer politisierten Heimatsehnsucht, die sich auf die ehemaligen östlichen Gebiete des Deutschen Reiches richtete. Die Forderung eines »Rechts auf Heimat« knüpfte an die Bestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg an, die politische Souveränität von »Völkern« ins Zentrum einer neuen internationalen Rechtsordnung zu rücken.18 Hinter dieser Forderung versammelten sich nicht nur die Vertriebenenverbände, sondern bis in die 1960er Jahre auch alle bundesdeutschen Parteien. So warb die CDU 1949 zur Bundestagswahl mit dem antikommunistischen Slogan »Bollwerk der Heimat«; auf dem Plakat war das Kürzel der Partei in großen Blockbuchstaben ins Ungefähre der Oder-Neiße-Grenze zwischen dem

17  Siehe Anthony Kauders, Unmögliche Heimat. Eine deutsch-jüdische Geschichte der Bundesrepublik, München 2007. 18  Vgl. Andrew ­Demshuk, What was the »Right to the »Heimat«? West German Expellees and the Many Meanings of »Heimkehr«, in: Central European History, Jg. 45 (2012), H. 3, S. 523–556.

grün markierten Raum Deutschlands und der rot schraffierten Bedrohung aus dem Osten gesetzt. Das doppelte Ziel eines »Heimatrechts im Osten« und eines »Lebensrechts im Westen« blieb über die 1950er Jahre hinaus eine zentrale Forderung des Bundes der Heimatvertriebenen und Entrechteten und seiner Nachfolgeparteien sowie der Vertriebenenverbände. Wesentliche Bausteine einer gesamtpolitisch auf soziale Befriedung ausgelegten Integrationspolitik waren der mit beträchtlichem finanziellen Aufwand verbundene »Lastenausgleich«, Habbo Knoch — »Heimat«

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die vielfältige Förderung von Kultur- und Forschungsinstitutionen zu den ehemaligen »Ostgebieten« und der politischen wie landsmannschaftlichen Selbstorganisationen sowie das bis in die 1960er Jahre vorherrschende politische Ziel einer Revision der östlichen Grenzziehungen. Dazu gehörte auch die staatlich geförderte Integration von NS-Belasteten aus dem ehemaligen »Osten«, u. a. über den Bund der Vertriebenen.19 Entgegen einer offiziellen »Erfolgsgeschichte« hat sich die konfliktreiche Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in der Nachkriegszeit seit einigen Jahren im Bild der »kalten Heimat« verdichtet.20 Anerkennung, Aufstieg und Partizipation – »Heimat« im Sinne von Arendt – gelangen oft erst in der zweiten oder dritten Generation. Denn lebensweltlich war Integration mit vielen Problemen und Widerständen verbunden. Lokale »Heimattage« sollten die noch vor Ort lebenden sowie frühere Bewohner mit den neu angesiedelten Flüchtlingen und Vertriebenen zusammenbringen. Aber sie konnten die Konflikte nicht überdecken. Im Gegenteil: Gerade solche Treffen riefen

19  Vgl. Michael Schwartz, Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundes der Vertriebenen und das »Dritte Reich«, München 2013. 20  Vgl. Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der Deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008; dazu auch: Michael Schwartz, »Zwangsheimat Deutschland«. Vertriebene und Kernbevölkerung zwischen Gesellschaftskonflikt und Integrationspolitik, in: Klaus Naumann (Hg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 114–148; Michael Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland. Integrations- und Erinnerungspolitik in der DDR und in der Bundesrepublik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 56 (2008), H. 1, S. 101–151.

das Gefühl der »verlorenen« Heimat immer wieder auf. Wenn Vertriebene durch bestimmte religiöse Stile oder kulturelle Praktiken ihre mentale Verwurzelung in der »alten« auch in ihrer »neuen« Heimat zu leben versuchten, führte dies zu Vorbehalten und der Forderung, sich anzupassen.21 Noch nicht einmal die »Heimatfilme« der 1950er Jahre waren Heile-Welt-Szenarien. Sie führten einem Millionenpublikum Aushandlungsweisen der doppelten Integration von »Fremden« und »Fremdem« – der »Heimatvertriebenen« und der beschleunigten Modernisierung des »Wirtschaftswunders« – vor und ließen viele Widersprüche dieses Prozesses durchblicken. Am Ende überführten sie diese aber in Erfolgsgeschichten. »Heimat« sollte als Ressource imaginiert werden, um die Transformationsprobleme zu überwinden.22 Dennoch: Nicht nur durch Filme wie »Grün ist die Heide« (1951) war »Heimat« in der Nachkriegszeit eine omnipräsente Chiffre für die Sehnsucht nach Sicherheit und Ordnung angesichts der vorherigen Verwerfungen von Diktatur und Krieg.23 Kriegsmobilisierung, die Auflösung von Verwaltung und Infrastruktur sowie materielle Zerstörungen hatten die schon vorher betriebene

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21  Vgl. Robert E. Alvis, Holy Homeland: The Discourse of Place and Displacement among Silesian Catholics in Postwar West Germany, in: Church History, Jg. 79 (2010), H. 4, S. 827–859. 22  Vgl. Sarah Kordecki, Heile Welt ohne Vergangenheit? Westdeutsche Heimatfilme der 1950er Jahre, in: Bastian Blachut (Hg.), Reflexionen des beschädigten Lebens? Nachkriegskino in Deutschland zwischen 1945 und 1962, München 2015, S. 161–186; Johannes von Moltke, No place like home. Locations of Heimat in German cinema, Berkeley 2005. 23  Vgl. Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik von 1949 bis in die Gegenwart, Berlin 2009.

24  Exemplarisch: Malte Thießen, Eingebrannt ins Gedächtnis. Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende 1943 bis 2005, München 2007. 25  Vgl. Das Bild der Heimat Deutschland, 4. Aufl., Hamburg 1955; Die Schöne Heimat. Bilder aus Deutschland, Königstein/Ts. 1964. 26  Vgl. Jan Palmowski, Building an East German Nation. The Construction of a Socialist Heimat, 1945–1961, in: Central European History, Jg. 37 (2004), H. 3, S. 365–399; Ders., Inventing a Socialist Nation. Heimat and the Politics of Everyday Life in the GDR, 1945–90, Cambridge 2009. 27  Vgl. Habbo Knoch (Hg.), Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945, Göttingen 2001.

28  Vgl. Dietmar von Reeken, »Das Land als Ganzes!«. Integration durch Heimatpolitik und Landesgeschichte in Niedersachsen nach 1945, in: Habbo Knoch (Hg.), Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945, Göttingen 2001, S. 99–116; Ulla-Britta Vollhardt, Staatliche Heimatpolitik und Heimatdiskurse in Bayern 1945–1970. Identitätsstiftung zwischen Tradition und Modernisierung, München 2008.

Atomisierung der deutschen Gesellschaft noch einmal radikalisiert.24 Die »Zusammenbruchsgesellschaft« (Christoph Kleßmann) musste im Wiederaufbau gerade durch lokale Nahbezüge neue Bindungen aufbauen und alte wiederbegründen. »Heimat« wurde dafür nicht zuletzt als ein ästhetischer Stil aktualisiert, der Belastungen und Rückständigkeit vor allem ländlicher Lebensformen hinter idealtypischen Landschaften verbarg. So griffen Bildbände auf völkische Chiffren der Vorkriegszeit zurück, die eine Ebenmäßigkeit von Menschen und Landschaft zum Ideal erhoben hatten.25 Auch die frühe DDR setzte gezielt auf »Heimat« als Integrationschiffre, versuchte aber, sie mit Fortschrittsikonen neu zu besetzen.26 In der frühen Bundesrepublik wurde, wie schon in den 1920er Jahren, die lokale »Heimat« durch ein übergeordnetes Regionalbewusstsein eingefasst.27 Neben den Heimatverbänden, in denen das lokale Heimatwesen translokal organisiert wurde, räumte die föderale Struktur der Bundesrepublik den Ländern eine wichtige Rolle ein. Die meisten von ihnen waren jedoch Neugründungen und deshalb auf eine geschichtspolitische »Erfindung« ihrer Traditionen angewiesen, die fortbestehende Regionalismen und Lokalismen mehr oder weniger gut integrierte oder überdeckte.28 So war das politische Provisorium der Bundesrepublik durch eine ausgesprochene »Provinzialisierung« ­gekennzeichnet.29 Diese erlaubte auf lokaler Ebene eine sinnstiftende Erinnerung an den vergangenen Krieg, blendete dort aber Herrschaft und Verbrechen des Nationalsozialismus aus. Das Selbstbild

29  Siehe Helmuth Plessner, Die Legende von den zwanziger Jahren (1961), in: Ders., Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie, Frankfurt a. M. 1974, S. 87–102, hier S. 102.

einer Opfergemeinschaft

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wurde lokal nicht zuletzt in unzähligen »Volkstrauertags«-Zeremonien zur kollektiven Ersatzheimat stilisiert.30 Der im verspäteten Nationsbildungsprozess begründete Heimatkult fand so als scheinbar ungestörte Identitätsressource wieder breiten Anklang. Die vermeintlich heilende Selbstverpuppung in der Provinz konnte dabei nur gelingen, weil die Einbindung der eigenen lokalen Gesellschaften in den Nationalsozialismus nicht zum Thema gemacht wurde: »Heimat« diente als vergangenheitspolitischer Schutzraum, der bis zum Ende des 20. Jahrhunderts verschlossen blieb. III. M  ODERNISIERTE HEIMAT: FLEXIBILISIERUNGEN IN DEN 1960ER JAHREN Aber es wäre falsch, der seit den 1960er Jahren wachsenden Kritik an der »Provinzialisierung« nach 1945 und der Skepsis gegenüber den vielen Heimatvereinen oder Vertriebenentreffen, auf denen die »verlorene Heimat« beschworen wurde, einfach zu folgen und eine ungebrochene, homogene Traditionsbildung anzunehmen. Gesellschaftliche und wissenschaftliche Modernisierungsprozesse, die politische Teilung und deren faktische Be-

30  Vgl. Habbo Knoch, Das mediale Gedächtnis der Heimat. Krieg und Verbrechen in den Erinnerungsräumen der Bundesrepublik, in: Ders. (Hg.), Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945, Göttingen 2001, S. 275–300; Jeffrey Luppes, The Commemorative Ceremonies of the Expellees: Tag der Heimat and Volkstrauertag, in: German Politics & Society, Jg. 30 (2012), H. 2, S. 1–20. 31  Hartmut Rosa, Heimat im Zeitalter der Globalisierung, in: der blaue reiter, H. 23 (2007), S. 13–18, hier S. 15; den Hinweis verdanke ich Lukas Doil (Köln).

kräftigung in den 1960er Jahren sowie ein Generationswechsel trugen dazu bei, das Verständnis von »Heimat« zunehmend zu pluralisieren: Es ging weniger allein um Abstammung oder Lokalismus, sondern vermehrt um das Verständnis der Bindekraft einer medialisierten und kulturalisierten Integrationsfigur in Zeiten beschleunigter Veränderungen – um die Suche nach neuen Heimaten in Zeiten einer »unerhörten Dynamisierung unserer Weltbeziehungen«31. Gerade die Nachkriegssoziologie wies in diese Richtung, indem sie versuchte, den antimodernen Heimatdiskurs, der primordiale Herkunftsbindungen beschwor, durch ein modernisiertes Verständnis zu ersetzen. Dieses verstand unter »Heimat« gerade die wechselseitige Verschränkung von Bindung und Mobilisierung.32 So fand sich in der Gemeindesoziologie von René König das Dorf bereits in den 1950er Jahren seiner provinziellen Idylle beraubt. Der Kölner Soziologe forderte deshalb, den Begriff »Heimat« von »sentimentalem Ballast« und »falschen geschichtspolitischen Vorstellungen« zu befreien.33 »Heimat« wurde nun auch als eine flexible und zu gestaltende Bindungsoption begriffen, die an allen Orten unabhängig von der Geburtsherkunft realisiert werden könne. Heiner Treinen sprach deshalb von ihr als nur noch »symbolischer Ortsbezogenheit«34. Zugleich eröffneten sich – nicht zuletzt durch Urlaubsreisen in den Süden35 – mit den für viele wachsenden Konsumoptionen neue Spielräume, Identitätsbezüge fern der lokalen Heimat zu entwickeln oder diese selbst »modern« zu gestalten.

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Heimat — Analyse

32  Vgl. Wilhelm Brepohl, Die Heimat als Beziehungsfeld. Entwurf einer soziologischen Theorie der Heimat, in: Soziale Welt, Jg. 4 (1952), H. 1, S. 12–22; Ders., Heimat und Heimatgesinnung als soziologische Begriffe und Wirklichkeiten, in: Kurt Rabl (Hg.), Das Recht auf Heimat, Flensburg 1954, S. 42–58. 33  René König, Der Begriff Heimat in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften (1958), in: Ders., Soziologische Orientierungen. Vorträge und Aufsätze, Köln 1965, S. 419–425, hier S. 419. 34  Heiner Treinen, Symbolische Ortsbezogenheit. Eine soziologische Untersuchung zum Heimatproblem, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 17 (1965), H. 1, S. 73–97 u. H. 2, S. 254–297. 35  Vgl. Till Manning, Die Italiengeneration. Stilbildung durch Massentourismus in den 1950er und 1960er Jahren, Göttingen 2011.

Dieses – nach dem primordial-traditionalen der Jahrhundertwende und dem politisch-partizipatorischen von Arendt – nunmehr dritte Verständnis von »Heimat« als Produktion sozialer Bindungen war mit dem dynamischen Nachkriegskapitalismus hoch kompatibel: Heimat war nun nicht mehr das Gegenbild zur Modernisierung, sondern geradezu eine Voraussetzung ihres Gelingens – letztlich lebt dies im Konzept der »Glokalisierung« bis heute fort.36 Im politischen Diskurs nahmen in diesen Jahren explizite Rekurse auf Heimat ab, je weniger realistisch und drängend die Frage einer »Wiedervereinigung« wurde, vor allem nach dem »Mauerbau« von 1961 und der »Neuen Ostpolitik« der Bundesrepublik. Stattdessen wandte sich die politische Rhetorik der Zukunftsplanung zu. An die Stelle von »Heimat« als Chiffre einer geopolitischen Revision und als Integrationssymbol der vielfältig gespaltenen Gesellschaft traten die Semantik und Symbolik des modernen Sozialstaats. In den Neubauwohnsiedlungen der Nachkriegszeit manifestierte sich im Verbund mit der prosperierenden Konsumgesellschaft das Konzept eines neuartigen Wohnens. 1957 warb die SPD im Wahlkampf mit dem Bild einer modernen Wohnanlage, deren Sandkasten die Botschaft »Besser wohnen, besser leben« unterstrich. Allerdings wurde das Gewerkschaftsunternehmen Neue Heimat schließlich zum Synonym für eine dichte Vorstadtbebauung, die ihren Charme in den folgenden Jahrzehnten immer mehr verlor; besonders sinnbildlich wurde dies im skandalösen Zusammenbruch der hoch verschuldeten Neuen Heimat in den 1980er Jahren. Begrifflich traten in diesen Jahren des expandierenden Sozialstaats »Stabilität«, »Gerechtigkeit« oder »Fortschritt« an die Stelle von »Heimat«. Nur noch Splittergruppen oder rechte Parteien setzten explizit auf diesen Begriff. IV. M ULTIPLE HEIMAT: PLURALISIERUNGSSCHÜBE DER 1970ER UND 1980ER JAHRE Modernisierung, Westbindung und Generationswechsel trugen seit den 1950er Jahren wesentlich dazu bei, das traditionalistisch-ideologische Heimatkonzept der frühen Nachkriegszeit kritisch zu sehen. Günter Grass durchbrach mit seiner »Blechtrommel« 1959 als einer der ersten die Trennung von 36  Zur Herausforderung postkolonialer Perspektiven für die Geschichtswissenschaft in diesem Zusammenhang vgl. Angelika Epple, New Global History and the Challenge of Subaltern Studies. Plea for a Global History from Below, in: The Journal of Localitology, Jg. 3 (2010), S. 161–179.

Heimat und Nationalsozialismus – und räumte mit dem Mythos auf, die »Heimat« Danzig sei erst von sowjetischen Truppen und nicht schon von den Nationalsozialisten zerstört worden. Langsam wurden zudem »ferne« Orte wie Auschwitz, Vietnam oder Biafra präsenter und gewannen an globalpolitischer Bedeutung im Zuge eines Humanitarismus, der die provinziellen Identitätskonstrukte der eigenen Nahräume infrage stellte. Aber vor allem in Habbo Knoch — »Heimat«

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der Provinz vereinten sich viele weiterhin hinter einem recht ungebrochenen Heimatkonzept: In kaum einer lokalen Chronik tauchte die NS-Zeit auf; und wer in den 1970er und 1980er Jahren nach den vergessenen Orten lokaler NS-Verbrechen suchte, sah sich als »Nestbeschmutzer« beschimpft. »Heimat« wurde dennoch in dieser Phase für viele zum Synonym für Rückständigkeit. »Volkstümlichkeit« und ihre Rituale galten zunehmend als Überreste einer vergangenen Zeit. Der wachsenden Kritik an Provinzialismus und »Heimattümelei« hielt Siegfried Lenz in seinem Roman »Heimatmuseum« 1978 entgegen, dass Heimat mehr sei als nur der Ort, an dem »die Toten liegen«, sondern ein »Winkel vielfältiger Geborgenheiten«.37 Die damit gemeinte Bedeutung identitätsprägender Nahräume belegte 1979 eine Emnid-­ Umfrage: 71 Prozent der Befragten verbanden mit »Heimat« ihren Geburtsort, ihr Elternhaus, ihre Kindheit, das eigene Zuhause, Freunde, Verwandte oder den Wohnort, aber lediglich 14 Prozent die Bundesrepublik und vier Prozent das jeweilige Bundesland.38 Zogen solche ernüchternden Befunde regionale und Länderkampagnen zur Identitätsbildung nach sich, gelangte ein weiteres Verständnis von »Heimat« mit den sozialen Protestbewegungen in die politische Arena: Für die Anti-Atomkraft- und die Umweltbewegung wurde der lokale Raum als zu schützende Lebenswelt zu einem wichtigen Bezugspunkt. Gerade die Betroffenen in jenen Regionen, die als AKW-Standorte vorgesehen waren, sollten gewonnen werden.39 Ohne den angestaubten und kontaminierten Begriff »Heimat« zu verwenden, gewann der eigene Nahraum als bewahrenswerte Zone wachsende Bedeutung. Er fand nun auch seinen Ort im politischen Diskurs: Zur Europa­wahl 1979 und zur Bundestagswahl 1983 traten die Grünen mit einer Kinderzeichnung an, die eine stilisierte »heile« Mitwelt mit einer Zukunftsverantwortung verknüpfte: »Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt.« Symbole wie die Sonnenblume illustrierten den Schutz der Umwelt als innovatives Politikziel, das mit einem nachhaltigen Lebensstil verbunden wurde. Dem ähnlich heilen Bildspektrum von »deutschem« Wald und ländlicher Idylle stand zugleich das Szenario ihrer katastrophalen Zerstörung mit dem Motiv des »Waldsterbens« gegenüber. Diese dichotome Bildsprache war bereits aus der Großstadtkritik des Kaiserreichs vertraut. Einerseits: Beschleunigung, Industrialisierung und permanente Transformation; andererseits: das Beschwören von Zerstörung, Verlust und Einsamkeit. Neben seinen politischen Konjunkturen wird »Heimat« immer wieder schubweise als Reparaturkonzept der modernen kapitalistisch-industriellen Ordnung aktualisiert, wenn sie als krisenhaft

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37  Siegfried Lenz, Heimatmuseum, München 1981, S. 120. 38  Abgedruckt in Franz-­ Dieter Freiling (Hg.), Heimat. Begriffsempfindungen heute, Königstein/Ts. 1981, S. 90–93. 39  Vgl. Johann Vollmer, Vom »Denkmal des mündigen Bürgers« zur Besetzungsromantik. Die Grenzen symbolischer Politik in der frühen Anti-AKWBewe­gung, in: Habbo Knoch (Hg.), Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren, Göttingen 2007, S. 271–293.

wahrgenommen wird. So vermittelten die Duisburg-»Tatorte« mit Götz George als unangepasstem Lokalhelden »Schimanski« in den 1980er Jahren inmitten der verfallenden Montanindustrie das Bild einer proletarischen »Ruhrpott«-Nostalgie. Sie ist ein gutes Beispiel für Regionalidentitäten, die umso mehr als Heimatkonzepte artikuliert und kommerzialisiert werden, je stärker sich ihre historischen Grundlagen verändern. Inzwischen sind viele der ehemaligen Zechen im Zuge einer langfristigen postindustriellen Konversion und Renaturierung als Kulturorte und Ausflugsziele auf grünen Routen durch das Ruhrgebiet erschlossen worden. Auch mit der Entagrarisierung ländlicher Lebenswelten wurde dort die Expansion des Tourismus zum staatlich geförderten Konversionsprojekt. Ganze Regionen leben seitdem (nicht schlecht) davon, das Gefühl einer scheinbar unvergänglichen »Heimat« zu vermitteln – weniger im Sinne primordialer Wurzeln, die sich in typisch »deutschen« Landschaften finden, denn als Antwort auf die stressbedingte Suche nach »authentischen« Wohlfühloasen außerhalb der Mechanismen des eigenen Alltagslebens. Zeitgleich setzte – parallel zum Geschichts- und Museumsboom der 1970er Jahre – eine erste Renaissance der »Heimat« ein. Bundespräsidenten wie Walter Scheel oder, vor allem, Karl Carstens machten sich zu Vorreitern des Heimatbewusstseins. Indem Carstens Anfang der 1980er Jahre die Republik wandernd erkundete, ließ er zugleich das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitverbreitete Ideal naturverbundener Jungmännerbünde wiederaufleben. Das radikalisierte Heimatideal des Nationalsozialismus wurde so in seiner vermeintlich unpolitischen Komponente in die politische Kultur der Bundesrepublik integriert. Gleich mehrere Bundesländer prononcierten erst jetzt ihre bereits zuvor umfänglichen landeshistorischen und heimatkulturellen Bemühungen mit der Einführung jährlicher »Heimattage«: Baden-­ Württemberg richtet ihn seit 1978 aus, Bayern begann im Jahr darauf, und seit 1981 findet der »Tag der Niedersachsen« statt. Darüber hinaus gewann die in den 1960er Jahren in der Soziologie begonnene wissenschaftliche Modernisierung des Konzepts »Heimat« nun auch in anderen Disziplinen an Kontur. Aus anthropologischer Sicht bestimmte Ina-Maria Greverus für die »Volkskunde« die Bedeutung von »Heimat« 1979 als »Territorialität«.40 »Heimat« betrachtete sie nicht mehr primär als organi40  Siehe Ina-Maria Greverus, Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen, Frankfurt a. M. 1972; Dies., Auf der Suche nach Heimat, München 1979.

sche und radikal anti-modernistische, überhistorische und kulturell exkludierende Kategorie, sondern – und damit etablierte sich eine vierte Begriffs­ dimension – als eine anthropologische Konstante und elementare menschliche Sozialisationserfahrung. Habbo Knoch — »Heimat«

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Viele Ethnologen, Psychologen und Pädagogen gehen seither davon aus, dass »Heimat« auf ein universales Bedürfnis des Menschen verweist, sich mit einem Ort, einer Landschaft oder einer Region zu identifizieren: kein »Mensch« ohne prägende »Heimat«-Erfahrungen. Eine solche initialisierende Identifizierung gewinnt mit zunehmender Lebenszeit an Bedeutung, weil und wenn ihr eine Ursprünglichkeit und Prägekraft für die eigene Biografie zugeschrieben wird. »Heimat«, so lässt sich seitdem auch analytisch besser fassen, fungiert als eine Art Speicher von Gefühlserinnerungen, die besonders bei Veränderungen mobilisiert werden können. »Heimat« ist demnach unausweichlich, aber keineswegs immer ein Vergnügen. So wird sie in Edgar Reitz’ gleichnamigem Fernsehdrama von 1984 zwar als unentrinnbares Schicksal inszeniert, das aber genau deswegen nicht mehr als Utopie romantisiert werden kann. Doch war und blieb die Bedeutung von »Heimat« als Synonym ethnischer Abgrenzung öffentlich hoch präsent. Gerade in den 1980er und 1990er Jahren wurde sie erneut politisch mobilisiert. Denn nun wurde die Frage virulent, wie viele Heimaten Menschen haben – und wie viele ihnen zugestanden wurden. Zum einen hatten die Anwerbeabkommen bis zu ihrem Ende 1973 insgesamt etwa 14 Millionen überwiegend europäische »Gastarbeiter« in die Bundesrepublik gebracht. Gut drei Millionen blieben, aber ihr rechtlicher Status war dafür unzureichend geklärt. Zum anderen nahm sowohl die Zahl der Asylbewerber als auch die der Aussiedler mit Schwankungen insgesamt deutlich zu, um schließlich Anfang der 1990er Jahre im Zuge der Zerfallskriege im ehemaligen Jugoslawien drastisch zu steigen. In den »Asyldebatten« dieser Jahre prallten unterschiedliche Konzepte von »Heimat« aufeinander: Hielten viele einerseits an einem exkludierenden Staatsbürgerrecht fest, das auf Blutsbindungen beruhte, wurde andererseits die moralische Pflicht betont, den »Gastarbeitern« ebenso wie den von Kriegen und Krisen Getriebenen nicht nur eine Zuflucht, sondern auch eine Heimat bieten zu müssen. Im politischen Raum versuchten zu dieser Zeit aber vor allem rechtsradikale Parteien, »Heimat« explizit als Leitbegriff zu besetzen. Zur Bundestagswahl 1990 plakatierte die NPD den Slogan »Unsere Heimat muß deutsch bleiben!«. Zur ausländerfeindlichen Gewalt Anfang der 1990er Jahre dürfte die gesamte Rhetorik der Ausgrenzung, die im Bild »Das Boot ist voll« konvergierte, wesentlich beigetragen haben: »Heimat« war als politischer Kampfbegriff wieder auf die Bühne der Politik zurückgekehrt. Seither diente er mit zunehmender Tendenz gerade rechtsextremistischen Gewaltbünden als Legitimationsressource.41

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41  Vgl. Wolfgang Benz, »Heimat« als Metapher im Diskurs der völkischen Rechten, in: Michael Kohlstruck u. a. (Hg.), Ausschluss und Feindschaft. Studien zu Antisemitismus und Rechtsextremismus, Berlin 2011, S. 124–134.

V. KONSUMIERTE HEIMAT: INSZENIERUNGEN DES ­AUTHENTISCHEN SEIT DEN 1990ER JAHREN Dennoch ist »Heimat« in den letzten Jahrzehnten zunehmend zur ökonomisierten Erlebnisressource geworden. Sie fungiert als temporäre und zeitweise Gegenwelt, hat aber ihre anti-modernistischen und völkischen Zuschreibungen weitgehend verloren. Das zeigt sich in einer verbreiteten selbstreflexiven Nutzung kulturalisierter Heimatcodes wie dem Tragen von Dirndl-Kleidern auf den »Oktoberfesten« in nicht-bayerischen Städten oder comicartigen Trachtenfiguren in Werbekampagnen für das Allgäu, die den Gegensatz zur Großstadt München betonen. Darin vermischen sich partiell noch gelebte Rituale vornehmlich ländlicher Regionen mit deren Inszenierung als Touristenschauspiel und verkaufsförderndem Authentizitätsmarker. Schon 1986 hat Hermann Bausinger deshalb von Heimat als »Kulisse« ge­sprochen: Sie sei auf einen »Satz von Fertigbauteilen« reduziert, die bloß »schöne Fassaden« ergäben.42 Bausinger sah in der Heimatwelle der 1970er Jahre eine Reaktion auf die forcierte Modernisierung der verbliebenen ländlichen Welt. Auch als deren Folge ist die Infrastruktur der Heimatkultur nach wie vor weitverbreitet: Vierzig Prozent aller deutschen Museen fallen in die Kategorie lokaler heimat-, stadt- oder volkskundlicher Museen. Die knapp 3.000 Einrichtungen dieser Art bilden die größte Kategorie unter allen Museen; allerdings haben sie im Schnitt die wenigsten Besucher. An Größe, Anspruch und Qualität verbirgt sich dahinter eine immense Bandbreite, die auch stellvertretend für verschiedene Grade reflexiver Heimatlichkeit und Identitätsbildung steht. Überregionale Heimatverbände verstehen sich gleichwohl weiterhin als letzte Bewahrungsinstanz von Brauchtum und lokaler oder regionaler Geschichtsidentität. Dabei spielt die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts so lange prägende Politisierung von Regionen, Ländern und Nation nur eine untergeordnete Rolle im heutigen Heimatverständnis: 2010 lagen bei der Bedeutung von »Heimat« die Begriffe »Familie«, »Vertrautheit«, »Geborgenheit« und »Geburtsort« mit weitem Abstand vor »Traditionen« oder »Deutschland«.43 42  Hermann Bausinger, Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problem­geschichte (1986), in: Will Cremer u. Ansgar Klein (Hg.), Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven, Bielefeld 1990, S. 76–90, hier S. 83.

»Heimat« hat also für die meisten mehr mit ihrem unmittelbaren persönlichen Umfeld als mit politischen Konzepten zu tun. Ikonische Verbindungen zwischen »Heimat« und mit ihr lange assoziierten kulturellen Praktiken verschwimmen. Heimat äußert sich in temporären Erlebnisgemeinschaften weniger bei Heino als in den Konzerten von Helene Fischer. Nur weniger als jeder fünfte Deutsche hört gern oder sehr gern Volks- oder Blasmusik;

43  Christina Berndt, Im Wohlfühl-Ort, in: Süddeutsche Zeitung, 30.12.2010.

zwei Drittel davon sind über fünfzig Jahre alt. Der Anteil dieser Sparte am Umsatz der Musikindustrie in Deutschland beträgt lediglich zwei Prozent. Habbo Knoch — »Heimat«

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Schützenvereine haben sich in Sportverbände verwandelt – auch wenn sie 2015 zum »immateriellen Kulturerbe« der Bundesrepublik erklärt wurden. Traditionelle Reiseregionen werben erfolgreich mit einem Heimatkonzept, das weitgehend ohne diesen Begriff auskommt und stattdessen den Wert einer »naturnahen« Alternative zum eigenen Zuhause betont. »Ökologisch« ist kein Schimpfwort mehr, »Hausmannskost« wurde als »regionale Küche« nobilitiert, deren Grundprodukte im »Hofladen« erworben werden können. Wandern gilt nicht mehr als altbackene Heimattümelei, sondern als spirituelle Lebenserweiterung. »Landlust«-Magazine verbreiten die Aura einer harmonischen Natur-Mensch-Beziehung. Auch scheint die pluralistische Gesellschaft der Postmoderne weitgehend ihren Frieden damit gemacht zu haben, dass Menschen eine besondere Verbundenheit mit ihrer Region, Landschaft oder Kultur durch Heimatcodes zum Ausdruck bringen: 88 Prozent der Deutschen sei der Begriff »wichtig« oder »sehr wichtig«, lediglich sieben Prozent verbinden mit ihm noch »Spießigkeit«.44 Ohnehin war schon in vielen Praktiken der sozialen Bewegungen der 1970er Jahre ein Bedürfnis nach sinnerfüllten Nahräumen und protomodernen Lebensstilen als alternativer »Wärmestrom« sehr präsent.45 Womöglich scheiterte das emanzipatorische Interesse der »68er« an einer Musikkultur, die von Folksongs bis Bob Marley mehr zum Träumen als zum Handeln animierte. VI. P  OLITISIERTE HEIMAT: ENTLEERUNGEN EINER POLITISCHEN ALTERNATIVE Das emotionale Versprechen heimatlicher Gefühle, die etwas als fremd und bedrohlich Wahrgenommenem entgegengesetzt werden, hat sich seit dem 19. Jahrhundert über eine immer wieder reaktivierbare und konsumierbare Semantik, Ikonografie und Infrastruktur tief in die deutsche Kultur eingegraben. Die gegenwärtige zweite Renaissance der »Heimat« – nach ihrem Abklingen als einem der prägenden Politikkonzepte der Nachkriegszeit und einer ersten Wiederkehr in den 1980er Jahren – verdankt sich der Verbindung aus

44  Berndt.

einer emotionalisierenden Renationalisierung und der Mobilisierung gesellschaftlicher Unzufriedenheiten, die oft unter Stichworten wie dem »flexiblen Menschen« oder der »flüchtigen Moderne« als Folgen der jüngsten »Globalisierung« und der damit verbundenen radikalen Freisetzung von Menschen aus vertrauten (Nah-)Bindungen betrachtet werden.46 Lag für die Erfindung von »Heimat« als politischem Konzept um 1900 eine Ursache im parallelen Aufstieg und im Gegeneinander von Nationalismus und Internationalismus, so scheint »Heimat« nun auch ein Jahrhundert später in ähnlicher Weise als Füllmittel für die vielen knirschenden Nahtstellen beim

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45  Vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, Berlin 2014. 46  Vgl. Richard Sennett, Der flexible Mensch, Berlin 1998; Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M. 2003. Dazu auch: Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005.

Aufeinandertreffen von forcierter »Globalität« und traditioneller Nationalität eingesetzt zu werden.47 So mischt Christian Schüle primordiale, anthropologische und soziale Elemente, um »Heimat« einer als kalt und hart bewerteten Globalisierung entgegenzustellen: »Ich spürte die Verwurzelung meines Körpers in einem bestimmten Boden, und der Kirchturmglockenklang korrespondiert mit einem Gefühl, das diebstahlsicher im Archiv des eigenen ICHs verwahrt ist.«48 Jeder Mensch brauche Heimat, aber – als habe es Han-

nah Arendts Plädoyer nicht gegeben – keinen Staat. So wird der Suche nach Konzepten für eine komplexe, postnationale soziale Ordnung letztlich eine konstruierte Dichotomie zwischen dem sicheren Ort der »Heimat« und ihrer Gegenspielerin, der »grausamen« Welt, zugrunde gelegt, die immer schon bestätigt, was sie selbst erst behauptet. Ähnlich verfährt der Grünen-Politiker Robert Habeck: Er möchte »wieder die Abkürzung zum Badesee« nehmen können – damit suggeriert er das Fehlen und verspricht die Wiederherstellung des Vertrauens in politisches Handeln.49 Dem legt Habeck ein dezidiert modernisierungsskeptisches Szenario zugrunde: Für Deutschland konstatiert er ebenso überraschend wie pauschal eine mangelhafte Infrastruktur, fehlende Sicherheit, unzureichende Wertschätzung der Lebensleistung, Verunsicherungen durch politische und technische Entwicklungen, eine instabile globalpolitische Ordnung sowie die Manipulierbarkeit der Privatsphäre. Habeck verbindet dieses Crescendo mit mehreren Zuschreibungen: Erstens wird »Heimat« hier zum Gegenpol aller Problemlagen der Welt und somit zur globalpolitischen Universalkategorie gemacht. Zweitens schließt er von seiner Metapher eines Kindheitserlebnisses auf eine kollektive »Tiefenströmung einer Gesellschaft«. Drittens nutzt Habeck das Konzept, um den Wahlerfolg der AfD 2017 als Ausdruck eines »Gefühls der Heimatlosigkeit« zu erklären. Doch den Begriff »Heimat« politisch zu besetzen, indem man 47  Vgl. Ulrich Beck u. a. (Hg.), Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a. M. 1996.

ihn scheinbar erklärend verwendet, stellt überhaupt erst einen Bezug der genannten Phänomene zu dessen Bedeutungswelt her. Auf diese Weise stiften Habeck und andere die Redeformen für Phäno-

48  Christian Schüle, Heimat – ein Phantomschmerz, München 2018, S. 12 f. 49  Siehe Robert Habeck, »So ist ein Heimatministerium lächerlicher Bullshit«. Interview von Jonas Schaible, in: t-online.de, 25.03.2018, URL: https://www.torial.com/jonas. schaible/portfolio/378873 [eingesehen am 08.01.2019].

mene, die sich auch ohne den Begriff erklären ließen. Weitere Protagonisten des Konzepts »Heimat«, wie etwa Horst Seehofer, kapitalisieren stärker als er dessen essentialisierende Bedeutungselemente (auch wenn Fotografien am Wattenmeer hier eine gewollte Uneindeutigkeit vermitteln). Seehofer hat sich in einem längeren Zeitungsbeitrag zwar zunächst offen gegenüber einem modernisierten Heimatbegriff gezeigt, der die Relationen von Menschen als Grundlage der modernen Gesellschaft betont, ist dann aber auf halber Strecke umgekehrt. Der »Entgrenzung aller Lebensverhältnisse« stellt er die Habbo Knoch — »Heimat«

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Notwendigkeit gegenüber, »Heimat« im »Zusammenleben« der Verschiedenen durch eine »Abwägung und Priorisierung von Werten« wiederherzustellen – Werte, die Seehofer letztlich nur im »christlichen Abendland« begründet sieht.50 Auch Winfried Kretschmann bemüht in seinem Plädoyer für eine »neue Idee des Konservativen« modernisierungsskeptische Dichotomien, spricht von mangelnder Orientierung und »losen Enden«. Dieser Zustand könne seiner Auffassung nach nur durch die Besinnung auf zivilisatorisch gewonnene Werte zur Stärkung der »guten Mitte« überwunden werden.51 Historisch wurzeln Habeck, Seehofer und Kretschmann in der Modernisierungskritik um 1900, die eine der wesentlichen Ursachen für die Politisierung von »Heimat« war. Kaum jedoch ist bei Habeck von »Heimat« als Fähigkeit flexibler Anpassung und Stiftung neuer Beziehungen die Rede; nicht wirklich ernst gemeint ist die Rede von »Relationen« bei Seehofer, wenn dann doch die Nation als wertebestimmter Heimatraum essentialisiert wird. Dabei wäre gerade im Zeichen komplexer werdender Gesellschaftsordnungen der Ansatz zu stärken, dass Menschen durch ihre Beziehungen erst »Entitäten« hervorbringen – und nicht umgekehrt.52 So wird »Heimat« im gegenwärtigen deutschen Diskurs – trotz seiner durchaus vorhandenen Potenziale und »Chancen als Vermittlung« (Bausinger)53 – wieder zur Wohlfühlvokabel gegen Globalisierung, Technokratie und Bürokratie erhoben und dient als Begründung für eine Politik, die Exklusion und Einheit durch die Schaffung ministerieller Infrastrukturen anstrebt. Der aktuelle Rekurs auf »Heimat« greift dabei wieder auf ein dichotomes Grundkonzept zurück, wie es sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert hat. Mit ihm ging es immer um Verteidigung, nie um Gestaltung, immer um Abgrenzung, nie um Integration, immer um Gefühle, nie um Argumente. Vielleicht muss jeder politische Rekurs auf »Heimat« zu diesem Verlust an Pluralitätsbereitschaft verleiten – oder aber er offenbart eine viel tiefere, wenngleich utopische und rhythmisch wiederkehrende Sehnsucht nach einer weniger komplexen Welt, die das 20. Jahrhundert so grundlegend und zu oft zum Negativen geprägt hat.

Prof. Dr. Habbo Knoch, geb. 1969, lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität zu Köln und war von 2008 bis 2014 Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten.

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50  Horst Seehofer, Warum Heimatverlust die Menschen so umtreibt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.04.2018. 51  Siehe Winfried ­ retsch­mann, Worauf wir uns K verlassen wollen. Für eine neue Idee des K ­ onservativen, Frankfurt a. M. 2018. 52  Siehe Angelika Epple, Horst Seehofer kriegt die Kurve, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.2018; den Hinweis verdanke ich Benjamin Möckel (Köln). 53  Bausinger, S. 88.

DER WALD IM ­ZEITALTER ­SEINER MEDIALEN ­REPRO­DUZIERBARKEIT WENN MAN VOR LAUTER WÄLDERN DEN BAUM NICHT MEHR ERKENNT ΞΞ Frank Uekötter

Wäre dieser Aufsatz ein Film, dann würde er vermutlich mit Joseph von Eichendorff beginnen. Dessen Gedicht »Der Jäger Abschied« schmückt jeden audiovisuellen Beitrag über den Deutschen und seinen Wald. Schon der Anfang macht Stimmung: »Wer hat Dich, du schöner Wald, Aufgebaut so hoch da droben?« Mit der Melodie von Felix Mendelssohn Bartholdy und einem ordentlichen Männerchor erhält das Gedicht eine ganz eigene Prägnanz. Das spart dem gemeinen Medienmenschen eine Menge Erklärungen. Wer will da noch bezweifeln, dass die Deutschen ihren Wald ganz besonders lieben? Außerdem kann man so als Regisseur noch ein wenig Männlichkeit heraushängen lassen, ohne dass gleich ein Termin bei der Gender-Beauftragten droht. Männerchöre sind eines der letzten maskulinen Refugien, für die noch niemand eine Quote gefordert hat. Das Gruseln gehört dabei fest zum Programm. Spätestens wenn Eichendorff von Gelöbnissen im finsteren Wald redet und vom »Deutsch Panier, das rauschend wallt«, kommt ausreichend Stoff für ein zünftiges Germanistik-­ Seminar zusammen. Schnell ist dann jener Punkt erreicht, an den eigentlich jede Heimat-Debatte früher oder später gelangt. Schwingt da nicht etwas mit, was da nicht mitschwingen sollte? Wird da nicht ein unschuldiges Stück Natur nationalisiert, maskulinisiert, martialisiert, zum Schaden eines relevanten Teils der menschlichen Gemeinschaft? Die Antwort steht von vornherein fest: Natürlich ist der deutsche Wald nationalisiert. Das sagt ja schon der Name. Das Dumme ist nur, dass sich bei dieser intellektuellen Übung ziemlich wenig von dem verstehen lässt, was den Wald in Deutschland ausmacht. In Deutschland gibt es nämlich nicht nur einen Wald im Kopf, sondern auch einen ganz realen Wald, der in einschlägigen heimatkritischen Debatten meist nur als eine grüne Staffage vorkommt. Es ist höchste Zeit, im heimatlichen Wald nicht nur eine unschuldig nationalisierte Masse von Holz und Blättern zu sehen. Bei dieser Horizonterweiterung lernt man nicht nur etwas über

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deutsche Bäume, sondern merkt auch plötzlich, wie unsäglich verkrampft das Reden über Heimat in Deutschland doch ist. Die Diskussion braucht dringend ein wenig frische Luft, und wo gäbe es mehr davon als in einem ordentlichen Hochwald? Dabei wurde der mal zu ganz anderen Zwecken erfunden. DER BENUTZTE WALD Bäume gab es auf der Erde, lange bevor die primatenartigen Vorfahren des Menschen auf ebendiesen herumturnten. Den Wald musste hingegen der moderne Mensch erfinden. Er tat dies mit den klaren Grenzen, die moderne Gesellschaften so lieben. Fortan gab es eine klare Linie, die den Forst fein säuberlich von der landwirtschaftlichen Nutzfläche trennte, und jede Grenzüberschreitung wurde penibel moniert. Nie wieder Waldweide, lautete das Credo der deutschen Forstwirtschaft. Dabei hatten sich die Schweine unter Eichenbäumen prima mästen lassen, und die Beeren und Pilze bildeten eine wertvolle Ergänzung des Speisezettels. Aber das brachte eben kein Geld für die Besitzer von Grund und Boden, sehr im Unterschied zu hohen, geraden Nadelbäumen. Wer in Deutschland über Nachhaltigkeit schreibt, kommt nicht leicht um einen Kotau vor der deutschen Forstwirtschaftslehre und ihren Heldenfiguren herum. Dabei hat die Geschichtswissenschaft deren Mythologie längst umfassend demontiert. Den Förstern und ihren Landesherren ging es in erster Linie um Geld und Macht. Bergwerke und Salinen waren Schlüsselindustrien der Frühen Neuzeit und brauchten jede Menge Holz. Das wiederum gab es nur, wenn andere Nutzungen zurückgedrängt und alles auf maximale Holzproduktion ausgerichtet wurde. Später suchte der vormoderne Staat dann auch die übrigen Wälder unter seine Kontrolle zu bringen. Holz sollte fortan nicht mehr nach Bedarf aus dem nächstgelegenen Waldstück organisiert, sondern auf dem Markt für Geld gekauft werden. Das lief freilich nicht ohne Konflikte ab. Vor den Gerichten stapelten sich die Akten über »Forstfrevel« – ein Massendelikt im Übergang zur Moderne, nicht unähnlich dem Falschparken von heute: Es war nicht nett und nicht schön, aber manchmal ging es halt nicht anders. Es war ein Großprojekt der sozialen Disziplinierung und ein wichtiger Schritt in der Konstruktion staatlicher Autorität – zum ersten Mal lernte der Bürger, was staatliche Macht auf der ganzen Fläche eines Territoriums bedeutete. Fortan galt, das Auge des Gesetzes überall zu wähnen und zu fürchten und nicht mehr nur dort, wo die Staatsgewalt besonders augenfällig war wie etwa bei Hofe. Dies ließ sich trefflich kritisieren. Der junge Karl Marx tat es als Redakteur der Rheinischen Zeitung und handelte sich dadurch seinen ersten Konflikt mit

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der preußischen Zensur ein. Seine Kommentare über das neue preußische Holzdiebstahlsgesetz waren in den Amtsstuben des Vormärz durchaus nicht willkommen.1 Konflikte mit preußischen Behörden begleiteten Marx auf seinem weiteren Lebensweg, aber der Streit um den Holzdiebstahl blieb ihm auch im Londoner Exil in lebhafter Erinnerung. Er sprach davon noch 1859 im berühmten Vorwort zur »Kritik der politischen Ökonomie« – das allerdings aus anderen Gründen berühmt wurde. Im Zuge der forstwirtschaftlichen Nutzung veränderte sich der Wald. Seine Grenzen waren seither klar markiert, und es wuchs vor allem der Hochwald – denn der brachte in aller Regel das meiste Geld. Zur Erschließung brauchte es auch ordentliche Transportwege, von denen heute viele als Wanderwege ausgeschildert sind. Das freut das Herz des Wanderers aus der Stadt, jedenfalls sofern er nicht auf eine Lichtung kommt, die einem Kahlschlag geschuldet ist. Auch ein bewirtschafteter Wald kann eine Freude sein, aber beim Roden hört der Spaß auf. Die Forstwirte hatten unterdessen andere Probleme. Zum Rüstzeug des akademisch geschulten Forstbeamten gehörten feste Taxationsregeln, mit denen die Bewirtschaftung auf Generationen hinaus festgelegt wurde. Dummerweise änderten sich die Formen der Nachfrage, und das nicht zu knapp: So mancher Nadelbaum, einst im Zeitalter der Holzöfen gepflanzt, fand sich am Ende der Wertschöpfungskette als Ikea-Bücherregal wieder. Die deutsche Nachhaltigkeit verhinderte auch nicht, dass das spätere Deutsche Reich in den 1860er Jahren zum Nettoimporteur von Waldressourcen wurde. Der Holzhunger der Deutschen fraß sich schon im 19. Jahrhundert beständig gen Osten und Norden ins europäische Ausland vor.2 Roden war nicht schön, aber andere Formen der Waldnutzung hatten noch größere Akzeptanzdefizite. Die Jagd war ein ewiger Streitpunkt, sei es 1 

Dazu Peter Linebaugh, Karl Marx, the Theft of Wood, and Working-Class Composition: A Contribution to the Current Debate, in: Social Justice, Jg. 40 (2014), H. 1–2, S. 137–161.

2  Vgl. Christian Lotz, Opening up untouched woodlands. Forestry experts reflecting on and driving the timber frontier in Northern Europe (1880–1914), in: Gordon M. Winder u. Andreas Dix (Hg.), Trading Environments. Frontiers, Commercial Knowledge and Environmental Transformation, 1820–1990, New York 2016, S. 69–82.

als Herrschaftskritik oder einfach wegen Bambi. In Deutschland verschwand die Jagdwaffe als Utensil der Macht erst mit Franz Josef Strauß und den Geronten der SED; in Großbritannien rebellierte 2003 gar das Oberhaus, als Tony Blair die Fuchsjagd verbieten wollte. In den USA dürfen Männer hingegen noch weiter ballern, gelegentlichen Kollateralschäden zum Trotz – ­Vizepräsident Dick Cheney schoss 2006 einem Jagdkumpanen eine Ladung Schrot ins Gesicht. Dabei gibt es ökologisch gute Gründe für die Jagd. Rehwild, das an jungen Bäumen knabbert, ist Gift für die natürliche Erneuerung des Waldes. Es ist ein ewiges Dilemma der Waldwirtschaft: Was gut aussieht, ist noch lange nicht gut für den Wald. Der gemeine Bundesbürger kennt seinen Wald nun einmal in erster Linie vom Sehen. Aber Wälder sind kompliziert, und ihre Frank Uekötter  —  Der Wald im ­Z eitalter ­s einer medialen R ­ epro­d uzierbarkeit

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Nutzung ist das erst recht. Da kann es passieren, dass vor lauter Wäldern die Bäume nicht mehr sichtbar sind. DER BEDROHTE WALD Stell Dir vor, Du stehst im Wald und es regnet. Dieser Horror berührte den Forstwissenschaftler Karl Escherich so sehr, dass er die Abscheu noch in seinen Lebenserinnerungen in Worte zu fassen suchte. Allerdings war es kein ordinäres Wasser, das da in einem Wald bei Tharandt vom Himmel fiel. Es waren die Ausscheidungen der Nonne, ein Nachtfalter und laut Escherich »der schlimmste Feind unserer Fichtenwälder«, der sich da am Grün der Koniferen gütlich tat. Und wer munter futterte, der musste sich eben irgendwann erleichtern. Das klang bei Escherich dann so: »Der Kot rieselt ununterbrochen herab, den Boden mit einer dichten Schicht bedeckend. Mehrere Jahre dauert diese Massenvermehrung an, bis auf einmal wieder alles still geworden ist. Große Flächen völlig kahler Baumleichen zeugen von dem Nonnenspuk, der hier getobt und die Arbeit von vielen Jahrzehnten mit einem mal zunichte gemacht hat.«3 Die Insektenplage hing eng mit dem Trend zu Reinkulturen zusammen, der die deutschen Wälder im 19. Jahrhundert prägte. Schadinsekten sind zumeist auf bestimmte Baumarten spezialisiert; und wenn diese hektarweise einträchtig nebeneinanderstehen, entwickelt sich ein Befall leicht zur Katastrophe. Als Vater der angewandten Entomologie in Deutschland widmete Escherich sein wissenschaftliches Leben der Suche nach Gegenmitteln; und nach seiner Emeritierung konstatierte er stolz, dass »wir heute die meisten unserer gefürchteten Grossschädlinge fest in der Hand haben«4. Einer wichtigen Methode, der »Flugzeugbestäubung gegen Forstschädlinge«, widmete Escherich ein eigenes Buch, in welchem die »Arsenbestäubung mittels Flugzeug«

3  Karl Escherich, Leben und Forschen. Kampf um eine Wissenschaft, Stuttgart 1949, S. 115.

als »eine sehr aussichtsreiche Methode« firmierte.5 Und doch erschienen ihm solche Lösungen gegen Ende seiner akademischen Karriere ein wenig halbherzig. Wäre es nicht besser, mehr Vielfalt in die Wälder zu bringen und so die Insektenprobleme der Reinkulturen gar nicht erst aufkommen zu lassen? Escherich war 1935 Rektor der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, und seine Rektoratsrede ein Plädoyer für den Dauerwald: »Je vielseitiger die Lebensgemeinschaft eines Waldes ist, das heißt je ungleichartiger die das Bevölkerungssystem zusammensetzenden Organismen sind, desto größer ist die Fähigkeit der Selbstregulierung, desto gesicherter ist seine Existenz.«6 Das war schon eine seltsame Volte: Über viele Jahre hatte Escherich nach Mitteln gesucht, Reinkulturen vor Insekten zu schützen – und dann wollte er plötzlich einen ganz anderen Wald. Freilich blieb der Dauerwald ein

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Heimat — Analyse

4  Universitätsarchiv der LMU München Y-XVI-14, Karl Escherich, Stellungnahme zur Besetzung forstzoologischer Professuren, München, 2. Januar 1939, S. 2. 5  Karl Escherich, Die Flugzeugbestäubung gegen Forstschädlinge, Berlin 1929, S. 45. 6  Karl Escherich, Biologisches Gleichgewicht. Eine zweite Münchener Rektoratsrede über die Erziehung zum politischen Menschen, München 1935, S. 16.

Minderheitenprojekt, und die Probleme reiner Nadelwaldbestände blieben der deutschen Forstwirtschaft erhalten. Sie spielten bspw. eine wesentliche Rolle im Streit um das Waldsterben in den 1980er Jahren. Damals kämpfte die deutsche Forstwirtschaft nicht nur um den Wald, sondern auch gegen die Kritik an ihrer Bestockungspraxis. Darüber sollte gar nicht erst geredet werden: »Forstwirtschaftliche Maßnahmen kommen zur Bekämpfung der Waldschäden nicht in Betracht«7, erklärte die Arbeitsgemeinschaft deutscher Waldbesitzerverbände in einem Rundbrief an ihre Mitglieder im September 1983. Erstaunlicherweise kamen die Forstwirte damit durch. Der Volkszorn konzentrierte sich in erster Linie auf den sauren Regen, für den vor allem die Betreiber von Kohlekraftwerken verantwortlich gemacht wurden, und der bedrohte Wald blieb bei aller Erregung merkwürdig eindimensional. Er starb als Ganzes, ohne nennenswerte Unterschiede etwa zwischen Nadelund Laubbäumen, einheitlich und unerbittlich. Für Biologen ist der Wald das komplexeste Landökosystem überhaupt, aber davon war im Diskurs über das Waldsterben nicht viel zu spüren. Den Wald einmal gründlich zu beschauen, das war selbst jenen Journalisten fremd, die sich näher mit der Thematik befassten. Der Medienwissenschaftler Rudi Holzberger stellte in einer eingehenden Untersuchung der Waldsterbenspublizistik fest, dass von 92 untersuchten Berichten nur vier eine Recherche im real existierenden Wald erkennen ließen.8 Mit guten Gründen kritisierte Holzberger die Klischeehaftigkeit der da7 

Bundesarchiv B 102/285339, Arbeitsgemeinschaft deutscher Waldbesitzerverbände e. V. an alle Waldbesitzer, im September 1983, S. 7.

maligen Berichterstattung. Auch andere Stimmen beeindruckten nicht gerade durch einen nuancierten Blick auf den bedrohten Wald. Carl Amery schrieb in einem der schrilleren Debattenbeiträge, das Waldsterben sei »der untrügliche Versuch […] des Lebewesens Erde, sich durch eine gewaltige Operation

8  Siehe Rudi Holzberger, Das sogenannte Waldsterben. Zur Karriere eines Klischees: Das Thema Wald im journalistischen Diskurs, Bergatreute 1995, S. 68. 9  Carl Amery, Das Zeichen an der Wand, in: Arbeitskreis Chemische Industrie u. Katalyse-Umweltgruppe Köln (Hg.), Das Waldsterben. Ursachen, Folgen, Gegenmaßnahmen, Köln 1984, S. 11–13, hier S. 13. 10 

Siehe Hans-Joachim Fietkau u. a., Waldsterben. Urteilsgewohnheiten und Kommunikationsprozesse – Ein Erfahrungsbericht, Berlin 1986, S. 8 u. S. 11.

einer mißlungenen Spezies zu entledigen.«9 Aber vielleicht war das alles nur möglich, weil sich eine solide urbanisierte Gesellschaft längst einen klaren Blick auf den realen Wald abgewöhnt hatte? Die Kluft zwischen Waldsterbensklischees und persönlicher Erfahrung mit dem Wald ließ sich jedenfalls bis in die Meinungsumfragen verfolgen. 1986 äußerte in einer einschlägigen Studie eine solide Mehrheit der Befragten, dass es im Jahr 2000 in Deutschland wohl keinen Wald mehr geben werde – aber zugleich erklärten zwei Drittel, selbst noch keine Schäden beobachtet zu haben.10 Das Waldsterben gilt seit den 1980er Jahren als der endgültige Beweis, dass die Deutschen ihren Wald inbrünstig lieben. Aber was macht der Deutsche wirklich »aus Liebe zum Wald«? Unter diesem Motto gab es 2004 ein Volksbegehren gegen eine Forstreform, mit welcher der Waldbesitz des Freistaats Bayern auf maximalen Profit getrimmt werden sollte. Das Volksbegehren Frank Uekötter  —  Der Wald im ­Z eitalter ­s einer medialen R ­ epro­d uzierbarkeit

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scheiterte, weil nur 9,3 Prozent der Wahlberechtigten ihre Unterstützung per Unterschrift dokumentierten. Fünf Jahre später gab es ein Volksbegehren zum Nichtraucherschutz, das auf 13,9 Prozent kam.11 Dabei ist kaum etwas wichtiger für die Zukunft des Waldes als die Frage, welche Institution mit welchen Aufgaben und welcher Mittelausstattung für ihn verantwortlich ist. Geht es um den Wald, wird es schnell kompliziert. Der deutsche Wald ist heute bedroht durch Luftschadstoffe, Flächenfraß, die globale Erwärmung, invasive Arten und profitgierige Waldbesitzer, aber eben auch durch eine Öffentlichkeit, die das alles schrecklich kompliziert findet. Das muss nicht heißen, dass der gemeine Deutsche seinen Wald nicht liebt; man kann auch lieben, was man gar nicht so richtig kennt. Aber vielleicht handelt die eigentliche Geschichte doch eher davon, wie sehr diese Obsession an den wirklichen Problemen des Waldes vorbeigeht. Escherich war 1935 übrigens nicht zufällig Rektor. Er war ein Nazi der ersten Stunde, der Hitlers Reden bis zum Putsch 1923 begeistert zuhörte. Das hat er auch später nicht wirklich geleugnet. Als ihn die Münchener Universität im Herbst 1946 fristlos entließ, beschrieb er seine politische Haltung wie folgt: »Seit 1925 war ich gegen die nationalsozialistische Richtung eingestellt.«12 Seine Rektoratsrede war allerdings auch eine Absage an Münchener Nazis, die nach der Machtergreifung auf dem Parteiticket Karriere machen wollten und deshalb einen »Umbruch der Wissenschaft« forderten: Wissenschaft sei »stets von einem notwendig konservativen Zug beherrscht«.13 Escherichs tiefe Liebe zum Dauerwald fand unterdessen ihre Grenze, als sein Lehrstuhl neu besetzt werden sollte. Da war ihm das klare Profil des Spezialisten plötzlich wichtiger als ein breiter praxisorientierter Horizont. Berufen wurde dann ein Mann, »der unter Escherich sehr erfolgreich gearbeitet hat und sich auch in München habilitierte«14. Karrieren sind nicht immer eindeutig, und das gilt

11  Siehe Bayrisches Landesamt für Statistik, Volksbegehren und Volksentscheide, URL: https://www.wahlen.bayern. de/vb-ve/index.php [eingesehen am 20.12.2018]. 12  Universitätsarchiv der LMU München E-II-1257, Schreiben von Professor Dr. K. Escherich, 27. November 1946, S. 5.

auch für die Aussagen von Wissenschaftlern und den Wald als solchen. Und doch scheint es dort, wo es um den deutschen Wald geht, ein tiefes Verlangen nach Eindeutigkeit zu geben. Aber Eindeutigkeit gibt es beim Wald eben nur dann, wenn in Klischees gedacht wird. DER EINGEDEUTSCHTE WALD Der deutsche Wald wurde genutzt, und er war bedroht, aber er war auch deutsch. Wer sich auf die Suche nach einschlägigen Zitaten begibt, bekommt mühelos ein Buch voll. Johannes Zechner hat es jüngst veröffentlicht. Da beginnt das Malheur schon bei den alten Römern, wird dann mit den Befreiungskriegen ernst und kulminiert im Nationalsozialismus. Danach war erst mal Ruhe, aber ist dem wirklich zu trauen? Das Moos ist fruchtbar noch.15

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Heimat — Analyse

13  Escherich, Biologisches Gleichgewicht, S. 10. 14  Universitätsarchiv der LMU München Y-XVI-14, Der Dekan der staatswirtschaftlichen Fakultät der Universität München an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus über den Rektor der Universität München, 21. November 1938, S. 2. 15  Siehe Johannes Zechner, Der deutsche Wald. Eine Ideengeschichte 1800–1945, Darmstadt 2016.

Aber verflixt: Manchmal wollte es mit der Germanisierung des Waldes einfach nicht klappen. Da machten zum Beispiel die Nazis einen Film, der die Deutschen als Waldvolk feierte. »Ewiger Wald« hieß der Streifen. Gedreht wurde mit großem Aufwand, und mit völkischer Rhetorik wurde nicht gespart, aber ein Publikumserfolg wurde das Werk nicht. Auch der eine ­K inozuschauer, auf den es im NS-Staat besonders ankam, reagierte anders als erwartet. Der »Führer« kam, sah und war verärgert. Der Wald sei ein Rückzugsort für schwache Völker, ließ Hitler verlauten. So landete der Versuch, einen nationalsozialistischen Kultfilm über den Wald zu drehen, erst einmal bei der Zensur.16 Es ist nicht das einzige Problem der Zechner’schen Ideologiekritik. Hat der Autor nicht gemerkt, dass sein Versuch einer ideologischen Entgiftung einem urgermanischen Impuls folgt? Da paart sich deutsche Gründlichkeit mit der ideenhistorischen Obsession eines Landes, dessen Philosophen einmal den Deutschen Idealismus erfanden. Natürlich klänge Eichendorff gefälliger, wenn er sich die Sache mit dem »Deutsch Panier« geschenkt hätte; aber braucht es denn stets porentiefe ideologische Sauberkeit? Der reale Wald war jedenfalls nie völlig in Ordnung, auch nicht in den Hochzeiten der deutschen Forstwirtschaftslehre. Man hat sich das nur eingeredet. 16  Zu diesem Film ausführlich Ulrich Linse, Der Film »Ewiger Wald« – oder: Die Überwindung der Zeit durch den Raum. Eine filmische Umsetzung von Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts«, in: Ulrich Herrmann u. Ulrich Nassen (Hg.), Formative Ästhetik im Nationalsozialismus. Intentionen, Medien und Praxisformen totalitärer ästhetischer Herrschaft und Beherrschung, Zeitschrift für Pädagogik, 31. Beiheft, Weinheim 1993, S. 57–75.

Friedrich Engels schrieb bekanntlich über Marx, dieser habe Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt. Die Metapher funktioniert beim Wald leider nicht so gut, denn ein entwurzelter Baum stirbt unvermeidlich ab; und doch scheint geboten, im Reden über den Wald und die Heimat einen ähnlichen Wechsel der Blickrichtung zu vollziehen. Es ist ein weiter Weg vom Waldbewusstsein zum ökologischen Verständnis und von dort zu einer Waldwirtschaft, die nicht nur auf schnellen Profit schielt. Und die Distanz wird noch einmal ein Stück größer, wenn man gar nicht erst zur Kenntnis nimmt, dass es diesen Weg überhaupt gibt.

PD Dr. Frank Uekötter, geb. 1970, war Mitbegründer des Rachel Carson Center für Umwelt und Gesellschaft in München und lehrt seit September 2013 geisteswissenschaftliche Umweltforschung an der University of Birmingham. Sein Buch »Deutschland in Grün. Eine zwiespältige Erfolgsgeschichte« erschien 2015 im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.

Frank Uekötter  —  Der Wald im ­Z eitalter ­s einer medialen R ­ epro­d uzierbarkeit

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DIE DDR ALS HEIMAT GESCHICHTE EINER DESILLUSIONIERUNG ΞΞ Arthur Schlegelmilch Ein Blick auf die deutsche Geschichte macht deutlich, dass es einen eindeutigen und stabilen Heimatbegriff niemals gegeben hat. So folgten der »Seelenheimat« der Romantik deren nationalpolitische Aufladung durch den Liberalismus bzw. die – vor allem gegen die politische Arbeiterbewegung gerichtete – Machtstaatspropaganda von »Heimat und Vaterland« zu Kaisers Zeiten. Einen dramatischen Einschnitt und Wendepunkt stellte wiederum die Gleichsetzung von Heimat und rassisch-biologischer Volksgemeinschaft durch das NS-Regime dar, dem wiederum die eskapistische »Heimattümelei« der Adenauerzeit als nur scheinbar unpolitisches Gegenmodell auf dem Fuß folgte. Demgegenüber propagierte die DDR ein Heimatkonzept, das nicht nur eine moralisch überlegene Form des Zusammenlebens vorsah, sondern auch das Ideal einer vollständig intakten Kulturlandschaft verkörperte. »Erst der Sozialismus in der DDR bringt ein neues, schöpferisches und wahrhaft menschliches Heimatbewusstsein hervor«, formulierte im Jahr 1962 Karl Czok, einer der Vordenker und Begründer der sogenannten marxistischen Regionalgeschichte.1 HEIMATKONZEPTE Dem Wirken Czoks und einiger führender Kulturbundfunktionäre wie Karl Kneschke oder Erik Hühns war es zu verdanken, dass der sozialistische Heimatbegriff im Laufe der 1960er Jahre geschärft und auf eine breitere gesellschaftliche Basis gestellt werden konnte. Hatte man sich anfangs noch ganz auf die Förderung einer proletarischen Volks- und Heimatkultur im Zeichen des »Aufbaus des Sozialismus« konzentriert und die Aktivitäten der traditionellen Natur- und Heimatfreunde allenfalls als Übergangsphänomen angesehen, kam mit der sich nun durchsetzenden Unterscheidung zwischen »kleiner« (»engerer«) und »großer« (»weiterer«) Heimat eine Kompromissformel zur Anwendung, die den Handlungsspielraum der Akteure auf lokaler und regionaler Ebene spürbar vergrößerte und das angestrebte Zusammenwachsen von alter und neuer Heimatliebe auf einen – nicht näher bestimmbaren – späteren Zeitpunkt verlagerte.2 In etwa zur gleichen Zeit, Ende Januar 1960, äußerte Kurt Hager im Rahmen eines Vortrages an der Leipziger Karl-Marx-Universität die Auffassung,

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1  Zit. nach Tilo Prase u. Judith Kretzschmar, Propagandist und Heimatfilmer. Die Dokumentarfilme des Karl-Eduard von Schnitzler, Leipzig 2003, S. 98. 2  Vgl. Jan Palmowski, Die Erfindung der sozialistischen Nation. Heimat und Politik im DDR-Alltag, Berlin 2016, S. 79 f.

dass in der DDR bereits gelungen sei, die »objektiven Grundlagen des Gegensatzes zwischen Individuum und Gemein­schaft« aufzuheben.3 Hagers Referat erwies sich im weiteren Verlauf als Ausgangspunkt einer großen Gemeinschaftskampagne, die unter dem Leitmotiv der »sozialistischen Menschen­gemeinschaft« vor allem in den letzten Jahren der »Ära Ulbricht« Fahrt aufnahm und im Rahmen der Entstehung der neuen DDR-Verfassung vom 9. April 1968 eine wichtige Rolle spielen sollte. Laut Artikel 18 der »­U lbricht-Verfassung« sollte die »sozialistische Menschengemeinschaft« das Hauptziel künftiger Kulturarbeit bilden.4 Nach Ulbrichts erzwungenem Rücktritt im Jahr 1971 verschwand nicht nur der Menschengemein­schaftstopos aus der Öffentlichkeit,5 auch stellten 3  Zit. nach Neues Deutschland vom 30.01.1960, S. 4; ähnlich: Berliner Zeitung vom 28.01.1960, S. 3. Zum damaligen Zeitpunkt war Hager Mitglied und Sekretär des Zentralkomitees der SED mit dem Aufgabengebiet Wissenschaft, Volksbildung, Kultur; seit 1959 war er Kandidat des Politbüros des ZK der SED, ab 1963 Mitglied und Leiter der Ideologischen Kommission des Politbüros. 4  Vgl. dazu ausführlich Arthur Schlegelmilch, Die DDR als »sozialistische (Menschen-) Gemeinschaft«. Aufstieg und Transformation eines Narrativs, in: Wolfgang Kruse (Hg.), Andere Modernen. Beiträge zu einer Historisierung des Moderne-Begriffs, Bielefeld 2015, S. 259–280. 5  In der revidierten Verfassung von 1974 wurde der Begriff der »sozialistischen Menschengemeinschaft« durch »sozialistische Gesellschaft« ersetzt. 6  Vgl. Palmowski, S. 133, S. 149 u. S. 163. 7  Zum Folgenden vgl. die etwas umfassenderen ­Ausführungen: Arthur Schlegelmilch, »Sozia­ listischer Patriotismus«, in: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Jg. 27 (2016), H. 1–2, S. 61–77.

sich Änderungen im Verhältnis zwischen »großer« und »kleiner« Heimat ein. An die Stelle eines in absehbarer Zukunft zu erwartenden Überganges zur klassenlosen Gesellschaft trat der »real existierende Sozialismus« als Dauerzustand. Als Konsequenz verminderte sich der Druck auf die Heimat­a ktivitäten an der Basis, denen keine explizit sozialistische Begründung mehr abverlangt wurde. Mit der Erweiterung und Differenzierung des Geschichtsverständnisses der DDR im Rahmen der Diskussion um »Tradition und Erbe« ergab sich darüber hinaus die Möglichkeit, den Bereich der regional- und heimatgeschichtlichen Forschung zu vertiefen und weiter auszubauen. Damit einher ging die stärkere Beachtung, ja sogar Förderung von Brauchtum und Folklore im regionalen und lokalen Kontext, die für das Heimatverständnis weiter Teile der DDR-Bevölkerung zunehmend prägend wurde. Demgegenüber geriet die Dimension der »großen« Heimat immer mehr zur Fassade.6 DESILLUSIONIERUNGEN Man kann in dem Prozess zunehmenden Substanzverlustes des sozialistischen Heimatkonzeptes zugunsten subjektiver und individueller Positionsbestimmungen einerseits in gewisser Weise einen Akt bürgerschaftlicher Emanzipation auf dem langen Weg zur »friedlichen Revolution« von 1989 erblicken. Andererseits verbanden sich damit auch Phänomene des Eskapismus und der Nischengesellschaft, die das SED-Regime – ungewollt – stabilisierten. Für diejenigen, die an die sozialistische Idee und die DDR glaubten oder zumindest einmal geglaubt hatten, war es in jedem Fall eine enttäuschende Entwicklung.7 Eine der Ersten, die sich mit der Frage der Beheimatung im Sozialismus auseinandersetzten, war die Schriftstellerin Brigitte Reimann. Sie hatte sich mit ihrem Roman »Ankunft im Alltag« aus dem Jahr 1961 schon früh einen Arthur Schlegelmilch  —  Die DDR als Heimat

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Namen gemacht und die sogenannte Ankunftsliteratur als literarische Strömung begründet. Der »Bitterfelder Weg« führte die 27-Jährige 1960 nach Hoyerswerda, einer neuen Stadt für die Arbeiter des Kombinats »Schwarze Pumpe«, die komplett in Plattenbauweise errichtet und nach Eisenhüttenstadt/ Stalinstadt auch als »zweite sozialistische Stadt« bezeichnet wurde.8 Reimann wähnte sich zunächst am Ausgangspunkt einer neuen Zivilisation, gelegentlich sprach sie vom »Paradies« und von der »Sonnenstadt«. Bald aber stellte sie kritische Nachfragen, wie denn eine sozialistische Heimstätte geschaffen werden könne, wenn auf Kultureinrichtungen kein Wert gelegt werde, und 8  Vgl. Helene Schmidt u. Martin Schmidt, Brigitte Reimann und die DDR. Schriftstellerin in Hoyers­werda zwischen Hoffnung und Resignation, in: Martin Schmidt (Hg.), Sammeln – Erforschen – Bewahren. Zur Geschichte und Kultur der Oberlausitz. Ernst-Heinz Lemper zum 75.  Ge­burtstag, Hoyers­werda 1999, S. 434–459. 9  Vgl. Margrid Bircken, Architektur und Literatur in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, Neubrandenburg 2005, S. 204.

wie Sozialismus entstehen solle, wenn für Ästhetik, Kommunikation und bürgerschaftliches Engagement keine ausreichenden Grundlagen bestünden. Die fehlende Intimität der Plattenstadt brachte sie auf die Frage: »Kann man in Hoyerswerda küssen?«, die sie – zusätzlich provokant und unkonventionell – erstmals in einer Sitzung des Präsidiums der Nationalen Front der DDR im Februar 1963 vortrug.9 Die Lausitzer Rundschau griff das Thema auf und regte damit eine öffentliche Debatte an, in der sich die Befürworter einer vor allem auf Wohnkomfort gerichteten Stadtplanung und deren Kritiker relativ offen gegenüberstanden. Bald schon ging der SED der offene Charakter der Volksaussprache zu weit. Das veröffentlichte Meinungsbild richtete sich nun immer stärker gegen die Schriftstellerin, die zu hören bekam, dass die Einwohner Hoyerswerdas »in ihrer kargen Freizeit glücklich in dieser Stadt« seien und dass es ihr of-

10  Alex Lampa [Leserzuschrift], in: Die neue Stadt, Lausitzer Rundschau, 03.09.1963, zit. nach Maria Brosig, »Es ist ein Experiment«. Traditionsbildung in der DDR-Literatur anhand von Brigitte Reimanns Roman »Franziska Linkerhand«, Würzburg 2010, S. 270. 11  Brosig, S. 267.

fenbar darum gehe, »Unzufriedenheit« zu schüren, statt an den »ökonomischen Gesetzen des Sozialismus« zu arbeiten.10 Mit einer öffentlichen Veranstaltung wurde die Debatte geschlossen. Brigitte Reimann nahm an ihr nur noch schweigend teil und entzog sich damit zumindest der Demütigung durch Selbstkritik – was in der Lausitzer Rundschau vorwurfsvoll vermerkt wurde, verbunden mit der zynischen Empfehlung, die Schriftstellerin solle doch aus den empfangenen »Lehrstunden in sozialistischer Demokratie«11 für ihre künftige Arbeit die richtigen Schlüsse ziehen. Gemeint war damit

12  Stefan Haas, »Wir bauen Wohnungen«: Bürgerbeteiligung in der DDR am Beispiel der Wohnungsbaupolitik in den 1950er Jahren, in: Thomas Großbölting (Hg.), Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2009, S. 250–268, hier S. 265.

wohl die Einsicht, dass öffentliche Diskurse nicht als Meinungsaustausch,

13  Brigitte Reimann, Ich bedaure nichts: Tagebücher 1955–1963, Berlin, 1997, S. 357 ff.

von den Räumlichkeiten, die für Begegnungen geschaffen werden«13. Das ein

sondern als »symbolische Praxis« unter Beachtung der Führungsrolle der SED abzuhalten waren.12

Brigitte Reimanns Antwort bestand in der Abfassung eines großen Roman-­ Manuskripts zur Frage der Beheimatung unter den Bedingungen sozialistischen Städtebaus. In ihrem Tagebuch notiert sie dazu, dass es ihr um Antworten auf die Frage gehe, »wie weit ein sozialistisches Leben abhängig ist Jahr nach Reimanns frühem Tod im Jahr 1973 unter dem Titel »Franziska Arthur Schlegelmilch  —  Die DDR als Heimat

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Linkerhand« veröffentlichte Buch genoss in der DDR schon bald Kultstatus und führte in gewisser Weise den 1963 abgewürgten Diskurs auf anderer Ebene fort. Die offizielle Literaturkritik begegnete Reimanns Kritik freilich durch willentliche Fehldeutung. So wurde ihre vernichtende Analyse des sozialistischen Städtebaus zu einem historischen Problem der Ulbricht-Ära erklärt, das man mittlerweile hinter sich gelassen habe.14 Christa Wolf trauerte der sozialistischen Heimatidee zeitlebens nach. Zwar habe sie nach eigenem Bekunden schon frühzeitig – nach den Ereignissen der Jahre 1965 und 197615 – erkannt, dass sich »Paradieshoffnung« und real existierender Sozialismus ausschlossen, andernorts aber nichts Besseres zu finden vermocht (»Kein Ort. Nirgends«16) und deshalb an der DDR als Heimstatt festgehalten.17 Als sie sich 1981 zeitweilig ganz nach Mecklenburg zurückgezogen hatte, verband sie die Schönheiten der Natur mit einem Gefühl des Scheiterns: »So darf man eigentlich heutzutage nicht leben. So leben wir allerdings auch nur, weil wir jede Hoffnung auf Veränderung in diesem Land aufgegeben haben […].«18 Ihr letzter großer Roman »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«, der in Los Angeles, unweit Pacific Palisades, dem Fluchtort Thomas Manns und Lion Feuchtwangers, entstand, liest sich schließlich wie ein autobiografischer Exilroman – verstärkt noch durch die unfairen Anfeindungen, denen sich die Autorin in den 1990er Jahren ausgesetzt sah.19 Nach dem Willen der SED sollte sich das Zusammenwachsen von »kleiner« und »großer« Heimat vor allem am Arbeitsplatz bzw. auf betrieblicher Ebene vollziehen. Während der »bürgerlichen Heimatideologie« vorgeworfen wurde, zwecks Verschleierung des Ausbeutungsverhältnisses »von der

14  Vgl. Brosig, S. 21 ff.; ferner: Ed Taverne, »Eine Stadt ohne Zäune«. Neustadt/­Hoyerswerda. Eine architektur-historische Betrachtung zu »Franziska Linkerhand« (1974/1998), in: Margrid Bircken (Hg.), Architektur und Literatur in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, Neubrandenburg 2005, S. 169–187, hier S. 178. 15  1965 waren mit dem XI. Plenum des ZK der SED sämtliche Versuche diskreditiert und abgebrochen worden, die auf eine kulturpolitische Öffnung, Demokratisierung und Reform des SED-Regimes hinwirkten. Gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann im November 1976 hatte Christa Wolf wie viele andere vergeblich protestiert. 16  So der Titel ihrer Erzählung von 1979. 17  Siehe Volker Hage u. Susanne Beyer, SpiegelGespräch mit Christa Wolf, in: Der Spiegel, 14.06.2010. 18  Christa Wolf, Ein Tag im Jahr. 1960–2000, Berlin 2014 (Eintrag vom 27.09.1981).

Produktionssphäre zu abstrahieren«, würde im Volkseigenen Betrieb »wesentlich bestimmt [werden], was wir Heimat nennen«.20 Damit befand man sich zwar im Einklang mit der marxistischen Theorie, setzte allerdings die

19  Vgl. Christa Wolf, Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, Berlin 2010.

sozialistische Heimatidee der Gefahr aus, auf die »kontinuierliche Erfüllung und gezielte Übererfüllung des Planes« einschließlich der sich für die Umwelt daraus ergebenden Kosten reduziert zu werden.21 Für jedermann offensichtlich war dies in den Industrie-, Braunkohle- und Uranabbaurevieren der DDR der Fall. Von einem harmonischen Ineinandergreifen von engerer und

weiterer Heimat konnte hier mitnichten die Rede sein. Die Frage der Vereinbarkeit von Natur und Industrie stellte für die bildenden Künstler der DDR eine spezifische Herausforderung dar. So für die Landschaftsmalerei, die nach anfänglicher Zurückhaltung in den 1950er Jahren damit begann, sich der Beziehung zwischen Mensch und Natur im Prozess des sozialistischen Aufbaus zuzuwenden. Als wegweisend galt zunächst

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Heimat — Analyse

20  Siehe Walter Wimmer, Sozialistische Heimat – Errungenschaft und Aufgabe, in: Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (Hg.), Der Bürger und seine Heimatstadt, Berlin (Ost) 1979, S. 119–127, hier S. 123. 21  Vgl. Irene Pirschel, Nation, Klasse und Kultur. Landschaft in den Heimatkonzeptionen der frühen DDR, in: Heimat und Naturschutz. Die Vilmer Thesen und ihre Kritiker, Bonn 2007, S. 319–352, hier S. 335.

Walter Womackas Gemälde »Blick auf Stalinstadt«22 aus dem Jahr 1958, das die geforderte Harmonie zwischen Natur-, Kultur- und Industrielandschaft herstellte und auch vom Publikum positiv aufgenommen wurde.23 Womackas Darstellung entsprach zum Zeitpunkt ihrer Präsentation jedoch schon nicht 22  Bild abrufbar unter URL: https://www.moz.de/landkreise/ oder-spree/eisenhuettenstadt/ artikel0/dg/0/1/1006385/ [eingesehen am 08.01.2019]. 23  Vgl. Bernd Lindner, Verstellter, offener Blick. Eine Rezeptionsgeschichte bildender Kunst im Osten Deutschlands 1945–1998, Köln 1998, S. 127 f. 24  Vgl. Anja Hertel, Wolfgang Mattheuer. Die politische Landschaft, Marburg 2014, S. 72 ff.; vgl. auch Käthe Walter, Steinkohle­werk (1962), in: Manuela Bonnke, Kunst in Produktion. Bildende Kunst und volkseigene Wirtschaft in der SBZ/DDR, Köln 2007, Abb. 16. 25  Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag der SED, 15.06.1971, zit. nach Hertel, S. 79. 26  Bild abrufbar unter URL: http://www.deutschlandfunk. de/wider-die-klischeesvon-der-einheitskunst.691. de.html?dram:article_id=224733 [eingesehen am 08.01.2019].

mehr der Ende der 1950er Jahre stark intensivierten und im Rahmen des »Neuen Ökonomischen Systems« nochmals gesteigerten Industriepolitik der DDR. Von den Kunstschaffenden wurde nun die positive Vermittlung der sich

vollziehenden »wissenschaftlich-technischen Revolution« und der mit ihr einhergehenden industriellen und agrarischen Produktionserfolge erwartet. Für romantische Anklänge an vergangene Lebens- und Arbeitsformen war kein Platz mehr vorgesehen. Werke wie zum Beispiel »EK Bitterfeld« von Walter Dötsch (1959) zeigten die einzuschlagende Richtung an.24 Nach dem Ende der Ulbricht-Ära wurde zwar wieder differenzierter zur Suche nach »neuen Formen in der bejahenden Gestaltung des Großen und Schönen unserer Zeit und der kritischen Darstellung auch ihrer zu überwindenden Widersprüche« aufgefordert;25 doch wagten nur Außenseiter, prinzipielle Nachfragen zu formulieren. Einer von ihnen war der Leipziger Maler Wolfgang Mattheuer, der den größeren Spielraum nutzte, den die bildende im Vergleich zur schreibenden Kunst grundsätzlich genoss, und zudem von der internationalen Reputation der »Leipziger Schule« profitierte. Obwohl es Mattheuer 1975 und 1984 u. a. zum zweifachen Nationalpreisträger der DDR brachte, bekam er hin und wieder zu spüren, wo die Grenzen seines kritischen Schaffens lagen. Dies war zum Beispiel der Fall bei seinem 1974 geschaffenen sarkastischen Bild »Freundlicher Besuch im Braunkohlerevier«26, das eine Besuchergruppe in zerstörter Landschaft zeigt, deren wahre Empfindungen hinter grinsenden Maskengesichtern verborgen bleiben. Die »Zensur« bestand darin, dass das »Diskussionsbild« von der offiziellen Kri-

27  Zum DDR-spezifischen Genre des »Diskussionsbildes« und zur unpolitischen Wahrnehmung Mattheuers vgl. die Rezension zu Heinz Schönemann, Wolfgang Mattheuer [Leipzig 1988], in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.01.1989; vgl. auch die konkreten, auf die Problematik der Umweltzerstörung nicht näher eingehenden Ausführungen zum Bild in: Heinz Schönemann, Wolfgang Mattheuer, Leipzig 1988, S. 64.

tik nicht als solches angenommen und damit die Chance eines produktiven Diskurses – auch über die Heimatfrage im vollindustrialisierten Sozialismus – vergeben wurde.27 Mattheuers Kunstverständnis zielte dagegen genau auf eine solche Problematisierung; »Heimatkunst« lehnte er hingegen ab: »Heimatkunst (oder Kunstprovinzialismus) ist eine bodenständige Kunst, die die Welt ausschließt oder in der Heimat nicht die Welt vermutet«28, notierte er dazu am 20. Mai 1975. Große Teile der ostdeutschen Bevölkerung zeigten sich erstaunlich lange bereit, die Folgen der naturverschlingenden Industriepolitik der SED zu ertragen und den damit verbundenen Verlust an »kleiner Heimat« schweigend

28  Wolfgang Mattheuer, Äußerungen. Texte. Grafik, Leipzig 1990, S. 63.

hinzunehmen. Wie Mattheuers »Freundlicher Besuch im Braunkohle­revier« anzeigt, ist gleichwohl anzunehmen, dass das Verhältnis zwischen großer Arthur Schlegelmilch  —  Die DDR als Heimat

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und kleiner Heimat mancherorts schon lange vor dem Ende der DDR ruiniert war und sich dieser Zustand im Laufe der 1980er Jahre zuspitzte. Eine öffentliche Diskussion über das Problem wurde freilich nach wie vor verweigert. Wer dennoch wagte, auf Missstände und Umweltzerstörungen öffentlich aufmerksam zu machen, riskierte, zum Objekt geheimdienstlicher Aktivitäten zu werden.29 BÜRGERSCHAFTLICHES LEBEN IM ÜBERWACHUNGSSTAAT Werfen wir abschließend nochmals einen Blick auf Hoyerswerda. Ungeachtet der einen oder anderen architektonischen und planerischen Nachbesserung entwickelte sich der Ort zu der befürchteten Schlafstadt der Arbeiterfamilien. Allerdings entstanden im Schatten der Wohnkomplexe einige freundschaftliche und vereinsartige Zusammenschlüsse besonderer Intensität. Im Hoyerswerda der ausgehenden 1960er Jahre war dies vor allem der »Freundeskreis der Literatur«, der sich zunächst in privaten Wohnungen zusammenfand und dann als »Kunstverein Hoyerswerda« in den örtlichen Kulturbund einbezogen wurde. Der »Freundeskreis« sah sich von Beginn an der Überwachung und versuchten Beeinflussung durch die Staatssicherheit »im Sinne der Politik von Partei und Regierung« ausgesetzt. Das dennoch ungebrochene Engagement und der gesellschaftspolitische Impuls, der vom »Freundeskreis« ausging, sind in dem Film »Eine Stadt wird gebor’n wie ein Kind« ( DDR 1976) trefflich dokumentiert – in enger Verbundenheit mit Brigitte Reimann lautet seine Botschaft, dass nur dort Heimat entstehen kann, wo bürgerschaftliches Leben möglich ist.30 Existenz und Wirkung des »Freundeskreises« verweisen darauf, dass ein bürgerschaftlich getragenes Heimatgefühl in der DDR grundsätzlich entstehen und dauerhaft kultiviert werden konnte. Allerdings sorgten die »Mitwirkung« des MfS sowie die institutionelle Einbindung in den Kulturbund dafür, dass die gesellschaftlichen Folgen derartiger Zusammenschlüsse begrenzt blieben, zum Teil wohl auch auf ein Nischendasein reduziert wurden und heute oftmals kaum noch bekannt sind. Sie aufzufinden und unseren historischen Erzählungen über das Leben in der DDR hinzuzufügen, stellt eine Forschungsaufgabe dar.

Prof. Dr. Arthur Schlegelmilch, geb. 1958, ist Historiker an der FernUniversität in Hagen und Leiter des dortigen Instituts für Geschichte und Biographie. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählt die biografische und erfahrungsgeschichtliche DDR-Forschung.

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29  Vgl. Palmowski, S. 223 ff. 30  Die Anfänge, Hintergründe und Intentionen des »Freundes­ kreises« können nachgelesen werden unter URL: http://www. kunstverein-hoyerswerda.de/ ueber-uns.html [eingesehen am 08.01.2019]; vgl. ferner Schmidt u. Schmidt, S. 453 ff.

DIE HEIMATLOSEN GESELLEN DER AFD WARUM DIE KLIMALEUGNER NICHT GUT FÜR UNSER LAND SIND ΞΞ Fritz Reusswig / Claus Leggewie

So viel Heimat war nie. Jahrelang eher der Welt des »Musikantenstadl« zugehörig, kehrt Heimat in die Politik zurück. Vielen ist dabei nicht wohl – kein Wunder, bedenkt man, wer da im politischen Raum nach Heimat ruft. »Dein Land. Deine Heimat. Hol sie Dir zurück« – so ein AfD-Wahlkampfslogan im Jahr 2017. Alexander Gauland konnte am Wahlabend erstmals liefern: »Wir holen uns unser Land zurück!« Und jagen wollte er die »Altparteien«. Aber zum Jagen tragen lassen wollte sich zumindest die CSU nicht, weshalb Horst Seehofer auch prompt »Heimatminister« wurde. Damit es nicht zu jenem Heimatmuseum verkommt, mit dem Seehofer es gleich zu Anfang in einem Versprecher verwechselte, nimmt sich das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat ( BMI) unter der Überschrift »Heimat & Integration« in vielfältiger Weise der Aufgabe an, das gemeinschaftliche Miteinander und die Integration von Zugezogenen zu stärken. Auch Grüne und Linke diskutieren über Heimat, was ihnen nicht leicht fällt. Denn in diesem Teil des politischen Spektrums tut man sich traditionell schwer mit einem Begriff, der in der deutschen Geschichte durch nationalistische Ideologien, national­ sozialistische Propaganda und Neonazi-Parolen einigen Schaden angerichtet hat. Ist Heimat also ein unheilbar »›konnotativ verseuchtes‹ Phänomen«1? DIE WIEDERKEHR DER HEIMAT Wir glauben: Nein! Heimat gehört nicht denen, die diesen Schriftzug in Fraktur auf ihre schwarzen Bomberjacken gehäkelt haben, um sich auf die Jagd nach »Asylanten« zu machen. Der konnotative Gehalt von Heimat und ihr politisches Potenzial gehen nicht auf in ihrem Missbrauch durch rechte und rechtspopulistische Gruppierungen. Als Vermittlungsgröße zwischen Individuum und Welt bezeichnet »Heimat« zum einen die Unverfügbarkeit des eigenen Herkommens – dessen Deutung freilich immer neu zu leisten ist, 1  Karin Waldher, Wo die Heimat ist. Zur Konstruktion und Rekonstruktion von Heimat, Klagenfurt 2012, S. 223.

weshalb Geschichte nicht in jeder Hinsicht vergangen ist. Zum anderen gibt Heimat das Geborgenheitsversprechen räumlich-sozialer Nähe. Durch diese beiden Momente der Unverfügbarkeit wohnt dem Heimatbegriff eine Art

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struktureller Konservatismus inne, aber auch ein regionaler oder nationaler Bias. Mit beidem hat sich die politische Linke als Anwältin universalistischer Fortschrittsgestaltung immer schwer getan. Allerdings darf man daran erinnern, dass auch der Begriff der Natur dieses Element des Vorgefundenen und Unverfügbaren aufweist, dem aus Sicht der ökologischen Linken zumindest dennoch die normative Kraft einer regulativen Idee innewohnt. Das bereitet den Raum für unsere Behauptung, die da lautet: Heimat ist eben kein durchweg konservativer Begriff. Denn er bezeichnet ja nicht allein die Herkunft, sondern auch die gegenwärtige und die zukünftige Umwelt des Individuums: die aktuelle (Wahl-) Heimat genauso wie die Wunsch-­ Heimat. Letztere muss nicht auf Mallorca liegen, sie kann auch meine jetzige oder meine Kindheitsheimat sein – wichtig ist, dass sie so gestaltet ist, dass ich mich auch zu Hause fühlen kann. Ernst Bloch oder Theodor W. Adorno haben diesen utopischen Charakter von Heimat stets betont – nicht zufällig wurde er von politischen Randfiguren und Exilanten viel intensiver und auch schmerzlicher erspürt als von den Anderen. Damit wären wir schon fast bei der aktuellen Debatte: Diese krankt daran, dass genau diese utopische Dimension von Heimat nicht recht gesehen wird. Unterbelichtet bleibt damit auch die politische Gestaltbarkeit von Heimat – mithin auch ihr genuin ­demokratisches Potenzial. Denn es sind »wir«, die »unsere« Heimat gestalten – und dadurch darüber entscheiden, ob sie lebenswert und zukunfts­fähig ist oder nicht – und für wen. Bislang haben wir so getan, als wäre die AfD die Sachwalterin von Heimat im neueren politischen Diskurs und auch die treibende Kraft dabei. Aber diese Ad-hoc-Vermutung hält einer genaueren Prüfung nicht stand. Denn auch die AfD ist hier eher Getriebene, ihr politischer Erfolg mehr Symptom einer Krisenerfahrung denn Ursache für den neuen Heimatdiskurs. Wer schon etwas

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älter ist, wird sich übrigens erinnern, dass wir bereits in den 1980er Jahren eine Wiederkehr von Heimat erleben durften – allerdings eher kulturell als politisch konnotiert; man verfolge die Debatten um die 1984 erstmals ausgestrahlte TV-Serie »Heimat« des Filmemachers Edgar Reitz. Ganz generell gesagt: Heimat hat immer dann Konjunktur, wenn der »Fortschritt« nicht mehr hält, was er verspricht, oder gar negative Folgen hat. Dies gilt heute wieder: Wir müssen erkennen, dass die vielgepriesene Digitalisierung auch ihre Nachteile hat, dem Kommerz und dem allseits einsichtigen gläsernen Bürger Vorschub leistet. Wir müssen erkennen, dass die im Geist des Neoliberalismus betriebene Globalisierung ihren Preis hat, weil sie den Fritz Reusswig / Claus Leggewie  —  Die heimatlosen Gesellen der AfD

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Wettbewerb verschärft, spekulative Blasen bildet und die Reichen reicher macht, ohne den Mittel- und Unterschichten eine als fair angesehene Dividende zukommen zu lassen. Und wir müssen erkennen, dass die nicht mehr bipolare Welt nach Ende des Kalten Krieges nicht einfacher, sondern viel komplizierter und auch widersprüchlicher geworden ist – mit politischen Pirouetten, die man als absurd belächeln könnte, wären sie nicht so blutiger Ernst. In einer solchen Krisensituation ist der Ruf nach Heimat am Indifferenzpunkt der Suche nach der guten alten heilen Welt und nach zukunftsfähigen alternativen Politikmodellen angesiedelt – und genau das macht das politische Zwielicht aus, das ihn umgibt. Vieles von dem, was uns als Zukunft angeboten wird, entstammt der Hexenküche Ewiggestriger und wird uns ins politische Verderben führen. Umgekehrt kann sich so mancher radikal-utopische Vorschlag ins simple Erinnern an die politische Emphase der 1970er Jahre kleiden. Die Lage ist also etwas unübersichtlich, aber sie sollte uns nicht irre machen. HEIMATDISKURSE DER DEUTSCHEN PARTEIEN Ein wenig Aufklärung kann uns der Blick ins Parteiprogramm der AfD bieten. Denn es ist ein Mythos, dass diese Partei die »Heimatpartei« schlechthin sei. Fast das Gegenteil ist der Fall – vor allem dann, wenn wir uns die verschiedenen Facetten des Heimatbegriffs in Erinnerung rufen. Im Grundsatzprogramm der AfD kommt »Heimat« insgesamt acht Mal vor: sieben Mal davon als »Heimat der Geflüchteten« – also entweder als die Herkunfts­region der nach Deutschland Geflüchteten, in die sie möglichst wieder zurückkehren sollten, oder als die neue Heimat dieser Menschen, an die sie sich anpassen müssten, wenn sie denn partout bleiben sollten.2 Die achte Erwähnung von »Heimat« im AfD-Grundsatzprogramm zielt etwas unspezifisch auf die Heimatbindung, die von der staatlichen Förderung von Wohneigentum ausgeht – eine unerhebliche Begriffsverwendung. Im 190-seitigen Grundsatzprogramm der Grünen aus dem Jahr 2002 kommt der Begriff »Heimat« überhaupt nicht vor – auch, bis vor Kurzem, nicht auf der Homepage der Partei. Das grüne Wahlprogramm von 2017 dagegen kennt 13 Nennungen von Heimat, meistens – wie bei der AfD – als Heimat der Geflüchteten. Allerdings politisch natürlich mit einer genau spiegelbildlichen Verwendung: Die Grünen wollen den Geflüchteten in Deutschland eine neue Heimat geben, betonen die Vorteile des Multikulturalismus und sprechen sich quasi als Integrationsbeauftragte der Nation vehement gegen die Ausgrenzungen des rechtspopulistischen Diskurses aus. Der neuere Heimatdiskurs ist den Grünen also von der AfD aufgezwungen worden – was auch erklärt, warum eine positive Verwendung von »Heimat«

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2  Vgl. Fritz Reusswig, Heimat und politische Parteien, in: Martina Hülz u. a. (Hg.), Heimat. Ein vielfältiges Konstrukt, Wiesbaden 2019 (im Erscheinen).

auf Abwehr in der Partei stößt. Es stimmt zwar: »Heimat« geht weit über das Migrations- und Fluchtthema hinaus, umfasst regionale Identitäten, Landschaft, Natur, Natur- und Umweltschutz, regionale Ökonomie, gleichwertige Lebensverhältnisse im ländlichen Raum usw. – alles wichtige Themen, die man grünerseits besetzen könnte. Aber wie der Blick ins Grundsatzprogramm – in Worten: null mal »Heimat« – zeigt, haben die Grünen bisher versäumt, diese Themen mit dem Heimatbegriff zu verknüpfen und dadurch »grün« aufzuladen. Auch die politischen Anliegen von SPD, LINKEN und FDP können – zumindest auf Basis ihrer bisherigen Grundsatzprogramme und der Wahlprogramme 2017 – weitgehend ohne Rekurs auf den Heimatbegriff verständlich gemacht werden. Lediglich CDU und, vor allem, CSU nutzen den Begriff »Heimat« in ihrer Programmatik nicht nur intensiver als die AfD, sondern vor allem thematisch breiter – bei der CSU naturgemäß regional, bei der CDU national konnotiert. Die CSU hat im Wahlkampf 2017 die Verwendung von Heimat sogar noch intensiviert, während die CDU den Begriff etwas zurückgefahren hat. Darin – vor allem aber in der inhaltlichen Verwendungsweise – kommt eine gewisse Hinwendung zum verengten und ausgrenzenden Heimatbegriff der AfD zum Ausdruck, der sich aus der politischen Strategie erklärt, die rechte Flanke »aufzufangen« und der AfD nicht das rechte Wählerspektrum zu überlassen. Der Preis, den die CSU dafür zahlt, ist allerdings hoch: Sie engt ihren Heimatbegriff ein und übernimmt tendenziell das Ausgrenzungsnarrativ der AfD. KLIMASCHUTZ IST HEIMATSCHUTZ Wenn wir hier ein Plädoyer für die positive Verwendung von Heimat im politischen Diskurs abgeben, dann meint das genau nicht eine solche Übernahme von enger Semantik und ausgrenzender Funktion wie bei der AfD. Wir behaupten sogar: Die AfD ist gar keine »Heimat-Partei«, im Gegenteil: Sie ist ein Hort der Heimatlosen. Wie das? Um diese etwas gewöhnungsbedürftige These zu erläutern, möchten wir auf ein Phänomen hinweisen, das bisher noch gar nicht zur Sprache gekommen ist: den Klimawandel. Unsere These in diesem Zusammenhang lautet: Die AfD ist der heimatlose Gesell des deutschen Parteiensystems, weil sie den anthropogenen Klimawandel leugnet. Dass sie das tut, liegt offen zutage: Es steht im Parteiprogramm, Alexander Gauland – zum Hobby-Klimaforscher mutiert – unterstreicht es im Fernsehen immer wieder. Was das mit Heimat zu tun hat, wollen wir gern erläutern: • Wer den anthropogenen Klimawandel leugnet – bis hin zum Ignorieren von Messdaten und wissenschaftlichen Konsensen –, der spielt die aktuellen, Fritz Reusswig / Claus Leggewie  —  Die heimatlosen Gesellen der AfD

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vor allem aber die zukünftigen Schäden herunter, die dieser Klimawandel auch in Deutschland verursacht hat und noch verursachen wird. Der extreme Hitze- und Dürre-Sommer 2018 hat die Landwirtschaft geschädigt, er hat Waldbrände verursacht, es gab Hitzetote vor allem bei Älteren. 2017 konnten wir hierzulande die andere Facette des Klimawandels – vermehrte Starkregenereignisse – kennenlernen. Der AfD zufolge: alles Launen der Natur. Kein Grund, über Klimaschutz oder Klimaanpassung nachzudenken. • Wenn es keinen anthropogenen Klimawandel gibt, muss man auch keine Anpassung betreiben. Wenn wir uns aber nicht anpassen, werden die materiellen wie immateriellen Schäden auch hierzulande exorbitant hoch sein.3 Durch ihr Klimaleugnertum liefert die AfD unser Land schutzlos den Folgen des Klimawandels aus. Heimatschutz sieht anders aus. Im Übrigen schneidet sich die AfD dadurch auch ins eigene Fleisch: Allein in

3  Vgl. Guy Brasseur u. a. (Hg.), Klimawandel in Deutschland. Entwicklung, Folgen, Risiken und Perspektiven, Geesthacht 2017.

Berlin starben zwischen 2001 und 2010 durch Hitzeereignisse jährlich im Schnitt 1.400 Menschen – meist ältere.4 Gerade in dieser Altersgruppe ist die AfD jedoch überrepräsentiert.5 Klimaleugnertum – nicht nur schlecht für unser Land, auch noch politisch unklug dazu. • Die Folgen des Klimawandels werden andernorts noch viel schlimmer sein, vor allem in den Ländern des globalen Südens, die aufgrund von Armut und Staatsversagen viel verwundbarer sind als Deutschland. Schon heute sind Naturkatastrophen ein wesentlicher Treiber des weltweiten Fluchtgeschehens – meist innerhalb der betroffenen Länder selbst.6 In Zukunft werden es durch den Klimawandel immer mehr Menschen sein, die ihre Länder verlassen – und in den weniger betroffenen bzw. resilienteren Gesellschaften wie etwa Deutschland Zuflucht suchen. Das Leugnen des anthropogenen Klimawandels und die vehemente Ablehnung von Klimaschutz bei uns führen dazu, dass es immer mehr Flüchtende geben wird, die an unsere »Türe klopfen«. Es entbehrt nicht der bitteren Ironie, dass ausgerechnet die Partei, die den verängstigten Deutschen verspricht, das »Flüchtlingschaos« durch ein hartes Ausländer- und Grenzregime zu beenden, zu noch mehr Chaos beiträgt. Heimatschutz sieht anders aus. • Die AfD lehnt Klimaschutz vehement ab, will die »systemfremde« Subventionierung erneuerbarer Energien beenden und zum guten alten, fossil-­ atomaren deutschen Energiesystem zurückkehren. Windprojekte etwa werden als landschaftszerstörend und als ungerechte Bereicherung ortsfremder Projektierer abgetan. Dass die Rückkehr zum alten System auch die Rückkehr zum oligopolistischen Energiemarkt weniger Großkonzerne und das Verspielen der Chancen einer sauberen Regionalökonomie darstellt, wird geflissentlich unterschlagen. Anders als die österreichische Schwesterpartei

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4  Siehe Dieter Scherer u. a., Quantification of heat-stress related mortality hazard, vulnerability and risk in Berlin, Germany, in: Die Erde, Jg. 144 (2013), H. 3–4, S. 238–259. 5  Vgl. Christian Franz u. a., AfD in dünn besiedelten Räumen mit Überalterungsproblemen stärker, in: DIW-Wochen­ bericht, H. 8/2018, S. 136–144. 6  Vgl. Kanta Kumari Rigaud u. a., Groundswell. Preparing for Internal Climate Migration, ­Washington, D.C. 2018, URL: https://open­ knowledge.worldbank.org/ bitstream/handle/10986/29461/ WBG_ClimateChange_Final. pdf; Wissenschaftlicher Beirat Globale Umweltveränderungen, Zeit-gerechte Klimapolitik. Vier Initiativen für Fariness, in: Politikpapier Nr. 9, WBGU, Berlin 2018, URL: https://www.wbgu. de/fileadmin/user_upload/wbgu. de/templates/dateien/veroeffentlichungen/politikpapiere/pp2018pp9/wbgu_politikpapier_9.pdf; Claus Leggewie, Ein Pass für Klimaflüchtlinge, in: Süddeutsche Zeitung, 20.11.2018, URL: https:// www.sueddeutsche.de/politik/ aussenansicht-ein-pass-fuerklima­fluechtlinge-1.4218896 [alle eingesehen am 03.01.2019].

FPÖ, die sich gegen Atomkraft und für »heimische« erneuerbare Energien einsetzt – freilich eingefügt in ein rechtes Autarkie-Narrativ –, verspielt die AfD damit die vielfältigen neuen, auch dezentraleren technisch-wirtschaftlichen Optionen des deutschen Energiesystems und will die alte Pfadabhängigkeit fortschreiben – gerne auch mit Erdgas aus Putins Reich. Deutschland, unsere Heimat, wird durch den selbst mit verschuldeten Klimawandel und dessen desaströse Folgen bedroht. Indem die AfD diese Bedrohung und die darin liegenden Handlungsaufforderungen, aber auch Chancen durch stupides Leugnen einfach ignoriert, stellt sie sich faktisch – aller Heimat-Rhetorik zum Trotz – gegen die Heimat: gegen das, was uns in ihren Landschaften und ihrer Biodiversität als Erbe überliefert ist, und gegen das, was sie uns als zu gestaltende Nahwelt zukünftig bieten kann. Der Heimat­ begriff der AfD ist eng und xenophob, ihm mangelt es an Breite, Tiefe, und, ja, auch an Liebe. Mit Händen zu greifen der Ingrimm, das politisch Berechnende daran, bei nicht wenigen auch der Hass gegen Andere, den die Heimat bei der AfD umweht. Ohne Empathie, ja Liebe aber ist alles nichts, auch die Heimat. Will man Heimat, ihre natürlichen Lebensgrundlagen und ihre sozialen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen nachhaltig schützen und Dr. Fritz Reusswig ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ­Potsdam-Institut für Klima­ folgenforschung (PIK) und befasst sich dort mit sozialen Fragen der Energiewende, des Klimaschutzes und der Klimafolgenanpassung. Er studierte Soziologie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und ist Lehrbeauftragter für Umweltsoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

auch für Kinder und Kindeskinder eine – übrigens nicht nur auf den engen Horizont der Rechten beschränkte – lebenswerte Umwelt erhalten, dann ist der Kampf gegen das Artensterben und den Klimawandel, dessen Evidenzen wissenschaftlich so plausibel gemacht worden sind wie bei kaum einem anderen Phänomen, erste Heimatschutzpflicht. Dass die in Wahrheit heimatversessene Rechte dies unterlässt, ist keine lässliche politische Verfehlung mehr; diese Sturheit und Ignoranz wird allmählich zur politischen Pornografie, mehr noch: Wider besseres Wissen die eklatante Bedrohung der Lebenswelt zu ignorieren, kann mittlerweile nicht mehr anders bezeichnet werden als verbrecherisch. Mindestens aber ist es: heimatlos. Es ist schon bemerkenswert, wie die politische Öffentlichkeit, die sich in der Realisierung der Gefahren von Klimawandel und Artensterben doch weitestgehend einig ist, weltweit einen Themenwechsel hat geschehen lassen,

Prof. Claus Leggewie, geb. 1950, Sozialwissenschaftler, ist Ludwig-­Börne-Professor an der Universität Gießen und war bis 2016 Mitglied im »Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen« (WBGU) sowie bis 2017 Direktor des Kulturwissenschaftlichen ­Instituts Essen (KWI).

der »Heimat« vornehmlich bis ausschließlich durch Flüchtende und Terroristen, nicht aber durch schädliche Emissionen bedroht sieht. Die Lobby der durch konsequenten Klima- und Artenschutz bedrohten Industrien dankt diesen nützlichen Idioten und Heimatdeppen. Und es ist die Pflicht von Regierungen, die jetzt Heimatministerien einrichten, sich schleunigst um die Erfüllung ihrer in Paris vertraglich festgelegten Klimaziele zu kümmern und die Konventionen zu Biodiversität ernst zu nehmen. Fritz Reusswig / Claus Leggewie  —  Die heimatlosen Gesellen der AfD

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FREMDHEIT UND HEIMAT IN STADT UND LAND ÜBER GEMEINSAMKEITEN UND UNTERSCHIEDE ΞΞ Liane Bednarz

Seit einigen Jahren ist das Thema »Heimat« in aller Munde. Während bereits der Begriff als solcher bis weit in die 2000er Jahre hinein außerhalb konservativer Kreise als verstaubt, ja spießig galt, gibt es inzwischen einen lebhaften Diskurs um die Fragen, was Heimat heutzutage bedeutet und welchen Stellenwert sie hat. Medial hat die Heimat dabei besonders in den letzten drei bis vier Jahren große Aufmerksamkeit erfahren, vor allem in der schreibenden Zunft. Aber auch in der deutschen Politik ist die Heimat in den Fokus gerückt – was sich besonders plakativ daran zeigt, dass es seit der letzten Bundestagswahl sogar ein Bundesministerium für Heimat gibt. GLOBALISIERUNG UND RECHTE INSTRUMENTALISIERUNG – ­ RSACHEN DER HEIMAT-RENAISSANCE U Die Renaissance der Beschäftigung mit dem Themenkomplex Heimat hat im Wesentlichen zwei Ursachen. Zum einen zeigt sich darin eine Art Gegenreflex auf die Globalisierung und die diese beschleunigende Digitalisierung – je schneller sich die Welt gefühlt dreht und je mehr sich der Eindruck verfestigt, sich darin zu verlieren, umso stärker bildet sich eine Rückbesinnung auf die Verwurzelung in kleinen, lokalen Einheiten heraus. Treffend untertitelte etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung Anfang Januar 2019 den Beitrag »Heimat heute« mit dem Verweis, dass »in der Globalisierung die Sehnsucht« nach der Region wachse.1 Zum anderen wird so viel über Heimat gesprochen, weil sich rechte Parteien und Gruppierungen diesen Begriff seit einiger Zeit auffällig oft und teilweise sogar im wahrsten Sinne des Wortes auf die Fahnen geschrieben haben. Ihr Begriffsverständnis ist allerdings instrumentell: Sie weisen der Heimat eine auf Deutsche zugeschnittene Bedeutung zu und interpretieren sie demgemäß so, dass »Fremde« nicht dazugehören und ausgegrenzt werden. Der radikal rechte AfD-Politiker Björn Höcke bspw. postete 2016 auf seiner Facebook-Seite folgenden Spruch: »Ich wünsche mir ein Deutschland, das wieder eine echte Heimat für Deutsche ist.«2 Dazu passt, dass Höcke zu denjenigen gehört, die sich für eine »Remigration« von »nicht integrierbaren

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1  Philipp Krohn, Heimat heute. In der Globalisierung wächst die Sehnsucht nach der Region, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.01.2019. 2  URL: https://www. facebook.com/ja.dresden/posts/ ich-w%C3 %BCnsche-mir-eindeutschland-das-wieder-eineechte-heimat-f%C3 %BCr-deutsche-ist-bj/814179158719842/ [eingesehen am 08.01.2019].

Migranten« aussprechen, ohne Kriterien dafür aufzustellen, was mit »nicht integrierbar« überhaupt gemeint sein soll. In Cottbus wiederum hat sich die weit rechts stehende Initiative »Zukunft Heimat« gebildet, auf deren Demonstrationen Plakate mit Slogans wie »Grenzen dicht« zu sehen sind. Auch einer der zentralen Schlachtrufe der vom Verfassungsschutz beobachteten Identitären Bewegung greift die Heimatthematik auf: »Heimat, Freiheit, Tradition – Multikulti-Endstation«. In ihrer Selbstbeschreibung stilisieren sich die Identitären zudem als »erste freie, patriotische Kraft, die sich aktiv und erfolgreich für Heimat, Freiheit und Tradition einsetzt«3. Die Ethnologin Beate Binder von der Humboldt-Universität zu Berlin beschrieb den rechten Heimat-Diskurs im Sommer 2018 auf einer Veranstaltung des Leibniz-Instituts für Länderkunde in Leipzig treffend wie folgt: »Heute wird weniger gefragt, wie Fremde hier eine Heimat finden können, sondern eher, wie wir unsere Heimat bewahren können.«4 Wie sehr die Diskussion um Heimat inhaltlich zwischen den beiden geschilderten Polen Globalisierung und rechte Instrumentalisierung angesiedelt ist, wurde bereits im Oktober 2016 in der Titelgeschichte des Zeit-Magazin zum Thema deutlich.5 Die Autoren sprachen damals ebenfalls von einem »Sehnsuchtsort«, der Menschen präge, und betonten zugleich, dass der Heimat­ begriff inzwischen »aufgeladen wie nie«, gar »ideologisch erhitzt« sei. Oftmals sei nicht auf den ersten Blick erkennbar, in welchem Kontext und mit welcher Bedeutung das Wort »Heimat« gebraucht werde. Exemplarisch führten Brost und Wefing den unverfänglichen sächsischen »Landesverein Heimatschutz«, der Wanderungen, Fotoausstellungen und Baumpflanzaktionen veranstaltet, einerseits sowie die »Initiative Heimatschutz« andererseits an, welche »gegen die sogenannte Überfremdung durch Flüchtlinge« auf die Straße geht. 3  Etwa URL: https://identitaere-mv.de/ [eingesehen am 08.01.2019]. 4  Zit. nach Juliane Streich, »Meine Heimat ist der Freistaat«. Ministerpräsident Kretschmer diskutierte im Paulinum über seine Auffassung von Heimat, in: kreuzer online, 04.07.2018, URL: https://kreuzer-leipzig. de/2018/07/04/heimat/ [eingesehen am 08.01.2019]. 5  Vgl. im Folgenden Marc Brost u. Heinrich Wefing, Heimat. Der Sehnsuchtsort, in: Zeit-Magazin, 19.10.2016.

HEIMATEMPFINDEN UND PRÄGUNGEN IN DER KINDHEIT Im bisherigen Heimat-Diskurs wird verblüffenderweise wenig zwischen unterschiedlichen heimatlichen Räumen differenziert. Dabei gibt es, was die Vorstellung von Heimat betrifft, große Unterschiede zwischen Stadt und Land – wobei man bei den Städten sogar noch weiter zwischen Großstädten, mittelgroßen Städten und Kleinstädten unterscheiden kann; Letztere allerdings sind je nach Größe in diversen Punkten eher mit dörflichen Gegenden vergleichbar. Wie sich diese räumlichen Unterschiede auf die Heraus- oder Nichtherausbildung eines Heimatemempfindens auswirken, wird an späterer Stelle noch deutlich werden. Grundsätzlich ist mit »Heimat« zunächst mehr als nur ein bloßes Zuhause gemeint. Bei der Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls zu einem Liane Bednarz  —  Fremdheit und Heimat in Stadt und Land

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Ort, aus welchem irgendwann ein Heimatempfinden entstehen kann, spielen vor allem der Faktor Zeit, aber auch kindliche Prägungen eine große Rolle. So stellt sich in der Regel erst ab einer gewissen Dauer des Aufenthaltes an einem Ort ein Heimatgefühl ein – unabhängig davon, ob es sich um die Stätte handelt, an der man aufgewachsen ist, oder um diejenige, die man sich als Wahlheimat erst später im Leben auserkoren hat. Der Terminus »Wahlheimat« zeigt, dass ein Mensch nicht nur den Ort, an dem er geboren oder aufgewachsen ist, als Heimat empfinden kann, sondern ihm auch Dörfer oder Städte, in die er als Erwachsener gezogen ist, zur Heimat werden können. Allerdings geschieht das deutlich seltener. Meistens bleibt die Wahlheimat eben doch eine solche, während der Heimatbegriff weiterhin mit der Herkunftsregion verbunden wird. Letzteres erklärt sich vor allem dadurch, dass die Verbundenheit zu einem Ort besonders dann als sehr tiefreichend wahrgenommen wird, wenn sie sich über Emotionen oder Sinneserfahrungen einstellt. Und genau diese sind gerade in der Kindheit sehr prägend. Bestimmte Bilder, Geräusche, der Geschmack einer Speise oder auch Gerüche können, wenn man sie im Erwachsenenalter erneut wahrnimmt, einen ganzen kindlichen heimatlichen Erfahrungshorizont wieder vor dem eigenen Auge eröffnen – man denke nur an den berühmten »Madeleine-Moment« im ersten Teil von Marcel Prousts Romanzyklus »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«: Kaum hat der dortige Protagonist eine Madeleine, ein typisch französisches Gebäckstück, in seinen Tee eingetaucht, so wie er es früher als kleiner Junge immer getan hat, eröffnet sich vor seinem geistigen Auge der gesamte Kosmos seiner Kindheit in dem kleinen Dorf Combray. Solche Madeleine-Momente sind ein Paradebeispiel für ausgeprägte, bereits in der Kindheit entwickelte Heimatgefühle. Und spannenderweise unterscheiden sie sich deutlich, je nachdem ob man auf dem Dorf oder in einer Metropole aufgewachsen ist. Während der Geruch von frischem Heu bei Menschen, die auf dem Dorf groß geworden sind, spontane Heimaterinnerungen eröffnen kann, wird er Großstadtkinder eher kalt oder allenfalls an einen Urlaub auf dem Land denken lassen. Hingegen kann bei Großstadtkindern, so merkwürdig das auch klingen mag, der Lärm der Stadt oder sogar der Geruch von Abgasen wohlige Gefühle auslösen. So berichtete der Dokumentarfilmer Matthias Grünewald im November vergangenen Jahres dem Deutschlandfunk von seinen Eindrücken während des Drehs eines Beitrags über die Autobahn A40, die den Osten und den Westen des Ruhrgebiets miteinander verbindet. Grünewald schilderte, wie sogar diese laute Straße, lokal »Ruhrschnellweg« genannt, vielen Anwohnern

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ein angenehmes Heimatgefühl vermittle. Selbst die Abgase und der Lärm seien dort so vertraut, dass »man nicht mehr ohne den Lärm auskommt«6. Im Magazin Neon wiederum berichtete die gebürtige Großstädterin und Journalistin Jule Schulte im Sommer 2018, dass sich für sie »der süße Geruch von Abgasen und in der Sonne erhitzten Mülltonnen […] unheimlich heimelig« anfühle.7 FOKUSSIERUNG DER HEIMAT-DISKUSSION AUF DIE PROVINZ Schilderungen wie die beiden letztgenannten finden sich in der Heimat­ debatte allerdings selten. Der Heimatbegriff wird, vor allem medial, primär mit dem ländlichen Raum assoziiert. Das mag damit zusammenhängen, dass das Leben auf dem Land ein sehr positives Image hat; erinnert sei hier nur an den großen Erfolg der 2005 lancierten Zeitschrift Landlust. Gerade vor der Folie der Globalisierung verbinden offenbar viele Menschen mit dem Land die Vorstellung, dass dort die Welt noch vergleichsweise in Ordnung, also übersichtlich, sei. Dabei fallen vor allem zwei Aspekte auf: Der Fortzug aus der Stadt hinaus auf das Land wird so gut wie immer als eine besonders gute Lebensentscheidung dargestellt; deutlich negativer ist der Sound hingegen, wenn es um Umzüge in umgekehrter Richtung geht – oft steht dann der Verlust der Heimat im Vordergrund. Beide Phänomene tragen zur weiteren Idealisierung des Lebens außerhalb der großen Städte 6  Matthias Grünewald im Corsogespräch mit Bernd Lechler, Heimat und Kotzbrocken, in: Deutschlandfunk, 22.11.2018, URL: https://www. deutschlandfunk.de/dokumentarfilm-ueber-den-ruhrschnellweg-heimat-und.807. de.html?dram:article_id=433957 [eingesehen am 08.01.2019].

und damit auch zur assoziativen Verbindung des Heimatbegriffs mit einem ländlichen Umfeld bei. Bisweilen wird die Idealisierung des ländlichen Raumes und des Wegzuges aus der Stadt auf die Spitze getrieben, wie etwa durch die Bestsellerautorin Charlotte Roche, die ihr neues Landleben im Mai 2018 in einem Beitrag mit dem Titel »Verlasst die Städte!« im Magazin der Süddeutschen Zeitung anpries.8 Dabei ließ sie sich fast schon zu einer Verdammung der Großstadt hinreißen: Diese mache, so Roche, »den Menschen auf Dauer bloß krank,

7  Jule Schulte, Das Bett im Kornfeld kann gern frei bleiben: Woran ich merke, dass ich Stadtkind bin, in: Neon, 12.07.2018, URL: https://www.stern.de/neon/ heimat/stadt-land/stadtkind--6situationen-in-denen-ich-merke-dass-ich-aus-der-grossstadt-­ komme-8162630.html [eingesehen am 08.01.2019]. 8  Vgl. im Folgenden Charlotte Roche, Verlasst die Städte, in Süddeutsche Zeitung Magazin, 09.05.2018.

größenwahnsinnig und kriminell«. Weiter schrieb sie: »Der Indianer in mir vermisst echte Erde unter den Füssen. Die Bäume in der Stadt sind eingemauert oder umgeben von Asphalt. Nachts sieht keiner Sterne.« Keine Frage: Auf dem Land gibt es mehr Natur, anders als in der Stadt kann auch ein Normalverdiener ein Eigenheim mit Garten erwerben; es ist ruhig und für Kinder vergleichsweise sicher. Diese einseitige Betrachtung blendet jedoch aus, wie schwierig es sein kann, auf dem Land ohne Auto von A nach B zu gelangen, und wie stark die Infrastruktur doch inzwischen vielerorts ausgedünnt ist. Gab es noch in den 1980er Jahren auf dem Land oder in den Außenbezirken kleiner Städte recht flächendeckend Lebensmittelgeschäfte, Liane Bednarz  —  Fremdheit und Heimat in Stadt und Land

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Postfilialen und Banken, sind mittlerweile sehr viele davon geschlossen. Wer, wie zum Beispiel Senioren, nicht mehr sonderlich mobil ist, für den ist das ländliche Leben in den letzten Jahrzehnten deutlich unbequemer geworden – was übrigens auch Gefühle von Heimatverlust auslösen kann, zumal durch das Wegbrechen von Begegnungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum das Sozialleben geschwächt und Einsamkeitsempfindungen verstärkt werden. Trotz dieser Nachteile des Lebens außerhalb von Städten ist das Landleben jedoch weiterhin hoch angesehen. In Berichten über Menschen, die das Land in Richtung Stadt verlassen, überwiegt demgegenüber der Tenor, dass dies letztlich nicht wirklich freiwillig geschehe. An erster Stelle werden berufliche Faktoren oder bessere Ausbildungsmöglichkeiten identifiziert, also Dinge, die sich tatsächlich nicht unbedingt beeinflussen lassen. Betont wird zudem immer wieder, dass sich der Wegzug negativ auf die Zurückbleibenden auswirke, vor allem in strukturschwachen Regionen. Daran ist natürlich vieles richtig; denn in solchen Gegenden verbleiben in der Tat meistens eher die älteren Bewohner, welche die zunehmende Überalterung der Bevölkerungsstruktur auch als negativ wahrnehmen. Auch bei ihnen kann sich dadurch ein Gefühl von Heimatverlust einstellen, gerade weil sie das jeweilige Dorf oder die kleine Stadt noch viel lebendiger in Erinnerung haben. DER FAKTOR BEZIEHUNG Fragt man sich weiter, weshalb der Heimat-Diskurs so monothematisch auf den ländlichen Raum fokussiert ist, und begibt sich auf die Suche nach zusätzlichen Erklärungen dieses Phänomens, spricht vieles dafür, dass Menschen, die in dörflichen oder kleinstädtischen Strukturen aufwachsen, dort in deutlich persönlichere Strukturen eingebunden sind, als dies in der Stadt der Fall ist, und Beziehungen bzw. Freundschaften unterhalten, die sich oft auch auf das familiäre Umfeld der jeweiligen Bezugsperson erstrecken. Mit anderen Worten: Der Faktor Liane Bednarz  —  Fremdheit und Heimat in Stadt und Land

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»Beziehung« ist auf dem Land stärker ausgeprägt und führt dazu, sich dort heimischer zu fühlen, als dies bei Stadtkindern der Fall ist. Das lässt sich an diversen Einzelaspekten ländlichen wie urbanen Lebens festmachen. Abgesehen von gehobenen Wohnvierteln mit Einfamilienhäusern am Rand der großen Städte ist das urbane Wohnen von Mehrparteienhäusern geprägt, deren Bewohner selten über Jahre hinweg dieselben bleiben. Das ist auf dem Land, reine Wohnblockstrukturen wiederum außen vorgelassen, deutlich anders: Die Zusammensetzung der Nachbarschaft bleibt dort oft über Jahrzehnte hinweg relativ konstant, Eigenheime werden über mehrere Generationen vererbt und von diesen häufig auch bewohnt. Wer in einer solchen Gegend gemeinsam mit anderen Kindern aufgewachsen ist und in den Gärten und Häusern der jeweiligen Eltern gespielt hat, wird, wenn er später in einer anderen Stadt studiert oder arbeitet und zu Besuch nach Hause kommt, nicht bloß den vertrauten Gesichtern der eigenen engeren Familie begegnen, sondern oft auch altbekannten Nachbarn. Derartige, über Jahrzehnte gewachsene nachbarschaftliche Beziehungen gibt es in den Innenstadtvierteln der großen Städte hingegen deutlich seltener. Menschen, die auf dem Land aufgewachsen sind, berichten zudem regelmäßig, dass sie in ihrer Heimat immer derjenige blieben, der sie gewesen seien – egal, wie lange sie schon weg sind, was wiederum auch sehr viel mit den engen, über einen langen Zeitraum gewachsenen Beziehungen zu tun hat. Ein engmaschigeres und nachhaltigeres Beziehungsgeflecht lässt sich in ländlichen Räumen aber auch über die unmittelbare Nachbarschaft hinaus ausmachen. Vertrauenspersonen etwa werden nicht selten über Generationen hinweg weiterempfohlen, sei es der Hausarzt oder der Berater bei der hiesigen Bank oder Sparkasse. »Der kennt unsere Familie ja gut« ist ein in solchen Kontexten durchweg positiv gemeinter Spruch. Gewiss: Das gibt es in Großstädten auch – aber eben deutlich seltener, da nicht wenige Menschen die erste Generation ihrer Familie sind, die in der betreffenden Stadt lebt, und zwar, weil sie berufsbedingt dorthin gezogen sind. VERWURZELUNG IN REGIONALEN KULTURELLEN ­B ESONDERHEITEN Eine zentrale Rolle bei der Betonung des ländlichen Heimat-Diskurses spielen zudem regionale Besonderheiten, die gerade im dezentralen Deutschland sehr ausgeprägt sind. Diese reichen von Dialekten und Sprachfärbungen über Mentalitäten und Bräuche bis hin zu kulinarischen Spezialitäten. All das gibt es in städtischen Kontexten zwar auch, zeigt sich aber schwächer. Auf Menschen, die einen so starken Dialekt sprechen, dass Zugereiste sie

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kaum verstehen, wird man bspw. in München eher selten stoßen, auf dem oberbayerischen Land hingegen sehr wohl. Wer aus solchen, von Dialekten geprägten, Gegenden stammt, entwickelt oftmals schon dann Heimatgefühle, wenn er die heimatliche Mundart hört – mag er auch für sich selbst das Hochdeutsche bevorzugen. In der Regel ist auch die Verwurzelung in der eigenen Geschichte und Politik auf dem Land tiefer. Die Lokalhistorie ist ebenso präsent, wie die örtliche Politik weiter verfolgt wird. Das ist in Großstädten, jedenfalls in der Tendenz, weniger der Fall; nicht zuletzt wegen der größeren Bereitschaft, auch innerhalb des Stadtgebietes umzuziehen, bevor die Lokalgeschichte und der Lokalkolorit des bisherigen Viertels intensiv eingesogen worden sind. Davon gibt es freilich auch Ausnahmen – vor allem in Städten, die wie Berlin, Hamburg oder zum Teil auch Köln über stolze Kiezkulturen verfügen, die ihren Bewohnern den Eindruck eines Dorfes innerhalb der großen Stadt vermitteln. Zu der örtlichen Verwurzelung und dem damit einhergehenden Heimat­gefühl auf dem Land trägt zudem bei, dass oftmals viele enge Verwandte wie Großeltern, Onkel oder Tanten in der näheren Umgebung wohnen. Von diesen erfährt man schon im Kindesalter, wie das Leben in der Gegend einmal war, was wiederum das Gefühl einer generationenübergreifenden Einbettung in die Region verstärken kann. AUSWIRKUNGEN AUF DEN UMGANG MIT GEFLÜCHTETEN Interessanterweise lassen sich auch Unterschiede bei der Integration von Geflüchteten auf dem Land und in der Stadt ausmachen. Entgegen vielleicht naheliegenden Vermutungen ist es nicht so, dass diese in der Stadt per se besser verläuft, etwa weil es dort ein größeres Reservoir an möglichen freiwilligen Helfern und eine bessere Infrastruktur gibt. Vielmehr lassen sich immer wieder Beispiele nennen, wie positiv Geflüchtete gerade in ländlichen Umgebungen aufgenommen werden und dort Hilfe zur Selbsthilfe erhalten. Woran das liegen könnte, hat der Zeit-Redakteur Jochen Bittner bereits Anfang 2016 analysiert: Er wies darauf hin, dass Geflüchtete in Großstädten häufig in rein migrantischen Milieus verblieben, weil sie dort »in ihrer Sprach- und Kulturblase alle wesentlichen Kontakte« fänden, was die »Effekte der Parallel­ 9  Jochen Bittner, Flüchtlinge auf die Dörfer!, in: Zeit Online, 04.02.2016, URL: https://www.zeit.de/politik/ deutschland/2016–02/fluechtlingspolitik-migranten-zuwanderung-doerfer-gemeinden [eingesehen am 08.01.2019].

gesellschaften« verstärke.9 Auf dem Land hingegen werden Geflüchtete oft von Netzwerken alteingesessener Bewohner aufgefangen, die genau wissen, wen man für welche Unterstützungsleistung ansprechen kann. Auf dem Dorf oder auch in anliegenden Dörfern kennt man sich untereinander so gut, dass bspw. bekannt sein dürfte, welche Betriebe möglicherweise Ausbildungsplätze zur Verfügung Liane Bednarz  —  Fremdheit und Heimat in Stadt und Land

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stellen können oder wer den Umgang mit Fachbehörden beherrscht. Überdies funktioniert die Idee des Forderns und Förderns besser, wenn ein Flüchtling von einem lokalen Hilfsnetzwerk getragen wird, statt nur einer von vielen Betreuten in einer großen Unterkunft zu sein. Auch dieser Aspekt kommt in Jochen Bittners Beitrag zum Ausdruck: »Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Genauso braucht es ein Dorf, braucht es die Unmittelbarkeit von sich kümmernden und anleitenden Menschen, braucht es gelegentlich auch die klare Aussprache und den direkten Konflikt, um Fremde in eine neue Gemeinschaft hineinwachsen zu lassen.«10 Das Problembewusstsein, was die eigenen Defizite in der Flüchtlingshilfe anbelangt, wächst aber anscheinend auch in den größeren Städten. Die Stadt Dortmund etwa hat unter dem Titel »lokal willkommen« ein Integrationsnetzwerk ins Leben gerufen; im letzten Jahr wurde es beim Bundeswettbewerb »Zusammenleben Hand in Hand – Kommunen gestalten«, finanziert vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, als eines von 21 Projekten ausgezeichnet. Nach eigenen Angaben wolle die Dortmunder Initiative Geflüchteten bei der »Integration in das neue soziale Umfeld« nach dem Umzug aus der jeweiligen Unterkunft in eine eigene Wohnung unterstützen. Grund hierfür war u. a. die Erkenntnis, dass es gerade in Stadtrandlangen meist an der »notwendigen sozialen Infrastruktur sowie der Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund« fehle.11 Auch über die Integrationsthematik hinaus gibt es inzwischen Ansätze, den Heimat-­Diskurs in den Metropolen zu intensivieren. Bereits 2014 hat bspw. das Kulturreferat der Stadt München das Projekt »Statt Heimat Stadtheimat – Moderne Heimatvorstellungen in der Großstadt« ins Leben gerufen. BEWAHRUNG DES HEIMAT-DISKURSES VOR EINER ­I NSTRUMENTALISIERUNG VON RECHTS Wie eingangs schon angerissen, versuchen rechte Bewegungen und Parteien, den Heimat-Diskurs für ihre ausgrenzenden Zwecke zu nutzen. Hier gilt es gegenzusteuern; vor allem, weil Wissen darüber existiert, wie erfolgreich rechte Parteien im Ausland mit einer solchen Strategie sind. So erzielen etwa die rechtspopulistische SVP in der Schweiz und die rechtspopulistische FPÖ in Österreich seit Jahren auf dem Land deutlich bessere Wahlergebnisse als in den Städten. Die FPÖ hat auf dem Land inzwischen solch engmaschige Strukturen geschaffen, dass es für manch andere Partei schwierig ist, mitzuhalten. Eine ähnliche Strategie verfolgt offenbar auch der Thüringische

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10 

Bittner.

11  Vgl. Bundeswettbewerb Zusammenleben Hand in Hand – Kommunen gestalten. Dortmund, URL: https://kommunalwettbewerb-zusammenleben.de/ preistraeger/2018/stadt-dortmund [eingesehen am 08.01.2019].

Landesverband der AfD unter Björn Höcke, der dort schon seit geraumer Zeit den Begriff »Heimatpartei« für sich entdeckt hat. Bezogen auf die Schweiz hob Anita Fetz, Basler Stadträtin und Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, bereits 2015 hervor, dass inzwischen »mehr über den Stadt-Land-Graben als den Rösti-Graben«12 gesprochen werde. Wie erfolgreich die Kombination aus rechtem Gedankengut und ländlicher Lebensweise sein kann, zeigt nicht zuletzt der gewachsene Einfluss des radikal neurechten Verlegers Götz Kubitschek, der in dem kleinen Dorf 12  O.V., »Die Schweiz ist tief gespalten«, in: 20 min. ch, 20.10.2015, URL: https:// www.20min.ch/schweiz/news/ story/-Die-Schweiz-ist-tief-­ gespalten--18265042 [eingesehen am 08.01.2019]. Mit dem »Rösti-Graben« ist die kulturelle Grenze zwischen der Deutschschweiz und den französischsprachigen Landesteilen gemeint, die lange als wirklich sehr trennend empfunden wurde.

Schnellroda in Sachsen-Anhalt ansässig ist, wo er Ziegen und Hühner hält. Dass die Empfänglichkeit für rechte Ideenwelten auf dem Land ausgeprägt sein kann, liegt vor allem daran, es dort deutlich seltener mit Menschen mit Migrationshintergrund zu tun zu haben, weshalb leichter Ängste und diffuse Ressentiments aufkommen. Ulrich Kasparick, ein evangelischer Landpfarrer aus Mecklenburg-Vorpommern und ehemaliger Staatssekretär im Forschungs- und im Verkehrsministerium, hat eine weitere Erklärung: Er verdeutlicht, wie der AfD vor allem durch Social Media gelinge, »sich in den Dörfern in den Köpfen der Menschen zu verankern«13; und zwar weil »Postings von Menschen, die ›man kennt‹«14, eine signifikante Rolle spielten.

13 

Ulrich Kasparick, Man kennt sich, in: Wolfgang Thielmann (Hg.), Alternative für Christen? Die AfD und ihr gespaltenes Verhältnis zur Religion, Neukirchen-Vluyn 2017, S. 39–48, hier S. 43. 14 

Ebd., S. 42.

»Im Dorf«, so Kasparick weiter, sei »schon immer entscheidend, wer etwas sagt.«15 Wer mithin »den Ton angibt und dabei AfD-Gedankengut äußert«, wirke »bis weit ins familiäre Netzwerk hinein«.16 Auf diese Weise entstünden »beinahe komplett geschlossene soziale Systeme«, zu denen Politiker »so gut wie keinen Zugang« fänden.17 Das ist kein Widerspruch zu dem oben geschilderten Umstand, dass die Integration von Geflüchteten auf dem Land sehr gut gelingen kann. Solange

15  16 

Ebd.

Ebd., S. 41 17  Ebd.

sich rechtes Gedankengut dort noch nicht stark ausgebreitet hat, existiert auch eine Integrationsbereitschaft. Gerade deshalb müssen die etablierten Parteien aufpassen, dass die AfD außerhalb der Städte nicht weiter an Raum gewinnt.

Dr. Liane Bednarz, geb. 1974, ist Publizistin, promovierte Juristin und u. a. Kolumnistin bei Tagesspiegel Causa. 2018 erschien ihr Buch »Die Angstprediger – Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern« (Droemer). Laut FAZ »lässt (es) die Luft aus so manchem Popanz, den die religiöse und politische Rechte aufgebaut haben«.

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DER HEIMATFILM THEMEN, SOZIALE ANLIEGEN UND FILMISCHE ­FORMEN ΞΞ Jürgen Heizmann

Millionen deutscher und österreichischer Zuschauer ließen sich in den 1950er Jahren von Filmen wie »Schwarzwaldmädel« (1950) oder »Grün ist die Heide« (1951) verzücken. Die Heimatfilme der Adenauerzeit waren, das ist Konsens, ein Vehikel der Verdrängung. Sie boten eine Traumwelt, in der zerstörte Städte, Kriegsschuld und Massenmord an der jüdischen Bevölkerung nicht vorkamen. Die blühenden Landschaften des Schwarzwalds, der Heide oder der bayerischen Alpen, in denen sie angesiedelt waren, ähnelten alle Elysion: In ihnen gab es keine Geschichte, keine Politik, keine Industrie, keine sozialen Probleme und, wie in der idealisierten Kindheit, auch keine Sexualität, dafür Trachten und Traditionen, Blasmusik und intakte Dorfgemeinschaften. Die Tradition, die hier beschworen wurde, war nicht nur wegen des ausgeblendeten Faschismus (der sich dieser Tradition zu seinen Zwecken bemächtigt hatte) reiner Schwindel: So war dem König der Heimatfilm­regisseure, Hans Deppe, der Schwarzwald nicht folkloristisch genug und er ließ mehrere Lastwagenladungen mit geschnitzter und gemalter Volkskunst, Bauern­ möbeln, Hirschgeweihen, Holzkreuzen und Heiligenfiguren kommen, um das Setting »authentisch« zu gestalten. Das urige Wirtshaus, in welchem ein großer Teil der Handlung von »Schwarzwaldmädel« spielt, ist eine Montage aus verschiedenen Häusern der Region, wie überhaupt die Postkartenidyllen aller Heimatfilme dieser Dekade aus Aufnahmen verschiedener Orte am Schneidetisch zusammengesetzt wurden.1 Die Heimatfilme der Nachkriegszeit erfanden eine Tradition, die eine Kontinuität mit einer angenehmen Vergangenheit suggerierte, den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus und den Holocaust ausblendete und der Erfahrung des verlorenen Krieges, des geteilten Deutschland und des Millionenheeres von Heimatvertriebenen eine heile soziale Welt innerhalb eines unveränderlichen Wertesystems entgegenhielt. Nicht vergessen werden darf dabei, dass fast ein Fünftel der damaligen deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund hatte. Dass Entwurzelung und aufgezwungene Mobilität die Sehnsucht nach Heimat vergrößern, vielleicht sogar erst entfachen, wird in »Grün ist die Heide«

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1  Siehe Ingeborg Majer O’Sickey, Framing the Unheim­ lich. Heimatfilm and Bambi, in: Patricia Herminghouse u. Magda Mueller (Hg.), Gender and Germanness, Providence 1997, S. 202–216, hier S. 206.

von dem aus Ostpreußen vertriebenen Großgrundbesitzer direkt ausgesprochen: »Wer nicht von der Heimat wegmusste, der kann nicht ermessen, was es bedeutet, heimatlos zu sein.« Es waren wohl die sogenannten Heimatvertriebenen, die zu einem großen Teil für die konservative, ja rückwärtsgewandte Auffassung von Heimat verantwortlich zeichneten. Die Heimatfilme hatten insofern eine regenerative und integrative Funktion, als sie den Flüchtlingen Geborgenheit an ihrem neuen Lebensort versprachen, »Nation building made in Germany«2. Dabei verbindet sich Tradition konziliant mit der Zukunft – so darf neben Pferdekutschen auch einmal eine BP-Tankstelle ins Bild kommen. Die Koexistenz von Tradition und Moderne zeigt sich bereits in der Produktion der Filme selbst: Die ländliche Idylle konnte nur deshalb in so strahlend bunten Farben leuchten, weil diese Werke mit der neuesten Farbtechnik von »Agfacolor« gedreht wurden.3 WANDLUNGEN DES HEIMATBEGRIFFS UND DES HEIMATFILMS Bereits zu Beginn der 1960er Jahre machten sich die kulturellen Umbrüche in Deutschland und Westeuropa bemerkbar, ehe sie sich in der sogenannten Studentenrevolte von 1968 entluden. Die zunehmende Distanz der Jüngeren zur Elterngeneration zeigte sich auch in dem abflachenden Interesse am Heimatfilm, welcher der gesellschaftlichen Entwicklung hoffnungslos hinterherhinkte; die in ihm dargebotenen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen hatten keine identitätsstiftende Wirkung mehr. Ein 1962 auf dem Oberhausener Kurzfilmfest verkündetes Manifest brachte den Wunsch junger Filmemacher, Neues zu schaffen, zum Ausdruck. Ihre Parole »Papas Kino ist tot!« bezog sich vor allem auf die Heimatfilme, die nun als Inbegriff der Spießigkeit galten. Einige der Filmemacher wandten sich dem Thema Heimat zu – wobei sie das traditionelle Genre völlig umkrempelten. In der Folge entstanden sogenannte Anti-Heimatfilme, die Heimat nicht zum Mythos zeitloser Wirklichkeit verklärten, sondern sie aus historischer Perspektive betrachteten: der Heimatfilm als Medium, Geschichte neu zu erzählen, nämlich aus der Perspektive armer hessischer Bauern im 19. Jahrhun2  Rudolf Worschech, Heimatlos, in: epd-film, H. 11/2010, S. 8–9, hier S. 8. 3  Vgl. Paul Cooke, The Heimat Film in the Twenty-First Century. Negotiating the New German Cinema to Return to Papas Kino, in: Jaimey Fisher (Hg.), Generic Histories of German Cinema. Genre and its Deviations, Rochester 2013, S. 221–241, hier S. 226.

dert, wie in Volker Schlöndorffs »Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach« (1971), oder aus der Sicht von Räubern und Rebellen gegen die Obrigkeit, wie in Reinhards Hauffs »Mathias Kneißl« (1971) und in Volker Vogelers »Jaider, der einsame Jäger« (1971). Die in der Gegenwart angesiedelten subversiven Heimatfilme – wie Peter Fleischmanns »Jagdszenen aus Niederbayern« (1969) oder Uwe Brandners »Ich liebe dich, ich töte dich« (1971) – präsentierten das Dorf, das Ländliche, die Provinz als rückständige und stumpfsinnige, beengende und bedrohliche, bigotte und grausame Orte, Jürgen Heizmann  —  Der Heimatfilm

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wo Menschen in einer Zwangsgemeinschaft mit unerbittlicher Hackordnung leben und jeder Außenseiter bekämpft wird. In Fleischmanns in SchwarzWeiß und zum Teil mit Laiendarstellern gedrehtem, in einem niederbayerischen Dorf angesiedelten Film verachten die Bewohner die Dorfhure, obwohl fast alle Männer mit ihr schlafen; sie verspotten die Gastarbeiter, schicken sie höhnisch in ihre Heimat zurück und am Ende machen sie mit Knüppeln und Mistgabeln Jagd auf einen Homosexuellen. Die Provinz wurde zum Ort, an dem weiterhin eine faschistische Mentalität herrscht. Wollten die traditionellen Heimatfilme die Sehnsucht nach Geborgenheit befriedigen, war es die Absicht der Anti-Heimatfilme, beim Betrachter ein Gefühl der Heimatlosigkeit im eigenen Land zu hinterlassen. Sie wollten zeigen, dass das vorherrschende Heimatverständnis statisch und reaktionär war, da es sich vollkommen unkritisch an patriarchalischen Rollenmustern und autoritären Gesellschaftsstrukturen orientierte. Fleischmanns verstörender Film lief zur gleichen Zeit auf dem Festival in Cannes wie Dennis Hoppers preisgekröntes Erstlingswerk »Easy Rider« (1969), das ja ebenfalls eine Art Heimatlosigkeit der Jugend in Amerika zeigt. Die Anti-Heimatfilme haben nie ein Massenpublikum erreicht; dennoch kommt ihnen das Verdienst zu, zur Weiterentwicklung des Genres beigetragen zu haben, »indem sie es an aktuelle politische Fragen anschlossen, indem sie es als Medium zur Erforschung einer Mentalitäts- und Identitätsgeschichte nutzten oder indem sie vorführten, wie es einer alternativen Geschichtsschreibung dienen konnte, die Bekanntes und Tradiertes in Frage stellte oder ergänzte«4. Die gesellschaftspolitischen und ökonomischen Veränderungen im Laufe der 1970er Jahre hatten auch einen Wandel des Heimatbegriffs zur Folge. Der 1972 durch den Club of Rome veröffentlichte Bericht über die Grenzen des Wachstums und die Entzauberung des Marxismus durch den real existierenden Sozialismus hatten einen Bewusstseinswandel zur Folge, bei dem die großen Modernitätsvisionen verblassten, das Lokale und Kleinräumige hingegen zusehends an Bedeutung gewann.5 Das ökologische Denken richtete das Interesse auf die eigene, unmittelbare Umwelt, lokale Konzepte von Identität entstanden und im soziologischen wie philosophischen Diskurs wurde die Bedeutung des Raumes immer wichtiger, sodass der in linken Kreisen bisher verpönte Heimatbegriff progressive Züge erhielt. Die ungeheure Wirkung, die 1984 von Edgar Reitz’ 16-Stunden-Film »Heimat« ausging, hatte auch mit dieser veränderten Situation zu tun. Die elfteilige Chronik ist alternative Historiografie und Ortsgeschichte im emphatischen Sinn, denn sie beschreibt die Geschichte Deutschlands von 1919 bis 1982 im Prisma eines Dorfes im Hunsrück. Im Mikrokosmos dieses Dorfes spiegeln sich auch der

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4  Jürgen Heizmann, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Heimatfilm international, Stuttgart 2016, S. 7–18, hier S. 13. 5  Vgl. Fernando Esposito, Zäsurendenkzäsur. Der Verlust geschichtsphilosophischer Kompasse Nach dem Boom, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 7 (2018), H. 1, S. 115–121, hier S. 121.

technische Fortschritt und die Evolution der Medien und wie sie das Leben der Menschen verändern. Reitz’ Epos zeigt eine der Möglichkeiten und Stärken des Heimatfilms: Wir haben ja nie einen Zugriff auf »das Ganze«; aber im Heimatfilm können gesellschaftlicher Wandel, Denkweisen, Auswirkungen politischer Entscheidungen in einem konkreten Erfahrungsraum gezeigt werden. So nehmen die Dorfbewohner des fiktiven Schabbach zwar an den Ereignissen der großen Geschichte teil; aber sie erleben und verstehen sie in Bezug auf ihren Alltag und ihre Lebensbedingungen. Die internationale Ausstrahlung von Reitz’ Werk zeigt sich darin, dass die 2013 angelaufene britische Serie »The Village« von der BBC als Großbritanniens Antwort auf »Heimat« angekündigt wurde. SEHNSUCHT NACH BINDUNG Seit »Heimat« (der Reitz noch drei weitere Chroniken folgen ließ) kann man von einer neuen Ära des Heimatfilms sprechen – wobei sich kaum der Eindruck verwischen lässt, dass Heimat im Kino immer dann zu einem wichtigen Thema wird, wenn sie bedroht oder bereits verloren ist. Wie Walter Benjamins »Engel der Geschichte« sind Heimatfilme – und das ist dem Kino möglicherweise schlechthin eingeschrieben – einer Vergangenheit zugewandt, die in Trümmer gefallen ist; sie wollen das Zerschlagene wieder zusammenfügen und das, was längst verloren ist, wieder beschwören. Jedenfalls geben die immer rascher aufeinanderfolgenden Modernisierungsprozesse und sozialgeschichtlichen Umbrüche, die Globalisierung und zunehmende Entmaterialisierung unserer Kultur dem Genre heute Auftrieb – nicht nur im deutschsprachigen Kulturraum, sondern in vielen Kinolandschaften. In »Zeiten der Telekommunikation und der unbegrenzten Mobilität scheint die Bindung an einen Ort das Bedürfnis nach sicheren Positionen und nach einem Identitätsraum zu erfüllen«6. Hierher gehört auch der Boom des Regionalkrimis im deutschen Fernsehen, einer Spielart des Heimatfilms. In einer Zeit, in der sich alle Orte zusehends ähneln und noch der hinterste Winkel durch das Internet zur virtuellen Weltgemeinschaft gehört, wächst offenbar 6  Jürgen Heizmann, Vom Brennerpass bis Napoli. Heimat, Fremde, Interkultu­ ralität in Kurt Lanthalers Tschonnie-Tschenett-Romanen, in: Germanica, H. 58/2016, S. 161–174, hier S. 162.

die Sehnsucht nach dem Knorrigen, dem Widerständigen, nach Mundart und lokaler Eigenart. Auch wenn Landschaft und Dialekt in diesen Krimis meist nichts als tourismusfördernde Kulissenschieberei sind, scheinen sich doch viele Zuschauer mit dem Gezeigten zu identifizieren. »Es gibt nun mal eine Lebenswirklichkeit, deren Koordinaten die Wirtschaft, die Metzgerei, Beerdigungen, Hochzeit und Omas Essen sind.«7

7  Birgit Roschy, »Da ghoat dr Doig«, in: epd-film, H. 8/2018, S. 18–19, hier S. 19.

Auch das wirtschaftlich geschüttelte Frankreich, das die Integrationsprobleme in seinen Vorstädten kaum noch bewältigen kann, kennt diese Jürgen Heizmann  —  Der Heimatfilm

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Sehnsucht nach einer heilen, überschaubaren Welt, wo es noch Gemeinschaftsgeist und Sinn für Traditionen gibt. Der erstaunliche Erfolg von Dany Boons Film »Bienvenue chez les Ch’tis« (2008) erklärt sich auch dadurch, dass darin eine homogene ländliche Region mit ihren Eigentümlichkeiten, ihrem Dialekt und lokalen Bräuchen vorgestellt wird, mit Einwohnern von herzlicher Simplizität, kurz: ein »unschuldiges, vielleicht etwas altmodisches, aber unbedingt sympathisches Frankreich, in dem die Globalisierung noch nicht alle Besonderheiten ausradiert hat«8. Neue Ausdrucksmöglichkeiten fand der Heimatfilm auch, indem er sich mit anderen Genres verband: der Komödie, der Satire, dem Sozialdrama, dem historischen Film oder der Coming-of-Age-Story. Er erlebt immer wieder eine Renaissance, weil er »für bestimmte kulturelle Konfliktsituationen – zwischen fortschrittsbedingtem Wandel und Tradition, Technik und Natur anzusiedeln – allgemeingültige Bilder geschaffen hat«9. Und er stellt narrative Muster bereit, welche die Suche nach Identität, Gemeinschaft, Geschichte und Tradition gerade angesichts der Herausforderungen der Moderne erzählbar machen, was sich nach dem Zusammenbruch des Sozialismus gerade in den osteuropäischen Ländern zeigte.10 Auch wenn der ländliche Raum nach wie vor das bevorzugte Setting darstellt, kann der Heimatfilm ebenso in der Kleinstadt, der Vorstadt oder dem Kiez einer Großstadt angesiedelt sein. THEMEN UND PROBLEMFELDER DES HEIMATFILMS Genres variieren und wandeln sich. Sie lassen sich nicht durch einen Katalog von Regeln auf einen Nenner bringen. Doch möchte ich hier einige Themen, Taxonomien und konzeptuelle Gegensätze vorstellen, die meines Erachtens nützlich sind, um Anliegen und Erzählweisen des Heimatfilms zu verstehen. Die Konzeptionen sind manchmal miteinander verbunden; und welchen konkreten Ausdruck sie finden, wie sie zueinander stehen und welche Lösungen

8  Hélène Heizmann, Willkommen bei den Sch’tis, in: Jürgen Heizmann (Hg.), Heimatfilm international, Stuttgart 2016, S. 162–167, hier S. 166.

vorgeschlagen werden, mag sich je nach historischem, sozialem oder ideologischem Kontext verschieben. 1. Tradition versus Moderne, Stabilität versus Wandel: Viele Filme beschreiben den Widerstand einzelner Menschen oder einer Gemeinde gegen technischen oder ökonomischen Wandel oder die Auswirkungen dieses (oft unvermeidlichen) Wandels auf die Menschen. So sind in Gus Van Sants Film »Promised Land« (2012) die Landwirte einer wirtschaftlich maroden Gemeinde in Pennsylvania vor die Wahl gestellt, ob sie ihr Land, das ihnen seit Generationen gehört, an einen Erdgaskonzern verkaufen, um ihrer Notlage zu entkommen, oder sich den finanziellen Lockrufen verweigern, um ihr Land vor dem zerstörerischen Fracking zu bewahren, selbst wenn die Tristesse der

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9  Manuela Fiedler, Heimat im deutschen Film. Ein Mythos zwischen Regression und Utopie, Alfeld/Leine 1997, S. 15. 10  Vgl. Lars Karl u. a. (Hg.), Der lange Weg nach Hause. Konstruktionen von Heimat im europäischen Spielfilm, Berlin 2014 sowie die Aufsätze zu »Urga« von Eva Binder und zu »Wilde Bienen« von Anna Hultsch in: Jürgen Heizmann (Hg.), Heimatfilm international, Stuttgart 2016, S. 116–122 u. S. 142–148.

Gemeinde dadurch fortdauert. In dem im Westallgäu angesiedelten Film »Daheim sterben die Leut’« (1985) wird das Mit- und Gegeneinander von Tradition und Moderne auf humorvolle Weise verhandelt. Ein Altbauer wehrt sich mit allen Mitteln dagegen, dass seine Quelle zugeschüttet und sein Hof an die Fernwasserleitung angeschlossen werden soll; er wird darüber sogar zum Betrüger, indem er ein Marienwunder inszeniert und Pilgerscharen zum Narren hält. Obwohl der Film Politiker und Gesetzesvertreter verspottet und den kauzigen Altbauern nicht ohne Sympathie zeichnet, zeigt er zugleich, dass die Allgäuer Jungbauern längst nicht mehr nach alter Väter Sitte leben: Sie rauchen Joints, sind modern gekleidet und arbeiten nebenher in der Stadt, denn vom Ertrag des Landes allein kann keiner mehr leben. Die ländliche Region befindet sich im unvermeidlichen Übergang zur Moderne. Durch eine Städterin wird angedeutet, was dies wirtschaftlich für das Allgäu – wie für viele ländliche Regionen – bedeutet: Es wird zum Urlaubsland. Jürgen Heizmann  —  Der Heimatfilm

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2. Gemeinschaft versus Gesellschaft: Diese auf Ferdinand Tönnies zurückgehende Dichotomie nimmt im Heimatfilm meist die Form Dorf oder Gemeinde gegen die Metropole oder den Staat an. Im traditionellen Heimatfilm wie auch im amerikanischen Smalltown-Film ist das Dorf oder die Kleinstadt Hort der Tugend, die Großstadt dagegen Mutter aller Sünden. Die ideale Gemeinde repräsentiert primäre, direkte, persönliche Beziehungen, die Großstadt oder der Staat hingegen sekundäre, unpersönliche, anonyme, bürokratische Beziehungen. Oft findet die Gemeinde erst durch einen Anstoß von außen (wieder) zum Kollektiv zusammen. Viele Heimatfilmkomödien haben diese Opposition zum Ausgangspunkt. In dem frankokanadischen Film »La grande séduction« (2003) leben die 120 Bewohner der Insel Sainte-Marie-la-­Mauderne im Sankt-Lorenz-Golf von der Sozialhilfe, da sich der Fischfang längst nicht mehr lohnt. Ein Ausweg aus der Misere scheint sich jedoch aufzutun, als ein auf die Produktion von Plastikbehältern spezialisiertes Unternehmen auf der Insel eine Fabrik errichten will. Die Bedingung: Ein Arzt muss ansässig sein. Natürlich will sich kein Arzt an dem entlegenen Ort niederlassen. Durch Zufall und die Schlitzohrigkeit des Bürgermeisters kommt jedoch ein anglofoner Arzt für einen Monat auf die Insel, und die Bewohner setzen nun in einer gemeinsamen Schwindelaktion alles daran, ihren Ort nach dessen Vorlieben und Interessen umzugestalten, um ihn zu überzeugen, dass es sich nirgendwo besser leben lässt als auf ihrer Insel. Natürlich durchschaut der Arzt am Ende den Betrug, doch da ist er bereits dem Charme des Ortes erlegen; und als er zudem erfährt, dass ihn seine Freundin in der Großstadt (Montreal) betrügt, beschließt er, zu bleiben. Die Prämisse des Films spiegelt die triste Lage vieler Fischerdörfer in den atlantischen Provinzen Kanadas wider. So verwundert auch nicht, dass es 2013 mit »The Grand Seduction« ein anglokanadisches Remake gab, das auf Neufundland spielt. (Zwei weitere Remakes in Frankreich und Italien folgten.) Das Happy End des Films: Der Bau der Fabrik ist nicht ohne bitteren Beigeschmack zu haben, da die industrielle Arbeit den Fischern völlig fremd ist. Doch im Rahmen der Komödie scheint es schwierig, das Anliegen des Films bis zum Ende ernst zu nehmen. Das trifft etwa auch auf »Normandie nue« (2018) zu, worin die Landwirte eines Dorfes in der Normandie eine Straße blockieren, da sie sich von Paris und Brüssel verraten fühlen und mit den Dumpingpreisen deutscher und rumänischer Fleischgroßhändler nicht konkurrieren können. Die Rettung liegt hier in einer spektakulären Nackt-Fotoaktion mit einem berühmten New Yorker Fotografen, die den Ort weltbekannt machen soll; und wieder ist es ein gewitzter Bürgermeister, der den Gemeinschaftssinn des Dorfes weckt.

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Am Ende schafft es das Kollektiv auch ohne den Fotografen aus der amerikanischen Metropole, der angesichts der normannischen Sturheit wütend abgereist ist. Doch mehr als einen moralischen Sieg kann das Foto mit den nackten Dorfbewohnern auf der Wiese nicht bedeuten. 3. Natur versus Kultur und Zivilisation: Dieser Gegensatz spielt bereits im Western eine wichtige Rolle; doch auch jenseits dieses Genres gab es zur Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren im amerikanischen Kino eine regelrechte Rückkehr zur Scholle, als Hollywood die Tugenden des Landlebens und den Beruf des Farmers in einer ganzen Reihe von Filmen zelebrierte. Die Aufwertung des einfachen Lebens auf dem Land und der Verdacht gegen das Städtische sind der amerikanischen Kultur von Anfang an eingeschrieben – bis heute stellt die Opposition von Natur und Zivilisation eine Konstante im amerikanischen Denken dar. Als zu Beginn der 1980er Jahre die Agrarkrise das Land erschütterte und jede zehnte Farm im Mittleren Westen bankrottging, entstanden mehrere Filme, die für die Farmer Partei ergriffen und die Arbeit auf dem Land als Way of life zeichneten, gleichbedeutend mit Freiheit und Unabhängigkeit. Dieser amerikanische Traum wird nun nicht mehr wie im Western von der Wildnis bedroht, sondern von der Zivilisation, den »college boys«, den Banken und Staatsbeamten.11 Die Farm wird in diesen Filmen zum Symbol der amerikanischen Demokratie, die von den urbanen Zentren bedroht wird. Mit der Realität hatte das allerdings schon in den 1980er Jahren kaum noch etwas zu tun, lebten zu diesem Zeitpunkt doch bloß noch vier Prozent der Amerikaner von der Agrarwirtschaft – der immense Reichtum des Landes hing vollständig von den Städten und der Industrie ab. Die Filme »Country« (1984), »Places in the Heart« (1984) und »The River« (1984), die in die Filmgeschichte als Homeland-Trilogie eingingen, hatten eine sozialkritische Intention, doch sie repräsentierten den sublimierten Traum einer längst verlorenen Unschuld, an die sich der amerikanische Zuschauer weiterhin verzweifelt halten wollte.12 In italienischen Filmen wird der ländliche Raum oft als Schutzraum vor den Zumutungen der Zivilisation präsentiert, mehr noch: Nach den Jahren der 11  Vgl. Jürgen Heizmann, Land meiner Väter, in: Ders. (Hg.), Heimatfilm international, Stuttgart 2016, S. 88–95. 12 

Vgl. Michel Cieutat, U.S.A.: la Pastorale selon Hollywood ou la sublimation du rêve américain, in: Michel Duvigneau u. René Prédal (Hg.), Cinéma et monde rural, Revue Ciném­ Action, H. 36/1986, S. 62–69.

Bombenattentate in den Siebzigern scheint eine kulturelle, soziale und psychologische Genesung des Staates – so etwa die Botschaft des Filmes »Il Prato« (1979) der Brüder Taviani – nur von der Provinz und der Rück­besinnung auf die Verwurzelung im Ländlichen ausgehen zu können. In »Hierankl« (2003) kehrt die Heldin in einer Krisensituation an ihren ländlichen Herkunftsort zurück, um wieder zu sich selbst zu finden. Heimkehr – im filmischen wie literarischen Erzählen immer ein existenzielles Moment – ist im Heimatfilm ein wichtiges Motiv, das ein fundamentales Jürgen Heizmann  —  Der Heimatfilm

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Versprechen des rational nie ganz auszulotenden Begriffs »Heimat« zum Ausdruck bringt: Man könne dem Leid und der Entfremdung in der modernen Welt entkommen und am Ort der Kindheit wieder Sicherheit finden, Selbstwie Weltvertrauen gewinnen. Für die Protagonistin in »Hierankl« erfüllt sich diese Hoffnung nicht: Die Rückkehr an den Heimatort gerät zur Desillusion. In französischen Filmen spielt die Tatsache, dass viele Menschen den Ballungsraum Paris verlassen, um auf dem Land eine neue Existenz zu beginnen, oft eine zentrale Rolle. So etwa in »Une hirondelle a fait le printemps« (2001), worin die Pariser Computerexpertin Sandrine einen Bauernhof im Gebiet Rhône-Alpes kauft, um ihren Traum vom Landleben zu verwirklichen – nicht ohne Geschäftssinn, denn sie will aus dem Hof ein Touristenparadies machen. 4. Individuum versus Gemeinschaft, Integration versus Isolation, das Eigene versus das Fremde: Oft gibt es eine Spannung zwischen den Werten und Interessen des Einzelnen und den Ansprüchen und Normen der Gemeinschaft. Damit hängt zusammen, wie stark der Einzelne sich mit dem Kollektiv identifiziert, ob er von der Gemeinschaft akzeptiert oder zum Außenseiter wird. Als in dem Film »Landrauschen« (2018) die junge, arbeitslose Journalistin Toni aus Berlin in das biedere schwäbische Dorf Bubenhausen zurückkehrt und sogar bei ihren Eltern einzieht, ist sie von vorneherein Außenseiterin; und dass sie ihre Haare rosa färbt und mit der ehemaligen Schulfreundin Rosa eine lesbische Beziehung eingeht, macht die Sache nicht leichter. In einer Szene des Films sagt Tonis Mutter über die Flüchtlinge, die ins Land kommen, diese müssten sich nun anpassen, worauf Toni entgegnet: An wen? An dich oder mich? An anderer Stelle erklärt einer dieser Flüchtlinge der auf ihre Mutter schimpfenden Toni, wie wichtig in seiner Kultur sei, die eigene Mutter zu ehren – Heimat hat mehr Ambivalenzen, als gerade ihre lautesten Verteidiger wahrhaben wollen, und die Grenzlinien zwischen dem Eigenen und dem Fremden sind nicht immer eindeutig zu ziehen, da das Eigene selbst heterogen ist. Im Kino der doppelten Kulturen verlaufen diese Grenzlinien oft innerhalb einer Familie oder sogar innerhalb einer Figur, die sich dann entscheiden muss, welcher Kultur sie angehört, oder die eine Heimat irgendwo zwischen den Kulturen finden muss. 5. Das Heilige und das Profane: Diese auf den französischen Soziologen Émile Durkheim zurückgehende Unterscheidung betrifft die irrationalen, emotionalen, religiösen oder rituellen Bedeutungen, die eine Gemeinschaft bestimmten Objekten oder Tätigkeiten zuschreibt, denen die profanen, rein pragmatischen oder zweckgerichteten Bedeutungen gegenüberstehen. Die Zuschreibungen können sich im Laufe der Zeit verändern oder innerhalb

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einer Gemeinschaft subjektiv verschieden sein. Der Film »Il vento fa il suo giro« (2005) liefert dafür ein eindringliches Beispiel: In das Dorf Chersogno hoch in den Bergen Piemonts kommt ein französischer Ziegenhirte mit seiner Frau und seinen drei Kindern. Zunächst wird er freundlich aufgenommen, denn viele Häuser des Dorfes sind verlassen, ihre Besitzer wohnen in Turin und kommen nur noch zum Urlaub in das Dorf. Der Ziegenhirte, ein Ex-Professor, der sich für ein selbstbestimmtes Leben in der Natur entschieden hat, knüpft an eine verehrte Tradition an – waren doch die Vorfahren der Dorfbewohner ebenfalls Schaf- und Ziegenhirten. Mehr noch: Er belebt wieder den »rueido«, den Gemeinschaftsgeist nach Vätersitte, indem die Männer des Dorfes helfen, sein Haus herzurichten. Und er liefert den Anwohnern vorzüglichen Ziegenkäse. Doch dann kommt es Schritt für Schritt zur Entfremdung: Der Ziegenhirte lässt sein Haus nicht vom Ortsgeistlichen segnen; er mischt sich in einen gewalttätigen Familienstreit ein, überschreitet also die am Ort geltenden Grenzen des Öffentlichen und Privaten; und seine Ziegen fressen Gras von fremden Weiden. Zwar nutzt niemand diese Weiden, doch die Eigentümer pochen auf ihr Besitzrecht. Als der Hirte ein verendetes Schwein eine Schlucht hinunterwirft, stellt dies für ihn einen ganz normalen Akt dar: Er kennt das so aus den Pyrenäen, wo die Geier die Tierkadaver fraßen – in Chersogno wird seine Handlung jedoch als Frevel betrachtet. Vergeblich versucht der idealistische Bürgermeister am Ende, die Dorfbewohner an den »rueido« zu erinnern; doch der Ziegenhirte wird wieder aus der Gemeinschaft ausgestoßen, selbst die gemeinsamen okzitanischen Wurzeln des Fremden und der Alteingesessenen haben nun keine Bedeutung mehr. Die langen Totalen der großartigen Berglandschaft lassen das Tun der Menschen kleinlich und töricht erscheinen. Das Erstlingswerk des Regisseurs Giorgio Diritti ist zugleich als Parabel auf die Flüchtlingsproblematik zu verstehen. Da heute immer mehr Menschen ihre Heimat verlieren, wird dieses Thema in künftigen Heimatfilmen vermutlich an Bedeutung gewinnen.

Prof. Dr. Jürgen Heizmann, geb. 1958, lehrt Literatur- und Filmwissenschaft an der Université de Montréal. 2016 war er Jurymitglied in der Kategorie »Spielfilm« beim internationalen Filmfest »Der neue Heimatfilm« in Freistadt (Österreich). Letzte Buchveröffentlichung: Hermann Broch und die Ökonomie, hg. von Jürgen Heizmann, Bernhard Fetz u. Paul Michael Lützeler, Wien 2018.

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MEHR NATION WAGEN WARUM GERADE DIE LINKE NATIONALSTAAT UND HEIMAT NICHT DEN RECHTSPOPULISTEN ­ÜBERLASSEN DARF ΞΞ Michael Bröning

In aufgeklärten Kreisen gilt seit Langem als ausgemacht, dass der Nationalstaat in etwa so zukunftsfähig sei wie eine kohlebetriebene Dampfmaschine. Konzepte wie »Nation«, »Heimat« oder gar – horribile dictu – »Volk« gelten als rückwärtsgewandt, wenn nicht gar als Beleg für »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« an der Grenze zur Volksverhetzung. Einen der wortgewaltigsten und wohl auch persönlichsten Angriffe gegen das vermeintliche Gift der Nation ritt dabei Peter Glotz, in den 1980er Jahren Bundesgeschäftsführer der SPD und lange Jahre intellektueller Vordenker seiner Partei. Glotz kritisierte den »Irrweg des Nationalstaats« als »moralischen Wahnsinn«.1 Sein J’accuse gipfelte in der Mahnung, ein Festhalten an der Nation sei eine intellektuelle Vorstufe zum Massenmord, denn: »Wer eine Renaissance des Nationalstaats fördert oder auch nur duldet, wird Mitschuld tragen an Hunderttausenden von Toten.«2 Inhaltlich ist diese Position heute Talkshow-Common Sense. Dort gilt als erwiesen: In Anbetracht globaler Herausforderungen wie Klimawandel, Migration, oder Digitalisierung stellen die Nationalstaaten bestenfalls überkommene Dinosaurier dar, welche die Herausforderungen der Gegenwart nicht beantworten können. In progressiven Visionen treten deshalb supranationale und regionale Zusammenschlüsse an die Stelle von Staaten. Im Zusammenhang mit dem Gedenken an die Ausrufung der ersten deutschen Republik am 9. November 1918 erfuhr jüngst die Initiative des »European Balcony Project« von Ulrike Guérot und Robert Menasse umfassende mediale Aufmerksamkeit. Ziel war die Ausrufung einer »Europäischen Republik« als »Ansatz- und Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Weltregierung und ihrer Parlamentarisierung«.3 Diese sei umzusetzen durch den »Wegfall der nationalstaatlichen Ebene und die Übertragung der Souveränität von den Nationalstaaten auf die Bürgerinnen und Bürger«4. Ein Großteil des deutschen Feuilletons war begeistert. Was für eine Tatkraft! Was für eine visionäre Weitsicht! Grundtenor: Weshalb nur weigern sich Teile der Menschheit und kurzsichtige Politiker so hartnäckig, das konstruierte, rückwärtsgewandte und dabei so

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1  Peter Glotz, Der Irrweg des Nationalstaats. Europäische Reden an ein deutsches Publikum, Stuttgart 1990. 2  Ebd., S. 125. 3  Jürgen Klute, Die Ausrufung einer Europäischen Republik: The European Balcony Project, in: Europa.blog, 30.04.2018, URL: https://europa.blog/ fur-ein-besseres-europa-fur-­ eine-europaische-republik/ [eingesehen am 02.01.2019]. 4  Ebd.

impotente wie gefährliche Konzept der Nation endlich auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern? Diese rhetorische Frage wird selten erwidert. Dabei fällt die Antwort eigentlich nicht schwer, denn Hinweise liefert die Meinungsforschung – nicht zuletzt im »World Values Survey«. Dieser ist eine der größten nichtkommerziellen Untersuchungen menschlicher Überzeugungen quer über Landes- und Kulturgrenzen hinweg. So divers die Einzelergebnisse, so eindeutig das Resultat in Bezug auf den Nationalstaat: 86 Prozent der Befragten zeigten sich in der letzten Erhebung »sehr« oder »ziemlich stolz« auf die Zugehörigkeit zu ihrer Nation; der Anteil derjenigen, die »überhaupt keinen Stolz« auf ihre Nationalität empfänden, lag von Algerien bis Simbabwe dagegen im einstelligen Bereich. Diese Ergebnisse – und die stetig steigende Zahl der Nationalstaaten selbst – setzen ein Fragezeichen nicht nur hinter die moralische Autorität der Nationalstaatskritiker, sondern auch hinter die Realisierbarkeit jeglicher antinationalen politischen Strategie – zumindest auf demokratischem Wege. Mit welchem Recht würde der Mehrheit die Identität entzogen? Zumal nach den Vorteilen der Alternativen zu fragen wäre. Die Kritiker der Nation erschaudern angesichts der Schattenseiten nationaler Loyalitäten – nicht zu Unrecht angesichts der blutigen Bilanz nationalistischen Chauvinismus. Doch Nation und Nationalismus sind nicht deckungsgleich. Schon ein kursorischer Blick in die Geschichte belegt, dass auch das vornationale Europa der regionalen Feudalstaaten – die Keimzelle der heute so gepriesenen Regionen – alles andere als ein Ort des Friedens war. Die Gleichung Nation = Krieg ist vor diesem Hintergrund reichlich ahistorisch. Sicher: In weiten Teilen beruht der vermeintlich progressive anti-nationale Konsens zumindest in Deutschland auf einem Selbstverständnis, das historisch nur zu gerechtfertigt ist. Wer möchte nach der mörderischen Hybris des »Dritten Reiches« an den Zutaten der nationalen Giftmischung festhalten? Doch der anti-nationale Fokus vieler deutschsprachiger Intellektueller erscheint bei näherer Betrachtung als eine, nun ja, durchaus nationale Angelegenheit. Und diese übersieht, dass eine mehr oder weniger unterschwellige Sehnsucht nach nationaler Selbstüberwindung europaweit eben keine Selbstverständlichkeit ist. Aus dänischer, polnischer und niederländischer Sicht hat sich das Konzept der Nation historisch als Schutzschild erwiesen – und zwar, pikanterweise, als Schutzschild gegen Deutschland. Deshalb erscheinen Versuche des Nationalstaatsexorzismus als geradezu bizarr, wenn sie sich dogmatisch von Berlin ausgehend an jene Nachbarn richten, die unter dem deutschen Chauvinismus am meisten gelitten haben. Geradezu perfide wirkt dies, wenn im Hintergrund zugleich deutsche Interessenpolitik eiskalt durchexerziert wird. Michael Bröning  —  Mehr Nation wagen

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Problematisch erscheint die pauschale kritische Bewertung des Nationalstaats aber nicht nur im Hinblick auf die Vergangenheit, sondern auch und gerade in Bezug auf die historischen Erfolge progressiver Politik. Ja, nationalstaatliche Verblendung zeichnet verantwortlich für die schlimmsten Verbrechen des 21. Jahrhunderts; doch problematisch an dieser Konstellation ist das Element der Verblendung, nicht das des Nationalstaats per se. Schließlich war er es, in dessen Rahmen zugleich demokratische Partizipation, das Primat der Politik und der Wohlfahrtsstaat erstritten wurden. Doch nicht nur

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historisch hat sich der Nationalstaat über weite Strecken bewährt. Auch und gerade für künftige Herausforderungen dürfte nicht zuletzt progressive Politik auf die Stärkung demokratischer Nationalstaaten angewiesen sein; und zwar auf der Ebene der Einzelstaaten, auf europäischer Ebene und in Bezug auf die globale Steuerung von Politik. MIGRATION, INTEGRATION UND DIE BEDEUTUNG DES ­NATIONALSTAATS Deutlich wird dies nicht zuletzt mit Blick auf die Herausforderung Migration. Zu Recht gilt Solidarität als Kernanliegen progressiver Politik. Aber sie ist nicht nur auf andere gerichtet, sie benötigt auch ein gemeinschaftliches Subjekt, das sie trägt. Vor diesem Hintergrund stellt sich ungebremste Migration als massive Herausforderung für Wohlfahrtsstaaten dar. Eine Politik, die sich nicht nur dem Erhalt, sondern auch der Stärkung von Solidarität verpflichtet fühlt, steht deshalb vor der Aufgabe, globale Migration und Sozialstaat in ein Gleichgewicht zu bringen. Besonders problematisch erweist sich dabei der gerade in manchen progressiven Kreisen so verbreitete Hinweis auf die Unausweichlichkeit weltweiter Migration, für die sich nicht zuletzt in dem aktuell so kontrovers diskutierten »Global Compact for Migration« durchaus symptomatische Belege finden. Ausgerechnet diejenigen Akteure, die ansonsten die Steuerungsmöglichkeiten von Politik betonen, verschreiben sich beim Thema Migration immer wieder einer »Perspektive der Alternativlosigkeit«. Globale Finanz- und Handelsströme, Klimawandel, Digitalisierung, ja die Sprache selbst: Auf jedem Feld traut sich die Linke eine Gestaltung zu – mit einer Ausnahme: Beim Thema Migration lautet der Konsens: An dem »Ob« ist nicht zu rütteln, lediglich das »Wie« ist in Nuancen »steuerbar«. Zu fragen ist aber doch, weshalb sich die Protagonisten des »Yes, we can!« gerade in dieser Frage nicht mehr zutrauen. Tatkraft und politischen Gestaltungswillen sollten progressive Kräfte hier nicht den Rechtspopulisten überlassen, sondern selbst eine nachhaltige und moralisch integre Position entwickeln. Ein Beispiel für einen Ansatz, der humanitäre Verantwortung, Kontrolle und gelingende Integration vereint, liefert Kanada. In Abgrenzung zum südlichen Nachbarn ist der kanadische Premierminister Justin Trudeau zum – fast wie ein Popstar verehrten – Gegenentwurf zu Donald Trump avanciert. Nicht zuletzt persönliche Besuche des Premiers am Flughafen von Toronto zur Begrüßung ankommender Flüchtlinge sollten den weltoffenen Charakter des kanadischen Modells demonstrieren. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Kanada kein Vorbild für »no borders« darstellt. Im Gegenteil: Michael Bröning  —  Mehr Nation wagen

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Statt auf offene Grenzen, unbegrenzte Einwanderung und die deutsche Spezialität moralisch aufgeladener Grundsatzdebatten über Nebensächlichkeiten setzt Kanada auf einen Dreiklang aus Auswahl, Begrenzung und humanitärer Großzügigkeit. Basis dafür ist die Formulierung eines ökonomischen Interesses. Einwanderer werden nicht nach ethnischen oder religiösen Kategorien, sondern nach Bildungsstand, Alter und Sprachkenntnissen ausgewählt. In der Folge fallen sie dadurch auf, dass sie überproportional beschäftigt und unterproportional auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind. Aktuelle Umfragen, denen zufolge siebzig Prozent der Kanadier positive Einwanderungseffekte erkennen, basieren daher nicht auf erfolgreichen Werbekampagnen, sondern auf sozioökonomischen Tatsachen. Es ist diese Ausgangslage, die eine Erweiterung um einen zusätzlichen Ton zum Dreiklang ermöglicht: den der humanitären Großzügigkeit. 2016 meldete das UN-Flüchtlingshilfswerk die Rekordzahl von 46.000 nach Kanada umgesiedelten Flüchtlingen – die höchste Zahl seit den 1980er Jahren. Wie wichtig im kanadischen Einwanderungsregime das Konzept eines regelbasierten Prozesses ist, kann derzeit vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen an der kanadisch-amerikanischen Grenze beobachtet werden. Seit Anfang 2017 haben rund 30.000 Personen die grüne Grenze nach Kanada überquert, um der verschärften Einwanderungspolitik der Trump-Regierung zu entkommen. In Kanada werden diese Grenzübertritte von weiten Teilen der Öffentlichkeit als Regelumgehung deutlich kritisch bewertet. Zwei Drittel der Kanadier beurteilen diese Entwicklung als krisenhaften Kontrollverlust. Die anhaltende grundsätzliche gesellschaftliche Zustimmung zur praktizierten Migrationspolitik und zur großzügigen humanitären Flüchtlingspolitik wird sicherlich auch von der geografischen Lage des Landes begünstigt. Doch beruht die strukturelle gesellschaftliche Offenheit gegenüber Einwanderung eben wesentlich auch auf dem klaren Bekenntnis zu staatlicher Kontrolle. Schließlich gewann Trudeau die Wahlen 2015 nicht mit einer angekündigten Grenzöffnung, sondern vielmehr weil er auf das Versprechen setzte, Sicherheitsinteressen mit Humanismus zu verbinden. Befürwortern unbegrenzter Migration dürfte der kanadische Pragmatismus moralisch nicht genügen. In einem Diskurs, in welchem jede Grenzschließung als »menschenverachtende Abschottung« verstanden wird, ist das kaum überraschend. Im Gegensatz zu radikalen Fantasien der Extreme hat diese Politik jedoch den entscheidenden Vorteil, mehrheitsfähig zu sein. Und auch für gelingende Integration erweist sich ein weltoffener National­ staat nicht als Barriere, sondern als förderlich. Denn wirkliche Integration

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kann nur im Rahmen eines »Wir« gelingen, das nicht auf planetarischer Ebene verortet wird. Integration ist deshalb nicht auf die Überwindung einer nationalen Erzählung angewiesen, sondern auf Angebote einer attraktiven Identität auch auf staatlicher Ebene. Diese sollte nicht Unterschiede, sondern Gemeinsamkeiten unterstreichen und von einem tatsächlichen Wunsch nach Gemeinschaft getragen sein. So betrachtet, gelingt Integration eben gerade nicht in erster Linie über wohlmeinende Anerkennungsrhetorik.5 HEIMAT, NATION ODER EUROPÄISCHE FÖDERATION – KONZEPTE UND ARGUMENTE Immerhin: Für manch einen Progressiven scheint das Konzept »Heimat« zunehmend tragbar. Auf dem jüngsten Debattencamp der Sozialdemokratie wurde das Konzept prominent und klug diskutiert. Jedoch: Noch immer bezieht sich das Konzept in der bundesdeutschen Debatte in der Regel auf lokal eng Begrenztes. »Heimat« steht meist als Chiffre für Kiezromantik oder für kommunalen Lokalpatriotismus, nicht aber für die verbreitetste Variante des staatlich-nationalen Heimatlandes. Letztlich aber gleicht ein solcher Heimatbegriff eher einem Ausweichmanöver – wird er doch dadurch genau auf derjenigen Ebene vermieden, auf der er politisch am wirksamsten ist. Es sind doch nicht der »Kiez« oder das Sauerland, die politische Integration garantieren, sondern die Rolle als Bürger im Nationalstaat. Zumal auch zu fragen ist, ob sich die aktuellen Schwachstellen der Zuwanderung tatsächlich in fehlender Integration in die »Kieze« finden oder nicht vielmehr in der mangelnden Integration der migrationsgeprägten »Kieze« in das größere Ganze. Fest steht indes: Eine politische Linke, die sich um eine klare Aussage zu gelungener Integration und zur Begrenzung von Migration bei gleichzeitiger humanitärer Verantwortungsbereitschaft herumdrückt oder diese Position dem politischen Gegner überlässt, erweist nicht nur der eigenen Wählbarkeit einen Bärendienst – wie die Serie europäischer Wahlniederlagen der vergangenen Jahre belegt –; sie gefährdet auch zwei ihrer traditionellen Kern­a nliegen: den Versuch, gesellschaftliche Integration politisch zu gestalten, und den sozialen Wohlfahrtsstaat, der weltweit eben nicht zufällig nur in Gestalt von Nationalstaaten existiert. Ähnlich zentral erscheint das Konzept »Nation« auf europäischer Ebene. In Zeiten von Trump klingt »Europe First« zunächst wie ein überzeugender 5  Überzeugend herausgearbeitet etwa bei Kenan Malik, Das Unbehagen in den Kulturen. Eine Kritik des Multikulturalismus und seiner Gegner, Frankfurt a. M. 2017.

Slogan. Doch zu fragen ist nicht nur, inwiefern sich europäische Selbstbeweih­ räucherung konzeptionell von amerikanischer abhebt, sondern auch und vor allem, von wessen Europa hier überhaupt die Rede ist. Ist es das Europa des Berliner Kanzleramts oder dasjenige Athens oder gar Warschaus? Für Michael Bröning  —  Mehr Nation wagen

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manch einen besonders überzeugten Pro-Europäer stellt sich diese Frage offenbar nicht. Sicher: An vielen Stellen brauchen wir mehr Europa. Doch in einem wirklich demokratischen Europa kann es nicht darum gehen, die vermeintliche Kakophonie der Partikularinteressen mit Brachialgewalt auf eine Linie zu bringen. Weshalb? Weil es die eine Linie der Rationalität ebenso wenig gibt wie politische Alternativlosigkeit. In der europäischen Politik existiert kein archimedischer Punkt; und gäbe es ihn, so läge er weder in Brüssel noch in Berlin. Aus Berliner Perspektive mag man eine Stärkung europäischer Handlungsfähigkeit durch Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen für sinnvoll erachten. Doch tatsächlich dürften die Fliehkräfte Europas in genau dem Maße zunehmen, in dem einheitliche Politik durch Mehrheitsentscheidungen auf die Agenda gesetzt wird. Heterogene konstitutionelle Demokratien, wie etwa die Schweiz oder Belgien, die über einen historischen Erfahrungsschatz in der Bearbeitung von ideologischen, kulturellen und ökonomischen Gräben verfügen, haben vor diesem Hintergrund ganz bewusst darauf verzichtet, die Zentralregierung mit einer rein auf Mehrheitsmandaten beruhenden Machtfülle auszustatten. Eine Europäische Union, die diese Lehren in den Wind schlägt, sähe sich über kurz oder lang mit einem Gegenwind konfrontiert, der ihre Existenz aufs Spiel setzen dürfte. Als einer der enthusiastischsten Befürworter eines großen Wurfes gilt nach wie vor der französische Präsident Emmanuel Macron. Seit seiner so bejubelten Sorbonne-Rede vergeht kaum ein Tag, an dem nicht der Ruf zu vernehmen ist, man müsse »die ausgestreckte Hand« Macrons »nun endlich ergreifen«. In ein ähnliches Horn stieß zuletzt Jean-Claude Juncker – vor dem Europäischen Parlament schwenkte er faktisch auf die Vision einer europäischen Föderation um. Dabei sind die Argumente gegen eine Föderalisierung Europas auch den Befürwortern nur allzu bewusst: das Fehlen eines europäischen Demos als Träger einer europäischen Demokratie. Dies jedoch ist für sie kein Grund, das Projekt infrage zu stellen. Vielmehr leiten sie daraus den Arbeitsauftrag ab, endlich ein europäisches Bewusstsein zu schaffen. Benötigt würden dafür »transnationale Diskussions- und Politikräume«, in denen sich die »Fiktion nationaler Interessen« endlich überwinden ließe, wie Robert Menasse und Ulrike Guérot meinen.6 Diese Fürsprecher einer europäischen Föderation sehen sich als wahre Sachwalter der europäischen Vision. Doch tatsächlich lässt sich die Idee einer Europäischen Föderation auf den Trümmern der Nationalstaaten kaum auf historisch signifikante Vorbilder zurückführen. Ja, Winston Churchill forderte 1946 die »Vereinigten Staaten von Europa«; doch bedeutete dies für ihn eben

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6  Ulrike Guérot u. Robert Menasse, Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik, in: Die Presse, 24.03.2013.

nicht die Auflösung von Einzelstaaten, sondern die Zusammenführung großer und kleiner Staaten in einer »regionalen Struktur«. Kleine Nationen sollten »so viel zählen wie große« – ganz abgesehen davon, dass Churchill das Vereinigte Königreich selbst stets außerhalb dieser Struktur verortete und somit kaum als Kronzeuge für die Überwindung der Nationen herangezogen werden kann.7 Selbst das »Heidelberger Programm« der SPD aus dem Jahr 1925 fordert zwar aus »wirtschaftlichen Ursachen zwingend« die »Vereinigten Staaten von Europa«; doch bekennt es sich zugleich zum »Selbstbestimmungsrecht der Völker« und lobt das »Recht der Minderheiten auf nationale Selbstverwaltung« – und zwar im selben Absatz.8 Die Zukunft Europas liegt deshalb nicht in einer Entscheidung zwischen der Abwicklung der Nationen und des europäischen Projekts. Die Menschen Europas – das zeigen Meinungsforschung und Wahlergebnisse – wünschen sich ein anderes Europa. Zugleich aber fordern sie einen pragmatischen Mittelweg: ein Mehr an Europa dort, wo nationalstaatliches Handeln ohnehin rasch an Grenzen stieße – etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik oder in der Bankenaufsicht –; ein Mehr an nationalstaatlicher Verantwortung aber wünschen sie sich in zentralen Politikfeldern wie etwa in Haushaltsfragen – nicht von ungefähr das Königsrecht eines jeden Parlaments seit der ­Glorious Revolution. Die aktuellen Auseinandersetzungen um den italienischen Haushalt belegen hier eindringlich das Konfliktpotenzial, das entsteht, wenn unterschiedlich stark demokratisch legitimierte Ebenen mit unterschiedlichen Politikpräferenzen aufeinandertreffen. Für die glühenden Verfechter eines europäischen Föderalismus ist eine Flexibilisierung der Europäischen Union problematisch. Doch weshalb sollten demokratisch gewählte nationale Parlamente nicht das Recht haben, aus 7  Siehe Winston Churchill, Ein britischer Patriot für Europa. Winston Churchills Europa-Rede, Universität Zürich, 19. September 1946, in: Zeit Online, 05.05.2009, URL: https://www.zeit.de/reden/ die_historische_rede/200115_ hr_churchill1_englisch/ [eingesehen am 02.01.2019]. 8  Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Das Heidelberger Programm. Beschlossen auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Heidelberg am 18. September 1925, Offenbach 1947, URL: http:// library.fes.de/prodok/fa82–01783. pdf [eingesehen am 02.01.2019].

einzelnen Vertiefungsmaßnahmen auszusteigen, falls dafür keine Mehrheit existiert? Weshalb sollte man sich bei weiteren Schritten der Vertiefung nicht zunächst etwa einer Zweidrittelmehrheit der nationalen Parlamente versichern? Ein solches Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten würde nicht in einer europäischen Föderation münden, wohl aber in einer punktuell engeren Zusammenarbeit unter dem Dach einer europäischen Konföderation. Denn nicht durch einen scheiternden Euro könnte die zivilisatorische Errungenschaft der Europäischen Einigung dauerhaft Schiffbruch erleiden, sondern durch eine Marginalisierung der demokratischen Mitgliedsstaaten und ein Scheitern der Demokratie. Auch auf globaler Ebene sind progressive Kräfte gut beraten, dem Nationalstaat weiterhin eine tragende Rolle zuzugestehen. Schließlich lassen sich drängende Herausforderungen wie ein entgrenzter Finanzkapitalismus oder der Klimawandel nicht gegen, sondern nur mit Michael Bröning  —  Mehr Nation wagen

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den Nationalstaaten bearbeiten; auch globale Sicherheit bleibt eng mit den Nationalstaaten verknüpft. Globale Ordnung wird derzeit bekanntlich nicht durch zu viel, sondern vielerorts durch zu wenig Staatlichkeit erschüttert. In Libyen, Somalia und Afghanistan jedenfalls wären starke Nationalstaaten gegenwärtig keine Rück-, sondern Fortschritte. Eine handlungsfähige Weltgemeinschaft und starke Vereinte Nationen brauchen zwar sicher keine Rückkehr zu absoluter Souveränität – aber wohl doch eher eine Stärkung staatlicher Fähigkeiten als deren Überwindung. In vielen Fällen wird eine solche Stärkung nur zu erreichen sein, indem Einzelstaaten ein Ausscheren aus neoliberal geprägten Pro-Globalisierungspositionen zugebilligt würde. Zu fragen ist dabei auch, ob im 21. Jahrhundert die von den Nationalstaatsverächtern angestrebte grundsätzliche Verlagerung der Politik auf die globale Ebene auch nur im Entferntesten dazu geeignet scheint, progressive Politikentwürfe zu realisieren. Bisweilen erinnert die Fokussierung auf die Überwindung des Nationalen im Dienste globaler Ermächtigungsvisionen an die Zeiten des Fukuyama’schen Überschwangs und westlich-triumphalen Sendungsbewusstseins am postulierten »Ende der Geschichte«. Doch wie attraktiv wäre heute eine politische Konsensfindung auf globaler Ebene? In Zeiten, in denen progressive Entscheidungsträger von der populistischen Revolte weltweit aus dem Amt gejagt werden, ist eine Absage an die nationale Ebene in europäischen Demokratien ziemlich deckungsgleich mit einer Selbstentmündigung der Demokraten auf globaler Ebene. Wie progressiv wäre denn eine »Weltregierung« mit Putin, Peking und Bolsonaro? WAS BEDEUTEN HEIMAT UND NATION FÜR DIE LINKE? Doch was bedeutet ein »Ja« zu Nationalstaat und Heimat für progressive politische Kräfte? Angesichts der derzeitigen Krise europäischer Parteien links der Mitte ist ihnen eine doppelte Kurskorrektur zu empfehlen: eine Rückbesinnung in ökonomischen Fragen auf ihre verteilungspolitischen Kernkompetenzen mit einem Fokus auf die Verlierer des aktuellen Status quo sowie eine Positionsverschiebung in kulturellen Fragen, die nicht zuletzt die Herausforderung der Migration politisch beantwortet. Beide Ebenen dürfen jedoch nicht getrennt voneinander betrachtet werden, sondern sollten zur Rehabilitation des demokratischen Nationalstaats als zentraler Akteur progressiver Politik zusammengeführt werden. Geht es also um eine Anbiederung an den vermeintlich rechten Zeitgeist? Im Gegenteil. Schon für Willy Brandt war ein weltoffener Patriotismus selbstverständlich in einer Welt, in der »die Nation eine primäre Schicksalsgemeinschaft« bleibt: Die Linke müsse »ja sagen zum Vaterland«, weil »die Sache der

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Nation von Anfang an bei der demokratischen Linken besser aufgehoben ist als bei anderen«.9 Auch Frank-Walter Steinmeier plädierte am 9. November 2018 vor dem Bundestag ganz bewusst für einen »demokratischen Patriotismus«. Dahinter steht die Einsicht, dass ein aufgeklärter Patriotismus als einigendes 9  Rede von Willy Brandt über die Lage der Nation, in: Vorstand der SPD, Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 1. bis 5. Juni 1966 in Dortmund, Bonn 1966, S. 65–66 u. S. 78–85, URL: https://www.cvce.eu/de/obj/ rede_von_willy_brandt_uber_die_ lage_der_nation_dortmund_1_5_ juni_1966-de-cec6ebf1–6954– 48c5–940c-66bf4f60467e.html [eingesehen am 02.01.2019]. 10 

Willy Brandt, »Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969«, 6. Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 5. Sitzung, Bd. 71, S. 20–21.

Band eines solidarischen »Wir« viel zu wertvoll ist, um ihn den Rechtsextremen zu überlassen. Denn in letzter Konsequenz nährt eine Linke, die aus vermeintlich guten Gründen vor jedem kommunitaristischen Gemeinsinn zurückschreckt, lediglich den antiaufklärerischen Nationalismus ihrer Gegner. Deshalb muss es für die politische Linke nun darum gehen, die Traditionslinien starker Staat und weltoffener Internationalismus als komplementär zu begreifen. Denn tatsächlich braucht nicht nur die Linke den Nationalstaat, sondern auch und gerade der Nationalstaat die Linke. Nicht zuletzt Barack Obama begründete seine politische Laufbahn mit einem fulminanten Bekenntnis zur einigenden Kraft der amerikanischen Nation als Antidot gegen stetig wachsende Polarisierung. Sicher darf eine Rehabilitation der Nation keinem Rückfall in dunkle Zeiten des Ethno-Chauvinismus gleichen. Wachsamkeit bleibt Verpflichtung. Doch angesichts der drängenden globalen Herausforderungen wären gerade die erbittertsten Gegner eines moderaten Nationalgefühls gut damit beraten, ihr Feindbild an die Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts anzupassen, anstatt das schärfste Instrument politischer Steuerung vorschnell aus der Hand zu geben. In Bezug auf Deutschland könnte man Bekenntnisse zu ökologischen und humanitären Verpflichtungen, zu europäischer und globaler Kooperation sowie historisches Verantwortungsbewusstsein und ein klares Ja auch zu europäischer Identität als progressive Bestandteile eines vielschichtigen zivilen Patrio-

Dr. Michael Bröning, geb. 1976, leitet das Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung und ist Herausgeber der Zeitschrift Inter­ nationale Politik und Gesellschaft. Er ist ein regelmäßiger Kommentator deutscher und europäischer Politik in internationalen Medien und schreibt u. a. für Foreign ­Affairs, Politico, Project Syndicate. 2013 war er Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin und im Frühjahr 2018 »John F. Kennedy Memorial Fellow« an der Universität Harvard. Sein jüngstes Buch »Lob der Nation – Warum wir den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfen« erschien im Mai 2018.

tismus identifizieren. Dieser wird eben gerade nicht ethnisch angelegt, sondern als politisches Projekt einer solidarischen und auf die Zukunft ausgerichteten Gemeinschaft verstanden, die prinzipiell nicht allen offen stehen kann, aber sehr wohl konzeptionell jedem. Ein solcher Nationsbegriff wäre dem Alleinvertretungsanspruch der Extremisten entrissen und würde progressiver Politik die Handlungsebene zurückgeben, auf der sie stets ihre größten Erfolge feierte. In seiner Regierungserklärung 1969 hatte Willy Brandt sein Anliegen verkündet, »mehr Demokratie wagen« zu wollen, um jedem Bürger und jeder Bürgerin die Möglichkeit zu geben, »an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken«.10 Dieses Ziel bleibt für progressive Politik richtungsweisend. Wer heute jedoch mehr Demokratie wagen will, mehr Solidarität und mehr Gerechtigkeit, kommt an der Einsicht nicht vorbei, dass dies nur gelingen kann, wenn auch und gerade progressive politische Kräfte bereit sind, mehr Nation zu wagen. Michael Bröning  —  Mehr Nation wagen

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»NUN SAG, WIE HAST DU’S MIT DEM TRANS­ NATIONALISMUS?« DIE TRANSNATIONALE KONFLIKTLINIE UND IHRE ERKLÄRUNGSKRAFT FÜR DEN RECHTSRUCK ΞΞ Gregor Kreuzer

»Die EU sollte den Bewohnern von Inselstaaten, die durch den Klimawandel bedroht sind, die europäische Staatsangehörigkeit anbieten und ihnen eine würdevolle Migration ermöglichen.« Als Ricarda Lang, Sprecherin der Grünen Jugend, am Morgen des 3. August 2018 in der TV-Sendung »ZDF heute« mit dieser Forderung zitiert wurde, ahnte sie vielleicht bereits, dass ihr ein anstrengendes Wochenende bevorstehen würde. Was dann aber wenige Stunden später in den Kommentarspalten der Online-Medien über die junggrüne Politikerin zu lesen war, mag sie dennoch überrascht haben und hatte jedenfalls mit dem, was sich in Lehrbüchern und Akademiereden unter demokratischer Debatte vorgestellt wird, nichts zu tun: In einem Zeitraum von 24 Stunden sammelten sich tausende Beschimpfungen, sexistische Beleidigungen, Morddrohungen sowie Todes- und Vergewaltigungswünsche an. Gleiches passierte Claudia Roth (Grüne), nachdem ihr – im Übrigen fälschlicherweise – durch Alexander Dobrindt (CSU) die Worte in den Mund gelegt worden waren, die Grünen wollten »alle aufnehmen, die als Flüchtlinge auf der Welt unterwegs sind«. Neben der schlichten Tatsache, dass die beiden hier von offener Aggression betroffenen Politikerinnen Frauen in starken Positionen sind, haben ihre Fälle noch etwas anderes gemeinsam: Die Frage nach freier Migration, die den Kern der Forderungen trifft, löst in Teilen der Gesellschaft heftige Emotionen aus. In diesem Text wird die Position vertreten, dass es kein Zufall ist, wenn Forderungen nach mehr Migration zu harschen Reaktionen führen. Im Gegenteil sind Shitstorms von diesem Ausmaß Symptom einer ganz spezifischen neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie, die in ihrer Intensität eine Zäsur im politischen System darstellt. Dabei handelt es sich um den transnationalen Cleavage – ein in den Sozialwissenschaften verbreiteter Begriff, mit dem an die makrosoziologischen Arbeiten von Seymour M. Lipset und Stein Rokkan1 angeknüpft wird. Die Übertragung ihrer Annahmen und Schlüsse auf

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1  Siehe Seymour Martin Lipset u. Stein Rokkan (Hg.), Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives, New York 1967.

gegenwärtige Konflikte hält Erkenntnisse bereit, aus denen sich strategische Handlungsempfehlungen für politische Akteure ableiten lassen. DIE CLEAVAGE-THEORIE UND IHRE WEITERENTWICKLUNG In ihrer Studie »Party Systems and Voter Alignments« beschreiben Lipset und Rokkan die Grundstruktur und Entstehung nationaler Parteiensysteme. Parteien sind demnach Ausdruck sozioökonomischer und soziokultureller Konflikte (Cleavages). Die ursprüngliche Studie orientiert sich an den historischen Ereignissen der letzten Jahrhunderte und identifiziert vier grundlegende Konflikte, die sich im Rahmen nationaler Revolutionen und der Industrialisierung gebildet haben. Demnach bestehen bedeutsame Interessenunterschiede zwischen neu gebildeten, nationalen Zentren und peripheren Räumen (»Zentrum vs. Peripherie«). Hinzu kommt ein Konflikt zwischen säkularem Staat und katholischer Kirche (»Staat vs. Kirche«). Mit den sozialen Verwerfungen der industriellen Revolution hängen schließlich die beiden weiteren Cleavages zusammen: der Gegensatz zwischen traditioneller ländlich-agrarischer und moderner industriell-städtischer Produktion (»Stadt vs. Land«) sowie der Gegensatz zwischen Arbeitern auf der einen und Eigentümern sowie Arbeitgebern auf der anderen Seite (»Arbeit vs. Kapital«). Da Lipset und Rokkan diese vier Konfliktlinien als relativ konstant betrachteten, sahen sie für die Parteiensysteme von 1967 eine hohe Stabilität voraus – quasi ein Einfrieren der einzelnen Parteienlager und ihrer Größenverhältnisse. Obwohl diese »freezing-theory« heute offensichtlich nicht mehr haltbar ist, da sich in Deutschland neben SPD, CDU und FPD auch die Grünen, die LINKEN und die Alternative für Deutschland (AfD) als Akteurinnen im Parteiensystem etabliert haben, wird der Cleavage-Theorie bis heute eine große Erklärungskraft für die Zusammensetzung moderner Parteiensysteme nachgesagt. Vor dem Hintergrund schwindender Wähler*innenbindungen an etablierte Parteien, der Abnahme des Religionskonfliktes als wesentlicher Faktor für die Wählerpräferenzen, dem Schwinden des Industrieproletariats und den damit verbundenen Erschütterungen des Parteiensystems scheint eine aktualisierende Analyse der konstituierenden Gesellschaftskonflikte jedoch nötig zu sein. Vor diesem Hintergrund ist die Lektüre eines von den amerikanischen Politikwissenschaftler*innen Gary Marks und Liesbet Hooghe vorgelegten Papers mit dem Titel »Cleavage theory meets Europe’s crises – Lipset, Rokkan, and the transnational cleavage« überaus lohnenswert. Darin stellen die Autor*innen eine Theorie vor, die sich bei aller Vorsicht auch als »Neo-Cleavage-­T heorie« bezeichnen lässt. Der Cleavage, dem sich Marks und Hooghe in ihrem Aufsatz widmen, beschreibt die Konfliktlinie Pro- vs. Gregor Kreuzer  —  »Nun sag, wie hast du’s mit dem Trans­n ationalismus?«

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Anti-Trans­nationalismus. Mit dem Begriff »Transnationalismus« ist ein Einstellungskatalog zur Internationalisierung von Politik gemeint, der universalistische und kosmopolitische Orientierungen beinhaltet. Im Zentrum des Anti-Transnationalismus steht folglich die Verteidigung nationaler politischer, sozialer und ökonomischer Traditionen gegen Migration, globalen Handel und den Eingriff externer supra- bzw. internationaler Akteur*innen wie bspw. der EU in nationale politische Angelegenheiten. DIE TRANSNATIONALE KONFLIKTLINIE UND IHR VERLAUF Die Ursache des transnationalen Cleavage liegt, folgt man Hooghe und Marks, in solchen Reformen, die eine Abnahme nationaler Souveränität erwirkt, internationalen Handel gestärkt, Migrationsbewegungen zwischen den europäischen Ländern ermöglicht und damit kulturelle sowie wirtschaftliche Unsicherheiten in bestimmten Milieus verschärft haben. Zentral für die kulturellen Unsicherheiten sind dabei die Fluchtbewegungen im Jahr 2015. Während sich in deren Folge Wähler*innengruppen verändert hätten, sei die programmatische Ausrichtung etablierter Parteien zunächst konstant geblieben. Drei Vermutungen aus dem klassischen Cleavage-Modell werden in der Analyse von Hooghe und Marks vorausgesetzt: Erstens seien Parteiensysteme durch die vorangegangenen Konflikte bestimmt; zweitens seien Parteien programmatisch unflexibel; folglich könne drittens ein Wandel des Parteiensystems nur in der Form eines Aufstiegs neuer Parteien erfolgen. Nimmt man diese Prämissen an, so ist die Etablierung neuer, rechter Parteien die logische Konsequenz. Eine wichtige Bedingung dabei ist, dass das deutsche Verhältniswahlsystem aufgrund seiner geringen Hürden die Gründung neuer Parteien begünstigt. In Mehrheitswahlsystemen, die kleine Parteien benachteiligen, ist eher eine Erschütterung der bestehenden Parteien in heftigem internen Streit wahrscheinlich. In Großbritannien hat sich der transnationale Cleavage demgemäß zunächst außerparlamentarisch bemerkbar gemacht: Betrachtet man den »Brexit« als anti-transnationales Symptom im Rahmen einer transnationalen Konfliktlinie, erscheint er in neuem Licht und der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union markiert nicht nur eine neue Ära regionaler Integration, sondern auch des britischen Parteiensystems. Der historische Ursprung des transnationalen Cleavage liegt in den institutionellen Reformen der 1990er Jahre: dem Maastrichtvertrag, der Auflösung der Sowjetunion und der Etablierung regionaler sowie globaler Handelsorganisationen, die alle in ihrem Ergebnis die grenzüberschreitende Mobilität von Personen, Waren und Dienstleistungen befördert haben. Anhand dieser

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Heimat — Analyse

Beispiele wird deutlich, dass es lange Zeit eine breite Zustimmung zur Transnationalisierung sowohl unter gemäßigten Linken als auch gemäßigten Rechten gab – galt sie doch bei den Meinungsführer*innen und Entscheidungsträger*innen als adäquate Reaktion auf globalisierte Probleme, welche die gesamte Menschheit betreffen: Klimawandel, Failed States, Biodiversitätsverlust und Umweltzerstörung. Dazu im Kontrast speist sich die Gegenbewegung zum Transnationalismus aus jenen, die von den Vorzügen der Transnationalisierung nicht profitierten und aus Mangel an Alternativen an ihrer nationalen Bürgerschaft als Quelle des Selbstwerts festhalten wollten. Der Cleavage dient mithin als verbindendes Moment für Akteur*innen, die sich die Verteidigung nationaler Kultur und nationaler Souveränität, die Opposition zu Migrationsbewegungen und Handelsskeptizismus auf die Fahnen geschrieben haben. Je präziser die Akteur*innen betrachtet werden, desto eher fördert die Konfliktlinie »Transnationalismus vs. Anti-Transnationalismus« eine weitere Ausprägung zutage: einen Konflikt zwischen Gebildeten und Ungebildeten. Diejenigen, denen es am meisten an Bildung mangelt, haben gleichzeitig auch die größten Probleme, sich in einer mobilen, transnationalisierten Umgebung zurechtzufinden und mit anderen Akteur*innen zu konkurrieren. Bildung verspricht wiederum denjenigen, die auf ihre persönlichen Fähigkeiten angewiesen sind, eine zumindest relative materielle Sicherheit. Darüber hinaus korrespondiert auch die Fähigkeit zur Empathie gegenüber anderen Lebensweisen mit Bildung. Nicht zufällig ist der Bildungsgrad infolgedessen eng verbunden mit den Einstellungen zu Handel, Migration und Globalisierung. Personen mit geringem Bildungsgrad vertreten weitaus wahrscheinlicher eine exklusive national-identitäre Einstellung, die Fremdenfeindlichkeit und Euroskeptizismus begünstigt.2 Zwar wurde auch schon vor der »Flüchtlingskrise« Migration aus osteuropäischen Ländern in den nordwestlichen und südlichen europäischen Staaten als Problem angesehen. Nichtsdestotrotz gab es während und nach der konzentrierten Fluchtbewegung einen starken Anstieg von Men2  Armen Hakhverdian u. a., Euroscepticism and education. A longitudinal study of 12 EU member states, 1973–2010, in: European Union Politics, Jg. 14 (2013), H. 4, S. 522–541. 3  Liesbet Hooghe u. Gary Marks, Cleavage theory meets Europe’s crises: Lipset, Rokkan, and the transnational cleavage, 2018, S. 124

schen, die Migration ablehnen. Ein weiteres Indiz, das die Neo-Cleavage-Theorie untermauert, ist der Trend zum abnehmenden Einfluss solcher Parteien, die aus den Konfliktlinien klassischer Cleavages hervorgegangen sind. Der Stimmenanteil sozialdemokratischer, christdemokratischer und liberaler Parteien in Europa ist im Durchschnitt von 75 Prozent im Jahr 2000 auf 64 Prozent im Jahr 2017 gefallen.3 Mit wenigen Ausnahmen haben diese Parteien die europäische Integration unterstützt. Hooghe und Marks diskutieren verschiedene Vorschläge Gregor Kreuzer  —  »Nun sag, wie hast du’s mit dem Trans­n ationalismus?«

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zur Benennung der ideologischen Trennlinien, die der Transnationalismus­Nationalismus-Cleavage enthält: Universalismus gegen Partikularismus, Kosmopolitismus gegen Kommunitarismus, GAL (Grün-Alternativ-Libertär) gegen TAN (Traditionell-Autoritär-Nationalistisch).

Der Konflikt scheint sich dabei nicht nur deshalb zwischen GAL- und TAN-Parteien abzuspielen, weil sie im Gegensatz zu allen anderen Parteien

einen Extrempol in transnationalen Fragen einnehmen. Vielmehr betrachten diese Parteien die Themen, die sie bespielen, in einem starken Zusammenhang mit Transnationalismus. Wenn die Grünen sich über Klimawandel, Migration und Flucht, Handel und gesellschaftspolitische Vorstellungen äußern, werden diese Themen sofort in einem Format globaler Gerechtigkeit gedacht. Bei denselben Fragen positioniert sich die AfD im höchsten Maße kommunitaristisch und stellt die Interessen »des Volkes« vor diejenigen der übrigen Weltbevölkerung. AfD-Anhänger*innen lehnen transnationale Solidarität mit großer Vehemenz ab – ökonomisch wie kulturell ist die Ablehnung des Transnationalen allgegenwärtig. Der Kampf gegen europäische Integration und Migration ist Kern der Anstrengungen traditionalistisch-autoritär-nationalistischer Parteien. Ihnen geht es darum, die Nation gegen externe Einwirkungen zu verteidigen. Pro-Transnationalismus hingegen ist in hohem Maße vereinbar mit den soziallibertären, kosmopolitischen und universalistischen Werten grüner Parteien: »TAN and GAL parties take more extreme positions on Europe and immigration than mainstream political parties; they tie these issues into a tightly coherent worldview; they consider them as intrinsic to their programs; and, correspondingly, they give these issues great salience.«4 Die Fortführung der historisch gebundenen Cleavage-Theorie könnte einen neuen Ansatz zur Erklärung von Wähler*innenbindung und Wandlungsprozessen moderner Parteiensysteme liefern. Unterdessen ist der Vorschlag, die

4  Hooghe u. Marks, S. 124.

Gegensätzlichkeit von Kosmospolitismus und Kommunitarismus als gesellschaftlich grundlegenden Kernkonflikt zu begreifen, nicht neu. Zuletzt wurde er vielmehr wiederholt von Politikwissenschaftler*innen als Analysekategorie unterbreitet. Albrecht von Lucke etwa benennt die AfD als Teil einer Gegenbewegung zur emanzipatorischen Globalisierung5 – und Wolfgang Merkel macht eine Fehlpositionierung auf der Achse des Transnationalisierungskonfliktes für die Schwäche der SPD mitverantwortlich.6 DIE INHALTLICHE BANDBREITE DES TRANSNATIONALEN CLEAVAGE Die Intensität des Konfliktes wird deutlich, wenn man einen Blick auf die jeweiligen politischen Selbstverständnisse der anti- und pro-transnationalen

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Heimat — Analyse

5  Siehe Albrecht von Lucke, 50 Jahre APO, 5 Jahre AfD: Von der Revolte zur »Konterrevolution«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 62 (2018), H. 2, S. 41–49. 6  Siehe Wolfang Merkel, Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie, in: Philipp Harfst u. a. (Hg.), Parties, Governments and Elites. The Comparative Study of Democracy, Wiesbaden 2017, S. 9–22.

Parteien wirft, die sich wie Antithesen gegenüberstehen, und deren inhaltliche Ausrichtung auf den Feldern Migrations-, Flüchtlings-, und Europapolitik sowie internationale Handelspolitik betrachtet. Die Grünen verstehen sich selbst als Gegenpol zur AfD, ihr gesamtes Wahlprogramm ist mit Seitenhieben gegen rechte Parteien gespickt. Die AfD gilt Beobachter*innen als Konterbewegung zu den 68ern, also zu dem Milieu, aus dem die Grünen sich zu Beginn ihrer Geschichte hauptsächlich rekrutierten. Während die Grünen in der Flüchtlingspolitik einen internationalen Ansatz und den Erhalt des Grundrechts auf Asyl, offene Grenzen, das Wiedereinsetzen des Familiennachzugs sowie rechtsstaatliche Verfahren befürworten und Abschiebungen kritisch sehen, betont die AfD die nationale Souveränität in Fragen der Migration, stellt das Grundrecht auf Asyl zur Disposition, fordert eine nationale Grenzsicherung und lehnt den Familiennachzug ab. Für die Grünen ist Deutschland ein Einwanderungsland, das ein Einwanderungsgesetz und ein eigenes entsprechendes Ministerium benötige. Um Migrant*innen zu ermöglichen, zu partizipieren und sich besser zu integrieren, fordern sie ein liberales Einbürgerungsrecht. Die AfD dagegen will scharfe Bedingungen für die Einbürgerung von Ausländer*innen und die Einführung des Abstammungsprinzips für Neugeborene. Sie will einen hohen Anpassungsdruck auf diejenigen ausgeübt wissen, denen ein dauerhaftes Bleiberecht zugestanden wird. Die doppelte Staatsbürger*innenschaft soll eingeschränkt, Zuwanderung aus Armutsgründen massiv beschränkt werden. Ein zentraler Gegensatz zwischen der AfD und den Grünen liegt überdies in unterschiedlichen Verständnissen von Staatsbürgertum, die wiederum mit unterschiedlichen Demokratieverständnissen einhergehen. Hier geht es um die Frage, wer oder was »das Volk« sei: Wird es verstanden als eine politische Willensgemeinschaft, die »zufällig, wandelbar und wechselhaft als Sammlung von Individuen auf einem staatlichen Hoheitsgebiet lebt«; oder als ethnische Abstammungsgemeinschaft, in der Ethnizität nicht als »individuelles Identitätsangebot, sondern als kollektiver Identitätszwang« fungiert?7 Der Unterschied zwischen der liberalen und der völkischen Interpretation des Volksbegriffes ist: Erstere erlaubt Transnationalisierung, während Letztere sie in ihrer inhärenten Logik nicht zulässt. Dieser Konflikt trifft den Kern des Transnationalismus-Cleavage. Zudem vertreten die Grünen einen stark europafreundlichen Ansatz, der in die Forderung nach mehr europäischer Integration mündet. Sie befür7 

Samuel Salzborn, Angriff der Antidemokraten. Die völkische Rebellion der Neuen Rechten, Weinheim 2017, S. 20 f.

worten den Schengenraum – und betrachten den »Rechtsnationalismus« als größte Bedrohung für Europa. Die Partei versteht sich selbst als Verteidigerin europäischer Errungenschaften. Die AfD hingegen möchte ein »Europa Gregor Kreuzer  —  »Nun sag, wie hast du’s mit dem Trans­n ationalismus?«

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der Nationalstaaten«, also gewissermaßen eine Desintegration der Europäischen Union. Sie lehnt den Schengenraum ab und verlangt außerdem die Möglichkeit eines Referendums über die EU-Mitgliedschaft nach britischem Vorbild. Hier, anhand des Konflikts zwischen dem Plädoyer der Grünen für eine Übertragung nationaler Souveränitätsrechte an supranationale Organisationen einerseits und dem Streben der AfD, Souveränitätsrechte zurückzuerlangen, andererseits, zeigt sich der Konflikt Transnationalisierung gegen Nationalisierung musterhaft. Die wohl wichtigste Rolle bei den politischen Gestaltungswünschen der AfD aber spielt die Anti-Islam-Haltung. Islamfeindlichkeit und regressive Asylpolitik gehen miteinander einher. Die Gegner*innenschaft, die Grüne und AfD in Fragen der islamischen Religionsausübung einnehmen, wird in den theoretischen Ausführungen von Hooghe und Marks nicht erwähnt, hat jedoch gerade in der deutschen Debatte eine wichtige Bedeutung. Der in den jeweiligen Wahlprogrammen der beiden Parteien zur Bundestagswahl 2017 proklamierte Umgang mit dem Islam ist auffällig gegensätzlicher Art: Zwar äußern sich die Grünen kritisch gegenüber instrumentalisierbaren, politisierten muslimischen Verbänden; trotzdem bekennen sie sich mit dem Satz: »Der Islam gehört zu Deutschland«, deutlich zur Religionsfreiheit – die einen neutralen, säkularen Staat voraussetzt. Die AfD ihrerseits widmet der Ablehnung des Islam ein eigenes Kapitel, dessen Ausführungen sich wie der direkte Gegenentwurf zur grünen Position lesen: »Der Islam gehört nicht zu Deutschland«, lautet der erste Satz eines Plädoyers gegen die »Ausbreitung des Islam und der Präsenz von über 5 Millionen Muslimen, deren Zahl ständig wächst«.8 Muslime seien gefährlich und ihrer Religionsausübung müssten staatliche Schranken gesetzt werden. Die geradezu obsessive Islamfeindlichkeit der AfD macht sich an den Relationen innerhalb des Wahlprogramms deutlich: Während das Konfliktfeld Europa als selbstständiges Thema eine halbe Seite im Wahlprogramm einnimmt, füllen der Anti-Asyl- und der Anti-Islam-Teil zusammengenommen sechs Seiten. Dass der Umgang mit dem Islam einen transnationalen Bezug hat, ist nicht sofort ersichtlich; jedoch sprechen zwei Gründe für die Aufnahme islamfeindlicher Orientierungen in einen anti-transnationalen Einstellungskatalog. Die AfD beruft sich auf das Christentum, jedoch nicht im religiösen Sinne. Das Christentum wird für die AfD als Chiffre zur Ablehnung des Andersartigen – Islamfeindlichkeit spielt im Kern mit rassistischem Ressentiment. Es geht also erstens um die Verteidigung nationaler Identität, um Leitkultur gegen Kulturpluralismus. Zweitens ist gerade vor dem Hintergrund, dass weit über die Hälfte der Asylsuchenden aus muslimisch geprägten Ländern stammen, eine transnationale Prägung dieses Konfliktes erkennbar.

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Heimat — Analyse

8  Alternative für Deutschland, Programm für Deutschland, Berlin 2017, S. 45.

JUNGE STÄDTE GEGEN ALTES LAND? Genauso aussagekräftig wie die Parteiprogramme von Bündnis 90/Die Grünen und AfD ist eine Betrachtung ihrer Wähler*innenmilieus. Bei der Bundestagswahl 2017 erreichten die Grünen 8,9 Prozent. Dabei erzielten sie höhere Anteile bei Wählerinnen mit 10,2 Prozent als bei männlichen Wählern mit 7,2 Prozent. Besonders stark schnitten die Grünen bei jungen Menschen im Alter von 18–24 Jahren mit 14,6 Prozent ab, schwach hingegen bei den Altersgruppen ab sechzig Jahren. Von allen im Bundestag vertretenen Parteien ist die Altersstruktur der Wähler*innen der Grünen am jüngsten. Schwach schnitten sie allerdings in den neuen Bundesländern ab: Dort erhielten sie mit 4,2 Prozent im Vergleich zum Westen prozentual weniger als die Hälfte der Stimmen. Sozialstrukturell ist die grüne Kerngruppe in der neuen Mittelschicht verortet. Dazu gehören Beschäftigte in Dienstleistungsberufen, Beamte sowie Angestellte im Bildungs- und Hochschulbereich, auch die kritische Intelligenz in technischen Berufen. Aufgrund dieser Struktur werden die Grünen häufig als Partei des Dienstleistungssektors bzw. des Reproduktionsbereiches bezeichnet. Bei gering Gebildeten und gering Qualifizierten konnten die Grünen in der Vergangenheit lediglich geringe Stimmenanteile verbuchen. Bei jungen Menschen, Frauen, Wähler*innen mit Abitur und Hochschulabschluss sowie Konfessionslosen verbuchen sie hingegen überdurchschnittlich gute Ergebnisse.9 Bei der Bundestagswahl 2017 holte die AfD 12,6 Prozent der Stimmen. Dabei lag der Zuspruch in allen Bundesländern bei Männern mit 16,3 Prozent deutlich höher als bei Frauen mit 9,2 Prozent. Darüber hinaus erreichte die AfD in den neuen Bundesländern mit 21,9 Prozent mehr als doppelt so viele Stimmen wie im Westen. In der männlichen Altersgruppe von 35–59 Jahren schnitt die AfD besonders stark ab: Fast jeder fünfte Mann dieser Alters9 

Lothar Probst, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, in: Oskar Niedermayer (Hg.), Handbuch Parteienforschung, Wiesbaden 2013, S. 509–540.

10  Christian Franz u. a., AfD in dünn besiedelten Räumen mit Überalterungsproblemen stärker, in: DIW-Wochenbericht, H. 8/2018, URL: https://www. diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.578543. de/18-8-3.pdf [eingesehen am 29.01.2019], S. 135–144. 11 

Ebd., S. 135.

gruppe wählte die AfD. Am schwächsten fiel das Ergebnis aus bei Erst- und Jungwähler*innen sowie Männern im Rentenalter, von denen bloß etwa jeder zehnte seine Zweitstimme der AfD gab. Eine ähnliche Verteilung findet sich auch bei den Wählerinnen – nur durchweg niedriger. »Soziostrukturell ist die AfD damit der Linkspartei am nächsten«10. Sie spricht im Westen vor allem Personen mit niedrigem Haushaltseinkommen und überproportional stark Beschäftigte in der Industrie an, während in Ostdeutschland ein signifikanter »Zusammenhang mit hohem Anteil an älteren Menschen und mit hoher Dichte von Handwerksbetrieben«11 heraussticht. Dabei gilt generell: je höher die Handwerksdichte, desto ländlicher die Region. Dieser Zusammenhang ist ein Erklärungsansatz für die hohe Unterstützung der AfD im ländlichen Raum und in überalterten Wahlkreisen. Gregor Kreuzer  —  »Nun sag, wie hast du’s mit dem Trans­n ationalismus?«

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Die Gegensätze in der Wähler*innenschaft sind also immens und vor allem soziodemografischer Natur: Geschlecht, Alter, Bildungsgrad, Raumstruktur und Einkommen. Die Grünen werden überdurchschnittlich oft von Frauen unterstützt, die AfD überdurchschnittlich oft von Männern. Grünen-Wähler*innen sind besonders jung, während AfD-Wähler*innen eher in älteren Altersgruppen gut abschneiden. Das grüne Rekrutierungsmilieu ist eher gebildet und wohnt in urbanen Regionen, während diejenigen, die sich für die AfD entschieden haben, aus handwerklich geprägten ländlichen Gegenden kommen. Auch der Ost-West-Gegensatz wird deutlich: Während die Grünen im Osten schwach sind, ist die AfD dort stark, im Westen ist es tendenziell umgekehrt. Die AfD spricht sozialstrukturell am ehesten Menschen mit niedrigem Einkommen an, während die Grünen die eher »gut situierten« Menschen für sich gewinnen können. Diese absolute Gegensätzlichkeit ist frappant: Die Grünen werden genau von denjenigen am wenigsten gewählt, welche die AfD unterstützen, während die AfD im jungen urban-universitätsstädtischen Milieu am schlechtesten abschneidet – in genau jenem Milieu, welches die Grünen seit jeher besonders erfolgreich mobilisieren. Anhand der Wähler*innenschaft beider Parteien zeigt sich eine Überschneidung mit der These, dass die Transnationalisierung am ehesten von Gebildeten getragen wird, während weniger Gebildete sich eher auf Werte nationaler Identität berufen. In der jeweiligen elektoralen Verankerung der Parteien findet sich ein weiterer Konflikt wieder: der Stadt-Land-Konflikt aus der historischen Cleavage-­ Theorie. Der Mainzer Politikwissenschaftler Gerd Mielke nimmt an, dass Lipset und Rokkan die ökonomische Dimension des Stadt-Land-Konfliktes überbewerteten und die kulturelle Dimension unterschätzten.12 Das unterschiedliche Wahlverhalten der Gruppen scheint diese These zu untermauern. Ein Vergleich der Wahlprogramme zeigt: Die Forderungen der Grünen und der AfD in der Asyl-, Einwanderungs- und Europapolitik sowie im Umgang mit muslimischen Glaubensrichtungen in Deutschland stehen sich quasi als diametrale Gegensätze gegenüber und entsprechen den in der Neo-Cleavage-­ Theorie prognostizierten Haltungen. Auch zwischen den Wähler*innen beider Parteien lassen sich gravierende Dichotomien finden. Diese Unterschiede entsprechen den Vermutungen von Hooghe und Marks. Lassen sich die Grünen als Partei der Transnationalisierung bezeichnen, so scheint die AfD ihnen sowohl in programmatischer Hinsicht als auch in Bezug auf ihr Wählerprofil antithetisch gegenüberzustehen. Dass dieser Gegensatz eine transnationale Ausprägung hat, scheint plausibel.

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Heimat — Analyse

12  Siehe Gerd Mielke, Gesellschaftliche Konflikte und ihre Repräsentaiton im deutschen Parteiensystem. Anmerkungen zum Cleavage-Modell von Lipset und Rokkan, in: Ulrich Eith (Hg.), Gesellschaftliche Konflikte und Parteiensysteme. Länder- und Regionalstudien, Wiesbaden 2001, S. 77–95.

WARUM ERST JETZT? Stellt sich noch die Frage, warum die Reaktion der Anti-Transnationalen so lange ausblieb? Schließlich gibt es die Globalisierungstendenzen nicht erst seit 2015. Als Versuch zur Beantwortung dieser Frage kann eine Hypothese dienen: Sowohl Transnationalismus befürwortende als auch ablehnende Positionen benötigen eine intellektuell-argumentative Tiefe, die von den Anti-Transnationalen erst mit dem Aufkommen der AfD erreicht wurde. Mit dem schwindenden Einfluss des akademisch verankerten Parteiflügels und der schrittweisen Radikalisierung der AfD hin zur rechtspopulistischen, völkisch-nationalistischen Partei wurde diese argumentative Tiefe dann heruntergebrochen. Seitdem die AfD in deutsche Parlamente einzieht und sich als Kraft rechts der Union etabliert, ist immer mehr die positive Bezugnahme auf die Idee einer nationalen Identität und die oben vorgestellte obsessive Beschäftigung mit dem Islam, die in rassistisches Ressentiment mündete, hervorgetreten. Gleichzeitig haben wir es mit einem Wähler*innenmilieu zu tun, das nicht tatsächlich »abgehängt«, sondern schlicht ausländer*innenfeindlich ist13 – eine Eigenschaft, die es zu den pro-transnationalen Debatten der politischen Öffentlichkeit inkompatibel macht und es vor dem Aufkommen der AfD möglicherweise von einer Wahlteilnahme abgehalten hatte. Diese Konstellation aus einer islamfeindlichen, nationalistischen Partei und einem ausländer*innenfeindlichen Milieu legt einen Schluss nahe: Die Übersetzung eines argumentativ fundierten Euroskeptizismus in rassistische 13  Vgl. Martin Schröder, AfD-Unterstützer sind nicht abgehängt, sondern ausländerfeindlich. SOEPpapers on Multidisciplinary Panel Data Research, Berlin 2018.

Islamfeindlichkeit und die positive Bezugnahme auf die deutsche Nation haben das nicht-intellektuelle, global-immobile, ausländer*innenfeindliche anti-transnationale Milieu für die Teilnahme am politischen Diskurs reaktiviert. Die Legitimation von anti-transnationalen Positionen durch etablierte Parteien wie die CDU, die FPD, aber insbesondere auch die CSU, die in vielen grundlegenden Fragen eine ähnlich anti-transnationale Agenda wie die AfD vertritt, könnte das politische Selbstbewusstsein dieses Milieus noch zusätzlich gestärkt haben. Man muss zudem beachten, für welche Fragen der Tagespolitik das Theorem des Transnationalismus-Cleavage eine Aussagekraft besitzt. So läge nahe, bspw. den Streit in der CDU/CSU um die Ausrichtung in der Asylfrage als

Gregor Kreuzer, geb. 1996, studiert Politik­wissenschaft an der Georg-­August-Universität in ­Göttingen. Nebenbei engagiert er sich bei den Grünen und arbeitet für den Bundestagsabgeordneten Jürgen Trittin.

Symptom einer transnationalistischen Spaltung zu begreifen. Für den aktuellen Höhenflug von Grünen und AfD scheint das Modell zumindest eine gewisse Erklärungskraft zu besitzen. Verlauf und Ausgang der Europawahl 2019 werden sicherlich zu weiteren Erkenntnissen über den transnationalen Cleavage führen.

Gregor Kreuzer  —  »Nun sag, wie hast du’s mit dem Trans­n ationalismus?«

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ESSAY

DIE HÜRDEN DES SUCHENS UND FINDENS GEDANKEN ÜBER DIE HEIMAT1 ΞΞ Ulrike Guérot

I. HUCH, ÜBERALL HEIMAT? Lange wurde nicht mehr so viel über Heimat, Identität oder auch Nation geredet wie heute. Wo kommt das auf einmal her? 1964 im Rheinland geboren, kann ich mich nicht daran erinnern, dass es früher, als Deutschland noch Bundesrepublik hieß, wichtig war, seine Heimat zu betonen. Man hatte eine Heimat, klar; aber man redete nicht ständig darüber. Heimat war irgendwie selbstverständlich, im Sinne, dass jeder irgendwo herkommt, eine Familie, eine Herkunft hat. Schon gar nicht war die Nation die Heimat – allein schon,

1  Aus Zeitgründen leider kein wissenschaftlicher Beitrag zum Begriff »Heimat«, sondern lediglich ein paar – hoffentlich inspirierende – Gedanken.

weil auch über die Nation als solche nicht geredet wurde. Laut einer Umfrage zum Thema Heimat2 ist das heute immer noch so: Die meisten Deutschen denken bei »Heimat« nicht an Nation. »Heimat« ist Kindheit (87 Prozent), Familie (87 Prozent), Freunde (84 Prozent) oder Geborgenheit (72 Prozent). Die Nation kommt in diesen Aufzählungen nicht einmal vor. Warum ist sie dann im aktuellen politischen Diskurs so präsent, wo die Nation

2  Thomas Petersen, Das denken die Deutschen über Heimat, in: faz.net, 25.04.2018, URL: https:// www.faz.net/aktuell/politik/inland/ deutsche-sprechen-in-der-allensbach-umfrage-ueber-ihr-heimatgefuehl-15558259.html [eingesehen am 20.12.2018].

auf einmal zu einem Inbegriff von Heimat stilisiert wird, die es zu schützen gelte? Die Antwort liegt auf der Hand: Heimat wird von einigen Parteien gezielt und mit verlegerischer Marktmacht unterlegt, gleichsam in den öffentlichen Diskurs gepresst wie ein Einlauf.3 Der »identitäre Diskurs« bzw. das Gerede über die »konservative Revolution«4, bei dem Heimat – schlimmer: die Nation als Heimat – auf einmal eine zentrale politische Rolle spielt, ist menmade, ist medial gemacht, ist herbeigeredet. Im Foucault’schen Sinne wird gezielt und intendiert eine Diskurshoheit geschaffen. Diese bereitet realiter den Boden für den aktuellen politischen Rechtsruck – egal, ob dieser sich im politischen Streit um Sicherheit, Überwachung, Asylgesetzgebung, Geflüchtetenkrise, Art. 219a, Sozialgesetzgebung, Europa oder Ehe für alle manifestiert.

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3  Als Bespiel für die Zeitschriften der Neuen Rechten bspw. Junge Freiheit, Sezession, Cato oder die Publikationen des Antaios-Verlages. 4  Alexander Dobrindt, Wir brauchen eine bürgerlich-konservative Wende, in: Die Welt, 04.01.2018; Thomas Meyer, Anschwellender Revolutionsgesang. Über die neuen und alten Rechten, Folge 1+2, in: Deutschlandfunk, Sendungen vom 23.09.2018 u. 30.09.2018.

Die Begriffe »Heimat«, »Identität« und »Nation« dürften nicht den Rechten überlassen werden, so der progressive Michael Bröning in seinem Buch »Lob der Nation«5. Doch etwas zu tun, nur weil andere es tun, ist schon aus der Kinderpädagogik nicht als probatestes Mittel der Aufklärung bekannt. Wenn alle über Heimat und Nation reden – obgleich, siehe Umfragewerte, niemand eine Nation braucht, um glücklich zu sein –, dann bekommen wir auch Heimat und Nation (oder Nation als Heimat); denn Sprache schafft Wirklichkeit. »Am Anfang war das Wort«, so steht es schon im Johannesevangelium. Mit Blick auf das, was die Menschen laut Umfrage wirklich unter Heimat verstehen, wäre der Heimatbegriff damit im öffentlichen Diskurs völlig pervertiert. Aus der Heimat eine Leitkultur oder gar eine Seele zu machen, ist darum irritierend; da kann sich Thea Dorn6 noch so abmühen, dass »‚deutsch nicht dumpf« sei: Ist es doch! Glücklich natürlich, wer keine Heimat braucht, um sich seiner selbst zu vergewissern; aber die in der Moderne zur Flexibilität genötigten Menschen sind meist auf Identitätssurrogate angewiesen – da ist »deutsch« als Angebot für »Heimat« nur ein Angebot unter vielen: Gerne genommen werden auch Prada-Taschen, Armani-Jeans, Boss-Anzüge, veganes Superfood, Alt-68er-Marotten oder militantes Nichtrauchertum. Die schönste Abhandlung zum Missbrauch des Begriffes deutsch hat vor Kurzem Peter Trawny geschrieben,7 der die Bodenständigkeit Heideggers der Ästhetik von Adorno gegenüberstellt: Heideggers Bauer, der vor seiner Scheune auf einer Bank sitzt und eine Pfeife raucht, ist nicht originär deutsch – oder im Heidegger’schen Fall: schwarzwälderisch –, sondern eine universale Ästhetik für mit-sich-im-Reinen-sein. II. HEIMAT IST NICHT IDENTITÄT Jeder Sesshafte – und das sind heute die meisten – hat a priori eine Heimat; egal, ob er sich in ihr wohlfühlt, dortgeblieben ist, noch in ihr lebt, der Liebe oder der Arbeit wegen aus der Heimat weggegangen ist, vor den Eltern abgehauen ist, flüchten musste, weil der heimatliche Boden, das Dorf, die Stadt, die Region ihn nicht genährt hat oder er gar vertrieben wurde, durch Bürgerkrieg, Krieg, Terror. Heimat als Geburtsort ist und bleibt unveräußerlich, 5  Michael Bröning, Lob der Nation, Bonn 2018. 6  Siehe Thea Dorn, Deutsch, nicht dumpf, München 2018.

Heimat als Identität aber ist Ideologie. In der Soziologie wurde »Heimat« u. a. als »symbolische Ortsbezogenheit« übersetzt, die notwendigerweise stark biografische Elemente hat. Die Frage – in verschiedenen Ausdifferenzierungen – ist, ob jemand seine Heimat eher freiwillig oder gezwungenermaßen verlässt? Viele gehen freiwil-

7  Siehe Peter Trawny, Was ist deutsch? Adornos verratenes Vermächtnis, Berlin 2016.

lig aus der Heimat, auch wenn sie gerne in sie zurückkehren. Was den einen Glück ist, ist den anderen Graus, dem sie schnell den Rücken kehren wollen, Ulrike Guérot  —  Die Hürden des Suchens und Findens

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des Muffs, der Spießigkeit, der Beengtheit, der sozialen Kontrolle oder des besseren Jobs wegen. Über die Jahrhunderte hinweg ist das Verhältnis – externe Zwänge wie Hungersnöte oder Krieg nicht eingerechnet – cum grano salis ein »Zwei-Drittel-/Ein-Drittel-Verhältnis«: Rund zwei Drittel der Menschen bleiben in friedlichen Zeiten im Umkreis von rund fünfzig Kilometern dort wohnen, wo sie geboren wurden; ein Drittel zieht es weg,8 aus welchen Gründen auch immer. Liegen externe Gründe oder Zwänge vor, verhält es sich freilich anders. Schwierig wird es, wenn ein Recht auf Heimat (oder ein Recht auf Rück­ kehr in die Heimat) reklamiert wird, z. B. in Bezug auf die sogenannten Heimatvertriebenen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Meist geht es

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Heimat — Essay

8  Dass dies über die Jahrhunderte in Europa so war, zeigt Krzysztof Pomian in seiner Studie: Europa und seine Nationen, Berlin 1990.

dabei auch nicht um die Heimat oder um Rückkehr, sondern um den Verlust von Hab und Gut, der kompensiert werden soll. Dies wiederum funktioniert in Diskussionen über Heimat jedoch meist nur mit Blick auf die jeweils eigene Heimat, die reklamiert wird. Den heute Geflüchteten, zumeist aus Afrika, welche die tagespolitische Debatte beherrschen, konzediert niemand ein Recht auf Heimat oder ein Recht darauf, dass der reiche Westen diese nicht zerstört oder gar den Verlust an ihrem Hab und Gut, zum Beispiel in 9 

Dazu als aktuelle Literaturhinweise: Achille Mbembe, Politik der Feindschaft, Berlin 2017 u. Pankaj Mishra, Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2017.

Syrien, restituiert.9 Die Geflüchteten haben kein Recht, sondern – aus westlicher Sicht – eher die Pflicht, in ihrer Heimat zu bleiben – auch wenn diese zerstört wird. Und wenn sie dies nicht tun und trotzdem – im engeren, asylrechtlichen Sinne »grundlos« – ihre Heimat verlassen, werden sie im Westen Ulrike Guérot  —  Die Hürden des Suchens und Findens

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abgeschoben. Die meisten Geflüchteten würden darum wahrscheinlich nicht einmal darauf kommen, aus ihrer (zerstörten) Heimat eine Identität zu machen und ein Rückkehrrecht zu ersuchen: Sie suchen ein Leben, keine Heimat! Schwierig wird es daher tatsächlich, wenn Heimat bzw. Herkunft heute zum zentralen Charakteristikum für Identität gemacht wird – wie es leider auch in progressiven Kreisen Usus oder hip wird –, »weil jegliche Betonung von Identität einer Verdinglichung unterliegt, die die Identität bis hin zu ihrer Unkenntlichkeit verzerrt«10. Vor Kurzem – in einer Diskussion in Berlin – begannen alle Teilnehmenden mit der Feststellung ihrer geografischen bzw. »­racial« Herkunft, die wie eine Monstranz vor dem Argument hergetragen wurde. Denn was trägt es zu einer Diskussion über Europa bei, seinen Beitrag zu beginnen mit: »I am an American-Egyptian and I want to say …«? Mit dieser Feststellung ist noch nicht gesagt, ob man einer reichen oder armen ägyptischen Familie entstammt, ob man in der Stadt oder auf dem Land geboren wurde und ob man in der geschwisterlichen Konstellation zum Beispiel die Schwester dreier älterer Brüder oder Einzelkind ist: alles Dinge, welche die Identität nachweislich viel stärker beeinflussen als die regionale Heimat oder Herkunft. Selbst in derselben Region bzw. Heimat kann man in ein bürgerliches Milieu oder eine Harz-IV-Familie geboren werden, und beide Personen können die Heimat gleichermaßen verabscheuen oder lieben – und doch völlig verschieden darüber denken. Wie kann es sein, dass Karl Marx und Sigmund Freud heute in Diskussionen so leer nach Hause gehen? Wahrscheinlich ließe sich recht gütlich Einigung darüber erzielen, dass Heimat cum grano salis mindestens drei Komponenten innewohnen: eine geografisch-territoriale (der Geburtsort), eine emotional-soziale (Familien, Freunde, Partnerschaft) und eine geistig-spirituelle (was ich denke und an was ich glaube). Auch die Heimat als solche ist also, gleich einer Person, ein BodyMind-Soul-Paradigma; und die Kunst besteht darin, die drei verschiedenen Heimaten möglichst irgendwie kongruent zu bekommen oder doch zumindest im Gleichgewicht zu halten bzw. das Fehlen der einen Heimat durch die Präsenz der anderen Heimaten zu kompensieren: Ich kann die geografische Heimat auf dem Land für eine Liebe in der Stadt verlassen haben, wo ich mit einem gleichdenkenden oder gleichglaubenden Partner glücklich lebe; dann richte ich es mir in meiner emotional-geistigen Heimat gemütlich ein und kompensiere damit den Verlust der physischen Heimat. Oder ich bleibe in der physischen Heimat, bspw. aus Naturverbundenheit zu einer bestimmten Region, und verzichte dafür bewusst auf einen womöglich besser bezahlten Job: Wer an welchem Stückchen von Heimat welche Abstriche macht und diese anders kompensiert, bleibt dabei jedem selbst überlassen. Im Regelfall

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Heimat — Essay

10 

Trawny, S. 34.

gilt wie bei Body-Mind-Soul: Zwei der drei Heimat-Komponenten müssen in einem Leben ungefähr stimmig sein. Aber auch, wenn ich mich mit diesen Heimat-Komponenten identifiziere, bestimmen sie nicht meine Identität. Eine Persönlichkeitsentwicklung ist von Heimat weitestgehend unabhängig, sie hängt eher an ergriffenen und gemeisterten – oder vertanen – Lebenschancen. III. HEIMAT, EIN PHANTOMSCHMERZ? Wenn heute der Verlust von Heimat beklagt wird, dann könnte damit ein Phantomschmerz gemeint sein.11 Denn »Heimat ist kein Gegenstand, den ich besitzen kann, kein Objekt, das ich haben will«12. Geklagt wird nicht eigentlich über den Verlust von Heimat, sondern darüber, dass diese sich so sehr verändert habe, dass man sie nicht mehr wiedererkenne. Sei es, dass der eigene Geburtsort, etwa das Dorf, durch die demografische Veränderung gleichsam stirbt, aber trotzdem keine Möglichkeit besteht, ihm den Rücken zu kehren; sei es, dass die Natur in der Heimat sich aufgrund der ökologischen Probleme massiv verändert, wie bspw. in den Bergen oder an den Küsten, oder einem selbst im heimischen Garten die Biene und das Glühwürmchen fehlen; sei es, dass zu viele Leute zuziehen, sodass die eine soziale Gemeinschaft, die früher überschaubar(er) war, gleichsam »gesprengt« würde: Es gibt viele Gründe, den Verlust der Heimat, wie sie früher einmal war und nicht mehr ist, zu betrauern. Theodor W. Adorno hat sich daher vor der Feier der Heimat und der Klage der Heimatlosigkeit stets gehütet,13 und zwar genau aus diesem Grund: Heimat bzw. die mit ihr verbundene Betonung der Identität kann es nur als verlorene, ja, als unbekannte geben. Wichtig ist darum, zu differenzieren, nicht den Verlust von Heimat an sich zu beklagen – in der Heimat zu wohnen, bleibt ja unberührt –, sondern wahlweise zu beklagen: eine ungehemmte Verschandelung von Natur und die Zerstörung von Lebensräumen; postmoderne Beschleunigungen,14 die 11  Christian Schüle, Heimat. Ein Phantomschmerz, München 2017.

das eigene soziale Leben sprengen und keine Zeit mehr für Familie oder Freunde lassen, geschweige denn für Muße und Entspannung im heimischen Verein, Schwimmbad oder Wald; neoliberale Produktions- und Eigentums-

12 

Trawny, S. 34. 13 

Vgl. ebd.

14  Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Berlin 2013. 15 

Vgl. Petersen.

verhältnisse, die dazu führen, dass das eigene Stadtviertel entweder marode oder gentrifiziert wird und dergleichen. Mit anderen Worten: Der gefühlte Verlust von Heimat wird zur Chiffre für die Kritik an postmodernen Lebenswelten und de facto am Kapitalismus oder für die Trauer über verpasste Lebenschancen. Heimat wird zur Projektion einer Vergangenheit, die möglicherweise real tatsächlich besser gewesen ist, möglicherweise auch nur im Rückblick romantisch verklärt wird.15 Die Notwendigkeit einer »konservativen Revolution« ergibt sich daher konkludent aus dem projizierten Verlustgefühl Ulrike Guérot  —  Die Hürden des Suchens und Findens

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von Vergangenheit und in der nostalgischen Anwandlung, diese könne rekonstruiert werden. Wie jeder weiß, scheidet sich dabei die Vergangenheit in jene, die vergoldet und zur »inneren Heimat« wird, und das schlechte Gedächtnis in Form von bewusst oder unterbewusst Verdrängtem – so ähnlich wie Aschenputtel die guten Erbsen ins Töpfchen und die schlechten ins Kröpfchen einsortiert hat. IV. HEIMAT IST DA, WO ICH LEBEN HABE Nach diesen Dekonstruktionen des Heimatbegriffs, zumal seiner derzeit sträflichen Verdinglichung im politischen Diskurs (Stichwort: »Heimatministerium«), kann über Heimat vielleicht eher das Folgende gesagt werden: Heimat ist der (imaginierte) Ort, an dem hinter jedem Gegenstand eine Erinnerung schlummert; dieser Ort aber kann ein Baum vor dem Elternhaus sein, eine Stadt oder eine Kneipe, in der ich mich heimisch fühle, weil man mich dort kennt und weil ich mich erkannt fühle. Dieser Heimatort kann aber auch ein Fotoalbum oder ein Buch sein, das ich am anderen Ende der Welt anschaue oder lese. In der Heimat kann man nicht abtauchen, sich nicht verstecken; in die Heimat taucht man ein. In der Heimat wird man erkannt, ist man geborgen, ist man zu Hause. Aber das Zuhause ist im besten Fall ein Ganz-bei-sich-sein, und zwar ganz egal, wo man ist. In der Heimat ist man da. Kurz: Heimat ist ein Lebensgefühl, überhaupt das Gefühl, ein Leben, eine Zukunft zu haben und etwas Sinnvolles zu tun; und das kann a priori überall sein. In diesem besagten Sinne dafür zu sorgen, seine eigene geistige oder auch spirituelle Heimat zu finden, aus der sich Lebensglück und Zufriedenheit erzeugen lassen – unabhängig davon, wie die territoriale Beheimatung aussieht –, und es sich dort einzurichten, mehr noch: Sich in dieser Heimat de facto auch frei von emotionaler und sozialer Bedürftigkeit oder auch Anerkennung zu machen, ist nicht nur als wahres Freiheitsversprechen das Ziel der Aufklärung für mündige Bürger; es ist im Grunde auch der Leitsatz jeder spirituellen Lebensausrichtung.16 So soll der Lotussitz als höchstes Asana der Yoga-­P raxis zum Beispiel an die Lotusblume erinnern, die mitten aus dem Schlamm erwächst, um kenntlich zu machen, dass man, in letzter Konsequenz, auch in einem Gefängnis innerlich frei sein kann, wenn einem die äußere Freiheit verwehrt ist. Heimat hat nur – und immer! –, wer bei sich angekommen ist. Als solche ist Heimat unveräußerlich und kann nicht gegeben (oder genommen), sondern muss selbst errungen werden. Wer keine Perspektive im Leben hat, dem hilft auch eine physisch neue Heimat nur wenig, selbst wenn sie sicher ist. Dass dies, je nach Widrigkeit der Lebensumstände, ganz und

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Heimat — Essay

16  In den Yoga-Sutren des Patanjuli bspw. heißt es: »May all Beings be Happy and Free«.

gar nicht einfach und oft nicht möglich ist, versteht sich von selbst. Wahrscheinlich aber hätte heute ein heimatbetonter AfD-Wähler in Deutschland unterm Strich mehr Mittel und Wege, sich einem solchen Heimatbegriff im Sinne von Innerlichkeit wenigstens anzunähern als bspw. ein siebenjähriges jemenitisches Kriegs- und Flüchtlingskind. Europa ist Sehnsuchtsort für geschätzt zehn Millionen Flüchtende aus Afrika, die buchstäblich ihr Leben dafür geben würden (und geben!), in Europa beheimatet zu sein, im Sinne von: ein Leben zu bekommen. V. KANN EUROPA HEIMAT SEIN? Europa ist die geografische Heimat für die rund 510 Mio. Menschen, die heute auf dem europäischen Kontinent leben – wobei unklar ist, inwiefern sie diesen Kontinent als ihre Heimat angenommen haben. Indes gäbe es in Europa keine politische Populismuskrise, wenn nicht Viele – siehe Gedankengang drei – unter Phantomschmerzen mit Blick auf ihre Heimat litten. Wer ihnen Heimat und damit ein Leben wiedergeben will, der müsste nicht Heimatministerien gründen und nationalistische Parolen schwingen, sondern die Dinge bekämpfen, auf denen sich der Heimatbegriff wie ein Pilz in feuchter Umgebung ausbreiten kann: die soziale Krise, das Auseinanderdriften der Gesellschaft und die Zerstörung eines natürlichen Lebensumfeldes. Ohne dies hier im Detail ausführen zu können: Sofern die heutige Sehnsucht nach und die Verführung zur Heimat eine Chiffre für die Zerstörung des sozialen Schutzraumes einer Gemeinschaft sind, läge nahe, die Wiederherstellung dieses Schutzraumes in einem handlungsfähigen Europa zu suchen, das als großer politischer Akteur – so er einig wäre – in der internationalen Arena besser vor Klimawandel, der Steuerflucht großer Konzerne oder den teilweise verhängnisvollen Folgen des Welthandels schützen könnte. Dafür müsste die EU sich allerdings aufmachen, politisch zu werden im Sinne einer Res ­Publica Europaea, des Schutzes der Interessen ihrer Bürgerinnen und Bürger, und zwar jenseits der Organisation eines gemeinsamen Marktes und einer gemeinsamen Währung.17 Ein »Europa, das schützt«, ist zum Beispiel auch das Motto der laufenden österreichischen EU-Ratspräsidentschaft und jenes von Emmanuel Macron. Dabei geht es nicht um Identität oder die Aufgabe von Identität oder Heimat zugunsten eines europäischen Superstaates, sondern darum, dass Europa als 17  Vgl. dazu in gebotener Länge Ulrike Guérot, Europäische Republik: Von der EU-Rechtsgemeinschaft zur europäischen Demokratie, in Juridikum, Jg. 29 (2018), H. 4, S. 489–497.

politischer Schutzraum (im Bereich des Sozialen ebenso wie etwa im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit) wahrgenommen wird, der die Wünsche der Bürgerinnen und Bürger wie auch ihre Souveränität unmittelbar – und nicht wie bisher nur mittelbar – mit den politischen Handlungssträngen Ulrike Guérot  —  Die Hürden des Suchens und Findens

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europäischer Politik verbindet: Bei vollständiger Parlamentarisierung und Gewaltenteilung könnte die EU ein solches politisches (letztlich verfassungspatriotisches) Projekt werden, nie aber Heimat. Diejenigen jedoch, die derzeit auf einen Heimatbegriff im Sinne von Renationalisierung pochen, verraten die als Chiffre artikulierte Sehnsucht nach Heimat insofern, als sie sich der politischen Möglichkeiten begeben, die Rekonstruktion sozioökonomisch stabiler Lebenswelten durch ein geeintes und handlungsfähiges Europa herzustellen. Sie bekämpfen das Symptom, eben den Phantomschmerz Heimat, nicht aber die Ursachen, die vorgängig zum Heimatverlust geführt haben. Die Flucht ins Nationale nach dem Motto »The flag will do it«, wie es jetzt im Zuge des »Brexit« heißt, bedeutet de facto die Substituierung sozialer und gesellschaftlicher Verlusterscheinungen durch das Versprechen von Nationalstolz (»Britishness«) – was ungefähr so daher kommt wie eine Geschenkbox ohne Inhalt, aber mit viel glitzerndem Papier. Die Frage wird sein, was passiert, wenn der trügerische Glanz weg ist und die Ent-Täuschung folgt. Nach dieser Ent-Täuschung könnte wieder Europa als Idee folgen, als Idee von Zivilisation, Aufklärung, Mündigkeit, Bildung, der Universalität des Humanismus und der Ästhetik.18 Nach dem höchsten Prinzip der Ästhetik ist nur das Zwecklose schön. Heimat kann in Europa also nicht jener finden oder erwarten, der sein Leben vorzüglich nach Zwecken einrichtet; wohl aber wer eine geistige, gar spirituelle Heimat sucht, der kann in Europa sehr wohl heimisch werden. Er kann sich laben an der République des Lettres19 eines Erasmus von Rotterdam, er findet Muße und geistige Ruhe, ein Heim gleichsam bei Danton, Victor Hugo, Johann Wolfgang von Goethe oder Immanuel Kant. Oder auch in der europäischen Musik20, die – ebenso wie das europäische Kino oder die europäische Literatur – ein Gesamtkunstwerk ist. In diesem Sinne könnte Europa bzw. die Idee von Europa durchaus zur ­Heimat für alle Erdenbürger werden; zumindest für jene, die Europäer sein wollen und die an den schlichten Satz des moralischen Imperativs glauben und sich an ihm üben.21

Univ.-Prof. Dr. Ulrike Guérot, geb. 1964, ist Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems mit den Forschungsschwerpunkten: Phänomene des europäischen Populismus und Nationalismus und ihre Ursprünge, die Analyse des Demokratiedefizits in der europäischen Governance-Struktur sowie die Fragen von Partizipation und Repräsentation in Europa.

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Heimat — Essay

18  Dazu, dass diese Werte schon einmal im 20. Jahrhundert in den Zwanzigern durch überbordenden Nationalismus verraten wurden, indem ebenfalls ein Sicherheitsbegehren mit einem Freiheitsbegehren verwechselt wurde, vgl. Julien Benda, Der Verrat der Intellektuellen, Mainz 2013. 19 

Vgl. Pomian, S. 58.

20  Vgl. Ernest Ansermet, Les Fondements de la musique dans la conscience humaine, Neuchâtel 1961. 21  Dazu auch Theodor W. Adornos »Minima Moralia«, insbes. der Beitrag von Friedrich Falke, Musterung, in: Andreas Bernard u. Ulrich Raulff (Hg.), »Minima Moralia« neu gelesen, Frankfurt a. M. 2003, S. 70–76, hier S. 72.

PERSPEKTIVEN

ANALYSE

VON DEN VOLKSPARTEIEN ZU DEN CATCH-ALL PARTIES OTTO KIRCHHEIMER REVISITED1 ΞΞ Elmar Wiesendahl

Die Parteienforschung entwickelt sich in ihrem Erkenntnisstand über drei Impulsquellen fort. Einmal – und das ist der stärkste Impulsgeber – über den Wandel des Untersuchungsgegenstandes selbst, also der Parteienwirklichkeit, an die der Wissensstand der Forschung angepasst werden muss, um nicht den Anschluss an die sich wandelnde Realität zu verlieren. Dann erfüllen neuartige methodische Ansätze und Instrumente des Erkenntnisgewinns eine Schrittmacherfunktion, den Untersuchungsgegenstand gründlicher und ergiebiger zu durchdringen und ihm bislang noch nicht zutage beförderte Aspekte abzugewinnen. Was bislang als empirisch gesichert gegolten hat, kann dadurch besser bestätigt bzw. hinterfragt, verworfen oder revidiert werden. Und schließlich kann der Wechsel des Standpunktes sowie der Zugangsperspektive das zu Erforschende in ein anderes Licht tauchen. Den Betrachtungswinkel zu verändern, bedeutet, die vorherrschenden Sichtweisen in Zweifel zu ziehen und ihnen einen anders ausgerichteten Interpretations- und Deutungsrahmen entgegenzustellen. Was also als Untersuchungsobjekt in einen evidenzbasierten Deutungsrahmen eingepasst war, erfährt eine partielle oder sogar grundlegende Neuansicht und Umdeutung. Im Folgenden schlage ich, gestützt auf empirische Einwände, die zuletzt genannte Vorgehensweise ein und wage mich mit einer Deutungsrevision an das prominente Volksparteien- oder auch Catch-all party-Konzept von Otto Kirchheimer heran, das seit den späten 1960er Jahren zum kaum noch hinterfragten Kernbestand der internationalen Parteienforschung avanciert ist. Kirchheimers vor dem Erfahrungshintergrund der 1950er und frühen 1960er Jahre formulierte These vom unaufhaltsamen Aufstieg der Volksparteien zum Dominanztyp der westeuropäischen Nachkriegsparteiensysteme hatte in der Parteienliteratur bis zur Mitte der 1990er Jahre Bestand, um dann durch

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1  Der nachfolgende Beitrag fußt auf Gedanken, die der Autor auf einer Festveranstaltung zum Gedenken an Otto Kirchheimer am 12. Oktober 2016 in Berlin sowie unter dem Titel »50 Jahre ›Catch-All-Party‹ – zur Vitalität eines totgesagten Partytyps« auf der Jahrestagung des Arbeitskreises Parteienforschung der DVPW am 15. Oktober 2016 in Trier vorgetragen hat.

eine Nachfolgedebatte unter Druck zu geraten. Diese glaubt unter dem Label Party Change an einen entwicklungstypologischen Epochensprung, der die Volkspartei verdrängt habe. Dies ist für mein Anliegen jedoch nicht der springende Punkt. Mir geht es um einen inhärenten Konstruktionsfehler des Volksparteienkonzepts, indem Kircheimer die Volksparteien mit Catch-all parties gleichsetzte. Dem entgegengesetzt vertrete ich im Folgenden die These, dass Volksparteien und Catch-all parties entwicklungstypologisch auseinanderzuhalten sind. Meiner Sicht der Dinge nach ist davon auszugehen, dass Volksparteien in Deutschland, dem Hauptland ihrer Verbreitung, zunächst in ihrer Aufstiegsund Blütezeit nicht dem Typus der Catch-all party entsprachen, sondern sich erst in der Spätphase ihrer Entwicklung zu Catch-all parties fortentwickelten. Anders formuliert bin ich der Überzeugung, dass die Volkspartei/Catch-all party erst in jüngerer Zeit ihr von Kirchheimer vorhergesagtes Eigenschaftsprofil ausgebildet hat – mit entsprechenden Folgen. Um meine zum Mainstream der Forschung quer liegende These nachvollziehbar zu machen, stelle ich zunächst in Kurzform Kirchheimers Kernaussagen zum Aufstieg und zur Formgestalt der Volksparteien in Westeuropa dar, um dann zu zeigen, wie diese in der Parteienforschung aufgegriffen wurden. Den Überblick beende ich mit dem Fokus auf die jüngere Party Change-Forschung, die davon ausgeht, dass die Volksparteien durch einen neuen Epochentypus verdrängt worden seien. Als Kontrastfolie zum Typus der Volkspartei/Catchall party arbeite ich dann die Volksparteienwirklichkeit heraus, wie sie sich in Westdeutschland durchsetzte. Schließlich zeige ich auf, wie sich diese ursprünglichen Volksparteien in letzter Zeit zu Catch-all parties fortentwickelt haben. GESELLSCHAFTLICHE MODERNE UND AUFSTIEG DER ­ OLKSPARTEI NACH KIRCHHEIMER V Otto Kirchheimer legte 1965/66 seinen Aufsatz »Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems« als historisch erfahrungsgesättigtes und analytisch brillantes Meisterstück der Parteienforschung über den Aufstieg der Volkspar2  Siehe Otto Kirchheimer, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 6 (1965), S. 20–41; Ders., The Transformation of the Western European Party Systems, in: Joseph Laparombara u. Myron Weiner (Hg.), Political Parties and Political Development, Princeton 1966, S. 177–200.

teien vor, das er sowohl einer deutsch- als auch englischsprachigen Leserschaft zugänglich machte.2 Diese Publikation ließ ihn dauerhaft zu einem der Großen der Parteienforschung aufsteigen. Ihm ist zu verdanken, dass die Volkspartei – die Catch-all party – für die Parteienforschung zu einem epocheprägenden Parteityp der Nachkriegszeit und der gesellschaftlichen Moderne wurde. Otto Kirchheimers Aufsatz steht für eine grundlegende Neuansicht des Entwicklungsprozesses, den die Parteien in Westeuropa in der Nachkriegszeit durchmachten. Dabei würde ein neuartiger Entwicklungstyp von Partei, Elmar Wiesendahl  — Von den Volksparteien zu den Catch-all parties

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eben die Volkspartei/Catch-all party, prägend werden und den älteren, vormals vorherrschenden Typ der Massenintegrationspartei auf Klassen- und Konfessionsbasis verdrängen. Diese nicht aufzuhaltende »Umformung« der hergebrachten Parteien leitete Kirchheimer historisch-soziologisch hellsichtig aus gesellschaftlichen Wandlungstrends her, die den Aufstieg der Volkspartei als adäquaten Entsprechungstyp der Moderne »vorantreiben« würden. Kirchheimer sah die westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften einem Modernisierungsprozess unterworfen, der mit ansteigendem wirtschaftlichen Wohlstand und »sozialer Sicherheit« sowie dem Ausbau des Wohlfahrtstaates einhergehe. Der alte Klassenkonflikt würde durch Tertiärisierung und soziale Nivellierung entschärft und durch die Hinwendung zum Massenkonsum zusätzlich überlagert. Gleichzeitig unterlägen die Nachkriegsgesellschaften einer »Phase der Entideologisierung« (S. 28 ff.), welche der Politik ihre ideologische Stoßrichtung nehme. Säkulare Vorstellungen würden die aus den alten Konfessionsstrukturen herrührenden Spannungen auflösen. In seiner Gesellschaftsdiagnose griff Kirchheimer grundlegende soziale, wirtschaftliche und kulturelle Wandlungsphänomene der hochindustrialisierten westlichen Nachkriegsgesellschaften auf und setzte sie an den Anfang seiner Analyse. Dass er dabei von der US-amerikanischen »The End of Ideology«- (Daniel Bell) und der aufziehenden »The Coming of Post-­Industrial Society«-Debatte (Samuel Huntington) beeinflusst wurde, ist offenkundig. Die Annahme, dass sich die westlichen Industrieländer in einem so allgemeinen wie umfassenden Umbruch zur Moderne befänden, ließ ihn zudem behaupten, der daraus resultierende Aufstieg der Volkspartei müsse sich in ganz Westeuropa vollziehen. Dass es zum Siegeszug der Volkspartei komme, ergab sich für Kirchheimer aus dem »Phänomen des Wettbewerbs« und der »Anerkennung der Marktgesetze« (S. 26 f.) durch die alten Klassen- und Konfessionsparteien. Ihr Verschwinden wäre vorgezeichnet, adaptierten sie nicht den »erfolgreichen Stil ihres Kontrahenten«. Wie ersichtlich ist, sah Kirchheimer externe gesellschaftliche und politische Wirkkräfte am Werk, die einen Epochensprung in der Entwicklung des modernen Parteiwesens herbeiführen würden. Wie man sich solch eine Metamorphose oder Transformation von Parteien organisatorisch vorzustellen hatte, wer die treibenden Kräfte waren, interessierte Kirchheimer von dieser Warte aus nicht weiter. DAS TYPOLOGISCHE EIGENSCHAFTSPROFIL DER VOLKSPARTEI Die Volkspartei war für Kirchheimer in ihrer Form, ihrer inneren Machtverteilung, ihrer Programmatik, ihrer Wähleransprache und ihrem taktischen

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Perpektiven — Analyse

Verhalten ganz auf die Neubestimmung ihres Machtstrebens und ihrer Beziehung zur Wählerschaft ausgerichtet. Ihr Ziel ist es, über den Einsatz aller erfolgversprechenden Möglichkeiten, strategisch kurzfristig, unmittelbar am »Wahltag die größtmögliche Zahl von Wählern für sich zu gewinnen« (S. 34). Um dies zu verwirklichen, lässt sie von dem Bestreben ab, »sich die Massen geistig und moralisch einzugliedern, und lenkt ihr Augenmerk in stärkerem Maße auf die Wählerschaft; sie opfert also eine tiefere ideologische Durchdringung für eine weitere Ausstrahlung und einen rascheren Wahlerfolg« (S. 27). Aus »wahltaktischen Gründen« nimmt sie den »größtmöglichen Teil der potentiellen Wählerschaft« ins Visier, also »die ganze Bevölkerung« – und das um den Preis, sich »von der ›chasse gardée‹, einer Wählerschaft auf

Kirchheimer: Die Komponenten der Volkspartei Klassen- oder Konfessionsbasis«, abzuwenden.

DAS EIGENSCHAFTSPROFIL DER VOLKSPARTEI NACH K ­ IRCHHEIMER

Strategische Ausrichtung Stimmenmaximierung auf der Basis kurzfristig-taktischer Wahlerfolgsüberlegungen

Organisatorische Konsequenzen

Ideologische Konsequenzen

Elektorale Konsequenzen

Aufgabe einer langfristigen Machtperspektive

Verzicht auf geistige und moralische Eingliederung der Massen

Abkehr von der Wählerschaft auf Klassen- und Konfessionsbasis

Weitere Stärkung der Politiker an der Parteispitze

Radikales Beiseiteschieben der ideologischen Komponenten einer Partei

Die ganze Bevölkerung als Wählerzielgruppe

Entwertung der Rolle des einzelnen Mitglieds

Ausarbeitung und Propagierung wählerwirksamer Allerweltsprogramme

Personalisierung der Wahlwerbung

Verbindungspflege zu verschiedenen Interessenverbänden

Orientierung am tagespolitischen Pragmatismus

Wahlpropaganda nach Methoden der Marken- und Massenartikelwerbung

Quelle: Elmar Wiesendahl, Volksparteien. Aufstieg. Krise. Zukunft, Opladen 2011, S. 60

Elmar Wiesendahl  — Von den Volksparteien zu den Catch-all parties

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Diese strategische Neuausrichtung geht organisatorisch mit der Stärkung der Parteispitzen und der Entwertung der Mitglieder als historisches Überbleibsel des Massenparteizeitalters einher. Ideologisch entledigt sich die Volkspartei ihrer profilierten Weltanschaulichkeit. Stattdessen formuliert sie als »Allerweltspartei« weitgehend »unbestimmte« Wahlprogramme und nicht konkret fassbare populäre Wahlversprechungen. Zum Rüstzeug erfolgreicher Wahlkampagnen und Wählerwerbung zählt der Einsatz modernster Marketingmethoden und Markenartikelwerbung. Für die Spitzenpolitiker werden per Massenmedien Personalisierungskampagnen durchgeführt, um ihre Popularität zu steigern. Schließlich werden enge Beziehungen zu Verbänden unterhalten, um sich deren Wählerpotenzial zu versichern. Mit diesem Eigenschaftsprofil bildet die Volkspartei/Catch-all party gegenüber der Massenintegrationspartei in der Tat einen neuartigen Kontrasttyp. DIE WIRKUNG DER KIRCHHEIMER’SCHEN VOLKSPARTEI AUF DIE PARTEIENFORSCHUNG Kirchheimers Catch-all party stieß bei US-amerikanischen Politikwissenschaftlern und Parteienforschern auf fast uneingeschränkte Zustimmung, weil ihr Urheber bei seiner Zeitdiagnose und Eigenschaftsbestimmung unverkennbar auf ihnen vertraute Charakteristika der amerikanischen Nachkriegszeit und Parteienentwicklung zurückgriff. Die American-style parties wetteiferten damals in der Tat um breiteste Wählerkreise und profilierten sich mit einem entideologisierten Pragmatismus. Immer weniger Unterschiede aufweisend, wurden Republikaner und Demokraten dementsprechend auch als »Tweedledum und Tweedledee« bezeichnet. Indes blieb der von Kirchheimer prognostizierte umfassende Siegeszug der Catch-all party in Westeuropa weitgehend aus und versandete »auf halbem Wege«3. Anders die Entwicklung in Westdeutschland, die als den Prophezeiungen Kirchheimers entsprechender singulärer westeuropäischer Sonderfall eingestuft wurde.4 Ab den 1960er Jahren bildete sich hier nämlich ein von CDU/CSU und SPD geprägtes hochkonzentriertes, hyperstabiles Volkspar-

teiensystem aus. Die Parteienzersplitterung Weimars und der ideologisch aufgeheizte, teils unversöhnlich ausgetragene Parteienkampf schienen mit dem Bonner Zweieinhalb-Parteien-System (einschließlich FDP) überwunden. Hierin den Aufstieg der von Kirchheimer beschriebenen Volksparteien/ Catch-all parties zu sehen, löste heftig geführte Diskussionen aus. Während vor diesem Hintergrund konservative Vertreter der Politikwissenschaft und Parteienforschung die Volksparteientwicklung aus tiefem Herzen begrüßten, sahen sich Vertreter der akademischen Linken mit dem Wandel der SPD zur

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3  Manfred G. Schmidt, Allerweltsparteien in Europa? Ein Beitrag zu Kirchheimers These vom Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Leviathan, Jg. 13 (1985), H. 3, S. 376–397. 4  Siehe Stephan Padgett, The German Volkspartei and the Career of the Catch-all Concept, in: German Politics, Jg. 10 (1990), H. 1, S. 51–72, hier S. 53 ff.

pragmatischen, systemangepassten Volkspartei um ihre Hoffnungen betrogen, mit sozialdemokratischer Hilfe auf die kapitalistische Systemüberwindung setzen zu können. VOLKSPARTEIEN IM KONTEXT DER KRISEN- UND ­E POCHENWECHSELDEBATTE Der Fortgang der Debatte um das Volksparteienzeitalter teilt sich seit geraumer Zeit in zwei Richtungen auf. Die eine konzentriert sich auf unübersehbare Krisen- und Niedergangserscheinungen, die dafür sprächen, dass die Hoch-Zeit der Volksparteien abgelaufen sei. Unter dem Dachbegriff Party ­decline werden international Phänomene wie schwindende Parteiidentifikation oder Wähler-, Mitglieder- und Vertrauensschwund der Mainstream-Parteien subsumiert,5 die eine anhaltende Destabilisierung der Beziehungen der Parteien zur Wählerumwelt und Gesellschaft indizieren würden. Volksparteien haben zweifelsohne an gesellschaftlicher Verwurzelung und Einbindungskraft gegenüber der Wählerschaft eingebüßt. Als Hauptursache nennt Franz Walter die Milieuerosion,6 was sie, so Peter Lösche,7 »gesellschaftlich, politisch und historisch überholt« mache und das »Zeitalter der Volksparteien« auslaufen lasse. Ihre schwindende Repräsentationsleistung ermöglicht politischen Neuanbietern und populistischen Parteien von rechts und links, den etablierten Großparteien erfolgreich Konkurrenz zu machen. In Ländern mit 5  Siehe Elmar Wiesendahl, Volksparteien. Aufstieg, Krise, Zukunft, Opladen 2011, S. 133 ff.; Annika Kölln, Party decline and response, Zutphen 2014, S. 59. 6  Siehe Franz Walter, Im Herbst der Volksparteien?, Bielefeld 2009. 7  Siehe Peter Lösche, Ende der Volksparteien. Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 51/2009, S. 6–12.

Verhältniswahlrecht führt dies zur Fragmentierung, also zur Vermehrung und Zersplitterung der in den Parlamenten vertretenen Parteien. Die weitverbreitete und bis in die Medien sowie die öffentliche Debatte vorgedrungene Krisensicht wird von einer zweiten Richtung, die eng mit der Party Change-Forschung verbunden ist, als fehlgeleitet zurückgewiesen.8 Für sie gilt viel grundsätzlicher, dass die Epoche der Volksparteien aus entwicklungstypologischer Sicht abgelaufen sei. Bemerkenswert ist, dass dieser zweite Ansatz nicht, wie von Kirchheimer paradigmatisch vorgemacht, mit einer Gesellschaftsdiagnose beginnt – zumal dann ins Auge gesprungen wäre, dass Kirchheimers Gesellschaftsbild bereits mit den einsetzenden Unruhejahren der späten 1960er und 1970er Jahre hinfällig wurde. Unabhängig davon wäre

8  Siehe Klaus von Beyme, Parteien im Wandel, Wiesbaden 2000.

aufschlussreich gewesen, zu fragen, welche neuen gesellschaftlichen Umbrü-

9  Siehe Richard Katz u. Peter Mair, Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, in: Party Politics, Jg. 1 (1995), H. 1, S. 5–28.

Volksparteien durch einen Nachfolgetyp verdrängt würden. Strittig ist indes,

che inwiefern in einen abermaligen Strukturwandel der Parteien münden. Die Vertreter der Party Change-Forschung eint die Überzeugung, dass welcher neuartige Parteityp der Anschlussepoche seinen Stempel aufdrückt. International am einflussreichsten ist die Mitte der 1990er Jahre von Richard S. Katz und Peter Mair in die Literatur eingebrachte Kartellpartei,9 die seit den Elmar Wiesendahl  — Von den Volksparteien zu den Catch-all parties

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1970er Jahren auf dem Vormarsch sei. Sie sei in den Staat eingedrungen und habe einen semistaatlichen Charakter angenommen. Die Kontrolle über öffentliche Ressourcen und Schaltstellen staatlicher Macht habe sie genutzt, um sich den Zugang zu Staatsgeldern zur Deckung ihres wachsenden Finanzbedarfs zu verschaffen. Zugleich hätten die Kartellparteien ihren Einfluss auf die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten ausgedehnt. Den Begriff »Kartellparteien« führten Katz und Mair ein, um herauszustellen, dass die »Ins« der im Staat verankerten Parteien – also sowohl die Regierungs- als auch die Oppositionsparteien – sich untereinander zu Selbstbegünstigungs- und Abschottungskartellen zusammenschlössen, um die »Outs« an Newcomern am Zutritt zum Exklusivkreis der Kartellparteien zu hindern. Wie wenig allerdings gerade diese zentrale Kartellbildungsthese der Wirklichkeit standhielt, ist an dem weitverbreiteten erfolgreichen parlamentarischen Durchbruch von grün-alternativen sowie rechts- und linkspopulistischen Protestparten ersichtlich. Als weiterer international gehandelter Nachfolgekandidat der Volkspartei ist noch die Electoral-professional party von Angelo Panebianco10 zu nennen. Obgleich gerade die professionalisierte Wählerpartei von vielen Anhängern der Ende-der-Volksparteien-These favorisiert wird, verfügt sie indes über die geringste glaubwürdige Substanz, um die Volkspartei typologisch ablösen zu können. Panebianco behandelte diesen Parteityp nämlich aus dem Blickwinkel der späten 1970er und frühen 1980er Jahre nicht einmal selbst als Nachfolgepartei der Volksparteien. Vielmehr geht dieser Typ für ihn aus den älteren bürokratisierten Massenparteien hervor. Seine Metamorphose vollziehe sich dadurch, dass eine neue Gruppe an Professionals die organisationszentrierten Bürokraten an der Parteispitze der Massenparteien verdrängt habe. Diese neuen Parteieliten würden die Massenpartei elektoralisieren, also auf eine Vote-getting-Strategie ausrichten und dabei auf den Einsatz modernster Kampagnen- und Kommunikationsmittel zurückgreifen. Beide Aspekte bringt Panebianco mit der Electoral-professional party auf den Begriff. Im deutschsprachigen Bereich haben dann noch die »Berufspolitikerpartei« Klaus von Beymes11 und die »professionalisierte Medienkommunikationspartei« von Uwe Jun12 einige Beachtung gefunden. Von Beymes »Profi«-Partei leitet sich aus dem Aufstieg einer selbstbezogenen Berufspolitikerklasse her. Sie habe sich im Staat eingerichtet und instrumentalisiere die Parteien für die Zwecke ihrer Wiederwahl und dauerhaften Existenzsicherung als Berufspolitiker. Obgleich für diesen Ansatz gar nicht so wenig spricht, scheint er von Beyme selbst nicht so richtig überzeugt zu haben – hat er doch im Weiteren die Berufspolitikerpartei terminologisch zur Seite gelegt und ist zur

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10  Siehe Angelo Panebianco, Political Parties. Organization and Power, Cambridge 1988. 11  Siehe Klaus von Beyme, Funktionswandel der Parteien in der Entwicklung von der Massenmitgliederpartei zur Partei der Berufspolitiker, in: Oscar W. Gabriel u. a. (Hg.), Parteiendemokratie in Deutschland, Bonn 1997, S. 359–383. 12  Siehe Uwe Jun, Parteien in der Mediendemokratie. SPD und Labour Party im Vergleich, Frankfurt a. M. 2004.

professionalisierten Wählerpartei Angelo Panebiancos übergewechselt. Uwe Jun schließlich hat den Gedanken der Professionalisierung dahingehend verfeinert, dass »professionalisierte Medien-Kommunikationsparteien« sich an die Medienlogik anpassen und den Schwerpunkt der Wähleransprache weg von den Parteimitgliedern hin auf die Massenmedien verlagern würden. Gegen die Ablösethese der Volksparteien freilich spricht, dass sich hinter den Nachfolgeparteien typologisch verdichtete Entwicklungsphänomene verbergen, die dem strategischen und strukturellen Eigenschaftsprofil von Volksparteien inhärent sind. Ohne dies genauer zu klären, werden Einzelaspekte des Strukturwandels der Volksparteien herangezogen und mit solch einem überdimensionierten Stellenwert versehen, dass sie vermeintlich für einen typologischen Systemwechsel stehen. Insofern ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass es mit der Nachvollziehbarkeit und empirischen Belastungsfähigkeit der entwicklungstypologischen Nachfolgedebatte nicht weit her ist. Vor allen Dingen fällt – noch einmal – auf, dass es den Verfechtern der Epochenwechselthese an einer triftigen gesellschaftlichen zeitdiagnostischen Wandlungsthese fehlt, aus der sich ein erneuter Umbruch und Entwicklungssprung der Volksparteienepoche begründen ließe. So lässt sich berechtigterweise fragen, ob die Volksparteien nicht aus eigenem Antrieb von einer Klasse professioneller Berufspolitiker hervorgebracht wurden;13 und ob nicht die Volksparteien bereits selbst in den Staat eingedrungen sind und sich kartellartig Staatsgelder zu ihrer Finanzierung zugeschanzt haben; und ob Volksparteien nicht von jeher permanent darauf adressiert sind, sich modernste Methoden der Medienkommunikation und Kampagnenführung anzueignen – all dies, und das ist der springende Punkt, ohne ihren volksparteilichen Charakter grundlegend preisgegeben zu haben. VON DER VOLKSPARTEI ZUR CATCH-ALL PARTY An dieser Stelle könnte, zumindest im Einklang mit den meisten Parteienforschern, die Betrachtung mit dem Befund enden, dass die Hoch-Zeit, wenn nicht gar die Epoche der Volksparteien abgelaufen sei und diese ihren unaufhaltsamen, geschweige denn umkehrbaren Abstieg zu vergegenwärtigen hätten. Kirchheimers Volkspartei-Konzept hätte damit seine Relevanz eingebüßt, um als analytischer Bezugsrahmen dem aktuellen Entwicklungs13  Elmar Wiesendahl, Volksparteien im Abstieg. Nachruf auf eine zwiespältige Erfolgsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 34–35/1992, S. 10 f.

stand des weiter vorangeschrittenen Parteienwesens noch gerecht zu werden. Anders sehen indes die Dinge aus, wenn man ins Auge fasst, dass Kirchheimer eine so nicht einfach hinnehmbare, sondern diskussionsbedürftige begriffliche Gleichsetzung der Volkspartei mit zwar ähnlichen, aber nicht Elmar Wiesendahl  — Von den Volksparteien zu den Catch-all parties

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identischen Parteivarianten vornimmt. Der inkriminierte Schlüsselsatz lautet, dass sich die ältere Massenintegrationspartei zur »Allerweltspartei (catch-all party) zu einer ›echten Volkspartei‹« umwandle (1965, S. 27). In der englischsprachigen Version des Aufsatzes heißt es: »The mass integration party […] is transforming itself into a catch-all ›people’s party‹« (1966, S. 184). Hier wird offenbar jenseits der Wortklauberei etwas vom Formprinzip Unterschiedliches – nämlich die »Allerweltspartei«, die »Volkspartei« und die Catch-all-party – in eins gesetzt, was in Wirklichkeit auseinandergehalten werden müsste. Meine hier nun weiter zu begründende These lautet, dass die Volkspartei als Realtypus eine zurückliegende Entwicklungsphase der Parteien in Westdeutschland auf den Begriff bringt, aus der dann jedoch erst in der Spätphase der Volksparteienepoche die gegenwärtig vorherrschende Catch-all party hervorgeht. DIE VOLKSPARTEIENTWICKLUNG VON CDU/CSU UND SPD Nun hat die Gleichsetzung von Allerweltspartei, Catch-all party und Volkspartei schon früh Kritiker auf den Plan gerufen. So verwarf vor allem Alf Mintzel den von Kirchheimer konstruierten Typus der Volkspartei/Catch-all party als »Phantom« und »Konstruktionsmythos«. Was eine »echte« Volkspartei, wie Kirchheimer sich ausdrückt, von einer gewöhnlichen Volkspartei unterscheidet, wird auch bei ihm selbst nicht ersichtlich. Konfrontiert man gleichwohl den Typus Volkspartei/Catch-all party von Kirchheimer mit der Parteienwirklichkeit, lassen sich hieraus Eigenschaften erschließen, die für einen Realtyp der Volksparteien in der Bundesrepublik sprechen. Dabei spricht die tatsächliche Volksparteientwicklung in Westdeutschland der 1960er, 1970er und 1980er Jahre nicht dafür, dass sich CDU/ CSU und SPD in ihrer Ausrichtung und ihrem Profil zu sozial kontextlosen

Allerweltsparteien entwickelt hätten, die programmatisch nichtssagend gegenüber jedermann Stimmenmaximierung betrieben. In der Catch-all party als einer den Gruppeninteressen enthobenen profillosen »Everybody’s darling«-Partei muss also ein Zerrbild der damaligen Wirklichkeit gesehen werden. Volksparteien sind – und das hat Kirchheimer richtig gesehen – realiter Teil der gesellschaftlichen Moderne. Sie haben die sozial und ideologisch tief gespaltene Klassen- und Milieugesellschaft mit ihren Konfliktantagonismen hinter sich gelassen. Sie liefern eine zeitgemäße Antwort auf die mobile pluralistische Gruppengesellschaft. Das Tor zum Volksparteizeitalter stieß Konrad Adenauer mit seinen Mitstreitern auf. Aus dem katholischen Zentrum kommend, war ihnen das »Volksparteiliche« in Gestalt der sozialen Umfassung und des schichtenübergreifenden

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Interessenausgleichs vom Zentrum her bereits vertraut. Auf keinen Fall wollten sie aber das Zentrum als konfessionell eingemauerte katholische Milieupartei wiederbeleben. Stattdessen sollten mit einer neuen interkonfessionellen bürgerlichen Sammlungspartei, der CDU, das katholische und das protestantisch-konservative Lager hinter der Union zusammengeführt werden. An die von Kirchheimer zeitdiagnostisch herausgehobenen postindustriellen Wandlungstrends der Nachkriegszeit wurden da noch keine Gedanken verschwendet. Demgegenüber griff die SPD bei ihrer Wiederbegründung zunächst noch unverändert auf ihr Traditionsverständnis als (Industrie-)Arbeiterpartei zurück, konnte aber elektoral mit dem rasanten Wähleraufstieg der CDU/CSU nicht mithalten. Um nicht auf ewig auf die Oppositionsbänke des Bundestages festgenagelt zu sein, brach sie schließlich mit ihrer Vergangenheit zugunsten einer Wählererweiterungsstrategie, die sich schon 1954 in einem Parteitagsbeschluss niederschlug. Er lautete: »Die Sozialdemokratie ist aus einer Partei der Arbeiterklasse, als die sie entstand, zu einer Partei des Volkes geworden.« Programmatisch wurde die Strategie mit dem Godesberger Parteitag 1959 abgeschlossen. Damit verband die SPD eine Entkrampfung gegenüber den Kirchen und eine erfolgreiche Hinwendung zu den Aufsteigergruppen der postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft: den Angestellten und Staatsbediensteten. Dies ging mit einer tiefgreifenden Umwälzung des Sozialprofils ihrer Mitgliederbasis einher, sodass sich die Sozialdemokratie ab den 1960er Jahren stark verbürgerlichte und zu einer gehobenen Mittelschichtpartei aufstieg. Was die Unionsparteien und die SPD als Volksparteien auszeichnete, war ihr Bestreben, über die fest an sie gebundenen Stamm- und Traditionswählerschaften aus dem katholischen Lager und Arbeitermilieu hinaus neues Wählerterrain zu erschließen, um ihre Wählerbasis zu verbreitern. Hierauf gründete die CDU ihren imponierenden Wahlerfolg als interkonfessionelle, schichtenübergreifende Sammlungspartei der einerseits vom Zentrum geerbten katholischen Milieu-Wähler und andererseits neu erschlossener protestantisch-bürgerlicher Wählerkreise. Und der SPD gelang es, ein Bündnis zwischen der ihr treu verbundenen städtischen Industriearbeiterschaft und neuen Aufsteigergruppen des tertiären Sektors zu finden. Wie sich zeigt, gaben CDU/CSU und SPD ihre hergebrachten Stammwähler-Gruppenallianzen nicht auf, um sich im Sinne von Kirchheimer auf eine kurzfristig angelegte elektorale Catch-all-Strategie zu kaprizieren. Die »Catch-allism«-Prämisse überzeichnet realiter den strategischen Manövrierspielraum, den Volksparteien auszuspielen vermögen. Empirisch stichhaltiger Elmar Wiesendahl  — Von den Volksparteien zu den Catch-all parties

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ist, ihnen eine elektorale Expansionsstrategie zu unterstellen, mit der sie über ihre Stammwählerschaft hinaus den Anschluss an neue Wählerschichten suchen, die sich bei Wahlen als ungebundene Wähler den Stammwählern hinzufügen lassen. Kurzum: Realiter geht es um eine Ausdehnungs- und Erweiterungsstrategie, die versucht, Gruppen heterogener sozialer Lagerung und Interessenorientierung unter einem Bündnisdach zusammenzubringen.

14  Siehe Wiesendahl, Volksparteien im Abstieg, S. 12 ff.

Dies löste Vereinbarkeitsprobleme und Spannungen aus, die später unter dem Begriff der Modernisierungsfalle14 und der »chain of representation«15 genauer untersucht wurden.

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Perpektiven — Analyse

15  Robert Rohrschneider u. Stephen Whitefield, The Strain of Representation, Oxford 2012.

Zudem können beide Parteien vom Interessenprofil her ihre Herkunft nicht ablegen. So ließ die bundesdeutsche Bevölkerung bis zum Ende der alten Bundesrepublik nicht davon ab, die CDU als Sprachrohr der Katholiken sowie der Unternehmer und die SPD als Sprachrohr der Arbeiter zu betrachten. Auch kulturell trennten in den 1970er und 1980er Jahren die Kohl-CDU und die Brandt-SPD noch Welten, was zu aufgeheizten ideologischen Polarisierungen führte: dort traditionelle Familien- und Frauenleitbilder, hier moderne Partnerschafts- und Lebensentwurfsvorstellungen sowie das Eintreten für eine neue Beteiligungskultur unter dem Slogan »Mehr Demokratie wagen!«. DAS MERKMALSPROFIL DES REALTYPS DER VOLKSPARTEI Fragt man vor diesem Hintergrund nach dem Merkmalsprofil des Realtyps der Volkspartei, wie er sich in der westdeutschen Parteienwirklichkeit darbot, so sind die Akzente auf folgende Charakteristika gelegt worden. Sie sind Repräsentationsparteien von Gruppeninteressen mit einer sozial, regional und konfessionell breit gefächerten Wähler- und Mitgliedschaft.16 Sie verfolgen eine eher kurzfristige elektorale Umfassungsstrategie mit dem Ziel der Regierungsübernahme. Eine Wählerstärke von über dreißig Prozent sollten sie schon erreichen. Hierzu legen sie sich ein ideologisch vages, mittiges und pragmatisches Programmprofil zu. Sie praktizieren einen auf Kompromiss und Interessenausgleich bedachten kooperativen Politikstil. Für Peter Haungs sind Volksparteien deshalb auf das Gemeinwohl verpflichtet.17 Nimmt man das realtypische Eigenschaftsprofil der bundesdeutschen Volksparteien noch umfassender und vollständiger in den Blick, resultiert daraus folgende Kennzeichenliste: • Volksparteien gehen aus älteren Massenintegrationsparteien auf Klassenund Konfessionsbasis hervor und liefern Antworten auf die durchlässige, mobile, pluralistische Gruppengesellschaft. • Volksparteien sind ihrem Anspruch nach Großparteien, die miteinander 16  Vgl. Peter Haungs, Parteiendemokratie in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980, S. 63; Peter Lösche u. Franz Walter, Die SPD: ­Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei, Darmstadt 1992, S. 2 f.; Manfred G. Schmidt, Wörterbuch der Politik, Stuttgart 1995, S. 1034 f. 17  Vgl. Haungs, S. 72.

um Wählermehrheiten konkurrieren, um in einer Regierung den Regierungschef stellen zu können. Sie streben elektoral nach Marktführerschaft. Unter Mehrparteienbedingungen sinkt ihr Stimmenanteil. Ab wann, beim Unterschreiten welcher kritischen Schwelle an Wählerstimmenanteil, der Volksparteienanspruch hinfällig wird, ist strittig. Wichtiger als die Größe des Stimmenanteils ist der Erhalt der Lead-Funktion, nämlich in Zwei- oder Mehr-Parteienkoalitionen die stärkste Partei zu bilden und die Regierung anführen zu können. Elmar Wiesendahl  — Von den Volksparteien zu den Catch-all parties

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• Volksparteien sind breit aufgestellte, soziale Umfassungs- und Querschnittsparteien, die im Sozialprofil ihrer Wähler- und Mitgliedschaft schichtenübergreifend annähernd die pluralistische Gruppengesellschaft widerspiegeln. Sie weisen dabei Schwerpunktverankerungen auf, die verbieten, von sozial kontextlosen Allerweltsparteien zu sprechen. • Volksparteien verfolgen elektoral eine Expansionsstrategie. Mit ihrem Standbein fest im Stammwählermilieu verankert, sprechen sie über ihr Spielbein weitere ungebundene Wählerkreise an, um sie zur Stimmabgabe zu bewegen. • Ihrem übergreifenden Interessenvertretungsanspruch gemäß vermarkten sich Volksparteien als schichtübergreifende Vermittlungsinstanzen, welche die Interessen heterogener Bevölkerungsgruppen zusammenführen und politisch zwischen ihnen zum Ausgleich bringen. Sie versuchen dabei, Brücken zu bauen und durch Verhandlungen und Kompromissbildung einen Ausgleich zwischen widerstreitenden Gruppeninteressen zu finden. • Volksparteien sind Programmparteien, die ideologisch gemäßigte und pragmatische Politikvorstellungen vertreten. In ihrer Außendarstellung bedienen sie sich vager und unbestimmter Slogans und Floskeln, ohne jedoch gänzlich ins Allerweltliche abzudriften. Sie gehen polarisierenden Konfrontationshaltungen aus dem Weg und kooperieren untereinander nach konsensdemokratischen Leitvorstellungen. Zu ihrem Kompromissund Ausgleichsstreben gehört der Anspruch, Parteien der Mitte zu sein, Maß und Mitte zu vertreten. • Volksparteien stellen für breite Wählerkreise ansprechende Wahlprogramme auf und tragen einen Überbietungswettbewerb mit umfangreichen Versprechungen um soziale Wohltaten aus. Hieran lässt sich ablesen, wie sehr die Volksparteien Kinder der wirtschaftlichen Wachstums- und Wohlstandsgesellschaft sind – wobei der von ihnen betriebene Ausbau des Sozialstaates mit wachsender Steuer- und Abgabenlast sowie Verschuldung erkauft wurde. • Volksparteien bilden in ihrer Organisationsform einen hybriden Mischtyp. Mit ihren Basiseinheiten, bestehend aus Freiwilligen und Ehrenamtlichen, sind sie traditionelle Mitgliederparteien. Auf höherer Gliederungsebene beginnt die Berufspolitikerpartei, der auf Bezirks-, Länder- und Bundesebene ein hauptamtlicher Parteiapparat zur Seite gestellt ist. Die Verkopplung beider Bereiche ist begrenzt. Berufspolitiker verfügen in Personalunion über öffentliche Mandats- und innerparteiliche Führungsämter. Parteieliten bilden die treibenden Kräfte, welche die elektorale Professionalisierung des Parteiapparats vorantreiben und die Partei in den Dienst der Erweiterung der Wählerbasis stellen.

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Perpektiven — Analyse

• Volksparteien gliedern sich organisatorisch und richtungspolitisch nach Vereinigungen und Flügeln auf, aus deren Vertretern sich auch die Führungsgremien zusammensetzen. Nach außen sind sie über ihre Vorfeldorganisationen mit ihnen nahestehenden Verbänden vernetzt, zu denen sie enge Austauschbeziehungen pflegen. ZUR STRATEGISCHEN AUSRICHTUNG UND FUNKTIONSWEISE DER CATCH-ALL PARTY Wie unschwer zu erkennen ist, überschneidet sich partiell das eine oder andere Merkmal des Realtyps der in der Bundesrepublik zur Dominanz aufgestiegenen Volksparteien von Kirchheimers herausgearbeiteten Kennzeichen der Allerweltspartei/Catch-all party/Volkspartei. Offensichtlich ist aber auch, dass Kirchheimer eine typologische Merkmalskombination erstellte, die nur teilweise etwas mit der Volksparteienwirklichkeit gemein hat. Nun ließe sich diese Deckungslücke kritisch mit dem Argument gegen Kirchheimer wenden, dass sein typologisches Konstrukt zu abgehoben und wirklichkeitsfern sei. Solche Einwände sind nicht einfach von der Hand zu weisen; doch wichtiger scheint mir hier aufzuzeigen, dass sich bei der Konstruktion der Catch-all party eine Verbindungslinie hin zu dem amerikanischen Ökonomen Anthony Downs schlagen lässt, dessen Gedankenwelt in die Typenbildung hineinfließt. Downs hat 1957 ein Kirchheimer bekanntes Buch mit dem Titel »An Economic Theory of Democracy« verfasst, welches als Meilenstein das Marktmodell und die ökonomische Logik des rationalen Verhaltens in die Parteien- und Wahlforschung einbrachte. Vereinfacht formuliert überträgt Downs die ökonomische Theorie des unternehmerischen räumlichen Standortwettbewerbs auf Parteien. Parteien, so seine These, haben es mit einem räumlichen Wählermarkt zu tun. Wählerinnen und Wähler verteilen sich darauf eindimensional wie auf einer Geradeausstraße nach ihrem ideologischen Standort auf einer Links-rechts-Achse. Sie entscheiden sich bei Wahlen für diejenige Partei, die ihnen ihrer Einschätzung nach ideologisch am nächsten steht, die also die geringste Distanz aufweist. Verteilen sich – und das ist die strategisch weitreichende und enorm einflussreiche Schlussfolgerung von Downs – die Wähler gemäß einer Glockenkurve auf der Links-rechts-Achse, müssen die Parteien zur Maximierung potenziell erreichbarer Wähler ihren ideologischen Standort hin zur Mitte ausrichten. Dort sind normalverteilt die Wählermehrheiten vorzufinden. Der dabei ins Ziel zu nehmende und zu umwerbende Wähler ist der sogenannte Medianwähler: Er befindet sich nach seinem ideologischen Standort in der Mitte der Links-rechts-Achse auf demjenigen Punkt, an dem sich die Wählerschaft Elmar Wiesendahl  — Von den Volksparteien zu den Catch-all parties

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zu etwa gleichen Teilen in eine linke und eine rechte Hälfte aufteilt. Um diesen Medianwähler herum gruppieren sich, aktuellen Erhebungen unter den Bundesbürgern zufolge, rund sechzig Prozent sogenannter Mitte-Wähler. Schon deren numerischen Gewichts wegen sind für Parteien in dieser Zielgruppe theoretisch potenzielle Mehrheiten vorzufinden – was aus Standortsicht heißt, sich ihnen möglichst nahe stehend als Mitte-Partei darzubieten. Die Theorien- und Modellwelt der Ökonomie, wie sie Anthony Downs in die Parteienforschung eingebracht hat, ist nicht unmittelbar an der Argumentationsweise und Sprache von Otto Kirchheimer ablesbar; indes beeinflusste sie unverkennbar sein Denken. So, wie er das Beziehungsverhältnis von Catch-all parties untereinander und zur Wählerschaft ausleuchtete, sind Marktverhältnisse für ihn orientierungsbestimmend. Einerseits wird dies an den »Gesetzen des Marktes« deutlich, welche vermeintlich das Konkurrenzverhalten der Wettbewerber untereinander bestimmen; und andererseits werden Catch-all parties wie privatwirtschaftliche Unternehmen gedacht, die sich, analog zur Umsatz- und Gewinnmaximierung, dem Ziel der Stimmenmaximierung verschreiben. Sie wandeln sich zu Political market parties.18 Und dann stützt sich nach Kirchheimer das Verhältnis von Parteien und Wählerschaft nicht mehr auf das Prinzip der politischen Vergemeinschaftung und wechselseitigen dauerhaften Bündnisloyalität, sondern auf das voneinander getrennter und sich fernstehender Marktsubjekte. So setze die Catch-all party auf eine »lose Beziehung zur Wählerschaft« (S. 41). Umgekehrt führte Kirchheimer diese Beziehung auf die individualisierte Konsumbürgerschaft zurück, »deren Verhältnis zur Politik oberflächlich und nicht von Dauer ist« (S. 34). Ohne festere und durch bloß »leidenschaftslose« Bindungen zu Parteien erschienen dem Wähler Catch-all parties als eine »ihnen verhältnismäßig fernstehende […] und fremde Organisation« (S. 40). Hier tut sich gesellschaftlich eine Zukunft auf, die durch die Auflösung stabiler kollektiver Milieuverhältnisse, durch Individualisierung und Entsolidarisierung geprägt ist. Damit wird – für Catch-all parties – der Vermarktlichung und der Kommerzialisierung des Parteienwettbewerbs um Wählerstimmen Tür und Tor geöffnet. Die Bürgerinnen und Bürger interessieren lediglich als Marktsubjekte und Träger individueller Bedürfnisse. Das Beziehungsverhältnis Parteien-Wählerinnen/Wähler reduziert sich auf eine kommerzielle Tausch­ beziehung: Stimme gegen vage Versprechen. Das ganze Repertoire modernster Methoden der demoskopischen Wählermarktbeobachtung, des Product-Placements, der Themeninszenierung, der Pseudo-Events, der Personalisierung, des Brandings, wie es die

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18  Vgl. Susan E. S ­ carrow, Beyond Party Members. Changing Approaches to Partisan Mobilization, Oxford 2015.

Konsumgüter- und Dienstleistungsvermarktung kennt, kommt zum Einsatz. Ziel ist, individuelle Präferenzen der Wählerinnen und Wähler des Mittespektrums anzusprechen und ihnen Problemlösungen zu offerieren. Für die Wähleransprache gilt das Prinzip, sich im Profil und im Versprechensport­ folio so aufzustellen, dass bei Wahlen ein Maximum erreichbarer Wählerstimmen ausgeschöpft wird. Und das ist bei der Zielgruppe der Medianwähler zu erreichen. So zu verfahren, das wird immer wieder besonders pointiert von dem Vorstandsmitglied der Forschungsgruppe Wahlen, Matthias Jung, propagiert.19 Der Merkel-CDU empfiehlt Jung, bei ihrer Wählerausrichtung überalterte konservative Rechtswähler rechts liegen zu lassen und eine Wählermehrheit ausschließlich im Mittebereich zu suchen. Die Vermarktlichung und die Stimmenmaximierung (»catch-allism«) bringen, so lässt sich festhalten, ein Catch-all-Parteiensystem hervor, das die Rolle von Parteien als Gruppenrepräsentations- und Integrationsinstanzen sowie als Kristallisationspunkte für Parteibindungen der Wählerschaft untergräbt. An dieser Stelle vollzieht sich der Bruch zu den Volksparteien. An ihre Stelle treten Catch-all parties als Gewächse und Förderinnen der Individualisierung und der marktkonformen Kommerzialisierung der Parteien-Wähler-­ Beziehung. Mit ihrer Ausrichtung auf den Medianwähler und die mittige Mitte konvergieren Catch-all parties mit kaum noch unterscheidbaren Mainstream-Parteien, die mit der Anpassung ihres Brandings und Issue-Profils um das gleiche Wählerpotenzial buhlen. Unterfüttert wird dies mit der Inszenierung von Politik als entpolitisierter, von Interessen bereinigter Veranstaltung zur Lösung von Sachproblemen. »Catch-allism«, auf die Spitze getrieben, bedeutet, wie sich am Beispiel der Merkel-CDU aufzeigen lässt, durch »Themenklau« und »Produktpiraterie« all die Streitpositionen zu okkupieren, die traditionell zum Markenprofil der Konkurrenzparteien gehören – also bspw. der Beschluss zum Ausstieg aus der Kernkraft 2011 oder die Aneignung der SPD-Forderungen nach einem Mindestlohn und einer Mietpreisbremse 2013. Mittlerweile kopieren die Grünen unter Robert Habeck diese Strategie und vereinnahmen konservative Schlüsselbegriffe wie »Nation« und »Heimat«. Die Themenabsorption führt zum unkenntlich machenden Assimilierungsprozess von Parteien und ihren Politikalternativen. Richtungsunterschiede werden gezielt verschleiert. Die Abgrenzbarkeit, Unverwechselbarkeit und 19 

Siehe Matthias Jung, Fleisch vom Fleisch der Union? Die Wahlergebnisse der AfD und der Kurs der CDU, in: Die Politische Meinung, H. 539/2016, S. 28–32.

Unterscheidbarkeit der Parteien wird verwischt, um die Konkurrenz daran zu hindern, ihre Wähler nach dem Motto »Wir gegen die anderen« mobilisieren zu können. Zugleich zielt das Eindringen in die Issue-Domänen der Konkurrenz darauf, deren Wähler zu sich herüberzuziehen. Elmar Wiesendahl  — Von den Volksparteien zu den Catch-all parties

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Ein anderer Weg, sich als Catch-all party gegenüber der Wählerschaft nicht festzulegen und die eigenen Politikvorstellungen im Unbestimmten zu belassen, wird mit der extremen Personalisierung der Wähleransprache beschritten. Auch hierfür liefert der Plakatslogan von Kanzlerin Merkel im Bundestagswahlkampf 2017 »Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben« ein Paradebeispiel. Darin offenbaren sich die lähmende Visions- und Sinnentleerung der Politik, die erloschene Debattenkultur und das Fehlen einer »großen Erzählung«. Otto Kirchheimer besaß schon vor fünfzig Jahren den Instinkt, diese mit dem Aufstieg der Allerweltsparteien/Catch-all parties vorgezeichnete Entwicklung vorherzusehen und eindringlich vor dem Verschwinden der Opposition zu warnen. Die dem Catch-all-Parteiensystem innewohnende Tendenz zur Anpassung an den mittigen Mehrheitskonsens, zur Ausgrenzung von Alternativen und zur Verengung des auf die politische Agenda gesetzten zulässigen Themenspektrums grenzt Wählergruppierungen links und rechts auf der Achse aus und überlässt sie einem politischen Repräsentationsvakuum. Der Tanz der herrschenden marktkonformen Mainstream-Parteien um das Goldene Kalb der Medianwähler hat bei der Gesamtwählerschaft verbreitet das Gefühl der Abgehobenheit des Politikbetriebes und der Verselbstständigung der aus den Parteien hervorgehenden Politiker hervorgerufen. Einerseits hat das als Vertretungslücke wahrgenommene Repräsentationsversagen der Mainstream-Parteien eine Spaltung der Wählerschaft bewirkt – wobei die untere Hälfte verstärkt in die Wahlverweigerung abdriftet. Andererseits setzen rechts- und linkspopulistische Parteien den Catch-all parties zu, indem sie den sich unberücksichtigt fühlenden, frustrierten Protestwählern ein Ausdrucksventil für ihren Unmut liefern. Kurzum: Mittlerweile fällt der Catch-allism auf seine Betreiber zurück und lässt sie mit ihrer hermetischen Mainstream-Ausrichtung ins Leere laufen. Catch-all parties erodieren von den Rändern her und besitzen nicht mehr die Konzentrations- und Integrationskraft, um noch wie früher die Wählerschaft bei der Stange zu halten. In das von ihnen geräumte Gelände drängen mehr und mehr ideologisch profilierte Kleinparteien hinein. Volksparteien verfügen in ihrer Spätphase als Catch-all parties nicht mehr über die Attraktivität und Anziehungskraft, um den Parteienwettbewerb zu dominieren. SCHLUSS Mit seinem Szenario des heraufziehenden Zeitalters der Volksparteien hat Otto Kirchheimer einen Meilenstein der Parteienforschung gesetzt, der ihn

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Perpektiven — Analyse

zu einem Lehrmeister der entwicklungstypologischen Parteienforschung machte. So exerzierte er vor, dass es auf eine zeitgemäße Gesellschafts­ diagnose ankommt, um den Wandel von Parteien erfassen und erklären zu können. Des Weiteren verdeutlichte er, dass Parteien in gesellschaftlichen Umbruchzeiten einem Anpassungszwang an die neuen Verhältnisse unterliegen, wenn sie nicht aus der Epoche geworfen werden wollen. Dabei nehmen die anpassungsfähigsten und am schnellsten sich erneuernden Parteien die Rolle als Vorreiterinnen ein. Ihr Erfolg erzeugt einen Konkurrenzdruck, dem sich noch nicht modernisierte Parteien durch die Übernahme des Erfolgsmodells beugen müssen, um nicht abgehängt und verdrängt zu werden (»survival of the fittest«). Für Kirchheimer unterwerfen sich die Parteien dem »catch-allism«, der Stimmenmaximierung; dies unterstellte er schon den Volksparteien. Wie aber deutlich gemacht wurde, kommt es erst in der Spätphase der Volksparteien, dem Entwicklungssprung der Vermarktlichung hin zu Catch-all par­ ties, zum Primat der Stimmenmaximierung. Auf paradoxe Weise ist damit Kirchheimers Aufstiegsthese der Volksparteien aktuell nicht obsolet, weil er mit seiner Catch-all party einer Zukunft vorgreift, die erst jüngeren Datums nach dem Erreichen eines bestimmten Entwicklungsniveaus, gewissermaßen in der Spätphase des Volksparteienzeitalters, eintreten sollte. Nun ist das sich an Mitte, Medianwählern und Mainstream-Konvergenz klammernde Catch-all-Parteiensystem selbst mit einem kritischen Entwicklungszustand konfrontiert, der in Richtung Niedergang zeigt und sich selbst verschuldet dem Wendepunkt hin zu einer womöglich neuen Parteienepoche nähert. Synchron zu diesen Niedergangserscheinungen sind die entwickelten Länder Europas erneut von einem epochalen gesellschaftlichen Strukturwandel erfasst, der vom Siegeszug des internationalen Finanzkapitals, der Internationalisierung und Globalisierung des Handels, der Digitalisierung, der Spaltung in reich und arm sowie der Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhalts diktiert wird. Die pluralistische, mobile Aufstiegsgesellschaft gehört vielleicht unwiderruflich der Vergangenheit an. Wäre Otto Kirchheimer Zeitzeuge dieses mindestens schon seit zwei JahrProf. Dr. Elmar Wiesendahl, geb. 1945, lehrte Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München. Seit 2010 ist er Geschäftsführer der Agentur für politische Strategie (APOS) in Hamburg. Er hat diverse Bücher über Theorie und Empirie politischer Parteien geschrieben.

zehnten voranschreitenden gesellschaftlichen Epochenumbruchs, hätte ihn der tiefgreifende Wandel sicherlich zu der Frage geführt, inwieweit der massiv veränderte Entwicklungszustand der Gesellschaft nicht ein neues Parteienzeitalter heraufbeschwören müsste. Dies herauszufinden, ist der heutigen Parteienforschung als Vermächtnis von Otto Kirchheimer hinterlassen ­worden.

Elmar Wiesendahl  — Von den Volksparteien zu den Catch-all parties

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MARSCH DURCH DIE BETRIEBE? RECHTSPOPULISTISCHE ORIENTIERUNGEN IN DER ARBEITSWELT ΞΞ Klaus Dörre

Mit der Bundestagswahl vom September 2017 ist mit der Alternative für Deutschland (AfD) erstmals eine rechtspopulistische Partei, noch dazu als stärkste Oppositionskraft, in das Parlament eingezogen. Die populistische Rechte findet in allen Bevölkerungsgruppen Gehör. Bei Arbeitern, Erwerbslosen und Gewerkschaftsmitgliedern stößt sie indes auf überdurchschnittliche Resonanz. Mit 12,6 Prozent der Stimmen ist sie in den Bundestag gelangt; 19 Prozent der Arbeiter und 15 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder (14 Prozent West, 22 Prozent Ost) votierten für die populistische Formation. Die meisten AfD-Wähler haben die mittlere Reife oder den Hauptschul­ abschluss, lediglich sieben Prozent der Akademiker wählen AfD. Frauen sind in der Wählerschaft der Partei deutlich unterrepräsentiert; dafür sind die Anteile in ländlichen und strukturschwachen Regionen besonders hoch. Betrachtet man anstelle des von taktischen Kalkülen beeinflussten Wahlverhaltens die aussagekräftigeren Parteipräferenzen, ergibt sich ein ähnliches Bild. Im Vergleich zu allen anderen Parteien weist die AfD die größte Einkommensspreizung, aber auch die höchsten Anteile an Arbeitern sowie abhängig Beschäftigten mit einfachen Arbeitstätigkeiten auf. Das Sozialprofil der ebenfalls rechtspopulistischen »PEGIDA«-Bewegung, die in Dresden zeitweilig Zehntausende auf die Straße brachte und Ableger in der gesamten Republik fand, ist ebenfalls von Arbeitern und Angestellten mit niedrigem bis mittlerem Einkommen geprägt. In Selbstdarstellungen präsentiert sich die Bewegung als Bündnis aus Mittelstand und Arbeiterklasse. Ähnlich agiert die AfD, wenn sie die »kleinen Leute« als wichtige Zielgruppen ihrer Wahlkämpfe adressiert. Mittlerweile geht die radikal-populistische Rechte noch einen Schritt weiter. Bei den zurückliegenden Betriebsratswahlen hat sie – teils mit oppositionellen Listen, teils mit Infiltration gewerkschaftlicher Listen – versucht, auch betriebliche Positionen zu erringen. Rechtsoppositionelle Gruppen wie das Zentrum Automobil geben sich im Betrieb globalisierungskritisch und kämpferisch, sie vermeiden rassistische Töne. Doch kann kein Zweifel

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bestehen, dass Spitzenleute des Zentrums tief in der militanten Rechten 1  Empirische Basis der Studie sind leitfadengestützte Interviews zum »Gesellschaftsbild des Prekariats« (n = 66). Ziel einer in diesem Rahmen durchgeführten empirischen »Tiefenbohrung« in einer sächsischen Region war es, gewerkschaftlich und betrieblich aktive Arbeiter zu befragen, die sich offen zu »PEGIDA«, der AfD oder noch weiter rechts stehenden Organisationen bekennen. Hauptamtliche Gewerkschafter halfen uns bei der Auswahl geeigneter Gesprächspartner. Sämtliche Personen wurden einzeln befragt. Thematisch lag der Schwerpunkt auf dem Verhältnis zu »PEGIDA« und der AfD, dem Gewerkschaftsbild sowie der subjektiven Sicht auf Arbeit, Betrieb, Gesellschaft und Demokratie. Die Tiefenbohrung (n = 18) umfasst neben halb-strukturierten Interviews mit rechtsaffinen Beschäftigten auch Gespräche mit Lohnabhängigen, die eine klare Anti-»PEGIDA«/-AfD-Haltung einnehmen. Hinzu kommen Interviews mit Mitgliedern von Jugendvertretungen und politischen Sekretären der lokalen Gewerkschaft. Die Erhebung beruht auf problemzentrierten Interviews, die inhaltsanalytisch ausgewertet wurden. Zur Methodik und empirischen Basis ausführlich: Klaus Dörre u. a., Arbeiterbewegung von rechts? Motive und Grenzen einer imaginären Revolte, in: Berliner Journal für Soziologie, Jg. 28 (2018), H. 1–2, S. 55–90, URL: https://link.springer.com/article/10.1007 %2Fs11609-018-0352-z [eingesehen am 08.01.2018] sowie Karina Becker u. a. (Hg.), Arbeiterbewegung von rechts? Ungleichheit – Verteilungskämpfe – populistische Revolte, Frankfurt a. M. 2018. Dort finden sich auch Hinweise auf Studien, an welche die aktuelle Erhebung anschließt. An der Studie sind neben dem Autor dieses Beitrages noch Sophie Bose, Jakob Köster und John Lütten beteiligt. Wo im Plural formuliert wird, trägt das den gemeinsamen Anstrengungen Rechnung.

verankert sind. Der Einfluss rechtsoppositioneller Betriebsräte ist bislang gering – er beschränkt sich auf wenige Vorzeigewerke vor allem in der Automobilindustrie (u. a. Mercedes Untertürkheim, Mercedes Sindelfingen, Mercedes Rastatt, BMW Leipzig, Porsche Leipzig). Gefährlicher für die im DGB vereinten Gewerkschaften ist jedoch eine andere Entwicklung: Es gibt

Betriebsräte, die sich im Unternehmen vorbildlich engagieren, bei politischen Fragen jedoch mit »PEGIDA« und der AfD sympathisieren. Politisch halten sie sich zurück, was die Auseinandersetzung mit ihnen erschwert. In Betrieben, in denen es Personenwahlen gibt und gewerkschaftliche Vertrauensleute fehlen, dürften Betriebsräte mit rechtspopulistischer Gesinnung häufig gar nicht auffallen. Dass unter Arbeitern und Gewerkschaftern ein rechtspopulistisches Potenzial existiert, ist lange bekannt. In der Forschung galt jedoch bisher als gesichert, dass radikal rechte Positionen unter aktiven Gewerkschafter(inne) n auf entschiedene Ablehnung stoßen und mit demokratischer Partizipation wirksam zu bekämpfen sind. Diese Gewissheit kann – so der irritierende Befund einer Untersuchung, die wir 2017/18 in west- und ostdeutschen Unternehmen durchgeführt haben – nicht mehr uneingeschränkt gelten.1 Aktive Gewerkschafter, die in ihren Betrieben für steigende Organisationsgrade sorgen, sind teilweise bereit, eigenständig die Busse zu organisieren, mit denen sie zu »PEGIDA«-Demonstrationen fahren. In der Selbstwahrnehmung handelt es sich um einander ergänzende Facetten demokratischen Aufbegehrens – mit der Gewerkschaft in Betrieb und Unternehmen, in der Gesellschaft mit »­PEGIDA« und AfD. Auf die Frage, ob »PEGIDA« eine Demokratiebewegung sei, antwortet ein sympathisierender Betriebsrat: »Ich denke schon.« Theoretisch könne die Bewegung »jeden ansprechen«; zwar schwebe »ein Nazi-Schatten« über ihr, doch thematisiere sie, was eigentlich »jeden Normalen betrifft, der in Lohn und Brot steht« (Betriebsrat, IG Metall). Weshalb stößt der rechte Sozialpopulismus bei Arbeitern und Angestellten, auch bei gewerkschaftlich organisierten und aktiven, auf Sympathie? Unser Antwortversuch konzentriert sich auf die Rekonstruktion einiger typischer Denkformen, auf die wir bei unseren empirischen Recherchen gestoßen sind. 1. DICHOTOMIE MIT ZUSATZ Arbeiter zu sein, zumal einfacher Produktionsarbeiter, bedeutet in der Selbstwahrnehmung von Befragten, innerhalb einer prosperierenden Gesellschaft festzustecken. Man erlebt zwar den Rückgang der Arbeitslosigkeit, glaubt aber dennoch nicht daran, dass sich das eigene Leben grundlegend bessern Klaus Dörre  —  Marsch durch die Betriebe?

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wird. Stattdessen findet sich auch und gerade bei jüngeren Arbeiterinnen und Arbeitern wieder ein Gesellschaftsbild, das strikt zwischen oben und unten unterscheidet. Im Interview beschreibt eine junge, gewerkschaftlich aktive und ihrem Selbstverständnis nach linke Arbeiterin ihre Situation mit folgenden Worten: »Meine Eltern sind beide Arbeiter […], ich habe kein Abi gemacht, kein Studium angefangen, habe halt meinen Realschulabschluss und meine Ausbildung gemacht und arbeite jetzt. Und ich bin mir relativ sicher, dass […] es dabei bleiben wird […]. Ich würde mich schon zur mittleren Mittelschicht zählen, aber dabei wird es einfach bleiben. Und […] diese Spalte zwischen Mittelschicht […] und der Oberschicht, die ist halt einfach riesengroß. Und ich werde diese Spalte niemals überspringen können, in meinem Leben nicht, kann ich machen, was ich will. Und so geht es einfach sehr, sehr vielen!« An dieser Aussage ist zweierlei bemerkenswert. Arbeiterin zu sein, bedeutet zum einen, mit einem festen Job und einem halbwegs guten Einkommen alles erreicht zu haben, was erreichbar ist. Mehr geht nicht. Arbeiter zu sein, ist zum anderen aber kein Status, auf den man stolz sein könnte. Wie andere Befragte rechnet sich auch die junge Arbeiterin mit einem Bruttogehalt von 1.700 Euro der »mittleren Mittelschicht« zu. Das kann sie, weil sie weiß, dass es vielen schlechter geht als ihr selbst. Diese Grundhaltung ist für die von uns befragten Arbeiterinnen und Arbeiter – gleich ob links oder rechts, jung oder alt – typisch. Das eigentlich dichotomische, in einer Oben-Unten-Semantik transportierte, Weltbild wechselt im Vergleich zu den klassischen westdeutschen Arbeiterstudien aus der alten Bundesrepublik jedoch die Begrifflichkeit. Arbeiterin zu sein, zählt gesellschaftlich nur, weil damit der Zugang zur »mittleren Mittelschicht« möglich ist. »Mittlere Mitte« heißt aber auch: Nach oben geht nicht mehr viel, ein Absturz nach unten ist hingegen immer möglich. Denn – und das ist im Vergleich zum dichotomischen Bewusstsein der späten 1950er Jahre neu – in sozialer Nachbarschaft zum Arbeiterdasein lauern Ausgrenzung und Prekarität. Als Arbeiterin oder Arbeiter empfindet man sich möglicherweise abgewertet oder ungerecht behandelt; aber man ist dennoch nicht »ganz unten«, hat noch immer etwas zu verlieren und kennt andere, denen es deutlich schlechter geht. 2. PERMANENTE BENACHTEILIGUNG DER (OST-)DEUTSCHEN Dieses Grundbewusstsein, auf das wir unabhängig von der politischen Orientierung bei den meisten Befragten gestoßen sind, verbindet sich mit einer verborgenen, teilweise auch verdrängten Klassenproblematik. Man betrachtet

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Perpektiven — Analyse

sich zwar weder als arm noch als prekär beschäftigt; dennoch bestimmt das Empfinden permanenter Benachteiligung das Bewusstsein. Nehmen wir das Beispiel einer Arbeiterfamilie im Osten Deutschlands: Mann und Frau arbeiten vierzig Stunden Vollzeit für einen Brutto-Monatslohn von 1.600 bzw. 1.700 Euro; nach Abzug aller Fixkosten verbleiben dem Haushalt mit zwei Kindern noch 1.000 Euro netto, wovon der Lebensunterhalt bestritten werden muss. Unter diesen Bedingungen wird jede größere Anschaffung, jede Reparatur am Auto, zum Problem. Urlaub ist kaum möglich, und selbst für den Restaurantbesuch am Wochenende reicht das Geld in der Regel nicht. Angesichts dieses Knappheitsregimes fühlen sich Arbeiterinnen und Arbeiter unverschuldet anormal. Ein befragter Produktionsarbeiter mit Sympathien für die extreme Rechte bringt das wie folgt auf den Punkt: »Jeder Deutsche hat ein Grundgehalt von 3.300 Euro so im Durchschnitt. Jeder deutsche Bürger hat, ich glaube, 3.300, um die 3.000 Euro war das, was das Durchschnittsgehalt (I1: Brutto?), brutto. Dann frage ich mich jetzt, was bin ich dann? Bin ich kein Deutscher? Bin ich irgendwas? Ich meine, ich sage, ich habe 1.600 brutto. (I1: 1.600 brutto, mhm.) Brutto, nee, 1.700. Was will ich damit? Damit kann ich nicht leben. Und das ist wieder das, was am Anfang war. Der Ossi weiß zu überleben. Einer aus dem Westen drüben, der würde für das Geld nicht einmal aufstehen […]. Was ich wünsche? Dass wir mal fortgehen können. Da müssen wir wirklich, wirklich aufs Geld gucken. Urlaub. Das ist alles, wo man sagt, das sind einfach die Dinge, die normalen Dinge, die man sich als Ausgleich mal gönnt. Und […] das geht nicht.« Wichtig ist auch hier eine semantische Verschiebung. Das Deutschsein wird zur Chiffre, die den Anspruch auf einen »normalen« Lohn transportiert. Dieser Anspruch wird jedoch zugleich zu einem exklusiven, weil er eben eine Normalität nur der Deutschen einklagt. Befragte, die so argumentieren, fühlen sich nicht unbedingt abgehängt. Sie wollen »normal« sein und unternehmen viel, um Normalität zu demonstrieren. Aber sie sind unzufrieden. Je geringer ihre Hoffnung ist, in den Verteilungskämpfen zwischen oben und unten erfolgreich zu sein, desto eher tendieren sie dazu, diesen Konflikt als einen zwischen leistungsbereiten Inländern einerseits und vermeintlich leistungsunwilligen ausländischen, kulturell nicht integrierbaren Eindringlingen andererseits zu interpretieren. 3. UMDEUTUNG VON (UN-)SICHERHEIT Auffällig ist, dass gewerkschaftliches Engagement für mehr Verteilungs­ gerechtigkeit und Plädoyers für Flüchtlingsabwehr und Ausgrenzung nicht als Widerspruch, sondern als unterschiedliche Achsen ein und desselben Klaus Dörre  —  Marsch durch die Betriebe?

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Verteilungskonflikts begriffen werden (oben versus unten, innen versus außen). Dabei neigen auch aktive Gewerkschafter und Betriebsräte zu einer Radikalität, die in dieser Eindeutigkeit und Schärfe überrascht. So erklärt ein Betriebsrat, der gerade einen erfolgreichen Arbeitskampf initiiert hatte, im Interview unverhohlen: »Flüchtlinge müssten, also meiner Meinung nach, die müssten raus. Wer hier jetzt herkommt, arbeitet, sich integriert, wer sich einordnet, unterordnet, kein Thema. Da habe ich ja nichts dagegen. Aber die, die nur hierherkommen und die Hand aufhalten und sich benehmen wie das Letzte und denken, die können sich alles erlauben, raus. Ich meine, das klingt zwar vielleicht blöd oder hart, weil bei manchen bei uns so. Ich hätte kein Problem damit, jetzt mal Buchenwald wieder aufzumachen, einen Stacheldraht ringsrum, die dort rein, wir dort draußen. Dann kommt sich keiner in die Quere. Und die dort so lange drinnen lassen, alles natürlich normal human, aber würde sich keiner, also jetzt mal so krass ausgedrückt, und werden dann abgeschoben, fort. Gar nicht irgendwie, dass irgendwas passieren kann.« In dieser Wahrnehmung erscheinen Fluchtmigranten als Sicherheitsrisiko. Der Diskurs über soziale Sicherheit verschiebt sich im Alltags­bewusstsein rechtsorientierter Arbeiterinnen und Arbeiter hin zu einer Debatte über die öffentliche und innere Sicherheit. Fluchtmigranten werden als potenzielle Angehörige neuer gefährlicher Klassen betrachtet, kollektiv abgewertet und so zu einem Sicherheitsproblem erklärt. Plädoyers für »humane Konzentrationslager« sind sicherlich eine extreme Ausnahme; doch handelt es sich dabei nicht um bloße Einzelfälle. Vielmehr sind sie radikalisierter Ausdruck einer in der Arbeiterschaft verbreiteten Stimmung, die tief in den gewerkschaftlich organisierten und aktiven Kern hineinreicht. Rechtspopulistische bzw. rechtsextreme Orientierungen haben sich bei aktiven Betriebsräten, Jugendvertretern und aktiven Gewerkschaftern offenbar in einer Weise verfestigt, die im Anschluss an Bourdieu als »Entscheidungen zweiten Grades« bezeichnet werden müssen, weil sie bereits einer politischen Programmatik folgen. 4. »MEHR DEMOKRATIE WAGEN!« Wo sie sich regional als Sprecher einer schweigenden Mehrheit empfinden können – was noch immer die Ausnahme ist –, treten rechtspopulistische Betriebsräte und Gewerkschafter auch in den Betrieben offensiv für ihre Positionen ein. Im Osten Deutschlands gibt es Betriebsräte, in denen die Anhänger von »PEGIDA« und AfD die Belegschaften majorisieren. Dabei kommt es zu sich selbst verstärkenden Wechselwirkungen zwischen

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rechten Orientierungen, betrieblichen Erfahrungen und regionalem Umfeld. Rechtspopulistische Hegemonie in der Region stützt die Positionen rechter Interessenvertreter. In solchen Fällen ist die Nähe zu offen nazistischen, rechtsextremen und gewaltaffinen Positionen für die betrieblichen und gewerkschaftlichen Repräsentanten der neuen Rechten und ihre Unterstützer in den Belegschaften offenbar kein Tabu. Typisch für diese rechtspopulistischen Alltagsphilosophien ist nicht mehr die Abwertung, sondern die offensive Vereinnahmung von Demokratie. Alle befragten Betriebsräte mit Affinität zum Rechtspopulismus plädieren für mehr direkte Demokratie, weil sie überzeugt sind, auf diese Weise ihre Positionen besser durchsetzen zu können: »Na, für mich wäre erstmal eine gute Demokratie, wenn wir eine Volksabstimmung hätten, dort müsste man anfangen. Und das Zweite wäre […], dann bräuchte man wahrscheinlich auch mal eine Gesetzesänderung, zum Beispiel im Strafgesetz, ist meine Meinung, wo Straftäter, die richtig was machen – jemanden umbringen, vergewaltigen etc. Und wenn da ein Urteil im Namen des Volkes gesprochen wird, und der kommt mit anderthalb Jahren Bewährung weg, dann kann dort irgendwas nicht stimmen. Also, Demokratie bedeutet für mich ein ordentliches Strafgesetz, und […] Volksabstimmungen […], wo man sieht, wo die Stimmung von Deutschland hingeht oder von den Menschen im Land, dass nicht irgendein Politiker sich anmaßt: Ich entscheide das jetzt mal für alle, oder so. Ob ich selber mich politisch engagieren würde, weiß ich nicht« (Betriebsrat, der »aus Protest« AfD wähle). 5. KONTROLLVERLUST UND GEWALTOPTION Nicht allein die Angst vor Statusverlust, sondern auch die Unzufriedenheit damit, den selbst als angemessen betrachteten und der eigenen Leistung entsprechenden Status nicht erreichen zu können, provoziert Verdruss. Sich als unverschuldet anormal, als abgewertet zu empfinden: Genau das erzeugt Unzufriedenheit und Wut. Diese Beobachtung gilt sicherlich nicht ausschließlich, nach Ansicht befragter Experten aber doch in besonderem Maße für – männliche – Fach- und Produktionsarbeiter in Industriebetrieben. Dabei handelt es sich weniger um eine Prekaritäts- als um eine – verdrängte und politisch in problematischer Weise verarbeitete – Klassenerfahrung. Diese Verdrängungsleistung und das mit ihr verbundene Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren, erzeugen – das ist ein besonders beklemmendes Resultat unserer Forschungen – offenkundig Gewaltbereitschaft oder doch zumindest klammheimliche Sympathie für fremdenfeindliche Gewalt. Weil Gerechtigkeitsmaßstäbe wegen einer Bevorzugung Klaus Dörre  —  Marsch durch die Betriebe?

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Geflüchteter außer Kraft gesetzt seien und eine »Umvolkung« durch Zuwanderung erfolge, seien – so die Sicht radikal rechter Arbeiter – Gegenmaßnahmen gerechtfertigt. Bezeichnend ist, dass alle Befragten, die mit »PEGIDA«, der AfD oder extremen Rechtsparteien sympathisieren, eine erstaunliche Gewaltaffinität aufweisen. Keiner der rechtsaffinen Arbeiter will sich eindeutig und ohne jede Relativierung von Gewalttaten gegen Flüchtlinge oder deren Unterkünfte distanzieren. Standardargument ist der Hinweis, es gebe Verrückte und Gewalttäter auch auf der Linken. Ebenfalls beliebt sind Ausweichargumente: So sei die Holocaust-Relativierung seitens des »PEGIDA«-Redners Akif Pirinçci zwar »schon ein sehr grenzwertiger Auftritt« gewesen, heißt es; doch wenn jemand, der aus dem muslimischen Kulturkreis komme, »über seine eigenen Leute kritisch redet, kann es nicht ganz verkehrt sein« (Betriebsrat). Als wichtigste Legitimation von Gewalt dient ein Notwehrargument: »[…] Weil Gewalt erzeugt auch Gegengewalt, also es ist ja so, ja wie gesagt, es ist, es passieren sehr viele Zwischenfälle mit Ausländern […]. Das wird kleingeredet […], wenn meiner Familie jetzt, meinen Kindern oder irgendwie, wenn da was passieren würde mit so einem Ausländer […], würde dann auch, ja im Prinzip Gewalt anwenden jetzt mal. Ich würde auch irgendwo Selbstjustiz machen […], wenn irgendwie, wenn ich merke, die werden belästigt dann, oder wenn das weitergehen sollte, wie was hier Silvester war in, war das Hamburg, nee, Köln. Das ist das, wo ich sage, das provoziert ja die Gewalt noch mit, die Gegengewalt irgendwo und man muss sich doch wehren. Man kann doch nicht nur ducken und die Backen hinhalten« (Betriebsrat, aktiver Gewerkschafter). 6. D  EN GESAMTEN LEBENSZUSAMMENHANG IN DEN BLICK NEHMEN Fassen wir zusammen: Rechtspopulistische Alltagsphilosophien korrespondieren mit Ungerechtigkeitserfahrungen; sie sind jedoch – zumindest in den Betrieben und unter festangestellten Arbeiterinnen und Arbeitern – kein Ausdruck von Verelendung, immer weiter fortschreitender Prekarisierung oder extremer Armut. Um die Wahrnehmung einer ungerechten Gesellschaft hervorzubringen, muss eben nicht alles immer schlechter werden. Gerade der Rückgang der Arbeitslosigkeit kann dazu führen, dass diejenigen, die hinter der medial vermittelten Welt des Jobwunder-Landes zurückbleiben, nun beginnen, ihre Ansprüche an gute Arbeit und ein gutes Leben selbstbewusster, teilweise aber auch mit Verbitterung vorzutragen. Ein von uns

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befragter Gewerkschaftssekretär hat eine in den Betrieben verbreitete Stimmung mit folgenden Worten auf den Punkt gebracht: »Es ist nicht einfach Angst, es ist eine Mischung von vielen Einflüssen, die Arbeitnehmer unzufrieden macht. Im Osten leben die meisten an Orten, aus denen man kommt, und nicht in Städten, in die man geht. Man kann fest angestellt sein und verdient doch nicht genug, um sich ein Leben leisten zu können, wie es die Medien als normal darstellen. Viele haben das Gefühl, in einer prosperierenden Gesellschaft nicht mithalten zu können, den Anschluss zu verlieren. Für diese Probleme gibt es aber keine gesellschaftliche Öffentlichkeit. Arbeiter kommen nirgendwo vor. Und dann kommen die Flüchtlinge und erhalten eine Aufmerksamkeit, die man selbst nicht bekommt. Es gibt Investitionen, Lehrer, Personal für Sprachkurse und berufliche Qualifizierung. Das halten viele für ungerecht. Und deshalb ist es selbst für Betriebsräte und aktive Gewerkschafter kein Widerspruch, sich aktiv an einem Arbeitskampf zu beteiligen und gleichzeitig zur Pegida-Demonstration zu gehen.« 7. DIE NATIONAL-SOZIALE GEFAHR Unsere Untersuchung belegt die Entstehung einer ernst zu nehmenden national-sozialen Gefahr. Die völkische Rechte setzt – freilich von inneren Kämpfen und Fraktionierungen begleitet – mehr und mehr auf einen Sozialpopulismus, der ihr erlaubt, soziale Verwerfungen erfolgreich als Mobilisierungsressource zu nutzen. Die von ihr betriebene Ethnisierung des Sozialen findet, in unterschiedlichen Ausprägungen, Anhänger auch unter gewerkschaftlich Aktiven und Betriebsräten. Sprachduktus und Begriffswahl der Befragten bewegen sich auf dem Niveau von »Urteilen zweiten Grades« 2  Das trifft nicht auf alle Befragten zu, die mit Formationen der neuen Rechten sympathisieren. Im Sample findet sich auch der qualifizierte Angestellte mit Greenpeace-Mitgliedschaft, der sich wegen der »Migrations­ ströme« um den gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgt und deshalb AfD wählt. Und es gibt den Betriebsrat, der es lange mit der Linkspartei hielt, jedoch deren Migrationspolitik kritisiert und deshalb nun die rechtspopulistische Formation favorisiert. Bei diesen Befragten, die überwiegend linke Positionen formulieren, kann von einer rechtspopulistischen Axiomatik nicht oder noch nicht gesprochen werden.

(Pierre Bourdieu), d. h., sie folgen bereits der Linie einer Partei. Wer derart hermetisch argumentiert, lässt sich kurzfristig kaum von seinen Überzeugungen abbringen. Für jede kritische Nachfrage haben rechtspopulistische Gewerkschafter passende Antworten parat.2 Eigene Überzeugungen werden proaktiv gegen jedwede Kritik immunisiert. Gemeinsam mit der Gewaltaffinität deutet das auf eine Verfestigung und Radikalisierung rechter Orientierungen hin. Wir sprechen von einer national-sozialen Gefahr, weil das zusätzlich zur Betonung der sozialpopulistischen Dimension die Offenheit für traditionelle NS-Ideologeme kenntlich machen soll. Mit der Bezeichnung »völkisch-populistisch« verbinden wir eine ähnliche Intention: Vorstellungen vom Volk als homogener Gemeinschaft sind der ideologische Kitt, der radikal rechte Weltbilder zusammenhält. Beide Zuschreibungen signalisieren, dass Arbeit Klaus Dörre  —  Marsch durch die Betriebe?

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am Begriff notwendig ist. Fällt die Befürwortung von Gewalt als Kriterium weg, um Rechtspopulismus und -extremismus voneinander zu unterscheiden, und wird die Abgrenzung von traditionsfaschistischen Positionen für die neue Rechte bis zu einem gewisse Grade obsolet, muss das zu bezeichnende Phänomen neu benannt werden. 8. R  ECHTSPOPULISMUS – EINE BEWEGUNG POLANYI’SCHEN TYPS Unabhängig davon kann kein Zweifel bestehen, dass das betriebliche und gewerkschaftliche Engagement radikal rechter Arbeiter auch von legitimen sozialen Protestmotiven getrieben wird. Dennoch handelt es sich bei den Formationen, mit denen diese Arbeiter sympathisieren, nicht um Repräsentationen einer neuen Arbeiterbewegung. Arbeiterbewegungen des Marx’schen Typus sind Ausdruck eines Klassenhandelns, das auf eine Verbesserung kollektiver Positionen im sozialen Raum zielt. Solche Klassen­ bewegungen brechen am Kausalmechanismus Ausbeutung oder schwächer: an ungerechten Verteilungsverhältnissen auf und richten sich gegen die aneignenden Klassen. Bewegungen Polanyi’schen Typs hingegen klagen primär Schutz vor marktgetriebener Konkurrenz ein. Sie attackieren eine diffuse Marktmacht, die unter Lohnabhängigen eine Tendenz bestärken kann, klassenunspezifische Grenzen abzustecken, um vor dem Mahlstrom des Marktes geschützt zu werden. »PEGIDA« und die AfD stehen für solche Bewegungen Polanyi’schen Typs. Anstelle von Ausbeutung agiert diese Bewegung mit Kausalmechanismen wie »Umvolkung« oder »Einwanderung in die Sozialsysteme«. Die Motive, die zur populistischen Revolte führen, lassen sich indes nicht säuberlich in sozioökonomische und kulturelle aufspalten. Radikal rechte Arbeiter verteidigen ihren Lebensstil. Doch die verinnerlichten Dispositionen und Geschmacksurteile, die diesen Lebensstil hervorbringen, wurzeln in sozioökonomischen (Klassen-)Verhältnissen. Grundlegend für die Weltsicht der Befragten ist das Empfinden, am gesellschaftlichen Wohlstand nicht angemessen beteiligt zu sein – materiell wie kulturell. Deshalb haben sich Befragte gewerkschaftlich organisiert und in Betriebsräte wählen lassen. Ihren Sozialprotest stark zu relativieren oder gar infrage zu stellen, liefe deshalb darauf hinaus, empirische Fakten zu ignorieren. Bei seinen Versuchen zur Nationalisierung und Ethnisierung der sozialen Frage kann der völkische Populismus an eine spontane Tendenz zu exklusiver Solidarität anknüpfen, wie sie in der Industriearbeiterschaft, und hier vor allem in Stammbelegschaften und unter Festangestellten, verbreitet ist.

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Exklusive Solidarität grenzt sich nicht nur gegen oben, sondern auch gegen fremd, leistungsunwillig und anders ab. Völkischer Populismus, der mit der Imagination eines ethnisch-kulturell homogenen »Volkskörpers« operiert, verstärkt solche Tendenzen und ist deshalb für jedwede gewerkschaftliche (Klassen-)Solidarität ein Sprengsatz. Gerade deshalb fällt den Gewerkschaften in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der national-sozialen Gefahr eine Schlüsselrolle zu. Häufig sind Gewerkschaften die einzigen demokratischen Organisationen, die Arbeiter mit Sympathien für die völkische Rechte überhaupt noch erreichen. 9. WAS TUN? Unklar ist jedoch, wie eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem radikalisierten Populismus aussehen könnte. Dabei sind rechte Betriebsratslisten, wie jene des Zentrums Automobil, noch das kleinere Problem. Mit eigenen Listen treten rechte Organisationen in offene Konkurrenz zu gewerkschaftlichen Betriebsräten. Sie sind dann ein äußerer Gegner, der sich aus der Gewerkschaftsperspektive leicht identifizieren lässt. Bei den von uns befragten rechten Arbeitern ist das so jedoch nicht der Fall. Ausnahmslos geben sich die Interviewpartner als überzeugte Gewerkschafter. Im Betrieb bieten sie keine Angriffsfläche. Außerhalb unserer Schwerpunktregion würden sie sich in gewerkschaftlichen Kontexten als AfD-Sympathisierende gar nicht zu erkennen geben. Deshalb fällt den Gewerkschaften eine Auseinandersetzung mit diesem »inneren« Rechtspopulismus schwer. Erkennbar sind zwei Linien antipopulistischer Politik. Die erste fordert von Unternehmen und Betriebsräten harte Maßnahmen, um autoritäre Charaktere einzuschüchtern. »Klare Kante« praktizieren zumeist akademisch gebildete Gewerkschaftssekretäre mit Antifa-Sozialisation, die von ihrem Selbstverständnis her gar nicht anders agieren können. Für Anhänger der Gegenposition, die oft einen Arbeiterhintergrund haben, reicht das jedoch nicht aus. Beschränkte sich die Organisation auf – juristisch schwer durchsetzbare – Gewerkschaftsausschlüsse, überließe sie mit den ausgeschlossenen Betriebsräten zugleich die repräsentierten Belegschaften der Orientierung durch »PEGIDA« und die AfD, lautet das erfahrungsgesättigte Argument. Realitätstaugliche Strategien werden sich zwischen den genannten Polen verorten müssen. Denn insbesondere für Regionen im Osten gilt: »Je klarer die Kante, desto höher die Zahl der Gewerkschaftsaustritte« (pol. Sekretär). Deshalb bevorzugen diese Gewerkschafter eine Politik des allmählichen demokratischen Überzeugens. Längerfristig sollte ein Hauptanliegen Klaus Dörre  —  Marsch durch die Betriebe?

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dieser Gewerkschaften sein, jene Kausalmechanismen zu verändern, mit deren Hilfe sich das Alltagsbewusstsein Lohnabhängiger in Bezug auf Ungleichheit und Unsicherheit erklärt. Lange Zeit war, wie der französische Soziologe Didier Eribon schreibt, »nicht mehr von Ausbeutung und Widerstand« die Rede, »sondern von ›notwendigen Reformen‹ und einer ›Umgestaltung‹ der Gesellschaft. Nicht mehr von Klassenverhältnissen und sozialem Schicksal, sondern von ›Zusammenleben‹ und ›Eigenverantwortung‹. Die Idee der Unterdrückung, einer strukturierenden Polarität zwischen Herrschenden und Beherrschten, verschwand aus dem Diskurs der offiziellen Linken und wurde durch die neutralisierende Vorstellung des ›Gesellschaftsvertrages‹ ersetzt«.3 Das muss sich ändern. Wollen sie den Vorwurf der Neuen Rechten, Gewerkschaften gehörten zum Establishment, entkräften, müssen die Arbeitnehmerorganisationen wieder stärker zu sozialen Bewegungen werden. Sie hätten Klassen- und Ausbeutungsverhältnisse wieder öffentlich und auf populäre Weise zu thematisieren. Probleme, eine geeignete Strategie zu finden, gibt es aber nicht nur aufseiten der Gewerkschaften: Auch die akademisch geprägte Öffentlichkeit sollte dazulernen. Nehmen wir als Beispiel die zurückliegende Tarifrunde der IG Metall: Anders als während der 1980er Jahre lösten die Streiks für Arbeitszeitverkürzung mit 1,5 Mio. Beteiligten, die den Einstieg in eine verkürzte Vollzeit von 28 Stunden und mehr individuelle Zeit für Pflege, Erziehung und Erholung von Schichtarbeit durchgesetzt haben, in der gesamten akademischen Öffentlichkeit nur ein schwaches Echo aus. Diese Nichtanteilnahme verstärkt Ohnmachts- und Abwertungsgefühle, wie sie in der Industriearbeiterschaft ohnehin ausgeprägt sind. Bei alledem sollte eines nicht vergessen werden: Gewerkschafter, die sich eindeutig demokratisch und/oder politisch links positionieren, bilden unter den aktiven Mitgliedern noch immer die große Mehrheit. Jede gewerkschaftliche Anpassung an die rechtspopulistische Revolte liefe hingegen darauf hinaus, die Unterstützung dieser Aktiven aufs Spiel zu setzen. Kein Befragter, der den Reichtum der Reichen als zentrale Ursache für die Armut der Armen betrachtet, käme indes auf die Idee, inklusive Klassenpolitik werte Konflikte ab, die an den Achsen Geschlecht, Ethnie/Nationalität oder an Naturverhältnissen aufbrechen. Klassenpolitik und gewerkschaftliche Solidarität sind ihrer inneren Logik nach universalistisch. Um Wirkung zu erzielen, müssen sie über Geschlechtergrenzen, Nationalität und ethnische Spaltungen hinweg verbinden. Deshalb sind sie mit völkischen Integrationskonzepten unvereinbar.

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Perpektiven — Analyse

3  Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Berlin 2016, S. 120.

In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass die betriebliche Arbeitswelt durchaus Erfahrungsräume bietet, in denen Klassenerfahrung in Widerspruch zu völkischem Gedankengut tritt. Daran knüpfen gewerkschaftliche Praktiker an. Sie können sich darauf berufen, dass Bewegungen gegen sexistische und rassistische Diskriminierung ihre größten Erfolge immer dann erzielt haben, wenn auch der »demokratische Klassenkampf« (Walter Korpi) zugunsten der Lohnabhängigen einigermaßen erfolgreich war. Die 1968er-Revolte entdeckte den Klassenkampf – wohl in überhöhter Weise – neu. Zugleich war sie auch eine kulturelle Rebellion für sexuelle Befreiung, Frauenemanzipation, Bürgerrechte und in ihrer Spätwirkung zudem Katalysator für Bewegungen zugunsten ökologischer Nachhaltigkeit. In der Auseinandersetzung mit dem völkischen Populismus wird eine solche Bewegung erneut benötigt – in den Betrieben, national und global. Aus wissenschaftlicher Sicht ist wichtig, dass die Auseinandersetzung mit der populistischen Rechten offensiv, mit langem Atem und begleitet von einem kontinuierlichen Erfahrungsaustausch geführt wird. Dergleichen mithilfe empirischer Forschungen zu unterstützen, könnte zur vornehmen Aufgabe öffentlicher Sozialwissenschaften – »öffentlicher Soziologie« (Michael Burawoy) – werden, die es nicht dabei belassen wollen, die Demokratie lediglich im akademischen Elfenbeinturm zu verteidigen.

Prof. Klaus Dörre, geb. 1957, ist seit 2005 Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, einer der Direktoren des DFG-Kollegs »Postwachstumsgesellschaften« und Mitherausgeber des Berliner Journal für Soziolo­ gie sowie des Global Dialogue. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kapitalismusmustheorie, Prekarisierung von Arbeit und Beschäftigung, Arbeitsbeziehungen, soziale Folgen der Digitalisierung sowie Rechtspopulismus. Zu seinen letzten Veröffentlichungen gehören »Capitalism and Labor. Towards Critical Perspectives« (mit N. Mayer-­Ahuja, D. Sauer und V. Wittke; Campus 2018), »Arbeiterbewegung von rechts? Motive und Grenzen einer imaginären Revolte« (mit S. Bose, J. Köster und J. Lütten; Berliner Journal für Soziologie 2018), »Öffentliche Soziologie – Wissenschaft im Dialog mit der Gesellschaft« (hg. mit B. Aulenbacher, M. Burawoy und J. Sittel; Campus 2017) und »Leistung und Gerechtigkeit – Das umstrittene Versprechen des Kapitalismus« (hg. mit B. Aulenbacher, M. Dammayr, W. Menz, B. Riegraf und H. Wolf; Beltz Juventa 2017).

Klaus Dörre  —  Marsch durch die Betriebe?

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INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Herausgegeben durch das Institut für Demokratieforschung der Georg-August-Universität Göttingen. Redaktion: Dr. Felix Butzlaff, Alexander Deycke, Dr. Lars Geiges, Jens Gmeiner, Julia Bleckmann, Jöran Klatt, Danny Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Dr. Torben Lütjen, Luisa Rolfes. Konzeption dieser Ausgabe: Jens Gmeiner. Redaktionsleitung: Dr. Matthias Micus (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Michael Lühmann, Marika Przybilla-Voß. Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung, unter [email protected] (Bestellungen und Abonnementverwaltung) oder unter [email protected]. Jahresbezugspreis print + online € 73,– D / € 75,10 A; ermäßigter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 41,80 D / € 43,– A; Inst.-Preis print + online ab € 137,– D / ab € 140,90 A Inst. Preis online ab € 151,– Einzelheftpreis € 21,– D / € 22,– A. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-666-80025-2 ISSN 2191-995X © 2018 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen

BEBILDERUNG Der Gartenzwerg: Dekoration, Symbol, Hassobjekt und Sammler­ stück. Diese Figur, die sich in vielen Mythen und Erzählungen wiederfindet, gefertigt aus Ton, Plastik, Marmor, Gips und Sand­ stein, steht in Vorgärten, Schaufenstern oder Parkanlagen. Rund 25 Mio. Gartenzwerge sollen in Deutschland Gärten schmücken und für Witz, Heimeligkeit und Abwechslung sorgen. Für manch einen ist der Gartenzwerg die zwergifizierte Spießigkeit oder eine unangenehme Irritation im Landschaftsbild und für andere wiede­ rum das Gefühl von Heimat und Gemütlichkeit sowie eine Verschö­ nerung des Umfelds. Es gibt klassische Modelle des Zwergs mit Spitzhacke, Schubkarre und Schaufel oder aber unkonventionelle im Trikot, mit Stinkefinger oder gänzlich ohne Kleidung. Kurzum: Der Gartenzwerg ist umstritten und ruft Emotionen – welcher Art auch immer – hervor. Titelbild: coralie/photocase.de S. 2/3: spacejunkie/photocase.de S. 6: Miss X/photocase.de S. 24/25: griwaldia/photocase.de S. 44: spacejunkie/photocase.de S. 50/51: giftgruen/photocase.de S. 60/61: TimToppik/photocase.de S. 71: griwaldia/photocase.de S. 78: spacejunkie/photocase.de S. 98/99: 3quarks/photocase.de S. 105: kallejipp/photocase.de S. 116: Fotoline/photocase.de Porträt Ulrike Guérot: © Dominik Butzmann

Heimat-GefüHle zwiscHen nationalistiscHem Ressentiment und utopiscHeR seHnsucHt

Rainer Gross Heimat: Gemischte Gefühle Zur Dynamik innerer Bilder 2019. Ca. 176 Seiten, mit ca. 5 Tab., kartoniert ca. € 20,00 D ISBN 978-3-525-40491-1 eBook ca. € 15,99 D | ISBN 978-3-647-40491-2

Heimat, Heimatland, sich daheim fühlen – diese Worte evozieren intensive Emotionen zwischen Ressentiment und Sehnsucht, doch sind sie auch zu politischen Kampfbegriffen geworden. Dieses Buch bietet einen fundierten psychoanalytischen Diskussionsbeitrag zur Frage, wie und wodurch unsere inneren Bilder von Heimat geprägt werden. Der soziologische Blick von außen fokussiert die Frage nach der Funktion von Heimat für individuelle und nationale Identitätsbildung. Deren oft unbewusste Voraussetzungen – so Gross’ These – liegen primär in der Psychodynamik und Genese von »Heimat-Gefühlen« im Spannungsfeld zwischen vorgegebener Herkunft und selbstgewählten Sehnsuchtsorten der Ankunft, zwischen Idealisierung eines verlorenen Paradieses und utopischer Verklärung der Sehnsuchtsorte, zwischen Kollektivpsychologie und individueller Biografie.

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70 Jahre Grundgesetz In welcher Verfassung ist die Bundesrepublik? 2019. 310 Seiten, gebunden € 25,00 D ISBN 978-3-525-31078-6 eBook: € 19,99 D | ISBN 978-3-647-31078-7

Im Mai 2019 wird das Grundgesetz 70 Jahre alt. Mit diesem »Jubiläum« gehen 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung einher, die stürmische Zeiten kannte und nicht überlebte. Das Doppeljubiläum nehmen profilierte Denkerinnen und Denker der Rechts-, Geschichts- und Politikwissenschaft sowie des Journalismus zum Anlass, Grundgesetz, Staat, Gesellschaft und politische Situation zu reflektieren. Was hat sich bewährt? Wo liegen die Anfänge unserer Verfassung? Welchen Einfluss hat sie, wenn es um Identität, Populismus, Migration, Digitalisierung oder demographische Herausforderungen geht? Diesen und anderen Fragen geht der Band mit Beiträgen prominenter Autoren nach. Das Werk versammelt profilierte Denkerinnen und Denker aus der Rechts-, Geschichts- und Politikwissenschaft sowie Funk- und Printjournalismus. Sie suchen pointiert und adressiert an ein breites Publikum Antworten auf die Frage, ob unser Land in guter Verfassung war, ist, sein wird.