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German Pages [232] Year 1979
Gustav Α. Krieg Der mystische Kreis
ARBEITEN ZUR GESCHICHTE DES PIETISMUS IM A U F T R A G D E R
H I S T O R I S C H E N KOMMISSION ZUR E R F O R S C H U N G D E S P I E T I S M U S
HERAUSGEGEBEN
VON
R. ALAND, E. P E S C H K E U N D M. S C H M I D T
BAND 17
VANDENHOECR & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N
DER MYSTISCHE KREIS W E S E N UND W E R D E N DER T H E O L O G I E PIERRE POIRETS
VON
GUSTAV A. KRIEG
VANDENHOECR & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N
CIP-Kurztitelaufnahme der D e u t s c h e n Bibliothek Krieg,
Gustav
Α.:
Der mystische Kreis: Wesen u. Werden d. T h e o l o g i e Pierre Poirets / von Gustav A. Krieg. — G ö t t i n g e n : V a n d e n h o e c k und Ruprecht, 1 9 7 8 . (Arbeiten zur G e s c h i c h t e des Pietismus; Bd. 17) ISBN 3-525-55800-7
® Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1979. - Printed in Germany Ohne ausdrückliche G'inehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
Inhalt Vorbemerkungen
7 ERSTER
Entstehung I. II. III. IV.
HAUPTTEIL:
und Hintergrund
von Poirets
Schriften
Die Grunddaten der Vita Poirets Poirets Schaffen bis zum Tode der A. Bourignon Die Jahre in Amsterdam Die Rijnsburger Jahre ZWEITER
Die Grundstrukturen
14 14 20 37
HAUPTTEIL:
des poiretianischen
Denkens
1. Die Cogitationes Rationales von 1677: Cartesianismus und Mystik Der Ansatz der Schrift Einzelfragen Zusammenfassung II. Die Cogitationes Rationales von 1685 Gott und die Seele Essenz und Existenz — die ontologischen Grundstrukturen des inneren Weges Welt und Vernunft III. Die Oeconomie Divine Grundlegung Das Zentrum: Gott und der essentielle Teil der Seele 1. Die nicht-trinitarischen Definitionen 2. Die trinitarischen Definitionen 3. Gott, die Freiheit der Seele und die Frage der Prädestination
50 50 66 86 87 87 96 98 103 103 104 104 118 133
Die Peripherie: Die Welt und die unteren Seelenkräfte
136
1. Die Welt 2. Die Vernunft und die anderen unteren Seelenkräfte
136 141
IV. Die Gottes- und Seelenlehre jenseits der Oeconomie Divine. . . 144 Das Büchlein über die christliche Erziehung der Kinder und das Buch über die dreifache Bildung 144 Die Schrift über den Ursprung der Ideen 150 5
DRITTER Der
mystische
Kreis
HAUPTTEIL:
(Urständ
— Fall —
Rückkehr)
I. D a s G r u n d p r i n z i p d e s m y s t i s c h e n K r e i s e s II. U r s t ä n d u n d Fall
154 154
Die Cogitationes Rationales von 1677 und 1 6 8 5
154
Die O e c o n o m i e Divine 1. Vorbemerkungen 2. Der Urständ 3. Der Fall
156 156 156 158
U r s t ä n d u n d Fall in P o i r e t s übrigen S c h r i f t e n
166
III. D i e R ü c k k e h r z u m H e i l
166
Grundlegung
166
D a s H e i l als G e s c h i c h t s e r e i g n i s
167
1. Die Schriften vor der Oeconomie Divine 2. Die Oeconomie Divine Der christologische Ausgangspunkt Merkmale poiretianischer Heilsgeschichtsschreibung Die Perioden der Heilsgeschichte: a) Die Perioden bis zur Zeit J e s u von Nazaret (Die Ökonomie des Alten Testamentes) 179 — b) Jesus von Nazaret (Der Beginn der neutestamentlichen Ökonomie) 181 — c) Die Perioden bis zum Ende der Geschichte 190 Die Apotheose der Geschichte 3. Die Schriften nach der Oeconomie Divine D a s H e i l als i n d i v i d u e l l e E x i s t e n z e r f a h r u n g 1. Die Reflexion des inneren Weges Die Struktur Der innere Weg nach dem Discursus Praeliminaris Der innere Weg nach der Oeconomie Divine: a) Der Gedanke der cooperatio und seine Entfaltung 196 — b) Der Aspekt des Glaubens 197 — c) Die anderen Aspekte des inneren Weges 200 - d) Das Ziel des inneren Weges 203 e) Poirets Verständnis des inneren Weges und die kirchliche Tradition 206 Der innere Weg und die Essentifikation der Vernunft 2. Die Praxis des inneren Weges Das Wesen der praxis mystica Wegwreisung zum Gespräch mit Gott: a) Poirets eigene Aussagen 217 - b) Poirets Editionen 218
167 168 168 176
193 194 195 195 195 196
209 215 215
A b s c h l i e ß e n d e Erwägungen: Z u einer Beurteilung Poirets
221
Literatur
224
Vorbemerkungen Die hier vorgelegte Arbeit ist der Versuch, das Denken des französisch/ niederländischen Theologen Pierre Poiret von seinem Entstehen bis zu seiner endgültigen Entfaltung darzustellen. Dieser Versuch scheint umso notwendiger unternommen werden zu müssen, als bislang — seit der 1868 erschienenen Straßburger Dissertation von Ott ' — zwar verschiedene Einzelprobleme des Werkes Poirets erörtert worden sind, andererseits aber erst eine einzige Arbeit vorliegt, welche Poirets Denken und Schrifttum in seiner Gesamtheit in den Blick zu bekommen gesucht hat: Wiesers Monographie von 1924^. In Wirklichkeit liegen die Probleme aber noch tiefer; denn nicht nur sind — sehen wir von Wiesers Schrift ab — lediglich Einzelfragen im poiretianischen Obuvre behandelt worden; vielmehr sind diese Arbeiten auch in gewisser Hinsicht inkohärent zu nennen. Am Anfang der Forschung steht das Interesse an Poirets Mystik. In diesem Sinne hat Ott die Oeconomie Divine analysiert. Dabei hat er sowohl die Grundstruktur poiretianischen Denkens in den Blick bekommen — das, was wir den mystischen Kreis nennen —, aber auch Poirets Ferne von der traditionellen Dogmatik erkannt. Letztlich ist er allerdings bei einer phänomenologischen Beschreibung geblieben; dem Hintergrund von Poirets systematischem Hauptwerk hat er nur wenig Beachtung gewidmet. Mit der folgenden Arbeit — Fleischers Dissertation von 1893^ — steht die Inkohärenz der Poiret-Forschung in einem hellen Licht. Fleischer — der Otts Arbeit wohl nicht gekannt haben dürfte — setzt an einer ganz anderen Stelle an, nämlich bei Poirets philosophischen Anschauungen, d.h. bei dem „Cartesianer" Poiret, wobei er sich freilich bewußt ist, daß dieser „Cartesianer" zugleich auch „Mystiker" ist. Aber wie Fleischers Arbeit zu derjenigen Otts in keinem forschungsgeschichtlichen Zusammenhang steht, so ist sie auch in sich selbst inkohärent: Fleischer sieht zwar sowohl das cartesianische als auch das mystische Element im Werk Poirets, aber die Beziehung, die zwischen beiden Ele' E. Ott, L'Economie Divine de P. Poiret, Strasbourg 1868 (zit.: Ott). ' M. Wiescr, Peter Poiret. Der Vater der romanischen Mystik in Deutschland, München 1923 (zit.: Wieser, Peter Poiret). 3 J. W. Fleischer, Pierre Poiret als Philosoph, Falkenstein (1893) (zit.: Fleischer).
menten besteht, wird von ihm nicht e^lcannt. Vielmehr hat er eine gewisse Inkongruenz im poiretianischen Denken feststellen zu müssen geglaubt: Am Anfang, so meint er, ist Poiret cartesianischer Philosoph. Dieser Ansatz werde jedoch mehr und mehr verdrängt, zunächst unter dem Einfluß mystischer Schriftsteller, dann in entscheidender Weise durch Poirets „Bekehrungserlebnis", schließlich durch Poirets Begegnung mit der Schwärmerin A. Bourignon. Ob nicht zwischen Cartesianismus und Mystik eine Beziehung bestehen könnte (wie sie ja an der geschichtlichen Entwicklung von Descartes zu Port-Royal oder zu Malebranche abzulesen ist) — diese F r ^ e hat er noch nicht in den Blick genommen. Fleischers Nachfolger in der Poiret-Forschung, W. Jüngst, hat sich in seiner 1912 erschienenen Dissertationvon vornherein auf ein einziges Werk Poirets beschränkt, und zwar jenes, in welchem poiretianische Mystik erstmals voll zum Durchbruch kommt: auf den Discursus Praeliminaris in der Zweitauflage der Cogitationes Rationales. Hier hat Jüngst in der Detailanalyse Wesentliches geleistet. So dürfte er der erste gewesen sein, der in der Forschungsgeschichte auf Poirets Kritik am cartesianischen Evidenzbeweis aufmerksam gemacht hat. Dadurch jedoch, daß er eben über eine Untersuchung des Discursus Praeliminaris nicht hinausgegangen ist, ja nicht einmal Fleischers Analysen zu Poirets mystischer Periode ausführlicher hinzugezogen hat, ist zwar die Poiret-Forschung ein Stück weitergekommen, jedoch nicht im Blick auf die Herstellung eines Gesamtbildes unseres Theologen, sondern vornehmlich durch die Setzung eines neuen, von dem bisher Erarbeiteten unabhängigen Schwerpunktes. Erst Delekats Aufsatz von 1923/24, in welchem er die Beziehung zwischen Rationalismus und Mystik am Beispiel Poirets aufzulichten sucht, fuhrt hier weiter Es ist Delekat in dieser Arbeit zu zeigen gelungen, daß die scheinbar so divergierenden Elemente in Poirets Denken, eben der Cartesianismus seiner Frühzeit und seine spätere Wendung zur Mystik, in Wirklichkeit durchaus zusammengehören. Es ist wichtig, diese Einsicht festzuhalten (sie prägt auch den Ansatz vorliegender Darstellung entscheidend mit); denn durch sie ist es möglich geworden, Poirets Leben in seiner Ganzheit verstehen zu lernen, eben als eine kontinuierliche, nachgerade bruchlose Abfolge verschiedener sich auseinander entwickelnder Stadien. Vor allem ein Stadium ist nunmehr einer annähernd richtigen Beurteilung zugängHch gewor4 W. Jüngst, Das Problem von Glauben und Wissen bei Malebranche und Poiret, Leipzig 1912 (zit.: Jüngst). 5 F. Delekat, Rationalismus und Mystik. Im Anschluß vor allem an P. Poiret (in: ZThK, N.F. 1923/4, S. 260ff) (zit.: Delekat).
den (ohne daß dieser Schritt von Delekat allerdings schon getan worden wäre): Poirets „Bekehrungserlebnis". Wir sahen, Fleischer hatte es noch als einen entscheidenden Abschnitt im Leben Poirets verstanden; grundsätzlich ist dies nach Delekats Einsichten nicht mehr in dem Maße möglich wie vorher: Jene Krankheit, von welcher Poirets Biograph berichtet und welche unserem Theologen zu seinem endgültigen Durchbruch zur Mystik verholfen haben soll, wird nun zu einem biographischen Einzelstadium neben anderen — vielleicht zu einem emsthafteren als andere, ohne aber eine grundsätzlich höhere Bedeutung zu besitzen. Daß es innerhalb der Poiret-Vita eine solche gewinnen konnte, liegt, wie erst Tilly erkannt hat in der besonderen geistesgeschichtlichen Verwurzelung des poiretianischen Biographen begründet. Wie verhält sich nun die erste umfassende Darstellung von Leben und Werk Poirets, die genannte Arbeit Wiesers, zu alledem? In mancher Hinsicht ist der Fortschritt gegenüber allen voraufgegangenen Arbeiten über Poiret unvergleichlich. Mit dieser Monographie bricht erstmals das gesamte Schrifttum Poirets über die Forschung herein — und zwar nicht nur das Schrifttum, welches aus Poirets eigener Feder stammt, sondern auch seine Editionen anderer Autoren. Dabei liegt gerade auch in der Sichtung des letztgenannten Materials ein besonderes Verdienst Wiesers (auch wenn er sich dabei auf die Vorarbeiten des Poiret-Biographen stützen konnte); denn Poiret hat durchaus nicht alle Editionen, die er besorgt hat, auch mit seinem Namen gezeichnet, wußten doch selbst seine Zeitgenossen bisweilen nicht, ob ihm die eine oder andere Edition zuzuschreiben sei"'! Allerdings ist es gerade auch diese Arbeit Wiesers, welche wiederum die Inkohärenz innerhalb der Poiret-Forschung indiziert: Der für die weitere Analyse poiretianischen Denkens so fruchtbare Ansatz Delekats ist nicht aufgenommen worden. Vielmehr erscheint bisweilen die von Fleischer vertretene Position, daß zwischen dem „Cartesianer" und dem „Mystik e r " Poiret letztliche Diskontinuität herrsche, nachgerade erneuert: Poirets Cogitationes Rationales sind für Wieser „nichts weiter als ein Niederschlag seiner selbständigen Descartes-Studien"®, d.h. erst nach dieser Schrift, wenn auch durch die Lektüre mystischer Schriften vor6 Pädagogik, Mystik und Pietismus bei Pierre Poiret ( 1 6 4 6 - 1 7 1 9 ) . Historische Beziehungen u n d philosophische Grundlagen, Bonn 1 9 3 0 (zit.: Tilly). So hat etwa Fritsch, Poirets Frankfurter Verleger, im Anhang der lat. Ausgabe der O e c o n o m i e Divine Poirets Böhme-Kompendium als eine Schrift aufgeführt, als deren Verfasser Poiret gilt. 8 Peter Poiret, S. 43.
bereitet, beginne die eigentlich „mystische" Periode im Denken Poirets^. Daß von hier aus auch Poirets „Bekehrungserlebnis" für Wieser wiederum hermeneutische Relevanz erhält, liegt auf der Hand; dieses erscheint wiederum als der entscheidende Punkt, an welchem sich Poirets Lebenswende ereignet'". Darüber hinaus treten für Wieser aber auch die Arbeiten Fleischers und Jüngsts sehr weit in den Hintergrund; ihre Einzelergebnisse werden nicht in seine Arbeit eingebracht (auch er scheint im übrigen Otts Dissertation nicht gekannt zu haben). Nun mag freilich eingewandt werden, daß angesichts der Fülle des von Wieser erstmals gesichteten Materials eine ausführliche Analyse der Einzelquellen im Zusammenhang mit bereits gewonnenen Ergebnissen gar nicht erwartet werden könne. Ein solcher Einwand wäre jedoch nur in geringem Maße stichhaltig; denn trotz der Fülle des hinzugezogenen Materials bleibt die Gestalt Poirets in Wiesers Darstellung merkwürdig blaß. Woran liegt das? Man wird Schering zustimmen müssen, wenn er schreibt, daß „Wieser bei der Darstellung der Philosophie und Theologie zu stark eigene Gedankengänge mit denen des von ihm behandelten Autors verschmilzt, so dass seine Ausführungen kein klares Bild dessen geben, was Poiret selbst eigentlich gesagt hat und was er sagen w o l l t e " " . Von hier aus aber legt sich von Anfang an eine noch ausführlichere Analyse des von Wieser gebotenen Materials nahe. Die Wiesers Schrift folgenden Beiträge zur Poiret-Forschung sind wiederum Einzelfragen gewidmet. 1930 schreibt Tilly seine Dissertation über Poirets Pädagogik, 1954 erscheint Scherings Untersuchung von Poirets Glaubens- und Geschichtsverständnis. Behandeln diese Arbeiten aber auch Spezialprobleme innerhalb des poiretianischen Denkens, so ist dennoch in ihnen das Bestreben unverkennbar, die von Delekat aufgeworfene Frage nach den inneren Zusammenhängen in Poirets Denken nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. In diesem Sinne hat Tilly, wie bereits erwähnt, Poirets „Bekehrungserlebnis" endgültig aus seiner hermeneutischen Zentralstellung verbannt und als das erwiesen, was es ist: als einen Hterarischen Topos, erwachsen aus pietistischer Frömmigkeit'^. Vor allem hat er auch nach dem Vorgang 9 Ebd. 10 A a O S. 4 2 f . 11 E. Schering, Glaube und Geschichte bei Peter Poiret. Ein Beitrag zur Geschichtsanschauung, Religionsphilosophie und Anthropologie des ausgehenden 17. Jahrhunderts, Göttingen 1954 (masch.), S. 71 (zit.: Schering). 12 AaO S. 43.
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Delekats die mystische Implikation cartesianischen Denkens ins Blickfeld gerückt Im Detail freilich — und das ist angesichts Tillys Interesse speziell an Poirets Pädagogik und nicht an seinem Denken allgemein verständlich — ist Tilly im Aufweisen der inneren Einheit poiretianischen Denkens gegenüber seinen Vorgängern in der Poiret-Forschung nicht weitergekommen, mag auch seine Quellenkenntnis wesentlich größer sein als die etwa von Jüngst (er hat auch die Oeconomie Divine ausführlicher in den Blick genommen Er ist sich zwar aufgrund jener Einsicht in den sachlichen Zusammenhang von Cartesianismus und Mystik darüber im klaren, daß die Cogitationes Rationales nicht ohne weiteres lediglich als Ergebnis cartesianisch-orientierter Reflexion gewertet werden dürfen^', beruft sich in dieser Frage aber allein auf die Hinweise Fleischers auf mystische Einzelelemente im poiretianischen Frühwerk. Gerade aber von einer Analyse dieses Frühwerks ist auszugehen, wenn man sich bewußt machen will, wie sehr in der Tat die Frühzeit und die späteren Jahre Poirets zusammengehören. Auch Schering hat schließlich die Erforschung der Zusammenhänge im Denken Poirets vorangetrieben. Vor allem hat er auch den Lebenslauf Poirets auf solche Zusammenhänge hin abgespürt und hier manches zutage gefördert, was bei Wieser höchstens andeutungsweise zur Sprache gekommen war. Jedoch wirft auch diese Schrift Fragen auf. Hat Schering auch, über sein Spezialinteresse hinaus, die Frage nach den inneren Zusammenhängen in Poirets Denken gestellt, so ist dennoch auch bei ihm manches offen geblieben. Zwar ist es sein Verdienst, daß die Oeconomie Divine weiterhin im Horizont der Forschung geblieben ist, die Analyse dieser Schrift geschieht jedoch ohne einen Blick auf Poirets andere Arbeiten; gerade die Cogitationes Rationales als das Grundbuch auch zum Verstehen des späteren Poiret sind nicht ausführlicher hinzugezogen worden. Es erfordert jedoch noch ein weiterer Punkt in den Arbeiten Tillys und Scherings Beachtung: Auch sie zeigen wiederum, daß von einem kontinuierlichen Nacheinander in der Poiret-Forschung nicht die Rede sein kann; denn Hefem sie einerseits — besonders Tillys Schrift — eine Auseinandersetzung mit voraufgegangenen Untersuchungen zu Poiret (besonders mit der Arbeit Wiesers), so setzen sie andererseits zugleich eine »3 AaO S. 37f. Tillys diesbezügliche Ausführungen sind uns allerdings nicht überkommen, da sie — als ungedruckter Teil II der Dissertation — bei der Zerstörung der Bonner Universität 1944 vernichtet wurden. 15 AaO S. 48f, Anm. 105.
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Reihe neuer und voneinander unabhängiger Schwerpunkte. So hebt Tilly etwa in hohem Maße auf das quietistische Element im poiretianischen Denken ab (und berührt damit einen Komplex von großer Tragweite), ohne daß dieser Ansatz andernorts vorgebildet wäre oder bei Schering in größerem Maße wiederauftauchte. Andererseits setzt Schering aufgrund seiner Fragestellung Akzente, die ebenfalls völlig neue, bislang noch nicht in Erscheinung getretene Perspektiven anzeigen. Wir haben es also in der bisherigen Poiret-Forschung mit der Erarbeitung einer Reihe von Teilgebieten zu tun, während die Gestalt Poirets in ihrer Einheit bislang nur wenig im Blick stand. Lediglich an einer Stelle hat sich ein klares Ergebnis abgezeichnet — eben in der Einsicht, daß Poirets Leben und geistige Entwicklung als ein inneres Kontinuum verstanden werden müssen, das zwar Risse und Sprünge aufweist, aber keinen fundamentalen Bruch. Nur — dieser Einsicht fehlte bislang die umfassendere Begründung aus den Quellen selbst'®. Doch noch verschiedenes andere ist an der bisherigen Poiret-Forschung auffällig. Sofem man sich dem poiretianischen Denken zugewandt hat, dann nur insoweit, als es in Poirets eigenen Schriften fixiert ist. Daß es auch einen historischen Hintergrund hat — dessen war man sich zwar weitgehend bewußt, hinzugezogen hat man diesen Hintergrund zum Verstehen Poirets bislang aber nur in geringem Maße, sehen wir von der schon häufiger reflektierten Beziehung Poirets zu Descartes ab. So ist zwar bekannt, daß Poiret über den cartesianischen Einfluß hinaus gerade auch das Denken A. Bourignons und die Mystik aller Schattierungen, aber auch die Theosophie Böhmes adaptiert und in sein Denken integriert hat, ja sogar gelegentlich noch der Einfluß kirchlicher Theologie zu erkennen ist — aber eine quellenmäßige Erfassung aller dieser Einflüsse ist bisher erst selten geschehen. Ein weiteres gehört hierher. Auch Poirets Gegner sind bekannt, Jäger, Lange, Thomasius und viele andere. Aber auch ihr Schrifttum ist bislang nur in sehr geringem Maße zur Analyse des poiretianischen Denkens ausgewertet worden, obwohl gerade auch von diesem her manches bezeichnende Licht auf Poirets Geisteswelt zu fallen vermag. Ein letztes Moment sei hier erwähnt: Letztlich sind unter den genannten Arbeiten auch nur zwei aus spezifisch theologischem Interesse geschrieben worden, nämlich die Dissertation Otts und Scherings Arbeit von 1954. 1® Ein Titel sei in diesem Zusammenhang allerdings noch genannt: M. Chevallier, Pierre Poiret . . . , Métaphysique cartésienne et spiritualité dans la première édition de ses „Cogitationes Rationales", La Haye 1975 (zit. im Dictionnaire de Spiritualité, Bd. 9, Paris 1976, Sp. 7, ad vocem .Labadie'). Leider konnte dieser Titel jedoch nicht mehr berücksichtigt werden.
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Fleischers, Jüngsts und Wiesers Arbeiten dagegen sind vornehmlich philosophisch bzw. — das betrifft vor allem die letztere — allgemein kulturgeschichtlich interessiert; auch in der Dissertation Tillys wiegt letztlich die philosophische Fragestellung vor. Von hier aus nimmt es nicht wunder, daß ganze Bereiche des poiretianischen Denkens bisher noch gar nicht oder in geringerem Maße anvisiert worden sind, etwa Poirets Christologie, das Detail seiner Soteriologie oder seiner Gotteslehre. Wir sehen also, daß in diesem Bereich der Kirchengeschichte noch etwas zu tun bleibt — zum einen, die schon allgemein erkannte Kontinuität im Denken Poirets noch stärker zu begründen als bisher, zum anderen aber auch die Analyse von Einzelproblemen erneut auf eine Gesamtdarstellung hin auszudehnen, und dies sowohl unter Berücksichtigung des genetischen Aspektes des poiretianischen Denkens als auch unter ausführlicherer Hinzuziehung der Quellen. Freilich, eine Gesamtdarstellung setzt auch eine kritische Sichtung des Materials voraus, diese aber zugleich die Kenntnis gewisser biographischer Zusammenhänge. Gewiß ist, wie vermerkt, hinsichtlich der Sichtung der Quellen von Wieser schon Entscheidendes geleistet worden; darüberhinaus hat der gleiche Autor auch bereits Poirets Biographie in extenso aufgearbeitet; schließlich hat auch Scherings Arbeit nicht wenig dazu beigetragen, das biographische Detail noch weiter zu lichten. Immerhin bleibt aber auch in diesem Bereich noch das eine oder andere nachzutragen.
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E R S T E R HAUPTTEIL ENTSTEHUNG UND HINTERGRUND VON POIRETS SCHRIFTEN
I. Die Grunddaten der Vita Poirets Uber Poirets Leben sind wir hinlänglich unterrichtet, und zwar durch eine Biographie, die einer seiner Freunde über ihn verfaßt und den „Posthuma", d.h. der Ausgabe seiner nachgelassenen Schriften, vorangestellt hat: Er ist 1646 in Metz geboren; 1661 beendet er seine Schulzeit dortselbst, um in Buchsweiler im Elsaß die Stelle eines Sprachlehrers anzunehmen; 1664 bis 1667 studiert er in Basel Theologie. Die Folgezeit sieht ihn in Hanau, „apud Dominum Grandidier"', bis er schließlich nach Heidelberg umzieht und dort ordiniert wird. 1670 heiratet er die Witwe seines mittlerweile verstorbenen Hanauer Freundes Grandidier und tritt 1672 in Annweiler in der Pfalz seine erste Stelle als Pfarrer der dortigen französischen Gemeinde an. Indes hält es ihn hier nicht lange. Wir finden ihn seit 1676 auf Reisen, im Gefolge der Schwärmerin und Separatistin A. Bourignon; seit 1680, ihrem Todesjahr, lebt er in Amsterdam, um schließlich 1688, im Todesjahr seiner Frau, nach Rijnsburg, in das Refugium einer kleinen Gemeinde von Separierten, den Rijnsburger Kollegianten, überzusiedeln. Hier stirbt er 1 7 1 9 ^ Soweit die bloßen Fakten. Sie bilden das Raster für ein bisweilen recht bewegtes Leben als Geistlicher, Autor und Editor einer Fülle von Schriften, als Polemiker und Apologet.
IL Poirets Schaffen bis zum Tode der A. Bourignon Es ist keine Frage: Der Poiret, der in Basel studiert hat und seit 1672 in der Gemeinde Annweiler eine Pfarrstelle übernommen hat, ist bereits ein hochgebildeter Mann. Davon zeugt schon die erste Schrift, die wir 1 Petri Poireti Posthuma, A m s t e r d a m 1 7 2 1 , S. 3) (zit.: Posthuma). 2 Vgl. insgesamt Posthuma S. l ) - 5 4 ) .
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von ihm überliefert haben, die noch in Annweiler (in den Jahren um 1675) entstandenen Cogitationum Rationalium de Deo, Anima et Malo Libri Quatuor (im folgenden Cogitationes Rationales genannt)^. Poiret kennt die Theologie seiner reformierten Heimatkirche, ist aber auch mit den philosophischen Strömungen der Zeit vertraut, mit More, Hobbes, Locke, Malebranche, vor allem mit Descartes. Letzterer ist der Philosoph, von dem sich Poiret in seinem Frühwerk am meisten abhängig zeigt und der ihm die Waffen in die Hand gibt, die erstgenannten Denker zu bekämpfen. Diese von Poiret anvisierte Synthese aus Theologie und cartesianischer Philosophie ist in der Zeit des ausgehenden 17. Jahrhunderts nicht sonderlich auffällig. Im Gegenteil, allerorts hat Descartes Theologen, aber auch theologisch interessierte Laien fasziniert. Wir denken etwa an den Arzt L. Meyer, der Descartes' Philosophie nachgerade zum Prinzip der Bibelauslegung erheben will, oder an den Herbomer Theologen Christoph Wittich. Und hat auch die reformierte Orthodoxie unverdrossen ihre warnende Stimme gegen die Neuerer erhoben, so hat sie sie dennoch nicht unterdrücken können. Gerade auch Wittich vmßte sich zu behaupten Die Cogitationes Rationales haben großen Beifall hervorgerufen. Noch ein Theologe wie Walch (und er war wahrhaftig kein Verehrer Poirets) schreibt: ,,Man findet in diesem Werck manche Wahrheiten gründlich vorgetragen: man siebet manchen Irrthum wohl entdeckt und wiederleget: man kan verschiedenes gutes darinnen lesen" Deimoch trägt Poirets philosophisches Frühwerk noch andere Charakterzüge: Sosehr die Schrift auch cartesianisch bestimmt ist, so ist dieser Cartesianismus doch schon auf eine eigentümliche Weise gebrochen. Denn an manchen Stellen dringen Gedanken an die Oberfläche, die eine Bewegung anzeigen, die sehr bald Poirets Denken ganz bestimmen und alles Cartesianische in ihm mit sich fortreißen wird. Es sind die Stellen, die von der contemplatio Gottes durch die Seele reden, ja bereits vom Seelengrund. Mehr noch, selbst dort, wo die Sprache der Cogitationes Rationales cartesianisch ist, d.h. wo Poiret wie Descartes versucht, zu einem Punkt der absoluten Gewißheit vorzustoßen, wird 3 Ein früher Traktat „ D e S u m m o B o n o " blieb ungedruckt und scheint verlorengegangen zu sein (vgl. Posthuma, S. 3). Vgl. E. Bizer, Die reformierte Orthodoxie und der Cartesianismus (in: Z T h K 55, 1958, S. 3 0 6 f f ) , S. 3 2 9 f f (zit.: Bizer). 5 Walch, Historische und Theologische Einleitung in die Religions-Streitigkeiten, welche sonderlich ausser der Evangelisch-Lutherischen Kirche entstanden, V I / V , J e n a 1736, S. 9 1 5 (zit.: Walch).
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hinter dieser zunächst rein-philosophisch anmutenden Denkbewegung dennoch bereits ein Drängen sichtbar, das religiös ist: Die philosophische Abstraktion vom „Außen", dem, was nicht ganz und gar Ich-selbst ist, wird bereits zur Abkehr von der „Welt", zum Weg in ein Innen, in dem nur Gott wirkt. Dabei werden wir in der Einzelanalyse sehen, daß es sich hier nicht nur um mystische Einzelelemente handelt, sondern daß dasjenige, was die philosophisch orientierte Mitwelt an dieser Schrift gepriesen hat, letztlich bereits philosophische Formel geworden ist, als deren Inhalt schon die mystische Empfindung glüht, um über kurz oder lang hervorzubrechen. Und dieser Durchbruch geht schnell, denn er ist lange vorbereitet. Gerade Annweiler, der Entstehungsort der Cogitationes Rationales, dürfte Poiret im Umbruch gesehen haben. Eine Krankheit wirft unseren Theologen nieder — und ist sie auch von Poirets Biographen zu einem „Bekehrungserlebnis" emporstilisiert worden (wir finden dergleichen ja häufiger in pietistischer Frömmigkeit) so muß sie doch Spuren hinterlassen haben; denn hätte man sich sonst ihrer erinnert? Aber auch andere Eindrücke dringen an: Poiret, der schon zu der Zeit der Abfassung der Cogitationes Rationales seine Vertrautheit mit der Mystik zeigt, dringt weiter in diese vor. Hat er sich bislang vornehmlich mit der deutschen Hochmystik beschäftigt, wie die Cogitationes Rationales zeigen (vor allem mit Tauler: Dessen Lehre scheint unserem Theologen besonders am Herzen gelegen zu haben, denn es gibt wenig Schriften Poirets, in welchen sein Name nicht auftaucht), so reihen sich den Vertretern dieser Hochmystik nunmehr Mystiker eines von jenen recht verschiedenen Typus an: In jenen Annweiler Jahren begegnet Poiret erstmals in größerem Ausmaße — vor allem anläßlich eines Besuches in Frankfurt'' — auch dem Typus des Schwärmers und Separatisten. Genannt werden muß in diesem Zusammenhang zunächst J . J . Schütz. Er ist von Hause aus Jurist, zugleich aber auch in hohem Maße theologisch interessiert: Er gehört immerhin zu denjenigen, welche 1670 zusammen mit Spener in Frankfurt die Collegia Pietatis gegründet haben®; ja, wir kennen ihn auch als Autor religiöser Schriften. So finden wir ihn 1675 mit der Herausgabe eines „Christlichen Gedenkbüchleins zur Beförderung eines anfangenden neuen Lebens" beschäftigt^ — und beeinflußt ist diese Schrift in jeder Weise durch Mystiker wie Tauler und
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Posthuma, S. 6). Posthuma, S. (10. Wieser, Peter Poiret, S. 44f. Schering, aaO S. 33.
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A r n d t D i e s e Beschäftigung mit der praxis pietatis und ihren geistigen Urhebern — seien sie protestantische oder katholische Mystiker — fiihrt Schütz indes zu Konsequenzen, welche andere — ihm verwandte — Denker nie (Spener) oder nur vorübergehend (Arnold) gezogen haben: Er zieht sich immer weiter aus dem kirchlichen wie öffentlichen Leben zurück — ein Schritt, der naturgemäß für ihn nicht ohne Folgen bleiben konnte: Am Ende steht der Bruch seiner Freundschaft mit Spener". Andere Separatisten und Schwärmer gehören hierher: etwa E. von Merlau'^, desgleichen der Chiliast Petersen*^ Daß Poiret aus dieser Welt elementare Anregungen für sein weiteres Leben empfangen hat, liegt auf der Hand. Mehr noch, seine Beschäftigung mit der kirchlichen wie der außerkirchlichen Mystik und ähnlichen dieser verwandten Strömungen läßt ihn bereits auch zum ersten Mal als Editor hervortreten: 1676 gibt er eine französische Übersetzung der Theologia Deutsch heraus. Ein letzter Punkt ist in diesem Zusammenhang zu nennen: Der Weg Poirets vom Cartesianismus zur Mystik dürfte auch dadurch vorbereitet gewesen sein, daß der Halt, den unser Theologe in der Lehre seiner Heimatkirche besessen hat, nicht sehr fest gewesen zu sein scheint — trotz der Tatsache, daß wir gelegentlich auch durchaus Elemente kirchlicher Theologie in seinem Schrifttum finden. Aber wenn etwa der Verfasser der in den Posthuma abgedruckten Poiret-Vita schreibt, unser Theologe sei ein Freund der Schule von Saumur gewesen, so mag das zwar zutreffen, ist aber schwerlich nachzuweisenVerschiedentlich ist sogar festzustellen, daß Poirets Beziehung zu der genannten Schule von einer überraschenden Unkenntnis bestimmt gewesen ist — etwa hinsichtlich der Lehre von Laplace über die imputatio peccati''. Und daß Poiret von den Salmurensem her — durch Vermittlung seines Lehrers Wettstein — während seiner Baseler Jahre zum Heilsuniversalismus gekommen sei, wie noch Schering anzunehmen scheint'^, ist allein schon deshcdb unmöglich, weil Wettstein durchaus nicht im eigentlichen Sinne als Heilsuniversalist angesehen werden darf^, ganz abgesehen davon, daß auch bei den Salió E b d . Ч Wieser, Peter Poiret, S. 4 5 . 12 E b d . 13 E b d . 1" Posthuma, S. 3). 15 Vindiciae Veritatis et Innocentiae (in: Posthuma), S. 3 0 2 (zit.: Vindiciae). 16 Glaube und Geschichte, S. 24. " Vgl. M. Geiger, Die Basler Kirche und Theologie im Zeitalter der Hochorthodoxie, Zollikon-Zürich 1 9 5 2 , S. 3 4 0 f f (zit.: Geiger). 2 Krieg, Kreis
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murensem nur von einem „hypothetischen" Universalismus die Rede sein kann'®, während andererseits Poiret die Prädestinationslehre ganz und gar ablehnt. Vollzogen ist der Durchbruch durch die cartesianische Sprache hin zu einer endgültig als mystisch zu bezeichnenden Position dann, als Poiret sich aufmacht, A. Bourignon zu begegnen, jener Schwärmerin also, die, von kirchUchen wie von weltlichen Behörden verfolgt, eine kleine Schar von Anhängern um sich gesammelt hat, die ihr treu ergeben sind, ihre Befehle ausführen und sich ihrer „Lehre" (einem Gemisch aus Hochmystik, böhmianischen Elementen und der Gedankenwelt der verschiedensten anderen mystischen und mystisch-separatistischen Richtungen der Zeit) bedingungslos untergeordnet haben und sie literarisch verteidigen. Man denke nur an de Cordt und seine Apologie der „Sechsundsiebzig Punkte", die der Schleswiger Domprediger Burchard aus den Schriften der A. Bourignon zusammengezogen und auf das heftigste attackiert hatte Die Bücher der Schwärmerin waren Poiret teilweise schon längere Zeit bekannt (ebenfalls von seinem Frankfurter Aufenthalt her^") — so „Das Licht in der Finsternis", ebenfalls „Das Grab der falschen Theologie". Der uns bereits begegnete Verfasser der Poiret-Vita in den Posthuma fährt fort: „Quibus scriptis Poiretus ad vivum in intimis Deo operante tactus, Virginem ipsam alloquendi, nescius tarnen utrum adhuc viveret aut ubinam esset, desiderio summo tacitus teneri coepit, ardentissimo inprimis sibimet ipsi ac mundo renunciandi solique Deo vacandi studio flagrans"^'. Eine solche Feststellung mutet hypertroph an. Sie ist jedoch nichts weniger als dies, denn nunmehr beginnt für Poiret eine Zeit, welche ihn auf gänzlich neue Bahnen führt — und zwar vorläufig völlig im Dienste dieser Schwärmerin. Er gibt zunächst seine Pfarrstelle in Annweiler auf: Zu fremd war ihm bereits die offizielle Kirche geworden angesichts seiner bereits ganz auf das „innere Leben" ausgerichteten praxis pietatis. Und dieser Schritt ist für ihn — anders als für Arnold — endgültig: Von nun an hören wir ihn über die Kirche kaum anders als mit Verachtung sprechen. Der Weg fiihrt ihn ganz in die Separation und Zurückgezogenheit aus der „Welt". »8 Vgl. A. Schweizer, Art. .Amyraut" in RE3, Bd. 1, S. 476ff, bes. S. 478. " Abgedruckt in der „Wiederlegung derer Sechs und Siebentzig Puncten" (angehängt an: Probier-Stein, umb das Gold der wahren Liebe auß dem vergüldeten Kupffer der Schein-Liebe zu erkennen, Amsterdam 1676). 20 Posthuma, S. 11); Wieser, Peter Poiret, S. 47. 21 Posthuma, S. (12.
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Wie verbringt er die nächsten Jahre? Eben um das auszuführen, was der Rijnsburger Biograph beschrieben hat: Sein ganzes Leben, wie es sich uns in den nächsten J ^ r e n darstellt, ist ein Versuch, mit der A. Bourignon in möglichst engem Kontakt zu bleiben. Es beginnt die Zeit der Reisen Poirets. Unser Theologe fährt zunächst nach Amsterdam, um die Schwärmerin dort zu finden, trifft sie jedoch nicht an. Zwar verwendet er diesen seinen Amsterdamer Aufenthalt dazu, die Cogitationes Rationales drucken zu lassen (und in der Tat erscheint die Schrift 1677 auf dem Büchermarkt), das Ziel seiner Reise hat Poiret jedoch nicht erreicht: A. Bourignon ist inzwischen in Hamburg eingetroffen. Poiret folgt ihr. Er trifft die Schwärmerin auch in Hamburg an und wird sofort von ihr in Dienst genommen: Er erhält den Auftrag, ihre Schriften herauszugeben. Ihres Bleibens war freilich auch in Hamburg nicht lange. Hamburg ist nicht Amsterdam; dort herrscht die lutherische Orthodoxie, wie später auch Poirets Freund Horb erfahren sollte; für Separatisten und Schwärmer ist dort kein Platz. Um nicht in die Hände ihrer Gegner zu fallen, entschließt sich A. Bourignon zur Flucht. „Und also nahm sie den Vorsatz sich in Frießland zu begeben / und zu dem Ende zog sie / am 26sten Tage des Junii im 1677. Jahre / aus Hamburg"^^. So begibt sie sich dorthin, erneut von Poiret begleitet, obgleich dieser unmittelbar danach wieder nach Hamburg zurückkehrt, ,zwecks Erledigung einiger Geschäfte', wie sein Biograph vermeldet'®. Aber selbst damit sind seine Reisen im Dienst der A. Bourignon noch nicht zu Ende: Sogleich nach seiner Rückkehr begibt er sich nach Amsterdam, um endlich den Druck ihrer Werke voranzutreiben. Indes war A. Bourignon bereits vom Tode gezeichnet. Noch einmal muß sie sich vor Verfolgungen in Sicherheit bringen; dem aus Amsterdam zurückgekehrten Poiret gelingt es noch, sie in Franeker zu verbergen — dort aber stirbt sie, während er sich nach Amsterdam zurückbegeben hat, „ut ibi loci refugium quaereret innocentissimae Antoniae"^''. Nicht ohne Absicht haben wir diese auf den ersten Blick so verwirrende Reiseperiode im Leben Poirets so ausführiich beschrieben, denn sie zeigt recht nachdrücklich, vde intensiv Poirets Interesse an A. Bourignon in der Tat war. Die Gründe für dieses Interesse sind vielgestal-
^^ Das Leben der Jungfrau Antoinette Bourignon, Amsterdam 1684, S. 584. « Posthuma, S. (16. Ebd.
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tig. Unzweifelhaft von Belang ist das geistige Klima, in welchem sich diese Beziehung herausgebildet hat — eben das Vorhandensein eines elementaren mystischen Elementes auf beiden Seiten. In diesem Klima aber — und das lehrt die Geschichte der Mystik — ist die „Führerrolle von Frauen", wie Wieser darlegt^', bereits angelegt. Vor allem aber hatte Poiret in dieser Schwärmerin ein lebendiges Zeugnis dafür, daß sein eigenes mystisches Interesse, welches bis zu seiner Begegnung mit ihr noch wenig über das Stadium der literarischen Reflexion hinausgegangen sein dürfte, sich auch im Lebensvollzug verifizieren Heß.
III. Die Jahre in Amsterdam Biographisch stehen wir damit freilich schon vor einem neuen Abschnitt in Poirets Leben, vor seinen Jahren in Amsterdam. Hierher ist er ja 1680 umgesiedelt, man muß sagen, zunächst immer noch im Dienst der A. Bourignon, d.h. als Verbreiter ihrer Lehren. Zu übermächtig war der Einfluß ihrer Person und ihres Denkens auf ihn, als daß ihr Tod hier einen wesentlichen Einschnitt bedeutet hätte. Im Gegenteil — wir werden sehen, daß letztlich die Mystik der A. Bourignon Poiret bis zu seinem Ende auf weite Strecken mitprägen wird. Literarisch faßbar wird dieser Sachverhalt gerade auch in Poirets Amsterdamer Zeit mancherorts. So finden wir etwa in der Nouvelle République des Lettres einen aus seiner Feder stammenden kurzen Abriß der bourignonschen Mystik (Memoire touchant la Vie et les Sentimens de Mlle Α. Bourignon) Wichtiger allerdings ist noch, daß Poiret auch jene bereits in seiner Reiseperiode begonnene Gesamtausgabe der Werke der A. Bourignon fortsetzt und — nachdem er sie mit einer ausführlichen Lebensbeschreibung und Vorrede versehen hat — 1686 abschließt. Über mangelndes Interesse brauchte er sich bei diesem Unternehmen nicht zu beklagen. Zugleich mit ihm waren die Übersetzer am Werk. Ist zwar auch schon — und man wird sagen dürfen, noch ohne Poirets Zutun — 1676 A. Bourignons „La Pierre de Touche" in einer deutschen Version erschienen, so folgen seit 1679 (also noch ¡yor jener endgültigen Übersiedlung Poirets nach Amsterdam) die deutschen Übersetzungen der Werke A. Bourignons Schlag auf Schlag: So erscheint in jenem genannten J a h r 25 Peter Poiret, S. 46. ^ Abgedruckt bei G. Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie III, Frankfurt 1 7 0 0 , Kap. XVI, S. 1 5 4 f f (zit.: Arnold).
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bereits ihr Traktat über die wahre Tugend, 1680 ihr Traktat über den Neuen Himmel und die Neue Erde, 1681 Das Licht der Welt, 1682 Das Grab der falschen Theologie und Die hohe Schule der Gottesgelehrten, 1684 bereits Poirets Vorrede zur Gesamtausgabe und seine BourignonVita. Daß Poiret mit seiner Gesamtausgabe in gewisser Hinsicht ein Wagnis auf sich genommen hat — darüber war er sich von Anfang an klar; denn die Gegner der A. Bourignon sind j a bekanntlich zahlreich. Burchard haben wir schon erwähnt; genannt sei aber auch der Prediger Berkendall, von dem uns Arnold berichtet Insofern ist verständlich, daß Poirets Bourignon-Edition das Denken der Schwärmerin nicht nur verbreiten, sondern auch verteidigen vwll. Von hier aus ist auch die bereits erwähnte Vorrede der Ausgabe zu verstehen. Sie läßt an Vehemenz nichts zu vwnschen übrig. Haben die Gegner der Schwärmerin Arroganz vorgeworfen (und man muß sagen, mit Recht: So bezog sie etwa die Verheißung von Gen 3 auf sich^®!), so hält ihnen Poiret ihre Demut entgegen: Gewiß rede sie zuweilen auch „vortheilhafftig" von sich selbst, aber nur mit „einem Geiste der grossen Töhtung ihrer selbst / wie auch aus rechter Liebe / aus einem inbrünstigen Hertzen Gott zu dancken / und ihn zu preisen / j a aus einem Gehorsam gegen Gott / und mit grosser Einfalt und Wahrheit" In der Tat hat A. Bourignon hier einen energischen Verteidiger gefunden. Da behaupten ihre Gegner etwa, sie vertrete Irrlehren: So „verwerffe und verachte" sie die heilige Schrift^®. Nein, sie schätzt sie im Gegenteil sehr hoch ein — das beweist Poiret weitläufig aus ihren Briefen. Gelesen freilich hat sie die Bibel nie. Aber brauchte sie es denn? Durchaus nicht, „weil sie eben dieselbe Wahrheit / welche die H. Schrift begreif fet / aus dem Munde Gottes selbst inwendig in ihrer Seele vernahm / ja zuweilen noch viel klährer"^'. Und in ganz ähnlicher Weise „widerlegt" Poiret andere Vorwürfe: daß die Schwärmerin die Kirche ablehne, die Trinität und das Verdienst Christi leugne usw. Wir werden auf viele der von A. Bourignon vertretenen Sondermeinungen noch andernorts zurückkommen. Für diesen Zusammenhang mag das Gesagte genügen. Immerhin dürfte bereits deutlich geworden sein, auf welî·? Arnold, aaO S. 161. A. von der Linde, Antoinette Bourignon. Das Licht der Welt, Leiden 1895, S. 120. Vor- und Schutz-Rede von der Persohn und Lehre der Jungfrau Antoinette Bourignon (in: Das Leben der Jungfrau Antoinette Bourignon), S. 54. AaO S. 70. 31 AaO S. 72.
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che Bahnen sich Poiret nach der Abfassung der Cogitationes Rationales begeben hat. Freilich geht Poirets Вourignon-Apologetik der Amsterdamer Jahre noch über das in seiner Edition der Werke der Schwärmerin Vorhandene hinaus. Noch ein dritter Gegner der Schwärmerin sei in diesem Zusammenhang genannt: Seckendorf; von hier aus ist Poirets Monitum Necessarium ad Acta Eruditorum von 1686 zu verstehen^^. Fragen wir nach den Angriffen, die Seckendorf gegen die Schwärmerin gerichtet hat, so haben sich diese nicht von denjenigen ihrer anderen Gegner unterschieden. Zum einen tadelt er ihren Hochmut, zum anderen ihre Mißachtung der Kirche. Im übrigen scheint er nicht ganz unglücklich darüber gewesen zu sein, daß sie aus Hamburg aufgrund des Widerstandes der dortigen Geistlichkeit fliehen mußte; schließlich drückt er die Hoffnung aus, daß ihre Lehre bald der Vergessenheit anheimfallen werde Auch hier ist Poirets Verteidigung lebhaft. So wirft er dem Gegner einerseits Parteilichkeit vor (er mache die Animosität der Hamburger ungeprüft auch zu seiner eigenen), andererseits eine unziemliche Verachtung der Schwärmerin. Und der von Seckendorf gegen die vorgebrachten Anschuldigung, sie verbreite Irrlehren, hält er entgegen, daß sie sich ganz ausdrücklich zum christlichen Glauben, zur Trinitätslehre, zur Zweinaturenlehre, zur Bedeutung der Schrift, endlich auch zum Apostolicum bekenne. Darüberhinaus enthält Poirets Verteidigung seiner Lehrerin auch immer wieder die Züge der Eloge: Der Verachtung durch die Welt, welche die Schwärmerin zu erleiden hat, hält er ihre christliche Liebe entgegen, ihre Geduld gegenüber den Fehlem anderer, ihre Ablehnung allen Parteienwesens, vor allem auch ihre gänzliche Zurückgezogenheit von den Gütern des Lebens^. Daß Lobeserhebungen wie diese nicht unmittelbar die Wahrheit auf ihrer Seite haben, ist seit der ausführlichen Biographie von der Lindes über die Schwärmerin evident^'. Poiret freilich war zu sehr von ihr fasziniert, als daß er ihre Fehler erkannt hätte. Erst später — etwa nach Abschluß der Oeconomie Divine — ist er in seinen Anschauungen über seine Lehrerin hinausgewachsen, ohne sich jedoch irgendwann völlig von ihr zu distanzieren.
Erscheinungsort ist wieder Amsterdam. 33 Die Angriffe werden von Poiret ausführlich zitiert (Monitum Necessarium passim). 34 AaO, bes. S. 5. 35 S. Anm. 28.
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Indes hat sich Poiret auch zu der Zeit seiner Beschäftigung mit Leben und Werk der A. Bourignon nicht gänzlich von Apologie; und Polemik hinsichtlich ihrer Person gefangennehmen lassen. Vielmehr fällt in jene Amsterdamer Jahre auch verschiedenes andere. So zunächst die Ausgabe der Imitatio Christi (Kempis Commun) von 1683. Sie ist nicht unbezeichnend für vieles, was sich Poiret in diesen Jahren an mystischem Gedankengut erworben hat. Das Vorwort, mit welchem er die Ausgabe versehen hat, offenbart etwa schon seine Distanz zur organisierten Kirche oder auch Keime seiner späteren Christologie. Wichtiger noch ist jedoch die Zweitauflage seiner Cogitationes les, welche er 1685 erscheinen läßt. Und gerade die Tatsache, Poiret sich nicht scheut, dieses vermeintlich so rationalistische werk noch einmal aufzulegen, zeigt, wie sehr er sich noch mit tifizieren kann.
Rationadaß Frühihm iden-
Allerdings ist diese Identifikation für Poiret nur unter bestimmten Bedingungen möglich geworden. Er hat der Schrift einen Discursus Praeliminaris vorausgeschickt. Er hat sie darüberhinaus mit mannigfachen Anmerkungen versehen, vor allem gegen Spinoza, der nunmehr, anders als noch in der Erstauflage, explizit ins Blickfeld gerückt ist (ihm hat er auch noch einen besonderen Anhang gewidmet). Dennoch ist dieses Werk damit keine retractatio der Erstauflage geworden. Im Gegenteil werden wir sehen, daß gerade auch der Discursus Praeliminaris nichts anderes ist als eine konsequente Fortsetzung der Gedankengänge, welche bereits in den Cogitationes Rationales von 1677 Poirets mystische Haltung indizieren. Daß Poiret in dieser Zeit nicht ganz im Dienst am Werk der A. Bourignon aufgegangen ist, wird aber noch an einer anderen Stelle deutlich: In jenen Jahren wird auch sein Interesse an J. Böhme zunehmend stärker. Wann ist es erwacht? Man wird sicher nicht fehlgehen, Poirets Aufgeschlossenheit gegenüber Böhmes Gedankenwelt schon sehr früh anzusetzen. Wir wissen, daß sich unter den frühesten mystischen Schriften, die Poiret in die Hände kamen, auch der „Ackerschatz" Hiels befand'^. Immerhin fühlt sich Poiret nachträglich, in der Bibliotheca Mysticorum Selecta von 1708, bei diesem Autor an Böhme erinnert. Die Kontinuität ist zwar schwach, aber nicht gänzlich bedeutungslos. Hinzu kommt, daß auch A. Bourignons Denken durch und durch mit böhmianischen Elementen durch36 Posthuma, S. 5).
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setzt ist. Mithin wird Poiret auch durch die Beschäftigung mit ihr Antriebe empfangen haben, sich eingehender mit Böhme auseinanderzusetzen. Manifest wird Poirets Interesse an Böhme jedenfalls 1687, in seiner Veröffentlichung der Theologiae Christianae juxta Principia Jacobi Bohemii Teutonici Idea brevis et methodica, eines Abrisses böhmianischer Theologie. Die Schrift — anonym erschienen wie so viele Editionen Poirets — ist nach außen hin nicht sehr gewichtig; sie ist eher ein Kompendium; aber was Poiret in ihr an Material zusammengestellt hat, zeugt doch von gründlicher Böhme-Kenntnis. So hat er etwa Böhmes Gotteslehre — einschließlich der Prinzipienlehre — dargestellt, desgleichen seine Angelologie, seine Schöpfungslehre, seine Christologie, aber auch manches andere. Erinnern wir uns an das geistige Niveau Poirets, bringen wir weiterhin seine Gabe in Anschlag, die Anschauungen anderer, mögen sie auch der inneren Ordnung noch weitgehend entbehren, dennoch positiv aufzugreifen (seine Beschäftigung mit dem Denken der A. Bourignon zeugt davon), dann wird man sich von vornherein nicht wundem, daß von den erratischen Blöcken böhmianischer Sprache und Denkweise, von Böhmes Ringen um Gestalt und Ausdruck in Poirets Darstellung nicht viel Übriggeblieben ist. Böhme wird mit den Augen des Gelehrten gesehen; er wird zu einem Denker umgeschaffen, der zu seinen spekulativen Höhenflügen mit der Gelassenheit des routinierten Systematikers ansetzt — ein Böhme für den akademisch gebildeten Leser. Gewiß, das Anstößige in Böhmes Denken hat Poiret nicht beseitigen können, aber er verteidigt es gegen alle übelwollende Kritik: Anstößig, so schreibt er im Vorwort, ist dieses Denken nur dann, wenn man nicht gewillt ist, " sich durch die bisweilen änigmatische Begrifflichkeit hindurchzuarbeiten, um die von ihr umschlossene abstrakte Aussage zu entbergen^®. Es gehört jedoch noch eine entscheidendere Schrift als das Böhme-Kompendium in die Zeit von Poirets Amsterdamer Aufenthalt: sein systematisch-theologisches Hauptwerk, die Oeconomie Divine. Ja, wir können vielleicht sagen, daß diese Schrift unseren Theologen während all dieser Jahre begleitet hat. Denn wenn auch der Poiret-Biograph der Posthuma das Jahr 1687 als das Entstehungsjahr dieser Schrift anzunehmen scheint^®, so ist doch gelegentlich aus Poirets Schrifttum selbst zu entnehmen, daß з·' s . die Vorbemerkungen. Vgl. S. 2 des Vorwortes der Ausgabe Amsterdam 1693 (?). 39 Posthuma, S. (24. Wieser (Peter Poiret, S. 333) schließt sich dem Urteil an.
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zumindest gewisse Abschnitte schon 1683 fixiert waren: Der Autor selbst verweist auf seine Ausführungen über die Christologie"*". Abgeschlossen und veröffentlicht worden ist diese Schrift allerdings — und darin hat der Verfasser der Poiret-Vita recht — erst 1687. Die Arbeit hat schnell große Verbreitung gefunden. Schon im Jahre 1705 erscheint sie unter Poirets eigener Aufsicht in Frankfurt in einer lateinischen Übersetzung; 1711 liegt erstmals eine — wenn auch noch unvollständige — deutsche Fassung vor^'. Vollständig ins Deutsche übersetzt erscheint sie 1737 zu Berleburg. Diese gewichtigste und ausfiihrlichste Schrift Poirets ist forschungsgeschichtlich betrachtet zugleich auch eines der am wenigsten bekannten Werke unseres Theologen Aufgrund ihrer Unbekanntheit in der Kirchengeschichtsschreibung ist sie auch den widersprüchlichsten Beurteilungen ausgesetzt gewesen. Tschakkert vermerkt über sie: „(Die Oeconomia Divina) zeigt P(oiret) als einen hochbedeutenden Denker, der vor keiner Folgerung zurückschreckt. Stelle man sich Schleiermacher's Glaubenslehre in lateinischer Übersetzung vor, dann hat man etwa einen Maßstab, um zu beurtheilen, wie schwierig (sie) . . . zu verstehen ist'"*^. Wieser dagegen schreibt: „Man wird in der gesamten mystischen und pseudomystischen Literatur kaum ein derartig weitschweifiges Werk finden, das so viele Arten der Mystik unter dem Scheine (sie!) einer großen Systematik des Weltgeschehens und Menschheitswerdens zusammenfaßt". Und im folgenden beschreibt er diese Schrift als ein „ungeheuerliche(s) Tohuwabohu von Mystikasterei, Theologie, Naturphilosophie, Psychologie, Bibelkunde u. dgl.'"*^. Fragen wir, welche der beiden Seiten das größere Recht hat, so müssen wir uns für die Beurteilung Wiesers entscheiden (so schmeichelhaft Tschackerts Urteil auch für denjenigen werden kann, der den Anspruch erhebt, eine Analyse der Oeconomie Divine gegeben zu haben): In der Tat ist Poirets systematisches Hauptwerk in mancher Hinsicht weitschweifig zu nennen. Vieles wird in geradezu ermüdender Breite dargestellt, wiederholt sich, wird paraphrasiert, ausführlich neu begründet. Desgleichen ist nicht alles durchsichtig: Die Terminologie wechselt rasch, selbst an entscheidenden Stellen; darüberhinaus kommt auch «
Vindiciae, S. 3 7 9 . Wieser, Peter Poiret, S. 3 3 3 . Zum Verbreitungsgrad der O e c o n o m i e Divine vgl. neuerdings auch M. Schmidt, Pietismus, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1972, S. 129f. Vgl. die Vorbemerkungen. « ADB, Bd. 26, S. 3 7 5 . Peter Poiret, S. 90.
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die Konzeption des Verfassers nicht an allen Stellen deutlich zum Vorschein. Dennoch, wir haben es bei alledem nicht allein mit dem „Schein" eines Systems zu tun, wie Wieser annimmt. Die Gedankengänge, welche Poiret seinen Lesern vor Augen führt, sind vielmehr auch sachlich durchaus zusammenhängend: Unser Theologe hebt an mit einer Entfaltung seiner Gottes- und Seelenlehre, verflochten mit Aussagen über die Schöpfung bzw. den Urständ des Menschen, er fährt fort mit einer Beschreibung des Sündenfalles, schließlich der Erlangung des Heiles, wie sie einerseits durch das göttliche Handeln in der Geschichte möglich wird, wie sie sich andererseits aber auch im Einzelnen und seinem inneren Leben vollzieht. Dem schließt sich als letzter Abschnitt eine Abhandlung über die göttliche Vorsehung an. Diese Teile sind durchaus klar und kohärent durchgeführt (sehen wir von dem letztgenannten Abschnitt ab, welchen Poiret selbst als Anhang zu seinem Werk verstanden wissen will), mag auch im Detail manches verschlungen und unübersichtlich erscheinen. Von hierher aber kann man Tschackert durchaus darin zustimmen, daß der poiretianischen Schrift Konsequenz in der Gedankenführung eignet. Nicht weniger interessant als die Fragen, welche die Gesamtbeurteilung der Oeconomie Divine betreffen, sind indes diejenigen, welche die Schrift unter spezielleren Gesichtspunkten anvisieren. Auffällig ist zunächst die Art und Weise, wie Poiret die verschiedenen Abschnitte seines Werkes verstanden wissen will: Er nennt sie „Ökonomien". In diesem Sinne spricht er von einer Ökonomie der Schöpfung, der Sünde, der „Wiederherstellung" (reparatio) vor der Erscheinung Christi, der „Wiederherstellung" nach der Erscheinung Christi, der Zusammenwirkung von Gott und Mensch, schließlich auch der göttlichen Vorsehung. Wie ist diese Gliederung zu erklären? Im Hintergrund steht natürlich das föderaltheologische Schema eines Coccejus, wie schon Heppe aufgefallen ist'*'. Von Coccejus her stammt vor allem die geschichtliche Bewegtheit, welche die Oeconomie Divine charakterisiert. Wie weit geht diese Übereinstimmung freilich? Coccejus hat bekanntlich die Beziehung zwischen Gott und Mensch unter dem Doppelaspekt von Werk- und Gnadenbund zu erfassen gesucht: Ersterer wird durch letzteren abrogiert. Dabei vollzieht sich diese Abrogation in „Ökonomien", nämlich der Ökonomie des Alten und der öko-
45 Geschichte des Pietismus und der Mystik in der reformirten Kirche, namentlich der Niederlande, Leiden 1879, S. 389.
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nomie des Neuen T e s t a m e n t e s M i t der Beschreibung dieser Grundstruktur der coccejanischen Position sind nun zugleich die Übereinstimmungen wie die Unterschiede zwischen dem Leidener Theologen und Poiret fixiert: Was beide verbindet, ist zunächst der Begriff der „Ökonomie" als eines Terminus für die Beschreibung jener Stadien, in welchen sich das Handeln Gottes mit dem Menschen vollzieht. Und beide kennen auch eine Ökonomie vor wie nach dem Erscheinen Jesu Christi. Poiret geht indes — und damit deutet sich ein erster, erheblicher Unterschied zwischen ihm und Coccejus an — weit über diese Zweizahl hinaus. Wichtiger ist aber noch, daß er auch die fundamentale coccejanische Differenzierung zwischen Werk- und Gnadenbund nicht übernommen hat. Wie sind diese Abweichungen in der poiretianischen Konzeption von derjenigen des Coccejus begründet? Mit einigem Recht kann man folgendes sagen; zum einen: Poiret versteht, wie wir noch deutlicher sehen werden, alles menschliche Heil als das Ergebnis eines Zusammenwirkens von Gott und Mensch: Gott bietet dem Menschen seine Gnade kontinuierlich durch die Geschichte hindurch an, und der Mensch kann sie annehmen oder nicht, denn er hat die Freiheit zum Guten wie zum Bösen. Damit aber ist die Heilsgeschichte von Anfang an der Dialektik von Werk und Gnade entnommen und hat sich in ein Nacheinander ontologisch nicht mehr voneinander geschiedener Stadien verwandelt. Das aber bedeutet, daß die Begriffe Werk- und Gnadenbund von Anfang an ihren Sinn verloren haben. Mehr noch, an manchen Stellen der Oeconomie Divine finden wir sogar ausdrückliche Polemik Poirets gegen die Föderaltheologie Daß andererseits aber nun der Begriff der Ökonomie in den Vordergrund treten konnte, nimmt deshalb nicht wunder, weil gerade in ihm die Möglichkeit beschlossen liegt, das Handeln Gottes in diesem Wechselspiel von göttlichem Gnadenwirken und menschlicher Antwort auf dieses Wirken besonders deutlich werden zu lassen, sind es doch gerade die Ökonomien, vermittels derer nach coccejanischer Theologie die göttliche Gnade Gestalt gewinnt. Daß Poiret im übrigen keine Bedenken zu tragen brauchte, die bei Coccejus bestehende enge Beziehung zwischen Ökonomie und Testament aufzuheben, ergibt sich daraus, daß zwar auch für ihn das Wesen der göttlichen Gnade in der Schrift manifest wird. Vgl. G. Schrenk, Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus, vornehmlich bei Johannes Coccejus, Gütersloh 1923, S. 96ff (zit.: Schrenk). Vgl. § 3 des Vorwortes der lat. Ausgabe Frankfurt 1705; vgl. auch W. Nordmann, Im Widerstreit von Mystik und Föderalismus (in: ZKG 1931, S. 146ff), S. 166 (zit.: Nordmann). 27
diese Gnade dem Menschen aber auch auf andere Weise zukommen kann, mithin nicht an das „ A l t e " und „Neue Testament" schlechthin gebunden ist. Aber nicht nur die Weise, wie Poiret sein systematisch-theologisches Hauptwerk konzipiert hat, verdient Beachtung. Ebenso wichtig ist, daß diese Schrift zugleich ein getreues Spiegelbild seiner bisherigen Entwicklung ist. Das betrifft zunächst seine Beschäftigung mit den Lehren A. Bourignons. Sie haben allerorts ihren Niederschlag gefunden, vor allem in der dritten und vierten Ökonomie, d.h. in Poirets Abriß der Heilsgeschichte. Hier lehnt sich unser Theologie bis ins Detail an die Ansichten der Schwärmerin an. Aber nicht nur übernimmt Poiret die Gedanken der A. Bourignon, sondern er systematisiert sie auch, wie schon gelegentlich aufgefallen ist''®. Denn lesen wir die Schriften der Schwärmerin selbst, dann können wir sehr bald ihr Desinteresse, ja ihre Unfähigkeit zu jeglichem systematischen Aufbau erkennen: Vision, Reflexion, Apologetik und Polemik, Meditation und Konfession vermischen sich zu einem fast unentwirrbaren Ganzen. Bei Poiret dagegen haben alle die von ihr geäußerten Gedanken ihren durchreflektierten, systematisch-theologisch zwingenden Ort. Dennoch wird man die Oeconomie Divine nicht einzig und allein als Systematisierung der Anschauungen A. Bourignons ansehen dürfen. So ist z.B. nicht zu verkennen, daß dort, wo es Poiret um die Grundlegung seines Systems geht, von dem Einfluß der Schwärmerin äußerst wenig zu bemerken ist. Desgleichen tritt ihr Denken auch in Poirets Darstellung des inneren Weges, d.h. der Erlangung des Heiles durch den Einzelnen, gänzlich zurück. Wirksam sind ihre Anschauungen letztlich nur — wenngleich dort allerorts und in hohem Maße — in Poirets Entfaltung der Heilsgeschichte. J a , selbst hier bilden sie bisweilen eher das Kolorit, als daß Poirets System in seinen Grundlagen berührt würde. Allerdings können wir, wenn wir von den Einflüssen anderer reden, die sich in der Oeconomie Divine geltend machen, nicht bei A. Bourignon stehenbleiben. Der Abfassung dieses Werkes parallel läuft ja Poirets umfassende Beschäftigung mit Böhme, wie sie ihren Niederschlag in jenem bereits genannten Kompendium der böhmianischen Grundideen gefunden hat. So ist es verständlich, daß auch das Werk dieses Theosophen mancherorts hindurchschimmert, besonders im Detail der Gottes- und Seelenlehre. Von ganz erheblichem Einfluß ist schließlich auch der Quietismus in diesem Werk: die Lehre Bernières-Louvignys, Malavals, 48 Vgl. S. Cramer, Art. „Poiret" in RE^, Bd. 15, S. 494.
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besonders auch diejenige der Mme. de Guyon. All diese Mystiker sind bereits in Poirets Gesichtskreis getreten und haben (wie auch Böhme) vor allem in der Gottes- und Seelenlehre ihre Spuren hinterlassen: In den böhmianischen Voluntarismus mischt sich der am Gedanken der göttlichen Personhaftigkeit recht desinteressierte essentialistisch-ontologische Gottesbegriff der antiken Philosophie. Vor allem auch Poirets Beschreibung des inneren Weges ist ohne seine profunde Kenntnis der quietistischen Mystik gänzlich undenkbar. Von einem Tohuwabohu der einzelnen Elemente zu reden, wie Wieser es tut, ist hier jedoch verfehlt. Gewiß ergeben sich gelegentlich Inkongruenzen, ja Widersprüche — aber nicht nur nimmt Poiret solche Fehler gelassen auf sich, sie sind auch relativ unerheblich gegenüber der Tatsache, daß, vom Ganzen der Konzeption her gesehen, die Einzelelemente doch in Poirets Denken integriert erscheinen. Nur ein Bruch in der geistigen Höhenlage ereignet sich (und dieser ist schon Wieser nicht e n t g a n g e n D i e Teile I und II des Werkes (d.h. die erste Ökonomie) sind ungleich niveauvoller als diejenigen, in welchen das Denken der A. Bourignon voll zum Durchbruch kommt. Hier wird in der Tat die von Mosheim konstatierte Diskrepanz zwischen wissenschaftlich-theologischer Reflexion und schwärmerischer, in jeder Weise unkritischer Spekulation sichtbar'®. Indes ist die Oeconomie Divine mehr als lediglich das Spiegelbild der bisherigen Entwicklung Poirets. Letztlich ist darüberhinaus mit der Abfassung dieser Schrift zugleich auch sein Weg als der eines eigenständigen Denkers abgeschlossen, stehen wir auch in den wenigen von Poiret selbst verfaßten Werken, die noch folgen, hier und dort noch vor Verschiebungen im Detail. Denn wir können erkennen, wie energisch unser Theologe alle gegen diese Schrift erhobenen Angriffe noch kurz vor seinem Tode zurückgewiesen hat. Und diese Angriffe waren in der Tat heftig, so gewiß auch Leipziger Lutheraner, wie Arnold nicht ohne apologetisches Interesse zu berichten weiß, die Schrift ob ihrer antiprädestinatianischen Einstellung gelobt h a b e n N i m m t eine solche Gegnerschaft wunder — schon angesichts des von Poiret verwendeten Materials, der Spekulationen der A. Bourignon, Böhmes? An erster Stelle der Gegner steht der Tübinger J. W. Jäger (1647 bis 1720). Er ist Kanzler der Universität, Kontroverstheologe und hat sich Peter Poiret, S. 90. so Institutionen! Historiae Ecclesiae Antiquae et Recentioris Libri Quatuor, Helmstedt 1755, S. 1019. 51 AaO S. 165.
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zeitlebens mit schwärmerischen und separatistischen Strömungen beschäftigt. So muß etwa seine Kenntnis Schwenckfeldts, Barclays und Weigels recht bedeutend gewesen sein. Vor allem aber auch Poirets Oeconomie Divine hat ihn lebhaft interessiert, obgleich er auch mit den anderen Werken unseres Theologen durchaus vertraut war. Ob er sich allerdings schon 1687, d.h. sogleich nach ihrem Erscheinen auf dem Buchmarkt, mit ihr auseinandergesetzt hat, wissen wir nicht. Fest steht jedenfalls, daß er nach dem Erscheinen ihrer lateinischen Ausgabe von 1705 seine ganze Aufmerksamkeit auf sie gerichtet hat, wie die langen Disputationsreihen zeigen, welche seit 1706 diese Schrift zum Gegenstand haben wie aber vor allem auch sein Examen Theologiae Novae von 1709 — gleichsam die ,Frucht' all dieser Disputationen — zeigt, in welchem so gut wie alle wesentlichen Punkte des poiretianischen Systems einer ausführlichen Analyse unterzogen worden sind. Fragen wir nach der grundsätzlichen Position, von welcher aus Jäger sich dem Oeuvre Poirets zuwendet, so ist zunächst zu sagen, daß er Lutheraner ist und diese seine lutherische Grundüberzeugung mitunter auch zur Geltung bringt. Man denke nur an seine Polemik gegen die Transsubstantiationslehre selbst im Examen Theologiae N o v a e o d e r auch an sein völliges Desinteresse an Poirets Attacken gegen die Prädestinationslehre. Im formalistischen Sinne orthodox ist sein Denken jedoch in keiner Weise zu nennen. Schon 1698 hat er ein Jus Dei Foederale Delineatum verfaßt — eine Schrift, in welcher er sich durchaus die Gedanken der Föderaltheologie zueigen macht — mehr noch, in welcher er sie auf eine ähnlich freie Weise wie Poiret adaptiert: einerseits ebenfalls den ökonomiebegriff erweiternd, andererseits aber besonders auch in noch stärkerem Maße juristische Kategorien hinzuziehend, als sie bei Coccejus selbst zu finden sind. Und kündigt sich nicht, wenn man Stolzenburg folgt, in dieser verstärkten Übernahme solcher juristischen Denkstrukturen — die zwar nicht nach der Intention, so aber doch dem Begriff nach (eben aufgrund des „weltlichen" Charakters dieses Begriffes) auf einen Bund zwischen zwei gleichberechtigten Partnern zielen — ebenfalls so etwas wie der Gedanke einer Zusammenwirkung zwischen Gott und dem Menschen an, wie ihn Poiret (wenn auch von völlig anderen
Vgl. K. Hermann, Johann Albrecht Bengel. Der Klosterpräzeptor von Denkendorf, Stuttgart 1937, S. 466f (zit.: Hermann). 53 Examen Theologiae Novae . . . , Editio Secunda, Tübingen 1719, S. 499 (zit.: Examen).
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Voraussetzungen aus) vertritt (obgleich Jäger selbst gegen jede Art von cooperatio-Denken schärfstens protestiert hat)®"*? Und nicht allein der Föderaltheologie hat sich Jäger geöffnet. Mit v^achem Verstand hat er auch andere Strömungen außerhalb des Luthertums in sich aufgenommen: Hat er einerseits auch eine Vorlesung gegen den Pietismus gehalten^®, so ist er andererseits doch mit Spener befreundet Befreundet ist er aber auch mit dem Gießener Theologen Majus (er hat ihm sein J u s Foederale gewidmet) — und diese Freundschaft ist, so möchte man vom Standpunkt der lutherischen Orthodoxie aus sagen, noch „bedenklicher", denn letzterer steht auch Poiret durchaus nahe; hatte er es doch geduldet, daß dieser in einer Dissertation sogar als „clarissimus" bezeichnet wird J a , er steht sogar mit dem damals in Hamburg wirkenden Pfcirrer Horb in Verbindung, also jenem Geistlichen, welcher wegen seiner Hochschätzung von Poirets Büchlein über die christliche Erziehung der Kinder bei seinem Hamburger Konsistorium in Ungnade fiel®®. Und nicht nur zum Pietismus hat Jäger durchaus freundliche Beziehungen. Er hat sich auch mystische Strömungen in erstaunlichem Maße zueigen gemacht. Man beachte nur seine Dissertation De Orationibus seu Precibus; in ihr befürwortet er sogar die typisch mystische Distinktion zwischen oratio vocalis und oratio mentalis. Desgleichen zieht er in dieser Dissertation unbefangen Poirets Théologie du Cœur hinzu; und obschon er durchaus auch eine gewisse realistische Skepsis walten läßt, gibt er dennoch ohne weiteres zu, daß die Weisen des Gebetes, wie sie von den Mystikern praktiziert werden, durchaus gottgefällig sein können®'. Er hat darüberhinaus auch aufmerksam alle Bewegungen in jenem Streit registriert, welcher sich in Frankreich zwischen Mme. de Guyon und Fénelon auf der einen und Bossuet auf der anderen Seite abspielte; und in diesem Sinne hat er auch verschiedene Briefe der beiden Parteien an die akademische Öffentlichkeit gebracht®". All dies verrät einen irenischen Geist. Insofern wirkt Jäger auch durchaus glaubhaft, wenn er an einer Stelle schreibt: „Es ist das der Sinn A. F. Stolzenburg, Die Theologie des J o h . Franc. Buddeus und des Chr. Matth. P f a f f , Berlin 1926, S. 3 3 7 f f . SS Hermann, S. 124. Ebd. 57 Vgl. W. Köhler, Die Anfange des Pietismus in Gießen, 1689 bis 1 6 9 5 , Gießen 1907, S. 100 (zit.: Köhler). 58 Köhler, S. lOOf, A n m . 2 6 9 . 59 Dissertatio de Actibus Mysticis, et primo de Orationibus seu Precibus, Tübingen 1707. ^
Gallia Discors in Causa Pietistico-Mystica . . . , Tübingen 1715.
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und die Praxis der württembergischen Theologen und nicht bloß der meine, daß wir alle Streitigkeiten unter Brüdern hassen; Eintracht suchen wir von Herzen und die Liebe halten wir für das untrügliche Zeichen des wahren Glaubens"®'. Dennoch bleibt er, wo es um das kirchliche Dogma geht, unerbittlich. Das wird in seiner Beurteilung der Oeconomie Divine deutlich. Vor diesem Werk hat seine Irenik ihre Grenze, denn Jäger fühlt den Bestand der Kirche bedroht: Theologen wie Poiret stiften unter dem Vorschein von Frömmigkeit und Friedfertigkeit nur Verwirrung. Mehr noch, „non saltem nova dogmata fundamentum Fidei luxantia, imo evertentia, obtrudunt, sed etiam praxin omnem Ecclesiae, jam ab Apostolico tempore fundatam, evertere satagunt"®^. Vom Standpunkt traditioneller Kirchlichkeit ist dieses Urteil sicher berechtigt. Denn wir werden sehen, daß in der Tat so gut wie kein Topos innerhalb des poiretianischen Systems noch im Sinne kirchlicher Theologie bestimmt ist. In diesem Sinne ist es kein Wunder, wenn Jäger in seinem Gesamturteil nur beißende Kritik für seinen Gegner übrig hat: „si quis systema (sc. Poireti) . . . perlegat . . . is deprehendet, quod a multis retro seculis nullus liber lucem viderit, qui plura monstra dogmatum produxerit, plura tenebricosa, et absona, in religionem Christianam introduxerit, quam illud Systema"®^. Und diese Beurteilung sucht er allerorts zu verifizieren. Nach welchen Maßstäben er dabei vorgeht, liegt auf der Hand: In erster Linie orientiert er sich an der Bibel. An ihren Aussagen wird so gut wie jeder Topos der Oeconomie Divine gemessen (und in der Regel verurteilt). Darüberhinaus erinnert er naturgemäß auch an die Aussagen des kirchlichen Dogmas als der geschichtlich vermittelten Auslegung der Schrift. In diesem Sinne zitiert er auch des öfteren die Kirchenväter. Dabei wird auch hier gelegentlich die irenische Weite von Jägers Denken spürbar: Innerhalb solcher Zusammenhänge taucht in Jägers Erwiderung an Poiret auch einmal ein spezifisch katholischer Theologe zur Begründung kirchlicher Positionen auf — Petrucci. Man sieht, daß Jäger selbst in einer so harten Auseinandersetzung wie in deqenigen mit Poiret nicht an starren Fronten gelegen ist. Sachlich gegenüber Poiret ist er indes nicht immer. Oft genug verfällt er in kontroverstheologischen Grobianismus, bezeichnet die Argumente des Gegners als Hirngespinste, den Gegner selbst als verbrecherisch und " Zit. bei Hermann, S. 124. 62 Examen, S. 7. 63 AaO S. 21.
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wundert sich außerdem, daß ein so grundgelehrter Mann wie Poiret solche seltsamen Anschauungen vertreten kann. Poiret hat lange auf Jägers Angriffe geschwiegen, trotz der Permanenz der gegnerischen Attacken. Seine Antwort erhält der Tübinger erst kurz vor Poirets Tod, mit den in den Posthuma abgedruckten Vindiciae Veritatis et Innocentiae. Sie greifen auch weit über Poirets Amsterdamer Zeit hinaus, stehen freilich mit ihr in einem solch engen ursächlichen Zusammenhang, daß wir sie hier schon erwähnen müssen. Wie ist Poirets langes Schweigen zu deuten? Offensichtlich liegt ihm ein gewisses Selbstbewußtsein zugrunde. Poiret hat zwar die Bewegungen des Gegners verfolgt, aber nichts gefunden, was es zu widerlegen gegolten hä"*", denn er vertraut dem Scharfblick und dem richtigen Urteil des Lest/s seiner Schriften. Erst auf langes Drängen seiner Freunde hin, schreibt Poiret, und um sich nicht den Anschein zu geben, er wolle nichts unternehmen, wenn die Sache der Wahrheit Schaden erleide, habe er sich zu einer Antwort entschlossen^. Diese Begründung Poirets erscheint einleuchtend, wenn wir einen Blick auf die Verteidigungsschrift selbst werfen. Letztlich, so können wir bald feststellen, hat unser Theologe alle seine in der Oeconomie Divine vorgebrachten Thesen bis zum Ende seines Lebens vertreten, mag er auch bisweilen, vor allem was die Spekulationen Böhmes und der A. Bourignon angeht, in seiner Spätzeit vorsichtiger argumentieren als 1687. Dieser Sachverhalt aber setzt in der Tat Bewußtsein des Wahrheitsbesitzes voraus. Er setzt freilich noch mehr voraus: daß letztlich die Argumente der kirchlichen Gegner an unserem Theologen so gut wie spurlos vorübergegangen sind. Gewiß, Poiret versucht sehr eingehend, sie zu widerlegen (wobei man bisweilen deutlich bemerkt, wie sehr er sich auch persönlich getroffen fühlt) ; er bietet einen gewaltigen Verteidigungsapparat auf und verrät im Detail ein nachgerade stupendes patristisches, philosophisches, scholastisches, protestantisch-kirchliches und vor allem natürlich mystisch-theologisches Wissen. Gleichwohl hat man allzuoft den Eindruck, daß er seine Gegner nicht versteht (wie er auch umgekehrt behauptet, von seinen Gegnern nicht verstanden zu werden): Insistieren sie auf der Schrift, so insistiert er auf der Erleuchtung; insistieren sie auf den Kategorien von Sünde und Gnade, so bringt er ein substantialistisches Denken ins Spiel, welches jenen zutiefst fremd ist: Gnade, göttliche Gerechtigkeit, Heil — sofern der Mensch all dies zu erreichen vermag, dann allein in einem Akt der Infusio. Glaube ist Vindiciae, S. 180. 3 Krieg, Kreis
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nicht: seine Hoffnung setzen auf das Verdienst Christi, sondern illuminatio, erleuchtendes Wirken Gottes in der Seele. Insistieren seine Gegner auf dem Forensischen, so legt er alles Gewicht auf das Effektive und lehnt letztlich alles Forensische als etwas, das zu falscher Sicherheit verfiihre, ab. Mit alledem wird aber erneut deutlich, wie sehr sich Poiret in der Tat bereits von der kirchlichen Theologie entfernt hat: in einem solchen Maße, daß wir noch einmal die Frage stellen müssen, inwieweit er überhaupt jemals in der Theologie seiner reformierten Heimatkirche vervmrzelt gewesen ist. Bringen wir nun den ideengeschichtlichen Hintergrund, auf welchem sich Poirets Denken in der Oeconomie Divine und den Vindiciae Veritatis et Innocentiae entfaltet, ins Spiel, so verweist vieles auf das scotistisch-nominalistische Element in der spätmittelalterlichen Theologie — vermittelt zunächst durch Descartes, dann durch Böhme und vor allem die quietistische Mystik. Dennoch trägt auch manches aufklärerische Züge. Schon jenes Wahrheitsbewußtsein Poirets führt uns in diese Richtung; es verweist auf einen Optimismus des Denkens, welcher den Zeiten vor der Aufklärung — denken wir vor allem an das Welt- und Menschenbild der Reformatoren — gänzlich fremd gewesen ist. Dieser Optimismus zeigt sich aber auch andernorts: in Poirets Glauben an die menschliche Freiheit mit all seinen Implikaten, seinem Glauben an die perfectibilitas humana, schließlich auch in seinem Glauben an eine universale Wahrheit, an der alle — seien sie „Christen", seien sie „Heiden" — zu partizipieren vermögen. Ja, bisweilen sind Poiret von seinen kirchlichen Gegnern sogar expressis verbis „rationalistische" Tendenzen vorgeworfen worden. Bewußt hat sich Poiret freilich nie aufklärerischen Einflüssen ausgesetzt. Sein Optimismus in der Beurteilung des Menschen ist ihm anders als den Aufklärern seiner Zeit eher aus dem mittelalterlichen Semipelagianismus überkommen. Vor allem hat er deren Hochschätzung der Vernunft in keiner Weise geteilt. Die Vernunft ist für ihn ein Element der Peripherie des Seins, ja, im Blick auf das menschliche Heil eine Gefahr. Und Poiret hat ein Erhebliches an Denkarbeit aufgewandt, um diesen Charakter der Vernunft seinen Lesern eindringlich vor Augen zu stellen. Wir müssen in diesem Zusammenhang aber noch einen anderen Gegner Poirets nennen: den Hallenser Theologen J. Lange (1670 bis 1744). Bei Lange liegen die Dinge etwas anders als bei Jäger. Zwar ist auch er Lutheraner, nur ist das geistige Klima, in welchem er aufgewachsen ist und in welchem sich seine theologische Tätigkeit vollzieht, von demje34
nigen, in welches Jäger hineingehört, recht verschieden. Ist letzterer auch mit Theologen wie Spener befreundet, so ist er eben dennoch kein Pietist. Lange dagegen ist Pietist. Schon in seiner Frühzeif steht er mit Francke in Kontakt: Er begleitet ihn, als dieser als Diaconus nach Erfurt geht, dorthin; er folgt ihm auch nach Halle. Auch Theologen wie Breithaupt gehören unmittelbar in seinen geistigen Horizont. Bekannt ist schließlich auch sein Streit mit dem Führer der lutherischen Orthodoxie, V. E. Löscher®5. Daß Lange von hier aus Gedanken wie den von Poiret vertretenen von Anfang an aufgeschlossener gegenübersteht als sein Tübinger Kollege, ist verständlich. In der Tat berichtet uns auch Poiret selbst - und es liegt kein Grund vor, ihm nicht zu glauben —, daß Lange eine zeitlang sogar unmittelbar als Anhänger Poirets betrachtet werden muß®®. Solche Beziehungen kirchlicher Theologen zu Separatisten sind nicht allzu auffällig. Ähnliches wissen wir j a auch von J . Arndt Indes ist Lange bei dieser Beziehung zu Poiret nicht geblieben. Unser Theologe berichtet von Angriffen, welche die lutherische Geistlichkeit gegen ihren Kollegen gerichtet hat — diese aber hätten ihn bald veranlaßt, sich von Poiret zurückzuziehen^®. Und daß diese Distanzierung in der Tat erfolgt ist, das erkennen wir mit aller Deutlichkeit aus den vierundzwanzig gegen Poiret gerichteten Dissertationen, welche Lange nach der Herausgabe der lateinischen Version der Oeconomie Divine verfaßt hat« Dennoch ist auch diese Schrift noch weniger polemisch als Jägers Examen Theologiae Novae. Den Grobianismus dieses Theologen hat Lange Poiret gegenüber niemals nachvollzogen. Im Gegenteil, mitunter hören wir sogar ein Lob aus seinem Munde über bestimmte Abschnitte der Oeconomie Divine — vor allem über die christologischen Typologien, derer Poiret sich wie seine kirchlichen Gegner in so reichem Maße bedient hat. Seine kirchlich-dogmatische Position wird indes davon nicht berührt. In dieser denkt er nicht weniger streng als Jäger. J a , man muß sagen, daß er in noch höherem Maße als dieser die theologische Spekulation in die Diskussion einbringt. Hat auch Jäger nicht nur die Exegese zur 65 Zu Lange vgl. G. Müller, Art. „ L a n g e " in RE^, Bd. 11, S. 2 6 1 f f . « Vindiciae, S. 5 6 5 . Vgl. T h o l u c k t ' t (Hölscher), Art. „ A r n d t " in R E 3 , Bd. 2, S. 1 0 8 f f , bes. S. I I I . 68 Vindiciae, S. 5 6 5 . 69 Urim ac T h u m m i m (Licht und Recht) . . . , Halle 1 7 3 4 ; hier angehängt: Appendix Prior Elenctica Dissertationum X X I V O e c o n o m i a e Poiretianae O p p o s i t a (zit.: Lange).
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Widerlegung Poirets hinzugezogen, sondern die Auseinandersetzung auch auf der dogmatischen Ebene geführt, so hat er dennoch keine sozusagen schulmäßige Demonstration der verschiedenen Lehrinhalte seinem Gegner gegenüber beabsichtigt, sondern den betreffenden dogmatischen Topos allein aus dem jeweiligen kontroverstheologischen Zusammenhang entfaltet. Lange denkt hier anders: Sofern er aus dogmatischem Interesse gegen Poiret urteilt (er liefert natürlich auch exegetische Gründe gegen Poirets Lehren), so tritt bei ihm das lehrhafte, schulmäßige Element ganz ausdrücklich in den Vordergrund. Man kann deutlich erkennen, wie sehr Lange bemüht ist, die jeweilige von Poiret in Frage gestellte kirchliche Lehrmeinung in allen ihren Dimensionen darzulegen und zu entfalten. Aber dieser sachliche Unterschied in der Argumentation Langes und Jägers weist zugleich auf eine formale Differenz zwischen beiden hin: Dadurch, daß bei Lange das lehrhafte Element in den Vordergrund rückt, gewinnt seine Polemik auch einen ganz anderen Charakter: Sie besitzt nicht die Frische und Ursprünglichkeit derjenigen Jägers. Der sprachliche Schwung, welchen das Examen Theologiae Novae auszeichnet, fehlt völlig. Stattdessen finden wir eine Fülle von Thesen, Argumenten, Propositionen, Responsionen, logischen Deduktionen — kurzum, den gesamten gelehrten Wissenschaftsapparat der Zeit. Das macht die Lektüre der Dissertationen Langes oft ermüdend und erschwert zudem die Herausarbeitung dessen, was ihr Verfasser eigentlich gemeint hat. In ausführlicher Weise hat Poiret nie auf Langes Angriffe geantwortet. Lediglich an einer Stelle — und zwar in den Vindiciae Veritatis et Innocentiae — findet sich eine Auseinandersetzung mit seinen Dissertationen, verbunden mit jener biographischen Reflexion Poirets über Lange, welche wir andernorts schon erwähnt haben; aber auch diese Kontroverse ist nur ein Nebenprodukt der Auseinandersetzung mit seinem Tübinger Gegner^®. S o f e m die Dissertationen Langes eine ausführlichere Antwort gefunden haben, dann letztlich nur durch einen Freund Poirets, welcher dem Amsterdamer Verleger unseres Theologen, Wettstein, einige Anmerkungen zur Polemik Langes zusandte und welche Wettstein als Anhang zu Poirets nachgelassenen Schriften, eben den Posthuma, veröffentlichte'''. Poiret selbst hat von dieser Hilfestellung ohne Zweifel nichts mehr erfahren. ™ Vindiciae, S. 5 6 5 . " Stricturae Breves.
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Wir kommen zu den beiden letzten Arbeiten, welche in Poirets Amsterdamer Zeit fallen. Die zunächst zu nennende Schrift ist eine Edition, die erste eines Werkes der Mme. de Guyon, „Règle des associez à L'enfance de Jésus", 1685 veröffentlicht. Wir haben es hier mit jener Schrift zu tun, mit welcher die Mystikerin, um „ihre religiösen Anschauungen und Bestrebungen im Leben der Kirche auf die Dauer heimisch und wirksam zu m a c h e n " ' ^ , gleichsam die Gründung eines Ordens beabsichtigt hat, dessen geistliches Zentrum die Verehrung und Nachfolge des göttlichen Kindes sein sollte. Die andere Schrift, welche hier zu erwähnen ist, ist La Paix des Bonnes Ames von 1687. Theologisch gesehen ist diese Arbeit recht bedeutungslos. Sie ist eine Sammlung verschiedenartigster Einzelschriften: In ihr finden sich längere Abschnitte aus der Oeconomie Divine wiedergegeben, ein Schreiben Poirets an die durch Ludwig XIV. verfolgten französischen Protestanten, die Polemik des calvinistischen Geistlichen Jurieu gegen dieses Schreiben und seinen Autor, schließlich Poirets Erwiderung an Jurieu. Ist diese Schrift auch kein besonderes Zeugnis theologischer Reflexion, so wirft sie andererseits ein bezeichnendes Licht auf die Umstände, die das Leben Poirets in Amsterdam charakterisieren. Mancherorts wird in diesem Buch sichtbar, wie sehr sich Poiret seit seinem Ausscheiden aus dem Pfarramt gewandelt hat — etwa dort, wo er Jurieu die Weise seiner praxis pietatis schildert: Er lebt in einem kleinen Kreis von Personen, die sich alle von der Welt zurückgezogen haben, um sich allein dem Dienst Gottes zu widmen, offensichtlich ohne jegliches Interesse an der institutionalisierten Kirche und ihren K u l t f o r m e n U n d von diesem Frömmigkeitsverständnis wird auch sein Brief an die verfolgten Hugenotten Frankreichs deutbar: Dir Schicksal, sich der Raison eines katholischen Staates und seiner kirchlichen Exekutive unterwerfen zu müssen, berührt ihn überhaupt nicht. Das Entscheidende liegt in der Reinheit der Seele, ihrer Bereitschaft für das göttliche Tun. Von hier aus aber mag dann auch der Raum der katholischen Kirche Möglichkeiten christlicher — und das ist für Poiret eben: mystischer — Existenz zu bieten.
IV. Die Rijnsburger Jahre Indes scheint Poiret seine in Amsterdam begonnene und gepflegte Art geistlichen Lebens noch nicht genügt zu haben, denn nach dem Tod seiH e p p e , G e s c h i c h t e der quietistischen Mystik in der k a t h o l i s c h e n Kirche, Berlin 1875, S. 4 8 0 . "'S Vgl. S. 211.
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пег Gattin zieht er, wie bereits erwähnt, nach Rijnsburg um. Er gesellt sich zu jener stillen kollegiantischen Gruppe, die sich dort angesiedelt hat, um dortselbst den Rest seines Lebens zu verbringen. Daß gerade Rijnsburg sein Refugium geworden ist, ist nicht unverständlich; denn zwischen seinen Überzeugungen und den Anschauungen seiner Rijnsburger Umgebung besteht eine Affinität, die nicht übersehen werden karm. Gerade auch die wachsende Distanz zur Kirche und ihrer Theologie, die wir bei Poiret beobachten konnten, erscheint bei den Rijnsburgem vorgebildet. Aber auch in anderen Punkten stimmen beide Denkweisen überein: Die Kollegianten besitzen eine chiliastische Geschichtsauffassung und sie sind von mystischen Gedanken durchdrungen'"* — all dies werden wir auch bei Poiret wiederfinden. Insofern mußte sich Rijnsburg als sein endgültiger Wohnsitz schon recht nahe legen. Fragen wir, wie unser Theologe hier gelebt hat, so müssen wir uns ganz ähnliche Umstände vorstellen wie im Blick auf seine Amsterdamer Jahre, nur daß sich sein Leben jetzt noch weiter außerhalb der „Welt" abspielt. Er wohnt mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter zusammen, ohne Ansehen der Konfession des Einzelnen, dementsprechend auch wiederum ohne Interesse an der offiziellen Kirche: Dem Einzelnen in seinem Kreise war zwar der Besuch des Gottesdienstes seiner Konfession freigestellt; aber wenn wir den Angaben eines zeitgenössischen Chronisten folgen, so galt die Bindung an die kirchlichen Kultformen geradezu als ein Zeichen mangelnder Erleuchtung. Insgesamt läßt sich Poirets Lebensweise in Rijnsburg nachgerade als klösterlich beschreiben: Sein Leben vollzieht sich nach fixierten Regeln und Ordnungen, einem festgelegten Tagesplan — wobei all dies durchdrungen ist von einer leisen Verachtung denen gegenüber, welche, obzwar Christen, dennoch ein öffentliches Amt bekleiden''®. Hat sich Poiret aber auch in die Stille einer Kollegiantensiedlung zurückgezogen — untätig ist er in keiner Weise geblieben; im Gegenteil, gerade die Zeit von 1688 bis 1719 ist noch äußerst fruchtbar für ihn. Eines ist freilich, wenn wir das von ihm in diesen Jahren Veröffentlichte durchmustern, von Anfang an auffällig: Die theologische Reflexion, d.h. die Arbeit an seiner eigenen, von ihm selbst entwickelten Gedankenwelt, hat er nach der Abfassung der Oeconomie Divine weitge-
Vgl. W. Goeters, Die Vorbereitung des Pietismus in der reformierten Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krisis 1 6 7 0 , Leipzig/Utrecht 1 9 1 1 , S. 4 6 f f . ' ' Vgl. J. L. Benthem, Holländischer Kirch- und Schulen-Staat, Frankfurt/Leipzig 1 7 0 8 , TeU II, S. 4 1 9 f f , und G. Stolle, Reisetagebuch (zit. bei Wieser, Peter Poiret, S. 1 4 0 f f ) .
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hend aufgegeben. An ihre Stelle treten vor allem Schriften, welche auf Vermittlung dessen zielen, was er bisher entwickelt bzw. in sein eigenes Denken integriert hat: zunächst pädagogische Arbeiten,' dann vor allem seine Editionen mystischer Traktate und der Viten mystischer Laien und Theologen. Beginnen wir mit der ersteren Gruppe, den von Poiret selbst verfaßten pädagogischen Schriften, dem Büchlein über die christliche Erziehung der Kinder und dem Buch über die dreifache Bildung. Erstere Schrift finden wir erstmals 1690 veröffentlicht, und zwar im Anhang der Théologie du Coeur. Pädagogisches Geschick sucht man in ihr vergebens. Poiret legt vielmehr alles darauf an, seine eigenen Denkergebnisse und Glaubenserfahrungen so prägnant wie möglich darzustellen, um sie so weiter vermitteln zu können. Mithin ist die Schrift auch weniger unter didaktischen Gesichtspunkten aufgebaut als vielmehr im Sinn jener mystischen Dogmatik, wie wir sie in der Oeconomie Divine finden. Wirkungslos ist das Büchlein nicht geblieben. Wir finden es in zahllosen Ausgaben und Übersetzungen über ganz Europa verbreitet''®. Auch Poiret selbst hat an solchen Editionen Anteil. So beschäftigt er sich damit, die Schrift 1694 in einer lateinischen Fassung zu Amsterdam herauszubringen; desgleichen erscheint sie 1705 in neuer französischer Auflage (mit etwas geändertem Titel''''). Noch ein drittes Mal wird sie von Poiret ediert, nämlich 1707 in dem Sammelband De Eruditione Solida Specialiora. So verbreitet diese Schrift auch ist, so umstritten ist sie allerdings auch. Das zeigt schon die Ausgabe von 1694: Bereits in ihr findet sich ein kontroverstheologischer Anhang, der Zeugnis von der zwiespältigen Aufnahme der Schrift ablegt. Er enthält das Material zum sogenannten Horb-Streit. Das Entscheidende an diesem Streit ist allgemein bekannt und braucht hier nur kurz erörtert zu werden^®. Wir erinnern uns, daß das Büchlein über die christliche Kindererziehung in ganz Europa verbreitet war. Zu seinen Erscheinungsorten gehört u.a. auch Hamburg. Hier war es dem Hauptpastor der Nikolaikirche, J. H. Horb, in die Hände gefallen; dieser hatte Interesse an ihm gefunden und es 1692 unter seinen Kindern und Dienstboten verteilt und 1693 zum 76 Vgl. Wieser, Peter Poiret, S. 3 3 2 . Les Principes Solides de la Religion et de la Vie Chrétienne, Appliqués à l'éducation des Enfans. 78 Vgl. etwa Bertheau, Art. „Horb", in ADB, Bd. 13, S. 1 2 0 f f .
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Druck befördert, ohne allerdings über Poirets Autorschaft informiert zu sein. Theologisch gesehen war dieser Schritt nicht ganz unbegreiflich, denn Horb ist Schwager Speners, aber auch ganz abgesehen von dieser verwandtschaftlichen Beziehung dem Pietismus durchaus freundlich gesinnt. Kirchenpolitisch dagegen war die Edition dieses Büchleins eine Unklugheit höchsten Ausmaßes. Denn in dem Augenblick, in welchem Poirets Verfasserschaft offenbar wurde, mußte sich der Zorn der gesamten Hamburger Geistlichkeit auf seinem Haupt entladen. Und dies geschah in der Tat: Horb vmrde seines Amtes enthoben, der Stadt verwiesen und starb einige Jahre später (1695). Daß wir hier kein Ruhmesblatt der lutherischen Orthodoxie aufgeschlagen haben — vor allem wenn wir an die Umstände erinnern, unter welchen die Kampagne der orthodoxen Pastoren gegen ihren Kollegen gefiihrt wurde und unter welchen Horb mit seiner Familie aus der Stadt gejagt vmrde —, ist einsichtig. Dennoch wird man auch den Standpunkt der lutherischen Orthodoxie nicht ganz unverständlich finden können. Man war sich im Hamburger Konsistorium von Anfang an darüber im klaren, daß mit dem Büchlein über die christliche Kindererziehung eine Schrift auf den Plan getreten war, die auf weite Strecken als Spiegelbild des Denkens der A. Bourignon gelten konnte und mithin mit der lutherischen Lehre so gut wie nichts gemein hatte. In diesem Sinne hat das Konsistorium vierunddreißig Artikel zu diesem Werk zusammengestellt und in diesen sogleich die Feststellung an den Anfang gesetzt, daß es sich in dem Werk Poirets letztlich auch um das Schwärmertum jener Frau handele'''. Und wenn wir diese Artikel durchmustern und die in ihnen ausgesprochene Kirchenlehre mit Poirets Position vergleichen, dann wird die Empörung der Hamburger theologisch noch verständlicher. Im übrigen bestand bei Poirets Hamburger Gegnern natürlich auch die Befürchtung, daß das Beispiel Horbs Schule machen könnte, darüber hinaus aber auch die Stellung des Kleinen Katechismus Luthers nicht ganz ungefährdet war®". Selbstverständlich hat sich Poiret gegenüber dem Konsistorium gewehrt. Er hat jeden der vierunddreißig Artikel erwogen, kommentiert und beantwortet. Geändert hat er aber seine Meinung wiederum nicht. Auch der Name der A. Bourignon wird weiterhin verteidigt, auch wenn er ihre Lehre durchaus nicht für unfehlbar hält und zugibt, daß die Schwärmerin auch Falsches vorgetragen haben könne®'. Insofern wird hier erArt. I (S. 66 in De Eruditione Solida Specialiora Tribus Tractatibus, A m s t e r d a m 1707). 80 Art. IV (S. 75) 81 A a O S. 68.
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neut das Bewußtsein unseres Theologen deutlich, im Besitz der Wahrheit zu sein. Für Poirets geistigen Ort noch bedeutsamer ist indes eine andere Schrift, welche in jenen Rijnsburger Jahren veröffentlicht wird: das Buch über die dreifache Bildung. 1692 erscheint es auf dem Büchermarkt. Form und Substanz nach gehört auch diese Arbeit, wie bereits vermerkt, zu Poirets pädagogischen Schriften. Bereits der Titel redet ja hier eine deutliche Sprache. Wiederum also will unser Theologe Anleitung gegeben, wie der von ihm als richtig erkannte Weg zu vermitteln und zu beschreiten sei — und in diesem Sinne liefert dieses Buch eine Fülle von Ratschlägen und Anweisungen sowohl für den Lehrenden als auch für den Lernenden. Allerdings hat sich Poiret mit dieser pädagogischen Intention nicht zufrieden gegeben. Bereits die Erstauflage von 1692 enthält neben der Schrift selbst noch ein ausführliches Essay: den Traktat über die Wahrheitsfindung. In ihm geht es über „Erziehung" und „Bildung" hinaus zugleich auch um die Grundlagen von beidem: Bildung erweist sich erst dann als denk-möglich, mithin als lehr- und lembar, wenn der Einzelne sich darüber im klaren ist, wie sein Ich als das zu bildende Ich beschaffen ist, welche Fähigkeiten es besitzt und wie diese Fähigkeiten in der rechten Weise zu aktualisieren sind. Dieser Traktat hat zweifellos hohen erkenntnistheoretischen Wert. In ihm ist auf mystische Weise die cartesianische Frage beantwortet worden, wie das Innen, das von allem Akzidentiellen befreite reine Ich, zur wahren Erkenntnis der Außenwelt kommt. Naturgemäß liegt für unseren Theologen — und dies können wir schon in einem Vorgriff auf das Ergebnis der Einzelanalyse sagen — die Antwort auf der Ebene seiner Lehre von der Erleuchtung der Seele durch das göttliche Licht: Nur dann ist rechte Erkenntnis des Außen möglich, wenn die Seele ihr Ziel in Gott gefunden hat. Was hier vorliegt, ist natürlich eine Theologisierung des Erkenntnisvorganges, Abwertung der menschlichen Vernunft zugunsten des göttlichen Handelns. Daß hier Poiret wieder Gegner erstehen mußten, ist kein Wunder: Die Aufklärung meldet sich nunmehr gegen ihn zu Wort — eben als die Sachwalterin der Vernunft. Genannt werden müssen hier Thomasius und Titius, Lehrer und Schüler, der eine Philosoph, der andere Jurist®^. Beide haben sich mit dem Buch über die dreifache Bildung auseinandergesetzt. zu Titius vgl. E. Landsberg, in A D B , Bd. 38, S. 3 7 9 f .
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Von der geistigen Entwicklung ihres Verfassers aus gesehen, ist die Kritik des Thomasius zweifellos die interessantere, denn sie hat eine lange Vorgeschichte. Der Thomasius nämlich, dem das Buch über die dreifache Bildung zum ersten Mal in die Hand fällt, ist durchaus noch kein Mann der Aufklärung, sondern steht noch im Bann antirationaler Strömungen. In diesem Sinne steht er Poiret zunächst — ganz wie Lange — äußerst wohlwollend gegenüber; mehr noch, er hat 1694 sogar eine eigene Edition des Buches über die dreifache Bildung veranstaltet und mit einer Einführung versehen, die in der Tat Thomasius' enge Bindung an Poiret beweist Jener Poiret, der alle Wahrheit und Bildung allein im Wirken Gottes in der Seele begründet sieht, ist ein „Vir in Divina ac Christiana sapientia profunde eruditus, et moribus vere Christianus". Und wie ernst eine Aussage wie diese gemeint ist, zeigt sich darin, daß er Poirets Gedankengängen bis ins Detail zustimmt; selbst A. Bourignon hat er seine Verehrung gezollt: „Firmiter persuasus sum, fuisse Burignoniam virginem piissimam, et ejus cor habitaculum Spiritus Sancii"«^. Indes vollzog sich in der Folgezeit in Thomasius ein merklicher Sinneswandel. Wohl steht er auch weiterhin unserem Theologen nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber; im Gegenteil, er hat das Buch über die dreifache Bildung noch einmal, nämlich 1708 ediert, d.h. zu einer Zeit, als seine pietistisch-antirationale Periode bereits vergangen war. Aber die Einführung dieser zweiten Ausgabe ist neu, kritischer, distanzierter. Der Thomasius, der sich 1708 auf die Suche nach der Wahrheit macht, ist endgültig ein Mann der Aufklärung geworden. Das, was Poiret über Bildung und Wahrheitsfindung geschrieben hat, ist 1708 für ihn keine Denk- und Glaubensmöglichkeit mehr. Somit verwundert es nicht, wenn er gerade auch die Gedankengänge jenes Traktates über die Wahrheitsfindung im Buch über die dreifache Bildung einer heftigen Kritik unterzieht. Erst spät hat Poiret seinem Gegner geantwortet. Naturgemäß hat ihn der Gesinnungswandel Thomasius' erschüttert, vor allem, daß sich dieser Wechsel so coram publico vollzogen hat®^, aber unverteidigt hat er auch hier seine Thesen nicht gelassen. Wahrheit, so erwidert er Thomasius, bleibt weiterhin für ihn nur auf dem Weg der Erleuchtung durch Gott zu erreichen. Sofern er seinem Gegner entgegenkommt, dann nur insofern, als er seine Skepsis gegenüber Thomasius' Insistenz auf der
® Dissertatio Ad Petri Poireti Libros de Eruditione Solida etc. (angehängt). 84 AaO S. (5) und S. (34). Defensio Methodi Inveniendi Verum (in: Posthuma), S. 91.
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hohen Bedeutung der Vernunft zumindest verbaliter mäßigt, ohne jedoch in der Sache auch nur einen Schritt zurückzuweichen. Ähnlich vollzieht sich auch Poirets Kontroverse mit Titius, nur daß Titius Poiret noch heftiger attackiert als sein Lehrer. Geantwortet hat Poiret aber wiederum das gleiche, nur in noch ausführlicherer Weise als in seiner Erwiderung an Thomasius und unter Hinzuziehung eines noch größeren gelehrten Apparates. Von weiteren eigenen Entwürfen Poirets hört man nach dem Erscheinen des Buches über die dreifache Bildung länger als zwei Dekaden nichts; denn es bricht nunmehr die Zeit an, in welcher unser Theologe ganz in der Herausgabe mystischer Traktate und der Viten mystischer Laien und Theologen aufgeht. Erst das Jahr 1715 bringt noch ein größeres Werk aus Poirets eigener Feder, nämlich die Schrift über den Ursprung der Ideen Die Schrift ist noch unbekannter als die Oeconomie Divine. Sie steht auch im Urteil der Nachwelt nicht gerade günstig da. Bereits der Verfasser der Vita Poirets in den Posthuma betrachtet sie nicht ohne ein gewisses Mißfallen als eine Rückwendung Poirets zu längst aufgegebenem Philosophieren®'', und Wieser schließt sich diesem Urteil ohne weiteres an®®. In Wirklichkeit dürfte es sich jedoch bei dem Buch über den Ursprung der Ideen um eine der besten Schriften Poirets überhaupt handeln; denn in ihr zieht unser Theologe in gewisser Hinsicht die Summe seiner Reflexion über das Wesen der Welt. Ihre Form entnimmt die Schrift zum Teil den Cogitationes Rationales, nämlich in ihrer Argumentation von den Gottesattributen her — ihr Geist ist freilich der gleiche wie derjenige, welcher sich im ersten Buch der Oeconomie Divine und seinen Abschnitten über die Ideen der Welt und ihrer Dinge in Gott findet. Aber während Poiret in den Cogitationes Rationales noch nicht am Ziel seines Denkens steht und die Oeconomie Divine in ihren diesbezüglichen Ausführungen noch der letzten Klarheit ermangelt, zeigt sich in dieser Schrift, zu welch niveauvoller Spekulation unser Theologe fähig ist, ohne doch im geringsten seinen Ansatz verleugnen zu müssen. Der Anlaß zu diesem Buch ist kontroverstheologischer Natur; er reicht zurück bis in die Oeconomie Divine. Der Herbomer Theologe Pungeler Titel: Vera et Cognita omnium prima sive, de Natura Idearum ex Origine sua repetitâ, assertâ, et adversus Cl. A. Pungelerum defensa, Disquisitio TheologicoPhilosophica, Amsterdam 1715. 8·' Posthuma, S. 41. 88 Peter Poiret, S. 108.
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hatte an der in ihr enthaltenen Ideenlehre Anstoß genommen und sie zu widerlegen gesucht®'. Die Position, welche er dabei vertritt, ist die herkömmlich kirchliche, wie sie schon im Mittelalter vertreten worden ist. Sie ist freilich als eine solche Poirets Überzeugung in dieser Frage durchaus entgegengesetzt; denn dadurch, daß in ihr Gott und Welt essentiell zusammengehören, im streng-theistischen Sinne, wird der „Welt", d.h. allem, was nicht Gott und die Seele ist, eine Dignität zuerkannt, welche der Mystiker Poiret, aufgrund der Konzentration seines Denkens eben gerade auf diese beiden Pole des Seienden, nicht annehmen kann. Hier muß er im Sinne seines Gottes- und Weltverständnisses protestieren. Und insofern läßt sich in keiner Weise jene von Wieser adaptierte Meinung des Poiret-Biographen der Posthuma vertreten, daß wir es bei der Schrift über den Ursprung der Ideen mit einer Rückkehr Poirets in ein bereits abgeschlossenes Stadium seiner geistigen Entwicklung zu tun haben. Nach diesem Werk schweigt Poiret als Verfasser neuer, eigenständiger Arbeiten völlig. Als größere Schrift finden wir nur noch kurz vor seinem Tode die bereits erwähnten Vindiciae Veritatis et Innocentiae. Ist aber die Produktion eigener Werke, in welchen Poiret sich um eine weitere Entfaltung seiner theologischen Reflexion bemüht, seit der Abfassung der Oeconomie Divine auch so gut wie zum Erliegen gekommen (sehen wir von jener letztgenannten Schrift ab), da sich unser Theologe mehr und mehr als Vermittler mystischen Denkens fühlt, so tritt andererseits — eben aus dieser Wertung der eigenen Funktion heraus — Poirets editorische Tätigkeit weiter und weiter in den Vordergrund. Was gibt Poiret heraus? Zunächst natürlich weiterhin mystische Schriften; er setzt also das fort, was er bereits während seiner Aufenthalte in Annweiler und Amsterdam herauszugeben begonnen hat. Immerhin bahnt sich jetzt in der Materie ein gewisser Wandel an: Beschäftigt sich unser Theologe bis 1688 vornehmlich mit der deutschen bzw. ,.germanischen" Mystik (wir erinnern an sein Interesse für Tauler, Böhme, die Imitatio Christi, die Theologia Deutsch; selbst A. Bourignon muß aufgrund ihrer Verwandtschaft mit Denkern wie Böhme diesem Kreis zugerechnet werden), und steht andererseits jene Ausgabe der Règle des associéz à L'enfance de Jésus der Mme. de Guyon noch recht vereinzelt da, so treten nunmehr die romanischen Mystiker zusehends in den Vordergrund: vor allem In seiner Dissertatio de rerum possibilium ideis opposita Cl. Poireto, Herborn 1712 (Titel nach Posthuma, S. 40)).
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Mme. de Guyon, aber auch andere. Dieser Sachverhalt ist gewiß bemerkenswert, wie schon Wieser erkannt hat^°. Besitzt er jedoch für Poirets geistige Entwicklung eine grundlegende Bedeutung? Angesichts dessen, daß sich unser Theologe bis zuletzt so gut wie in allen Punkten für die Lehren der Oeconomie Divine ausgesprochen hat, mithin keinen Grund gesehen hat, sein System unter dem Andringen neuer Einsichten zu revidieren oder gar zu revozieren, wird man dieser Wende zur romanischen Mystik kein allzu großes Gewicht beilegen dürfen. Was sich in ihr ausspricht, wird wohl vor allem dies sein: Gerade die romanische Mystik wird Poirets Interesse an der Vermittlung des inneren Weges besonders gerecht, denn eines ihrer entscheidenden Stigmata ist die Entwicklung einer mystischen Methodik und Methodologie. Gerade dieser Praxisbezug wird sich aber auch für Poirets eigenes Denken als bedeutungsvoll erweisen. Daß nun Poiret in der Tat die romanische Mystik gerade auch von dem ihr innewohnenden methodologischen Impuls in den Blick genommen hat, ergibt sich bereits aus seiner ersten in Rijnsburg vorbereiteten Edition, derjenigen der Théologie du Cœur, einer Sammlung verschiedener mystischer Traktate und Dialoge in zwei Bänden. Man betrachte nur den Titel des III. Traktates in Band I: La Ruine de l'Amour propre par l'Abnégation Interieure et l'état de la Quietude. Traité méthodique, tissu des plus purs Principes du Christianisme, et des Préceptes les plus solides de la Theologie Mystique. Und eine ähnliche Intention läßt sich auch in einem Traktat wie dem Abrégé de la Perfection Chrétienne erkennen. Allerdings ist unser Theologe in der Frage der mystischen Methodik nicht dogmatisch. Mystisch zu leben kann auch auf andere Weise gelehrt werden als durch den Traktat, vor allem auch durch die Erzählung der Viten der Mystiker: Der Heilige wirkt nicht allein durch seine Lehre, sondern (und vor allem) auch durch sein Beispiel. In diesem Sinne ediert Poiret 1691 die Vita der hl. Catarina von Genua (La Théologie de l'Amour) und 1696 diejenige der sei. Angela da Foligno (La Théologie de la Croix). Ganz hat Poiret jedoch die germanische Mystik noch nicht aufgegeben. Das J a h r 1700 findet ihn immerhin bei einer Neuedition der Theologia Deutsch. Die Ausgabe von 1676 hat er freilich nicht unmodifiziert gelassen: Die Schrift hat nicht allein einen neuen Titel erhalten — nunmehr heißt sie: La Théologie Reelle —, sondern sie ist auch durch verschiedene eigene Arbeiten unseres Theologen erweitert worden.
Peter Poiret, bes. S. 9 2 f f .
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Diese der Theologia Deutsch beigegebenen Arbeiten Poirets selbst sind biographisch teilweise außerordentlich signifikant; sie zeigen nämlich, wie durchreflektiert Poirets Adaption des mystischen Denkens tatsächlich ist. Es geht unserem Theologen in seiner Beschäftigung mit seinen Gewährsleuten nicht um bloße Übernahme, sondern um Charakterisierung, Klassifikation, Ortung ihres geistigen Ortes. Aufschlußreich ist in diesem Sinne besonders die Lettre sur les Principes et les Caractères des principaux Auteurs Mystiques et spirituels des demieres siècles. Sie zeugt übrigens auch von der ungeheuren Intensität, mit welcher Poiret sich der Mystik erschlossen hat: Er kennt die Quellen, aus denen er sein Wissen schöpft, bis ins Detail. Darüberhinaus enthält diese Ausgabe der Theologia Deutsch ein Verzeichnis der mystischen Autoren, und in diesem wird noch einmal deutlich, wie weit Poirets mystischer Horizont in der Tat geworden ist: Die bibliographische Erfassung mystischer Autoren hat hier ein Ausmaß erreicht, welches nur von Poiret selbst noch überboten worden ist, nämlich in seiner Bibliotheca Mysticorum Selecta von 1708. Aber noch weitere Ergänzungen enthält die Schrift. So hat Poiret etwa ausführliche eigene Reflexionen über die verschiedenen Spielarten mystischer Theologie und über das Wesen von Mystik angefügt; und er hat diese seine Ausführungen immerhin für so wichtig gehalten, daß er sie sowohl in seiner Theologiae Pacificae itemque Mysticae . . . Idea Brevior von 1702 als auch in De Theologiae Mysticae eiusque auctorum idea generalis, d.h. im 2. Teil der Schrift De Eruditione Solida Specialiora von 1707, erneut herausgebracht hat. Desgleichen enthält die Théologie Reelle — und damit wird die Theologia Deutsch in einen unbefangenen Zusammenhang mit französischer Mystik gebracht — die Regeln und Maximen des Mystikers Jean de S. Samson. Nach 1700 folgen wiederum einige Mystiker-Biographien, besonders die Vita des Marquis de Renty (Le Chrétien Réel), ein Jahr später diejenige einer Schülerin Rentys, der Mère Elisabeth de l'Enfant de Jésus. Zumindest auf Poirets Anraten erscheint 1701 eine Vita Wemerus"'. Weitere Biographien gehören hierher, diejenigen der Armelle Nicolas von 1704, des Frère Laurent de la Résurrection von 1710, endlich die Biographie des Gregor López von 1717. Aber auch mystische Traktate hat Poiret in dieser Zeit weiter herausgegeben, so Oliers Katechismus 1703 und vor allem — in seinem Sammelband La Pratique de la Vraye Theologie Mystique von 1709 — Traktate von Malaval, Bernières-Louvigny und Madre Teresa, desgleichen die Ana-
Posthuma, S. 30).
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lysis Orationis Mentalis von Fr. de la Combe, dem Seelenführer der Mme. de Guyon (1711). Vor allem hat sich Poiret um die Schriften der letztgenannten Mystikerin verdient gemacht. Hat er auch schon 1685 ein Schriftchen von ihr ediert, so folgen seit 1704 die Editionen Schlag auf Schlag: ihre Opuscules Spirituels 1704, ihre exegetischen Arbeiten 1713 bis 1715, ihre Diskurse 1716, ihre Briefe 1717 und 1718, schließlich ihre Vita (gedruckt 1720). Sicherlich mag — analog zur Edition der Werke A. Bourignons — auch bei diesen Editionen ein apologetisches Motiv eine Rolle spielen: Auch Mme. de Guyon ist Verfolgungen ausgesetzt und bedarf der Verteidigung. Darüberhinaus war sie aber zugleich Zentrum eines Disputes von gesamteuropäischer Bedeutung, eben der Diskussion zwischen Fénelon und Bossuet. Auch von hierher dürfte Poiret an ihr Interesse gewonnen haben (Poirets Interesse an diesem Streit erklärt schließlich auch seine Fénelon-Ausgabe von 1718). Immerhin liegen aus dieser Zeit auch zwei Editionen Poirets vor, die weniger in seine Beschäftigung mit der romanischen Mystik passen, die dennoch keineswegs auffällig sind, zum einen die Herausgabe von Briefen der A. Bourignon 1705 (schließlich hat er die Schwärmerin bis zu seinem Tod verteidigt), vor allem aber die Edition eines gegen Locke gerichteten Werkes: Fides et Ratio Collatae von 1707. Daß unser Autor dieses letztere Werk für veröffentlichungswert befinden mußte, ergibt sich bereits dann, wenn man sich die Position Lockes vergegenwärtigt, wie sie in dieser Schrift ausführlicher zitiert wird — daß nämlich die Vernunft ein ontologisches Prae vor dem Glauben hat, mithin die Offenbarung sich auch vor der Vernunft auszuweisen hat. Damit aber hat Poiret wieder eine gegnerische Position vor sich, die in gewisser Hinsicht der von Thomasius und Titius gleicht. Von hier aus wird dann auch verständlich, daß er das Werk mit einer ausführlichen Vorrede versehen hat, in welcher er sich wiederum gegen alle Hochschätzung der menschlichen Vernunft ausspricht — übrigens nicht ohne auf seine Auseinandersetzung mit Titius zu verweisen. Aber Poiret dürfte die Schrift noch aus einem anderen Grunde ediert haben: Sie zeigt eine derart überraschende Ähnlichkeit mit seinem eigenen Denken, daß man ihren Verfasser in seinem allernächsten Umkreis suchen muß; diese Ähnlichkeiten gehen bisweilen bis ins Detail. Von hier aus ist schließlich auch zu verstehen, daß Jäger, der die Diskussion verfolgt hat, den Streit letztlich als eine Kontroverse zwischen Locke und Poiret selbst ansieht®^. ^ Vgl. Examen, S. 739. 47
Indes hat Poiret nicht allein die Werke fremder Autoren neu herausgegeben, sondern auch eigene. Das hebt an mit der 1702 erscheinenden deutschen Fassung von La Paix des Bonnes Ames®^; das setzt sich fort in einem gesondert erscheinenden Neudruck der Zusätze der Théologie Reelle, die aus Porets eigener Feder stammen: des Briefes über die Charaktere der Mystiker, jener Liste mystischer Autoren, aber auch seiner Beschreibung mystischer Theologie. Eingefügt ist außerdem ein nicht von ihm stammender Traktat, nämlich die Theologia Pacifica sive Comparativa, als deren Verfasser Poiret den schottischen Theologen Gärden nennt. Das Ganze erhält den Titel Theologiae Pacificae itemque Mysticae ac hujus Auctorum Idea Brevior und erscheint ebenfalls 1702. 1705 finden v^^ir Poiret mit der lateinischen Ausgabe der Oeconomie Divine beschäftigt, desgleichen mit der auch schon genannten Neuausgabe des Büchleins über die christliche Erziehung der Kinder; 1707 folgen die lateinische Ausgabe von La Paix des Bonnes Ames sowie die Neuauflage des Buches über die dreifache Bildung mit ausführlichem, den Streit Poirets mit Titius betreffendem kontroverstheologischem Anhang. Eine letzte Neuausgabe fällt in das Jahr 1707: De Eruditione Solida Specialiora, ein Sammelband, der verschiedenes, andernorts von Poiret bereits Ediertes neu zusammenstellt: das Büchlein über die christliche Erziehung der Kinder mit der Beifügung von Poirets Auseinandersetzung mit dem Hamburger Konsistorium, die lateinische Fassung von La Paix des Bonnes Ames, die Theologiae Mysticae . . . Idea Brevior — unter dem Titel Theologiae Mysticae Idea Generalior —, wobei diese Sammlung mit bislang noch nicht publiziertem kontroverstheologischem Material abgerundet wird, nämlich in der Gestidt der Principiorum Theologiae Solidae ac Interioris Defensio, einer Streitschrift gegen Еескгс^"*.
^ Titel: Irenicum Universale oder gründliche Gewissens-Ruhe aller frommen Hertzen. Sie ist eine Erwiderung auf Angriffe Leclercs gegen die Oeconomie Divine, die dieser in der Nouvelle République des Lettres von 1687 veröffentlicht hat. Daß es zwischen beiden Theologen zum Streit kommen mußte, ist klar. Denn hier stehen sich zwei Gegner gegenüber, die noch weniger miteinander gemein haben als Poiret und Jäger oder Lange: Während letztere gleichsam die konservativere kirchliche Theologie vertreten, hat sich auch Ledere von ihr entfernt, aber in eine Poiret durchaus entgegengesetzte Richtung, nämlich zum Rationalismus hin. Die Kontroverse ist langdauernd und heftig. Ledere bezeichnet Poirets Theologie schlechterdings als Fanatismus (De Eruditione Solida Specialiora, S. 677f), während Poiret seinem Gegner sogar vorwirft, dieser versuche die Menschen vom Heil abzuhalten, um ihnen stattdessen weltliche Bildung und aufgeputzte Eloquenz einzuflößen (aaO S. 688). Zur Ruhe gekommen scheint der Streit nicht vor 1707 zu sein (vgl. aaO S. 722f: Hier gibt Poiret einen Überblick über sein bisheriges Schaf-
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Zwei weitere Neuausgaben beschließen Poirets Tätigkeit als Editor eigener Werke, eine vermehrte Ausgabe des Mystiker-Kataloges und des Briefes über die Charaktere der Mystiker, zusammengefaßt unter dem Titel Bibliotheca Mysticorum Selecta, 1708, und eine dritte, wiederum erweiterte Auflage der Cogitationes Rationales (1715). So bietet sich insgesamt ein Lebenswerk, das allein schon von seiner Fülle her beeindruckt, mag in ihm auch das eigenschöpferische Element mehr und mehr in den Hintergrund treten. Es wird sich im folgenden indes zeigen, daß es bei alledem nicht nur um einen quantitativen Befund geht, sondern daß mit dieser äußeren Leistung zugleich eine irmere Bewegung verbunden ist, aufgrund derer das Lebenswerk Poirets in sachlicher Kontinuität verläuft, von seinen Anfängen an bis zu Poirets letzten Veröffentlichungen. Und von diesem Duktus her wird gelegentlich noch das eine oder andere Schlaglicht auf Poirets Leben fallen. fen, um seinem Gegner sein Denken darzulegen; dieser Überblick reicht aber bis zu Poirets Edition der Schrift gegen Locke, d.h. bis 1707).
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Krieg, Kreis
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ZWEITER HAUPTTEIL DIE GRUNDSTRUKTUREN DES POIRETIANISCHEN DENKENS
I, Die Cogitationes Rationales von 1677: Cartesianismus und Mystik Der Ansatz der Schrift Im Rückbezug des Menschen auf sein eigenes Ich, in seiner Abblendung von allem empirischen a priori — in dieser Weise des Philosophierens liegt einer der wesentlichen Impulse zur Formung des neuzeitlichen Bewußtseins. Es ist die Weise Descartes'. Freilich ist dieses Ich zunächst nur wenig optimistisch; denn es findet sich vor in einer zerbrochenen Welt: der Welt seiner selbst, dem Denken, d.h. dem, das es in seiner Substanz konstituiert, seiner sicher nur im Akte des Zweifeins, d.h. im Prozeß der radikalen Reduktion auf sich selbst, der Abstraktion all dessen, das ihm nicht „wesentlich" ist. Und akzidentiell — das ist für das Ich alles außer seiner Denksubstanz: sowohl der mundus sensibilis, d.h. die Welt, sofem sie — eben als die substantia extensa im Gegensatz zur substantia cogitans — unmittelbar mit den Sinnen erfaßbar ist; aber auch der mundus intelligibilis, d.h. dasjenige, des sich die cogitatio in ihren Modi des Urteilens, Fragens und Forschens bemächtigt, die Welt, sofern sie vom Intellekt durchdrungen auf den ihr zugrundeliegenden „Plan" hin abgespürt wird: denn die Sinne vermögen zu täuschen, und auch der Intellekt ist nicht ungefährdet; denn könnte er nicht verstrickt sein in die Netze eines täuschenden G o t t e s ' ? Ist alledem aber so, dann ist nichts elementarer als die Notwendigkeit, die Wirklichkeit dessen, was nicht Ich-selbst, substantia cogitans ist, d.h. des Außen gegenüber dem reinen Innen, als eine gegründete Wirklichkeit zu erweisen, damit das Ich auf seinem Weg ins Außen auf festem Grund zu stehen vermag. Ist dieser Grund erwiesen, dann besteht ein Fixpunkt, an welchem sich das Denken ausrichten kann, um 1 Oeuvres de Descartes, hrsg. v. Ch. Adam und P. Tannéry, Paris 1 8 9 7 - 1 9 1 0 , (Bd.) VII, S. 21.
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dem mundus sensibilis wie dem mundus inteUigibilis vertrauend zu begegnen. So ist dieses Ich, will es über sich hinauskommen, unmittelbar auf Gott gewiesen. Die Frage nach ihm rückt in den Mittelpunkt: sowohl die Frage nach seiner Existenz als auch (gemäß Descartes' Gedanken zum mundus inteUigibilis) nach seiner Wahrhaftigkeit^. Das ßen von Pol keit
aber besagt: Die Selbst-abstraktion des Menschen von allem Auauf seine ihn konstituierende Denksubstanz ist nur der eine Pol, welchem her cartesianisches Denken sich entwickelt. Der andere ist Gott. Die Vergewisserung seines Seins und seiner Wahrhaftigist schlechterdings unabdinglich für alles weitere Philosophieren.
Dies impliziert die Notwendigkeit des Gottesbeweises. Das Wie dieses Beweises ist dabei für Descartes schon vorgezeichnet: Es ist ein Weg vom Innen ins Außen. Descartes hebt an mit der Feststellung, daß Gott sich dem Menschen als eine Idee unter vielen zeigt: Wie der Mensch eine Vorstellung von den Dingen hat, von den belebten Körpern, ja von den Engeln, so weiß er auch von Gott. Mit diesem Gedanken ist zunächst noch nichts gewonnen; denn wie alles andere sind ja auch die Ideen dem Ansturm des radikalen Zweifels ausgesetzt. Und grundsätzlich vermag das Denken an ihrer Betrachtung wiederum kat'exochen die Täuschbarkeit des Menschen durch das Außen zu entdecken, wie Descartes vermittels eines Beispiels zeigt. Nein, auch nachdem der Philosoph die Welt der Ideen an sich hat vorüberziehen lassen, steht er dennoch weiterhin in der Überzeugung, daß bis zu diesem Punkt noch kein Urteil möglich ist, dessen Objekt über das reine Ich hinausginge. Noch besteht keine andere Gewißheit als die Selbstgewißheit Und dennoch sind die verschiedenen Ideen, welche der Mensch in sich vorfindet, mehr als leere Schatten, denn was ihnen eignet, ist ein gewisser „Sachgehalt'"*, dieser jedoch ist von Idee zu Idee verschieden. Einige Ideen haben einen höheren Sachgehalt als andere — so ist etwa die Vorstellung, das Denken von „Substanzen" ein ontologisch höheres als das Denken von „Akzidentien" Was besagt dieser Gedanke für die Idee von Gott? Descartes antwortet: Diese Idee besitzt den größten Sachgehalt; denn das An-denken Gottes ist ein An-denken des Ewigen, Vollkommenen, Unendlichen^. 2 AaO VII, S. 3 4 f f . 3 Vgl. aaO VII, S. 42f; S. 39f. 4 Zum Begriff vgl. W. Weischedel, Der Gott der Philosophen, Bd. I, Darmstadt 1 9 7 1 , S. 171 (zit.: Weischedel). 5 Oeuvres VII, S. 40. « Ebd.
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Dieser Schritt ist höchst bedeutsam, denn nunmehr stehen wir vor der conclusio des cartesianischen Gottesbeweises: Aus sich selbst heraus kann der Mensch, der Begrenzte, Unvollkommene, das ewige, vollkommene Wesen nicht an-denken; dieser Gedanke ist zu groß. Er ist mithin auch nicht aus dem Menschen selbst ableitbar, sondern eine idea innata, ein dem Menschen eingestifteter Bewußtseinsgehalt. Damit aber hat das Außen zu seinem Grund gefunden, denn die Vorstellung eines Vollkommenen, Ewigen kann nur aus diesem selbst stammen — eben von Gott. Er allein kann der Grund der Gottesidee im Menschen sein, mithin „ist" er auch^. Mit diesem Beweis ist grundsätzlich die Möglichkeit zur Lichtung des Denkens gegeben, denn nunmehr hat die Erfahrung ein reales Maß: die Vollkommenheit Gottes. Zunächst besonders, jeder Denkakt, der vom Innen ins Außen führt, hat jetzt die Gewißheit, daß ihm das Außen als etwas Reales begegnet, denn der vollkommene Gott ist auch ein Gott der vollkommenen Wahrhaftigkeit, und das besagt erkenntnistheoretisch, daß er der Fähigkeit des menschlichen Geistes zur Bildung von Ideen die tatsächliche Existenz desjenigen, dessen Urbild sie sind, entsprechen läßt®. Gelichtet ist aber nicht nur die Dingwelt. Die Erfahrung des vollkommenen Gottes schafft auch die Lichtung des Menschen selbst: Das Ich erfährt sich als relatives, stets an die Beziehung zu Gott gebundenes. Es vermag zwar seine Möglichkeiten zu entfalten, bleibt aber dennoch zu Gott in einem ewigen Abstand: Gottes Unendlichkeit wird es niemals erreichen Ja, Descartes geht noch einen Schritt weiter: Selbst jener zunächst auf dem Wege des logischen Regresses gewonnene absolut-wahre Ich-punkt des Menschen erweist sich angesichts der göttlichen Vollkommenheit als aller Autonomie bar. Letztlich, so erkennt Descartes, ist alle menschliche Erkenntnis, selbst die des Zweifels, d.h. selbst die der Selbstgewißheit des Ich, allein von Gott her möglich. Letztlich ist es allein er, welcher dem Menschen zeigen kann, daß er zweifelt Mit all diesem zeigt sich, daß cartesianisches Reden über Gott ein eigentümliches Doppelantlitz trägt. Es ist zunächst Reden im Bereich philosophischer Logik, erkenntnistheoretisches Fragen, begründet in der Notwendigkeit, zwischen dem im analytischen Denkprozeß einsam
Vgl. aaO VII, S. 4 5 . 8 AaO VII, S. 7 9 f . ^ AaO VII, S. 47 10 AaO VII, S. 4 5 f .
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gewordenen Ich und dem Außen zu vermitteln. Am Anfang dieses Redens, gleichsam als sein erstes Stadium, fand sich der Gedanke der Gottcsidee. Sofern aber diese Gottesidee aufgrund ihres unendlichen Sachgehaltes zugleich auf Gott-selbst verweist, tritt Descartes aus dem Bereich des nur Logisch-Spekulativen heraus. Sein Denken wird zum Andenken der Wirklichkeit Gottes, mithin zum Anfang theologischer Reflexion; denn dadurch daß sich alles menschliche Reden von Gott als ein Überschreiten manifestiert, und zwar ein solches, das seinen Ansatz hat bei der Erfahrung, welche die Seele mit sich selbst macht, ihrer Unvollkommenheit und Begrenztheit, und welches zu seinem Ziel kommt im Vollkommenen und Unendlichen, zeigt sich die Möglichkeit, vermittels der Betrachtung des menschlichen Selbst, d.h. zugleich der Erfahrung seiner ontologischen Defizienz, zu weiteren Aussagen über Gott vorzustoßen. Der Mensch vermag sich gleichsam die Analogie, welche zwischen dem Sein seiner Seele, seines „Ich", und dem göttlichen Sein besteht, eben die analogia entis, zunutze zu machen. Und in diesem Sinne hat auch Descartes gelegentlich noch weiter über Gott, sein Wesen und seine Eigenschaften reflektiert Diese verhältnismäßig ausführliche Analyse cartesianischen Denkens geschah nicht ohne Absicht; denn an Aussagen wie diesen muß sich entscheiden, inwieweit Poiret in seinem Ansatz von Descartes her bestimmt ist. Und in der Tat: Wenn man unseren Theologen an dem mißt, was sich uns bislang an cartesianischen Strukturen deutat, dann ist die Antwort nicht zu umgehen, daß Poiret sich in den Cogitationes Rationales Descartes' Methode in hohem Maße zueigen gemacht hat. Das hebt an mit seinem Ausgangspunkt: Auch Poiret beginnt mit der totalen Abstraktion seiner selbst von all dem, was seinem Wesenskern akzidentiell ist: „Nil utilius ab illa (= Mente) fieri potest, quam si materialia quaecunque sibi quasi in nihilum redigat, neque ea magis spectet ac si nulla existerent" Und nicht nur die Welt der Körper erweist sich ihm akzidentiell, sondern — wie für Descartes — auch die Welt der Ideen: „Semoveat etiam . . . quas habet ideas'"^ Damit ist mithin der Weg zum Ichpunkt freigelegt, von welchem aus alle Reflexion anhebt: „Mens hoc in statu posita . . . nil praeter cogitationem invenit"'''. Hier liegt also das Konstituens des Menschen; vor ihm wird alles andere 1' AaO VI, S. 3 4 f . Cogitationum Rationalium de D e o , Anima et Malo Libri Quatuor, Amsterdam 1677, S. 4 0 (zit.: Cog.Rat. 1677). 13 Ebd. AaO S. 41.
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zur Oberfläche, es trägt nichts bei zu einer Definition des Wesens des Ich: „Cogitatio . . . est mei, sive mentis meae, . . . essentia et natura"'®. Dabei ist dieser Ich-punkt, obzwar er erkenntnismäßig nur vermittels einer Abstraktion ins Blickfeld gerückt ist, dennoch kein Abstraktum, da unmittelbar in seinen modi manifest: in der Weise des Urteilens (indicare), der Verneinung, der Trauer usw. In allen diesen Weisen konkretisiert sich das Denken unmittelbar selbst'®. Und auch in der ontologischen Bestimmung des von allem Außen befreiten reinen Ich stimmen Poiret und Descartes überein: Die cogitatio ist durchaus ein reales Es; denn das, was die einzelnen modi „ t r ä g t " aber zugleich mit diesen identisch ist — ist Substanz: Denken ist die Substanz seiner selbst. „Non vero ita quasi putare deberemus, . . . substantiam primo existere, deinde superindui cogitatione tanquam aliquo ab ea diverso"'''. Freilich, wie für Descartes ist auch für Poiret jener anfängliche Akt der Abstraktion des Innen von allem Außen nur der eine Pol des Denkeinsatzes: Auch das reine Ich, wie Poiret es konzipiert, steht in der Fremde. Nicht einmal seine eigene Beschaffenheit ist ihm bekannt, denn es fehlt ihm das lichtende Maß; so stellt sich dem Akte der Ichfindung auch im poiretianischen Denken die Notwendigkeit der Gottfindung unmittelbar an die Seite: „ubi me omnibus alienis exuebam, remanebat primo conscientia seu notio mei sive meae intelligentiae, at illa informis, se sola пес se intelligere, пес implere Valens, ad aliud, nempe ad summum Ens, tendebat, quod prius contemplata, et ad se reversa, se postmodum suasque perfectiones novit distinctius"'®. Reflexion ist also auch für unseren Theologen erst dann möglich, wenn Gott selbst im Denken anwesend ist. Erst dann kann dieses Denken sich aus dem Formlosen in das Fixierbare, Abwägbare erheben. Ist dem freilich so, dann ist auch für Poiret die Frage nach der Fixierbarkeit des Ich zugleich eine Frage nach Gott auch im Sinne seiner Fixierbarkeit, d.h. zugleich seiner Existenz. Wie Descartes geht es also auch ihm um einen Gott, welcher, das Subjektive transzendierend, „ist" — und „ist" weist hier auf ein Sein im vollkommenen Sinne, auf „das" Sein; denn nur das vollkommene Maß kann den jeweils Ebd. Í6 AaO S. 47. 17 AaO S. 48. 18 AaO S. 107. 54
Ilgen Maßstab des Menschen, welchen er zur Erkenntnis braucht, begründen. Mithin ist auch für Poiret der Gottesbeweis von erheblichem Gewicht. Daß dieser sich nach alledem, was wir bisher über den methodischen Einsatz von Poirets Denken sagten, in seinen Grundelementen nicht von dem cartesianischen Gottesbeweis unterscheidet, ist von Anfang an zu verm u t e n . Und in der T a t geht auch Poiret von der Gottcsidee aus, die der Mensch in sich findet: ,,inter ideas quas intellectus percipit, certa quaedam est, eaque omnium intima, quae ad solum D e u m est referend a " ' ' . Und wie für Descartes ist auch für ihn diese Idee zugleich eigentümlich stigmatisiert — eben durch jenen aus dem Menschen unableitbaren Sachgehalt der Vollkommenheit. Es wird sich indes zeigen, wenn wir uns im folgenden den Grundgedanken des poiretianischen Gottesbeweises vor Augen führen, daß unser Theologe — ist er auch bis zu diesem P u n k t Schüler Descartes' — die Definition Gottes und seiner realen Existenz auf eine Weise in Angriff n i m m t , auf welche er noch entschlossener als sein Lehrer mit dem Gedanken ernst machen kann, daß am Anfang allen Denkens nichts anderes stehen kann als — eben das Denken selbst, nun freihch nicht als menschliches Denken, sondern als Denken, sofern es Maß und Grund ist. Maß und Grund menschlichen Denkens kann aber nur das vollkommene Denken sein; um dieses aber weiß der Mensch: im Sachgehalt der idea Dei als der Idee des schlechthin-Vollkommenen. Angesichts dessen aber, daß diese idea Dei aufgrund ihres Sachgehaltes, der alle anderen Sachgehalte übersteigt, niemals ihren Ursprung im Menschen und seinem Denken haben kann (denn sonst müßte, wie unser Theologe gelegentlich v e r m e r k t d i e s e s Denken in allen seinen modi, selbst den unvollkommensten, G o t t mit-denken), verweist sie über das Denken des Menschen hinaus auf ein Denken, welches aus sich selbst heraus fähig ist, das Vollkommene zu denken: Dies aber ist Gott. Mit anderen Worten: Poiret geht insofern über seinen Lehrer Descartes hinaus, daß er dessen analogia entis, d.h. die Analogie zwischen G o t t und der Seele, nicht wie dieser allein in ontologischer Begrifflichkeit verwertet, d.h. von der idea Dei innata ausgehend allein auf Gottes Sein schließt, sondern von Anfang an als essentiell gefüllt ansieht — eben mit jener Essenz, welche empirisch der einzig mögliche Ausgangspunkt für ihn sein kann: dem Denken. Die analogia entis manifestiert sich bei Poiret mithin als analogia cogitationis: „Quaeritur causa . . . ideae Dei. Certum est ejus causam non esse Cogitationem meam . . . : nam si cogitare, seu conscium esse, inferret Dei ideam, haec idea deberet esse in 19 AaO S. 207. AaO S. 75.
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omnibus meis, etiam imperfectissimis, cogitandi modis, siquidem Cogitatio in illis est . . . Quicquid . . . in me est, Cogitatio est cum ejus modis: igitur non in me, sed extra me, postulata causa quaerenda est . . . sed in re de qua eadem incommoda quae de me non possim allegare, ob quae vidi me causam illam non esse. Ergo causa danda est Cogitatio, in cujus cogitandi modis omnibus involvatur Cogitatio perfectissima, quaeque se ipsam non possit non vere concipere perfectissimam Cogitationem, hoc est, quae sit Deus"2i.
1st aber dieser Schritt vollzogen, dann ist wie bei Descartes dem Denken ein reales Maß gegeben, eben die Vollkommenheit Gottes; dann ist seine Dunkelheit aufgelichtet und die Möglichkeit zur Reflexion gegeben: Nunmehr kann auch das poiretianische Ich sich die analogia entis zunutze machen: indem es auf sich selbst blickt, d.h. auf die modi des Denkens und ihre ontologische Defizienz, sie aber ins Unendliche transzendierend zu Aussagen über das göttliche Wesen umwandelt. Und dieser Beschreibung der Reflexion des Ich über sich selbst und Gott ist Buch III der Cogitationes Rationales gewidmet. Allerdings stoßen wir in diesem Zusammenhang zugleich auf eine weitere Modifikation cartesianischen Denkens durch Poiret. Gott wird zwar auch von ihm als der erkenntnistheoretische Grund verstanden — aber eben nur im Bezug auf die Weisen der cogitatio des Ich und der cogitatio Gottes, nicht aber im Blick auf die Erkenntnis der Welt. Hier geht unser Theologe eigene Wege. Gewiß, auch er nimmt in der noetischen Begründung der Außenwelt auf Gott Bezug, aber es geht ihm anders als seinem Lehrer in keiner Weise um einen Beweis Gottes als des wahrhaftigen (wie auch Buch III zwar von der veracitas Dei spricht, aber allein unter dem allgemein kirchlichen Aspekt der göttlichen Verheißung ^^ ). Was er intendiert, ist vielmehr ein Beweis für die Realität des Außen aufgrund dessen von Gott gesetzter Vielfältigkeit — ein Gedanke, welcher exemplarisch von ihm durchgeführt wird vermittels eines Hinweises auf die reale Vielfalt anderer Seelen als des, was dem eigenen Wesen am nächsten steht: Erfährt das Denken auch sein Sein, weiß es (eben in der Selbsterfahrung), daß es nicht nichts ist, so weiß es (in eben der gleichen Erfahrung) auch, daß es nicht alles ist. Das aber legt nahe, neben dem Denken des individuellen Ich noch andere Entitäten der gleichen Natur a n z u n e h m e n D i e s e m Gedankengang aber folgt eine Ausweitung der Frage nach der Erkenntnis der Seelen auf die Frage nach der Erkenntnis überhaupt, wobei der Beweis für die Realität anderer Seelen die Grundlage für eine Apologie des Nominalismus bildet: So wie das Ich andere Seelen nur von sich selbst her erkennen kann, d.h. 21 Ebd. 22 AaO S. 2 2 4 . 23 AaO S. m .
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dem Individuum, so ist für Poiret damit angezeigt, daß auch Erkenntnis allgemein nur vom Individuum auszugehen habe und nicht vom allgemeinen, abstrakten Begriff^"·. Wohl spielt bei diesen Gedankengängen eine gegenüber Descartes traditionellere Haltung mit hinein, wie auch bezeichnenderweise Descartes' Argument des ,,täuschenden G o t t e s " bei unserem Theologen keine Parallele besitzt. Es will allerdings beachtet sein, daß wir bereits in den Cogitationes Rationales der Zweitauflage, d.h. 1685, auf eine ausführlichere Begründung des Außen stoßen werden — sie freilich liegt ganz auf der mystischen Ebene. Dann aber bleibt für die Cogitationes Rationales der Erstauflage nur der Schluß übrig, daß Poiret in der Beantwortung dieser Frage 1677 recht unsicher gewesen ist: Zwar hat er Descartes' Position nicht mehr übernehmen können, aber auch die Haltung, welche er zu jenem Zeitpunkt eingenommen hat, hat er bald wieder hinter sich gelassen. Aber wie dem zunächst auch sei! In jedem Fall ist evident, daß Poirets Weise des Denkens, wie wir sie bisher kennengelernt haben, in den Cogitationes Rationales in hohem Maße die seines Lehrers Descartes ist. Freilich, „cartesianisch" in welchem Sinne? Denn es will ja bedacht sein, daß jener Aufenthalt in Annweiler, welchem die Cogitationes Rationales zugehören, ihn bereits in hohem Maße mit der Mystik vertraut gemacht hat, ja, daß Hand in Hand mit der Abfassung der Cogitationes Rationales sich Poirets erste Edition einer mystischen Schrift, der Theologia Deutsch, vollzieht. Dann wird aber von Anfang an die Frage nach dem Wesen dessen akut, was wir als ,,cartesianisch" bezeichnet haben. In welchem Bezug steht „cartesianisches" Denken zur Mystik? Oder ist es als schlechthin „rationalistisch" zu deuten, so daß man in der Tat mit Fleischer bei dem Poiret der Cogitationes Rationales von 1677 an einen — wenn auch mystisch beeinflußten — Rationalisten zu denken hätte? Gewiß ist das rationalistische Element in der Denkbewegung, welche wir bei Descartes und seinem Schüler beobachten können, nicht zu übersehen: Methodisch steht am Anfang nicht die Gewißheit des Außen — oder die des Seins wie bei Thomas —, sondern allein die des Ich. Nur in ihm ist uranfänglich „Wahrheit" denkbar. Und erreicht wird diese Wahrheit alleine vermittels einer rationalen Reduktion, einer Abstraktion des Innen vom Außen, einer Bewußtwerdung des Ich als dem logischen Urgrund, nicht aber in einem unvermittelten Innewerden im Sinne des Glaubens. Und wie steht es mit Gott? Nicht nur hat er seinen Charakter als eines schlechthin-Vorgegebenen verloren, sondern er ist Ebd. 57
zugleich auch zu einem erkenntnistheoretischen Prinzip herabgesunken. Sein „Dasein wird nicht in erster Linie um seiner selbst willen bewiesen, sondern in der Absicht, dadurch Gewißheit in den welthaften Zusammenhängen des Ich zu gewinnen" Dennoch ist diese cartesianische Denkbewegung zu sehr eingebettet in Geschichte, als daß sie allein aus sich selbst heraus betrachtet werden dürfte. Sie findet ihr eminentes Analogon im Denken Augustine: Auch er geht auf die Wahrheit des Ich zurück, in der Abkehr von allem täuschenden Außen — und eben in seiner Gewißheit, getäuscht zu werden, seiner selbst gewiß: „Si enim fallor, sum"^®. Und auch für ihn ist diese Erkenntnis des Ich in seinem wahren Sein erst möglich aufgrund vorgängiger Erkenntnis seines Grundes^'. Aufgrund dieser Präfigurati on cartesianischen Denkens bei Augustin ist es dann aber durchaus verständlich, daß ein Forscher wie Gilson Descartes lediglich als „un cas peculier . . . de la renaissance augustinienne qui caractérise le début du XVII® siècle français" zu bezeichnen vermochte^®. Von hier aus gesehen erhält das Denken Descartes' aber noch größere theologische Relevanz, als in unseren bisherigen Ausführungen sichtbar werden konnte. Gewiß, zwischen ihm und Augustin bestehen Unterschiede. Für letzteren ist der Schritt in den Zweifel ein Schritt an der Peripherie; denn das Zentrum ist stets Gott selbst — jener Gott, welcher nach dem bisher Gesagten bei Descartes zum logischen Mittel herabgesunken ist^®. Aber bleibt Descartes gänzlich auf die logische Methode beschränkt? Es will doch beachtet sein, daß zum einen es sich dort, wo Descartes von Gott spricht, auch immer zugleich um den wirklichen, d.h. von ihm gläubig als „seiend" angenommenen Gott handelt, zum anderen aber — und das ist noch wichtiger — haben wir erkennen können, welchen Wesens dieser wirkliche Gott für Descartes ist: Ist er am Anfang auch logisches Objekt, so verwandelt er sich doch am Ende — aufgrund dessen, daß selbst der Zweifel des Menschen, in dessen „Sein" der Mensch eine autonome Wahrheit gefunden zu haben vermeint, erst von dem alles auflichtenden Gott her überhaupt als Zweifel erkannt werden kann — zugleich auch in das Subjekt des Ich^°. «
Weischedel, aaO S. 1 7 0 .
Vgl. E. Gilson—Ph. Böhner, Geschichte der christlichen Philosophie, Paderborn 1 9 5 4 , S. 1 7 1 f (zit.: G i l s o n - B ö h n e r ) . Vgl. G. Krüger, Die Herkunft des philosophischen Selbstbewußtseins (in: Freiheit und Weltverwaltung, Aufsätze, Freiburg/München 1 9 5 8 ) , S. 2 0 (zit.: Krüger). in: Études sur le Rôle de la Pensée médiévale dans la F o r m a t i o n du Système Cartésien, Paris 1 9 5 1 , S. 2 6 2 (zit.: Gilson). 29 Krüger, aaO S. 2 0 . » Vgl. Delekat, aaO S. 2 7 6 f , Anm. 2.
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Das aber besagt: die unilineare logische Methode schlägt um in die Dialektik religiöser Erfahrung. Der Mensch, welcher sich, um zu erkennen, auf Gott gewiesen sieht, erfährt sich zugleich in dem, was ihn eigentlich konstituiert, von ihm gegründet und getragen. J a , dieses religiöse Element vermag bei Descartes sogar so weit zu gehen, daß auch der Blick auf Gott bisweilen nicht mehr allein als erkenntnistheoretisch-notwendiger verstanden wird, sondern zugleich von religiöser Bewegung getragen ist — und zwar einer solchen, welche derjenigen der Mystik recht nahekommt: Das Ich wendet sich zu Gott in der Betrachtung der unvergleichlichen Schönheit dieses unermeßlichen Lichtes, um die Seligkeit des zukünftigen Lebens — wenn auch nur in unvollkommener Weise — in dieser Welt schon vorwegzunehmen ^^ Diese religiöse Erfahrung hat aber auch in der cartesianischen Ontologie ihren Niederschlag gefunden: Der Substanzbegriff als die ontologische Deutung der cogitatio ist nicht aufgegeben. Das Ich, welches Descartes auf dem Wege der Abstraktion erreicht hat, ist dennoch kein toter Punkt, sondern lebendig, wirksam. Es drängt, sich seiner Leere bewußt, über sich hinaus. Es weiß einerseits bereits um seinen Grund — wie Descartes auch ganz im scholastischen Sinne Gott als den Träger der Substanz, mithin auch der cogitatio, interpretiert hat^^ — es erfährt sich aber zugleich auch auf diesen Grund zurückgetrieben. Hier ist in der Tat der Punkt erreicht, an welchem das „philosophisch"-autonome Ich Descartes' zum „mystischen" Ich wird, ja, wenn man Delekat folgt^^, der Gedanke des Seelenfunkens sichtbar wird. Ist dem freilich so, dann ist bereits dem Poiret der Cogitationes Rationales von 1677 ein Begriffsinstrumentarium in die Hand gegeben, welches seiner Intention nach zwar als „rationalistisch" definiert werden muß (wie auch Descartes sich grundsätzlich von Augustin distanziert hat^"*), von welchem aber realiter sowohl starke mystische Impulse auszugehen vermögen, welches darüberhinaus aber aüch in hohem Maße sowohl mystischer Deutung als auch mystischer Füllung zugänglich ist. Und in der Tat wird allerorts sichtbar, daß in den Cogitationes Rationales zwar noch ein rationalistisches Element vorhanden ist — sofern es auch im Denken Descartes' besteht —, im entscheidenden aber Descartes mystisch interpretiert wird, nämlich mit Hilfe des seinem Denken innewohnenden ,,augustinischen" Elementes: vermittels der Durchbrechung der cartesianischen Methode durch den mystisch-kontemplativen 31 32 33 34
Oeuvres VII, S. 52. AaO VII, S. 13f. AaO S. 275. Vgl. Gilson, aaO S. 2 5 9 .
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Impuls, vermittels des Drängens des Ich zur Gottschau — ja, vor allem auch, wie sich im weiteren Verlauf unserer Untersuchung zeigen wird, durch die Dialektik der religiösen Erfahrung, welche wir zumindest ansatzweise auch bei Descartes erkennen konnten: Das Ich will zu Gott, aber es erfährt sich zugleich auch schon immer als von ihm herkommend. Dieses poiretianische Verständnis Descartes', dieses Drängen und Bohren der cogitatio, zu ihrem Grund zurückzukehren, wird bereits im Ansatz der Cogitationes Rationales sichtbar, d.h. im analytischen Fortschreiten unseres Theologen von der Körper- und Sinnenwelt über die Welt der Vorstellungen hin zum reinen Denken. Dort, wo bei Descartes die gelassene Deduktion des wahren Ich aus dem täuschenden Außen steht, führt Poiret Polemik: gegen den Sensualismus eines Locke, den terministischen Agnostizismus eines Hobbes, schHeßlich gegen die pantheisierenden Tendenzen eines Malebranche, mithin gegen solche Denker, welche dem cartesianischen Erkenntnisprinzip widersprechen. Dieser Befund an sich besagt noch nicht besonders viel: Hier mischt sich auch Schulstreit ein; verteidigt Poiret doch des öfteren seine Thesen mit Verweisen auf seinen Lehrer Descartes Wichtiger ist vielmehr, daß neben dieser (allgemein üblichen) philosophischen Kontroverse und ihren Argumenten und Gegenargumenten immer auch jener bei Descartes nur realiter, nicht aber auch intentionaliter vorhandene kontemplative Impuls steht, ja, daß dieser das eigentliche movens ist: Letztlich, so können wir sehr bald erkennen, geht es unserem Theologen gar nicht um erkenntnistheoretische Reflexion, sondern um die existentielle Beseitigung all dessen, was sich dem Weg ins Innen entgegenstellt. Denn am Ende steht für Poiret — zwar auch der cartesianische Punkt des reinen Denkens; aber für ihn ist es eben mehr als nur ein Punkt im Sinne cartesianischer Abstraktion, sondern vor allem — im Sinne augustinischer und auch cartesianischer Erfahrung — der Punkt, an welchem zugleich Erleuchtung zu geschehen vermag, Erkenntnis des Selbst nicht mehr im Sinne des philosophischen Regresses, sondern kraft göttlichen Tuns. Das aber besagt: Der Eros des Philosophen wandelt sich in die Agape des Theologen; das Geschöpf will Begegnung mit seinem Schöpfer. Ist dies freilich Poirets Deutung dessen, was für Descartes die substantia cogitans ist, dann lebt unser Theologe in der Tat schon ganz aus jenem Bewußtsein heraus, in einem Kreis zu stehen, welcher in Gott anhebt und zu ihm zurückführt. Damit aber stehen wir zugleich vor einem Sachverhalt, welcher für die gesamte weitere Entwicklung Poirets von höchster Bedeutung ist. 35 Vgl. Cog. Rat. 1677, S. 14, 15, 31 u.ö.
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Fragen wir nunmehr nach diesem elementar-religiösen Element in den Cogitationes Rationales im einzelnen, so finden wir es bereits am Anfang der Schrift: Gewiß steht methodisch die Abstraktion des wahren Ich von allem Außen voran (Poirets Weise, sich dem Inneren zu nähern, ist ja cartesianisch). Zweck des Buches ist aber die cognitio rerum spiritualium Ist sie es jedoch, auf welche Poirets Denkbewegung hin abzielt und welche es zu erlangen gilt, dann ist in der Tat der Weg zum Innen nicht mehr vom philosophischen Erkenntnisdrang her motiviert, sondern geistlicher Natur. Damit aber steht alles Kommende, d.h. die Beschreibung des Weges zu dieser Erkenntnis, nicht mehr unter dem Vorzeichen der methodisch-notwendigen Abstraktion, sondern der Entäußerung·. Der Mensch wendet sich von allem ab, was nicht zu den res spirituales gehört. Diese Entäußerung beginnt bei den Sinnen. Können sie zur Wahrheitserkenntnis beitragen, d.h. können sie (wie Poirets Gegner Locke meint^^) eine gesicherte Kenntnis des Außen schaffen? Zweifellos nicht: ,,Νοη enim dati sunt sensus corporei . . . ad veritatis rerum cognitionem, quae intellectus, non sensuum est objectum: sed ut organorum corporeorum systema servaretur"^®. Der cartesianischen Methode, sich dem reinen Ich zu nähern, ist damit Genüge getan: Philosophisch wäre nichts mehr hinzuzufügen. Nunmehr setzt jedoch Poirets religiöses Bewußtsein ein: In Wirklichkeit, so erkennt er, steht es um die Sinne noch ganz anders. Sie tragen nicht nur nichts zur Wahrheitserkenntnis bei, sondern sie hindern den Menschen geradezu daran, zur Wahrheit zu gelangen — vor allem zu derjenigen Wahrheit, welche die schlechterdings entscheidende ist: zur göttlichen Wahrheit. Die Sinne tragen den Charakter der Verführung; sie besitzen die Tendenz, den Menschen von den geistlichen Dingen „abzurufen" (evocare), indem sie ihn erneut mit dem Außen (und für Poiret einem sehr sinnenhaften Außen: mit Farben, Worten, Klängen) verbinden, d.h. gar nicht zu seinem Innen kommen lassen Damit aber zeigt sich, wie sehr Poiret bereits hier, wo es erst um die erste Stufe des Weges zum reinen Ich geht, bestrebt ist, alles auf die endgültige Begegnung der Seele mit Gott („ihrem Schöpfer", wie es in diesem Zu-
36 AaO S. 4. Vgl. These V in „Fides et Ratio Collatae", S. 4: „A Truth may be discovered by God, either mediately by signs, made to the sense or imagination; or without any, immediately to the understanding". 38 Cog.Rat. 1677, S. 12. 39 AaO S. 13.
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sammenhang heißt"*") hin abzuheben. Zu dieser Begegnung drängt sein Denken hin, alles andere weist er von sich. Ein ganz ähnlicher Entäußerungsprozeß auf dem Wege ins Innen vollzieht sich aber auch auf der Ebene der Vorstellungen. Gewiß hat auch dieser Denkakt cartesianisch-methodologische Voraussetzungen wie sein Analogon im Bereich der Sinnenwelt — das wahre Ich erweist sich dadurch, daß es auch von dieser zweiten, weiterführenden Abstraktion nicht berührt wird, als auf einer ontologisch noch „tieferen" Schicht befindlich: „possibile enim est mihi concipere, me cogitante nulla existere corpora, spatia et similia, vel posse ea non existere; ita ut mei de me cogitante cognitio non idcirco fiat incertior"^'. Aber auch hier zeigt sich sogleich wieder die Dialektik der religiösen Erfahrung: Erneut geht es Poiret nicht allein um die Analyse einer menschlichen Schicht, sondern besonders auch um ihre Wertung: Auch die Welt der Vorstellungen ist letztlich etwas, das den Menschen von seinem Ursprung femhält — mag dieser auch „aus Gewohnheit'"*^ so an die Ideen gebunden sein, daß sie zur Bildung von Erkenntnissen über das Außen nachgerade notwendig geworden sind. Will der Mensch aber wieder zu Gott zurückkehren, so sind sie zu beseitigen: „Impossibile est ut Dei . . . habeatur notitia, ideaque distincta, quamdiu mens non liberabitur ab ideis imaginariis sive corporeis'"*^ — mehr noch, letztlich, so vermerkt Poiret, ist ihre Existenz ein Zeichen der corruptio humana'*^. Betreffen die bisher angeführten Gedankengänge den Weg vom Außen ins Innen, so lassen sich hinsichtUch des Zieles sehr ähnliche Beobachtungen treffen. Das V. Kapitel in Buch I redet hier eine deutliche Sprache. Auch hier führt unser Theologe Polemik. Nunmehr freilich führt sie in eine andere Richtung. Sie zielt auf das Verständnis des Innen selbst. Angeredet ist Henry More. Mores Thesen im einzelnen zu erörtern — dazu ist hier nicht der Ort. Wichtig ist: Auch er hat — bereits als Schüler Descartes' — ein Wissen um das Innen. Aber was ihn von seinem Lehrer trennt, ist von entscheidender Bedeutung: More überträgt Descartes' Begriff der extensio auch auf die Seele; auch sie ist substantia extensa'*^, d.h. ist — 40 Ebd. 4» AaO S. 17. „ex consuetudine", aaO S. 15. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Vgl. Opera Omnia, Bd. I h , London 1679, S. 399.
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wenn auch in mehr oder weniger metaphorischem Sinne — lokalisierbar geworden^®. Was für Poiret im Seelenverständnis Mores geschehen ist, ist naturgemäß wiederum das, was unser Theologe bereits als das Kernproblem des Weges in das Innen erkannt hat: die Gefährdung des Innen durch das Außen. Auch hier argumentiert Poiret durchaus auch philosophisch. Das Hauptargument gegen More bietet dabei die Empirie: Die menschliche Seele ist keine meßbare Größe, wie jedermann weiß^^, und das gleiche gilt für die Weisen, in welchen sie sich manifestiert. Oder könnte man etwa sagen, ein Urteil oder ein Gefühl seien durch bestimmte Maße, etwa ein Längenmaß, zu erfassen^®? Aber auch hier fordert wiederum alle Beachtung, daß zugleich die religiöse Erfahrung eine entscheidende Rolle in Poirets Polemik gegen More spielt. Letztlich, so können wir erkennen, ist gar nicht der Philosoph Poiret der entscheidende Gegner Mores, sondern der h o m o religiosus, derjenige, welcher zwar auch philosophisch zu argumentieren weiß, der aber in seiner Wendung gegen More vor allem durch die von Augustin her vermittelte Erfahrung von der Unräumlichkeit aller Wahrheit bestimmt ist. Diese Erfahrung aber wird laut als das Bekenntnis eines Menschen, der die Oberfläche, Ort und Raum, schon weit hinter sich gelassen hat. Unser Theologe drückt sie aus mit den Worten Augustins: „Ego . . . incrassatus corde ..., quicquid non per aliquanta spatia tenderetur . . . nihil prorsus esse arbitrabar'"*®. Somit zeigt sich in der Tat, daß auf allen Stufen der Abstraktion zum reinen Ich hin das cartesianische Element zwar vorhanden ist, das movens dieser Abstraktion aber die religiöse Erfahrung ist. Indes hat Poiret, um diese religiöse Erfahrung zu beschreiben, bereits in den Cogitationes Rationales noch zu weiterführenden Aussagen gefunden, als wir sie bisher von ihm vernommen haben — dort nämlich, wo er jenes Innen, welches das Ziel der Abstraktion, der Entäußerung des Ich ist, nicht wie in den zuletzt in den Blick genommenen Ausführungen unter dem Aspekt der Polemik betrachtet, sondern sein Wesen positiv zu entfalten sucht. Was ist dieses reine Innen also?
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More spricht etwa von den „dimensiones animae" (ebd.) Cog.Rat. 1677, S. 20f. AaO S. 23. AaO S. 20.
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Wir müssen sagen: Es ist eben der Punkt, an welchem das von allem Außen befreite Ich unmittelbar auf Gott zustürzt, um in ihm seine Ruhe zu finden: „remanet . . . Cogitatio tendens ad aliquam formam qua impleatur, ad aliquod ubi acquiescat . . . id est, supersunt Intellectus et Amor, sive, Quaestio intelligens acquiescentiae"^". Dieses Ich ist aber zugleich ein solches, das in seinem Begehren auch immer schon von Gott herkommt: „Deus me fecit talis naturae, ut quod optandum est, quod amplectendum tanquam bonum, debeat 1. a me nosci, 2. ut ejus notitia excitet sensum gratum, allicientem, pellentem me ad id"^'. Damit aber stehen wir noch einmal an jenem höchst dialektischen Punkt, an welchem Anfang und Ende des Denkweges zusammenfallen, an welchem die Kreisbewegung aller religiösen Erfahrung sichtbar wird: Gott erweist sich als weg-stiftend und weg-vollendend zugleich; er schafft den Menschen auf sich hin, um ihn am Ende auch mit seiner Fülle zu beschenken. Es geht freilich bei alledem noch um mehr als allein die Erfahrung, von Gott und zu Gott geschaffen zu sein. Was hinter den bisher analysierten Ausführungen Poirets steht, ist vielmehr zugleich schon eine mystische Methodologie in nuce — eben aufgrund der Tatsache, daß der Weg von Gott her zu Gott hin ein Weg der Entäußerung ist bzw. sein muß, will er zu seinem Ziel kommen. Nur auf ihm kann das zu Gott geschaffene Ich auch in der Tat zu Gott zurückfinden. Ja, es finden sich innerhalb der Cogitationes Rationales bereits Stellen, welche schon mehr sind als der bloße „Keim" einer mystischen Methode. An ihnen erscheint vielmehr diese Methode bereits zum System hin definiert — eben im Sinne der quietistischen Mystik, jener Lehre vom Weg ins Innen also, welche wir später in der Oeconomie Divine in ihrer vollen Entfaltung finden werden: Was geschieht dort, wo jener Punkt erreicht ist, an welchem sich die Seele in der unmittelbaren Begegnung mit Gott erfährt? Von Seiten des Menschen aus — nichts. Gott allein handelt. Dem hat der Mensch nichts hinzuzufügen: „innúmera quae mihi accidere possunt . . . indifferenter spectanda sunt, atque . . . ita excipienda, ut ne velimus quidem . . . cupere quicquam mutare . . . quamvis paratos nos esse deceat contrarium quoque experiri, si Deo id videretur" Damit aber tritt zugleich auch ein weiterer Grundzug des poiretianischen Denkens zumindest ansatzweise an die Oberfläche: der Voluntarismus unseres Theologen. Denn was ist dieser Weg von Gott her zu Gott hin durch aller Hindernisse des Außen hindurch anderes als ein großer Akt AaO S. 70 '' AaO S. 83. " AaO S. 86.
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des Willens, der schließlich dann zur Ruhe gelangt, wenn der Weg abgeschritten ist und Gott selbst zu wirken anhebt? Was ist er anders als ein Akt, in welchem der menschliche Wille schließlich in den göttlichen Willen mündet, indem er zu einem völligen Desinteresse an dem wird, was der Seele vom Außen der Welt her noch zu begegnen vermöchte? Gewiß ist dieser Impetus poiretianischen Denkens an unserer Stelle (wie überhaupt in den Cogitationes Rationales) noch recht unentfaltet. Aber von diesen Einsichten in die Grundstruktur der Seele nimmt es keineswegs wunder, daß in der Folgezeit Begriffe wie ,,desiderare", „quaerere" usw. auf der einen Seite und „acquiescentia" usw. auf der anderen Seite, die, wie wir gesehen haben, bereits in den Cogitationes Rationales von 1677 zu finden sind, eine immer größere Rolle im Denken unseres Theologen spielen werden, bis am Ende ein voll entfaltetes quietistisch-mystisches System zum Vorschein kommt. Aber noch ein weiteres, für die spätere Entwicklung der Theologie Poirets höchst bedeutsames Moment ist in dieser mystischen Deutung des cartesianischen Weges in das Innen und der Deutung seines Zieles angelegt: Die Möglichkeit der Einkehr des Menschen in sein Innen kennt Stufungen gemäß seinem Verhalten gegenüber dem Außen. Anders ausgedrückt, je weniger der Mensch dem Außen Beachtung widmet, desto größer ist auch seine Möglichkeit, seinem Innen, der Begegnung mit Gott und seinem Wirken ganz nahe zu kommen. Freilich, dieses Außen besitzt Macht. Schon die Sinne tragen den Charakter der Verführung, wie wir sahen; und auch die Welt der Vorstellungen ist letztlich ein Hindernis für den Menschen nach innen zu kommen. Aber unser Theologe geht noch einen Schritt weiter: Das Streben des Menschen nach Gott ist noch auf eine viel subtilere Weise als durch die Sinne und Vorstellungen gefährdet — nämlich durch die Fähigkeit des Ich, sich selbst in seiner Begegnung mit Gott noch zu reflektieren, ja, an ihr Gefallen zu finden. Das aber bedeutet nichts anderes als Selbstvergötterung, geistlicher Hochmut; denn ein Ich, das an sich selbst Gefallen findet, ist nicht mehr bei Gott; seine Ruhe in ihm hat sich in die Ruhe in sich selbst verwandelt So wird bereits in den Cogitationes Rationales von 1677 jene antirationale Wendung sichtbar, welche in allen weiteren Werken unseres Theologen eine so beherrschende Rolle spielen wird: Wer sich ganz auf das Wirken Gottes in seiner Seele einstellen will, der muß auf alle Spekulation verzichten AaO S. 83. ^ Vgl. auch aaO S. 76. 5 Krieg, Kreis
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Fassen wir nun das bisher Dargestellte zusammen, so zeigt sich, daß bereits dort, wo Poiret sich noch in seiner Denkmethode auf dem Boden cartesianischer Philosophie befindet, letztlich seine Übereinstimmung mit Descartes — sofern nicht dieser selbst bereits Anknüpfungspunkte zur Mystik bietet — recht oberflächlich ist: Überall bricht das Element der religiösen Erfahrung durch — bisweilen so heftig, daß es sachlich gegenüber der rein-philosophischen Argumentation unseres Theologen das Übergewicht erhält. Mit alledem ist freilich erst der Ansatz der Cogitationes Rationales beschrieben. Diese Schrift führt ja noch weiter — eben zu einer umfassenderen Darstellung des Wesens Gottes und der Seele und beider Eigenschaften. Diese aber enthält eine Reihe von Momenten, welche sich für das Denken unseres Theologen — besonders unter dem Gesichtspunkt seiner weiteren Entwicklung — als äußerst bedeutsam erweisen werden.
Einzelfragen Gott und die Seele — im Sinne der Analogie beider sind beide cogitatio. In diesem Begriff ist für Poiret ihr Wesen am prägnantesten umgriffen — er ist mithin auch, wie wir sehen werden, derjenige Terminus, von welchem unser Theologe ausgeht, diese beiden Pole des Seienden weiter zu beschreiben. Wie vollzieht sich diese Beschreibung? Wir müssen sagen, formahter wiederum im cartesianischen Sinne: Da die Seele die Fähigkeit hat, über sich hinauszuschreiten hin zu ihrem göttlichen Analogon, kann sie sich diese Fähigkeit theologisch gleichsam zunutze machen, um zu weiteren Gedanken und Einsichten vorzustoßen; sie vermag dies dergestalt, daß sie auf sich blickt, auf ihre Denksubstanz, und von hier aus, sich überschreitend, das göttliche Wesen und seine Eigenschaften betrachtet. In diesem Sinne erneuert Poiret am Anfang des all diese Gedankengänge entfaltenden Buches III seinen Ansatz ausdrücklich: „ut . . . quae de Deo dicenda sunt, illustrentur, ad mentem nostram reflectere debemus, ut ex iis quae in illa contemplabimur, ad Dei perfectiones considerandas deducamur®®. Nichtsdestoweniger zeigt eben dieses Buch III der Cogitationes Rationales erneut, wie sehr jener cartesianische Ansatz das rationale Gewand der religiösen Erfahrung ist. Wiederum entbirgt die cartesianische Methode die Dialektik jener. Das Prae der Seele im Denkprozeß ist weiterAaO S. 88.
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hin nur ein philosophisch-methodologisches; das theologisch-ontologische Prae ist weiterhin Gott selbst. Freihch ist Poirets Betrachtung Gottes und der Seele nicht allein durch die cartesianische Methode und die jene brechende religiöse Erfahrung bestimmt. Zugleich meldet sich auch die calvinistische Schulung unseres Theologen zu Wort: Die Begriffe, mit welchen er die verschiedenen Weisen der cogitatio humana und der cogitatio divina zu umschreiben sucht, sind nichts als diejenigen, welche ihm aus der reformierten Tradition als Attribute Gottes überkommen sind. Poiret macht sie sich zueigen, indem er sie einerseits im Modus der Defizienz versteht und somit auf die Seele übertragen kann und zum anderen eben in dem auch von der kirchlichen Theologie intendierten Sinn verwendet^®. Welche Begriffe gehören hierher? Man muß sagen, so gut wie alle, welche unser Theologe zur Entfaltung des Wesens Gottes und der Seele hinzuzieht: derjenige der spiritualitas, derjenige der vita, der Begriff der sufficientia, der incomprehensibilitas, der intelligentia, der unitas, der bonitas, der felicitas, der potentia, der cognitio, der sapientia, der aeternitas, der simplicitas, der libertas, der justitia, der veracitas, der sanctitas, der infinitas, der gloria. Weniger in der reformierten Tradition eingebürgert scheinen Begriffe wie activitas und dominium (bzw. jus) absolutum, wiewohl sie der Sache nach in der reformierten Theologie von hoher Bedeutung sind. Fragen wir, woher Poiret sie übernommen hat, so scheint er zumindest den letzteren Terminus aus dem Begriff der potentia absoluta heraus entwickelt zu haben, denn zumindest an einer Stelle wird dieser mit jenem identifiziert — und der Gedanke der potentia absoluta Gottes wiederum hat einen festen Ort innerhalb der reformierten Gotteslehre (man denke nur an einen Theologen wie Heidegger®^). Ganz ohne Bedeutung in der reformierten Theologie sind dagegen die Begriffe der altitudo und constantia Dei; ein ähnliches gilt auch für den Begriff der impassibilitas. Eine Sonderstellung nimmt schließlich der Begriff der immortalitas ein. Hier zielt bei Poiret alles auf die Immortalitas animae ab (ganz in Analogie zum kirchlichen Dogma). Immortalitas als Gottesattribut ist für ihn bedeutungslos: „Quicquid de Immortalitate Dei . . . dicendum est; cum per se pateat; verbo annotare sufficiet"^®. Vgl. zum folgenden Buch III der Cog.Rat. 1677. Zur Identifikation von dominium absolutum und potentia absoluta vgl. Cog.Rat. 1 6 7 7 , S. 146; zum Begriff der potentia absoluta bei Heidegger vgl. H. Heppe, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt. Neu durchgesehen und herausgegeben von E. Bizer, Neukirchen 1958, S. 63 (zit.: Heppe-Bizer). 58 Cog.Rat. 1677, S. 2 4 4 . 67
Zu einer umfassenderen Analyse der Details ist hier nicht der Ort. Die Beschreibung der Einzelaussagen Poirets hat im übrigen auch schon Fleischer gegeben Entscheidender ist eine Analyse der verschiedenen Aussagen im Blick auf die Gesamtentwicklung des Denkens unseres Theologen. Von hier aus gesehen erweist sich im Blick auf Poirets spätere Werke, vor allem die Oeconomie Divine und sein systematisches Spätwerk, die Schrift gegen Pungeler, verschiedenes als peripher, auch solches, das für die kirchliche Lehre von Bedeutung ist: so der Begriff des Lebens Gottes wie der Seele. Was dieser Begriff für Poiret besagt, hat dieser allerdings überall durchgehalten — in trinitarisch-dialektischen Formulierungen zur Beschreibung Gottes und der Seele und ihrer inneren Bewegung. Von hier aus gesehen, konnte er den Begriff als solchen bald fallenlassen. Desgleichen bedeutungslos geblieben sind indes auch die Begriffe der infinitas, aeternitas, veracitas und gloria. Auch der Begriff der sanctitas spielt außerhalb der Cogitationes Rationales nur eine geringe Rolle. Selbst die Oeconomie Divine beschränkt sich auf Andeutungen und einen Rückverweis auf das poiretianische Frühwerk®". Andere Begriffe dagegen haben unseren Theologen durch sein ganzes Schrifttum hindurch begleitet; auch wenn er sie ausdrücklich nicht mehr in das Zentrum seiner Reflexion stellt, so sind sie implizit oder explizit überall vorhanden und bestimmen sein Denken durch und durch: Es sind diejenigen, welche auf Poirets Durchdrungensein von der Erfahrung der Aseität und Selbstgenügsamkeit Gottes verweisen, zugleich aber auch auf Gottes Freiheit, ja Indifferenz gegenüber allem, was nicht er-selbst ist, und den Gedanken der menschlichen Abhängigkeit von ihm, seinem Willen und Tun. Besonders deutlich wird diese Bewegung des poiretianischen Denkens in Poirets Verständnis der Begriffe der sufficientia, activitas, felicitas, der unitas und des dominium absolutum. Von welcher Seite das Denken unseres Theologen hier geprägt ist, liegt auf der Hand: durch die Gotteslehre der Spätscholastik in ihrer Adaption und Vermittlung durch die reformierte Theologie. So ist etwa ganz bezeichnend, wie auch Poirets Baseler Lehrer Wettstein selbst in einer so kurzen Abhandlung wie der die göttlichen Eigenschaften behandelnden Disputatio IV von 1635 Thesen über das schlechthinnige Anderssein Gottes und die göttliche Transzendenz in das Zentrum seiner Ausführungen stellt®'.
59 AaO S. 11 ff. «0 Oeconomiae Divinae Libri Sex, Frankfurt 1 7 0 5 , Bd. I, S. 31 (zit.: Oec.Div. I). 61 These II und III.
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Allerdings ist hier auch wieder Descartes zu nennen: Auch sein Gottesbild ist wesentlich von der Spätscholastik her geprägt — bis in Konsequenzen hinein, aufgrund derer die göttliche Allmacht als Willkür verstanden zu werden droht. Somit ist in der Tat Poiret in der Frage des Gottesverständnisses ein genuiner Schüler seiner geistigen Umgebung. Im Detail entfaltet wird diese Dimension poiretianischen Gottes- und Seelen Verständnisses — ganz im Sinne des Überschreitens von der cogitatio humana zur cogitatio divina — zunächst vor allem am Begriff der sufficientia; d.h. es stellt sich unserem Theologen die Frage nach der Begründung des Seienden, und zwar unter dem Aspekt des menschhchen Seins; im Sinne Poirets noch konkreter formuliert: Es geht um die Frage nach dem Grund des menschlichen Seins als eines solchen, das schlechterdings seinem Wesen nach Denken ist; denn „Nil magis naturale et obvium est quam ubi quid esse percipitur, ejus causam sive rationem postulare"®^. „ I s t " die cogitatio aus sich selbst heraus, sich selbst genügend oder nicht? Die Antwort, welche unser Theologe gibt, stellt von vornherein seine religiöse Erfahrung in ein helles Licht; er erkennt: Sobald das Ich in sich hineinschaut, das Denken nach sich selbst fragt, findet es sich in keiner Weise sich selbst geni^end. Den Grund seines Seins hat es in der Tat nicht; es hat zwar ,Wesen', aber im Sinne der Teilhabe: ,,Existentia mea non necessario juncta est essentiae meae"®^ Mit anderen Worten, bereits im Schauen auf sich selbst erfährt sich das Ich ganz von einem anderen abhängig: „semper alterius opus sum, ab aliena potentia et volúntate, non vero a mea, plane d e p e n d e n s " ^ . Damit freilich ist sachlich der Gottesbegriff bereits im Spiel, bevor unser Theologe den methodischen Überschritt von der cogitatio humana zur cogitatio divina unternommen hat. Das Ich weiß sich bereits von einem Außen gegründet, ohne daß dieses Außen bisher ausdrücklich in das Blickfeld getreten wäre. Vollzogen wird jener Überschritt von der Betrachtung der Seele zur Betrachtung Gottes erst in einer Aussage wie der folgenden: „ex horum consideratione (d.h. aus der Betrachtung der Kontingenz der cogitatio humana) ad Deum, Cogitationem illam summam, transiens, . . . novi eum esse existentiae meae rationem et causam"^®. Und fragen wir dabei nach der Weise, wie Poiret diesen Überschritt im einzelnen vollzieht, d.h. wie er den Begriff der sufficientia auf Gott überträgt, so zeigt sich, «2 Cog.Rat. 1677, S. 94. « AaO S. 97. AaO S. 98. «5 AaO S. 99.
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daß dies ganz in der Weise der kirchlichen Tradition geschieht: „(Deus est) a se positive, quae ejus Sufficientia est"®®. In Gott ist mithin auch das, was im Menschen getrennt ist, Essenz und Existenz, geeint. So vermag Poiret — im Blick auf Ex 3,14 und somit in der Nachfolge alter Tradition (man denke nur an Thomas®'') — zu schreiben: „Sum, hoc est, mea essentia, qui sum, id est, est ut existam, est mea existentia, est ilia quae ab existentia est inseparabilis"®®. Unser Theologe hat freilich den Begriff der sufficientia und das, was er besagt, noch von anderer Seite zu beleuchten unternommen, und zwar durch die Analyse verwandter, ihn ergänzender Begriffe: Hierher gehören die Termini der activitas und der felicitas. Dabei steht ersterer Begriff demjenigen der sufficientia am nächsten. Natürlich geht Poiret auch in der Analyse des Begriffes der activitas wieder von einer Betrachtung der Seele aus: Sofern sie cogitatio ist, ist sie auch „tätig". In ihrer „Tätigkeit" aktualisiert sie ihre Substanz. Freilich (und hier tritt Poirets religiöse Erfahrung sogleich wieder hervor), dieses Denken, diese Tätigkeit, in welcher die Seele ihr Sein manifestiert, ist nicht autonom, sondern von Gott her bestimmt; was sie besitzt, sind nur eine ,.memoria spiritualis"®^ und „habitus spirituales, qui sunt aptitudo cogitationis ad recipiendam . . . formam". Sofern die cogitatio zugleich activitas bedeutet, dann nur eine solche der Rezeption; könnte es auch anders sein, wo sie doch in ihrem ganzen Sein nur aus der Teilhabe heraus „ist"? „Cum animadverti . . . me, sive Cogitationem meam a se non esse, sed a Deo, concludendum reliqui me esse ex natura mea rem vere passivam, sive aliunde recipientem"'"'. Damit ist der formal-methodische Überschritt zu Gott, wie er auch in diesem Abschnitt naturgemäß von Poiret vollzogen wird, sachlich wiederum von der Erfahrung des göttlichen Prae überholt: Auch hier kann Poiret das Wesen der Seele wiederum nicht allein aus dieser selbst heraus definieren, sondern bereits nur sub specie Dei. Dennoch ist auch Poirets Beschreibung der activitas divina, welche er seinen Ausführungen über die Tätigkeit der Seele folgen läßt, von einigem Interesse; denn auch hier wird wieder recht anschaulich, wie unser Theologe einerseits seinen Ansatz im Gottesbegriff — eben die Definition Gottes als cogitatio — durchzuhalten sucht, andererseits aber .
66 67 68 69 w
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Ebd. S.c.G. I, 22. Cog.Rat. 1677, S. 100. AaO S. 102. Ebd.
auch auf die kirchliche Tradition und das in ihr gebotene Denkmaterial nicht verzichten will. Zunächst, ist die cogitatio humana von Gott abhängig, dann ist Gott, die cogitatio divina, das Denken seiner selbst. Er ist in seinem Denken von keinem Außen abhängig. Alle Möglichkeiten des Denkens sind in ihm zugleich wirklich. Damit aber kann Poiret — mit der kirchlichen Tradition — Gott zugleich auch als actus purus bezeichnen, nur daß bei ihm dieser Begriff nicht (wie bei Thomas) allein auf das Widerspiel von Möglichkeit und Wirklichkeit hin abhebt, sondern, wie das folgende Zitat zeigen wird, durch die Einführung des Begriffes der cogitatio seine eigentümliche, für Poiret typische Färbung erhält: „in (Deo) percipio[;] non facultates, non memoriam intellectualem . . . , non habitus, non recipiendi in se capacitatem ullam: Sed ut purus actus a me concipitur . . . Cogitatio mera omnia sibi convenientia actu includit et a se habet" 1st also die sufficientia Gottes des näheren speziell als sufficientia cogitandi interpretiert, so ordnet sich diesem Gedanken — gleichsam zur Beschreibung des ,psychologischen' Aspektes aller activitas — der Begriff der felicitas ein. Auch hier liegt naturgemäß der Ansatz der poiretianischen Ausführungen bei einer Betrachtung der Seele: Wann kann ihr felicitas zukommen? Unser Theologe antwortet: dann, wenn sie die Möglichkeit hat, die Dinge der Welt auf die angemessenste Weise zu integrieren. Freilich findet sie diese Möglichkeit nicht: „experior, me ne quidem eo attingere perfectionis, ut res istas, ab alio quam a me statutas . . . in me possim ponere, illisque adeo frui ut vellem"''^. Mit dieser letzteren Aussage deutet sich indes implizit auch bereits wieder das religiöse Bewußtsein Poirets an: Felicitas liegt erst da vor, wo fruitio besteht, d.h. — und dieser Gedanke ist ganz a u g u s t i n i s c h — Liebe zu den Dingen der Welt. Warum aber kann das Ich diese Liebe nicht aufbringen? Poiret antwortet: eben deshalb, weil der Liebe zu den Dingen die Liebe zu Gott voraufgehen muß. Erst, wenn die cogitatio humana ganz von der cogitatio divina erfüllt ist, ist ihr auch eine angemessene Begegnung mit den Dingen möglich. Dieses Erfülltsein des Ich mit Gott liegt aber außerhalb der Realität, mithin auch das rechte „Genießen" der Dinge: „Novi etenim et sentio, cogitationem meam non sic Deo impleri, eoque frui uti equidem id (= fruitio rerum) fieri possit"'''*. Mit letzteren Gedankengängen ist die religiöse Erfahrung Poirets wiederum voll zum Ebd. •72 AaO S. 140. Gilson-Böhner, aaO S. 221. •M Cog.Rat. 1677, S. 140.
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Durchbrach gekommen: Die rechte Betrachtung der Seele hat sich wiederum als unmöglich erwiesen, wo nicht bereits ein Wissen um das göttliche Wesen vorliegt. Wiederum ist also der folgende Überschritt zur Betrachtung der felicitas Gottes formaler Natur; denn bereits das Reden von der menschlichen felicitas k o m m t von Gott her: Die unilineare cartesianische Methode wandelt sich wiederum in den mystischen Kreis. Nichtsdestoweniger ist der explizit theo-logische Abschnitt über die felicitas nicht ohne Bedeutung; denn in ihm wird noch einmal deutlich, wie sehr Gott für Poiret in der Tat allein aus sich selbst und für sich selbst ist: Er besitzt felicitas, denn er besitzt fruitio in vollkommener Weise: die fruitio seiner selbst. „Recte . . . attributum Felicitatis . . . in ejus Natura dicitur includi, cum sit per se notum, Summam Cogitationem supra omnem ideam, naturam, rem a se diversam, se ipsam velie, se ipsam possidere, seque ipsa ita frui, ut sibi acquiescat"''^. Dabei ist die Terminologie, welche wir hier vorfinden, nicht uninteresssant: Sie k o m m t derjenigen sehr nahe, in welcher Poiret später allerorts (und vor allem noch unter Hinzuziehung trinitarischer Kategorien) die göttliche Unabhängigkeit von allem Außen, sein Genügen an sich selbst, mithin auch seine Freude an und durch sich selbst, beschreibt. Sehen wir von dem cartesianisch-augustinischen Gewand dieser Aussagen ab, so befinden wir uns mit alledem durchaus noch auf dem Boden der reformierten Orthodoxie. Das gilt bereits für die Deutung der sufficientia Gottes: Auch die Kirche hat Gott im Sinne der Einheit von Essenz und Existenz verstanden — im Gefolge der mittelalterlich-scholastischen Tradition. Das gilt aber ebenfalls für die anderen Termini, diejenigen der activitas und felicitas. Sachlich bringen sie alle, bzw. bringt Poiret in ihnen und durch sie, nichts anderes zum Ausdruck, als was die reformierte Theologie — in genuiner Fortsetzung der scotistisch-nominalistischen Lehre — stets auszudrücken bestrebt war: die majestas divina und die Ohnmacht des Menschen. Indes Hegen in diesem Verständnis von G o t t und Mensch auch Elemente vor, welche über die orthodoxe Lehre bereits hinausführen und sich als höchst signifikant für Poirets weitere Entwicklung erweisen werden. Wichtig in diesem Sinne ist zunächst das, was unser Theologe über den Begriff der unitas vermerkt. Er hebt an bei der menschlichen Erfahrung der Vielzahl anderer Seelen — eben mit jenem Beweisgang, welchen wir bereits andernorts untersucht 75 AaO S. 14L 72
haben: Diese Erfahrung ist typisch für die cogitatio humana, denn G o t t , die cogitatio divina, ist der Eine. Dieser Satz folgt daraus, daß G o t t der Vollkommene ist, der alles, was wirklich „ i s t " , in sich schließt, unabhängig von allem Außen, „omne reale absolutum quod esse posse dici posset"^®. D e n n : „Quod est omne absolute id excludit aliud omne absolute, alioqui quod est absolute omne, non esset absolute o m n e " ' ' . Freilich, diese Vollkommenheit, dieses göttliche An-sich-selbst-Genügefinden bedeutet nicht tote Identität, sondern Sich-selbst-denkendes Denken, Sich -selbst-genügendes Genügen, in beidem Sich-selbst-tuendes Tun. Diese innere Bewegung aber ist für Poiret zugleich der Ansatz trinitarischer Spekulationen. Diese trinitarische Spekulation j e d o c h führt unseren Theologen — sosehr sie anfänglich (wenn auch der reformierten Orthodoxie fremd) immerhin insofern kirchlich-theologisch ist, als sie zumindest ihrem Ansatz nach in den Bahnen der Scholastik verbleibt — allmählich in eine Richtung, in welche ihm seine kirchlich-orientierten Zeitgenossen nicht zu folgen vermochten, welche mithin erhebliche Kontroversen Poirets mit der überlieferten Dogmatik auslösen mußte. Explizit enthält zwar die Erstauflage der Cogitationes Rationales weder schon Poirets spätere Trinitätslehre noch auch seine in trinitarischen Kategorien entfaltete Seelenlehre. Ansätze sind j e d o c h schon vorhanden; und gerade innerhalb unseres Abschnittes über die unitas kommen sie zum Vorschein: als der erste Versuch unseres Theologen, die Bewegung innerhalb des göttlichen Seins nachzuzeichnen: „Ipse Deus ob sui S u m m a m Perfectionem se ipsum summe amans et quaerens, conatus . . . se ipsum quantum posset multiplicare ut se ipsum amabilissimum, quantum posset inveniret, amaret; . . . in se ipso per adorandam quae in Trinitate est, generationem se multiplicavit . . . E t qui notabunt, eam unam Cogitationem includere acquiescentiam in sui Intelligentia per tendentiam sive amorem perfectissimum . . . , non sument e x Unitate Dei occasionem de Trinitate dubitandi, sed potius ex illa de hac certiores fient"™.
Gewiß, von systematisch-theologischer Entfaltung kann hier noch keine Rede sein. Es liegt j e d o c h bereits eine Terminologie vor, welche in manchem als Vorausklang von Poirets späteren weiterführenden Aussagen gewertet werden muß: Indirekt wird der — sonst bislang auf G o t t allgemein bezogene — Begriff der cogitatio auf G o t t als Vater eingeschränkt (wie später in der Oeconomie Divine); auch der Begriff des quaerere taucht bereits auf: G o t t „ b e g e h r t " nach sich selbst (wir werden sehen, daß dieser Terminus später mit Gedanken Böhmes gefüllt werden wird);
AaO S. 1 1 2 . Vgl. schon Thomas, S. th. I q. C o g . R a t . 1 6 7 7 , S. 1 1 4 .
ll,a.3.
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desgleichen findet sich erstmals der Begriff der „Intelligentia" — implizit bezeichnet er bereits den „Sohn" — und derjenige der „acquiescentia", Poirets spätere Bezeichnung des Hl. Geistes. Daß wir es bei alledem mit Gedankengängen der Mystik zu tun haben, liegt auf der Hand: So hat etwa Tauler eine sehr analoge Terminologie'''; und in nicht sehr verschiedener Weise haben auch die Mystiker Frankreichs die Beziehungen im innergöttlichen Leben beschrieben — man denke etwa an die trinitarische Vision der Marie Guyart von 162680.
Immerhin: die Herleitung des Begriffes der acquiescentia bereitet einige Schwierigkeiten. Tauler bezeichnet den Hl. Geist als „Liebe", ein ähnliches gilt für Marie Guyart®'. Und wenn auch Poiret — und zweifellos im Anschluß an Mystiker wie Tauler — mitunter (implizit ja auch hier) den Hl. Geist als „Liebe" bezeichnet, so verdient dieser Sachverhalt zwar registriert zu werden, dennoch ist dieser Terminus für das Trinitätsverständnis Poirets bei weitem nicht so typisch wie derjenige der acquiescentia. In der Deutung des Geistes als „ R u h e " dürfte unser Theologe vielmehr sehr viel von seinem eigenen Denken dazugetan haben, wobei sein Ansatz freilich nicht die Trinitätslehre selbst ist, sondern seine Psychologie. Wir fanden den Begriff der acquiescentia ja als ein Element der Deutung der Seele vor — dort nämlich, wo Poiret sie in ihrem Zustand der Begegnung mit Gott und seinem Wirken beschreibt. Das freilich legt die Erwägung nahe, daß die Trinitätslehre Poirets sich zum Teil auch auf eine Projektion seiner anthropologischen Begrifflichkeit auf das innergöttliche Leben gründet — eine Vermutung, welche (zumindest im Blick auf die Oeconomie Divine) bereits Schering ausgesprochen hat®^, welche Vkär aber auch andernorts bestätigt finden werden. Mit anderen Worten: So gewiß auch unser Theologe in der Entfaltung seiner Trinitätslehre Material aus der kirchlichen Theologie aufnimmt — so erweitert er dieses Material zugleich auch vermittels trinitätstheologischer Transformationen seiner Psychologie, gleichsam als ein erster Anlauf, die
Vgl. seine Predigt zum 5. Sonntag nach Trinitatis (in: Joh. Tauler, Predigten, vollst. Ausgabe, übertr. und hrsg. von G. Hofmann, Freiburg/Basel/Wien 1961, S. 296ff). ^ Wiedergegeben bei H. Brémond, Histoire Littéraire du Sentiment Religieux en France, Teil VI, Paris 1923, S. 29. Zur trinitätstheologischen Verwendung des Begriffes der Liebe in der Mystik vgl. A. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte Bd. III, Tübingen 1910, S. 440. 81 s. Anm. 79 und 80. 82 Vgl. Schering, aaO S. 110.
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Beziehung zwischen G o t t und der Seele in ihrer Unmittelbarkeit so deutlich wie möghch darzustellen. Die gleiche — an sich genuin-kirchliche — Lehre von der gänzlichen Unabhängigkeit Gottes von allem Außen, seinem Genüge-finden an sich selbst, seiner fruitio an seinem eigenen Wesen, führt Poiret aber nicht nur zu allmählich die Grenzen der überlieferten Kirchenlehre hinter sich lassenden Spekulationen über die Beziehungen im innergöttlichen Leben, sondern auch über Gottes Beziehungen ad extra, zur Welt. Besonders derjenige Abschnitt der Cogitationes Rationales, welcher den Begriff des dominium behandelt, ist hier aufschlußreich. Auch hier vollzieht sich die Entwicklung im Denken unseres Theologen allerdings schrittweise; denn dort, wo es ihm um die grundsätzliche Bestimmung des Wesens des göttlichen Handelns mit der Welt geht, steht er durchaus noch auf dem Boden der reformierten Theologie: G o t t , der sich ad intra voll genügt, steht mithin ad extra vor keiner Notwendigkeit. Was er auch immer nach außen hin tut, ist allein die freie Manifestation seiner Allmacht. Angewiesen ist er auf diese Manifestation n i c h t U n d der Grund für sie ist dabei allein der göttliche Wille; dieser j e d o c h ist so frei, daß selbst die Schöpfung der Welt als dieser j e t z t bestehenden Welt nicht notwendig gewesen wäre®^. Dabei wird von unserem Theologen auch die Beziehung zwischen dem göttlichen Willen zur Schöpfung und dem Schöpfungsakt-selbst im Sinne reformierter Theologie korrekt definiert: Der göttliche Wille ist bereits göttliches Wirken; „tantam esse Dei volentis vim et efficaciam, ut, posito, eum velie res, has vel illas, h o c aliove modo existere, eo ipso quod id velit, sequatur tales res existentes poni"«=. Und wie weit tatsächlich diese Übereinstimmung Poirets mit der kirchlichen Tradition geht, zeigt sich schließlich darin, daß unser Theologe sich von ihr aus gelegentlich selbst gegen seinen Lehrer Descartes zu wenden vermag, dessen ohnehin scotistisches Gottesbild da, wo es theologische Konturen gewinnt, in seiner Schroffheit noch weit über das allgemein-scotistische Gottesbild hinausgeht. J e n e cartesianische Vorstellung von einem absolut willkürlichen, selbst Kontradiktorisches hervorbringen könnenden G o t t ist Poiret durchaus fremd: „Non . . . dicendum est, Deum statuere potuisse ut 2 et 3 non esset 5 . . . : neque assentior Cartesio dicenti, fieri potuisse ut contradictoria falsa non essent"®^ ® Cog.Rat. 1 6 7 7 , S. 1 2 6 . AaO S. 1 2 8 . AaO S. 1 4 5 ; vgl. auch Heppe-Bizer, aaO S. 1 5 4 (zu Heideggers diesbezüglichen Aussagen). 86 Cog. R a t . 1 6 7 7 , S. 1 3 5 ; vgl. Otten, Der Grundgedanke der cartesianischen Philosophie, Paderborn 1 8 9 6 , S. 1 2 4 f (zit.: Otten).
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Und dennoch führen auch an dieser Stelle wiederum Ansätze im Denken unseres Theologen über die herkömmlich kirchliche Lehre hinaus. Das betrifft vor allem sein Verständnis der Beziehung Gottes zu seiner Schöpfung. Gewiß, wir haben im verigen gesehen, wie sehr er in manchem hier noch auf dem Boden der reformierten Orthodoxie steht: Die Schöpfung ist einzig und allein in einem liberrimum arbitrium Dei begründet. Dennoch tun sich bei näherem Hinsehen höchst bedeutsame Unterschiede zwischen seiner und der kirchlichen Lehre auf — dort nämlich, wo es um das Verständnis der Idee der Welt in Gott geht, d.h. gleichsam den mundus intelligibilis im göttlichen Geiste, nach welchem Gott den mundus sensibihs geschaffen hat. Die kirchlich-reformierte Tradition läßt sich in dieser Frage durchaus als thomistisch bezeichnen (so stimmt etwa Polanus bisweilen bis in die Formulierung mit Thomas überein®''!): Die Ideen sind ein integraler Bestandteil des göttlichen Wesens, diesem von Ewigkeit her zugehörig. Hier nun beginnt sich Poiret wiederum von den überlieferten Anschauungen abzugrenzen. Er tut es nicht ohne Polemik und vor allem nicht ohne Gründlichkeit; denn er bezieht in seine Untersuchung nicht allein die Ideenvorstellung als solche ein, sondern auch die (scotistische) Transzendentalienlehre Entscheidend zum Verständnis der poiretianischen Argumentation in dieser Frage ist zunächst bereits Bekanntes: Wesentlich für Gott, sofern er „handelt", ist allein sein Tun innerhalb seines trinitarischen Lebens. Mithin haben alle außertrinitarisch-göttlichen Bewegungen nichts mehr mit seinem Wesen zu tun. So finden wir schon am Anfang des entsprechenden Abschnittes innerhalb der Cogitationes Rationales eine Aussage wie die folgende, der kirchlichen Ideenlehre durchaus zuwiderlaufende: ,,Quasi (sc. ideae) . . . fluerent .. . immediate . . . ex ipsa Dei essentia"®'! Nein, sofern etwas „ist" — Poiret zeigt es im Blick auf die Transzendentalien —, dann nur aus einem — eben un-essentiellen — placitum divinum: „Quasi . . . cognosci posset aliqua sive Veritas, sive bonitas, sive essentia, cujus fundamentum essentiale et ratio vera atque solida non esset Dei placitum"'®! Mit anderen Worten: Schon in der Frühzeit seines Denkens ist unser Theologe von der Unwesentlichkeit der Welt überzeugt. Vgl. etwa Polanus' Ausführungen über die Ideen in Syntagma Theologiae Christianae, Hanoviae 1624 (Buch V, Kap. VI, Sp. 853) mit Thomas, De Ventate 3,1. 88 Cog.Rat. 1677, S. 123ff. 89 AaO S. 123. 90 AaO S. 124.
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Mit alledem haben wir einen Problemkreis innerhalb des poiretianischen Denkens angerührt, welcher bereits in den Cogitationes Rationales der Erstauflage von großer Bedeutung ist: In immer neuen Variationen bemüht sich unser Theologe, den Gedanken dieser Unwesentlichkeit der Welt noch näher zu veranschaulichen. So ist er vor allem auch bestrebt, jenes placitum zur Schöpfung so weit wie möglich aus der göttlichen Essenz zu entfernen: Sofern Gott „Gefallen" daran findet, ein „ A u ß e n " außerhalb seiner trinitarischen Bewegung hervorzubringen, so ist dies allein als Akt totaler Indifferenz aufzufassen: „(ideas) concipit et cogitat Deus, non quod eae ex sese sint tales immutabilesque, sed quod ipsi placuerit eas tales statuere . . . Atque placitum istud . . . concipiendum est ut indifferentissimum"''. Dabei finden sich gelegentlich auch Aussagen, welche Poirets Verständnis dieses göttlichen Tuns ad extra bereits näher zum System hin definieren; bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der Schluß des theo-logischen Abschnittes von Poirets Analyse der unitas. In ihm finden wir eine Definition der göttlichen Ideenschöpfung als Analogie zur innertrinitarischen operatic divina: Gott, der sich innerhalb seiner selbst in seinem amare und quaerere entfaltet, der handelt nach außen „ponendo sui umbras, tabulas, imagines, quarum cum una non sufficeret admirabilibus ejus perfectionibus adumbrandis, innúmeras, easque omnímoda varietate diversas produxit"^^; und dabei will dieses ponere umbras etc. recht und eigentlich aufgefaßt werden: als Ab-bildung Gottes, als Schöpfung eines Seienden, das in keiner Weise in einer essentiellen Beziehung zu Gott steht. Einzigartig steht diese Deutung der Beziehung Gottes zur Welt allerdings nicht da. Bereits Descartes — und unser Theologe beruft sich in unserem Zusammenhang ausdrücklich auf ihn — hat den Gedanken der Indifferenz Gottes gegenüber der Welt a u s g e s p r o c h e n F r e i l i c h , entfaltet hat ihn erst Poiret, und er ist sich durchaus auch der Tatsache bewußt, daß er in diesem Punkt einen Schritt über seinen Lehrer hinausgeht: Zwar hat auch dieser die Lehre von den essentiellen Beziehung zwischen Gott und den Ideen abgelehnt, „(sed) cum haec (= dieses) ... nec ita exacte sint proposita ab ilio, пес quod sciam ab ullo exactius, quae tamen dignissima sunt, et maxime conferunt ad Majestatem Dei . . . operae pretium est ea diligentius exponere"^'*. Aber auch in anderer Weise sind Poirets Gedankengänge in der Theologiegeschichte präfiguriert, nämlich sofem unser Theologe die operatio 91 AaO S. 125f. AaO S. 114. 93 Oeuvres VII, S. 4 3 I f . Cog.Rat. 1 6 7 7 , S. 125.
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divina ad extra mit trinitätstheologischen Gedankengängen verknüpft. Als solcher ist dieser Gedanke sogar gemeinkirchlich; auch die reformierte Orthodoxie vertritt ihn, und wie sie sich im Gefolge der scholastischen Theologie zu ihm bekennt, so nimmt es nicht wunder, daß wir ihn auch in der Mystik, etwa bei Tauler, wiederfinden Es läßt sich jedoch noch weiter differenzieren: Daß die Beziehung zwischen dem dreieinigen Gott einerseits und der Welt der Ideen andererseits durch eine derart schroffe Trennung gekennzeichnet ist wie bei Poiret, verweist zugleich auf eine sehr spezifische theologische Richtung innerhalb der Kirchenlehre, nämlich wiederum auf die spätscholastischscotistische Theologie (wie ja gerade auch Descartes durch sie bestimmt ist): Gerade Duns Scotus hat die innertrinitarische Bewegung Gottes (sich ausdrückend in Intellekt und Willen) gegenüber allem seinem außertrinitarischen Tun als das schlechterdings einzig-Wesentliche hervorgehoben — so radikal, daß, wenn man einer Bemerkung Kleins folgt, Duns-Scotus-Forscher wie Werner und Pluzanski die Beziehung zwischen dem dreieinigen Gott einerseits und der Welt der Ideen andererseits haben zerbrechen sehen Stellt sich also unter dem Blickwinkel des Historikers Poirets Deutung der göttlichen Beziehung zur Welt vornehmlich als eine Weiterfuhrung cartesianischer Gedanken unter Verwendung scholastisch-scotistischer Schöpfungstheologie dar, so ist sie sachlich für die Entfaltung der Theologie Poirets selbst von höchster Relevanz, da vitaler Ausdruck des bereits aufgebrochenen mystischen Interesses unseres Theologen. Denn was sich in ihr dartut, ist letztlich nichts anderes als eine weitere Scheidung des Innen vom Außen. Das Außen ist nicht nur deshalb eine periphere Größe, weil das Ich erfährt, daß sein Wesen mit diesem Außen nichts zu tun hat, sondern allein mit Gott, sondern bereits von seiner ontologischen Beschaffenheit, seiner ihm von Gott anerschaffenen Struktur her. Darüberhinaus — und das sei schon hier betont — bildet die Ideenlehre auch das theo-logische Äquivalent eines Elementes der poiretianischen Anthropologie, welches sich im folgenden als ebenfalls höchst bedeutsam erweisen wird: Dem freien, ideenschaffenden Willen Gottes entspricht auf der Seite des Menschen die Vernunft, eben das Erkenntnisorgan für das, was Gott entworfen hat, den mundus intelligibilis. Und nach alledem, was sich uns im vorigen über die Wertigkeit dieses mundus intelligibilis sub specie essentiae divinae ergab, will es kaum verwundem, daß dieser von hier aus ebenfalls das Stigma des Peripheren erhalten wird: In die' s Vgl. W. Preger, Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter, nach den Quellen untersucht und dargestellt, Teil III, Leipzig 1893, S. 156 (zit.: Preger). J. Klein, Der Gottesbegriff des Johannes Duns Scotus, Paderborn 1913, S. 41f.
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sem Sinne drücken sich bereits die Cogitationes Rationales der Zweitauflage aus. Es liegt auf der Hand, daß unserem Theologen von diesem seinem Verständnis des Wesens der Welt her anderslautende Ansichten wiederum zutiefst als falsch erscheinen mußten. Wiederum ist es vor allem More, gegen welchen Poiret sich wendet. Zwei Punkte in Mores Denken sind für das Ziel der poiretianischen Polemik entscheidend; zum einen: More vertritt den Gedanken der göttlichen Allgegenwart im Sinne einer essentiellen Omnipräsenz; zum anderen: Diese Definition der Allgegenwart Gottes fällt zusammen mit der Vorstellung von einem „ O r t e " Gottes, j a , von Gott als einem Quantum. Mit anderen Worten, für More eignet G o t t essentielle Extensionalität'^. Das ist gewiß kein platter theologischer Naturalismus: Essenz und „ O r t " Gottes — beides zielt nach More auf das Unendliche. Beide Begriffe wollen auch metaphorisch verstanden werden; in keiner Weise geht es dem Philosophen der Schule von Cambridge darum, Gott mit dem Weltganzen zu identifizieren'®. Dennoch treffen solche Gedanken Poirets Verständnis der Beziehung zwischen Gott und der Welt und des ontologischen Wertes der letzteren tief; denn in der Anschauung Mores ist die Welt aus der Peripherie wieder in das Zentrum zurückgekehrt; von göttlicher Essenz durchdrungen, hat sie einen Wert erhalten, welcher Poirets Konzentration auf Gott und die Seele radikal widerspricht: Das Endliche, Sekundäre würde, träfe Mores Lehre zu, gleichsam Gefäß des Unendlichen — ein für den Mystiker gänzlich abwegiger Gedanke Daß Poiret sich zur Polemik gegen diese Anschauungen veranlaßt sieht, nimmt von hier aus nicht wunder. Und gemäß der Doppelheit der Gottesdefmition Mores ist diese Polemik von zwei voneinander abhängigen Gesichtspunkten bestimmt. Der erste Aspekt, von welchem aus Poiret Mores Lehre von der essentiel len Allgegenwart Gottes attackiert, ist dieser: Unser Theologe sucht sein eigenes Verständnis der operatio divina ad extra noch weiter zu präzisieren. Vor allem seine Deutung des Begriffes der altitudo enthält dabei Wesentliches: Sofern Gott in seiner Welt anwesend ist, dann nur ,,operative . . . et repraesentative"'®®. Gott-an-sich ist allein in und für sich Vgl. Opera Omnia II,, S. 676 und S. 148. More umschreibt den „ O r t " Gottes als „absolutissimo modo infinitus" (Opera Omnia III, S. 148). 99 Cog.Rat. 1677, S. 29. 100 AaO S. 119.
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selbst, in keiner Weise an einem Außergöttlichen partizipierend. Dabei ist dieser Punkt innerhalb Poirets Argumentation gegen More noch aus einem anderen Grunde wichtig: Mit seiner Ablehnung der Lehre von der essentiellen Gegenwart Gottes in der Welt ist zugleich auch eine weitere Stelle markiert, an welcher unser Theologe sich von der kirchlichen Lehre abzuheben beginnt: Diese nämlich erkennt das essentielle Wirken Gottes in der Welt durchaus an, ja, sie vermag sogar von einer Allgegenwart Gottes nach seiner Essenz zu sprechen, wie etwa Mastri cht es t u t ' " ' . Dabei trägt allerdings dieser streng-theistische Gottesbegriff in keiner Weise pantheistisches Gepräge — wie denn auch der von Mastricht verwendete Begriff der ,^llgegenwart" (omnipraesentia) zugunsten desjenigen der immensitas eher vermieden wird'"^. Mit alledem ist zugleich auch der zweite Gesichtspunkt genannt, von welchem aus Poiret sich gegen More wendet: Denn gehen wir davon aus, daß in Gott ,,nihil est nec esse potest . . . praeter ipsam puram essentiam", d.h. alles, was in ihm geschieht, er-selbst ist, in seiner innertrinitarischen Bewegung, dann wird jede Frage nach einer räumlichen ubiquitas Gottes zu einer Absurdität'"^. Gewiß ist Poirets Auseinandersetzung mit der Person Mores für die weitere Entwicklung unseres Theologen ohne Belang: More steht in allen folgenden Schriften außerhalb der Kontroverse. Sie könnte deshalb unerwähnt bleiben, stünde nicht indirekt hinter More bereits der Schatten eines anderen — und viel mächtigeren — Gegners, welcher (wie More) von einer essentiellen wie aber vor allem auch extensionalen Allgegenwart Gottes spricht und welcher Poiret besonders in der Zweitauflage der Cogitationes Rationales beschäftigt hat: Spinoza. Und daß in der Tat dieser Philosoph bereits 1677 in eine bedrohliche Nähe rückt, zeigt im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit More Poirets Hinweis auf den Philosophen Derodon: „Imo quidam eo devenerunt, ut sibi persuaderent spatium quod in se omnia recipit, quodque omnium rerum locus est etiam aeternum esse et esse ipsum Deum quatenus est immensus„0« Cog.Rat. 1677, S. 207. 6 Krieg, Kreis
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ständnis traditionell protestantischer Dogmatik. Dennoch ist dieser Glaube in Poirets Denken andernorts beheimatet als in der Aufklärung, nämlich in jenem mystischen Impuls, aus welchem heraus Poiret den Weg vom Außen ins Innen angetreten hat. Dieser Weg — wie übrigens auch sein philosophisches Äquivalent, der Abstraktionsweg Descartes' (wenngleich dieser wiederum unter Voraussetzungen, die in die Aufklärung verweisen) — impliziert ja menschliche Freiheit; er wird ja bereits in dem Bewußtsein unternommen, daß der Mensch zu einer Begegnung mit seinem Grund fähig sei. Hätte der Mystiker dieses Bewußtsein der Autonomie des Menschen in der Gottesbegegnung nicht, dann wäre der gesamte Weg vom Außen ins Innen, alle Entäußerung a priori sinnlos. „Deshalb," so schreibt Seeberg, „steht und fällt die Mystik mit der Idee des freien Willens Ein weiteres Detail innerhalb Poirets Seelenlehre der Cogitationes Rationales fordert Beachtung: die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele. Poirets Ansatz ist wiederum cartesianisch; diesmal freilich weniger im Sinne cartesianischer Methode als im Sinne jener eigentümlichen Zwiespältigkeit, die Descartes' Denken in dieser Frage charakterisiert: Um die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, versucht Descartes einerseits rein philosophisch zu argumentieren, andererseits aber auch der Offenbarung ihr Recht zu geben. Dabei ist sein Ergebnis vom Standpunkt des Philosophen aus recht unbefriedigend: Descartes' rationale Argumente sind eigentümlich schwach und ohne Beweiskraft. Auch er selbst hat dies sehr deutlich erkannt, ohne indes etwas daran ändern zu können. Am Ende verweist er nur noch auf die Offenbarung'"®. Hat, wie wir sogleich sehen werden, auch Poirets Lehre von der Unsterblichkeit der Seele dieses cartesianische Doppelantlitz behalten, so verdienen immerhin die Modifikationen, die er am Denken seines Lehrers vornimmt, Beachtung. Poiret ist stets bemüht, sowohl die rein rationalen wie die spezifisch theologischen Argumente sachlich einwandfrei zu begründen; denn auch er hat die Aporien der cartesianischen Unsterblichkeitsbeweise erkannt und möchte sie, wie er selbst betont, überwinden'"'. Poiret geht — und darin ist er wieder ganz Cartesianer — von der völligen Unabhängigkeit beider Substanzen, der cogitatio und der extensio, voneinander aus. Da nun diese Unabhängigkeit besteht, ist weder zu erGottfried Arnold. Die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit, Darmstadt 1964, S. 4 1 6 (zit.: E. Seeberg). »08 Vgl. Otten, aaO S. 5 8 f f . 109 Cog.Rat. 1677, S. 2 3 4 .
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warten, daß die Seele — als die „nobilior res atque p e r f e c t i o r " " ° — zugleich mit dem Tode des Körpers untergeht, noch daß der „Tod des Körpers . . . den eines von ihm wesenhaft verschiedenen Dinges . . . nachziehen" k a n n " ' . Von der gleichen Voraussetzung sind zunächst auch die anderen Argumente Poirets bestimmt: ,,Cum Mentis cogitationes . . . a corpore non pendeant . . . sequitur remoto corpore eas, adeoque nec mentem ipsam, minime tolli . . . sed potius eas augeri et perfici", mögen auch die Sinne vergehen. Daraus aber folgt, daß allenfalls von einer Befreiung der Seele gesprochen werden kann — eben von den Sinnen—, nicht aber von ihrem Untergang''^. Schließlich, aufgrund der Wesensverschiedenheit von cogitatio und extensio kann das Sein der extensio dasjenige der cogitatio in keiner Weise bedingen. Einziger Grund für die Erhaltung der Seelensubstanz ist — und hier kehrt Poiret allerdings auf den Weg cartesianischer, ja scholastischer Lehre zurück — Gott selbst. Und Poiret fügt hinzu: „quod merito in rebus maxime necessariis pro affirmante argumento habendum est"''^. Indes tritt mit letzterem Argument zugleich das cartesianische Doppelgesicht auch der poiretianischen Aussagen über die Unsterblichkeit der Seele in das Blickfeld. Denn zwar führt Poirets Fundierung der „rationalen" cartesianischen Argumente durchaus über Descartes selbst hinaus — aber was bewiesen ist, ist bislang lediglich die Tatsache, daß Seele und Körper nicht zugleich sterben können, nicht die Unsterblichkeit der Seele als solche. Könnte Gott sie nicht trotz alledem vergehen lassen? Und hier argumentiert Poiret nun — ganz analog zu seinem Lehrer — rein theologisch. Nicht alle seine Argumente sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Das dritte und siebte Argument kommt von dem Gedanken des desiderium bzw. der idea immortalitatis her: Sollte Gott den Menschen mit dem Gedanken der Unsterblichkeit ausgestattet haben, ohne diesen an sein Ziel bringen zu wollen? Wenig belangreich sind auch das vierte und fünfte Argument; ersteres spricht implizit, letzteres ausdrücklich von der justitia Dei vindex: Sollte es in der Ordnung Gottes sein, daß zwar Gutes durch Böses vernichtet werde und dennoch mit dem Bösen sub specie mortis eins sei, da es das gleiche Schicksal besitze — oder sollte die Strafe für das Böse das bloße Nichts sein""*? All diese Gedan-
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AaO S. 2 3 5 . Fleischer, aaO S. 26. Cog.Rat. 1677, S. 2 3 5 f . AaO S. 2 3 7 . Vgl. insgesamt aaO S. 2 3 9 f f .
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ken sind mehr oder weniger gut kirchlich und tragen nichts zu einer Herausarbeitung des spezifisch-poiretianischen Standpunktes bei. Wesenthch dagegen sind die übrigen Argumente; denn nicht nur tritt in ihnen das kirchhch-orthodoxe Element weit zurück, sondern sie manifestieren zugleich einen weiteren Punkt poiretianischen Denkens innerhalb der Cogitationes Rationales, welcher für die Folgezeit von grundlegender Bedeutung sein wird. Ihre materiale Voraussetzung ist Poirets Ideenlehre: Wie alles, was ist, eine im placitum liberrimum Dei begründete Selbstdarstellung Gottes ist, so auch naturgemäß die Seele — diese freilich (in Anbetracht der Analogie, welche zwischen ihr, der cogitatio, und Gott, der cogitatio divina, besteht) in herausragender Weise''^. Die Unsterblichkeit der Seele wird also von Poiret auch von dem Wesen der göttlichen Selbstdarstellung her begründet. Das hebt an im ersten Argument: „Deus ex placito condidit mentem, quae in ipsa sua substantia Dei perfectiones aliquatenus adumbraret; dignum placiti et Potentiae suae opus; ac proinde, non annihilandum". Ähnlich strukturiert ist auch das zweite Argument: Wie Gott nur er selbst ist und sich nicht wandelt, so muß auch das, was an seinem Sein teilhat — und sei es nur repraesentative — ewig sein; denn Gott kann seine Selbstdarstellung nicht vernichten: „Ac proinde id quod in ejus (= Dei) operibus bonum est nec unquam quicquid accidat, malum fieri potest, (Substantia nempe rerum, et specialiter Mentium . . . ) constanter remanere judicandum est". Das gleiche gilt für das sechste Argument: „Nam qui Mentes Sanctas Dei amantes amicasque, Deum in omnibus repraesentantes, asseram destruendas a Deo ilio, qui se ipsum, suum placitum, suam imaginem in omnibus quaerit et probat'"'®? Hier nun gilt es, den Grundtenor der Aussagen Poirets genau zu beachten. Gewiß steht sachlich am Anfang wiederum der Gedanke der repraesentatio — und er ist grundsätzlich konzipiert in einer Abwehr gegen alle pantheisierenden Strömungen, wie wir sahen: Sofern sich Gott in einem Außen darstellt, dann nur, weil er es so will. Im Bezug auf die Beweise zur Unsterblichkeit der Seele bedeutet das: Ontologisch ist diese Unsterblichkeit nur darin begründet, daß Gott ihr als demjenigen, das ihn kat'exochen repräsentiert, unendlichen Wert verleiht. Aber — und das ist wichtig — beruht diese Dignität auch auf einem placitum divinum, so ist sie dennoch real vorhanden. Gott gewährt zwar die Teilhabe an seinem Wesen — aber damit besitzt die Seele sie auch. 115 Vgl. das übernächste Zitat. 4« Cog.Rat. 1677, S. 238ff.
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Mit anderen Worten: Poiret geht nicht allein dergestalt über seinen Lehrer Descartes hinaus, daß er dessen vornehmlich philosophisch orientiertes und lediglich implizit auch mystisches Ich-Bewußtsein auch explizit zu einem mystischen transformiert, wie bereits seine Verwendung der cartesianischen Methode, zum wahren Wesen des Menschen zu gelangen, zeigte — und nicht allein dergestalt, daß er auch das diesem cartesianischen Ich-Bewußtsein notwendig korrespondierende Gottesbewußtsein (wiederum im Überschritt über seinen Lehrer) zum Ansatz neuer (und zwar mystischer) Einsichten in das Wesen der Welt umschafft (eben in seinen Aussagen zum Wesen der Idee) — sondern zugleich zeigt sich auch, daß jene enge Beziehung zwischen Gott und der Seele zumindest an einer Stelle innerhalb der Cogitationes Rationales nicht mehr allein im Sinne der Analogie beider interpretiert wird, sondern bereits ansatzweise physisch-realistisch verstanden wird. Damit ist aber im Ansatz zugleich auch die endgültige Basis für eine geistige Durchdringung der religiösen Erfahrung gewonnen — der Erfahrung, daß Gott nicht allein Objekt, sondern zugleich auch Subjekt des Menschen ist, daß er eben Anfang und Ende des menschlichen Weges bestimmt. Das mystische Element, welches im Substanzbegriff, wie ihn Descartes im Blick auf die cogitatio verwendet, impliziert ist, beginnt — wenn auch erst keimhaft und in unvergleichlich geringerem Maße als später in den Cogitationes Rationales der Zweitauflage und der Oeconomie Divine — an die Oberfläche zu dringen: in der Weise, daß es im Begriff ist, sich im Gedanken der Göttlichkeit der Seele auszudrücken. Damit wird aber an dieser Stelle des poiretianischen Denkens auch zum ersten Mal der sich in Poirets späterer Zeit noch verschärfende paradoxe Gedanke ansatzweise faßbar, daß sich trotz jener scotistischen Vorstellung von der absoluten Transzendenz Gottes und der Ohnmacht des Menschen dennoch eine unendlich-tiefe Gemeinsamkeit zwischen beiden abzeichnet — man könnte sie mit Winter als die „Einheit in der Distanz" bezeichnen""': Gott als der fernste ist zugleich auch der nächste. Diese Einsichten sind hochbedeutsam; denn dort, wo wir es in den Cogitationes Rationales mit Gedankengängen dieser Art zu tun haben, stehen wir gleichsam in der Brunnenstube wesentlicher Punkte des poiretianischen Denkens. So liegt in ihnen Poirets Heilsuniversalismus begründet, sein Glaube daran, daß jeder Mensch Gott erkennen kann, auch die „Heiden", ja, daß sogar die Trinität „naturaliter" erkennbar sei — eben aufgrund der ontologischen Struktur der Seele. In jenem Reden von der Göttlichkeit der Seele ist schließlich auch das Einfallstor für II·' Die Frömmigkeit Gerhard Tersteegens in ihrem Verhältnis zur französisch-quietistischen Mystik, Neuwied 1927, S. 65 (zit.: Winter).
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die diesbezüglichen Gedanken Böhmes und der A. Bourignon im Denken Poirets gegeben; und jene werden besonders in der Oeconomie Divine noch erhebliches Gewicht für Poirets Ontologie besitzen. Also bietet auch gerade Poirets Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, wie er sie in den Cogitationes Rationales von 1677 darstellt, Ansätze, an denen sich die weiteren Entwicklungen des poiretianischen Denkens deutlich ablesen lassen.
Zusammenfassung So bestätigt sich alles in allem, was schon im ersten Teil ausgesprochen wurde, was aber auch schon von Fleischer, Tilly und Schering vermutet worden ist, ohne von ihnen weiter begründet worden zu sein: Letztlich ist schon in den Cogitationes Rationales von 1677 alles auf den Punkt hin ausgerichtet, an welchem Gott und Mensch sich begegnen. Diesem Punkt gegenüber beginnt alles andere zu verblassen, so vor allem die „Welt": Sie ist eine sekundäre Größe, ohne essentielles Gewicht. Ebenso deutlich begannen sich aber andererseits schon die Ansätze abzuzeichnen, die unmittelbar in Poirets späteres theologisches System einmünden werden: Gott entfaltet sich auf trinitarisch-mystische Weise, die Seele ist von Gott geschaffen, getragen und will zu ihm zurückkehren, ja, sie ist — so deutete sich an einer Stelle bereits an — göttlicher Natur. Und sie vermag den Weg in ihre ewige Heimat zu gehen — wir werden ihn von nun an den „inneren" Weg nennen —, weil sie frei ist, sich für ihn entscheiden zu können. Fragen wir, wer die Keime zu diesem Denken gelegt hat, so können wir letztlich keinen der Gewährsleute unseres Theologen außer acht lassen: Manches ist, wie wir sahen, bei Descartes vorgebildet, manches in der kirchlichen Theologie — alles aber mündet ein in ein bereits mystisches Gottes- und Weltverständnis, letztlich das gleiche, wie wir es in der Oeconomie Divine wiederfinden werden. Freilich, entfaltet ist hier noch wenig. Selbst Poirets Lehrerin A. Bourignon übt noch keinen erkennbaren Einfluß aus, obschon unser Theologe ihre Werke während der Abfassung der Cogitationes Rationales zum Teil schon gelesen hatte. Die mystische Welt, die sich uns hier auftut, ist noch nicht spezifiziert; es hat sich in ihr noch keine Terminologie entwickelt. Die Sprache ist vielmehr mancherorts noch durchaus ¿artesianisch, wenn auch mystisch durchformt. Die Cogitationes Rationales der Zweitauflage, etwa acht Jahre später ediert, führen hier weiter. 86
п . Die Cogitationes Rationales von 1685 G o t t und die Seele Haben wir im vorigen festgestellt, daß die Cogitationes Rationales bereits der Erstauflage trotz ihrer so „cartesianischen" Sprache schon weitgehend in eine mystische Gottes- und Weltschau getaucht sind, dann legt sich schon von hier aus die Vermutung nahe, daß die Zweitausgabe, welche Poiret von dieser Schrift 1685 veranstaltet, nicht als Retraktation der Erstauflage gewertet werden kann. Gewiß hat unser Theologe der Schrift ein ausführliches Vorwort vorangeschickt, den Discursus Praeliminaris, und er hat allerorts Glossen und Kommentare eingefügt; es wird mithin sichtbar, daß er seiner ersten von ihm selbst stammenden Schrift, die er veröffentlicht hat, 1685 befangener gegenübersteht als zum Zeitpunkt ihrer Erstveröffentlichung selbst. Dennoch, grundlegend Neues findet sich an keiner Stelle. Selbst die Lehren der A. Bourignon stehen noch völlig im Hintergrund. Was sich in der Edition von 1685 in Wirklichkeit dartut, ist letztlich nichts anderes als eine Weiterführung und Entwicklung des schon in der Erstauflage vorhandenen Gedankengutes der Mystik. Diese Feststellung der Kontinuität zwischen den Cogitationes Rationales der beiden Auflagen von 1677 und 1685 läßt sich allerorts verifizieren. Beginnen wir mit dem Gottesbegriff, wie er sich uns im Discursus Praeliminaris darbietet: Letztlich ist er der gleiche wie in der Erstauflage. A m Anfang steht die ontologische Grundbestimmung Gottes, eingebettet in den Begriff der sufficientia: „Prima notio quae mihi de Deo occurrit, est, quod sit Ens a se, vel sibi sufficiens", wobei die materiale Füllung des göttlichen esse wiederum aus dem cogitatio-Begriff abgeleitet wird: „ Q u a e autem illa est essentia? Deus cogitât a s e " " ® . Indes dokumentiert gerade auch der K o n t e x t dieser Textstelle Poirets Bemühen um ein gegenüber den Cogitationes Rationales von 1677 noch differenzierteres Verständnis des göttlichen Wesens. Wir sahen, wie sehr bereits die Cogitationes Rationales von 1677 von dem Gedanken der göttlichen Bewegung erfüllt waren, des innertrinitarischen Lebens. Die weitere Entfaltung dieses Gedankens wird in der Ausgabe von 1685 entschlossen vorangetrieben: Am Anfang allen innertrinitarischen Lebens, so schreibt er nunmehr, die Gedanken von 1677 118 Discursus Praeliminaris (in: Cogitationum Rationalium de D e o , A n i m a et Malo Libri Q u a t u o r , Editio Altera, A m s t e r d a m 1685), S. 5f (zit.: Discursus Praeliminaris bzw. C o g . R a t . 1 6 8 5 ) .
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aufnehmend und weiterführend, steht das göttliche Begehren. Gott, die cogitatio, ist Denken, sofern sie begehrendes Denken ist, cogitatio cupiens. Und von diesem Grundgedanken aus entfahet sich trinitarisch4iialektische Bewegung: quid (Deus) quaerit? Praeter se nihil datur. Se . . . quaerit. A se autem non abest. Se igitur invenit, sive, ipse sibi luminosissimus et splendidissimus occurrit". Und im Wesen dieser göttlichen Selbstfindung wird das dritte trinitarische Element sichtbar: „Ens a se cogitans, cupiens se solum, seque inveniens non potest sibi gloriosissime invento indifferens aut inquietum esse, quasi quod quaesivit, id non adeptum esset: sed necessario tenerrimo, acquiescentissimo, laetissimo et deliciosissimo animo . . . se complectitur"''®. Damit ist die Bewegung vollendet, die Trinität umgriffen. Man erkennt, manches ist hier schon bekannt: das Verständnis des Vaters als cogitatio, deren Stigma das quaerere, bzw. hier das cupere ist; ebenfalls die gleichsam psychologische Deutung des dritten trinitarischen Elementes als das Wesen der göttlichen Selbstfindung — beide Motive sind uns bereits in den Cogitationes Rationales von 1677 begegnet. Dennoch hat sich der Horizont 1685 auch in der Frage der Trinitätslehre geweitet. Vor allem Böhmes Einflüsse machen sich nunmehr in aller Deutlichkeit bemerkbar, sind sie auch noch ein wenig zurückhaltender vorhanden als in der Oeconomie Divine. So hat etwa das quaerere, die cupiditas des innertrinitarischen Anfangs eine Entsprechung in einem im Mysterium Magnum geäußerten G e d a n k e n Ä h n l i c h ist auch die Bezeichnung des zweiten trinitarischen Elementes, seine Deutung als „Licht" oder „Glanz" typisch böhmianisch'^'. Wichtiger jedoch als der böhmianische Hintergrund dieser Aussagen selbst ist das, was er an unseren Theologen vermittelt: Von nun an wird der Voluntarismus, welchen wie bereits in der Erstauflage der Cogitationes Rationales ansatzweise beobachten konnten, zusehends stärker. Damit wird aber über Böhme, also über Descartes und die calvinistische Theologie hinaus, wieder auch das scotistisch-spätscholastische Element in Poirets Theologie sichtbar, denn jenes Moment des Wollens und Begehrens, welches sich bei Böhme findet, ist seinerseits nicht ohne das Gottesbild Luthers und somit eines Theologen wie des Duns Scotus denkbar'^^.
119 AaO S. 6f. 120 Mysterium Magnum 1:6. 121 Vgl. Aurora 3:20f. 122 Vgl. H. Bornkamm, Luther und Böhme, Bonn 1925, S. 157ff, bes. 161f (zit.: H. Bomkamm).
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Etwas anders liegen die Dinge, wenn wir nach dem Horizont von Poirets Verständnis des dritten trinitarischen Elementes fragen, eben der Herk u n f t des Begriffes der acquiescentia. Hier stoßen wir also wieder wie schon 1677 auf Poirets eigene Gedankenwelt. Wir werden allerdings andernorts noch sehen, daß Poiret auch in den Cogitationes Rationales von 1685 nicht bei dieser Deutung des Wesens der göttlichen Selbstfindung Stehengeblieben ist, sondern auch Gedankengut der A. Bourignon eingebracht hat. Haben wir mit alledem die Grundstrukturen der Gotteslehre, wie sie sich 1685 zeigen, nachzuzeichnen gesucht, so bleibt jetzt die Frage nach dem Analogon des göttlichen Wesens im Menschen, die Frage nach Poirets Seelenlehre zu stellen. Und auch hier zeigt sich von Anfang an, daß Poiret in seiner Entwicklung erheblich vorangeschritten ist. Besonders deutlich wird dieser Fortschritt dort, wo unser Theologe über die Natur der Seele spricht: Hier erscheint der Gedanke ihrer Göttlichkeit endgültig in seine Lehre integriert. Die anfangs von Descartes her inspirierte Analogie zwischen Gott und der Seele hat sich endgültig in ein physisch-realistisches Verständnis der Beziehung beider gewandelt: Die Seele wird als etwas verstanden, das göttlicher Natur ist, das unmittelbar am göttlichen Sein partizipiert, mag auch Gott weiterhin der sein, welcher diese Teilhabe an sich selbst frei und ohne Notwendigkeit gewährt'". Dabei ist sich unser Theologe durchaus auch der Tatsache bewußt, in diesen Aussagen mit seinem allgemeinen Denken über die Beziehung Gottes zur Schöpfung in Konflikt zu geraten: Grundsätzlich ist diese ja — und wir werden diesen Gedanken auch für die Cogitationes Rationales der Zweitauflage andernorts noch ausführlicher bestätigen können — eine Beziehung zwischen Essenz und Peripherie, zwischen Wesen und Nicht-Wesen. Angesichts des grundlegenden Ansatzes Poirets, die Seele so nahe wie möglich an Gott heranzurücken (es geht ja immer auch um die religiöse Erfahrung!) verblaßt diese Frage jedoch. Hier, wo es um die Beziehung zwischen Gott und der Seele geht, besteht weiterhin, ja in verstärktem Maße, die große Ausnahme, die Einheit trotz aller Distanz: ,,nil aeque repraesentare potest Deum ut res divinae naturae: nulla res potest fieri naturae divinae particeps . . . nisi sit cogitans, intelligens, volens, spontanea, libera: haec namque Dei natura et essentia s u n t " Diese ontologische Göttlichkeit der Seele impliziert auch zugleich — und damit stehen wir wieder vor einem Gedanken, der gegenüber 123 Cog.Rat. 1 6 8 5 , S. 325. 124 AaO S. 3 2 7 .
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den Cogitationes Rationales von 1677 eine Präzisierung poiretianischer Anschauungen darstellt —, daß sie auch trinitarisch strukturiert ist: „in Cogitatione quae a Divina cogitatione in г ф esse, existere et agere diversa est, simiha tria inesse debenf, aut ipsa ad similitudinem essentialium Dei non est, пес Deus in illa se quoad essentialia repraesentatum inveniret" Fragen wir danach, wie dieser Gedanke von Poiret des näheren entfaltet wird, so stoßen wir dabei — ganz folgerichtig — zunächst auf den Begriff der cupiditas bzw. des desiderium animae. Er beschreibt das, was die Seele dem Grund ihres Wesens nach ist: „Hoc est centrum animae intimum et essentialissimum, cupiditas, quaestio objecti, desiderium. Nihil intimius in mente est et fundamentalius" Freilich bewegt sich diese cupiditas animae in einem leeren Raum; das Begehren der Seele drängt nach einem Objekt, und zwar — wie Gott sich selbst unendliches und lichtvolles Gegenüber ist und die Seele seine repraesentatio — nach einem unendlichen Objekt: ,,consequitur . . . Mentis . . . cupiditatem . . . esse debere, ut cupida sit infinitae et perfectissimae lucis". 1st diese illuminatio erreicht (und hier fallen für Poiret das zweite und das dritte Element der innerseelischen Bewegung zusammen), ist die Seele mit göttlichem Licht erfüllt, dann hat sie zu ihrer acquiescentia gefunden Daß mit dieser Entfaltung der Seelenlehre ein Fortschritt innerhalb des poiretianischen Denkens zu verzeichnen ist, ist unverkennbar. Zum einen ist nunmehr das voluntaristische Element, welches wir 1677 ansatzweise bereits in den Cogitationes Rationales der Erstauflage, speziell in Poirets Gottesbegriff, aber auch schon in unserer vorliegenden Ausgabe erkennen konnten, endgültig in das theologische System eingebracht: Die Seele ist, wie Gott, Wille und Begehren. Der Wille ist es, welcher sie zu ihrer Erleuchtung und Beruhigung finden läßt. Aber auch ein weiterer Gedanke unseres Theologen ist nunmehr endgültig systematisiert: die religiöse Erfahrung. Gott stiftet sich dem Menschen ein als dessen Grund und Subjekt auf die Weise, auf welche er selbst „ist"; dadurch aber, daß er nach dem ersten Element seines innertrinitarischen Lebens Begehren ist, Suche nach einem Objekt, mithin dieses Element auch das zentrale Element der Seele ist (aufgrund ihrer trinitarischen Struktur), ist zugleich neben der Subjekthaftigkeit Gottes auch seine Objekthaftigkeit für den Menschen ontologisch fi125 Discursus Praeliminaris, S. 11. 126 Ebd. AaO S. l l f .
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xiert — eben dadurch, daß Gott ihm nunmehr sowohl als Grund seines Ich als auch als dessen Ziel erscheint. Wiederum also: Gott erweist sich als weg-stiftend und weg-vollendend zugleich. Aber auch die Betrachtung des diese Anschauung näher ausleuchtenden Details ist aufschlußreich. Die cupiditas animae wird von unserem Theologen bisweilen in einer Begrifflichkeit weiter umschrieben, welche wiederum das Einfallstor für weitere böhmianische Elemente auch im poiretianischen Gottesbild sein wird: In jenem leeren Raum, in welchem sich die auf ihr Begehren zurückgeworfene Seele vorfindet, ist sie nichts als „anxia", „tenebrosa", „informis", sich selbst „infemus et t o r m e n t u m " Diese Definition jedoch findet sich in der Oeconomie Divine unmittelbar auch — nach diesbezüglicher Adaption Böhmes — als Beschreibimg des trinitarischen Ansatzes im innergöttlichen Leben. Entfaltet hat Poiret all diese Gedankengänge innerhalb der Cogitationes Rationales von 1685 an verschiedenen Stellen, am prägnantesten — und für Poirets weitere Entwicklung am aufschlußreichsten — in jenem Abschnitt über die göttliche Dreifaltigkeit, mit welchem er seine Spekulationen über die „unitas" von 1677 ergänzt. Dieser Abschnitt zeigt besonders klar, in welch hohem Maße Poiret in der Tat die Seele als einen Spiegel der innergöttlichen Bewegung aufgefaßt hat. Darüberhinaus enthält er eine Fülle von Material zur Trinitätstheologie Poirets selbst, das von einiger Bedeutung ist. Die Art, wie Poiret seine diesbezüglichen Erörterungen führt, bietet auf den ersten Blick freilich Überraschendes. Unser Theologe bedient sich einer durchaus ,,rationalen" Argumentationsmethode, derjenigen nämlich, die auch die Methode seines großen Gegners Spinoza ist, der mathematisch-synthetischen. Mehr noch, die spezifisch theologische Weise der Fragestellung wird zunächst gänzlich unberücksichtigt gelassen; tragend ist allein der logische Fortschritt des Argumentationsganges. Signifikant ist bereits Poirets Einsatz, seine allgemeine Definition des trinitarischen Lebens Gottes: ,,Deus . . . est . . . merum esse . . . : merum esse est esse sui ipsus . . . : merum esse est sibi esse, sibi in sui ipsius vicariatu, imagine, repraesentatione, fruitione, acquiescere. Quae tria sunt, 1. Esse primum. 2. Esse primi repraesentatio, imago, idea, quae ipsum esse est. 3. Esse primi in ejus sui imagine gaudium et acquiescentia" Diese Denkbewegung mutet rationalistisch an, obschon sich im Detail mancherlei mystische Beiklänge finden. Dennoch ist sie nichts weniger 128 AaO S. 12. 129 Cog.Rat. 1685, S. 227.
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als dies, sondern eine, man möchte sagen, höchst effektvolle Demonstration dafür, welche Folgerungen unser Theologe aus seiner trinitarischen Seelenichre ziehen kann. Denn allein diese bietet die Begründung für die Möglichkeit einer solchen Argumentation. Aufgrund dieser ihrer trinitarischen Struktur kann die Seele eo ipso jene innergöttliche Bewegung erkennen. Und in diesem Sinne vermerkt unser Theologe: „(hominis) natura talis est, ut si (sc. homo) se ipsum bene noscat, noscat et aliquatenus suum archetypum vel exemplar, suum scopum, objectumque cujus ipse capax est . . . : nec posset ei cognitio SS. Trinitatis per revelationem imprimi, nisi ipse ad earn factus esset" Das aber bedeutet in der Tat: „SS. Trinitas est naturaliter n o t a " ' ^ ' . Wir sehen, wie weit sich unser Theologe bereits aus der traditionellen Kirchenlehre hervorgewagt hat: Gehört doch gerade die Trinitätslehre zu denjenigen Punkten des Glaubens, deren Geheimnischarakter von der Kirche besonders betont wurde Indes sind die bislang skizzierten Aussagen Poirets zur Trinitätslehre, wie wir sie in jener Erweiterung des Abschnittes über die unitas finden, letztlich nur ein Seitentrieb in der weiteren Entwicklung seines Denkens in dieser Frage. Andere Momente stehen im Vordergrund. Jedoch zeigen auch sie wieder Poirets bereits sichtbar gewordene Ferne zum kirchlichen Denken. Das betrifft vor allem seine ausführlichere Entfaltung seines Verständnisses des innergöttlichen Lebens. Auffällig ist zunächst Poirets erstaunliche Zurückhaltung gegenüber der traditionellen trinitarischen Terminologie: Die Begriffe Vater, Sohn und Hl. Geist werden ganz am Rande verwendet; macht unser Theologe Gebrauch von ihnen, so gehen sie doch bald in der Fülle anderer Definitionen unter. So finden sich als trinitarische Bezeichnungen (abgesehen von den bereits bekannten wie Cogitatio — repraesentatio u.a. — Acquiescentia u.ä.): Ens subsistens—Character Subsistentiae—sigillum ipsum; persona—ejus os—oris Spiritus — und vor allem solche, hinter welchen unmittelbar der Einfluß Taulers, Böhmes, aber auch schon der A. Bourignon sichtbar wird. So ist etwa von Tauler her beeinflußt die Trias „Ens sine fundo: abyssus, Tenebrae'^^, Cogitatio considerata sine sui idea . . . (letztere eine insofern für Poiret wichtige Definition des ersten trinitarischen Elementes, als wir sie auch in der Oeconomie
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AaO S. 228. AaO S. 230. Vgl. Heppe-Bizer, aaO S. 87. Cog.Rat. 1685, S. 236. Vgl. Preger, S. 175.
Divine wiederfinden w e r d e n — is qui in sinu (fundo) Patris videt Patrem, Lux ipsa — is qui scrutatur profunditates Dei et manifestai inventam lucem e tenebris"'^®. Recht böhmianisch klingt die Trias „Ignis—Lux—Ardor" auf Gedankengut der Bourignon schließlich stoßen wir bei der Trias „Ens justum—Verum—Bonum"'^^. Dieses Prisma trinitarischer Definitionen ist auf den ersten Blick etwas verwirrend; es bezeugt jedoch mehr als eine bloße Begriffsspielerei. Vielmehr beleuchtet es recht anschaulich die Tatsache, wie zunehmend irrelevant die herkömmliche theologische Sprache für Poiret geworden ist: Der Begriff als solcher, der dogmatische Topos trägt nichts mehr aus. Entscheidend ist unserem Theologen ganz allein: eine Darstellung der Dialektik der göttlichen Selbstfindung. Immerhin findet sich unter solchen und ähnlichen Bestimmungen der Trinität auch biblisches Material — aber bezeichnenderweise solches, das genauso wenig in die kirchlich-traditionelle Dreifaltigkeitslehre gehört wie das bereits genannte außerbiblische. So nennt Poiret im Anschluß an Lk 1,32.49 die Trias „Celsitudo, Omnipotentia—Vita, lux—Efficacia, Virtus". J a , gerade dort, wo er biblische Aussagen mit ins Spiel bringt, wird seine Gleichgültigkeit gegenüber der überlieferten Terminologie besonders auffällig, da nachgerade programmatisch: „Deus in revelatione SS. Trinitatis suae, non se ullis allegavit verbis" Daß mit all diesen Begriffen nicht das Wesen dreier göttlicher ,,Person e n " im Sinne der Dogmatik umschrieben wird, liegt auf der Hand. Aber eine solche Umschreibung ist auch gar nicht Poirets Absicht. Sein Interesse gilt ja dem /neinander der einzelnen Momente der innergöttlichen Bewegung, ihrem dialektischen Aufeinanderbezogensein, nicht dagegen einer Deutung des Vaters, des Sohnes und des Geistes je an-sich. Entsprechend wird auch der Personbegriff als Beschreibung für die verschiedenen ,,Stadien" der innergöttlichen Bewegung letztlich abgelehnt. Entscheidend ist bei dieser Ablehnung des Personbegriffes gemäß dem oben Gesagten Poirets Befürchtung, die dialektisch-lebendige Einheit im göttlichen Wesen könne durch eine mehr oder weniger statische Dreiheit gefährdet werden. 134 135 136 137 138
Vgl. unten S. 120. Ebd. A u c h hier liegen Einflüsse Taulers vor, vgl. Preger, aaO S. 173. Ebd. Vgl. Gnadenwahl 7:35. Vgl. Das Heilige Perspectiv, Amsterdam 1684, S. 90. Cog.Rat. 1685, S. 2 4 8 .
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Die größte Gefährdung dieser Einheit Gottes sieht er vor allem im Denken des „Volkes" gegeben: „In usu communi, apud vulgus, vox Persona désignât aliquod inter homines ens Individuum . . . ita ab alia persona distinctum, ut duae sint res". Aber selbst dann, wenn diese Gefährdung nicht gegeben ist — bei den „Gelehrten" —, trägt der Personbegriff wenig aus: Ist er etwa heilsnotwendig? Oder sind Begriff und Sache identisch? „Nonne potest etiamnum Deus per Spiritum Sanctum aliquem de SS. Trinitate docere qui banc vocem nesciat, qui eam non admittat, imo eam rejiciat ob falsos quibus vulgo juncta est conceptus"? Schließlich, das schultheologische Vokabular ist der Fragestellung gegenüber überhaupt inadäquat: „Pete quaeso ab eis (d.h. den Schultheologen), num termini sui rem ipsam faciant concipere" Somit sieht sich unser Theologe am Ende außerstande, den Begriff der Person zur Beschreibung von Gottes innertrinitarischem Leben noch weiter zu verwenden: „Concludimus . . . , vocem Personae . . . esse . . . eliminandam" Eine Aussage wie diese liegt bei Poirets Gottesverständnis auf der Hand; sie ist darüberhinaus aber auch bei seinen geistigen Gewährsleuten, Böhme und A. Bourignon, vorgezeichnet: So lehnt Böhme den Personbegriff wie Poiret deshalb ab, weil er von den „Unverständigen" mißverstanden werden könnte Desgleichen ist auch A. Bourignon der Terminus suspekt: „Ich wünschte wohl", so schreibt die Schwärmerin an einer Stelle, „daß sie die gemeldten Eigenschaften Gottes (sc. daß Gott Gerechtigkeit, Wahrheit und Güte sei) anders ausdrückten als durch Persohnen"''^^ Von Poirets Gottesverständnis her ebenso signifikant wie seine Ablehnung des trinitarischen Personbegriffs ist freilich auch die von ihm angezeigte Alternative: Was in seinen eigenen Versuchen, diesen Terminus durch einen anderen zu ersetzen, zum Ausdruck kommt, ist nichts anderes als dies: Begriffe zu finden, welche zwar den ,,Vater", den „ S o h n " und den „Hl. Geist" je für sich zu kennzeichnen vermögen, ohne jedoch so „in sich abgeschlossen", „statisch" zu wirken, daß das dialektische Moment im Gottesbild verschwindet. In diesem Sinne schlägt unser Theologe etwa Termini wie „relationes", „potentiae", „habitus interni", „primariae diversitates" o.ä. vor. Sofern er — was nach alledem schon überraschend »39 140 I'll 142
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AaO S. 262ff. AaO S. 268. Mysterium Magnum 7:5. Das HeUige Perspectiv, S. 90.
genug ist — auch den Personbegriff zur Bezeichnung dessen verwendet, was er im innertrinitarischen Leben an „Geschehen" erbUckt, so nur am Rande und eher als Konzession an die Überheferung: „si (sc. locutiones, d.h. die Begriffe des traditionellen Trinitätsdogmas) quae vera per vocem Personae designare intenderint, eadem hîc, omissis inutilibus et noxiis, comprehendam" In der Tat — kirchliche Lehre liegt in alledem nicht mehr vor. Mehr noch, sie wird teilweise ausdrücklich abgelehnt. Daß die institutionalisierte Kirche hier ihre kritische Stimme erhoben hat, ist also überaus verständlich. Zwar hat sie sich dabei nicht in erster Linie für jene rein-logische Behandlung trinitarischer Aussagen interessiert, umso mehr aber für Poirets Ablehnung des Personbegriffes. Sehen wir dabei zunächst von Poirets vielleicht tatkräftigstem Gegner im Lager der kirchlichen Theologen ab, eben von J . W. Jäger (seine Polemik gegen unseren Theologen wird uns ohnehin noch genügend beschäftigen), so sieht man allgemein im Hintergrund der poiretianischen Dreifaltigkeitslehre den Schatten des Sabellius auftauchen. Von hier aus vermag etwa ein Theologe wie Buddeus Poiret unmittelbar neben Servet zu stellen; er zählt ihn zu denjenigen, welche nicht ohne Grund in den Ruf gekommen sind, wie letzterer jene altkirchliche Häresie zu vertreten Freilich könnte es nicht genügen, wenn wir bei dieser bloßen Konstatierung verschiedener Positionen stehenblieben. Es geht in Wirklichkeit um mehr: Der geistige Hintergrund, auf welchem Poiret zu sehen ist, ist ein total anderer als der, von welchem sich seine kirchlichen Gegner abheben. Poiret nimmt unmittelbar die Göttlichkeit der Seele in Anspruch; von dieser Überzeugung aus ist ihm der Weg in die Erkenntnis der trinitarischen Bewegung Gottes vermittlungslos offen. Die kirchliche Lehre dagegen kann diese Denkbewegung nicht mitvollziehen; im Gegenteil, für einen Theologen wie Walch (und seine Anschauung ist angesichts dessen, was wir über Poirets philosophisch-logische Interpretation der Trinität gesagt haben, durchaus einleuchtend) ist Poirets Argumentation wenig anderes als rationalistische Spekulation. Für ihn, wie letztlich alle Gegner Poirets (sehen wir von den philosophisch orientierten Denkern wie Thomasius ab), bleibt als das einzige Kriterium aller Reflexion über die göttliche Dinge die Schrift·. „Das sicherste und beste ist, man bleibe in Einfalt bey dem, was die Schrift sagt"'^'. Mit anderen Worten: Was hier von Walch im Blick auf die Cogitationes Rationales der Zweitauflage gesagt wird und was den Unterschied zwiCog.Rat. 1685, S. 2 6 9 . J. Fr. Buddeus, Institutiones Theologiae Dogmaticae, Leipzig 1 7 2 3 , Bd. I, S. 4 1 7 . i^s Walch, aaO S. 60.
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sehen seiner Lehre und derjenigen Poirets markiert, weist in paradigmatischer Weise auf den Unterschied hin, welchen wir noch allerorts in den Auseinandersetzungen zwischen Poiret und seinen kirchlichen Zeitgenossen erkennen werden: zwischen dem protestantischen Formalprinzip des sola scriptura und dem mystischen Prinzip des unmittelbaren Aufeinanderbezogenseins von Gott und Mensch.
Essenz und Existenz — die ontologischen Grandstrukturen des inneren Weges Es sei gleich vorweg bemerkt: So sehr sich im Denken Poirets auch das Detail noch entfalten, modifizieren, abklären, an Deutlichkeit, aber auch an ,,Heterodoxie" gewinnen wird — mit den im vorigen analysierten Gedankengängen ist der Grundstein des poiretianischen Denkens ein für allemal gelegt; denn zum einen liegen allen weiteren Arbeiten Poirets die gleichen Strukturen zugrunde, zum anderen sind diese Strukturen zugleich auch die entscheidende Grundlage für alle weiteren Aussagen Poirets zum Wesen seiner Theologie, besonders seiner Soteriologie, d.h. letztlich — und das läßt sich in einem Vorgriff auf die ausführliche Entwicklung dieser Gedanken sagen — seiner Lehre vom inneren Weg. Inwiefern? Dadurch, daß sie bereits die endgültige Entfaltung des sich schon in den Cogitationes Rationales von 1677 findenden Gedankens sind, daß die Seele von Gott herkommt und allein auf ihn bezogen ist. Und diese Strukturen sind normierend für Poirets weiteres Denken insofern, als sie diese dialektisch-religiöse Erfahrung endgültig auch in eine ausführliche Beschreibung des inneren Weges umzusetzen imstande sind. Was die Cogitationes Rationales erst allgemein formuliert haben, eben daß der Weg des Menschen von Gott herkomme und zu Gott zurückführe, das wird nunmehr in trinitarischer Kategoriensprache entfaltet: Da der Mensch eine trinitarische Seele hat, bedeutet wahrhaftes Menschsein imitatio Trinitatis: „nil magis necesse, utile, dignum, quam debita SS. Trinitatis notitia et i m i t a t i o " U n d ganz dementsprechend vermerkt Poiret: „SS. Trinitas, ejusque in homine repraesentatio et imitatio, est Principium, Medium, et Finis, atque Vita aeternum beata hominis"'"^. Auffällig ist freilich der Imperativische Charakter dieser Aussagen. Die imitatio Trinitatis ist eine „Schuld" auf seiten des Menschen gegenüber Cog.Rat. 1685, S. 242; auch hier hegen Einflüsse Taulers vor, vgl. Preger, aaO S. 220. w Cog.Rat. 1685, S. 241.
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Gott, Forderung. Der ontologische Zustand des Menschen ist also offensichtlich nicht auch notwendig sein ontischer, seine Essenz ist nicht notwendig totaliter in seiner Existenz vorhanden. Schon im Blick auf die Cogitationes Rationales muß man sagen: natürlicherweise nicht. Das Ich, das Gott begegnen will, hat es ja auch immer mit dem Außen zu tun; es muß ja zunächst durch dieses Außen hindurchbrechen, um zu seinem Wesen zu gelangen, muß sich „entäußern". Bereits dort wird also deutlich, daß die Seele durchaus nicht visibiliter Spiegel Gottes sein muß. Und ganz besonders anschaulich wird diese Überzeugung, wie wenig Essenz und Existenz des Menschen geeint sein müssen, naturgemäß in der trinitarischen Kategoriensprache, wie wir sie erstmals in den Cogitationes Rationales von 1685 finden. Hier heißt es: Der Mensch besitzt zwar eine trinitarische Seele, durch welche er der Spiegel Gottes ist, aber er vermag diese Tatsache zu mißachten, indem er sein Wesen nicht bei Gott sucht, sondern bei Nicht-Göttlichem, Nicht-Wesentlichem — nämlich bei sich selbst: „(homo) potest . . . praetermisso Deo, sese offerente, praetermissa animadversione capacitatis suae propriae infiniti objecti, cupiditatem suam ad se referre et terminare" Dabei ist gerade dieser letztere Gedanke auch in anderer Hinsicht aufschlußreich, denn er läßt ahnen, wo Poirets Hamartiologie, wie wir sie etwa in den Cogitationes Rationales der Zweitauflage finden werden, angesiedelt sein wird — eben an keiner anderen Stelle als dort, wo es um den Verlust jener imago Trinitatis geht: Denn was ist jene Abkehr der Seele von ihrem unendlichen Objekt, dem „ S o h n " und der „ R u h e " , und ihr Verweilen im Nicht-Wesentlichen anderes als Sünde? Können wir also in der Tat erkennen, daß die Grundstrukturen des inneren Weges in den Cogitationes Rationales von 1685 bereits durchreflektiert erscheinen, so gilt dies auch für jene Voraussetzung, welche diesen inneren Weg erst überhaupt ermöglicht: den Gedanken der menschlichen Freiheit. Wie erinnern uns, daß bereits die Erstauflage der Cogitationes Rationales gegen die Kirchenlehre die Überzeugung vertritt, der Mensch sei zur Aufnahme Gottes von sich aus fähig. Dieser Gedanke wird 1685 weiter entfaltet: Sofern der Mensch will, vermag er die Erleuchtung seiner Seele zwar nicht zu schaffen, aber doch vorzubereiten, dadurch nämlich, daß er das Grundelement des Ich, das Begehren, auf die ihm von Gott zugedachte Erleuchtung hin auszurichten vermag: „Non est cogitatio creata, libera ad causandum sibi lumen, bonum, acquiescentiam . . . at est libera circa regimen vacuae suae cupiditatis, ut ejus actus . . . dispoDiscursus Praeliminaris, S. 14. 7 Krieg, Kreis
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nat"'^^. Und dabei steht im Hintergrund einer Aussage wie dieser auch schon diejenige Begründung der menschlichen Freiheit, welche Poiret in der Oeconomie Divine noch vertiefen wird: Der Mensch hat deshalb Freiheit, weil Gott ihn — sub specie animae — zu seinem Ebenbild gemacht hat Daß wir es mit dieser Betonung der Freiheit in Bezug auf die Erlangung des Heils mit der spätnominalistischen Gnadenlehre zu tun haben, liegt auf der Hand und wird uns andernorts noch beschäftigen. Wichtiger für unseren Zusammenhang ist indes die Tatsache, daß diese Betonung der Freiheit auch für alle Gewährsleute Poirets gilt, etwa für A. Bourignon'^^ oder auch für J . Böhme, für den die Lehre vom freien Willen „von seinen ersten Schriften an zum sichersten Bestand seiner Aussagen" gehört'®^. Damit wird wieder einmal deutlich, wie sehr sich Poiret bereits in die mystische Gesamttradition eingeordnet hat.
Welt und Vernunft Gott und die Seele — das ist das Zentrum poiretianischer Theologie. Angesichts seiner tritt alles andere zurück. Schon die Cogitationes Rationales von 1677 erwiesen diesen Sachverhalt deutlich, zum einen durch den Charakter der Bewegung, die Poiret vom Außen ins Innen führte, zum anderen auch bereits durch Reflexionen über das Wesen der Welt als eines Unwesentlichen und Peripheren. Die Cogitationes Rationales von 1685 setzen diese Konzentration konsequent fort — in der Eliminierung dessen, was nicht in jene grundlegende Beziehung zwischen Gott und der Seele unmittelbar hineingehört. Dieser Prozeß der Eliminierung bezieht sich zunächst wiederum auf die Erweisung der Welt als einer ontologisch-peripheren Größe. In den diesbezüglichen Gedankengängen Poirets ist manches gegenüber 1677 sogar noch luzider und ausführlicher geworden: Grundsätzlich bedarf Gott keines Außen. Welt — das ist etwas, das Gott in gänzlich indifferenter Weise ersonnen hat, „ad potentiae suae exercitium". Er hätte, wenn er gewollt hätte, auch eine andere Welt erschaffen können Aber nicht nur erscheint die Beziehung zwischen Gott und Welt als solche noch weiter durchreflektiert als in der Erstauflage — darüberhinaus Ebd. 150 Cog.Rat. 1 6 8 5 , S. 4 5 9 , Glosse. 151 Vgl. Das heilige Perspectiv, S. 153. H. Bornkamm, aaO S. 42. Discursus Praeliminaris, S. 25.
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wird 1685 auch endgültig ein Kampf aufgenommen, welcher sich in Poirets Auseinandersetzung mit More (und Derodon) bereits andeutete: die Auseinandersetzung mit Spinoza — zum einen in einer Reihe von Anmerkungen in der gesamten Schrift, zum anderen aber auch (und wiederum nach der synthetisch-mathematischen Methode) in dem (der Zweitauflage angefügten) Traktat „Fundamenta Atheismi Eversa" In Spinoza sieht unser Theologe denjenigen Denker, welcher die Trennung des Innen vom Außen, die Verweisung der Welt an die Peripherie des wahrhaften Seins in seinem pantheistischen Weltbild am stärksten gefährdet: in seiner Lehre von Gott als der absoluten Substanz, als dem Ineinander von cogitatio und extensio, Innen und Außen, und seiner Definition alles Seienden als lediglich eines Modus' Gottes. Damit hat das Außen mithin wieder eine Dignität erhalten, welche ihm in keiner Weise zukommt, während andererseits ein Grund des Außen, der mit diesem Außen nicht essentiell verbunden wäre, nicht mehr besteht (demgemäß vermag unser Theologe seinen Gegner, wie der Titel des Traktates bereits zeigt, auch als Atheisten zu bezeichnen). Daß von hier aus Poiret von Spinozas Gottesdefinition als einer incredibilis astutia atque fallacia, et ingen(s) falsita(s) reden kann ist allzu verständlich; und ebenso verständlich ist es, daß er andererseits wiederum energisch seine eigene Vorstellung vom Wesen der Welt, d.h. der Beziehung zwischen ihr und ihrem Grund, in Anschlag bringt: „Deus potest se gerere erga omnes et quascunque ideas, essentias, res, praeter ipsum, ad placitum: illas omittere, statuere, et de illis disponere ad lubitum'"" So zeigt sich alles in allem wieder Poirets vitales Interesse an der Scheidung des Innen vom Außen, gerade sofem dieses Außen die Welt meint. Dennoch hat er sich mit diesen Gedankengängen nicht zufriedengegeben. Über das „allgemeine" Außen der Welt hat er noch ein „spezifischeres" Außen in den Blick genommen: die Vernunft. Warum gerade sie? Wir müssen sagen: Poiret hat erkannt, daß gerade die Vernunft es ist, welche die Begegnung zwischen Gott und der Seele am meisten gefährdet. Schon die Erstauflage der Cogitationes Rationales redet ja von einer solchen Gefährdung: Gerade dann, wenn der Mensch reflektierend vermeint, ganz in der unmittelbaren Bereitschaft für das göttliche Wesen zu sein, ist in Wirklichkeit — eben in der Reflexion über diese Begeg154 Cog.Rat. 1685, S. 721ff. AaO S. 748. >56 AaO S. 801.
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nung — das In-sein in ihr schon wieder abhandengekommen, hat das Außen das Innen wieder überwältigt, ist die „Welt" mit ihren Zusammenhängen wieder im Anweg. Diese Erfahrung ist aber so mächtig, daß sie nach innerer Bewältigung sucht und zwar dergestalt, daß die Vernunft in ihrem Wesen als Außen, als ontologisch-peripher erwiesen werden muß, d.h. wie die „Welt" in ihrer Gesamtheit, auch geistig aus dem Innen zu eliminieren ist. Poiret hat sich dieser Aufgabe gestellt und zwar in aller Gründlichkeit: Der Kampf mit dem Außen der Vernunft ist für ihn zugleich ein Kampf mit den rationalistischen Elementen im cartesianischen Denken. Und von hier aus wird in der Tat auch die Befangenheit verständlich, aus welcher heraus unser Theologe der Zweitauflage der Cogitationes Rationales den Discursus Praeliminaris vorangeschickt hat: In dem Maße, in welchem er Descartes als Rationalisten empfindet, empfindet er auch die Cogitationes Rationales der Erstauflage als rationalistisch. Dennoch ist es eben dies gleiche Frühwerk, welches Poiret zwar 1685 (und 1715) neu herausgibt, das er jedoch mit Anmerkungen versieht, welche eine gegenüber 1677 „mystischere" Geisteshaltung indizieren, welches zugleich auch die Ansätze und Grundlagen für seine Auseinandersetzung mit der Vernunft bietet: zum einen in der Lehre von der Analogie zwischen cogitatio humana und cogitatio divina, zum anderen in der Ideenlehre. Letztere hatte unser Theologe bereits 1677 im „mystischen" Sinne entwickelt: zur Verweisung der „Welt" in das Unwesentliche. 1685 erkennt er ihre Bedeutung auch für eine Verweisung des Außen der Vernunft aus der Beziehung zwischen Gott und der Seele — dort nämlich, wo sie mit Hilfe der Analogie zwischen Gott und der Seele auch zur Deutung des Ich verwendet wird: Wie die trinitarische Bewegung Gottes ihr Analogon in der Seele hat, so auch die sekundäre Selbst-darstellung Gottes in der Welt. Diesem Abbild Gottes nun entspricht im Menschen die Vernunft: Sie ist das Organ, mit welchem der Mensch die Zusammenhänge des nicht-göttlichen Seienden erkennt, den mundus intelligibilis, die von Gott in sekundärem Tun entworfene Idee des Außen. „si supponamus . . . , Mentem creatam . . . a Deo conditam esse, non modo ut . . . Dei essentialia vivide repraesentaret, Deusque in illa sibi quoad essentialia occurreret et deliciaretur; sed et ut repraesentaret illa Deum qua cum Ideis Sapientiae suae ludentem . . . ut Deus se in mente creata videret depictum et agnitum qua potentem et sapientem; Ergo oportuit mentem creatam a Deo denari facultatibus ideas arbitrarias divini conceptus admittendi et percipiendi" Discursus Praeliminaris, S. 25.
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Damit ist also auch die Vernunft als ontologisch-geringwertig gekennzeichnet. Immerhin, trotz dieser ihrer Geringwertigkeit im Rahmen des gänzlich auf die Erfassung des „Wesentlichen" ausgerichteten poiretianischen Denkens hat sie doch einen gewissen Freiraum: ist sie doch zumindest in einer Setzung Gottes begründet. J a , von hier aus ist sie sogar Objekt weiterer theologischer Reflexion. Vor allem ein Implikat dieses Gedankenganges ist wichtig: Von einer solchen Ableitung der menschlichen Vernunft her ist es unserem Theologen nunmehr möglich, zu jener Gründung der Erkenntnis zumindest des mundus intelligibilis zu kommen, welche ihm in der Erstauflage der Cogitationes Rationales noch nicht gelungen war: So wie Gott die Ideen erst ersinnt, nachdem er „in sich", trinitarisch, „vollendet" ist, so kann andererseits die Vernunft, eben das, was diesen mundus intelligibilis nach-schafft, erst dann wirksam werden, wenn auch der Mensch in seinem Wesen „vollendet" ist, d.h. des Bildes des dreieinigen Gottes in seinem Inneren teilhaftig ist. Erkenntnis der intelligiblen Welt, ihrer Tiefe und ihrer Zusammenhänge ist erst dann möglich, wenn Gott in seiner Fülle in der Seele wirkt'®*. Mithin ist es einem Gottlosen, so fährt Poiret konsequent fort, letztlich gar nicht möglich, eine wahre Erkenntnis der Zusammenhänge des Außen zu g e w i n n e n U n d das zweifellos Bemerkenswerte an diesem Gedankengang ist, daß Poiret hier formaliter an einer ähnlichen Stelle steht wie sein philosophischer Lehrer Descartes: Welterkenntnis ist erst durch Gotteserkenntnis möglich. Erst wenn es im Inneren licht ist, wird auch die Welt licht. Freilich wird gerade auch bei dieser formal-cartesianischen Gestalt der poiretianischen Gründung der Welterkenntnis in Gott deutlich, wie weit der Sache nach beide voneinander entfernt sind; denn hat auch für Descartes die Gotteserkenntnis ein erkenntnistheoretisches Prae vor der Erkenntnis der Welt, so geht es ihm bei dieser Gründung des Außen in Gott vor allem um seine elementare Sicherung vor allem Zweifel — vor allem demjenigen, daß alle Erkenntnis des mundus intelligibihs Scheinerkenntnis aufgrund göttlicher Täuschung sein könnte. Für Poiret dagegen ist das Außen eine periphere Größe geworden (Seine Beschäftigung mit der Vernunft kommt in der Oeconomie Divine einer Apologie nahe!). Und hier finden wir den vielleicht deutlichsten Hinweis darauf, daß unser Theologe bereits zur Abfassungszeit der Erstauflage der Cogitationes Rationales kein Cartesianer im rationalistischen Sinne war: Gewiß war Gott Erkenntnisprinzip; aber nur für die Seele. Für nichts weiter.
158 A a O S. 27. Ebd.
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Was sich also schon am Anfang unserer Analyse des Begriffs der Vernunft ergab, bestätigt sich auch hier: Letzten Endes ist sie gänzlich bedeutungslos, mag sie auch gewisse Möglichkeiten in sich bergen, den Menschen die Welt erkennen zu lassen. Innerhalb der Cogitationes Rationales von 1685 bestätigt sich indes noch andernorts, daß Poirets Einsichten darin gewachsen sind, wie sehr der innere Weg gefährdet ist. Und zwar sind diese Einsichten gerade auch an jener entscheidenden Stelle gewachsen, an welcher das Außen am ehesten unter dem Schein des Innen aufzutreten vermag: in der Spekulation über die götthchen Dinge. Vor allem dadurch, daß Poiret nunmehr zu einer gegründeten Definition der Vernunft gekommen ist, hat er noch größere Möglichkeiten als bisher, das Wesen solcher Spekulationen aufzudecken. Besonders ein Moment innerhalb des spekulativen Redens über die göttlichen Dinge wird von unserem Theologen besonders angegriffen (und damit stehen wir an einer Stelle, wo sich zeigt, daß Poiret durchaus auch mit sich selbst ins Gericht zu gehen vermag): der cartesianische Gedanke der idea Dei. Der Grund für diesen Angriff ist evident: Die idea Dei verweist zwar auf Gott, aber nur, soweit er in der Vernunft des Menschen angesiedelt ist — eben dort, wo jegliche Idee, welche der Mensch in sich trägt, ihren Platz hat. In keiner Weise jedoch verweist die idea Dei auf Gott selbst (ihn erkennt der Mensch ja allein durch die trinitarische Struktur seiner Seele): „Rationis humanae objectum non est ipsa Dei essentia vel substantia, . . . sed Deus depictus, hoc est, primo famosa vel Celebris illa Idea Dei apud Cartesianos". „Quicquid agat Ratio et tumultuetur, nunquam Deum ipsum attinget, . . . sed tantum attingit ejus dilutas repraesentationes, et veluti picturas"'®°. Mithin trägt die cartesianische Spekulation über Gott nichts aus: Sie verbleibt im Vorfeld Gottes-selbst, zwar im Vorfeld Gottes, aber nur, soweit er sich in seinem peripheren, unwesentlichen Außen zeigt. Mit anderen Worten: Wir stehen hier vor dem bemerkenswerten Sachverhalt, daß Poiret, der selbst von der cartesianischen Polarität von Gott und der Seele herkommt, sich — nach seiner Transformation dieser Polarität in das Mystische hinein — von seinem Vernunftbegriff aus gegen diese wendet, weil er sie, sofem sie bei Descartes stehenbleibt, ihrem Wesen nach als rational empfindet und nicht in der religiösen Erfahrung, d.h. der Erfahrung Gottes im essentiellen Zentrum des Menschen, begründet. Daß er Descartes in dieser Wendung insofern Unrecht tut, als bereits bei diesem mehr vorliegt als ein rein erkenntnistheoretisch begründeter Abstraktionspiozeß (wie etwa seine Verwendung des Sub160 AaO S. 26. 102
stanzbegriffes für die Beschreibung der cogitatio zeigte), dürfte dabei evident sein; dennoch mußte unser Theologe dort, wo er diese Transformation vollzogen hatte, manches Cartesianische vom' Ende seiner Entwicklung her als „rationalistisch" empfinden. Im grundsätzlichen ist Poiret über diese Wertung der Vernunft nicht mehr hinausgegangen (wie er ja auch sonst in gewisser Hinsicht in den Cogitationes Rationales von 1685 zum Abschluß seines Denkens gekommen ist): Was er in der Oeconomie Divine schreibt, stimmt ganz mit seinen im vorigen erörterten Aussagen überein, mag auch einigerorts die theologische Reflexion an Gründlichkeit gewonnen und andererseits die Polemik an Schärfe zugenommen haben. Aber war ein Weitergehen Poirets in dieser Frage überhaupt noch notwendig?
III. Die Oeconomie Divine Grundlegung Mit der Oeconomie Divine ist Poirets Weg in die Mystik endgültig abgeschlossen: Alles was wahrhaft „ist", sind allein Gott und die göttliche Seele. Vor diesen beiden Polen versinkt alles andere im Wesenslosen: die Welt und vor allem die Vernunft. Sind diese Grundstrukturen des poiretianischen Denkens auch schon bekannt, so ist doch formal eine gewisse Weiterentwicklung unseres Theologen nicht zu verkennen: Vieles ist ausführlicher und sprachlich noch differenzierter geworden. So legt Poiret vor allem auf eine ausführliche Begründung seiner Thesen Wert. So hat er auch das Detail weiter abzuklären gesucht: In diesem Sinne entfaltet er seine Anschauung von Gott und der Seele als seinem Abbild zunächst unter allgemeinen Gesichtspunkten, bevor er die trini tarischen Sprachkategorien einführt. Doch auch dort, wo er von Gott und der Seele in beider trinitarischer Entfaltung spricht, differenziert er noch weiter, dergestalt daß er die Seele nicht mehr allein als Abbild der göttlichen Trinität versteht, sondern zugleich auch näher zu erfassen sucht, auf welche Weise die Seele überhaupt zu einer solchen Ab-bildung Gottes fähig ist; und im Verfolg dieses Gedankens stößt Poiret auf den Begriff der „Seelenkräfte" (facultates animae). Desgleichen hat unser Theologe auch sein Verständnis der Vernunft weiter zu präzisieren unternommen: Auch sie erscheint nunmehr als ein Element der Seele. Nur, sie gehört zu ihren „unteren" Kräften (facultates inferiores) — im 103
Gegensatz zu den obengenannten, aufgrund derer der Mensch die trinitarisch-dialektische Bewegimg vollziehen kann. J e n e n e n n t Poiret die facultates superiores bzw. divinae'®'. Mit anderen Worten: Poirets Verständnis der Seele ist jetzt durch zwei Grundelemente b e s t i m m t . Zum einen erkennt er in ihr einen essentiellen Teil, ein essentielles Leben, welches abbildhaft das Leben Gottes ist, ja, ein Wesen, welches substantiell (wenn auch aufgrund freien göttlichen Willens) auch das Wesen Gottes ist — zum anderen einen sekundären Teil, welcher zwar in einer göttlichen Setzung gegründet, welcher aber nicht auch im substantiellen Sinne göttlich ist. Wir finden also das, was unser Theologe schon 1685 vertreten h a t , in der Oeconomie Divine (gemäß dem Grundcharakter dieser Schrift) systematisiert wieder.
Das Zentrum: Gott und der essentielle Teil der Seele 1. Die nicht-trinitarischen
Definitionen
Fragen wir nach dem Einsatz der Gottes- und Seelenlehre der Oeconomie Divine, so stehen wir zunächst vor einer Überraschung: Gerade Poirets systematisch-theologisches Hauptwerk beginnt mit einem deutlichen Rückbezug auf cartesianisches Denken; er ist so deutlich, daß auf den ersten Blick selbst die Cogitationes Rationales der Erstauflage dahinter zurückbleiben. Am Anfang steht der Gottesbeweis, ausgehend von dem Gedanken Descartes', daß der Mensch an allem zweifeln kann, n u r nicht an seiner eigenen Existenz: „ N e m o certe ad tantam un quam dubitandi exsuperantiam adducetur, ut vel negaturus sit, vel in dubium vocaturus, se esse aut existere"; denn wäre er nicht vorhanden, so fiele auch sein Zweifel d a h i n U n d von diesem Grundansatz aus wird eine Kette verschiedener Beweisgänge entfaltet. Betrachten wir etwa den ersten Beweisgang, welcher sich von diesem cartesianischen Grundprinzip aus entfaltet (wenngleich er auch nichts mehr von der geistigen Höhenlage erkennen läßt, welche den Beweis Descartes' selbst charakterisiert): Kann man also von einer Beschaffenheit des Ich aus, eben von seinem Zweifel her, auf das tatsächliche Vorhandensein dieses Ich schließen — deutet mithin die Tatsache, daß der Mensch eine „ E m p f i n d u n g " von einem Vorhandenen hat, auf dieses 161 Die Einteilung der Seele in „obere" und ,.untere" Kräfte ist augustinisch (vgl. Gilson-Böhner, S. 192). 162 Oec.Div. (Bd.) I, S. 6.
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Vorhandene selbst hin, dann muß auch die Vorstellung eines höheren als des menschlichen Seienden, welche der Mensch in der Seele hat, durch dieses höhere Seiende selbst, Gott, begründet sein Noch näher an Descartes führt der zweite Beweisgang heran. Der Ansatz ist wiederum der des ersten: die Selbstgewißheit des Ich. Wessen aber kann dieses Ich außerhalb seiner selbst gewiß sein? Etwa eines solchen Seienden, welches ebensoviel oder weniger „realitas", d.h. (zweifellos im cartesianischen Sinne) „Sachgehalt" besitzt als das Ich selbst. Aber selbst dann, wenn ich eine Empfindung von ihm habe, ist damit noch nicht gesagt, daß es auch notwendig außer mir selbst existieren muß; denn da es über meinen eigenen Sachgehalt nicht hinausgeht, kann es auch in mir selbst bestehen: „Video . . . certum non esse rem existentem a me diversam esse". Freilich, wenn ich eine Vorstellung von einem Seienden habe, welches so viel Sachgehalt besitzt, daß er nur in diesem Seienden selbst vorhanden sein kann — also weder in mir noch in etwas anderem —, dann muß dieses Seiende auch tatsächlich vorhanden sein. Das aber besagt: Gottes Sein ist bewiesen, denn allein Gott k o m m t der höchste Sachgehalt z u ' ^ . Es besteht kein Zweifel: Im Hintergrund all dessen steht der cartesianische Gedanke der idea Dei. Das Denken sucht den sich selbst nächsten gewissesten Punkt. Und dennoch wäre es ein Fehlschluß, hier eine Repristination bereits in den Cogitationes Rationales von 1685 abgetanen „rationalistischen" Denkens konstatieren zu wollen; denn die idea Dei, wie sie unser Theologe bei Descartes findet, steht weiterhin ganz unter dem 1685 gefällten Verdikt: „Idea Dei . . . non . . . ipse Deus est: unde quisquis ei uti Deo adhaerescit, is hoc ipso idolum amplectitur frigidum et sterile, imo et vanissimum et perniciosum" Wie freilich ist dann zu verstehen, daß Poiret wie Descartes von einem dem Menschen eingestifteten Wissen um Gott ausgeht, um die göttliche Existenz zu beweisen? Wir müssen sagen, eben deshalb, weil er dieses ,,Wissen" nicht im rational-spekulativen, sondern im mystischen Sinne versteht. Es geht bei jenem Bewußtwerden Gottes im Ich nicht um einen Akt der Reflexion, sondern in der Tat um einen Akt der Empfindung, des Innewerdens Gottes. Sofern Poiret zugleich auch einen — seinen Strukturen nach cartesianischen — Gottesbeweis liefert und sich damit formaliter durch1 « AaO (I) S. 7. AaO (I) S. 8f. 16S AaO (I) S. 3 0 0 .
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aus im Bereich der „Spekulation" bewegt, so handelt es sich bei alledem um nichts anderes als eine nachträgliche, „philosophische" Interpretation des mystischen Erlebnisses, daß Gott in der Seele wirkt. Indem er dieses Wirken spürt, fühlt er sich Gottes gewiß. Und in diesem Sinne ist es auch verständlich, daß unser Theologe gelegentlich diese Empfindung des göttlichen Wirkens Beweis genug sein läßt; auch der nachträglichen Reflexion über „Sachgehalte" bedarf er dann nicht mehr, denn Gott „beweist" sich selbst: „ipsa hujus perceptionis materia, ejus magnitudo ас efficacia . . . , modique vere supranaturales . . . non argumentum tantum vivum, sed et praesentia Dei existentis dicenda sunt . . . Etenim solus utique Deus causa est immediata et unica quae tam et movere possit et illustrare Mit anderen Worten: Von einer idea Dei im cartesianisch-„rationalistischen" Sinne, d.h. von einem An-denken Gottes im Sinne der Metaphysik, ist hier keine Rede. Das Entscheidende ist vielmehr, daß der Mensch sich auf jenes göttliche Wirken einläßt, das Wirken Gottes in sich geschehen läßt. Aus dem theoretischen Gottesbeweis Descartes' wird ein Beweis der mystischen Praxis: Gott ist letztlich nur dem bereits Glaubenden beweisbar. Und daß in der Tat unser Theologe den Gottesbeweis in diesem eminent-praktischen Sinne versteht, zeigt sich allerorts: Sobald er von der „Beweisbarkeit" Gottes redet, kommt zugleich auch der Gedanke des inneren Weges ins Spiel, der Entäußerung für das göttliche Wesen; denn was Poirets Gottesbeweise voraussetzen, ist ja, wollen sie schlüssig sein, die geistliche Wachheit der Seele. Mithin, so schreibt er, ist das Innere des Menschen von allem Außen zu reinigen, von allem Begehren, aber auch von allem Sinnenhaften; und er fährt fort: „Id si fiat, perceptio Dei . . . tam efficaciter nos movebit . . . , ut efficaciorem eam ac praesentiorem experturi simus, quam perceptionem nostri"'®''. Damit freilich ist die Auflösung des cartesianischen Gottesbeweises von der idea Dei innata her, welche sich implizit bereits in den Cogitationes Rationales von 1685 ankündigte, trotz des teilweise ganz cartesianischen Sprachinstrumentariums endgültig vollzogen. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang das terminologische Detail, welches sich bei der näheren Betrachtung von Poirets Gottesbeweisen auftut; denn in diesem findet sich manches, das uns zeigt, wie tief unser Theologe in der Tat aus dem Denken der Mystik heraus lebt. So verliert in der Beschreibung der Begegnung der Seele mit Gott das göttliche Wesen bisweilen alle Umrisse. In diesem Sinne vermag Poiret die •«6 AaO (I) S. 13. 167 AaO (I) S. 10. 106
perccptio Dei als einen Weg in die göttliche Dunkelheit zu bezeichnen, auf welchem alle Konturen sich verlieren, j a , nicht einmal das Wirken Gottes in irgendeiner Weise beschreibbar ist, denn es géschieht nicht im Sinne eines konkret bestimmten Aktes — „non m o d o particulari ac determinato"'®®. J a , bisweilen spricht unser Theologe nachgerade von einem Widerspiel von Licht und Finsternis angesichts der den Gottesbeweis begründenden Erfahrung des götdichen Wesens: Im Blick auf das Licht des menschlichen Denkens bedeutet das Empfinden des einfachen Seins Gottes D u n k e l ' ^ ' . Mehr noch, Hand in Hand mit dem Verlust des Konkreten und Anschaulichen im Gottesbild zeigt sich, daß jenes Innewerden Gottes in der Seele, welches das eigentümliche Stigma des poiretianischen Gottesbeweises ist, die Erfahrung des göttlichen Wesens so vermittelt, daß vor diesem alles im Nichts versinkt. Die Betonung der Distanz zwischen Essenz und Peripherie, zwischen G o t t und dem Nicht-Göttlichen nimmt eine solche Pointierung, j a nachgerade ekstatische Schärfe an, daß das, was sich in den Cogitationes Rationales dartat, weit dahinter zurückbleibt, obschon auch in jener Schrift der Gedanke der göttlichen Majestät im Vordergrund stand: „ I t a est, о Ens merum, abyssus vere infinita, qui es absolutum et simplex ego sum! T u solum es verum et unicum ego sum! . . . Ergo tuum illud ego sum, tibi reddo: vere enim est tuum. Me vero quod attinet, ego non sum, nisi conditione accedente, si scilicet ens absolutum me esse velit, et id quidem quod me esse volet. Nam si Ens absolutum voluisset cogitationem meam non esse, illa vere non esset, sique corpus meum sub forma bestiae aut rei inanimatae subsistere voluisset, talis revera fuissem"^''°. Fragen wir dabei nach dem historischen Hintergrund all dieser Aussagen, so stoßen wir zunächst wieder auf Tauler. Gerade auch er hat Gott als Finsternis beschrieben, als jenseits aller Dinstinktionen. Um ihn zu finden, muß sich die Seele auch ihrerseits in die Finsternis, in die „Wüste" begeben Indes ist auch die Mystik der romanischen Länder in Anschlag zu bringen. Mit ihr hat sich Poiret j a zunehmend beschäftigt. So ist vor allem an eine Schrift wie den Chrétien Intérieur von BemièresLouvigny zu denken. Zwar fällt Poirets Beschäftigung als Herausgeber der Werke dieses Mystikers erst in das J a h r 1709 dennoch hat er Bemières-Louvignys Hauptwerk bereits viel früher gekannt: Immerhin »«8 AaO (I) S. 16f. 169 AaO Ò) S. 17. »w AaO (I) S. 20. Vgl. Preger, aaO S. 148. Mit L a Pratique de la Vraye Théologie Mystique.
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wird es schon 1687 von ihm lobend erwähnt'''^, so daß seine Kenntnis dieser Schrift auch schon für die Zeit der Abfassung der Oeconomie Divine gesichert sein dürfte. Und zweifellos führt manches an den oben dargestellten Aussagen unseres Theologen in die Richtung des Chrétien Intérieur. So bedeutet auch für Bemières-Louvigny die Schau Gottes die Schau des Umfassenden, Unkonkreten, Allgemeinen ja, auch bei ihm findet sich jenes Ineinander von Licht und Finsternis als das Stigma der Gottbegegnung — etwa in jener paradoxen Sentenz „nox illuminatio m e a " Desgleichen bei ihm vorgezeichnet schließlich ist die Betonung der Distanz zwischen Mensch und Gott: „Man weiß, daß Gott alles ist / und daß die Creatur nichts ist" Aber nicht nur an Bemières-Louvigny ist in diesen Zusammenhängen zu denken. Nicht anders redet etwa Mme. de Guyon Es wäre indes müßig," hier weitere Beispiele zu geben. Dennoch müssen wir an dieser Stelle noch verweilen, denn ein Sachverhalt ist noch bedeutsam: Diese Deutungen Gottes als des Dunklen, Unanschaulichen, als des, vor dem alles andere im Nichts versinkt, stehen nicht inkohärent nebeneinander, sondern heben sich alle von einem gemeinsamen Hintergrund ab: Das Gottesbild wird ontologisiert. Gott wird nicht mehr in personalen Kategorien erfaßt, sondern in Seinskategorien. Er ist deshalb so unanschauhch, dunkel, vor ihm versinkt deshalb alles andere im Nichts, weil er das reine Sein ist und damit zugleich dasjenige, was als dieses Sein auch die Welt im Sein erhält — wie auch BemièresLouvigny an einer Stelle formuliert hat — und ihr ihr Wesen gibt; und er ist zugleich in diesem seinem Bewahren das „Omne b o n u m " , wie es der gleiche Mystiker ausdrückt'''®. Und in diesem Sinne hat ja auch Poiret etwa vom Ens merum gesprochen, das alles im Sein erhält. Mit alledem ist freilich der Gottesbegriff der antiken Philosophie in seiner ganzen Macht wiedererstanden, in wesentlich stärkerem Maße als etwa in der reformierten Orthodoxie konkreter: der Gottesbegriff 173 Vgl. Poirets Brief an die verfolgten französischen Protestanten (S. 2 7 4 der in De Eruditione Solida Specialiora abgedruckten Ausgabe). »74 Vgl. S. 203ff der deutschen Ausgabe (Innerlicher Christ), Einsiedeln 1713. »•'S AaO S. 249. »76 AaO S. 265. 177 Vgl. das Zitat bei Winter, aaO S. 98: „nuit plus brillant que le jour ta clarté devient étemelle. Mais que dis je clarté; tout me paroit obs(c)ur". »78 AaO S. 264. 119 Vgl. H. Faulenbach, Die Struktur der Theologie des Amandus Polanus von Polansdorf, Zürich 1967, S. 291ff (zit.: Faulenbach).
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des Platonismus/Neoplatonismus — vor allem im Blick auf die Deutung Gottes als des summum bonum bzw. die göttliche Abständigkeit von der Welt —, aber auch der des Aristoteles, insofern als Gott der ist, welcher alles im Sein erhält, obwohl letzterer Gedanke materialiter natürlich mit dem kirchlich-dogmatischen Topos von der creatio continua zusammenhängt Immerhin, Poirets Lehre von den Gottesattributen hat sich bei alledem nicht geändert. Zur ihr bietet sich in der Oeconomie Divine nichts, das über bereits Bekanntes hinausginge. Schon der Einsatz der diesbezüglichen Passagen zeigt die Kontinuität zwischen den Cogitationes Rationales und der Oeconomie Divine deutlich. Man fühlt sich nachgerade an Poirets 1677 getroffene Aussagen erinnert, wenn man in seinem systematisch-theologischen Hauptwerk über die götdiche sufficientia liest: „ita memet comparatum pemovi, ut totus ex alio pendeam, nec ad me sed ad alium referendus sim"'®'; und in diesem Sinne sieht Poiret diese Abhängigkeit von Gott wiederum in so hohem Maße gegeben, daß auch die Erkenntnis des Ich durch das Ich selbst von Gott und seinem Innewerden abhängt: ,,ut recte videam quisnam sim, qui sim . . . aliud ens a me diversum considerandum erit"'®^. In der Tat ist dies alles in Poirets Frühwerk bereits präfiguriert, wenngleich das mystische Element ungleich stärker geworden ist. Wir können dieses mystische Element etwa daran erkennen, daß Poiret seine Ausfuhrungen über die göttliche ,AIlgenugsamkeit' zugleich von der religiösen Erfahrung, der Erfahrung des mystischen Kreises her inteφretiert: Sie verweist den Menschen auf seine Abhängigkeit nicht allein im Sinne seines schöpfungsmäßigen Gewordenseins, seines ontologischen Woher, sondern zugleich auch im Blick auf sein Ziel: ,,Ego non ipse Auetor sum mei, sed ab alio naturam meam accepi, eamque ita comparatam, ut naturaliter versus ipsum, seu Originem, virtutem atque exemplar mei, ac desiderii mei objectum, converti debeam"'®'. Sehr ausführliche Aussagen über die göttlichen Eigenschaften finden sich allerdings in der Oeconomie Divine nicht. Einiges wird noch summarisch abgehandelt — so die göttliche aeternitas und inseparabilitas; zum Verständnis der götdichen sanctitas verweist Poiret sogar nur auf die Zweitauflage der Cogitationes Rationales'®'*. '80 181 182 183 184
Faulenbach, aaO S. 296. Oec.Div. I, S. 17. AaO (I) S. 28. Ebd. AaO (I) S. 31. 109
Haben wir bislang Poirets allgemeine Aussagen über Gott nachzuzeichnen versucht, so bleibt nun auch sein allgemeines, d.h. nicht trinitarisch spezifiziertes Verständnis der Seele, wie es sich in der Oeconomie Divine darstellt, zu beleuchten — wobei der Terminus „Seele" in diesem Zusammenhang natürlich auf ihren wesentlichen Bestand hin abzielt, also nicht auf das, was Poiret die „unteren Seelenkräfte" nennt, vor allem nicht auf die menschliche Vernunft. Sachlich entscheidend im Reden Poirets ist in diesen Zusammenhängen wiederum das gleiche wie in den Cogitationes Rationales von 1685: Die Seele als dasjenige, was das wahre Wesen des Menschen konstituiert, steht in engstmöglichem Zusammenhang mit ihrem Schöpfer und Urbild. Sie ist göttlicher Natur, sie partizipiert sübstantialiter am göttlichen Wesen. In diesem Sinne lautet bereits der Untertitel des diesbezüglichen Abschnittes der Oeconomie Divine: „Animae humanae naturam esse divinam"'®'. Diese Aussage gehört zu den Kemsätzen der gesamten poiretianischen Theologie. Fragen wir dabei nach der näheren Entfaltung dieses Kemsatzes, so bringt Poiret zunächst wieder die kirchliche Tradition ins Spiel — dergestalt daß er seine Lehre von der Göttlichkeit der Seele mit dem kirchlich-dogmatischen Satz von der Imagohaftigkeit des Menschen zu verbinden trachtet. Nichts anderes als diesen Topos der traditionellen Dogmatik will er mit seiner Anschauung ausgedrückt wissen: Ebenbild Gottes zu sein — das bedeutet eben, substantiell am göttlichen Wesen zu partizipieren. In diesem Sinne vermerkt er: „Illud quod imaginem Dei viventis conscii, liberi, supremi et independentis quoad fieri potest perfectissime repraesentabit, necessario esse debet naturae divinae, seu ejusdem naturae cujus est ipse Deus"'®®. Zweifellos ist dies eine Aussage, an welcher sichtbar wird, daß Poirets Ontologie der Seele ihren für ihn stringentesten Ausdruck erhalten hat. Indes begnügt sich unser Theologe nicht mit dieser Verknüpfung seiner Lehre von der Göttlichkeit der Seele mit der kirchlich-dogmatischen Lehre von der Imagohaftigkeit des Menschen. Er bemüht sich zugleich, seine Lehre als áen]íi-notwendig zu erweisen, und zwar vermittels der These, daß Gott nur durch das erkannt werden könne, was Gleichheit mit ihm hat In diesem Sinne kann etwa keine Materie mit Gott Gemeinschaft haben, weil er — cartesianisch formuliert — keine res extensa ist. Mithin folgert Poiret: „Ergo anima non posset cum ipso Deo commercium habere immediatum, ñeque Deus in ea habitare, пес ipsa in 185 AaO (I) S. 133. 186 AaO (I) S. 134. 187 AaO (I) S. 135. 110
Deum ingredi, nisi quid in ea inveniretur quod divinae esset naturae, aut potius, nisi ipsa naturae divinae f o r e t " Diese Begründung der Göttlichkeit der Seele ist im übrigen nicht ganz neu. Zumindest in den Cogitationes Rationales der Zweitauflage findet sie sich präfiguriert; wir erinnern nur an das von Poiret über die Erkenntnis der Trinität Gesagte: Der Mensch kann sie deshalb erkennen, weil er auf sie hin geschaffen ist. Hat unser Theologe freilich die Seele auch als substantialiter göttlich angesehen, so hat er es dennoch verstanden (und das zeugt von der systematischen Kraft seines Denkens), eine schlechthinnige Identifikation der Göttlichkeit der Seele und der Göttlichkeit Gottes auszuschließen — durch eine Unterordnung seiner Ontologie der Seele unter seine Vorstellung vom Wesen des göttlichen Schöpfertums allgemein, wie sie unser Theologe in den Cogitationes Rationales von 1685 in seiner Ideenlehre entwickelt hat: Ist die Seele auch göttlich, so allein aufgrund der Tatsache, daß Gott sich ihr hat mitteilen wollen, nicht aber in dem Sinne, wie das „Wort", d.h. das zweite Element der innertrinitarischen Bewegung, göttlich ist; seine Göttlichkeit ist essentieller Natur, die Göttlichkeit der Seele „arbiträr", wie Poiret es ausdrückt: „anima divina non est per communicationem divinae naturae necessariam, Deoque essentialem, per quam Verbum Dei Deus est; sed per solam communicationem arbitrariam"'®®. Unproblematisch ist diese Einordnung der Seelenlehre in die allgemeine Schöpfungslehre jedoch nicht; denn Schöpfung ist für Poiret ja schon seit 1677 etwas ontologisch-Geringwertiges, „exercitium" der göttliche Macht, wie er 1685 schreibt; sie ist letztlich etwas, das zu Gott, vor dem alles andere ein Nichts ist, in einem unendlichen Abstand steht. So müßte eigentlich auch die menschliche Seele unter dem ontologischen Verdikt alles Geschaffenen stehen. So sieht sich unser Theologe vor ein schwieriges Problem gestellt: nämlich die Seele einerseits als göttlich definieren zu wollen, andererseits aber auch als Nichts betrachten zu müssen, d.h. den Gedanken des ganz allein Wesentlichen und des schlechterdings Wesenslosen als die Stigmata ein und desselben Seienden festzuhalten. Er hilft sich mit einer sehr subtilen Distinktion: „animae . . . utpote quae in se ratione existentiae propriae extra existentiam Dei, sunt merum nihil. Ita ergo a se ipsis nihil sunt, et potuissent nunquam fuisse: at materia earura divina extra respectum ad subsistentiam hanc ipsis propriam, semper fuit in Deo. Hanc scilicet Deus quando mentes creavit, ex ipso extraxit . . . A d e o q u e 188 Ebd. 189 AaO (I) S. 137. Ill
de mentibus utrumque recte dicetur, tum quod semper simpliciter creatae aut ex nihilo extractae fuerint, tum quod ex Deo Pâtre sint natae"''®.
Mit anderen Worten, kann Poiret auch einerseits nicht genug daran tun, die Geringwertigkeit alles Außen zu beschreiben, so wird dieser Gedanke dennoch zugleich wieder gebrochen — im Sinne jenes Paradoxons der „Einheit in der Distanz": Steht Gott auch allem Außergöttlichen in unendlicher Ferne gegenüber, so bleibt er dennoch auch immer der, welcher dem Menschen unendlich nahe ist, ja, näher als dieser sich selbst. Und auch diese Nähe Gottes in der Seele wird — ganz analog zu seiner Feme — von unserem Theologen in vielfacher Weise beschrieben, bisweilen mit geradezu ekstatischer Emphase: J a , die Seele ist göttlich, sogar Gott-selbst, wenn auch nur vermittels der Gnade ihres Schöpfers, der sich ihr wesentlich mitteilen wollte'^'. Sie ist von göttlicher Materie*'^, „divinae particula aurae", wie die Philosophen sagen i " . In diesem Zusammenhang gewinnen auch Poirets Argumente für die Unsterblichkeit der Seele wiederum Gewicht; denn gerade auch in ihnen wird anschaulich, wie substantialistisch unser Theologe in der Tat über die Göttlichkeit der Seele gedacht hat. Besonders dies kristallisiert sich aus einem Gutteil seiner Beweisgänge heraus: Die Seele ist deshalb unsterblich, weil ihr Wesen das Wesen des unsterblichen Gottes ist. Verginge sie, wäre Gott-selbst in F r ^ e gestellt. Freilich, neu ist all dies wiederum nicht. Sehr ähnlich hat Poiret ja bereits in den Cogitationes Rationales von 1677 geredet, wenn auch noch nicht in den physisch-substantialistischen Kategorien, wie wir sie hier finden Dann freilich wird wieder einmal die Kontinuität in seinem Denken deutlich. Ein letzter Punkt ist in diesem Zusammenhang schließlich zu nennen: Auch über all diese Aussagen zur Göttlichkeit der Seele ist unser Theologe in gewisser Hinsicht noch hinausgegangen. Er hat sich abschließend auch um eine Begründung seiner Lehre aus dem biblischen Zeugnis bemüht. Allerdings erst im Nachhinein. Zunächst bringt er nur eigene Gedankengänge ins Spiel. Von grundlegendem Gewicht sind also die biblischen Aussagen von Anfang an in keiner Weise. Nimmt dieser Sachverhalt wunder? 190 AaO (I) S. 145. W« AaO (I) S. 137. Vgl. aaO (I) S. 141. 193 AaO (I) S. 148. 19« AaO (I) S. 150.
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Schwerlich. Wir brauchen ja nur an Poirets trinitätstheologische Aussagen zu erinnern, welche er 1685 in seinen Cogitationes Rationales dem Abschnitt über die unitas hinzugefügt hat: Bereits dort konnte er theologische Fragen erörtern, ohne auf die Schrift Bezug zu nehmen. Und er konnte es, weil ihm bereits zu jenem Zeitpunkt das Daß der vermittlungslosen Beziehung zwischen Mensch und Gott außer Frage stand. Von diesem Glauben an die vermittlungslose Beziehung zwischen Gott und Mensch erhält naturgemäß auch Poirets Hermeneutik a priori eine ganz eigentümliche Färbung: Die Schrift legt sich nicht selbst aus, wie die protestantische Theologie allgemein lehrt; das hermeneutische Prinzip ist vielmehr das substantiell-göttliche Innen des Menschen, dieses leitet ihn, die Schrift zu verstehen. Man betrachte etwa Poirets Deutung von Gen 2,7; gerade diese Stelle ist für Poirets hermeneutischen Ansatz höchst signifikant: Was unser Theologe aus ihr herausliest, ist eben nichts anderes als seine Überzeugung von der wesenhaften Wirkung Gottes in seinem Innen: Indem Gott dem Menschen von seinem Odem gibt, vermittelt er ihm substantialiter göttliches Sein: „(Spiratio) est communicatio ejus quod in intimis seu intra cor spirantis est. Ergo Deus homini ea dedit quae in ipso erant, hoc est, divinam naturam suam: nihil enim aliud in Deo e s t " ' ' ^ . Mit alledem bestätigt sich, daß die Bibel als die eigentliche Norm theologischen Denkens bei Poiret faktisch eliminiert ist. Die reformierte Tradition in ihrem ständigen Bezogensein auf die Schrift spielt keine Rolle mehr. Sie ist durch den mystischen Ansatz verdrängt worden. Von hier aus wird dann freilich verständlich, daß Theologen wie Jäger Poiret in unmittelbarer Nähe der Schwärmer gesehen haben Fragen wir aber nun wieder nach der Reaktion der offiziellen Kirche und ihrer Lehrer gegenüber all diesen Anschauungen unseres Theologen. Gewiß, zu jener allgemeinen Gotteslehre Poirets, wie wir sie bisher entfaltet haben, hat die kirchliche Theologie, soweit wir sehen können, geschwiegen. Erst Poirets Trinitätstheologie hat sie stärker interessiert. Dort jedoch, wo unser Theologe von der Göttlichkeit der Seele redet, finden wir die heftigsten Reaktionen. An erster Stelle ist Jäger zu nennen mit seinem Examen Theologiae Novae. Gerade diese Schrift enthält eine ausführliche Auseinandersetzung mit Poirets Seelenlehre. Natürlich geht es hier um grundsätzliche Positionen, um das ontologische Verständnis der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Poirets Substanzdenken ist dem Tübinger Lutheraner fremd; eine positive Kon195 AaO (I) S. 154. Vgl. Jägers ständige Verweise auf Poirets Affinität zu Weigel, Schwenckfeldt u.a. 8
Krieg, Kreis
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stante im Ich kann es für ihn letztlich nicht geben. Vielmehr weiß er sich zu fest mit dem Bewußtsein der Reformatoren verbunden, als daß er nicht erkennte, daß der Mensch aus sich selbst heraus, in seinem ontischen Da, radikal der Sünde verhaftet ist. Der Sündenfall, so hält Jäger seinem Gegner entgegen, hat im Menschen Spuren hinterlassen, die das Ich an sich zu erfahren vermag und welche ihm zeigen, daß von einer Imagohaftigkeit, wie Poiret sie im Menschen annimmt, durchaus nicht mehr zu reden ist''"'. Kann Jäger mithin Poirets These von der Göttlichkeit der Seele in keiner Weise nachvollziehen, so naturgemäß auch nicht ihre Begründung. Gewiß muß der Mensch eine Gleichheit mit Gott besitzen, um ihn aufnehmen zu können, aber dieser göttliche „Grund", dessen der Mensch bedarf, ist nicht eine „substantia . . . divina", sondern Gnade — ganz wie auch der Mensch vor dem Sündenfall nicht aufgrund seines naturhaften Seins eine — folgen wir hier Jäger — „Ähnlichkeit mit der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes" hatte, sondern nur, weil Gott diese ihm als ,dos superaddita'gegeben hatte Von dieser Position aus wird selbstverständlich auch Poirets substantialistische Deutung von Gen 2,7 abgelehnt. J e n e Vermittlung des göttlichen Odems, von welcher Mose hier spricht, verweist nicht auf substantielle Zusammenhänge zwischen Gott und dem Menschen, sondern einzig und allein auf die spiritualitas der Seele Gewiß ist auch Jägers Deutung dieser Textstelle nicht allein von dieser selbst (bzw. dem allgemeinen Kontext der Schrift) her bestimmt, sondern zugleich auch (und sogar in elementarer Weise) von der überlieferten kirchlichen Dogmatik her. Dennoch bleibt der hermeneutische Ansatz, von welchem aus sich der Tübinger dem Text nähert, ein von dem Ansatz Poirets fundamental verschiedener. Zumindest intentionaliter bleibt für Jäger die Schrift der einzige Ausgangspunkt aller theologischen Reflexion, mag auch das Dogma bisweilen das exegetische Detail verdunkeln. Dieses hermeneutische Prinzip ist aber bei Poiret weder ausgesprochen noch durchgeführt. Indes ist Jäger nicht der einzige, welcher sich mit den poiretianischen Thesen auseinandergesetzt hat. Vor allem gehört in die Reihe der Kritiker Poirets auch J . Lange, der Hallenser Theologe und Freund A. H. Franckes.
Examen, S. 285f. 198 AaO S. 255. 199 AaO S. 253.
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Auch er geht von Anfang an von der Grundentscheidung der kirchlichen Theologie aus, daß die Seele in keiner Weise substantiellen Anteil an Gott besitzt. Denn, so argumentiert er, besäße sie diesen, wäre sie selbst ganz und gar Gott, d.h. zugleich: sich selbst genügend. Der Unterschied zv^^ischen Schöpfer und Geschöpf wäre aufgehoben. Gewiß ist ihm dabei jene subtile Distinktion unseres Theologen nicht entgangen, aufgrund derer dieser die Göttlichkeit der Seele als eine „arbiträre" von der „essentiellen", „notwendigen" Göttlichkeit Gottes unterscheidet. Aber besagt dieser Unterschied etwas im Blick darauf, daß die Seele nichtsdestoweniger realiter göttlich ist? Nein, „Divinae naturae communicatio, sive necessaria dicatur, sive arbitraria, Deos efficit". In der Sache trägt also jene Distinktion Poirets nichts aus. Vielmehr kann aus der Tatsache, daß Gott keine Gemeinschaft mit der Materie haben kann, wie Poiret selber sagt, bereits die entscheidende Folgerung für die Bestimmung des Wesens der Seele gezogen werden — eben die, welche bereits für Jägers Entgegnung signifikant war: Es genügt, daß die Seele ein geistliches Wesen hat, in Analogie zur spiritualitas Gottes. In dieser Analogie ist für den Menschen die Möglichkeit einer Gemeinschaft mit Gott gegeben. Darüber hinauszugehen, wie Poiret es tut, heißt, die Eigenschaften Gottes und des Menschen miteinander zu vermengen Es ist nach alledem nicht verwunderlich, daß dort, wo Lange Poirets Einzelanschauungen über die Göttlichkeit der Seele unter grundlegend dogmatischen Gesichtspunkten subsumiert hat, das Urteil für unseren Theologen vernichtend ausfallen mußte. Und der Hallenser hat in der Tat — in einer Reihe von sieben Punkten — eine solche Subsumierung über die Analyse des einzelnen Topos hinaus vollzogen; in dieser aber wird hinlänglich deutlich, wie wenig Poirets Theologie mit derjenigen der Kirche tatsächlich noch zu tun hat. Greifen wir einige Punkte heraus: Nicht nur, so stellt Lange fest, ist das poiretianische Gottesbild aufgrund jener Seelenlehre gegenüber dem Gottesbild der kirchUchen Lehre ein anderes geworden — denn aufgrund jener Spekulationen Poirets über die Emanationen Gottes steht der Gedanke der göttlichen simplicitas auf dem Spiel; nicht nur ist auch das Verständnis der göttlichen Schöpfung als einer Schöpfung aus dem Nichts — wenn auch nur das Verständnis der Schöpfung der Seele, dennoch damit im Prinzip — durch die Deutung der Seele als einer Emanation aus Gott selbst Gefahren ausgesetzt, auch die Lehre vom Sündenfall enthält damit a priori heterodoxe Elemente: Sollte Poiret mit seinem Glauben 200 Lange, aaO S. 10.
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an die Göttlichkeit der Seele im Recht sein — wie ist dann zu erklären, daß der Mensch so tief fallen konnte? J a , wäre ein solcher Fall bei seinem göttlichen Wesen überhaupt möglich g e w e s e n D a r ü b e r h i n a u s ist für Lange aber auch die ganze Heilsordnung in Frage gestellt (und damit stehen wir an einem Punkt, an welchem sich die Kirche implizit gegen das hermeneutische Prinzip unseres Theologen wendet): Besteht der Glaube, daß die Seele göttlicher Natur sei, dann ist in der Tat die Gefahr gegeben, daß das biblische Zeugnis hintangesetzt wird, weil sich nunmehr das Ich befähigt glaubt, Gott unmittelbar aufzunehmen. Mit anderen Worten: Auch hier wird wieder anschaulich, daß Poirets Lehre von der Götthchkeit der Seele schwärmerische Tendenzen in sich barg. Schließlich — und das ist der letzte Punkt, auf welchen — betrifft Poirets Lehre von der Göttlichkeit der Seele num exitium hominis": „Siccine Deus se ipsum poterit se ipso discedere, ut Deus Deum condemnet et aeterno
Lange verweist auch das „aeterabnegare, et a exitio adjudi-
Poiret ist die Antwort auf die Attacken seiner kirchlichen Gegner nicht schuldig geblieben. Die Vindiciae Veritatis et Innocentiae reden hier eine deutliche Sprache. Vor allem hat er in seiner Verteidigung der Lehre von der Göttlichkeit der Seele auch zum ersten und einzigen Mal gegen Lange Stellung bezogen, während alle anderen Attacken gegen Jäger gerichtet sind. Die Struktur der Antwort zeigt indes, daß beide Seiten, Poiret und seine Gegner, letztlich von grundverschiedenen Voraussetzungen ausgehen: Die substantialistische Interpretation des menschlichen Seins als eines göttlichen steht gegen die kirchliche, welche ganz von den Strukturen von Sünde und Gnade her bestimmt ist, für welche das einzige geistliche Kontinuum letztlich Gott selbst ist, nicht dagegen irgendein Element im Ich des Menschen; denn dieses ist durch die Sünde verderbt. Von hier aus nimmt es dann letztlich nicht wunder, daß Poiret und seine Gegner auf weite Strecken aneinander vorbeireden. Bezeichnend in diesem Sinne ist bereits die Weise, wie unser Theologe mit seiner Apologie einsetzt; schon sie zeigt, wie wenig Eindruck die Argumente seiner Gegner auf ihn gemacht haben. Für ihn steht weiterhin die substantielle Götthchkeit der Seele außer Frage: „dubitari nequit inter intelligentes quin anima . . . re vera sit divinae naturae''^"^. Und das besagt weiterhin für ihn, daß die Seele als eine Emanation aus dem 201 AaO S. 14. 202 AaO S. 15. 203 Vindiciae, S. 560.
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göttlichen Wesen aufzufassen ist; ja, vielleicht hat er sich diese Ansicht in noch stärkerem Maße als früher zueigen gemacht, denn sie wird in den Vindiciae Veritatis et Innocentiae in einer Breite entfaltet, wie wir sie in der Oeconomie Divine so gut wie nie finden: „meum . . . conceptum sie exprimam: Deum . . . voluisse . . . elicere vim et potentiam quandam veluti semen aliquod spirituale quod extra se penerei, ас indueret nova individuitate sive personalitate". Sachlich neu ist diese Aussage indes wiederum nicht — ebensowenig wie das im folgenden von unserem Theologen Vorgebrachte: Was er herauszuarbeiten sich bemüht, ist wiederum vor allem jene Differenz zwischen der Göttlichkeit Gottes und der Göttlichkeit der Seele im Sinne seiner Ideenlehre — und am Schluß all dieser Ausführungen bleibt nichts weiter als die resignierende Feststellung über Jäger und seine Gegner überhaupt, daß sie letztlich gar nicht wissen, was sie mit ihrem Widerspruchsgeist eigentlich bekämpfen^®*. Von eigentlichen Gegenargumenten bemerkt man alles in allem wenig. Ein ganz ähnliches Bild bietet sich, wenn wir das von Poiret speziell gegen Lange Gesagte anvisieren. Auch hier argumentiert Poiret nur in sehr geringem Maße von der sachlichen Ebene aus, sehen wir von einigen Anmerkungen ab, welche er zu verschiedenen Einzelheiten der Polemik Langes macht und bei welchen man gelegenüich sogar fragen muß, ob er seinen Hallenser Gegner nicht bereits verbaliter mißverstanden Vielmehr wird wiederum allerorts deutlich, daß Poiret in der Tat zu dem, was ihm seine Gegner vorwerfen, nichts zu sagen hat; denn das Entscheidende, das er gegen Lange in Anschlag bringt, ist, daß er seinen Gegner an dessen frühere Position ihm gegenüber erinnert, an das Interesse, das Lange früher dem poiretianischen Schrifttum entgegengebracht hat, und seine Beurteilung Poirets als eines ,,hochverdienten M a n n e s W a s sein Gegner ihm zur Sache gesagt hat, ist dagegen nicht wert widerlegt zu werden. Im übrigen, so schließt Poiret, hat er sich in der Oeconomie Divine deutlich genug ausgedrückt^®'. So ergibt sich am Ende wieder, daß unser Theologe vor seinen kirchlichen Gegnern nicht einen Schritt zurückgewichen ist, ja, er ist nicht einmal auf ihre Argumente eingegangen. Fast noch bemerkenswerter an Poirets Apologie seiner Seelenlehre als jene Auseinandersetzung mit seinen Gegnern ist jedoch das Interesse unseres Theologen daran, seine eigene theologische Position vermittels 204 AaO S. 5 6 2 f f . 205 So wirft er Lange etwa vor, dieser glaube, er, Poiret, halte die Seele für eine Materie (Vindiciae, S. 566); hiervon kann keine Rede sein. 206 Vindiciae, S. 5 6 7 . 207 Ebd.
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einer Hinzuziehung deijenigen Denker weiter abzusichern, welche die gleichen oder ähnlichen Thesen vertreten wie er. Gewiß ist hier nicht jedes Detail von Bedeutung, aber es ist doch höchst aufschlußreich, daß letztlich alle Gewährsleute, welche Poiret im Blick auf seine Lehre nennt, auf ein und demselben geistigen Hintergrund gesehen werden müssen, nämlich dem Hintergrund des physisch-apotheotischen Denkens der frühen Kirche, wie es entstanden ist in der Adaption allgemein-hellenistischen, aber auch spezifisch-gnostischen Gedankengutes. S o zitiert unser Theologe etwa Äußerungen Justins — und sie können in der Tat als Präfiguration der Position Poirets gewertet werden^"®; desgleichen fehlt auch Orígenes nicht in der Reihe, in ähnlicher Weise werden schließlich auch Laktanz, Hilarius, Prudentius und Gregor von Nazianz hinzugezogen Und natürlich — wie könnte es anders sein — meldet sich hier auch der Mystograph Poiret zu Wort. Im Überschritt über die frühe Kirche treten auch die mystischen Nachfolger jener physisch-apotheotisch orientierten Seelenlehre nunmehr ins Blickfeld: vor allem Tauler (wobei unser Theologe nicht ohne Befriedigung vermerkt, daß auch Luther und Melanchthon, ganz zu schweigen von Arndt und Spener, jenem durchaus freundlich gegenübergestanden haben); ihm aber folgt die lange Reihe jener Mystiker, mit welchen sich unser Theologe im Verlauf seiner weiteren Entwicklung mehr und mehr vertraut gemacht hat — so Gerlach Petri, die hl. Brigitta, Robert Leighton, J o a n Pordage, Böhme, A. Bourignon, schließlich auch Mme. de Guyon^'". All dies zeugt erneut von einem erstaunlichen Wissen; es zeigt andererseits wiederum, daß Poiret an der spezifisch protestantischen Theologie nicht mehr interessiert war — erwähnt er sie, dann nur, wenn er ihre Aussagen in seinem Sinne verwerten kann (das zeigte gerade auch seine Nennung Luthers und Melanchthons in unserem Zusammenhang). Im wesentlichen aber bewegt er sich in einer Welt, welche nur in geringem Maße auch die Welt seiner Heimatkirche ist. Und von hier aus wird schließlich noch einmal deutlich, daß Poiret und seine Gegner, sofern sie die Theologie die Kirche vertraten, sich letztlich gar nicht verstehen konnten. 2. Die trinitarischen
Definitionen
Poiret ist naturgemäß bei den bisher analysierten Aussagen über Gott und die Seele nicht stehengeblieben. Er hat vielmehr seine Entwicklung 208 ^iQuae vero nobis est cum Dec cognatio? Num . . . anima . . . est illius Imperantis Mentis particula? . . . Omnino, i n q u a m " (aaO S. 569). 209 AaO S. 569ff. 210 Ebd.
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trinitarischer Denkkategorien zur Beschreibung dieser beiden Pole des Seienden, wie wir sie in ihren Ansätzen bereits in den Cogitationes Rationales von 1677 und weiter entfaltet in der Zweitauflage v o n l 6 8 5 finden konnten, noch fortgesetzt: S o f e m Gott „ i s t " , ist er ein trinitarischer, sich trinitarisch-dialektisch bewegender G o t t , und s o f e m die Seele ihn „wesentlich" widerspiegelt (d.h. wiederum: s o f e m Poiret von ihr nicht unter dem Aspekt ihrer facultates inferiores, besonders der Vernunft, redet), ist auch sie trinitarisch strukturiert, Abbild der göttlichen Bewegung. Daß diese Weiterentwicklung trinitarischer Aussagen geschehen mußte, liegt auf der Hand; denn gerade sie boten j a unserem Theologen die Möglichkeit, zum einen die Dialektik der religiösen Erfahrung, d.h. der Erfahrung der Seele, sowohl von Gott geschaffen, als auch stets auf ihn bezogen zu sein, am eindrücklichsten darzustellen, zum anderen aber auch die in dieser Erfahrung umschlossene mystische Methodologie, den inneren Weg des Einzelnen. Sachlich bedeutet dies für Poiret, daß er seine Aussagen über Gott und die Seele, s o f e m diese sein unmittelbares, eben wesenhaftes Abbild ist, noch einmal aufnimmt, nunmehr aber in der weiteren Entfaltung des Wesens beider. Beginnen wir mit ersterem: Poirets Anschauungen über Gott in seinem trinitarischen Leben. Der Ansatz, von welchem unser Theologe ausgeht, um das innere Leben Gottes zu beschreiben, ist uns bereits bekannt; es ist sein Verständnis Gottes als cogitatio. Denken: ,,Divinitatem Originariam, aut id q u o d primum in Deo concipi debet, concipiamus ut c o g i t a t i o n e m " ^ " . Allerdings erscheint der cogitatio-Begriff von Anfang an zugleich in der Art spezifiziert, wie wir sie ansatzweise bereits in dem trinitätstheologischen Abschnitt der Cogitationes Rationales von 1685 finden konnten: Er wird nicht mehr auf die Gottheit in ihrer Gesamtheit bezogen, sondem allein auf Gott in seinem Sein als Vater^'^. Er ist Denken. Indes geht Poiret in seiner Beschreibung des ersten Elementes der Trinität noch einen entscheidenden Schritt weiter, dort nämlich, wo er diese cogitatio, welche das Wesen des Vaters bestimmt, näher zu beschreiben sucht. Er tut es wiederum in einer Weise, die uns aus seinen früheren trinitätstheologisehen Äußerungen nicht mehr ganz 211 Oec.Div. (I) S. 192f. 212 AaO (I) S. 193.
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unbekannt ist, dergestalt nämlich, daß er das, was er andernorts — eben in den Cogitationes Rationales von 1685 — über das Wesen des ersten trinitarischen Elementes in der Seele gesagt hat, nunmehr auch in die Beschreibung Gottes einbringt: Hat er dort das Wesen der Seele in ihrem ersten Bewegungselement als Angst, Leere, Dunkelheit usw. beschrieben, so tauchen all diese Deutungen nunmehr auch im Gottesbild auf: Gott in seinem Ursprung, in seinem ersten Entfaltungsstadium, eben als der „Vater", wird nunmehr nicht allein als „Begehren", „Verlangen" beschrieben, sondern als „dunkles" Verlangen (desiderium tenebrosum), als im Status der Finsternis und der Angst, der Schmerzen und Qualen befindlich Wie freilich sind solche Aussagen über Gott überhaupt möglich? Wir müssen sagen, dadurch, daß unser Theologe sie als Abstraktionen versteht: Gott ist als begehrend und finster, als schmerz- und qualerfüllt zu begreifen, sofern er ohne das ,,Licht" des Sohnes und die „ R u h e " des Geistes betrachtet wird — ein Gedanke, welchen wir bereits ansatzweise in den Cogitationes Rationales von 1685 fanden. Es geht also — und dies sei noch einmal betont — nicht um eine Betrachtung Gottes in seiner Ganzheit, d.h. in seinem tatsächlichen Sein, denn in diesem ist er niemals ohne die anderen Elemente der trinitarischen Bewegung, mithin ewig auch „Licht" und „Ruhe". Was Poiret will, ist also nichts anderes, als das erste Moment, durch welches das innergöttliche Leben bestimmt wird, noch schärfer erfassen, d.h. den Charakter beschreiben, welcher das götthche Denken, Gott als Vater kennzeichnet. Betrachten wir nun diese Ausführungen Poirets in ihrem historischen Zusammenhang, so ist zu sagen, daß wir es hier mit einem weiteren Einbruch der Gedankenwelt Böhmes in die Anschauungen unseres Theologen zu tun haben. In Poirets Deutung Gottes als des dunklen Begehrens, als Angst und Qual kehrt Böhmes Gott des „Ersten Prinzips" wieder^i^. Man mag fragen, was gerade jetzt dieses verstärkte Eindringen böhmianischer Elemente in Poirets Gotteslehre veranlaßt hat. Bekannt war unserem Theologen das Denken Böhmes ja schon längst. Immerhin ist jedoch zu bedenken, daß gerade in die Zeit der Abfassung der Oeconomie Divine seine vielleicht eingehendste Beschäftigung mit dem Görlitzer Theosophen fällt. Sie ist ja so intensiv, daß sie in jenem erwähnten BöhmeKompendium auch einen literarischen Niederschlag gefunden hat. Aus diesem Kompendium aber wurde deutlich, daß Poiret gerade auch 213 AaO (I) S. 193f und S. 199. 2M V^. bes. H. Bornkamm, aaO S. 12f.
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Böhmes Prinzipienlehre mit ganz erheblicher Aufgeschlossenheit gegenüberstand. Im übrigen mußte Böhmes Deutung Gottes unter dem Aspekt der Finsternis bei unserem Theologen auch insofern auf fruchtbaren Boden fallen, als er diesen Gedanken auch bei Tauler und vor allem in der romanischen Mystik fand (wie er sich auch nach Jägers späteren Attakken gegen die Deutung Gottes als Finsternis nicht mehr auf Böhme, sondern auf Mystiker wie Angela da Foligno u.a. zurückzieht). Ist jedoch das Bild Gottes als des Vaters in der Weise von Böhme her konzipiert, wie wir es hier erkennen können, dann ist es nicht verwunderlich — ja, diese Konzeption des Verständnisses Gottvaters fordert es geradezu —, daß auch das Bild des Sohnes, d.h. das zweite innertrinitarische Element, entscheidend von dem Görlitzer Theosophen her geprägt ist. Freilich sind hier Anknüpfungspunkte Poirets an seine früheren Gedankengänge noch stärker gegeben als in ersterem Falle; denn hat unser Theologe auch in den Cogitationes Rationales von 1685 den Vater als cogitatio cupiens beschrieben und mag auch in seiner Adaption eines taulerianischen Begriffes wie „abyssus" zur Bezeichnung Gottes ein gewisses vorbereitendes Element für die Aufnahme des „Ersten Prinzips" Böhmes liegen, so ist unser Theologe doch noch nicht so weit gegangen, daß er Gott auch als angst- und qualerfüllt bezeichnet hätte. In der Deutung des Sohnes dagegen hat er, wie wir sehen konnten, bereits in den Cogitationes Rationales von 1685 zu Begriffen gefunden, welche ihren Ursprung im Denken Bölimes haben — sagen wir es nunmehr noch konkreter: in seiner Lehre vom „zweiten Prinzip". Insofern sind die Verschiebungen, welche sich hier ergeben, weniger auffällig. All dies ändert freilich nichts an der Tatsache, daß Poiret in der Oeconomie Divine auch in seiner Interpretation des zweiten trinitarischen Elementes der Gedankenwelt Böhmes in einem Maße Raum gewährt hat, wie wir es bisher noch nicht beobachten konnten: Der Sohn steigt gleichsam aus der Angst des Vaters empor, er löst sich aus dessen dunklem Begehren, seiner unruhigen Aktivität, er erzeigt sich als des Vaters „Bild", als sein „Erstgeborener", sein „Licht" und seine „Wahrheit". In ihm vermag sich der Vater zu erleuchten und zu erkennen Finden wir all diese Gedankengänge auch bei Böhme wieder, so liegen die Dinge bei Poirets Deutung des dritten trinitarischen Elementes problematischer: Der Einfluß Böhmes ist hier nicht mehr zu finden; aus gutem Grund, denn in der Interpretation des Heiligen Geistes konnte sich unser Theologe nicht mehr auf die Prinzipienlehre des Görlitzer Theosophen stützen — und zwar deshalb, weil nur Böhmes „Erstes"
215 Oec.Div. I, S. 199.
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und „Zweites Prinzip" sich trinitätstheologisch auswerten ließen, nicht dagegen das „Dritte Prinzip": Dies ist für Böhme die weltschaffende Potenz, das „materialische Prinzip"; es hat mithin nichts mit dem Heiligen Geist zu tun (Allenfalls ließe sich umgekehrt der Geist als das formende, „individualisierende" Prinzip für die materialische Welt verstehen)^'®. Mithin ist nicht verwunderlich, daß Poiret in seiner Interpretation des dritten trinitarischen Elementes im wesentlichen auf dem Stand verblieben ist, wie wir ihn in den Cogitationes Rationales von 1685 finden konnten: Der Geist erscheint gleichsam als die göttliche Empfindung, welche aus der Hervorbringung des Sohnes entsteht, als Gottes Liebe, seine Ruhe, seine Freude und Erquickung; im Begriff des Geistes drückt sich also die Erfällung des Sehnens des Vaters nach einem Abbild aus. Gott hat zu sich selbst gefunden, die innertrinitarische Bewegung ist vollendet^'"'. Fragen wir nun, wie dieser verstärkte Einbruch böhmianischen Denkens in die Theologie Poirets zu beurteilen ist, so zeigt sich sogleich, daß er sachlich ohne erhebliches Gewicht ist: Gott als „Begehren" — diesen Gedanken fanden wir bereits in den Cogitationes Rationales der Zweitauflage; desgleichen sind uns auch Poirets Deutungen des Sohnes als „Licht" usw. schon geläufig. Von der Sprache her ist der Einfluß des Görlitzer Theosophen dagegen elementar. Denn nunmehr hat die Trinitätstheologie unseres Theologen eine Färbung erhalten, welche ihren „heterodoxen" Charakter noch wesentlich stärker in den Vordergrund treten läßt als bisher. Hat schon bislang die Sprache der kirchlichen Dreifaltigkeitslehre für Poiret keine Bedeutung mehr besessen (wir erinnern nur an seine Eliminierung des Personbegriffes), so ist sie nunmehr gänzhch geschwunden. An die Stelle des kirchlichen Dogmas ist das mystische — und nunmehr sogar mystisch-theosophische — Gedankengut getreten. Daß von hier aus die kirchliche Theologie heftigste Angriffe gegen Poiret gerichtet hat, ist wohl verständlich. Zu einer Analyse dieser Attacken ist freilich hier noch nicht der Ort. Wichtiger ist zunächst die Frage: Worin besteht eigentlich der Grund, aus welchem heraus unser Theologe sich so weit dem Einfluß Böhmes erschlossen hat? Wir müssen sagen: Er besteht nicht in einem Interesse Poirets an einer Trinitätslehre an-sich. Was er in seinem Reden von der innergöttlichen Entfaltung vielmehr zum Ausdruck bringen will, ist letztlich nichts anderes als die theo-logische Begründung seines trinitarischen Sprechens von der Seele. Denn sofern er von der Trinität als dem inneren Leben 216 Vgl. H. Bomkamm, aaO S. 29. 2Π Oec.Div. I, S. 199f. 122
Gottes spricht, dann nur unter ständigem Bezug auch auf deren inneres Leben. Die Seele ist ja Abbild Gottes, seiner Natur, seiner Substanz, an seinem Wesen partizipierend, mithin auch an seiner trinitarischen Entfaltung: „(Anima) . . . Patris . . . et Filii et Spiritus S. emanationes atque characteres gerit"^'®. Diese Tatsache ist für unseren Theologen wiederum hochwichtig; denn allein dadurch, daß die Seele als das Abbild Gottes auch seine innere Bewegung in sich trägt, ist ja die Möglichkeit einer sozusagen exakten Darstellung des inneren Weges gegeben, wie wir bereits andernorts gesehen haben. Wie stellt sich nun diese Entfaltung Gottes in der Seele im einzelnen dar? Zunächst, sofern sich Gott in der Seele trinitarisch entfaltet, dann auf ihrem Seelengrund. Er ist der Ort, an welchem sich alle Bewegung vollzieht, die der Einung zwischen Gott und Mensch, des Ineinander-Übergehens von Subjekt und Objekt. Er ist der Ort, an welchem Gott, in der Metaphorik Poirets gesprochen, sein Festmahl halten w i r d ^ " . Freilich bleibt unser Theologe bei dem Begriff des fundus animae nicht lange stehen (wie er auch nie für sein Denken eine systembildende Funktion besessen hat). Was Poiret mehr interessiert, ist die trinitarische Entfaltung der Seele selbst. Natürlich steht auch hier wieder der Begriff der cogitatio am Anfang: Die Seele ist zunächst — ganz wie Gott — „Denken". Wie aber Gott im Ursprung seiner innertrinitarischen Entfaltung „Begehren" ist, so auch die Seele. In diesem Sinne vermag unser Theologe von einer „cogitatio directa, quae est cogitatio anhelans, quaerens et desiderans"^^® zu sprechen. Und in diesem Begehren findet sich die Seele in dem gleichen Zustand wie ihr göttliches Urbild; sie ist nichts anderes als ein „principium . . . tenebrarum et dolorum infinitorum"^^'. Wie aber Gott als Vater nach einem Objekt drängt, nach dem Sohn, nach dem „Licht", so auch die Seele. Sie drängt über sich hinaus nach Erleuchtung. Jedoch selbst vermag sie sich diese Erleuchtung, dieses Licht nicht zu schaffen; denn es ist ja — abbildlich — zugleich auch das Licht des Sohnes, der Sohn selbst. So muß es ihr von Gott gegeben werden Geschieht dies aber, so verwandelt sich die cogitatio directa in 218 AaO (I) S. 194.
219 И0 221 222
AaO AaO AaO AaO
(I) (I) (I) (I)
S. S. S. S.
207. 2lO. 195. 203f. 123
die cogitatio reflexa^^^, die intelligentia^^''*, wie Poiret es ausdrückt. Das begehrende Denken ist nunmehr nicht mehr richtungslos, sondern „verstehend", es hat ein Objekt. Dieser Objektfindung der cogitatio aber folgt die „Ruhe", die „Freude", j a die „Liebe"^^^ Damit hat die trinitarisch-dialektische Bewegung in der Seele ihren Abschluß gefunden. Indes verdient diese innerseelische Bewegung noch eine vertieftere Analyse; denn mit alledem sind wir zugleich auf einen Sachverhalt verwiesen, welcher bislang nur am Rande des poiretianischen Denkens hervorgetreten ist: Der Mensch hat zwar eine trinitarische Seele, aber dieser Satz ist allein eine Aussage zum Wesen des Menschen, nicht aber auch schlechterdings zu seinem ontischen Da. Denn vollendet wird die trinitarischdialektische Bewegung in der Seele allein von Gott her. Anders ausgedrückt, was dem Menschen naturhaft zugehört, ist nur das „desiderium", das Abbild des „Vaters", nicht dagegen die beiden anderen trinitarischen Elemente, das „Licht" und die „Ruhe", d.h. der „Sohn" und der „Geist": „Ea . . . quae (sc. anima) a Pâtre habet, naturam ejus constituunt, et inamissibilia sunt: quae vero eidem a Filio et Spititu S. suppetunt, ea non naturam . . . ejus . . . constituunt". Sie haben ihre Funktion darin, daß der Mensch zu seiner „Erfüllung" zu kommen vermag: „statum ejus (sc. animae) bonum, statum naturae luminosum et laetum constituunt""®. Dieser Gedankengang ist von hohem Gewicht, denn nunmehr kann unser Theologe, gerade auch bei seiner Anschauung von der Göttlichkeit der Seele, von der Sünde sprechen. Was Sünde ihrem Wesen nach stigmatisiert, ist eben dies: daß der Mensch das zweite und dritte trinitarische Element verloren hat und ganz aus dem ersten Element heraus lebt. Freilich, dieses Leben des Menschen ganz aus dem ersten trinitarischen Element heraus besagt zugleich, daß der Mensch in der Hölle lebt (und insofern ist Gott selbst, eben als das Urbild dieses innerseelischen Anfangs, Grund der Hölle): Denn was kann Hölle anderes besagen als jenes Zurückgeworfensein des Ich auf die Angst, die Finsternis und das dunkle Begehren, welches der Seele nach dem Verlust des „Lichtes" und der „ R u h e " innewohnt"·'? Von hoher Relevanz ist naturgemäß wiederum dabei das voluntaristische Element, welches alle diese Gedanken Poirets - sei es zur Gottes-, sei es zur Seelenlehre — durchzieht: Jener Weg zur Trinität, ob in ihrem 223 AaO (I) S. 2 1 0 . 224 225 226 227
AaO (I) S. 2 1 2 . AaO (I) S. 2 1 0 . AaO (I) S. 1 9 4 f . Ebd.
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Urbild oder ihrem Abbild, hat seinen Ansatz im „Wollen", im „Begehren", ist mithin ein Weg des Willens, das Wesen zu gewinnen. Dieses Element tritt nunmehr noch stärker hervor als in den Cogitationes Rationales von 1685, denn nunmehr sind die Konturen in Poirets Denken noch schärfer geworden — nicht zuletzt durch jene Adaption von böhmianischem Gedankengut. Wir erwähnten bereits andernorts: Von kirchlichem Denken kann bei alledem keine Rede mehr sein. Und mithin nimmt es nicht wunder, daß die Kirche in der Tat äußerst heftig reagiert hat. Und betrifft diese Reaktion auch nicht so sehr Poirets Reden von den trinitarischen Strukturen der Seele (gegen seine Psychologie zu polemisieren hatte sie auch sonst noch genügend Grund, wie wir bereits andernorts erkennen konnten), so doch vor allem seine Lehre von dem innertrinitarischen Leben Gottes und das dieser innewohnende böhmianische Element. Wiederum ist der Wortführer Jäger^^®. Letztlich, so schreibt er, ist Poirets Verständnis der Dreifaltigkeit so blasphemisch, daß kaum noch Lästerlicheres gesagt zu werden vermag; denn: „ Q u i d . . . de ineffabili et infinita illa luce (d.h. das göttliche Licht) potest atrocius dici, quam quod ejus Origo sit tenebrae et caligo"? Dabei wird im folgenden auch wieder höchst deutlich, wie sehr Poiret und seine Gegner in ihrer ganzen Denkweise verschieden sind: Der Begriff der „Dunkelheit" kann für Jäger in keiner Weise ein positives Stigma des göttlichen Wesens sein wie für Poiret, denn er bedeutet grundsätzlich „ I n f e r n u m " als Gottesferne, „separatio!] a Beatifica facie Dei, qua separatione nihil est tristius"; niemals jedoch verweist er auf die Hölle als etwas, das in Gott selbst gegründet ist; dieser Gedanke Poirets liegt dem Tübinger gänzlich fern. Sofern er ihn überhaupt erwähnt, so setzt er ihn mit Aussagen des „Pseudopropheten" Mohammed gleich. Gewiß ist dabei J ä g e r sich durchaus darüber klar, daß es sich bei Poirets Definition Gottes als „Finsternis" um eine Aussage handelt, welche in einem Abstraktionsvorgang zustandegekommen ist. Und in diesem Sinne erinnert er seinen Gegner sogar an dessen eigene diesbezügliche Aussagen. Aber, so fährt er fort, was ist das für eine Abstraktion, welche bei etwas Vollkommenem anhebt — hier: bei der göttlichen, trinitarischen Vollkommenheit, bei Gott in seinem ewigen Licht — und welche am Ende zu etwas Unvollkommenem fortschreitet: eben zur göttlichen „Finsternis"? Nein — und damit k o m m t J ä g e r zu seinen positiven Aussagen —, in Gott ist alles Licht, schon in seinem Ursprung. Es ist töricht anzunehmen. 228 Vgl. zum folgenden Examen, S. 71ff, bes. S. 73ff; Zitate S. 73 und S. 75.
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das Dunkel könne eher als das Licht sein. Aber auch jedes einzelne Moment im göttlichen Leben, die gesamte Dreifaltigkeit ist ganz und gar Licht. Es ist aber bezeichnend und zeugt von der Vertrautheit Jägers mit Anschauungen der Art, wie sie Poiret vertritt, daß der Tübinger Theologe nicht bei einer bloßen Kritik der gegnerischen Thesen stehenbleibt. Er kennt vielmehr auch die Psyche seines Gegenübers: Er ahnt — was auch wir gelegenthch schon andeuteten —, daß es Poiret letztlich um etwas ganz anderes geht als eine Trinitätslehre an-sich, nämlich darum, daß durch das Reden von dem trinitarischen Gott die Möglichkeit gegeben ist, die Beschreibung des inneren Weges erst eigentlich recht anschaulich zu machen. J a , von hier aus wagt er sich sogar zu der Vermutung vor (und wir haben gesehen, daß sie sich bis zu einem gewissen Grad sogar historisch verifizieren läßt), daß bei Poiret letztlich, existentiell, die Lehre von der Trinität in der Seele der Lehre über die trinitarische Bewegung in Gott vorausgeht, konkreter: daß erst der innere Weg reflektiert wird und dann erst, in einem zweiten Schritt, die auf ihm gewonnenen Erfahrungen des Menschen mit seiner innerseelischen Bewegung auf das innergöttliche Leben projiziert werden. Denn daß Gott Angst sei — wie kann Poiret dieser Gedanke zugekommen sein, wenn nicht durch eine Betrachtung der Seele vor ihrer Wiedergeburt? Und was ist schließlich die Bezeichnung des Sohnes als „Licht" und die Bezeichnung des Geistes als „ R u h e " und „Freude" anderes als eine Beschreibung eben dieser Wiedergeburt selbst? Freilich, für Jäger ist eine solche Analogie zwischen Gott und der Seele, wie sie hier als Postulat zugrundeliegt — und wie sie ja in der Tat von Poiret geglaubt wird — eine Täuschung: Wenn der Mensch in seine Seele blickt, so wird er keineswegs jenes inneren Weges gewahr. In ihr ist vielmehr nichts als Sünde. Wenn der Mensch nur in sein Innen schaut, so bleibt er ganz bei sich selbst. Gott tritt überhaupt nicht ins Blickfeld. Gott analog zur Seele bzw. die Seele analog zu Gott zu verstehen — das ist für den Tübinger mithin Häresie. Ein ganz entscheidendes Kriterium für Jägers Ablehnung der Trinitätslehre Poirets — ja, protestantisch-dogmatisch gesehen: das entscheidende — ist mit alledem jedoch noch gar nicht genannt: Das, was unser Theologe über die götdiche Dreifaltigkeit sagt, läßt sich auch in keiner Weise durch das biblische Zeugnis verifizieren. Damit freilich ist für den kirchlichen Theologen die Lehre Poirets noch auf eine grundsätzlichere Weise disqualifiziert als in den bisherigen Ausführungen sichtbar wurde. Denn ist sie nicht aus der Schrift Ijegründbar, dann fehlt ihr der Quellgrund, auf welchem allein alles Reden über Gott überhaupt möglich ist. Ihre Quelle 126
ist letztlich — und Jäger zieht diesen Schluß nicht ohne Zynismus — allein das Gehirn Poirets selbst. Anspruch auf Geltung kann sie mithin in keiner Weise erheben. Auch diese Attacke des Tübinger Theologen hat Poiret in den Vindiciae Veritatis et Innocentiae nicht ohne Antwort gelassen. J a , im Vergleich zu seiner Apologie der Lehre von der Göttlichkeit der Seele hat er hier sogar differenzierter geantwortet^^'. Hauptpunkt der Polemik Jägers war, wie wir sahen, das böhmianische Element in Poirets Trinitätslehre, vor allem die Deutung Gottvaters als „Finsternis". Hier setzt demgemäß auch Poirets Verteidigung ein — dergestalt, daß unser Theologe das Moment der Abstraktion, aufgrund welcher diese Deutung überhaupt erst zustande gekommen ist, noch weiter in den Vordergrund stellt: Gott als der Lebendige, in seinem faktischen, ewigen Sein ist stets in seinem Licht und seiner Freude. Das Element der „Finsternis" (bzw. der „Angst" usw.) wird in der Tat nur dann in ihm sichtbar, wenn der Mensch — noetisch gesprochen — die göttliche Dialektik gleichsam zum Stillstand bringt, um jenes Element des göttlichen Ur-anfangs gesondert für sich zu betrachten. Ja, mit dieser Abstraktion ist, so fährt unser Theologe fort, sogar die Homousie des Sohnes und die Göttlichkeit des Geistes noch deutlicher geworden (und das besagt implizit: Auch die kirchliche Theologie hat einen Gewinn davon!), denn wie kann Gott aus jenem Urzustand der Finsternis und Angst befreit werden, wenn nicht durch ein Gegenüber, ein „Abbild", das ihm gleich ist? Mehr noch, nicht nur versucht sich Poiret in der Frage des Gottesverständnisses vor allen Mißdeutungen seiner Position zu schützen, bisweilen — so hat es zumindest den Anschein — fühlt er sich sogar zu gewissen Eingeständnissen gegenüber der offiziellen Kirchenlehre genötigt. So betont er etwa das Unabgeschlossene, Vorläufige seiner Aussagen; auch dem böhmianischen Charakter dessen, was er über die Natur des Vaters gesagt hat, scheint er ein wenig verlegen gegenüberzustehen; schließlich beruft er sich auf die Aufrichtigkeit seiner Absicht, welche ihn zu der Aufnahme der in der Oeconomie Divine vorgebrachten Spekulationen über Gott getrieben habe: Er habe nichts anderes gewollt als „gleichsam kindlich" den göttlichen Dingen nachdenken. Dennoch sind retractationes wie diese für den Gesamtduktus von Poirets Gottes- und Seelenlehre, wie wir sie in den Vindiciae Veritatis et Innocentiae finden, so gut wie bedeutungslos. Daß Gott in dem ersten Moment seiner innertrinitarischen Bewegung „Finsternis" ist — dieser Ge229 Vgl. zum folgenden Vindiciae, S. 518ff, bes. S. 522ff. 127
danke bleibt ihm auch weiterhin unangefochten, wenn er ihn auch nicht mehr mit dem Blick auf Böhme darstellt, sondern in einem Rückgriff auf jene Mystiker, deren Gedanken von Gott ihm den Boden für seine Aufnahme dessen bereitet hatten, was Böhme über das göttliche Wesen sagt: So erinnert unser Theologe an Dionysius Areopagita, an Tauler, an Harff, an Seuse, schließlich an Angela da Foligno. Mit anderen Worten: Ganz wie bei seiner Verteidigung der Lehre von der Göttlichkeit der Seele stützt er auch hier seine Anschauung vor allem durch die mystische Tradition. Ein größerer Gegensatz als zwischen ihm und dem sich in seiner Argumentation vor allem auf das biblische Zeugnis berufenden Jäger ist schwerlich denkbar. Nach alledem aber zeigt sich wiederum hinreichend deutlich, wie wenig sich Poiret in den Vindiciae Veritatis et Innocentiae von der Oeconomie Divine entfernt hat; denn zwar erscheint, wie wir sahen, Böhme nur noch ganz am Rande — Poiret steht ihm nicht mehr ohne eine gewisse Verlegenheit gegenüber; sachlich jedoch sagt er auch jetzt, kurz vor seinem Tode, nichts anderes über Gott — vor allem in seinem ersten trinitarischen Element — als in seinem systematischen Hauptwerk. Wiederum also: Unser Theologe glaubt sich durchaus im Besitz der Wahrheit. Kehren wir aber nun zu der Seelenlehre der Oeconomie Divine selbst zurück; denn über das bisher Dargestellte hinaus enthält sie noch Aussagen, welche für das weitere Verständnis der poiretianischen Theologie von höchstem Gewicht sind. Vor allem ist Poiret auch bei dem Satz, daß die Seele insofern göttlich ist, als sie eine trinitarische Struktur besitzt, nicht stehengeblieben. Vielmehr ist er in seiner Differenzierung noch weitergegangen — und dies in einer Weise, die sich vor allem für seine Darstellung des inneren Weges, wie wir sie in der Oeconomie Divine, aber auch seinen späteren Schriften finden werden, als äußerst bedeutsam erweisen wird: Die Seele kann nur deshalb die göttliche Trinität in sich darstellen, weil sie von Gott, ihrem Schöpfer, dazu ausgerüstet ist — vermittels ihrer Vermögen; konkreter: ihrer facultates divinae, d.h. derjenigen Kräfte, welche ihr von Gott als abbildhafte Träger seines trinitarischen Lebens eingestiftet worden sind. Durch sie vermag der Mensch das wesentliche Bild Gottes zu sein^^°. Die Weise, auf welche unser Theologe die facultates divinae beschreibt und interpretiert, entspricht naturgemäß dem trinitarischen Bild, welches er von der Seele gezeichnet hat: Ist sie „cogitatio directa", „cogitatio reflexa" bzw. „intelligentia", entspricht ihr schließlich als ihr drittes Ele230 Oec.Div. I, S. 207ff.
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ment die „acquiescentia" bzw. das „gaudium", so besitzt sie demgemäß zum einen eine „facultas directo cogitandi", d.h. die Fähigkeit, das im Menschen abbildhaft vorhandene göttliche „desiderium" zu tragen, zum anderen eine „facultas cogitandi per reflexionem" bzw. eine „facultas intelligendi seu acquirendi", d.h. eine Fähigkeit zur Erfassung des göttlichen Lichtes, schließlich eine „facultas acquiescendi seu fruendi, hoc est, facultas amoris et gaudii", d.h. die Fähigkeit, des Wirkens des ,,Geistes" innezuwerden In der Tat ist uns diese Struktur bekannt; sie stellt nichts anderes dar als eine Übertragung dessen, was Poiret allgemein zum Wirken der Trinität in der Seele gesagt hat, auf die menschlichen Fähigkeiten, welche dieses Wirken Gottes ermöglichen. Indes ist unser Theologe in seiner Differenzierung noch weitergegangen: Die drei grundlegenden Vermögen der Seele, aufgrund welcher sie ein Spiegel der Trinität zu sein vermag, differenzieren sich zugleich in sieben Einzelstufen, und zwar dergestalt, daß die „facultas directo cogitand i " die ersten vier Stufen, d.h. die verschiedenen Arten des „Begehrens" umschließt die fünfte und sechste Stufe der zweiten und dritten facultas animae entspricht, die letzte schließlich die Synthese aus allem b i l d e t D a b e i ist gerade diese letzte Stufe von besonderer Wichtigkeit; denn jener Gedanke der inneren Einheit aller göttlichen Kräfte bedeutet nichts anderes, als daß dort, wo in der Tat die trinitarische Bewegung der Seele abgeschlossen ist, d.h. die Seele sich in ihrem essentiellen Stadium befindet, alle ihre Teile in gleicher Weise am göttlichen Licht teilhaben, daß aber andererseits dort, wo der ,,Sohn" nicht in der Seele wirkt, diese Einzelkräfte gleichsam dezentriert erscheinen: Die facultas directo cogitandi als das, was die Natur des Vaters in der Seele trägt, gewinnt die Vorherrschaft und mit ihr die Empfindung der Qual und der Angst; die facultas cogitandi per reflexionem und die facultas acquiescendi bleiben leer, da ihnen die Fülle des zweiten und dritten trinitarischen Elementes fehlt. Mit anderen Worten, das, was Poiret über die Wirkung des Verlustes der imago Trinitatis im Menschen gesagt hat — daß seine Folgen letztlich das seelische Chaos sind —, das findet hier seine Bestätigung auch von den „Trägern" der innerseelischen trinitarischen Bewegung h e r ^ ^ . Hier fordert nun das Detail Bcachtung, denn in ihm wird erneut deutlich, wie tief der Einbruch Böhmes in Poirets Denken zur Zeit der AbÎ31 AaO (I) S. 2 1 0 . 232 AaO (I) S. 2 l 3 f . 2 3 3 Ebd. 234 AaO (I) S. 2 1 4 . 9 Krieg, Kreis
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fassung der Oeconomie Divine gewesen ist: Diese Aufteilung der Seele in sieben Stufen, vor allem auch ihre Zuordnung zu den einzelnen Elementen der Trinität, ist nichts anderes als eine psychologisierende Parallele zu Böhmes Verknüpfung der „Drei Prinzipien" mit den „Sieben Gestalten" oder „Quellgeistern" — d.h. den »Wesenheiten', aufgrund derer Gott eine Beziehung zur Welt b e s i t z t S o wie Poiret die vier ersten Stufen als Stufen des „Begehrens" interpretiert und sie mithin dem ersten trinitarischen Element zuordnet, so entstehen Böhmes vier erste „Gestalten" aus dem ,begehrenden Willen', eben dem „Ersten Prinzip"^^^, d.h. zugleich (gemäß Böhmes gelegentlich unternommenem Versuch, die Prinzipienlehre mit der Trinitätslehre zu verknüpfen) auch aus dem ,,Vater". So wie für Poiret die fünfte Stufe dem zweiten trinitarischen Element zugehört, so Böhmes fünfte „Gestalt" dem zweiten Prinzip, mithin auch dem „Sohne"; in diesem Sinne treffen sich auch hier beide Denker^^''. Die Parallelen zwischen Poiret und Böhme fehlen bei der sechsten Stufe bzw. „Gestalt": Unser Theologe hat sie auf den Geist bezogen; Böhme dagegen konnte dies nicht, weil er von der Prinzipienlehre her denkt, diese aber keine pneumatologische Ausdeutung gestattet; daher ist auch das Bedeutungsprisma, welches der Görlitzer Theosoph der sechsten ,,Gestalt" zumißt, recht breit: Sie erscheint etwa als .Träger der hl. Namen G o t t e s ' o d e r als ,Grund der M a g i e ' E i n f a c h e r liegen die Dinge dagegen wiederum bei der siebten Stufe bzw. „Gestalt". Sowohl für Poiret wie für Böhme hat sie synthetische Funktion: Bei ersterem erscheint sie, wie wir sahen, als Ausdruck der Einheit der Seelenkräfte, bei letzterem als „die Wesenheit, davon die sichtbare Welt entsprungen" Gewiß ist Poirets Darstellung im Detail unböhmianisch; so leitet er die sieben Stufen allegorisierend von den Sieben Säulen der Weisheit ab, eine Allegorese, welche Böhme nicht geläufig ist, wenn er auch die Zusammenhänge zwischen Seele und „Weisheit" (wie auch zwischen „Weisheit" und Trinität) kennt aber im ganzen ist die Analogie von Poirets Gedankenführung zu derjenigen Böhmes zu deuthch, als daß man sie ignorieren könnte: Es wird kaum zu leugnen sein, daß wir es bei Poirets Spekulationen mit einer Adaption, aber zugleich auch bewußten Weiterbildung von Anschauungen Böhmes zu tun haben. 235 23« 237 238 239 240 241
Vgl. H. Bornkamm, aaO S. 31ff. Theosophische Fragen 3:11; Oec.Div. I, S. 212. Theosophische Fragen 3:16; Oec.Div. I, S. 212. Theosophische Fragen 3:32. AaO 3:34. AaO 3:35. Oec.Div. I, S. 207.
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Allerdings geht diese Weiterbildung einigerorts recht weit. Das kosmische Element, welches den sieben „Gestalten" Böhmes innewohnt, ist bei Poiret gänzlich eliminiert. Verblieben sind sie lediglich als Stufen der innerseelischen Bewegung. Haben sie aber auch ihren kosmischen Charakter verloren, so sind sie dennoch selbst im Detail überaus böhmianisch, wenngleich „anthropologisiert". Man betrachte etwa Poirets Beschreibung der Weisen des „Begehrens", welche der cogitatio directa, sofern sie eben die ,,facultas directo cogitandi" besitzt, innewohnen, d.h. seine Auslegung der vier Stufen jener ersten Kraft der Seele — er deutet sie als „desiderium tenebrosum", als „agitatio inquieta", als „animi anxietas", schließlich als ,,(impetus cum ardor,) ut in flammas quasi erumpat, et extra se veluti proruens totum se conjiciat versus illud quod desiderat et quaerit"^^^ — und man vergleiche sie mit Aussagen Böhmes, in welchen er von dem Charakter des Willens zum Objekt spricht, welcher dem „Ersten Prinzip" eigen ist, von seiner ,,Ängstlichkeit, daß der Wille im Finstern verschlossen ist", von dem ,Urkunden' des „ewige(n) Gemüthe(s), daß der Wille aus der Quali will in ein ander Quellen der Sanftmuth"^''^ Ebenfalls ganz psychologisch umgedeutet ist die fünfte „Gestalt" Böhmes: Während sie sich bei diesem als das göttliche Licht und ,,LiebeFeuer" manifestiert, wie man gelegentüch erkennen kann^''^, ist es bei Poiret allein das göttliche Licht in der Seele, welches wirkt: Dort, wo diese die vierte Stufe ihres Begehrens erreicht hat, vermag sie sich gleichsam in Gott hineinzustürzen, während er zugleich ihrem Akt korrespondiert und mithin die „facultas cogitandi per reflexionem" wieder mit dem ihr ontologisch zukommenden Licht beschenkt^"'. Zur sechsten und siebten Stufe lassen sich solche Beobachtungen allerdings nicht treffen, da hier Poiret und Böhme — trotz jener vorhandenen gewissen Parallelität hinsichtlich der siebten Stufe bzw. der siebten ,,Gestalt" — allzu weit auseinandergehen. Zweifellos hat Poirets Bild von Gott und der Seele durch diese Adaption böhmianischer Gedanken an Farbigkeit gewonnen. J e n e Begegnung der Seele mit Gott, welche Poiret bereits in seiner ,,cartesianischen" Periode zu beschreiben gesucht hat, wird mit all diesen ihm nunmehr zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln gleichsam eingekreist: sowohl vermittels eines differenzierteren Verständnisses Gottes als auch einer eindringlicheren Interpretation der Seele. Somit ist nicht ver2 « AaO (I) S. 2 1 2 . 243 Drey Principien 1 4 : 6 4 f . Theosophische Fragen 3 : 1 6 . 245 Oec.Div. I, S. 2 1 2 .
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wunderlich, daß unser Theologe gerade auch bei der Beschreibung der Möglichkeiten, welche der Seele eben durch ihre facúltales divinae zukommen und aufgrund welcher der Mensch wieder zu seinem ihm von Gott anerschaffenen (aber in der faktischen Existenz, nach dem „Sündenfall" verlorengegangenen) Wesen zu gelangen vermag, seinen mystischen Empfindungen freien Lauf läßt. In immer neuen Variationen umschreibt er die substantielle Füllung des Ich durch die Einwohnung der Trinität, d.h. die Erfüllung der Seele mit dem göttlichen Licht und der göttlichen Ruhe, die Stillung des menschlichen Begehrens nach seinem ursprünglichen „Ort", nach der „Heimat", umschreibt er die Beseligung des Ich in der Einfachheit und Ewigkeit Gottes^''®. Hier hat für Poiret auch das Hohe Lied seinen Ort — und seine allegorische Deutung verteidigt er energisch gegen die historisch-kritische Exegese eines Ledere, wie man an einigen Ausführungen erkennen kann^^''; überhaupt die gesamte mystische Literatur gehört für ihn hierher — denn was will sie anderes ausdrücken als eben jene Begegnung der Seele mit ihrem Schöpfer? So führt er Bemières-Louvigny an, Juan de la Cruz, Madre T e r e s a S i e alle haben es verstanden zu zeigen, wie sich diese Begegnung zwischen Schöpfer und Geschöpf vollziehen kann, und sie vermögen diese Erkenntnis durch die Beispielhaftigkeit ihres Lebens, aber auch durch ihre Lehre weiterzugeben. Wir sehen nun alles in allem, daß in der Tat Poirets Lehre vom Wesen Gottes und vom Wesen der Seele (d.h. wiederum natürlich, sofern sie nicht auch die Vernunft und die anderen »unteren Vermögen' des Ich umschließt) in der Oeconomie Divine ein Stadium erreicht hat, in welchem sie mancherlei Möglichkeiten zur Entfaltung einer mystischen Methodologie enthält. Das Sprachmaterial, den inneren Weg zu beschreiben, ist unserem Theologen nun in ganzer Fülle in die Hand gegeben. Und wir werden sehen, daß Poiret sich in der Tat all das bisher Entwickelte, von der mystischen Tradition her Adaptierte und in sein Denken Integrierte zur Darstellung seiner Lehre vom inneren Weg zunutze macht. Es wurde uns freilich bereits bei der Analyse der Cogitationes Rationales bewußt, daß dieser Weg einer grundlegenden Voraussetzung bedarf, will er zu seinem Ziel führen: Die Seele muß /гег sein, das für sie Gute zu wollen, d.h. sich für das „Licht" und die „ R u h e " des trinitarischen und in ihr trinitarisch-abbildhaft wirken wollenden Gottes entscheiden
246 AaO (I) S. 223f. 247 AaO (I) S. 225f. 24S Ebd.
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zu können. In diesem Sinne spraciien sich ansatzweise bereits die Cogitationes Rationales von 1677 aus, umso deutlicher aber noch ihre Zweitauflage von 1685. Ähnliche Gedankengänge finden wir auch in der Oeconomie Divine wieder. Und wie hier Poirets Lehre über Gott und die Seele allgemein ihren systematisch-theologischen Höhepunkt erreicht hat, so erscheint nunmehr auch sein Verständnis der menschlichen Freiheit bis in alle Konsequenzen entfaltet. 3. Gott, die Freiheit der Seele und die Frage der
Prädestination
Ansatz der Freiheitslehre der Oeconomie Divine ist der gleiche wie in den Cogitationes Rationales von 1685: Der Mensch ist frei, weil er Gottes Ebenbild ist: ,,homo liber est ex constitutione sua prima et originaria, quippe cum per eam sit viva Imago Dei"^'*'. Dabei erscheint auch das Detail dieses Freiheitsverständnisses in jener Schrift vorgebildet: Der Mensch ist nicht nur, wie die Kirche lehrt, in „äußerlichen" Dingen frei, sondern auch zur Begegnung mit Gott, „quis tam absurdus erit ut dicat, animam quidem in rebus externis liberam esse; at in se ipsa et ratione facultatum divinarum vinctam"^'°? Dabei bedeutet dieses Freiheitsverständnis zugleich auch, daß der Mensch sich genauso bewußt von Gott abzuwenden vermag^^^. Dieses Freiheitsverständnis besagt indes nicht, daß nicht auch Poiret von einem göttlichen Wirken, göttlicher Gnade wüßte, die allem menschlichen Tun voraufginge. Freilich, mit jener forensischen Gnade Gottes, welche sich selbst Raum im Ich verschafft, dem Menschen durch den in der Schrift wirksam werdenden Heiligen Geist ohne sein Zutun gegeben, von welcher die Kirche spricht, hat Poirets Gnadenlehre nichts gemein. Sie ist eher, metaphorisch gesagt, das Licht der Sonne, das den Menschen bescheint, ohne daß er sich ihm ö f f n e n müßte. Erst wenn sich der Mensch ihr tatsächlich öffnet, wird sie wirksam. Sie zwingt ihn also nicht, sondern wirkt mit seinem Wollen zusammen: „(ente desiderante, i.e. anima) desideria sua legitime dirigente. Deus ei divinam actionem suam recusare non potest"; ja, von hier aus vermag Poiret den Gedanken einer wechselseitigen Determination Gottes und des Menschen zumindest nicht abzulehnen 249 AaO (I) S. 2 5 2 . 250 AaO (I) S. 2 6 4 . 251 AaO (I) S. 2 3 1 . 252 AaO (I) S. 2 7 7 f .
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All dies ist wiederum spätscholastisch-nominalistische Theologie. Auch die Spätscholastik faßt ja die zuvorkommende Gnade als einen allgemeinen concursus divinus auf, durch welchen sich der Mensch zum Heil disponieren kann^'^. Es ist klar, daß diese Freiheitslehre einen starken antiprädestinatianischen Zug besitzt. Denn von ihr aus ist der Glaube an ein streng forensisches decretum divinum, das auf das ewige Geschick des Menschen abzielt, a priori eliminiert. Sofern Poiret überhaupt noch von einem vorausschauenden Planen Gottes reden will, so nur im universalistisch-positiven Sinne (wobei zugleich auch sein philosophisch orientiertes Gottesbild wieder hindurchschimmert): Gott, welcher alles im Sein erhält, will, daß dieses Sein auch überall zu seinem Recht komme. Anders ausgedrückt: Gott will die Glückseligkeit aller. Und wo es um diese Aussage geht und um ihre Abgrenzung gegen anderslautende Gedanken, da kennt Poirets Polemik keine Grenzen: Wer den Menschen die Lehre von der Vorherbestimmung predigt, der verkündigt ihnen das Wort des Teufels Freilich bleibt unser Theologe nicht bei solchen Exklamationen stehen, sondern tritt — am Schluß der ,.Haushaltung über die Schöpfung" — auch in die Argumentation ein. Ihre Substanz erhalten die einzelnen Argumente dabei naturgemäß aus seinem oben nachgezeichneten Verständnis Gottes und des Menschen. Betrachten wir etwa das achtunddreißigste Argument; in ihm wird besonders deutlich, wie Poiret gerade von seinem Verständnis der Ebenbildlichkeit des Menschen und seiner in ihr begründeten Freiheit aus gegen die Prädestinationslehre polemisiert: Gott hat dem Menschen die gleichen Möglichkeiten, sein Tun zu lenken, gegeben, welche er selbst hat, und er hat ihm auch die Weise dieses Lenkens ganz selbst überlassen. Sollte aber das, was G o t t dem Menschen gegeben hat, nicht gut sein und seinem Heil dienen? Ist doch in G o t t nichts als Gutes Gewiß, wir finden innerhalb der Vielzahl der Gründe, welche unser Theologe gegen die Prädestinationslehre vorbringt, manches, was über die bisher genannten Gesichtspunkte hinausgeht. Indes können wir hier wieder das Detail übergehen, weil implizit vieles bereits andernorts angeklungen ist: so den Gedanken, daß Gott die Seele aufgrund ihrer eigenen Göttlichkeit nicht zum ewigen Verderben bestimmen kann^'®, oder den Gedanken, daß Gott nach der menschlichen Gerechtigkeit 253 Vgl. O. Scheel, Martin Luther. Vom Katholizismus zur Reformation, Bd. II, Tübingen 1917, S. 89ff. 254 Oec.Div. I, S. 377f. 255 AaO (I) S. 381. 256 AaO (I) S. 379.
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vergelte^®''. In jedem Falle steht für ihn am Schluß: „ Q u o t q u o t humanae naturae participes facti, aut imposterum futuri sunt, cos omnes et singulos a Deo ad vitam aetemam fuisse . . . praedestinatos"^'®. Werfen wir nun einen Blick auf Poirets Argumente in ihrer Gesamtheit, so ist der Gegensatz zur überlieferten calvinistischen Lehre wiederum elementar. Sicherlich ist nicht überall im Calvinismus der Gedanke der Prädestination in seiner ganzen Schroffheit aufrechterhalten worden — aber gänzlich abgelehnt haben ihn auch Poirets frühe theologische Lehrer nicht, wie wir bereits andeuteten. So stehen gerade auch Wettsteins Äußerungen — zumindest wenn man seinen in Basel gehaltenen Disputationen und Dissertationen folgt — noch ganz auf dem Boden der Tradition, fallen sie auch, wie mancherorts sichtbar wird, durch ihren Irenismus auf^®®. Und ist Wettstein auch, wie Geiger gezeigt hat, in der Frage der Prädestinationslehre in späteren Jahren milder eingestellt als manche seiner Zeitgenossen^®", so hat er sich eben doch nicht zu einem Leugner der überlieferten Lehre entwickelt. Zur Gesamtbeurteilung der Stellung Poirets zur überlieferten kirchlichen Anschauung fast noch wichtiger ist jedoch ein anderer Sachverhalt: Letztlich zeigt sich in seiner Haltung wieder etwas von dem, was wir im Blick auf seine Gottes- bzw. Seelenlehre mit Winter als die ,,Einheit in der Dis t a n z " bezeichnet haben: Ist Gott auch das ewige Sein, vor welchem alles andere im Nichts versinkt, so besitzt der Mensch dennoch eine Dignität, welche ihm die reformatorische Theologie nicht zugesprochen hätte. Andernorts hat unser Theologe diese Dignität in seinem Reden von der Göttlichkeit der Seele ausgedrückt, hier in seinem Reden von der Freiheit des Menschen, sich selbst auf sein Heil hin auszurichten; und dabei ist letzterer Gedanke in ersterem begründet: Der Mensch kann sein Schicksal in die Hand nehmen, weil er jene ontologisch vorgegebene Güte besitzt, eine Güte, welche zwar beeinträchtigt werden kann (seine trinitarische Seele vermag zum bloßen desiderium herabzusinken), welche er aber niemals gänzlich verlieren wird. Natürlich hat diese Hochschätzung des Menschen eine Geschichte: Auch manche Theologen des späten Mittelalters sprechen so^®', aber letztlich reicht diese Position bis in die Zeit der Antike. 257 AaO (I) S. 380. 258 AaO (I) S. 383. 259 Vgl. seine Disputatio Theologica de Praedestinatione, Basel 1655: „Nostrum non est . . . propterea (d.h. wegen der Prädestination) litare" (Schluß von These XL). 260 Vgl. Geiger, aaO S. 340f. 261 Zur Freiheitslehre der Spätscholastik vgl. C. Feckes, Die Rechtfertigungslehre des Gabriel Biel und ihre Stellung innerhalb der nominalistischen Schule, Münster 1925, S. 32 (zit.: Feckes).
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Freilich weisen die Elemente, welche Poirets Menschenbild stigmatisieren, nicht allein zurück, sondern auch voraus: in die Aufklärung, wie j a auch ringsum allerorts schon aufklärerische Tendenzen am Werk sind, selbst in Deutschland. Wir denken an Thomasius. Poiret selbst hat, wie wir noch andernorts sehen werden, heftig gegen Denker der Aufklärung polemisiert, gerade auch gegen den letztgenannten. Zu Recht? Subjektiv durchaus. Denn einen entscheidenden Schritt hat unser Theologe in der Tat niemals getan: Niemals hat er die Vernunft als einen essentiellen Bestandteil des menschlichen Seins angesehen oder sie gar als nachgerade „theologische" Größe verstanden — wie es etwa sein großer mystischer Zeitgenosse Fénelon in seiner Identifikation von Vernunft und „reiner Liebe" getan h a t ^ " . Nein, sie bleibt — ganz wie die ,,Welt" — auch innerhalb der Oeconomie Divine und aller folgenden Schriften gänzlich außerhalb des „Wesentlichen".
Die Peripherie: Die Welt und die unteren Seelenkräfte 1. Die Welt Neben der Definition dessen, was das Wesen Gottes und das Wesen der Seele ausmacht — beider „Kern", dargestellt in trinitarischer ßegriffhchkeit — nimmt auch jenes andere Element der Theologie Poirets in der Oeconomie Divine einen gewissen Raum ein: die Verweisung all dessen, was nicht unmittelbar auf das Wesen Gottes und die Seele, d.h. ihre „oberen Kräfte", bezogen ist, an die ontologische Peripherie. Das betrifft zum einen Poirets Verständnis der Welt. Unser Theologe hat sie bereits in den Cogitationes Rationales von 1677 als gegenüber dem göttlichen Wesen sekundär definiert. Diese ihre Ortsbestimmung findet nunmehr eine abschließende Formulierung. Die Welt ist zwar eine Schöpfung Gottes — Gott hat sie beschlossen und in seinem Beschließen zugleich realiter in ihr empirisches Da gestellt (Poiret nennt diesen göttlichen Beschluß gelegentlich ein decretum productionis^^^) — aber die Idee, aus welcher sie heraus entstanden ist, sozusagen der mundus intelligibilis, ist in keiner Weise essentiell und notwendig an das göttliche Wesen gebunden. Essentielles göttliches Tun und Hervorbringen geschieht allein innerhalb der innertrinitarischen Bewegung. 262 Vgl. Wieser, Deutsche und romanische Religiosität, Berlin 1 9 1 9 , S. 89ff. 263 Oec.Div. 1, S. 4 5 .
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Wie gesagt, schon die Cogitationes Rationales der Erstauflage vertreten eine solche Anschauung. Nunmehr erscheint sie jedoch in einer Ausführlichkeit begründet, in welcher sie uns bislang noch nicht begegnet ist. Diese Ausführhchkeit in der Begründung zeichnet sich bereits dort ab, wo Poiret von dem Ursprung der Ideen redet: Das Post ihrer Ersinnung durch Gott gegenüber dem Prae seiner innertrinitarischen Bewegung wird nun erstmals in der Sprache des Johannesprologs ausgedrückt: Am Anfang ist das Wort, das Gott selbst ist — d.h. das Gespräch Gottes mit sich selbst, Gottes Selbstdarstellung. Nichts anderes „ist" zunächst, nichts, das nicht Gott selbst, Gott in seinem Wesen wäre. Freilich, ohne diese göttliche Selbstdarstellung im Wort ist andererseits auch nichts denkbar, weder eine Idee, noch eine geschöpfliche Wahrheit, noch eine Kreatur, wie denn auch der Evangelist schreibt: „Omnia per Ipsum (sc. Verbum) facta sunt id quod sunt"^^. Natüriich hat J o h 1,1 ff schon immer — zumindest seit Orígenes — als Brunnenstube zur Spekulation über die Beziehung Gottes zur Welt gedient. Ein gutes Teil der kirchlichen Tradition hinsichtlich der Lehre über die Schöpfung ist hier begründet. Schauen wir jedoch Poirets Auslegung, wie wir sie oben in ihrem Grundgehalt wiederzugeben suchten, genauer an, so zeigt sich, daß trotz dieser formalen Übereinstimmung mit der Kirche die kirchliche Exegese in keiner Weise aufgenommen ist: Diese hat j a allgemein das Wort als den „Ort" der Ideen verstanden — im Sinne jenes textkritischen Mißverständnisses von J o h für Poiret dagegen ist das Wort nur die Selbstdarstellung Gottes selbst, ohne etwas NichtGöttliches zu enthalten, wie er ausdrücklich hinzufügt. Intendiert ist also wiederum die schlechthinnige Entfernung der Ideen aus der göttlichen Essenz. Immerhin — und auch das zeigte uns die oben wiedergegebene poiretianische Deutung des Johannesprologs — besagt dies alles nicht, daß die Welt ohne das Wort geschaffen sei. In welchem Sinne ist dies jedoch zu verstehen? Poiret antwortet: Das Wort ist zwar nicht der „Ort", aber immerhin das „Vorbild" der Ideen. Die Selbstbetrachtung, welche Gott in seinem „Wort", d.h. zugleich seinem „ S o h n " volhieht — gelegentlich kann Poiret darüberhinaus auch von einer Selbstbetrachtung Gottes durch den ,,Geist" r e d e n — , gibt ihm gleichsam den Gedanken, sich auch in einem
AaO (I) S. 45. Zur Stellung der Ideenlehre in der kirchlichen Theologie vgl. Gilson-Böhner, aaO S. 13 und S. 66. Oec.Div. I, S. 46. 137
anderen Gegenüber als dem „Wort" (bzw. dem „Geist") darstellen zu können — nunmehr aber eben auf eine nicht-wesentliche W e i s e M e h r noch: Gott hätte diesen seinen Gedanken gar nicht zu folgen brauchen^®®, ja, er hätte (und dieser Gedanke ist uns bereits in den Cogitationes Rationales von 1685 begegnet) auch eine ganz andere Welt schaffen können als die tatsächlich geschaffene Schließlich geht Poiret noch einen Schritt weiter: Diese Beziehung zwischen Gott und der Welt bestimmt sich nicht mehr allein als eine solche zwischen dem Wesentlichen und dem schlechterdings Unwesentüchen, sondern — und damit stehen wir vor einem Punkt, welcher in demjenigen der Nichts-Erfahrung vor dem göttlichen Ich-bin seine Parallele besitzt — als Gegensatz zwischen Sein und Nichts. Signifikant in diesem Sinne ist bereits der Titel des diesbezüglichen Kapitels der Oeconomie Divine: „Ideas rerum per se esse nihil"^'®; und ebenso signifikant sind manche Aussagen innerhalb dieses Kapitels selbst: Sie sind in ihrer überwältigenden Mehrzahl von der Erfahrung bestimmt, daß dasjenige, welches nach dem Anschein der „Welt" „Wesen" besitzt, vor dem götdichen Sein nur noch Nichts ist: „omnia, omnes res, omnesque ideae . . . verbo, omnia omnino, sola essentia Dei excepta, a se sunt merum nihil" Damit hat also in der Tat jene mystische Verweisung der Welt an die äußerste Peripherie ihren Höhepunkt erreicht. Nur eben — und das ist wichtig: das Wesen der trinitarischen Seele ist mit alledem nicht berührt. Gewiß, auch sie hat Poiret bis zu einem gewissen Grade im Nichts angesiedelt — dennoch bleibt sie aufgrund ihrer Göttlichkeit der lichte Punkt im Dunkel all dessen, was nicht Gottselbst ist, dasjenige, was bei aller Distanz zwischen Gott und Schöpfung die Nähe zwischen beidem wahrt. Natürlich hat auch hier die Kirche abwehrend reagiert, wiederum vor allem in der Gestalt Jägers: denn mit alledem wird ja, wie wir bereits andernorts sehen konnten, der Bezug zwischen Gott und Welt in einer Weise definiert, welche durchaus nicht im Sinne der traditionellen Dogmatik war. Gewiß ist der Tübinger Theologe Poiret gegenüber in der Beurteilung theologischer Einzelfragen durchaus nicht unsachlich. So erkennt er dessen Urteil über die absolute Suffizienz Gottes durchaus an: Sicher be-
268 269 270 271
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Hier mag man wieder an Einflüsse Taulers denken (vgl. Preger, aaO S. 156). Oec.Div. I, S. 46. AaO (I) S. 48. AaO (I) S. 32. AaO (I) S. 33f.
darf Gott keines Außen zu seiner Glückseligkeit Desgleichen stimmt er auch mit der sich aus dem Gedanken der Suffizienz Gottes für Poiret ergebenden Folgerung durchaus überein, daß in der Tat allein das göttliche Wollen, die göttliche Majestät Grund der Erschaffung der Welt sei. Dann allerdings trennen sich die Wege der beiden Gegner — ganz an der gleichen Stelle, an welcher sich Poiret bereits 1677 von der Tradition zu lösen begann. Sie trennen sich zunächst dort, wo es um die Frage nach dem Viesen der Hervorbringung der Ideen aus Gott geht; denn für Jäger werden mit Poirets Lehrmeinung Distinktionen in Gott hineingetragen, welche gänzlich unangemessen sind: Dadurch, daß sich der Vater erst gleichsam des Sohnes bzw. des Geistes „bedienen" muß, um die Welt erschaffen zu können — eben dadurch, daß ihre Betrachtung ihm gleichsam den „Anlaß" zur Schöpfung des Außen gibt — erscheint er als solcher sozusagen „unfähig" zur Weltschöpfung, d.h. zugleich: Er unterscheidet sich von dem Sohn und dem Hl. Geist. Sagt aber nicht das Athanasianum, daß zwischen den drei Personen höchste Gleichheit herrsche? Nein, wenn Gott die Welt schafft (und damit blendet Jäger von der Kontroverse ab und entfaltet seine eigene Position, d.h. zugleich die der Kirche), so allein in der Weise, daß er sich essentialiter, mit seinem Wesen, in das Außen begibt, wenn auch schlechterdings frei in seiner Weisheit und Macht. Er, die Fülle seines Wesens, ist gleichsam die Quelle, aus welcher das Seiende fließt. Dieses ist in ihm enthalten wie der Wassertropfen im Meer, wenn auch auf unvergleichhch erhabenere Weise. Ist mit alledem der Gegensatz zwischen Poiret und seinem kirchlichen Gegner — in gewisser Hinsicht können wir auch sagen, zwischen einem „deistischen" und einem „theistischen" Gottesbild — in elementarer Weise deuthch geworden, so ist dennoch ein entscheidender Punkt der gesamten Diskussion bislang außer acht geblieben: Auch hier stellt Jäger die Frage nach der Verifizierbarkeit der Thesen Poirets durch die Heilige Schrift. Sie aber ist negativ zu beantworten. Als den entscheidenden Hintergrund in Poirets Ideenlehre erkennt der Tübinger Theologe vielmehr die Philosophie Piatons bzw. — und hier zeigt er sich als durchaus scharfsinniger Beobachter — Descartes'. Diese Philosophen freilich zur Deutung der Beziehung zwischen Gott und der Welt heranzuziehen, anstatt sich unter die Schrift zu beugen — das ist für Jäger ein Zeichen der Ehrfurchtslosigkeit gegenüber der göttlichen Majestät. Und von hier aus ist es dann auch kaummehr verwunderlich, daß Jäger seinem Gegner ,Rationalistische" Tendenzen vorwirft: Denn woher sind Poiret seine Anschauungen zugekommen wenn nicht aus der menschlichen Vernunft? 272 Zum folgenden vgl. Examen, S. 221ff, bes. S. 224ff.
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Wieder hat Poiret in den Vindiciae Veritatis et Innocentiae geantwortet, und auch hier ist er keinen Schritt zurückgewichen. Immerhin wird jedoch deutlich, daß er in seinem Verständnis der Ideen in der Tat nicht allein Denker wie More oder Spinoza als Gegner empfindet, sondern auch die kirchliche Theologie. Dieser Sachverhalt zeigt sich, wenn wir nach dem Detail Erwiderung fragen. Zunächst: Jägers Attacken auf seine er einzig mit einem Rückverweis auf die entsprechenden der Oeconomie Divine ab. Neue Argumente werden von haupt nicht in Anschlag gebracht
in Poirets Thesen wehrt Abschnitte in ihm erst über-
Umso aufschlußreicher sind indes die Passagen, in welchen unser Theologe seinerseits die Position Jägers in Frage stellt. Und an diesen Stellen wird nun sehr bald sichtbar, daß es in der Tat das „theistische" Reden von Gott ist, gegen welches er sich wendet — mag es durch einen Philosophen der Schule von Cambridge vertreten werden, durch Spinoza oder auch durch die kirchliche Theologie! Denn könnte ein Argument wie das folgende, gegen Jägers Lehre von der Hervorbringung der Ideen aus der Fülle des göttlichen Wesens gerichtete, nicht auch gegen einen Philosophen wie More gerichtet sein? „Plenitudo essendi in Deo, cum sit ipse essentialis, sitque ipsemet Deus, nihil ex illa qua tali et naturaliter sequitur quam ipsemet Deus Filius et Deus Spiritus S.; et si creaturae inde fluerent, Deus essent. (2) Si quid ad merum Dei arbitrium sequitur ac fluit ex plenitudine essendi in Deo, illud debet esse naturae Divinae; nam nihil ex rcjj esse rei sequitur quam quod ejus τοϋ esse particeps est. (3) Unde consequens esset omnes creaturas esse divinae naturae participes; quod vero de coiporeis asserere, Manichaeismum saperet, et duceret ad Spinosismum"^''''.
Sachlich richtig wird man die Folgerungen, welche Poiret hier glaubt aus dem Ansatz Jägers ziehen zu müssen, indes nicht nennen können. Denn sind auch für die kirchliche Lehre die Ideen auf „wesentliche" Weise in Gott vorhanden, so bedeutet dies doch keineswegs, daß Gott die causa materialis der Welt ist. Er ist allein ihre Exemplarursache. Die Welt ist in ihm vorhanden wie das Kunstwerk in einem Künstler^". Daß Poiret diesen Sachverhalt nicht richtig durchschaut hat, ist freilich nicht verwunderlich, wenn wir uns daran erinnern, wie substantialistisch er auch sonst denkt: eben in seiner Seelenlehre. Und daß er mithin auch nicht die Differenz zwischen der Kirchenlehre und Spinoza in dieser Frage gesehen hat, wird ebenfalls verständHch. Korrigiert hat er seine Anschauungen indes nie. Wir hörten bereits andernorts: Noch Pungeler warnt er davor, andere zum Spinozismus zu verführen! 273 Vindiciae, S. 557. 274 AaO S. 558f. 275 Vgl. J. Brinktrine, Die Lehre von der Schöpfung, Paderborn 1956, S. 61f.
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2. Die Vernunft und die anderen unteren
Seelenkräfte
Schon ein flüchtiger Blick auf Poirets Vemunftverständnis in der Oeconomie Divine zeigt, daß unser Theologe auch hier sachlich über das schon in den Cogitationes Rationales von 1685 Gesagte kaum hinausgegangen ist. Das einzige gegenüber der Schrift von 1685 eigenthch Neue ist nur seine bereits ervkiähnte Einordnung des Vernunftbegriffes in das Gesamdeben der Seele: Sie gehört (neben den Sinnen und der Einbildungskraft, vgl. dazu unten) zu den ,.unteren Seelenkräften" im Vergleich zu den facultates superiores, „quae Divinitatem puram concernunt, quaeque solae vere sunt superiores, et ad perfectionem creaturae essentialem vereque divinam necessariae"^^®. Weitere Ausführungen erübrigen sich hier; zum Verständnis des Details kann auf das verwiesen werden, was wir in der Analyse der Vemunftlehre der Cogitationes Rationales von 1685 angemerkt haben. Ein Gedanke innerhalb Poirets Ausführungen zum Vernunftbegriff innerhalb der Oeconomie Divine verdient freilich noch Beachtung. Noch einmal stellt sich unser Theologe vor die Frage nach der Gottesidee. Wie er diese Idee grundsätzlich beurteilt, haben wir auch im Blick auf sein systematisches Hauptwerk bereits gesehen: Als solche trägt sie nichts aus, da sie allein in der ratio angesiedelt ist, eben einem peripheren Element des Menschen, sie mithin nicht zu Gott selbst vorzudringen vermag. Immerhin: Ist die menschliche Vernunft auch etwas Unwesentliches, so ist sie dennoch in einer Setzung Gottes begründet. Von hier aus aber vermag Poiret ihr sogar einen positiven Aspekt abzugewinnen: Aufgrund dessen, daß sie, wenn auch in ganz peripherer Weise, ihren Grund in Gott hat, ist sie transzendierbar, d.h. sie vermag (wenn auch nur in der kärglichen Weise, auf welche sie mit ihrem Schöpfer verbunden ist) auf ihn selbst, zu seinem Wesen hinzuleiten. Weit ausgeführt hat unser Theologe diesen Gedanken nicht. Er ist nur insofern interessant, als daß in ihm, sozusagen exemplarisch, eine Anschauung anklingt, welche Poiret in anderen Zusammenhängen (vor allem in seinem Traktat über die Wahrheitsfindung) noch ausführlicher entfalten wird: die Vorstellung von der Transzendierbarkeit der Vemunft-selbst. Die rationalen Akte des Menschen geschehen allein dann im Sinne der ontologischen Beschaffenheit der Vernunft, wenn sie den Verweisungscharakter besitzen, welchen Poiret hier von der idea Dei fordert^^'. Das heißt natürlich andererseits, daß aller menschliche Vernunftgebrauch, welcher nicht über sich hinausweist, sondern bei der Vernunft als solcher, 276 Oec.Div. S. 288. 2''·' AaO (I) S. 301. 141
mithin im Vorfeld des Eigentlichen verbleibt, von Poiret wieder einer heftigen Kritik unterzogen wird — gerade auch im Zusammenhang mit seinem Reden von der idea Dei: Diejenigen, welche bei der Vernunft verharren, sind letztlich blind und ebenso verhärtet wie die Juden gegen den Gottessohn^''®. Es ist demnach auch nicht überraschend, daß gerade in Zusammenhängen wie diesen, welche den Zusammenhang zwischen der Vernunft und dem Reden von Gott zu beleuchten suchen, jenes Element in den Vordergrund tritt, welches den exakten Gegensatz zu allem sich nicht entäußern und dem göttlichen Licht, dem Sohn, erschließen wollenden Menschengeist darstellt: der Gedanke des unreflektierten, schhchten Glaubens: Angesichts dessen, daß die Vernunft nur in verschwindend geringem Maße die Möglichkeit bietet, Gott näher zu kommen, ist es angemessener, Gott in unintellektualistischer Einfachheit zu suchen; insofern sind die „Gebildeten" auch weniger für das Reich Gottes bestimmt als die „Ungebildeten", die, welche von allen dem UnwesentHchen verhafteten Ideen der Vernunft „leer" sind^^. Fragen wir abschließend nach jenen anderen „unteren Kräften", welche unser Theologe in der Seele findet. Es sind dies vornehmlich die Sinne und die Vorstellungs- bzw. (wie Poirets Berleburger Übersetzer schreibt) Einbildungskraft. Und sind diese beiden innerseelischen Elemente für das Verständnis der Theologie Poirets in ihrer Gesamtheit auch ohne Bedeutung, so sind sie — besonders das erstere Element — immerhin deshalb zu erwähnen, weil zum einen von ihnen aus ein weiteres Schlaglicht auf Poirets Abkehr von Descartes fällt, weil sie andererseits aber erneut zeigen, wie sehr unser Theologe alles sub specie essentiae betrachtet hat. Zunächst iilso: Was sind für Poiret die Sinne? Unser Theologe antwortet: Der Mensch hat die Sinne erhalten, damit er die Werke Gottes wahrhaft („realiter") genießen könne^®°. Sie sind ihm das Organ für die Apperzeption der Dingwelt, des mundus sensibilis in seiner augenfälligen Zuständlichkeit. Diese Gedanken sind hochwichtig, denn sie zeigen an, wie wenig Interesse Poiret noch an der cartesianischen Weise der Wahrheitssuche hat. Hat er bereits Descartes' Anschauungen über die Erkenntnis des mundus intelligibiUs durch eine mystische Erkenntnislehre ersetzt, wie wir sahen, so sehen wir hier, daß auch die Erkenntnis des mundus sensibilis von ihm gcinz uncartesianisch verstanden wird. 278 E b d .
AaO (I) S. 302. 280 AaO (I) S. 327.
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Diese ganz und gar uncartesianische Position läßt sich an jedem Detail belegen: Was unser Theologe im Blick auf den mundus sensibilis anvisiert, ist ein erkenntnistheoretischer Realismus. Um die Funktion und das Wesen der Sinne zu begreifen, dazu bedarf es keiner Metaphysik. Vollzieht sich im Menschen Sinnesempfindung, dann ist es allein das reale, empfundene Objekt, welches diese Empfindung in ihm hervorbringt: „sola objecta corporalia eas (sc. sensationes) efficiunt"^®', von einem wie auch gearteten götthchen Wirken kann gar keine Rede sein, wie Poiret an gleicher Stelle ausdrücklich betont. J a , gelegentlich klingt implizit sogar Polemik gegen den cartesianischen Zweifel an der Existenz des mundus sensibilis selbst an: „Dehramenta narrant . . . , qui docent, natura nullam dari certitudinem firmam atque invincibilem existentiae corporum"^®^. Freilich, Poiret wäre kein Mystiker, wenn er bei solchen Aussagen stehenbleiben könnte, zeugen sie auch von einer bemerkenswerten „pragmatischen" Haltung gegenüber der Welt. Denn unversehends bricht überall auch ein theologisches Element durch, und zwar ein solches, das uns wieder daran erinnert, daß wir uns mit all diesen Erörterungen auf der Ebene des Unwesentlichen bewegen. So stehen wir etwa plötzlich inmitten Poirets Aussagen über die Wirksamkeit der Sinne vor einem Abschnitt, in welchem er auf die Ekstase der Heiligen zu sprechen kommt, d.h. in welchem er wieder an jenen Punkt zurückkehrt, welchen zu beschreiben sein ganzes Anliegen ist, den Punkt der Begegnung von Gott und Mensch auf dem Grund der Seele. Er nimmt also unvermittelt wieder eine Position außerhalb seiner erkenntnistheoretischen Ausführungen ein, ja, im innersten blickt er auf sie herab: Wo der Grund der Seele von Gott, von der Ewigkeit berührt wird, so schreibt er, da zeigt sich sehr deutlich, wie unwesentHch alle Sinnesempfindungen sind. Der Heilige in der Ekstase spürt die Wirksamkeit seiner Sinne nicht mehr^®^. Sie sind ihm wie tot. Und ein Gleiches zeigt sich auch an den Menschen, welche ganz in der Gegenwart Gottes leben, Gott ganz in ihrem Inneren besitzen: Mögen sie auch von Leiden aller Art gequält werden — solange sie Gottes gewiß sind, sind sie glücklich, ,,in ipsis et iam doloribus . . . gravissimis"^®''. An Stellen wie diesen hat man Poiret zugleich auch als Hagiographen vor Augen, als Editor von Viten mystischer Laien und Theologen. Man denke etwa an seinen Bericht über die letzte Krankheit des Marquis de Renty. Dieser Mystiker ist
281 AaO (I) S. 2S2 AaO (I) S. 283 AaO (I) S. AaO (I) S.
345. 348. 341. 353.
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Zeuge für die Unabhängigkeit des eigentlichen Ich, der Seele nach ihren „oberen K r ä f t e n " , von der sinnenhaften Empfindung. Weniger von Belang ist in diesem Zusammenhang Poirets Analyse der menschlichen Einbildungskraft. Die diesbezüglichen Ausführungen unseres Theologen sind im übrigen auch von Schering eingehender untersucht worden^®'. Wollten wir umschreiben, was Poiret unter der „imaginatio" versteht, so müßten wir etwa sagen: Die Einbildungskraft ist die Fähigkeit des Menschen, sich an sensuell Apperzipiertes zu erinnern. Insofern steht sie letztlich unter den gleichen Strukturen wie die Sinne selbst. Wir k ö n n e n sie deshalb übergehen.
IV. Die Gottes- und Seelenlehre jenseits der Oeconomie Divine Das Büchlein über die christliche Erziehung der Kinder und das Buch über die dreifache Bildung Mit der Oeconomie Divine und den Vindiciae Veritatis et Innocentiae haben wir eine große Zeitspanne im Leben Poirets umgriffen: Sie reicht vom J a h r 1687 bis in die Zeit kurz vor seinem Tod. Und wir haben im vorigen erkennen k ö n n e n , daß sich sachlich in dieser Zeit im Blick auf die Grundstrukturen poiretianischen Denkens nur wenig getan h a t : Das, was Poiret seit der Abfassung der Oeconomie Divine geglaubt und gelehrt hat, ist bis zum Ende seines Lebens seine Ansicht geblieben. Dennoch soll auch das Schrifttum, welches unser Theologe innerhalb dieser Zeitspanne geschrieben hat, nicht gänzlich außer acht gelassen werden, denn es vermag die Kontinuität, welche zwischen den obengenannten Werken besteht, noch weiter aufzulichten. Wie groß die Beständigkeit in Poirets Denken in der Tat ist, zeigt sich zunächst im Büchlein über die christliche Erziehung der Kinder von 1690. Betrachten wir zunächst die Gotteslehre. Gewiß, die Bezeichnung Gottes als cogitatio, jenes Grundelement des Gottesbegriffes der Cogitationes Rationales und der Oeconomie Divine, fehlt. Sollte man sie aber in einem Buch über Kindertrzìeìwxng auch erwarten? Sehen wir jedoch von 285 A a O S. 1 1 9 u n d S. 1 3 6 f f .
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dieser Differenz ab, so ist das übrige bis ins Detail bekannt. So hat Poiret selbst die Lehre von den Gottesattributen, wenn auch dem Charakter der Schrift gemäß nur in beschränktem Maße, wieder aufgenommen^®®. Ähnlich vertraut ist auch die Trinitätslehre. Sicherlich, auch sie wird nicht so ausführlich entfaltet wie in der Oeconomie Divine — gerade auch ihre böhmianische Färbung hat sie weitgehend verloren (ein Zeichen dafür, daß Böhme in der Tat auf Poiret nur im Blick auf das terminologische Detail gewirkt hat, die Grundlagen des poiretianischen Denkens aber auch ohne einen Rückgriff auf böhmianisches Sprachinstrumentarium darstellbar waren); sachlich besagt diese Reduktion freilich nichts. Es bleibt vielmehr dabei: Gott entfaltet sich als desiderium, als intellectus und (der Ausdruck ist nur verbaliter neu) als laetitia^®''. Diese Trias macht (wie Poiret hier offen sagt: als Übertragung einer Beschreibung der Menschenseele auf das göttliche Leben) das Wesen der Trinität aus. Betont wird dabei von Anfang an auch die innere Einheit Gottes in diesem seinem Leben: Beschreiben wir Gott auch in triadischer Terminologie, sei es vermittels jener psychologischen Termini, sei es als „Vater", „Sohn" und „Geist", so verweist all dies doch auf den einen Gott, ganz wie wir die Seele in triadischer Begrifflichkeit definieren können, ohne deshalb an drei Seelen zu denken. Bei alledem fällt erneut Poirets Desinteresse an präzisen Formulierungen auf: Neben der Trias desiderium—intellectus—lactitia (bzw. dem herkömmlichen Vokabular, vgl. oben) findet sich auch die Bezeichnung Gottvaters als Richter, des Sohnes als Erlöser, des Geistes als Erleuchter, d.h. eine kirchlich orientierte Sprache. Darüberhinaus erscheint auch eine von A. Bourignon adaptierte Deutung der Trinität, offenbar mit böhmianischen Nachklängen verbunden: Gott zeigt sich im Vater als bonitatis principium, im Sohn als justitiae principium, als veritatis principium im Hl. Geist^88. Daß die Hamburger Geistlichkeit, durch Horbs Aktivität auf das Büchlein aufmerksam gemacht, auf all dies empfindlich reagiert hat, nimmt nicht wunder; denn dogmatisch unbedenklich ist diese Gottes- bzw. Trinitätslehre ja durchaus nicht, selbst angesichts der Tatsache, daß die explizit-böhmianische Terminologie geschwunden ist. Vor allem fehlt wieder der Personbegriff zur Deutung des innergöttlichen Lebens; im Gegenteil, die göttliche Einheit erscheint auf eine Weise betont, wie sie kirchlich-trinitätstheologisch nicht vertretbar ist. Es ist daher auch verständlich, daß gerade hier die Angriffe der Hamburger einsetzen: „Tres S. 11 nach der in De Eruditione Solida Specialiora abgedruckten Fassung. 287 Zum folgenden vgl. aaO S. 3 3 f . 288 Vgl. Das Heilige Perspectiv, S. 8 9 . 10 Krieg, Kreis
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Personae in Divinitate non ultra distinguuntur . . . quam tres animarum nostrarum proprietates, quae unam tantum animam, non autem tres constituunt"^®®. Noch deutlicher wird ein anderer (ungenannt gebliebener) Gegner Poirets: Er definiert dessen Trinitätstheologie expressis verbis als sabellianisch, damit einen Vorwurf vorwegnehmend, welchen, wie wir sahen, später Buddeus gegen ihn erhoben Poiret hat auch hier wieder in bezeichnender Weise reagiert: einerseits unter Hinzuziehung seiner mystisch-theologischen Kenntnisse bzw. der theologischen Literatur überhaupt, andererseits aber auch nicht ohne sich persönlich angegriffen zu fühlen und deshalb seinem Gegner Mangel an christlicher Liebe vorzuwerfen, erneut aber ohne in der Sache auch nur etwas nachzugeben^®'. Fragen wir dabei nach dem Detail seiner Erwiderung, dann zeigt sich zunächst, daß er sich durchaus von dem Vorwurf des Sabellianismus zu befreien sucht. In der Tat, so schreibt er etwa in einem Brief seinem ungenannten Gegner, herrschen zwischen den Personen der Trinität reale Distinktionen; ja selbst ein Bekenntnis zur Schrift legt Poiret ab: „Eandem in Deo differentiam credi debere submisse ex verbo, vel . . . ob verbum Dei"^®^. Andererseits erneuert er freilich den Gedanken voll und ganz, daß trinitätstheologische Spekulationen auch sub specie animae möglich sind — eine Anschauung, die er wieder mit einer Fülle theologischer Literatur zu begründen sucht. Aber mehr noch, setzt Poiret sich auch gegen Sabellius ab, so bedeutet dies nicht dessen schlechthinnige Verwerfung; vielmehr wertet er ihn auch positiv, dergestalt, daß er denjenigen seiner Intentionen auf die Spur zu kommen sucht, die ihn in den Augen der dogmatisch sich verfestigenden Kirche zum Ketzer werden ließen. Daß Poiret in seiner Sabellius-Apologie dabei viel von seinem Eigenen gibt, ist verständlich. Wir sehen es etwa daran, daß er die Vermutung äußert, das Abweichen des Sabellius von dem, was nach der fixierten Kirchenlehre „rechtgläubig" ist, sei in seiner Ablehnung des Personbegriffes begründet; diese aber sei nicht unverständlich, und zwar deshalb, weil in diesem Begriff der Gedanke der „substantia singularis" im Vordergrund zu stehen drohe. Dieser Gedanke ist aber auch für die Position,
289 AaO S. 97. 290 AaO S. 166. 291 Vgl. seine „Observationes" zu den einzelnen Artikeln und seinen Brief an den ungenannten Hamburger Gegner. 292 Zum folgenden vgl. aaO S. 167ff.
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welche Poiret selbst in dieser Frage vertritt, ganz typisch, wie wir sehen konnten. Aber spielt auch die Subjektivität unseres Theologen in diese Geschichtsanalyse mit hinein, so ist eben die gleiche Subjektivität andererseits auch recht aufschlußreich. Denn die Apologie der Ketzer, welche aus ihr entspringt, führt unmittelbar in eine Richtung, an deren Ende ein Buch wie Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie steht. Schließlich, sachlich trägt auch Poirets Berufung auf die Hl. Schrift gegen seine Gegner wenig ein. Die Bibel besitzt ja für ihn einen anderen Stellenwert als für die kirchliche Theologie. Somit bleibt es dabei: Ihrem Wesen nach unterscheidet sich die Gotteslehre des Büchleins über die christliche Auferziehung der Kinder nicht von der Gotteslehre deqenigen Schriften, welche wir bisher kennengelernt haben. Ein wenig anders bietet sich dagegen die See/enlehre dar. Zunächst, Aussagen über die Natur der Seele sind spärlich. Poirets Lehre von ihrer Göttlichkeit findet sich nicht. Unser Theologe beschränkt sich auf die Erwähnung ihrer immortalitas und invisibilitas^'^. Dann, zwar spricht Poiret analog zur göttlichen Trias von desiderium, intellectus und laetitia auch von einer sich in den gleichen Termini ausdrückenden innerseelischen Trias, ohne jedoch diesen Gedanken weiter zu v e r f o l g e n A b e r mehr noch: Er adaptiert darüberhinaus zwar auch die in der Oeconomie Divine entwickelte Lehre von den Vermögen der Seele; er redet indes nicht mehr von drei, sondern von vier facúltales animae, der „facultas desiderandi", der „facultas cognoscendi sive intelligendi", der „facultas laetandi ac gaudendi", endlich der „facultas exequendi forisque operandi ea, quae nobis placita f u e r u n t " ^ ' ' . J a , selbst die Teilung der Seele in „obere" und „untere" Seelenkräfte ist aufgegeben; vielmehr ordnen sich auch die Vernunft und die Einbildungskraft (letzte Differenzierung ist aber in der Schrift völlig bedeutungslos) in die trinitarische Bewegung der Seele ein: Sie erscheinen als Manifestationen der facultas cognoscendi sive intelligendi — und zwar in der Weise, daß diese sich aufgliedert in den „intellectus purus", d.h. das, was Poiret in der Oeconomie Divine als die „facultcis cogitandi per reflexionem" bezeichnet hat, und eben in die ratio (bzw. imaginatio) — Poiret nennt sie hier auch den intellectus activus Dennoch ist auch hier sachlich wieder alles geblieben wie bisher; denn für das wahre Wesen des Menschen, den inneren Weg, von Belang sind 293 294 295 296
S. 12 nach der in De Eruditione Solida Specialiora abgedruckten Fassung. AaO S. 33. AaO S. 12f. AaO S. 24.
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natürlich wiederum diejenigen innerseelischen Elemente, welche einen unmittelbaren Bezug auf das göttliche Wesen besitzen: die facultas desiderandi, der intellectus puras und die facultas laetandi. Detailliert sind diese Differenzierungen im Büchlein über die christliche Auferziehung der Kinder naturgemäß nicht durchgeführt. Poiret beschränkt sich ganz auf die Nachzeichnung einiger Grandstrukturen. So bezeichnet er etwa das „Begehren" als das „primarium principium" aller seelischen Bewegung^®'' und verweist damit wieder auf den grandlegenden Ansatz aller menschlichen Rückkehr zu Gott: Will sie geschehen, so muß es eine Ausrichtung des Willens sein. Ähnlich beschränkt er sich in seiner Beschreibung der facultas cognoscendi, sofern sie mit dem intellectus puras identisch ist, auf die Herausarbeitung der Grundstraktur: Sie ist gleichsam der Träger des göttlichen „Lichtes", d.h. eben des „Sohnes" (ohne daß dieser Begriff allerdings fiele) Ähnliches gilt schließlich für Poirets Interpretation der facultas laetandi: Hier beschränkt er sich ganz auf Anmerkungen zum Wesen der christlichen Freude, ohne diese Freude unmittelbar auf die Einwohnung des göttlichen Lichtes in der Seele zu beziehen In der Tat, ausführlich entfaltet sind all diese Strukturen im Büchlein über die christliche Erziehung der Kinder nicht. Könnte man es auch erwarten angesichts der pädagogischen Intention der Schrift, ihrer Ausrichtung allein auf die Praxis? Immerhin, einer Abwehr der Vernunft hat unser Theologe wieder verhältnismäßig breiten Raum zugemessen. Und die Tatsache, daß Poiret selbst in einer Arbeit über die Erziehung von Kindern dieser Abwehr so viel Gewicht gibt (sich sogar selbst bewußt, daß er hier mit einem schweren Geschütz auffährt), zeigt, für wie wesentlich er sie in der Tat ansieht: ,,Quamvis infantes minime adhuc sint idonei qui ratione multoque minus qui ratiocinatione utantur (!), danda tamen est opera . . . , ut certo quodam imbuantur Principio, quo adversus seductionem atque idololatriam humanae Rationis conserven t u r " J a , gelegentlich klingt sogar seine ontologische Begründung für die Geringwertung der Vernunft an — dann etwa, wenn er (um den Kindern das Veständnis seiner Gedanken zu erleichtern, wie er vermerkt) die Vernunft mit einem Bild vergleicht, welches man sich von der Sonne oder anderen Dingen macht, um dann darauf hinzuweisen, daß es sich eben nur um ein Bild handelt und nicht um die Sonne bzw. das Ding selbst, daß mithin auch die Ver297 AaO S. 14. 298 AaO S. 26. 299 AaO S. 35ff. 300 Zum Zitat und zum folgenden vgl. aaO S. 27f.
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n u n f t immer nur bei der Vorstellung von Gott verbleiben könne, ohne zu ihm selbst durchzudringen. Alledem ist nur noch wenig hinzuzufügen. Was unser Theologe über die facultas agendi schreibt, ist im wesentlichen methodologischer Natur, Anleitung zur mystischen Existenz. Wir werden deshalb erst andernorts darauf zu sprechen kommen. Entscheidender ist in unserem Zusammenhang etwas anderes. Wie hat das Hamburger Konsistorium Poirets Seelenlehre aufgenommen? Man muß sagen, an diesem Punkte war es weniger interessiert als an der Frage der Gotteslehre. Spezialprobleme der Seele standen ja auch im Rahmen der traditionellen Dogmatik verhältnismäßig am Rand; und die Göttlichkeit der Seele zu lehren — das, was ihm in seiner Anthropologie vor allem die Vorwürfe der Gegner eingetragen hat — hat Poiret in diesem Werk unterlassen. Immerhin ist den Hamburgern nicht verborgen geblieben, daß die Lehre von den Seelenkräften den Glauben an die menschliche Freiheit einschließt, eben auch die Freiheit zu den geistlichen Dingen — und sie haben diesen Tatbestand ebenfalls in einem Artikel kritisiert^"'. Auch in diesem Punkte hat Poiret sich natürlich zur Wehr gesetzt; denn sein Glaube an die menschliche Freiheit gerade auch zum Guten war ja eine Grundfeste seines gesamten mystischen Systems 302. Letztlich ist damit die Kontroverse zwischen Poiret und den Hamburgern, soweit sie die Seelenlehre betrifft, erschöpft. Aber besagt dies viel angesichts des Sturmes, den die Schrift über die christliche Kindererziehung in ihrer Ganzheit entfacht hat? Ein weiteres Werk Poirets bleibt in diesem Zusammenhang zu besprechen: das Buch über die dreifache Bildung. Auch in dieser Schrift ist sich unser Theologe im Blick auf sein Verständnis Gottes und der Seele und beider Beziehung zueinander treu geblieben. Was in ihr Neues hinzugetreten ist, beschränkt sich — wie in jener zuletzt besprochenen Abhandlung — auf Modifikationen in der Terminologie, ohne daß Poirets Grundgedanken abg ewandelt würden. So finden wir etwa den Begriff der cogitatio — bislang (abgesehen vom Büchlein über die christliche Erziehung der Kinder) ein Grundwort Poirets zur Bestimmung des göttlichen Seins — durch denjenigen der „Mens" e r s e t z t : „Deum . . . perfectam, incomprehensibilem, atque aeternam Mentem esse" — einen Terminus also, der in Poirets vorange301 Artikel XI aaO S. 88. 302 AaO S. 88ff. 303 S. 146 der Ausgabe von 1707.
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gangenem Schrifttum an keiner Stelle programmatisch hervorgetreten Desgleichen betont unser Theologe stärker als bisher den Gedanken der „Unendlichkeit", der allen trinitarischen Bewegungen, sei es Gottes, sei es der Seele, zukommt^"^. In Poirets bisherigem Schrifttum fanden wir ihn ja lediglich in den Cogitationes Rationales von 1685. Ein weiterer Punkt sei erwähnt: Auch der bislang periphere Gedanke des Seelengrundes taucht verschiedentlich auf — gleichsam zur Beschreibung jenes Urpunktes, von welchem aus alle trinitarische Entfaltung der Seele erst anhebt. Auch die Lehre von den Seelenkräften hat Poiret wieder aufgenommen, und zwar ganz in Anlehnung an die Oeconomie Divine, also unter Absehung von den diesbezüglichen Modifikationen im Buch über die christliche Kindererziehung (nur daß auch hier der Gedanke der Unendlichkeit auftaucht). Ebenfalls hat Poiret sein negatives Urteil über die Vernunft erneuert Auf weitere Ausführungen können wir hier verzichten, denn sachlich Neues ergibt sich nicht mehr. Vielmehr bleibt es dabei: Poiret ist unbeirrt seinen Weg gegangen, mochte auch das Detail sich wandeln — mochte etwa die Sprache Böhmes zurücktreten und mochte sein Denken auch sonst gelegentlich voneinander abweichende Formulierungen zeitigen. Was die beiden zuletzt analysierten Schriften von der Oeconomie Divine und ihrer Apologie unterscheidet, ist lediglich ihre andere Intention: Sie sind weniger auf die Reflexion als auf die Praxis hin ausgerichtet. Von hier aus versteht sich, daß sie im Detail bisweilen karg und zurückhaltend sind. Aber sollten sie auch ausführlicher sein angesichts der Tatsache, daß das Entscheidende bereits gesagt war?
Die Schrift über den Ursprung der Ideen Wir können die Analyse der Grundstrukturen des poiretianischen Denkens nicht abschließen, ohne noch einer Schrift Erwähnung zu tun, welche diese Strukturen noch einmal an einer sehr bezeichnenden Stelle ins Licht rückt, nämlich in der Frage von Poirets Beurteilung der Welt. Wir sprechen von Poirets Antwort auf die gegen die Ideenlehre der Oeconomie Divine gerichteten Attacken des Herbomer Theologen Pungeler, der Schrift über den Ursprung der Ideen. Lediglich die Cogitationes Rationales reden bisweilen (unprogrammatisch) von der Mens increata. 305 S. 146. Bei der Ontologie des Buches über die dreifache Bildung hat auch E. Hirsch eingesetzt, um Poirets Denken zu skizzieren (Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. I, Gütersloh 1949, bes. S. 198f). 306 Vgl. insgesamt S. 146ff der Ausgabe von 1707.
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Insgesamt bildet dieses Buch eine Fortsetzung der Kontroverse mit J ä g e r über die Frage nach der Beziehung zwischen der göttlichen Essenz und der Welt der Ideen. In diesem Sinne ist die Position Pungelers die herkömmlich kirchliche, letzüich diejenige Jägers: „Ideae nihil mihi sunt aliud q u a m perfectissimus ille divini intellectus actus q u o sibi in potentiae suae absolutae vel essentiae speculo, quicquid iis fiat, velie p o t e s t , vel priusquam fieret, convenienter suae n a t u r a e velie p o t u i t , repraesentat''^"^. Ihr gegenüber steht die „ m y s t i s c h e " Anfrage Poirets: L ä ß t sich die göttliche Selbstmanifestation in den Ideen wirklich als actus perfectissimus bezeichnen? Nein; denn n u r G o t t an sich stellt sich auf vollkommenste Weise dar, in seiner Trinität; allein die trinitarische Bewegung verdient actus perfectus genannt zu werden Damit ist der G r u n d t e n o r von Poirets gesamter Argumentation gegen Pungeler bereits sichtbar geworden: Er stellt sich dar als eine erneute Verweisung der Welt an die Peripherie; von der Gotteslehre her f o r m u liert: Poiret legt alles darauf an, die operationes Dei ad extra so zu definieren, daß in dieser Definition alle ihnen von Pungeler zugeschriebene Bedeutung für das göttliche Wesen selbst eliminiert wird und sie allein das Stigma des Arbiträren, Unwesentlichen erhalten Es geht also letzten Endes wiederum u m den K a m p f zwischen einem „deistischen" und einem „theistischen" Gottesbild. Von dieser Fixierung der Positionen aus ist auch das Detail der Diskussion zwischen Poiret und Pungeler klar. Betrachten wir e t w a die Stellung beider Gegner zu der Frage, wie sich G o t t vor der S c h ö p f u n g der Ideen verhalten hat. Für den H e r b o m e r Theologen ist diese Frage durchaus von gewisser spekulativer Bedeutung. Gewiß, G o t t hat die Ideen ganz nach seinem Belieben geschaffen. D e n n o c h war er mit ihnen bereits vor ihrer E r s c h a f f u n g verbunden — dergestalt nämlich, d a ß er sie erschaffen konnte^^^. Für Poiret dagegen greift diese Spekulation gänzlich ins Leere. Nein, keineswegs, a n t w o r t e t er seinem Gegner, k a n n von einer solchen Beziehung zwischen G o t t u n d d e m m u n d u s intelligibilis gesprochen w e r d e n : Bevor er von G o t t erschaffen w u r d e , war schlechterdings nichts: ,,Potuit Deus ex non-conceptis (sc. ideis) f o r m a r e conceptas sine praecedente earum c o n c e p t u " . Mehr noch, von seiner theistischen Position aus vermag Pungeler durchaus auch die Anschauung zu vertreten, daß zumindest die F o r m der Ideen nicht aus dem 307 308 309 310
AaO AaO AaO Zum
S. 1 7. S. 19. S. 29. folgenden vgl. S. 70ff.
151
Nichts entstanden sei: „Ex nihilo Deum illam (sc. formam) hausisse, ille saltem non affirmabit, qui et eam reale quid non esse negat, et Deo nullam novam per decretum vel aliocunque modo unquam accessisse realitatem non diffitetur". Auch dieser Gedankengang ist für Poiret völlig unvollziehbar: „An quod Deus e nihilo non posset haurire, hoc est, vocare, aliquod reale"? Diese Bemerkung Poirets gegenüber seinem Gegner ist insofern höchst bemerkenswert, weil in der Weiterführung des in ihr ausgesprochenen Gedankens wiederum deutlich wird, daß letztlich in der Frage nach dem Wesen der Ideen die Position der Kirche und diejenige Spinozas für Poiret nur unwesentHch unterschieden sind: „Illud (sc. quod Deus e nihilo possit haurire . . . aliquod reale) sane tum Apostoli asserto contrairet, tum statuminaret effatum Spinosistarum creationem eo negantium quod ex nihilo nihil fiat". J a , gelegentlich muß sich Pungeler davor warnen lassen, durch seine Weise des Philosophierens andere zum Spinozismus zu verführen Aber auch von letzterem Gedankengang abgesehen, wird die Differenz zwischen dem Gottesbild Pungelers und demjenigen Poirets allerorts deutlich. So ist für ersteren durchaus die Erwägung möglich, daß Gott durch das Anschauen der Ideen „vollkommener" zu werden vermag. Und hier ordnet sich im Denken Pungelers auch der Gedanke der göttlichen Allwissenheit ein: Gott ist eben insofern der Allwissende, als er alles Sein notwendig, da wesensmäßig, erkennt All dies sind für Poiret wiederum durchaus nicht nachzuvollziehende Erwägungen. Nein, Gottes Vollkommenheit vermag in keiner Weise von einem Außen abzuhängen: „quis qui asserat, ideas rerum evanidarum, pusillarum . . . esse necessarias ut perfectionem divini intellectus . . . comp l e a n t " S o f e r n Gott allwissend ist, dann deshalb, weil er sichselbst, das vollkommene Sein, weiß. Daß er ein beflecktes Außen wesensmäßig anschauen müßte — dieser Gedanke widerstrebt Poirets Gottesbild gänzlich Solchen Gedankengängen gegenüber verliert manches andere in der Auseinandersetzung Poirets mit Pungeler an Gewicht. Lediglich ein bemerkenswerter Sachverhalt sei noch erwähnt: Zumindest in einer Hinsicht kehrt Poiret in diesem Spätwerk zu seiner erstveröffentlichten Schrift zurück — dort nämlich, wo er Gottes gänzhche Unabhängigkeit von allem Außen, also auch dem mundus intelligibilis, durch eine Analyse der Gottesattri-
311 AaO 312 AaO 313 AaO 314 AaO 152
S. S. S. S.
133f. 42. 43. 45.
bute zu beweisen sucht^''. Das Detail braucht hier jedoch nicht zu interessieren, denn grundlegend Neues ergibt sich nicht. In der Tat kann also von einem Rückfall Poirets in längstvergangenes Philosophieren, wie der Rijnsburger Biograph vermerkt, bei der Schrift über den Ursprung der Ideen nicht gesprochen werden. Vielmehr hat sie für Poirets Entwicklung durchaus vitale Relevanz: Sie beleuchtet noch einmal — unter dem Aspekt von Poirets Deutung der „Welt" —, daß für unseren Theologen außerhalb Gottes und seinem Wirken in der Seele nichts von Gewicht ist. 315 AaO S. 11 Iff.
153
DRITTER HAUPTTEIL DER MYSTISCHE KREIS (URSTAND - FALL -
RÜCKKEHR)
L Das Grundprinzip des mystischen Kreises Es wurde schon im vorigen deutlich: Alles Erleben Poirets ist getragen von dem Glauben an ein ewiges Wesen, welches das Wesen Gottes ist und an welchem der Mensch, vermittels seiner Seele, teilhat. J e d o c h erwies sich diese Teilhabe als gebrochen. Die Seele des Menschen ist zwar göttlich und dennoch immer auch auf der Suche nach Gott, in der Sprache des späteren Poiret: Sie ist zwar trinitarisch, Trägerin von Gottes „Begehren", „Licht" und „ R u h e " , aber nur das „Begehren" ist ihr konstitutiv. Gottes „Licht" und „ R u h e " kann sie verlieren. Mehr noch, die Erfahrung zeigt, daß sie beides immer auch schon verloren hat, denn wäre sie sonst auf der Suche? Auch der Grund für jene Entfremdung der Seele von ihrem Urbild wurde schon allerorten deutlich: Der Grund ist das Außen der Welt. Dieses Außen — das zeigten schon die Cogitationes Rationales von 1677 — hat das Innen immer wieder in der Gewalt. Es verführt die Seele, trennt sie von Gott, von ihrem eigenen Wesen. Und diese Trennung, dieses Verweilen beim Außen — das ist nichts als Sünde. Der Mensch ist immer schon ein „gefallener" Mensch. Von diesen Überlegungen aus ist es nun möglich, das Wesen des inneren Weges, wie Poiret ihn verstanden hat, noch exakter zu umschreiben. Der innere Weg hebt an bei dem Menschen, sofern er von Gott erschaffen ist, er führt aber von Gott fort, in die Sünde — und von hier aus zurück ins Wesen, vermittels der Gnade Gottes und des menschlichen Sich-Ausrichtens auf diese Gnade. In der Tat also: Poirets Denken entfaltet sich als mystischer Kreis.
II. Urständ und Fall Die Cogitationes Rationales von 1677 und 1685 Natürlich, explizit theologische oder gar theosophische Spekulationen über den Sündenfall, wie wir sie in der Oeconomie Divine finden wer154
den, finden sich den Cogitationes Rationales noch nicht, desgleichen keine Beschreibung des „Urstands". Dazu ist Poirets Frühwerk noch zu „philosophisch" orientiert. Immerhin, das Böse als solches steht schon in dieser Schrift im Horizont poiretianischen Bewußtseins — und zwar teilweise in einer Pointierung, die bereits gewisse Vorausblicke auf die Oeconomie Divine zuläßt. Die Erstauflage äußert sich in der Frage nach dem Bösen freilich noch zurückhaltend. Das, was sie enthält, läßt sich im wesentlichen als eine philosophische Umdeutung traditionell reformierter Hamartiologie bezeichnen — wie sie Heidegger etwa im Anschluß an Mt 12,30 entwikkelt h a t ' : Ist die Seele daraufhin angelegt, in Gott als dem Vollkommenen ihren Grund zu finden — ein Gedanke, den Poiret j a in den Cogitationes Rationales in extenso dargelegt hat —, dann besteht das Böse darin, daß sie sich dieser Bestimmung entledigt zugunsten einer anderen Bestimmung — nämlich zugunsten ihres eigenen Selbst; dadurch freilich, daß ihr eigenes Selbst ontologisch defizient ist, d.h. keine Aseität besitzt, hat sie ihren Wesensgrund verlassen und das wahre Wesen für ein vermeintliches Wesen eingetauscht^. Interessanter für Poirets weitere Entwicklung in der Frage der Hamartiologie ist die Zweitauflage der Cogitationes Rationales, selbst wenn naturgemäß auch hier ausführliche Spekulationen über die Sünde in theologisch-biblischer Sicht fehlen: Zumindest an einer Stelle nämlich erscheint Poirets Hamartiologie in den gleichen trinitarischen Kategorien reflektiert, wie wir sie in der Oeconomie Divine wiederfinden werden - ein Sachverhalt, der nicht verwundert angesichts der Tatsache, daß das mystische System unseres Theologen 1685 bereits seine endgültigen Strukturen erhalten hat. In diesem Sinne bezeichnet Poiret 1685 das Wesen der Sünde als Verlust des „ L i c h t e s " und der „ R u h e " . Beides hat der Mensch besessen, bevor er sich von Gott abwandte. Geblieben ist ihm nur das desiderium, das Begehren, Gottes Licht und Ruhe wiederzufinden^. Damit ist in der Tat sachlich bereits das angesprochen, was Poiret in seinem systematisch-theologischen Hauptwerk ausführlich entfalten wird. 1 Vgl. Heppe-Bizer, aaO S. 193. 2 Vgl. das ganze Buch IV der Cogitationes Rationales über das Böse, bes. S. 259ff. 3 Discursus Praeliminaris, S. 38.
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Die Oeconomie Divine i.
Vorbemerkungen
Fragen wir danach, wie Poiret seine Anschauungen vom Wesen des Bösen und der Sünde in seinem systematisch-theologischen Hauptwerk entfaltet, so haben wir es mit zwei Bereichen zu tun: zum einen mit seinem Reden vom Ereigniswerden der Sünde selbst, theologisch gesprochen, mit dem Sündenfall; darüberhinaus finden sich in der Oeconomie Divine aber auch mannigfache Erörterungen über den Urständ des Menschen, d.h. den Zustand, in welchem sich der Mensch befand, als er den mystischen Kreis noch nicht abzuschreiten brauchte, weil er noch ganz bei Gott war. Eines ist jedoch wichtig: Anders als in den bisher behandelten Abschnitten der Oeconomie Divine findet sich in der Darstellung des Urstandes und des Sündenfalles auch reichlich biblisches Material (und das ist angesichts der Intention der Oeconomie Divine, eine theologische Arbeit zu sein, nur verständlich); freilich, interpretiert wird dieses keineswegs mehr im traditionell kirchhchen Sinne; vielmehr erscheint es auf weite Strecken im Gewände der Deutungen Böhmes und der A. Bourignon. Beider Denken hat sich von nun an in der Oeconomie Divine endgültig Bahn gebrochen. 2. Der Urständ Was „Urständ" des Menschen für die Oeconomie Divine bedeutet, ist nach dem zu den Cogitationes Rationales von 1685 Gesagten ansatzweise klar: Er begreift sich aus der Zentrierung aller Seelenkräfte auf Gott. Im Urständ sind die ontologische und ontische Beschaffenheit des Menschen eines. Das besagt zunächst: Der Mensch besitzt eine ontisch-trinitarische Seele. Die oberen Seelenkräfte sind ganz auf Gott in seinem innertrinitarischen Leben ausgerichtet"*. Doch auch die unteren Seelenkräfte ordnen sich hier ein, vor allem die Vernunft. Ist sie auch ontologisch peripher, so hat sie dennoch ihre Funktion — nämlich das ebenfalls ontologisch periphere Außen Gottes, also die Welt, in seiner Schönheit angemessen zu reflektieren, um damit die Zentriertheit der oberen Seelenkräfte, des eigentlichen Innen, auf Gott hin noch weiter zu festigen'. 4 Oec.Div. I, S. 4 9 1 . 5 AaO (I) S. 4 9 2 .
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Letztlich ist also für Poiret innerhalb der menschlichen Seele im Urständ nichts gegeben, das nicht auf Gott hin ausgerichtet wäre. Angereichert erscheint diese Reflexion des Urstandes in mystisch-trinitarischen Kategorien freilich durch eine Fülle weiterer Spekulationen. In diesem Sinne spricht Poiret auch von einem Urständ des Leibes — und zwar im Sinne theosophisch durchformter biblisch-kirchlicher Tradition. Er beschreibt den urständlichen Leib als unendlich kraftvoll, leicht, durchscheinend, lebendig und licht — damit Gedanken Böhmes und der A. Bourignon aufnehmend. Ebenfalls vertritt er den Gedanken der Androgynie — wiederum auch im Gefolge jener Gewährsleute^ An und für sich genommen muten solche Spekulationen müßig an. Und dennoch können sie an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben; denn der Sache nach sind sie unmittelbar Ausdruck der Stringenz des poiretianischen Systems selbst — einer Stringenz, die wir bereits andernorts hervorhoben: Sie verweisen in ihrer Weise auf nichts anderes als auf den mystischen Kreis selbst, d.h. auf die Lehre von der Rückkehr des Menschen in seinen ursprünglichen Zustand — nur daß diese hier nicht im Blick auf die Seele, sondern den Leib entfaltet wird. All diese Gedanken sind j a nichts als Retrojektionen des — etwa Mt 13,43; R ö 8,18 oder Apk 1 — zur Gestalt des endzeitlichen Leibes Gesagten auf den Leib des Urstandes: S o wie jener beschaffen sein wird, ist dieser beschaffen gewesen^. Kirchlicher Kritik stehen solche Gedanken naturgemäß in alle Richtungen offen. Hervorgehoben werden mögen zunächst Jägers Attacken auf Poirets androgyne Spekulationen, desgleichen auf seine Beschreibung des protologischen Leibes überhaupt®. So sehr auch der Tübinger seinem Gegner darin Recht gibt, daß der Leib der Urzeit die Unversehrtheit und Unsterblichkeit besessen habe, so sieht er sich im Blick auf das, was Poiret über dies hinausschreibt, nur zu dem Ausruf veranlaßt: „Pulcra sane protoparentis nostri Adami delineatio, si m o d o vera esset". Und alledem gemäß bemüht sich der Tübinger auch um eine ausführliche exegetische Widerlegung Poirets — etwa unter Berufung auf Paulus. 6 Zur Beschreibung des urständlichen Leibes vgl. Oec.Div. I, bes. S . 3 1 5 f f (zur Androgynie vgl. etwa S. 3 2 1 ) ; vgl. auch A. Bourignon, Der Neue Himmel und die Neue Erde, Amsterdam 1 6 8 0 , Teil I, 5. Brief, S . 5 2 f f , und Böhme, Gnadenwahl; zur Androgynielehre bei B ö h m e vgl. bes. Gnadenwahl 5 : 3 5 , bei A. Bourignon vgl. Das L e b e n der J u n g f r a u Antoinette Bourignon, S. 4 5 3 (hier z.T. ungewöhnlich geschmacklose Einzelheiten). 7 Oec.Div. I, S . 3 1 9 . 8 Zum folgenden vgL J ^ e r , E x a m e n , S. 2 6 5 f f ; Zitate S . 2 6 7 und S . 2 7 4 f .
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Freilich, es geht Jäger weniger um eine Korrektur von Poirets Verständnis des protologischen Leibes an-sich, sondern um den Hintergrund, von welchem aus unser Theologe ein solches Verständnis ermöglicht sieht, eben den mystischen Kreis. Dieser selbst — so zeigt sich erstmals, merkwürdigerweise auch letztmals in der Kontroverse zwischen Jäger und Poiret — steht für den. Tübinger in Frage. Anfang und Ende entsprechen sich für die Kirchenlehre eben nicht. Das Paradies ist gleichsam eine Station auf dem Weg in das Eschaton, nicht aber auch dieses zugleich wieder selbst. Es ist „locus Viae, ubi per curriculum oboedientiae . . . veniendum erat ad Patriam coelestem". Werfen wir einen Blick auf das, was Poiret in den Vindiciae Veritatis et Innocentiae auf diese Attacke erwidert hat, so finden wir nur eine Wiederholung der entsprechenden Gedankengänge der Oeconomie Divine'. Selbst Jägers Angriff auf den mystischen Kreis hat er nicht mehr in den Blick genommen. Man mag in der letztlich hier vorhandenen Oberflächlichkeit von Poirets Apologie ein gewisses Desinteresse erkennen, daran nämlich, Positionen zu verteidigen, welchen er sich nur in seiner explizit „böhmianischen" Periode verschrieben hat (und wie schnell diese abgeklungen ist, haben wir gelegentlich schon feststellen können). Freilich mag es noch einen tieferen Grund geben, daß unser Theologe seine Thesen nicht energischer verteidigt hat: Poirets Unfähigkeit, dem Angreifer auf der Ebene des Angriffs zu begegnen. Sofern er sich wehrt, dann nur auf der Ebene seines eigenen Systems. Demgemäß ist wiederum zu fragen, ob Poiret und seine Gegner nicht letztlich aneinander vorbeireden.
3. Der Fall Konsequent leitet sich aus alledem auch Poirets Verständnis des Sündenfalles ab. Sind im Urständ alle Seelenkräfte des Menschen auf die Schau Gottes ausgerichtet, so besteht der Fall darin, daß sie ihr ursprüngliches Zentrum verlassen. Die Seele ist ja frei dazu'°; denn so sehr auch Gott dem Menschen mit seiner Gnade beistehen will, d.h. ihn in seiner essentiellen Zentriertheit bewahren will, so ist diese Gnade dennoch nur ein Angebot, dessen der Mensch auch entraten kann — Gedankengänge, die Poiret gerade auch im Zusammenhang seiner Hamartiologie noch ausführlicher dargestellt und systematisiert h a t " . 9 Vindiciae, S. 583. 10 „Peccatum a liberiate oriri" (Oec.Div. I, S. 451). Ч „Primum adest, praesentatio, excitatio, invitamenta et attractiones Dei" (Oec. Div. I, S. 417).
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Wie diese Abkehr der Seelenkräfte aus ihrem Zentrum zu verstehen ist, haben wir grundsätzHch bereits an den Cogitationes Rationales von 1685 ablesen können: Sie besteht in einem Verlust des „Lichtes" und der „ R u h e " in der Seele. Allerdings führt die Oecónomie Divine über jene grundlegenden Aussagen von 1685 M^eit hinaus, indem sie diese Abkehr als einen kontinuierlichen Ablauf von Ereignissen verstehen lehrt — wiederum unter Verwendung theosophisch durchformter biblischer Aussagen. Sogleich der Ansatz von Poirets Deutung des Sündenfalls ist hier bedeutsam: So sehr der Fall auch ein Akt der oberen Seelenkräfte ist, so beginnt er (und das ist angesichts Poirets Mißtrauen gegenüber allem NichtWesentlichen bezeichnend) in den unteren Seelenkräften. Sie, welche das Außen auf seinen göttUchen Hintergrund hin abspüren sollen, beginnen es um seiner selbst willen zu betrachten. Damit aber wird zugleich die Wirksamkeit der oberen Seelenkräfte gestört, da sie ja gerade durch jene stets neu auf ihr göttliches Zentrum hin ausgerichtet werden. Fehlt ihnen jedoch dieser Impuls, dann beginnt ihre Fähigkeit, Träger des innertrinitarischen Lebens Gottes zu sein, zu schwinden. Die Welt beginnt welthaft zu werden, da sie anhebt, ihren Verweisungscharakter zu verlieren Hier wird auch Poirets Gnadenlehre wieder bedeutsam: Gott erkennt die Gefährdung des Menschen; daher beschließt er in seiner Gnade, den Menschen vor einer weiteren Abkehr aus seinem Zentrum zu bewahren, dergestalt, daß er die unteren Seelenkräfte an ihre Funktion erinnern will, das Außen auf seinen göttlichen Hintergrund hin abzuspüren. Manifest sieht Poiret diese Hilfe Gottes freilich wieder von seiner mystisch-theosophischen Perspektive aus werden: Gott, so lehrt er, bietet sich dem Menschen in konkreter leiblicher Zuständlichkeit dar, um ihm so sein eigentliches Objekt wiederzugeben; denn: ,,Quoniam facultates inferiores et sensuum . . . Deo . . . frui poterant; et Deus . . . cum homine communicari poterat, hinc sequitur, Deum illud non tantum ex eo tempore facturum se decrevisse; sed et re ipsa fecisse"'^. J a , Poiret spricht es offen aus: Gott wird schon im Paradies Mensch; er wird es in der Weise, daß er ein corpus gloriosum annimmt, wie auch der Urmensch vor dem Fall es besitzt. Mit diesem Leib wendet er sich dem Menschen zu, erscheint er ihm (auch das spricht Poiret offen aus) als Christus, noch bevor er in der Gestalt Jesu von Nazaret als der Christus erscheint'^.
>2 Oec.Div. I, S. 493. 13 AaO (I) S. 496. W AaO (I) S. 498.
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Im Detail ist Poirets Argumentation hier ganz unzulänglich. Das zeigt bereits die „Logik" in seiner oben zitierten Begründung dieser theologischen Sondermeinung. Aber auch allgemeiner hebt hier die Entfaltung eines Christusbildes an, das in manchem nur unzureichend reflektiert ist. Dieser Sachverhalt zeigt sich schon in Poirets Begrifflichkeit: Auch den Christus gloriosus nennt er bereits allerorts Jesus Christus Vor allem aber schweigt Poiret so gut wie völlig über die Frage, wie er sich die Beziehung zwischen Christus und dem ewigen „Wort", „Sohn", dem „Licht", d.h. dem zweiten Element der innertrinitarischen Bewegung Gottes, denkt. Was sich hier sicher sagen läßt, ist nur, daß er zumindest terminologisch eine Identifikation zwischen Christus und dem zweiten Element der Trinität vornimmt, nämlich in der Bezeichnung Christi als Gottes Sohn: Diese traditionell-kirchliche Formulierung findet sich des öfteren. Sachlich indes besteht zwischen Christus und dem „Wort", dem „Licht" (weniger deutlich wird dies natürlich bei dem Begriff des „Sohnes", eben aufgrund jener terminologischen Identifikation des ewigen Sohnes mit der Gestalt Christi) eine erhebliche Differenz, wie wir noch sehen werden: Christus wird vor allem als Bringer des Wortes, des Lichtes verstanden. Das dürfte zwar für Poiret nicht besagen, daß er in Christus das Wort nicht auch gegenwärtig gesehen hat, aber (wenn wir den spärlichen Hinweisen der Oeconomie Divine folgen) letzteres wohl nur in dem Sinne, wie er das Wort in allen Menschen (zumindest sofern sie Gottes trinitarisches Bild unverstellt in sich tragen) gegenwärtig sieht; denn allein in diesem Sinne können die Stellen verstanden werden, an welchen Poiret die Menschen „Brüder Christi" n e n n t C h r i s t u s und sie haben teil an ein und demselben Wort. Insofern möchte man hier auch Parallelen zwischen Poiret und dem Quietismus ziehen. Auch in ihm findet sich gelegentlich die Deutung des Menschen, sofern er Gott in sich wirken läßt, als eines „anderen Christus" Anders formuliert, in beiden Fällen wird Christus vor allem als „Veranschaulichung" des ewigen Wortes angesehen; nur daß für den Quietismus diese Veranschaulichung stets durch Christus als den Jesus von Nazaret geschieht, während Poiret aufgrund seiner christologischen Sondermeinung diesen Schritt nicht zu gehen braucht'®. Original ist diese Lehre Poirets über den Christus gloriosus indes nicht. Schon Schwärmer wie A. Bourignon haben sie vertreten von ihnen Vgl. bereits Poirets Beschreibung der „Menschwerdung" selbst. 16 Oec.Div. I, S. 144. π Vgl. Winter, aaO S. 25. 18 Ebd. 19 Zu A. Bourignon vgl. den Probier-Stein, umb das Gold der wahren Liebe auß dem vergüldeten Kupffer der Schein-Liebe zu erkennen, S. 62.
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dürfte Poiret sie auch übernommen haben. Aber er hat sie nicht nur adaptiert, sondern auch systematisiert. An einem Punkt haben wir diese Systematisierung schon beobachten können: Gott begegnet dem Menschen leiblich, um ihn vor dem Mißbrauch seiner unteren Seelenkräfte zu bewahren. Ein zweiter Punkt gehört hierher: Diese Zuwendung Gottes vermag die Freiheit des Menschen nicht einzuschränken. Also nimmt der Sündenfall weiter seinen Lauf. Der Mensch gewöhnt sich an Gottes leibhaftige Gegenwart, sie verliert für ihn den Charakter der Mahnung^®. Angesichts dessen aber entzieht Gott dem Menschen seine Gegenwart wieder, um nicht seinerseits zur Vermehrung der Sünde beizutragen. Denn die Größe der menschlichen Schuld müßte mit der Dauer der göttlichen Gegenwart und ihrer Mißachtung durch den Menschen wachsen^i. An diesem Punkt der Historie des Falles setzt für Poiret die biblische Überlieferung ein. Er kommt auf die Schöpfung der Eva zu sprechen; erst hier hat dieser Gedanke seinen Ort. Erneut stehen wir also vor einem Element in Poirets Deutung des Falles, welches alles andere als kirchlich ist. Diese unkirchliche Haltung bestätigt sich überall, schon in der Deutung des Gotteswortes ,,Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei". Ist dies Wort mit der ursprünglichen Güte des Menschen vereinbar? Weist es nicht vielmehr schon auf einen Mangel hin? Und in der Tat, der Mensch hat sich ja bereits von Gott abgewandt und droht sich immer weiter von ihm abzukehren, besonders nunmehr, da Gott von ihm gegangen und somit die Welt noch „weltlicher" geworden ist. Somit braucht der Mensch neue Gnaden Gottes; und Gott gibt sie ihm. Indem er dem Urmenschen ein Gegenüber schafft, Eva, will er ihn in diesem gleichsam an sein urbildliches Gegenüber, eben an sich selbst, erinnern, daran, daß eigentlich er, Gott, es ist, welcher das Zentrum des Menschen zu sein hat, um ihn auf diese Weise zu seinem eingestifteten Wesen zurückzubringen^^. Damit zeigt sich zugleich, daß auch das Motiv der Schöpfung der Eva durchaus in Poirets System eingebracht erscheint. Auch hier liegt im übrigen der Einfluß der A. Bourignon bzw. J . Böhmes auf der Hand: Beide haben sehr ähnlich von der Schöpfung Evas gesprochen". Durch A. Bourignon und Böhme sind auch die Einzelelemente bestimmt, welche Poiret seinem Bild der Schöpfung Evas zuordnet. Hierher gehört 20 21 22 23
Oec.Div. I, S. 4 9 9 f . Ebd. AaO (I) S. 5 0 3 f . Zu Böhme vgl. Mysterium Magnum 18:35.
11 Krieg, Kreis
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die Deutung des adamitischen Schlafes als Ausdruck der durch die Sünde hervorgerufenen Schwachheit^^; vor allem auch die Beschreibung der Schöpfung Evas selbst. Hier läßt sich Poiret zu den gleichen Geschmacklosigkeiten verleiten, die schon für A. Bourignon an dieser Stelle so bezeichnend sind^®. Dennoch obsiegt wieder die Stringenz des poiretianischen Systems: Wie der Mensch schon Gottes erstes Erscheinen im Paradies nicht zum Ansatz der Rückkehr in sein ursprünghches Sein nimmt, so aktualisiert er auch jetzt seine Freiheit wider Gott. Das Weib als das, was den Urmenschen an sein Urbild erinnern soll, entzieht sich seiner Funktion und wendet sich wie Adam der Welt um ihrer selbst willen zu^®. Auch Poirets weitere Darstellung des Falles tut sich als eine eigenwillige, theosophisch durchsetzte Erklärung der Genesiserzählung dar. Von Wichtigkeit ist zunächst: Nunmehr tritt der Teufel auf den Plan — ein gefallener Engel, wie Poiret in weitläufigen angelologischen Spekulationen z e i g t ( w i r werden sie auch in seiner Beschreibung der „Ewigk e i t " wiederfinden); er ist der, welcher den Fall des Menschen forciert. Dabei wird in der Weise, wie Poiret sich das Wirken des Teufels vorstellt, wieder seine Skepsis gegenüber allem Außen sichtbar: Zentrum dieses Wirkens sind die unteren Seelenkräfte. Haben sie bereits vor dem Erscheinen des Teufels ihre ursprüngliche Aufgabe, das Außen auf Gott hin durchsichtig zu machen, nicht mehr recht wahrgenommen, so sind sie jetzt dem Verderben noch völliger preisgegeben^^. Wie setzt der Teufel sein Wirken an? Poiret erwidert, bei dem Baum der Erkenntnis. Diese Pflanze ist gleichsam das verlockende Außen kat'exochen, das Urbild alles zwar von Gott Geschaffenen und somit essentiell Guten, für den Menschen aber auf seinem Weg in die Existenz, fort vom göttHchen Wesen, aufgrund ihrer nunmehr entstandenen Funktion, dem Menschen nur noch als eben dieses Außen zu begegnen, Verderblichen. In diesem Sinne versteht Poiret das göttliche Verbot, von diesem Baum zu essen, sogar als ein Angebot der Hilfe Gottes an den Menschen Freilich, der Mensch übertritt das Gebot; und er tut es deswegen, weil er dem Wirken des Teufels preisgegeben ist. Dieser bemächtigt sich der
S. 26 28 29
Vgl. Böhme, Drey Principien 17:56. Vgl. bes. Oec.Div. 1, S. 504, und Das Leben der Jungfrau Antoinette Bourignon, 453d. AaO (I) S. 505. Zur Angelologie Poirets vgl. bes. Oec.Div. I, S. 480ff. AaO (I) S. 507. AaO (I) S. 5 0 l f .
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Schlange, daß sie Eva verführe. Und eine solche Verführung Evas durch die Schlange ist in der Tat möglich! Denn diese — und damit schwenkt unser Theologe wiederum auf die Bahnen der A. Bourignon ein^° — besitzt eine anerschaffene Schönheit; sie besitzt ihrer äußeren Beschaffenheit nach eine Ähnlichkeit mit dem Menschen ^^ Denn hätte die Schrift von einer späteren Verfluchung der Schlange sprechen können, einem späteren göttlichen Befehl an sie, auf dem Boden zu kriechen, wenn sie nicht ursprünglich ein schöpfungsmäßig gutes Wesen und einen aufrechten Gang besessen hätte In dem Augenblick jedoch, in welchem sich der Urmensch und sein Weib verführen lassen, von den Früchten des Baumes zu essen, sind sie endgültig dem Bösen ausgeliefert; die Welt hat endgültig ihren Verweisungscharakter verloren und ist zu einem untransparenten Außen geworden. Damit sind aber zugleich die oberen Seelenkräfte endgültig den Weltdingen preisgegeben, denn nunmehr sind sie ihres Haltes in den unteren Seelenkräften vollends beraubt. Nun haben sie in keiner Weise die Fähigkeit mehr, noch Träger der trinitarischen Bewegung Gottes zu sein. Gottes „Licht" und „Liebe" sind nicht mehr in ihnen vorhanden; und dies bedeutet zugleich eine weitere Störung der unteren Seelenkräfte, vor allem der Vernunft: Ihres lichtenden Grundes ledig, ist auch sie gänzlich ins Elend gesunken. Die Folge des Sündenfalls ist das Chaos der Seele 33. Was wir uns dabei unter diesem Chaos der Seele vorzustellen haben, liegt auf der Hand: Das eigentliche movens allen innerseelischen Lebens ist allein noch die Natur des Vaters; es herrschen mithin Unruhe und Angst. Der Mensch ist fern von Gott, umhergetrieben von den Dingen der Welt, einem verweisungslosen Außen, und ohne die Fähigkeit, sich seiner Sinne noch richtig zu bedienen Interessant ist schließlich, daß Poiret sich auch das materialische Außen als durch den Sündenfall verderbt vorstellt: So hat der Körper des Menschen seine ursprüngliche Helligkeit verloren und ist zu dem geworden, was er heute ist. Ebenso ist die Natur aus ihrem ursprünglichen Zustand gefallen 3^. So ist der Zustand des Seienden, und vomehmHch des Menschen, nach dem Fall ein Stand, der wieder am Rande des Nichts angesiedelt ist. Und 30 31 32 33 34 35
Vgl. Der Neue Himmel und die Neue Erde, S. 215f. Oec.Div. I, S. 509f. Ebd. AaO (I) S. 511 f. AaO (I) S. 514 und 518f. AaO (I) bes. S. 521f.
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hier hat auch wieder der Gedanke der Verstockung seinen Ort (wie ihn Poiret versteht): Was in der Welt nach dem Fall geschehen ist, ist nichts anderes, als daß Gott sich zurückgezogen hat^®. Das alles besagt nicht, daß Gott dem Menschen seine Gnade ganz und gar entzogen hat; ein solcher Gedanke liegt Poiret durchaus fern, ja, er hält ihn für absurd und gottlos Es besagt jedoch so viel, daß Gottes ursprüngliches Gnadenangebot nicht mehr besteht; es hat ja dem Chaos Platz gemacht. Die Gnade muß also gleichsam re-aktiviert werden; darüberhinaus muß sie auch unter anderen Bedingungen wirksam werden als bisher. Wir werden sehen, ihr Feld wird nunmehr die Geschichte sein. Fragen wir freilich nach der Beziehung all dieser Gedanken zur Kirchenlehre, so sehen wir, daß so gut wie kein Punkt noch am traditionellen Dogma festhält. Somit wundert nicht, daß Poirets Gegner auch hier empfindlich reagiert haben. An erster Stelle steht wieder Jäger. Was ihm am meisten an Poirets Spekulationen aufgefallen ist, ist die These von dem ersten Erscheinen Christi (er nennt es eine „Inkarnation" im Gegensatz zu Poiret, vgl. unten): „quaero ex Domino Poireto, unde habeat hanc Veritatem de Christo jam in Paradiso Incarnato"^®? Dabei ist es vor allem auch das Detail dieser Lehre, welches er einer heftigen Kritik unterzieht. So kann in keiner Weise davon gesprochen werden, daß Christus einen glorreichen Leib aus dem Leib Adams vor dem Fall erhalten habe. Dem widerspricht die Schrift auf der ganzen Linie Davon abgesehen stellt Poirets Lehre auch die Zweinaturenlehre in Frage. Denn ist Christus zweifach inkarniert, dann muß er auch eine zwiefache menschhche Natur besessen haben: die eine aus Adam, die andere aus Maria. Aber sollte ein Mensch mit gesundem Verstand dies und die daraus folgenden Ungereimtheiten zugeben'"'? So schließt Jäger die Behandlung dieses Streitpunktes nicht ohne seine Verwunderang darüber auszudrücken, daß ein doch sonst so scharfsinniger Theologe wie Poiret solchen absonderlichen Gedankengängen verfallen k o n n t e ' " . Man kann das Gefühl der Feindseligkeit Jägers gegenüber Poirets Deutung des Sündenfalles aber auch an anderen Punkten erkennen. So be36 37 38 39 40 41
AaO (I) S. 524. AaO (I) S. 516. Examen, S. 155. Vgl. Jägers Deutung des Protoevangeliums, aaO S. 321 und S. 145f. AaO S. 147f. AaO S. 159.
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zeichnet er etwa Poirets Darstellung der Schöpfung der Eva als reine Phantasie"*^; denn die Genesiserzählung spricht ganz eindeutig gegen eine solche Interpretation, desgleichen Paulus, 1 Tim 2,14. In gleicher Weise lehnt er natürlich die Ansicht ab, der Schlaf Adams im Paradies sei bereits eine Folge der Sünde. Er bezeichnet sie schlichtweg als Fiebertraum. Nicht freundUcher äußert er sich schließlich über die androgynen Spekulationen seines Gegners. Der Gegensatz zwischen Poiret und der kirchlichen Lehre kann also wieder einmal kaum größer gedacht werden. Poiret hat J ä g e r in den Vindiciae Veritatis et Innocentiae wiederum nicht ohne Antwort gelassen. Aber diesmal ist er zurückhaltender als in seinen anderen Entgegnungen. Ist er unsicherer geworden? Es wäre nicht verwunderlich angesichts der theologischen Problematik seiner Sondermeinungen. Betrachten wir etwa seine Äußerungen zu Jägers Angriffen auf die Lehre vom zwiefachen Erscheinen Christi: Er widerruft sie zwar nicht, betont aber, daß er sie nicht als heilsnotwendig verstanden wissen will, sondern als Versuch, den Aussagen der Schrift näherzukommen Betrachten wir andere Punkte seiner Apologie, so lassen auch sie bisweilen die nötige Eindringlichkeit vermissen. Merkwürdig ist z.B. seine Verteidigung der Aussage, A d a m habe eher als Eva gesündigt. Hier merkt man nachgerade, wie verzweifelt er bemüht ist, eine Synthese zwischen der kirchlichen Lehre und seinen eigenen Überzeugungen zu finden: „Id (d.h. die Aussagen der Bibel) . . . non impedii quin verum sit ante Evam caespitationes fuisse aliquot ab A d a m o commissas". Desgleichen dürfte Poirets Verteidigung seiner Anschauung vom Akt der Schöpfung Evas selbst auf J ä g e r schwerlich überzeugend gewirkt haben: Unser Theologe beruft sich zur weiteren Bekräftigung seiner These auf die - K a b b a l a ' " ! Ein Punkt verdient schließlich noch besondere Berücksichtigung: Poirets Klage über Jägers kontroverstheologische Methode. Die Konsequenzen, auf welche jener Poiret aufmerksam macht, hat dieser keineswegs beabsichtigt: Weder möchte Poiret das zweifache Erscheinen Christi als eine incarnatio duplex bezeichnen, da „Fleischwerdung" allein auf die Person J e s u von Nazaret verweise, noch möchte er die Konsequenz einer zweifachen menschlichen Natur Christi ziehen. Mit dem gleichen Recht, so führt er aus, heßen sich aus der Lehre von der communicatio idiomatum bzw. der lutherischen Ubiquitätslehre (selbst aus diesem Beispiel
«
Vgl. z u m folgenden E x a m e n , S. 2 9 5 f f , bes. S. 2 9 7 f f . Vindiciae, S. 5 4 7 f . Vgl. insgesamt aaO S. 5 8 5 f f .
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erkennt man Poirets Animosität gegen ein theistisches Gottesverständnis!) falsche Konsequenzen ableiten — etwa diejenige, daß Christus nicht aus Maria geboren sei, weil er infolge seiner Allgegenwart auch bereits außerhalb ihrer war. Dennoch, trotz verschiedener Unsicherheiten Poirets in seiner Verteidigung der Lehre vom Sündenfall, wie er sie in der Oeconomie Divine vertreten hat, wird man auch hier nicht von einer retractatio früherer Thesen reden können. Ist unser Theologe im Detail auch bisweilen vorsichtiger, so steht er dennoch weiterhin zu dem, was er bisher gelehrt hat. Ein Urteil gegenüber seinen Thesen, so fordert er, solle sich nur deqenige erlauben, welcher sich in sie hineinvertieft hat. Allen anderen — und in dieser Bemerkung darf man auch eine Attacke gegen Jäger erblicken — spricht er das Recht sich zu äußern ab: „Legant . . . mea sensa in Scriptis meis, bene attendendo ad antecedentia, saepeque ad ea quae sequuntur, siquidem de iis judicare ipsis placeat: sin aliter, a judicando ut abstineant postulo"
Urständ und Fall in Poirets übrigen Schriften Grundlegend Neues oder auch nur Ausführlicheres findet sich in Poirets Werk nach der Abfassung der Oeconomie Divine zum Thema Urständ und Sündenfall nicht mehr. Dieser Sachverhalt befremdet keineswegs. Poiret hat ja besonders in der Oeconomie Divine seine diesbezüglichen Positionen so weit durchreflektiert, daß, gemessen an seinem System als solchem, kaum noch etwas zu sagen übrig blieb. Von hier aus gesehen kann man das wenige, das Poiret nach der Oeconomie Divine zu den bisher behandelten Fragen geschrieben hat (es betrifft übrigens nur die Frage der Sünde, nicht die des Urstands) — etwa Aussagen im Buch über die dreifache Bildung — außer acht lassen.
III. Die Rückkehr zum Heil Grundlegung Es bleibt nunmehr die Frage nach der Überwindung des Bösen im Menschen zu stellen, nach seiner Rückkehr in sein anerschaffenes Wesen. Vgl. insgesamt aaO S. 5 4 8 f f , das Zitat S. 5 4 9 .
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Nach dem voraufgegangenen kristallisieren sich zwei Momente heraus, welche jene Rückkehr charakterisieren. Zunächst, die Rückkehr des Menschen zu seinem anerschaffenen Wesen hat die Wirksamkeit der göttlichen Gnade zur Voraussetzung. Ohne diese Gnade — das zeigte etwa Poirets Deutung des Sündenfalls — ist der Mensch am Rande des Nichts angesiedelt. Zum anderen, diese Rückkehr des Menschen hat aber auch sein eigenes, des Menschen, Tun zur Voraussetzung: So wie seine Entfremdung von seinem ewigen Grund darin besteht, daß er beim „Außen" der Welt sich aufhält, so hat Rückkehr auf selten des Menschen „Entäußerung" zu bedeuten, Bereitung seiner Seele auf Gott und seine Gnade. Mithin ist auch die Beschreibung von Poirets Verständnis der Wiedererlangung des Heils von zwei Momenten her bestimmt, zum einen dem Moment der Beschreibung von Gottes Gnadenwirken durch alle Zeit und Geschichte hindurch — zum anderen dem Moment des menschlichen Sich-Ausrichtens auf diese geschichtlich vermittelte Gnade. Das Heil als Geschichtsereignis 1. Die Schriften
vor der Oeconomie
Divine
Ist Poiret auch der Ansicht, daß alle menschliche Rückkehr zum Wesen nur möglich ist vermittels der Gnade Gottes, wie sie in der Geschichte wirksam wird, so war er doch in seiner Frühzeit zu philosophisch orientiert, als daß er von dieser geschichtlich vermittelten Gnade schon ausführlicher gesprochen hätte. Vor allem auch die Cogitationes Rationales bieten keine Anhaltspunkte. Lediglich zwei frühe Veröffentlichungen unseres Theologen sind für diesen Zusammenhang von einigem Interesse: Die Vorworte zu seiner Edition der Theologia Deutsch und des Thomas von Kempen. Gewiß, auch diese enthalten nicht viel Bedeutendes für unsere Analyse. Reflexionen über die Geschichte und Gottes Handeln in ihr fehlen gänzHch — aber sollte man sie auch erwarten? Ledighch die Lehre von Jesus Christus als dem Zentrum der Geschichte ist umrißhaft bereits angedeutet — und zwar auf eine Weise, die bereits wesentliche Vorbücke auf Poirets weitere Entwicklung gewährt: Sofern er von Jesus Christus spricht, dann vor allem von seiner Vorbildhaftigkeit; er ist, so schreibt er in seiner Ausgabe der Theologia Deutsch, „l'exemple et le modele de la vie"'»^ La Theologie Germanique, Amsterdam 1676, S. A 4. 167
An sich ist dieser Gedanke natürlich gut kirchlich. Nur fordert Beachtung, daß derjenige, welcher über die Lehre von Jesus Christus als dem Vorbild hinausgeht, welcher also zugleich von der satisfactio, justitia oder oboedientia Jesu Christi spricht, also Jesu Christi forensisches, vom Tun des Menschen ganz unabhängiges Tun in Anschlag bringt, bei Poiret sehr schnell unter das Verdikt des „Chrétien charnel" gerät, wie das Vorwort der Thomas von Kempen-Ausgabe zeigt''''. Zwar geht Poiret nicht so weit, daß er diese Lehrpunkte expressis verbis ablehnt, aber schon die Tatsache, daß er die, welche diese Lehre für wesentlich halten, als „fleischhch" bezeichnet, zeigt, daß er der kirchlichen Christologie bereits recht fern steht und der Weg zu einer gänzlichen Ablehnung der satisfactio vicaria, wie sie uns in der Oeconomie Divine begegnen wird, nicht mehr sehr weit ist. So wird man trotz der Tatsache, daß Poiret sich vor seiner Abfassung der Oeconomie Divine nur selten über sein Verständnis des göttlichen Handelns in der Geschichte geäußert hat, nicht sagen können, daß er sich noch ganz auf dem Boden dessen kirchlicher Deutung befindet. Diese Abkehr vom überheferten Dogma aber wird in der Oeconomie Divine konsequent fortgesetzt. 2. Die Oeconomie Der christ о logisch e
Divine
Ausgangspunkt
Voll entfaltet steht Poirets Theologie der Geschichte in der Oeconomie Divine vor uns. In ihr faßt er sein Denken über das Prae der göttlichen Gnade und ihre Annahme (bzw. Nicht-Annahme) durch den Menschen in einem geradezu kosmischen Drama zusammen, das seinen Ausgang mit der Schöpfung bzw. dem Sündenfall genommen hat und sein Ende im Eschaton findet. In ihr fließen auch die mannigfachen Einflüsse seines Denkens, von Coccejus bis zu A. Bourignon, auf eine mitunter recht imponierende Weise zusammen. Wichtig ist zunächst der Ansatz der Heilsgeschichte, d.h. die Voraussetzung zur Möglichkeit der Überwindung des Falles. Gott hat ja seine Gnade aus der Welt zurückgezogen, sie ist sozusagen zu re-aktivieren. Für Poiret liegt dieser Ansatz des erneuten Wirksamwerdens der göttlichen Gnade in einem Vertrag des Christus gloriosus mit Gott: Christus wendet sich an Gott und bittet ihn, den Menschen ihre Sünde zu vergeben und ihnen seine Gnade wieder zuteil werden zu lassen. Er verspricht ihm dafür, sich auch seinerseits wieder ihnen zuzuwenden, d.h. 47 Kempis Commun, Ausgabe Basel 1737, S. **3f.
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erneut mit ihnen so zu handeln, wie er mit Adam im Paradies gehandelt hat: als ihr Erzieher, als der, welcher sie zum Guten zurückwenden will. Dieser Fürbitte Christi entspricht G o t t . Er erklärt sich bereit, den Menschen erneut sein „ L i c h t " und seine „ L i e b e " zuzuwenden, ihnen also die Möglichkeit zu geben, ihre Seele in den ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen; und er gibt sie in die Hand Christi, indem er ihn zu ihrem Befreier und Führer macht'*®. Zumindest auf den ersten Blick mutet diese Begründung der Heilsgeschichte coccejanisch an. Bekanntlich hat j a auch Coccejus die Grundlegung der Erlösung in einem „Vertrag" zwischen Christus und G o t t gesehen. Aber diese Übereinstimmung ist doch gänzlich oberflächlich. Zunächst, der Christus, der hier für die Menschen eintritt, ist naturgemäß der Christus gloriosus; dann, für Coccejus ist der Vertrag zwischen Christus und G o t t ein ewiges, vorzeitliches Ereignis"®; für Poiret dagegen steht er erst nach dem Fall. V o r allem aber ist von Poiret der zentrale Gedanke des Coccejus, daß j e n e r Vertrag im Blick auf das opus mediatorium J e s u von Nazaret abgeschlossen ist, gänzlich eliminiert. Christus erscheint bei Poiret lediglich als der Vermittler der innertrinitarischen Entfaltung Gottes gegenüber dem Menschen, wobei er, sofern er das göttliche Licht, also das zweite innertrinitarische Element, den Menschen wieder zukommen lassen will, bezeichnenderweise diesem Element als eine unabhängige Größe gegenübertritt, und darüberhinaus (und das steht in Kontinuität zu Poirets frühen Mystiker-Editionen) als der Pädagoge, der Erzieher zum inneren Weg. Infolgedessen liegt nicht einmal nahe, Poiret hier als von Coccejus beeinflußt anzusehen. Vielmehr dürfte er wieder einmal Gedanken der A. Bourignon aufgegriffen haben; denn zumindest in einem ihrer Werke finden sich Ausführungen, in denen Poirets Darlegungen vorgebildet erscheinen Daß all diese Abweichungen Poirets von der kirchlichen Position j e d e m Theologen sofort ins Auge fallen mußten, ist klar. Auch Poiret selbst ist sich dessen offenbar bewußt. Zweierlei Konsequenzen hat er daraus gezogen; zum einen hat er den Vertrag zwischen dem Christus glorio48 Oec.Div. I, S. 656ff. Zur gesamten Fragestellung vgl. Schrenk, aaO S. 91ff. Vgl. Die Erneuerung des Evangelischen Geistes, Teil I—III, Amsterdam 1681 — 1 6 8 3 ; Vorrede S. 3 3 : .Jesus Christus hat sich nach der Sünde Adams bey seinem Vater zum Fürsprecher gestellet . . . für alle Menschen / und verheissen / daß / wenn sie noch in der Probier-zeit leben möchten / sie ihre Verdorbenheit verfluchen / und zu der Liebe Gottes wiederkehren würden / da ward solches aus Gnaden gewehret dem Verdienste Jesu Christi".
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sus und Gott noch durch weitere „positive" christologische Erörterungen zu erläutern gesucht, d.h. durch solche, die ausdrücklich auf die Kirchenlehre eingehen; zum anderen hat er sich aber auch von kirchlichen Lehrsätzen ausdrücklich abgegrenzt, d.h. die zwischen ihm und der Kirche entstandenen Divergenzen bewußt auf sich genommen. Ersteres gilt für seine Deutung des Begriffes der göttlichen Gerechtigkeit. In kirchlicher Soteriologie nimmt dieser Terminus bekanntlich einen gewichtigen Platz ein. Sofern sich Christus für die Menschen vor Gott einsetzt, so bedeutet dies auch, daß er Gottes Gerechtigkeit genug tut. Und es muß dieser Gerechtigkeit genug getan werden, weil sie durch die menschliche Sünde verletzt ist; sie erfordert Strafe. Genug getan aber wird Gottes Gerechtigkeit so, daß Christus — und das heißt natürlich Jesus von Nazaret als der Christus — die Strafe auf sich nimmt. Ist also mit dem Terminus der Gerechtigkeit Gottes ein Lebensnerv kirchlicher Soteriologie angezeigt, dann konnte Poiret in dieser Frage nicht müßig bleiben. Mithin hat er auch seinerseits zu zeigen unternommen, welche Bedeutung der Begriff besitzt. Welcherart ist sie für ihn? Man muß sagen, so sehr Poiret dem Topos als solchem auch Beachtung widmet, d.h. auf die Lehre der Kirche einzugehen versucht, so versteht er dennoch unter dem Terminus der Gerechtigkeit Gottes von Anfang an etwas völlig anderes als die Kirche. Das zeigt sich bereits daran, daß Poiret den Gedanken der Sira/gerechtigkeit aufgrund seines essentialistisch-ontologisch orientierten Gottesbildes eliminiert hat: Sofern Gott ,,straft", dann nicht in einem sozusagen positiven Strafakt, wie die Kirche lehrt, sondern einzig vermittels seiner Abkehr aus dem Seienden; die göttliche Strafe ist für Poiret also identisch mit den Folgen, welche aus der menschlichen Verstockung entstehen. Gewiß weiß unser Theologe, daß die Bibel anders redet, aber ihre Sprache deutet er metaphorisch®'. Kommen wir freilich in das Zentrum des poiretianischen Verständnisses der göttlichen Gerechtigkeit, so tun sich noch gravierendere Unterschiede gegenüber der kirchlichen Lehre auf. Sicherlich, auch Poiret redet davon, daß Christus — er meint natürlich (und auch dies trennt ihn von der Kirche) den Christus gloriosus — der göttlichen Gerechtigkeit genug getan habe, aber vertreten kann er diese Überzeugung nur aufgrund einer höchst eigentümlichen Gedankenkonstruktion. Sie hebt damit an, daß er die göttliche Gerechtigkeit allein als eine justitia distributiva versteht: Gott ist gerecht in der Weise, daß seine Beziehung zum Men51 Oec.Div. I, S. 660.
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sehen dessen Beziehung zu ihm entspricht; ontologisch-essentialistisch formuliert, daß er sein Sein insoweit im Menschen wesen läßt, als dieser sich auf ihn ausrichtet^^ — eine verständliche Anschauung, wenn wir uns etwa daran erinnern, was wir bereits über Poirets Verständnis der VerStockung gehört haben. In diesem Sinne hat Gott naturgemäß auch ganz seiner Gerechtigkeit entsprechend gehandelt, als er die Welt nach dem Fall dem Chaos preisgegeben hat. Ja, insofern hat diese Gerechtigkeit nach dem Fall auch ihr erstes Genüge gefunden. Freilich, dieses Genüge hat dem Menschen zum Unheil gereicht. Daß Gottes Gerechtigkeit aber auch zum Heil des Menschen versöhnt werden konnte — und hier stehen wir nun vor der christologischen Implikation von Poirets Verständnis der göttlichen Gerechtigkeit — dies ist in Christus begründet, ist — auch hier wendet Poiret die kirchliche Terminologie an — sein „Verdienst". Denn die Gerechtigkeit, die Gott ihm gegenüber walten läßt, ja walten lassen muß, kann aufgrund der Haltung Christi Gott gegenüber nur in einem gänzlich positiven Entsprechen bestehen. Mithin muß er Christus auch all sein Begehren erfüllen, also auch die Bitte, dem Menschen wieder seine Gnade zukommen zu lassen. Durch diese Ausübung der göttlichen Gerechtigkeit ist dieser also in für den Menschen heilvoller Weise Genüge getan, und Christus ist es, der ihr dieses Genüge verschafft hat'^. Dieser Gedankengang entbehrt nicht eines gewissen Scharfsinns. Der Unterschied zum kirchlichen Dogma ist aber in der Tat frappant, auch wenn sich Poiret bemüht hat, zumindest einen terminologischen Gleichklang herzustellen. Überall hat sich Poiret indes selbst um diese rein terminologische Gleichheit nicht bemüht; ja, gerade an einem entscheidenden Punkt hat er seine Abweichung vom traditionellen Dogma ganz bewoißt auf sich genommen, nämlich bezüglich der kirchlichen Lehre von der satisfactio vicaria. Diese Lehre hat er schon, bevor ihr eigentlicher Angelpunkt, das Leiden Christi als des Jesus von Nazaret, in den Blick gekommen ist, völlig eliminiert: „impossibile omnino (sc. est), ut poena peccati per surrogationem aut substitutionem alterius . . . exemtoriam, qua alius pro peccatore supponi debeat, aboleatur"^"*. Denn angesichts der Tatsache, daß Gottes Gerechtigkeit allein eine justitia distributiva ist, eben dadurch, daß Gott jedem Einzelnen das ihm Entsprechende zukommen läßt, muß auch jeder selbst vor Gott verantwortlich sein^^. 52 AaO (I) S. 659. 53 AaO Ò) S. 660f. 54 AaO (I) S. 640. Bei A. Bourignon finden sich ähnliche Gedankengänge, vgl. Der entdeckte Widerkrist, Amsterdam 1684, Teil III, S. 37f. 55 Oec.Div. I, S. 640f. 171
E s gibt j e d o c h noch ein entscheidenderes Motiv für Poirets Ablehnung der satisfactio vicaria-Lehre: Liegt die Versöhnung der göttlichen Gerechtigkeit ganz im streng forensischen Werk (für die Kirche natüriich: J e s u ) Christi, dann ist j a d e m Menschen sein Schicksal völlig aus der Hand g e n o m m e n . Das wiederum widerspricht Poirets Menschenbild gänzlich: Der Mensch ist j a / г е г , keinem von ihm unabhängigen Planen G o t t e s unterworfen, m a g er auch immer auf G o t t e s G n a d e angewiesen sein. Der innere Weg kann mithin auch immer nur sein je-eigener Weg sein, auf welchem er von keinem vertreten werden kann. Verläßt er sich dagegen auf das T u n eines anderen — auf das opus meritorium Christi —, dann führt das zu geistlicher Bequemlichkeit, indem der Mensch seine ihm von G o t t gegebenen Fähigkeiten zur A u f n a h m e des göttlichen Wesens nicht mehr aktualisieren will, in der S p r a c h e der Cogitationes Rationales von 1 6 8 5 : die imitatio Trinitatis nicht mehr vollzieht. J a , Poiret befürchtet sogar, daß aufgrund der kirchhchen Lehre von der satisfactio vicaria viele Menschen den falschen Weg eingeschlagen haben, j a , unzählige in das ewige Verderben geraten sind'®. S o bestätigt sich alles in allem, wie wenig Poirets Christologie in der T a t schon in ihrem A n s a t z noch mit der kirchhchen Lehre zu tun hat. Was diese vertritt, spielt bei Poiret so gut wie gar keine Rolle, m a g er sich der Terminologie nach auch bisweilen an sie angeschlossen haben. Allerdings ergibt sich innerhalb dieses Zusammenhanges noch eine Schwierigkeit. Ist mit Aussagen wie den bisher dargestellten auch bereits die Grundstruktur der poiretianischen Lehre von der B e d e u t u n g Christi umschrieben, so werden wir nichtsdestoweniger in der Christologie unseres Theologen, sofern sie an der Gestalt Jesu von Nazaret orientiert ist, auch auf Formulierungen stoßen, die als solche durchaus in der kirchlichen Theologie b e h e i m a t e t sein könnten. Anders gewendet: A u c h noch an einer anderen Stelle innerhalb seines S y s t e m s hat Poiret einen Ausgleich mit der Lehre der Kirche gesucht. Wir werden j e d o c h sehen, daß auch dieser weitere Versuch, das kirchliche D o g m a zumindest nicht unberücksichtigt zu lassen, am Grundcharakter von Poirets Christologie nichts ändern wird. Besonders J ä g e r hat wiederum seine S t i m m e erhoben — mit ganz besonderer S c h ä r f e ; denn in all diesen Fragen geht es j a u m die Grundlage des christlichen Glaubens, besonders auch der reformatorischen Theologie, wie denn auch J ä g e r die Lehre von der satisfactio vicaria als den summus nostrae fidei articulus bezeichnet'"'. Denn m a g er auch dem Ge56 AaO (I) S. 644. 57 Zum folgenden vgl. Examen, S. 361ff; bes. S. 366ff. 172
danken der Fürbitte Christi (er nennt sie im Sinne der Lehre vom dreifachen Amt Christi eine intercessio) nicht seine Bedeutung absprechen, so bleibt ihm dennoch entscheidend, daß Christus die Menschen durch sein Blut auf Golgatha erlöst hat. Ist also der Gegensatz zwischen Poiret und der kirchlichen Tradition in diesem Punkte fundamental, dann ist es zu verstehen, daß Jäger seine Position in umfassender Weise begründet. Er tut es zunächst natürlich in ausführlichem Bezug auf die Bibel, d.h. besonders diejenigen Textstellen, welche von Christi Stellvertretung bzw. der Sühnekraft seines Todes sprechen. Dabei tritt er durchaus auch in eine detailliertere Diskussion mit seinem Gegner ein. Vor allem beschäftigt er sich mit Poirets Versuch, den Gedanken der satisfactio vicaria von seinem Verständnis der Gerechtigkeit Gottes als einer justitia distributiva aus zu eliminieren: Poirets Deutung hält er für einen unziemlichen Singularismus; denn Christus ist einer der unsrigen, wie Hebr 2,11.14.16 zeigt. Vor allem, wir sind durch das ,,fedus evangelicum" (hier tritt also Jägers föderaltheologischer Ansatz auf den Plan) mit ihm verbunden. Nein, was Gott unmöglich ist, ist nicht die satisfactio vicaria, sondern die Wiederherstellung seiner Gerechtigkeit ohne Genugtuung — und zwar die auf Golgatha. Eine andere Genugtuung (und damit wird der anselmianische Hintergrund der Soteriologie Jägers deutlich) kann es für Gott nicht geben. Indes schlägt in diesen Aussagen noch nicht das Herz der Erwiderung Jägers. Den eigentlichen Gipfelpunkt erreicht die Polemik des Tübingers erst dort, wo er auf Poirets letztgenannten Einwand gegen die kirchliche Lehre von der satisfactio vicaria eingeht: daß sie der Nachlässigkeit in geistlichen Dingen Vorschub leiste. Ein solcher Gedanke ist für ihn schlichtweg Verleumdung. Man wird diese Entrüstung sehr ernst nehmen müssen: Sie ist mehr als die übliche kontroverstheologische Polemik; vielmehr war gerade ein Theologe wie Jäger nichts weniger als ein Gegner der praxis pietatis, wie ja auch seine Freundschaft mit Männern wie Majus und Spener bezeugt. Und aus diesem Grunde legt der Tübinger auch allen Nachdruck darauf, daß der Sinn des Leidens und Sterbens Christi mit dem Gedanken der Sühne noch nicht ganz umschlossen sei — sondern, so führt er aus, Christus ist durch eben diesen seinen Weg ans Kreuz zugleich auch exemplar geworden: der Liebe, der „patientia summa", der „humilitas", der „mansuetudo", der „firma fiducia". Dabei betont Jäger, daß der eine Aspekt nicht vom anderen getrennt werden dürfe. Von dieser seiner, durchaus auch in einer fundamentalen Weise auf die praxis pietatis, ja den inneren Weg bezogenen Grundeinstellung aus wird auch verständlich, daß er Poirets Meinung, daß die Lehre von 173
der satisfactio vicaria Christi unzähligen Menschen zum ewigen Verderben gereicht habe, abscheulich und höllisch nennt. Ja, Jägers Empörung geht so weit, daß er schließhch ausruft: „Quantum quaeso hoc est in Poireto scelus! Quanta hypocrisis, dum passim nil nisi amorem jactat, et tarnen tantis furiis veritatis divinae Doctores exagitat"®®. Man sieht, hier fühlt sich Jäger auf seinem eigenen Feld bedroht, mehr noch als in anderen kontroverstheologischen Fragen. Denn in den meisten von ihnen stand „lediglich" die objektive christliche Lehre auf dem Spiel; hier aber wird der Streit in die Existenz, in die vita Christiana — welche auch für Jäger in gewisser Hinsicht eine vita mystica ist^® — hineingetragen. Und dabei wird diese christliche Existenz, gerade auch sofern sie praxis pietatis ist, von Poiret bei seinem kirchlichen Gegner nicht nur von ihrem formalen Lebensvollzug her, sondern von ihrem Grund her — eben dem alle praxis pietatis begründenden Sühnetod Christi auf Golgatha — in Frage gestellt. Dieser Grund entfaltet sich zwar „auch" als eine dogmatische Aussage; aber diese ist eine solche, welche am tiefsten in die christliche Existenz einzudringen vermag. Naturgemäß ist auch diese Attacke Jägers nicht ohne Antwort geblieben. Gerade diese zeigt aber, daß die offizielle Kirche Poirets Anschauung in der Frage der satisfactio vicaria sehr richtig beurteilt hat. Wohl ist das Urteil Walchs, Poiret suche „in der That, andern nur ein Blendwerck zumachen", zu spitzzüngig®", indes erweist doch eine Analyse der die Erwiderung Poirets bringenden Abschnitte der Vindiciae Veritatis et Innocentiae, daß Poiret sich in den grundlegenden Punkten im Recht glaubte und wiederum keinen Grund sah, von seiner in der Oeconomie Divine eingenommenen Position abzuweichen. Man kann dies bereits daran erkennen, daß er Jägers Feststellung, es handele sich in der Frage der satisfactio vicaria um den höchsten Artikel des Glaubens, ironisch allein auf den Glauben Jägers bezieht®*. Mehr noch, was Jäger an Argumenten gegen seinen Gegner vorbringt, betrachtet er nur — zumindest indirekt — als etwas, das (gegenüber dem Gedanken des göttlichen Wirkens in der Seele) zu den „theoretica, speculativa, idealia, diducta in circumstantias . . . ad problematica et exercitia Theologorum Disputatorum . . . pertinentia" gehört®^. Ja, schheßlich weist er alles Reden von der satisfactio vicaria als des „summus nostrae fidei articulus" 58 AaO S. 405f. Vgl. den Begriff des regnum mysticum, aaO S. 380. 60 Walch, aaO S. 982. 61 Vindiciae, S. 335. 62 AaO S. 355.
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wiederum nachdrücklich ab — und dies sogar vermittels einer entsprechenden Passage aus der Oeconomie Divine®^! Dabei bringt auch das Detail wenig Neues. Wie so oft stützt auch hier Poiret seine Thesen mit der Zitation kirchlicher Autoren. Freilich, die Weise, wie er die Tradition verwendet, zeigt, daß er letztlich auch in dieser Kontroverse an Jäger vorbeiredet: So biegt er dessen These über das Wesen der Stellvertretung und ihre Bedeutung als das schlechthin gültige Handeln Gottes mit den Menschen um in die Frage, ob Gott nicht die Menschen auch auf andere Weise hätte erlösen können (wobei er natürlich auf seine Lehre von der Fürbitte Christi anspielt). Und zur Bezeugung der These, daß Gott dies hätte tun können, zieht er wieder eine Reihe theologischer Schriftsteller heran — unter ihnen Thomas und Biel, aber natürlich auch mystische A u t o r e n ^ . Sicher sahen wir, wie rigoros sich Jäger auf den Standpunkt Anselms gestellt hatte, aber im Zentrum seiner Argumentation stand er als solcher eben nicht; und vor allem auch gerade ein Theologe wie Thomas hat dem Gedanken der satisfactio vicaria immer hohes Gewicht zugemessen. Im übrigen wird in dieser Antwort Poirets erneut sichtbar, was für ihn das entscheidende Motiv in seiner Ablehnung der kirchlichen Satisfaktionslehre ist: Es ist die Furcht, daß dem Menschen die Verantwortung für sein Schicksal aus der Hand genommen werden und der Mensch so als ein seiner Verantwortung lediger in geistliche Bequemlichkeit fallen könnte. Jene Verantwortung des einzelnen Menschen für sein Heil, jene mystische Autonomie der Seele auf ihrem Weg zum Wesen muß aber bestehen bleiben, mithin auch der Ernst, diese Verantwortung wahrzunehmen, will nicht alles Reden vom Durchbruch der Seele zum Innen sinnlos sein und dem Gedanken menschlicher Abhängigkeit und letztlicher Unmündigkeit (man denke an Poirets Polemik gegen die Prädestinationslehre!) Platz machen. In diesem Sinne ist auch die Erregung verständlich, mit welcher Poiret auf Jägers Vorwürfe eingeht. Jägers Zorn setzt er bisweilen beißenden Zynismus entgegen. Und wenn dieser sich der Inkriminierung widersetzt, die Lehre von der satisfactio vicaria sei schon vielen verderblich gewesen, so hat er Unrecht. Nein, Jäger selbst gehört zu denen, welche zur geistlichen Bequemlichkeit verführen«! Wieder wird also deutlich, wie sehr sich Poiret in seinem Denken treugeblieben ist.
" AaO S. 343. « AaO S. 347ff. « AaO S. 380 und S. 386.
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Kehren wir aber zur Oeconomie Divine selbst zurück. Es ist offensichtlich, daß eine Deutung der heilsgeschichtlichen Grundlegung wie die vorliegende von erheblichem Gewicht für die weitere Entfaltung der Soteriologie dieses Buches sein m u ß . Denn hier ist sichtbar geworden, daß es für Poiret ein Verständnis der Erlösung im kirchlichen Sinne gar nicht geben kann; vielmehr zeigen sich bereits d o r t , wo es um das Verständnis des soteriologischen Zentrums, um Christus, geht, fundamentale Differenzen. Merkmale poiretianischer
Heilsgeschichtsschreibung
Heilsgeschichte ist nach alledem für Poiret die Wirksamkeit der göttlichen Gnade durch die Zeit, vom Sündenfall bis zum Eschaton, vermittels der Fürsprache und Pädagogik Christi. Betrachten wir dabei Poirets Darstellung des Geschichtsablaufs im ganzen, so trägt manches föderaltheologische Züge. Das zeigt sich besonders an der Tatsache, daß auch er die Geschichte des Handelns Gottes mit den Menschen u n t e r den Begriff der „ Ö k o n o m i e " stellt, konkreter, daß er sie einteilt in eine oeconomia „ a n t e " und eine oeconomia „ p o s t " reparationem J e s u Christi. Dabei hat er vor allem auch (und auch dies ist gut föderaltheologisch) nicht allein die oeconomia post reparationem J e s u Christi, die Zeit des Neuen Bundes, ganz von der Gestalt Christi her interpretiert (verliert diese Interpretation auch ein Gutteil ihrer Kirchlichkeit durch Poirets Lehre vom Christus gloriosus). Christus, so zeigt er — und zwar ganz wie Coccejus und seine Schule vermittels der weitverbreiteten typologischen Auslegung — wirkt bereits in Israel. Ist all dies aber auch föderaltheologisches Gemeingut, so finden sich andererseits Abweichungen vom Coccejanismus (auch abgesehen von der Lehre vom Christus gloriosus), die höchst relevant sind. So verleiht Poiret, wie schon angemerkt, dem Terminus der „ Ö k o n o m i e " eine ganz neue Weite, indem er ihn zum Gliederungsprinzip der Theologie schlechthin erhebt. Vor allem h a t er auch die coccejanische Doppelheit von Werk- und Gnadenbund nicht übernommen. Allerdings (auch dies haben wir schon gesehen) k o n n t e er letztlich diese Einteilung auch gar nicht übernehmen; d e n n sie stand ihm in einem zu großen Widerspruch zu seinem Verständnis von Gottes und des Menschen Tun, göttlicher Gnade und menschhcher Freiheit in der Erlösung. Also m u ß t e er sich auch für eine andere Geschichtseinteilung entscheiden. Er wählte die Gliederung in sieben Perioden: Die erste beginnt mit A d a m und endet mit der Sintflut, die zweite endet mit Mose, die dritte mit Salomo, die vierte führt bis zu Jesus von Nazaret. Die Zeit Jesu bezeich176
net die fünfte Periode; die sechste Periode ist die Zeit der Kirche, die siebte das Tausendjährige Reich. Periodisierungen dieser Art sind zu häufig — gerade auch die Einteilung der Geschichte in sieben Perioden —, als daß man sich mit Schering darüber wundern sollte, daß Poiret sie übernimmt®®. Das Abendland verdankt sie vor allem Augustin®^. Indes verdient Poirets Einteilung noch vertiefte Betrachtung, denn sie enthält Elemente, welche in eine ganz bestimmte geistes- und theologiegeschichtliche Richtung weisen. Das gilt zunächst für die Annahme eines Tausendjährigen Reiches. Augustin hatte sie bekanntlich abgelehnt: Das Tausendjährige Reich ist eine Erscheinung innerhalb der Kirche selbst, ein Ereignis innerhalb ihrer Geschichte, es bedeutet Herrschaft der Heiligen bis zur Wiederkunft Christi®®. Die Bedeutung dieser Interpretation ist unermeßlich; denn mit ihr ist einerseits chihastischen Spekulationen ein Riegel vorgeschoben — die offizielle Kirche hat bekanntlich den Chiliasmus nie vertreten; sie mußten indes wiederum an die Oberfläche treten, als der von Augustin in die Kirchengeschichte verlegte Zeitraum der tausend Jahre verstrichen war. Nunmehr war die Erwartung umso größer, ohne freilich daß sie auch „kirchlicher" geworden wären. Wir erinnern an Joachim von Floris. Indes hat der Chiliasmus auch im Protestantismus Vertreter gefunden. Bekannt sind chiliastische Strömungen in der Reformationszeit. Aber selbst Spener hat sich solchen Einflüssen nicht ganz entziehen können, wenngleich sein „Chiliasmus" durchaus kirchlich bleibt und nicht mit den Anschauungen eines Schütz, Petersen oder der E. von Merlau identifiziert werden darf. Gerade diese letztgenannten dürften aber für Poirets Geschichtsverständnis nicht ohne Bedeutung geblieben sein, denn unser Theologe war ja mit ihnen durchaus vertraut®'. Im übrigen ist auch hier wieder an den Einfluß der ebenfalls chiliastisch gestimmten A. Bourignon zu denken. Bereits von hier aus fällt also ein bezeichnendes Licht auf Poirets Geschichtskonzeption. Nicht nur ist sie in sich als uncoccejanisch zu bezeichnen, sondern sie enthält darüberhinaus auch Elemente, welche über die kirchliche Lehre in ihrem weiteren Sinne hinausführen. Die Tatsache selbst aber, daß Poiret chiliastische Spekulationen aufgenommen hat, ist hochbedeutsam; denn was er in seinem Chiliasmus ausdrücken will, ist nichts anderes als jene Identifikation von ProtoloAaO S. 87f. б·? Vgl. R. Schmidt, Aetates Mundi (in: ZKG 1 9 5 5 / 5 6 , 8 . 2 8 8 f f ) (zit.: Schmidt). 68 Schmidt, aaO S. 2 9 6 f f . 69 Vgl. Wieser, Peter Poiret, S. 4 6 . 12 Krieg, Kreis
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gie und Eschatologie, welche wir ansatzweise bereits in der Urstandslehre unseres Theologen erkennen konnten: Der Lauf der Dinge kehrt in seinen Ursprung zurück. Jener Gedanke, daß die Seele aus Gott ist und zu ihm zurückkehrt, findet sich also, ins Kosmische transformiert, als zyklisches Geschichtsbild wieder. Der mystische Kreis vollzieht sich mithin auf zwei Ebenen, in der individuellen Existenz wie in der Geschichte. Aber nicht nur in diesem grundsätzlichen Punkt weicht Poiret von der Geschichtstheologie des Coccejus ab (ganz abgesehen von dem „unkirchlichen" Charakter chiliastischer Spekulationen überhaupt), sondern es bestehen auch andere gravierende Differenzen zwischen beiden Theologen: So ist Poirets Geschichtsbild nicht allein zyklisch; vielmehr sind die einzelnen Geschichtsperioden auch durchaus ungleichwertig: Der Weg vom Urständ zum Tausendjährigen Reich ist zugleich ein Weg fortschreitender weiterer Entfremdung von Gott: Der Abfall des Menschen, der mit dem Sündenfall begonnen hat, setzt sich auch in der Geschichte fort. Zwar hat auch Coccejus das menschliche Verhalten in der Heilsgeschichte bisweilen mißfällig betrachtet (man denke an Aussagen von ihm über die Kirchengeschichte); nur, ein Verstehensprinzip ist diese Position für Coccejus anders als für Poiret nicht geworden. Näher an Poirets Denken führen vielmehr auch hier wieder einmal Denkweisen schwärmerischer und sektiererischer Gruppen^®. Noch ein anderer Punkt ist zu nennen, an welchem sich Poirets Geschichtstheologie von der des Coccejus, in manchem aber auch von derjenigen der Kirche-allgemein abhebt: Gibt Poiret der Geschichte in der Oeconomie Divine auch Raum, so relativiert er sie zugleich. Zunächst, er verwendet jene mystische Parallelität von Welt- und Individualgeschichte dazu, die Weltgeschichte gleichsam in die Subjektivität des Ich zurückzuziehen. In diesem Sinne ordnet er den einzelnen Geschichtsperioden zugleich die verschiedenen Menschenalter zu: Die Geschichte hat eine infantia, eine pueritia, eine adolescentia, eine juventus, eine aetas virilis, schließlich eine senectus, bis sie sich am Ende in ihren Urständ hinein erneuert. Sie erhält damit sozusagen Symbolwert für das Werden des Einzelnen innerhalb seines mystischen Kreises: Das Individuum entwickelt sich ja auch von „kindlicher Torheit" über seine ,,geistliche Reifung" durch die göttlichen Gebote, bis es am Ende durch die Geburt Christi im Herzen wieder erneuert wird'*. 70 Vgl. E. Seeberg, aaO S. 263f. Oec.Div. I, S. 732f. 178
Auch dieses Gliederungsprinzip ist übrigens nicht neu; wie jenes erstere findet es sich bereits bei Augustin; aber auch er ist von V o r f o r m e n abhängig Fast noch entscheidender relativiert wird in Poirets Denken der Gedanke der Heilsgeschichte jedoch durch einen anderen Sachverhalt (und hier liegt ein letzter Punkt vor, in welchem sich Poirets Geschichtsverständnis von dem des Coccejus abhebt, der aber auch zugleich Poirets letztliche Ferne vom allgemein-kirchlichen Verständnis der Heilsgeschichte indiziert). Orientiert sich Poiret grundsätzlich auch an der Geschichtsdeutung der biblischen Überlieferung, so trägt sein Heilsgeschichtsverständnis stark universalistische Züge: Auch die Heiden haben grundsätzlich teil an ihr. Verwunderlich ist diese Anschauung keineswegs; ontologisch gesehen, sub specie animae, sind j a alle Menschen gleich, sowohl in ihrem Sündenfall als auch — von der Fürbitte des Christus gloriosus her, die ja für die Menschheit schlechthin geschehen ist — auf ihrem Rückweg zum Wesen. Damit aber wird Poirets Geschichtstheologie zugleich der Ermöglichungsgrund einer theologia naturalis, die auf jede biblische oder gar kirchlich-christologische Spezifikation verzichten kann.
Die Perioden
der
Heilsgeschichte
a) Die Perioden bis zur Zeit J e s u von Nazaret (Die Ökonomie des Alten Testamentes) Richten wir den Blick auf die Details der poiretianischen Geschichtskonzeption, so zeigen sich diese auf ähnliche Weise charakterisiert wie jene Konzeption als ganze. Ihr sachlicher Ausgangspunkt ist naturgemäß der Gedanke der göttlichen Gnadenvermittlung durch die Geschichte hindurch. In ihrer jeweiligen Ausprägung erweisen sie sich als ein Miteinander biblischer, traditionell-kirchlicher und mystisch-theosophischer (schwärmerischer) Elemente. Schon die Beschreibung der Perioden vom Sündenfall bis zur Geburt Jesu spricht hier eine deutliche Sprache. Spezifisch mystisch-theosophisch ist etwa Poirets Deutung der Gnadenverheißung des Protoevangeliums (es gehört für ihn in die erste Geschichtsperiode). Während etwa für Coccejus die dort angesagte Feindschaft zwischen dem Weib und seinen N a c h k o m m e n einerseits und der Schlange und ihren Nachkommen andererseits nichts als die Feindschaft zwischen dem Menschengeschlecht, sofern es „heres f u t u r a sanctitatis et vitae" ist, und dem Teufel bedeutet, welche aufgrund der Gemeinschaft der „ E r b e n "
Schmidt, aaO S. 293.
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mit Jesus Christus zu ihren Gunsten entschieden sein w i r d " , bedeutet für Poiret diese Verheißung des Sieges Jesu Christi allein die Verheißung seiner Gegenwart als des Adam und seinen Nachkommen zugesagten ewigen Wortes, welche — durch den Rückfall der Menschen in die Dunkelheiten des Falles in der Weltgeschichte immer abgewiesen — im Tausendjährigen Reich ihre für alle Welt sichtbare Erfüllung finden wird (eine Deutung, welcher ein Theologe wie Jäger naturgemäß scharf widersprochen hat)'"*. Kirchlicher dagegen ist etwa Poirets Deutung des Regenbogens nach der Sintflut (hier stehen wir in der zweiten Periode): Er hat für Poiret — ganz wie für einen Theologen wie Heidegger — Offenbarungscharakter''. Ganz und gar in Poirets mystischem Ansatz begründet sind dagegen die (ebenfalls für diese Periode gemachten) Aussagen über die Gnadenzuweisungen Gottes an die „Heiden": Auch sie — das zeigt Poiret weitläufig an der griechischen Philosophie (Chrysipp, Antisthenes, Diogenes, Sokrates usw.) — haben teil an der durch Christus vermittelten Gnade, am ewigen Wort, sind sie auch nicht Besitzer einer revelatio externa^®. Damit wird an dieser Stelle besonders deutlich, wie sehr Poirets Verständnis von Heilsgeschichte über die durch die Bibel vermittelte Geschichte hinausgreift und zu einer allgemeinen Menschheitsgeschichte wird. Die biblische Überlieferung über die Gnade Gottes steht neben anderen Überlieferungen — so wie in Poirets Trinitätstheologie der Cogitationes Rationales von 1685 die bibhschen Aussagen neben solchen etwa der A. Bourignon stehen. All dies freilich, dieser Glaube an eine universaJe, allen Menschen zugehörige göttliche Wahrheit — ist er Poiret auch aus seinem mystischen Ansatz her überkommen — trägt wiederum stark aufklärerische Züge, eben als Ausdruck einer handfesten theologia naturalis. Ein eigentümliches Ineinander von kirchlicher und theosophischer Exegese biblischer Überlieferung findet sich in Poirets Deutung der göttlichen Gnadenzuwendungen der dritten Geschichtsperiode, nämlich in seiner Auslegung der Wüstenwanderung Israels: Auch hier begegnet Gott dem Menschen wieder auf leibhaftige Weise, als Christus: Christus führt das Volk durch die Wüste, er spricht zu Mose, er gibt Israel Anweisungen
Vgl. Summa Doctrinae de Foedere et Testamento Dei (in: Opera Omnia VII, Amsterdam 1701), S. 82f (§ 293). Oec.Div. I, S. 735f, vgl. Jäger, Examen S. 145f und S. 321. •'S Oec.Div. I, S. 746f; vgl. Heppe-Bizer, aaO S. 316f. Vgl. insgesamt Oec.Div. I, S. 749ff. Oec.Div. I, S. 797ff.
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So verwunderlich es heute auch scheinen mag, im Sinne der typologischen Exegese ist diese Auslegung gut kirchlich. J a , gerade ein Gegner wie Lange äußert hohes Lob über die Deutung Christi als des Führers Israels''®. Nur, für Poiret ist dieser Christus des Alten Bundes naturgemäß der Christus gloriosus. Dieser Gedanke aber führt zu Folgerungen, welche Poirets Exegese eine durchaus unkirchliche Färbung verleihen. Wenn die biblischen Texte etwa von einem Sich-Verhüllen Gottes — d.h. hier: Christi — sprechen, so meinen sie für Poiret damit eine Verhüllung eben dieses seines corpus gloriosum. Denn dieses kann der Mensch mit seinem nach dem Fall sündig gewordenen Auge nicht mehr ertragen anzuschauen. Das gilt z.B. für die Bibelstellen, nach welchen Gott (= Christus) von einer Wolke bedeckt vor Israel tritt. Hier nun widersprach die Kirche, wenn sie auch der Lehre von „Menschwerdungen" Christi in der Zeit des Alten Bundes durchaus zustimmte^'. Nein, so formuliert Jäger gegen Poiret, jene Erscheinungen Christi vor Israel sind einzig und allein „praeludia . . . Incarnationis"®°; mit der eigentlichen Menschwerdung Christi in Jesus von Nazaret haben sie nichts zu tun. Demgemäß hat auch jene Verhüllung des Gottessohnes in einer Wolke einen anderen Sinn. Was Christus durch diese Wolke verborgen hat, schreibt Lange, war seine göttliche Natur®' — wir sehen, wie weit man in diesen Typologien gehen kann! Wir können es bei diesen Beispielen zu Poirets Deutung der Geschichte bis zur Zeit Jesu bewenden lassen: Grundlegend Neues ergibt sich nicht mehr; und in diesem Sinne bleibe auch die vierte Geschichtsperiode hier unberücksichtigt. Hervorgehoben sei nur noch einmal die Skepsis, die hinter Poirets Geschichtsbild steht: Gott hat dem Menschen seine Gnade angeboten, ihn geleitet; und dennoch nimmt der Mensch die göttliche Gnade nicht an. So eilt die Zeit weiter ihrem Ende entgegen, so heftig, daß am Ende der Ökonomie des Alten Testamentes das Weltgericht unvermeidbar erscheint Hier liegt der Ansatz der Ökonomie des Neuen Testaments. b) Jesus von Nazaret (Der Beginn der neutestamentlichen Ökonomie) Das also ist der Ansatz der neutestamentlichen Ökonomie: Wiewohl das Ende der Geschichte unmittelbar bevorzustehen scheint, tritt es noch
'S AaO S. 48. Lange nennt sie „parastatisch" (aaO S. 46). 80 Examen, S. 163. Lange, aaO S. 47. Oec.Div. I, S. 850.
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nicht ein, denn wiederum greift der Christiis gloriosus in das Rad der Geschichte. Er bittet Gott um einen Aufschub der endgültigen Vernichtung der Welt; denn noch einmal will er — gemäß seinem Vertrag mit Gott — Erzieher der Menschen sein®'. Auch diese Fürbitte findet bei Gott Gehör, so daß Christus wieder als sein Zeuge in die Welt zu treten vermag; nunmehr freilich nicht mehr wie früher als sich je und je verhüllender Christus gloriosus, sondern in der Weise der Niedrigkeit, des Eingehens in die Existenz des Mensehennach-dem-Fall, als der Christus, sofern er Jesus von Nazaret ist. Somit erfährt Poirets Christusverständnis nunmehr eine Ergänzung, und zwar im Blick auf Christi pädagogische Funktion: Diese vermag Christus durch sein Eingehen in das Fleisch der Sünde noch eindringlicher als bisher zu erfüllen; denn dadurch, daß er in die Niedrigkeit eingeht, vermag er den Menschen ein unmittelbar persönliches Vorbild zu werden, ihnen an sich selbst zu zeigen, wie das Ich Gottes Gnade innewerden kann. Was besagt dies im einzelnen für Poirets Deutung Christi als des Jesus von Nazaret, die Deutung Jesu Christi? Betrachten wir zunächst — die kirchlich-dogmatische Christologie mit ihrem Reden von „Person" und ,,Werk" („Amt") Jesu Christi zum Ausgangspunkt nehmend — Poirets Aussagen zur Person Jesu Christi. Es sei gleich vorweg gesagt: Traditionell-kirchliche Aussagen über die Person Jesu Christi finden sich bei Poiret so gut wie nicht. Wenn Poiret über die Person Jesu Christi redet, dann tut er es vielmehr (und das ist nur konsequent) unter Zugrundelegung der Lehre vom corpus gloriosum. Hier nun, am Beginn der Darstellung der Ökonomie des Neuen Bundes, stoßen wir auf deren letzte Implikationen; denn nunmehr tritt diese Lehre mit der neutestamentlich-kirchlichen Lehre von dem historischen Menschen Jesus von Nazaret als dem Christus in Verbindung. Natürlich ist Poiret hier bereits von seinem Ansatz her zu anderen als kirchlichen Aussagen gezwungen. Von einer Fleischwerdung Christi als des ewigen Wortes in Jesus von Nazaret im kirchlichen Sinne kann er ja schon deshalb nicht reden, weil Gott für ihn bereits Mensch geworden ist, eben im Christus gloriosus. Diese Fleischwerdung bedeutet mithin für ihn: Der Christus gloriosus hat seinen verklärten Leib Oec.Div. II, S. 44ff; vgl. auch A. Bourignon, Vorrede zur Erneuerung des Evangelischen Geistes, S. 51.
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überkleidet — mit der Gestalt Jesu von Nazaret®^. Dabei ist Poiret in der detaillierten Schilderung dieser Überkleidung durchaus hemmungslos. So beantwortet er etwa die (für ihn rationdistische!) Frage, wie ersterer aus dem Schöße Mariens habe geboren werden können, mit folgender „Exegese" von Phil 2: „observari meretur, Scripturam sacram, ubi de Incarnatione Christi loquitur, dicere quod se ipsum evacuaverit . . . tenuem se et exiguum reddiderit . . . Hoc . . . in statu, quo minus Deus corpus suum ex coelo in terram, inque sinum Virginis transferre potuerit"®'. Auch hier liegt übrigens wieder der Einfluß der A. Bourignon vor®®. Auf die Proteste der Kirche gegen Poirets Lehre vom Christus gloriosus haben wir schon hingewiesen. Indes haben Autoren wie Jäger natürlich auch Stellen wie die hier angeführten kritisiert. Vor allem auch für Jäger selbst ist deutlich, daß sich Poiret wieder einmal auf die Bahnen der Schwärmer begeben hat. So macht der Tübinger etwa auf Barclay, Schwenckfeldt und Weigel aufmerksam, desgleichen auf die Wiedertäufer. J a , auf dem Höhepunkt seiner Polemik (und Poirets Stellung durchaus überzeichnend) zitiert er W. Caton und seine schroffe Stellungnahme gegen die kirchliche Christologie, um seinem Gegner zu zeigen, in wessen Nachbarschaft dieser sich angesiedelt habe: „Quicumque non credit Jesum Christum aeque in se, ас in utero Virginis Mariae, incamatum esse, ille ipse est Antichristus"". Nein, so hält er Poiret entgegen, jene Inkarnation des Gottessohnes ist eine Fleischwerdung im eigentlichen Sinne. Christus als Jesus von Nazaret ist eine Gestalt aus Leib und Seele, wenn auch von Sünde frei. Von einem bloßen Annehmen eines menschlichen Körpers kann nicht gesprochen werden; allein über die Christuserscheinungen des Alten Bundes ist so zu reden. In Jesus von Nazaret sind dagegen das ewige Wort und der Mensch, der Gottessohn und der irdische Leib in einer unio personalis miteinander verbunden. Poirets Erwiderung auf Jägers Attacken gegen seine christologische Sondermeinung wurde schon dargestellt. Wir hörten: Ganz sicher ist er seiner Christologie, wie er sie in der Oeconomie Divine vorgetragen hat, in den späteren Jahren nicht mehr. Das betrifft besonders auch seine Deutung der Fleischwerdung selbst. Zwar nimmt er einerseits Jägers Bemerkung, er vertrete die Ansichten der Schwärmer, gelassen zur Kenntnis, andererseits zeigt sich aber auch hier, daß er sich in den Vindiciae Oec.Div. II, S. 64; vgl. auch A. Bourignon, Vorrede zur Erneuerung des Evangelischen Geistes, S. 5 I f f . 8S Oec.Div. II, S. 64. Vgl. Das Leben der Jungfrau Antoinette Bourignon, S. 454. 87 Vgl. zum folgenden Examen, S. 139ff; Zitat S. 153f.
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Veritatis et Innocentiae mit der Christologie der Oeconomie Divine nicht mehr voll identifizieren kann; denn ob das, was die Schwärmer über das Wesen Christi sagen, auch wahr ist — das will er nicht mehr ohne weiteres behaupten. Immerhin kann er es jedoch nicht lassen, seinen Gegner auf einen Brief J . Arndts hinzuweisen, in welchem dieser die besagten Anschauungen zumindest als der Schrift nicht widersprechend verstanden wissen will®®. Indes sind die bisher genannten Thesen Poirets zur Person Jesu Christi nur der Ansatz. Welche Funktion haben sie innerhalb der poiretianischen Christologie? Entscheidend ist: indem Christus sein corpus gloriosum mit dem Leib Jesu von Nazaret überkleidet, partizipiert er an der Schwäche und Verderbtheit des Menschen in allen Dimensionen. Wie die Menschen ist auch er Versuchungen des Fleisches a u s g e s e t z t j a , er ist in dieser Hinsicht noch mehr als andere Menschen gefährdet: „plures (sc. inclinationes) habuit quam caeteri omnes, easque longe violentissimas et principales"'". Das besagt jedoch nicht, daß er nicht ohne Sünde gewesen sei. Im Gegenteil, Poiret betont ausdrücklich die Sündlosigkeit Jesu. Jene Neigungen zur Sünde, welche er in Jesus findet, versteht er nicht bereits als Akt des Sündigens; denn zu diesem gehört die Zustimmung des Ich, sein Wille. Jesu Wille freilich ist frei von aller Versuchung^'. Diese Distinktion ist subtil; sie ist aber nicht widersprüchlich, wie Lange meint'^. Sie geht allerdings, wenn man Poirets Gedankengang nachvollzieht, von Voraussetzungen aus, die wiederum alles andere als kirchlich sind, nämlich von dem Gedanken, daß aufgrund der Tatsache, daß Jesus nur das „Kleid" des Christus ist, letztlich eine fundamentale Trennung zwischen beiden besteht — letztlich eine Trennung zwischen „Innen" und „Außen": Das Außen verlockt zur Sünde, während das Innen nicht seine Einwilligung gibt^^. Ist diese Deutung von Poirets Reden über die Sündlosigkeit Jesu richtig, dann stehen wir allerdings vor einem wichtigen Punkt in der Lehre dieses Theologen über die Person Jesu Christi: Sie ist gleichsam das Urbild jenes Widerstreites im Ich zwischen dem Zentrum 88 Vindiciae, S. 5 5 2 f . 89 Oec.Div. II, S. 5 6 . 90 Ebd. 91 A a O (II) S . 5 9 . 92 Lange, aaO S. 5 7 . 93 Bisweilen nicht ganz so ^ιeterodox' A . Bourignon. Zwar redet auch sie von einem exemplarischen Kampf J e s u gegen die Sünde, f i n d e t andererseits aber auch zu überraschend .kirchlichen' Aussagen über J e s u Sündenfreiheit (vgl. Der e n t d e c k t e Widerkrist, Bd. I, A m s t e r d a m 1 6 8 4 , S. 8 1 f ) .
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und der Peripherie, zwischen dem Innen und dem Außen, ein Widerstreit, in welchem das Außen gegen das Innen andringt und ihm Verlockungen einflüstert, die dem wahren Ich des Menschen fremd sind. Mit anderen Worten: Hier stehen wir an einer Stelle, an welcher Poirets Deutung Jesu Christi als des Vorbildes, des „Modells", wie er es im Vorwort zur Theologia Deutsch formuliert hat, besonders anschaulich wird. Christus als das Urbild der Bedrohung des Ich durch das Außen bleibt dennoch von diesem unangetastet. J a , ein Christusbild wie dieses kann eine ganze „Christologie der Nachfolge" begründen; denn es bietet dadurch, daß gerade das menschliche Element des Mittlers, seine Bedrohung durch das Widergöttliche in ihm so deutlich ausgedrückt ist, einen nachgerade notwendigen Punkt, an welchem der Glaubende anknüpfen kann, um sich der verwandelnden Macht des Urbildes ganz zu erschließen. Indes entsprach Poirets Insistenz einerseits auf dem Unterworfensein Christi unter die Neigungen des Fleisches und andererseits auf dem Dennoch seiner Sündlosigkeit so wenig dem kirchlichen Denken, daß dieses, wie im Blick auf Lange vermerkt, nur einen Widerspruch an dieser Stelle sehen konnte. Zu verstehen ist diese Einstellung durchaus. Die Kirche deutet ja die Beziehung zwischen dem Logos Christus und dem Menschen Jesus im Sinne der Dialektik von „ungeteilt und unvermischt", d.h. zugleich im Sinne eines trotz der Trennung zwischen Mensch und Gott bestehenden engsten Zusammenhangs zwischen beiden. Mithin ist für sie, wo der Mensch Jesus als ein solcher verstanden wird, der wie alle Menschen den Versuchungen des Fleisches ausgesetzt ist, auch der Glaube an die Sündlosigkeit des Christus, des ewigen Wortes, preisgegeben, während Poiret aufgrund der Tatsache, daß er das Innen und Außen in Jesus Christus streng scheidet, von Jesus etwas Negatives aussagen kann, ohne dem Wesen des Christus Eintrag zu tun. Von hier aus ist aber zu verstehen, daß die Kirche Poiret vorgeworfen hat, er glaube nicht an die Sündlosigkeit Jesu. In diesem Sinne verweist auch etwa Lange Poiret auf die Zweinaturenlehre, indem er aufgrund der unabdingbaren dialektischen Einheit von menschlicher und göttlicher Natur die menschliche Natur Jesu Christi von divinae perfectiones sine mensura bestimmt findet, und kann Poirets Deutung mithin nur als ,unevangelisch' abtun. Noch deutlicher wird Jäger. Er beschuldigt Poiret offen, er habe Christus zum Sünder gemacht'^. Wie gesagt, die Motive, aus welchen heraus Jäger und Lange hier gegen Poiret antreten, sind deutlich, mögen beide Theologen auch an dessen ei^ Lange, aaO S. 55 und S. 57; Jäger, Examen, S. 804.
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gentlichen Absichten vorbeigegangen sein und haben sie ihn mithin mißverstanden (wie sich Poiret auch Jäger gegenüber geradezu leidenschaftlich gewehrt hat^'): Sie sehen die Gottheit Christi gefährdet. Desgleichen liegt auf der Hand, daß in der Reflexion über die Beziehung zwischen Jesus von Nazaret und dem Christus, zwischen dem ewigen Wort und dem irdischen Menschen, eine empfindliche Lücke klafft: Dadurch daß das ewige Wort auch in jedem Menschen zu sein vermag, ja, daß Poiret sogar den „Heiden" die Möglichkeit zuspricht, das ewige Wort zu besitzen, ist der Gedanke eliminiert worden, daß nur in Jesus von Nazaret der Logos Fleisch geworden ist. Ebenso ist jedoch zu fragen, ob nicht Theologen wie Jäger und Lange ein Opfer „monophysitierender" Tendenzen in der Christologie geworden sind, aufgrund welcher sie die Menschheit Jesu Christi infrage zu stellen drohten. Insofern vermag auch Poirets Deutung ein gewisses Recht für sich zu beanspruchen — das nämüch, die Gestalt Jesu Christi von einem Aspekt her gesehen zu haben, der in der kirchhchen Theologie der Zeit in den Hintergrund getreten war. Was ist aber nun das „ A m t " Christi als des Jesus von Nazaret, sein „Werk"? Wieder können wir es vorweg sagen: Auch eine ausgeführte Lehre über das „Werk" Jesu Christi findet sich in der Oeconomie Divine nicht. Was sich gelegentlich dartut, sind Restbestände des kirchlichen Dogmas, die aber in keiner Weise systematisch-theologisch eingeordnet erscheinen. Von hier aus läßt sich eigentlich auch nicht mehr von einem „Werk" Christi sprechen (war auch, wie wir noch sehen werden, Poiret die Ämterlehre durchaus vertraut), sondern nur von Jesu Christi „Aufgabe". Zunächst, nicht hinein in Poirets Aussagen über die Aufgabe Jesu Christi gehört seine Deutung Christi als des Fürbitters nach dem Fall und am Beginn der fünften Periode; denn diesen Teil seiner Christologie hat unser Theologe unter Absehung von der Gestalt Jesu von Nazaret entwickelt. Der Christus, welcher im Sinne Poirets vor Gott Fürbitte leistet, ist ja kein Fürbitter im Sinne der kirchlichen Lehre vom munus sacerdotale und dem in ihr beschlossenen Gedanken der intercessio: Diese ist allein von Christi irdischem Weg her, seinem Sein als Jesus von Nazaret zu verstehen. Mithin kann man, wenn man von Christus als Fürbitter im poiretianischen Sinne spricht, dies allein auf den Christus gloriosus beziehen. Fragen wir also nach der Aufgabe Jesu Christi, so müssen wir vielmehr an das denken, was Poiret immer schon als dessen Funktion angesehen hat: Er ist Wegweiser zur christlichen Existenz. Nur — und das unteres „Obtestor tuam, D. Jaegere, conscientiam in Conspectu Dei, persuasus-ne es ipsemet coram ilio quod habeam Christo pro peccatore . . . ? " (Vindiciae, S. 274)
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scheidet die Aufgabe Jesu Christi von der Aufgabe des Christus gloriosus —, diese Wegweisung geschieht nunmehr noch ausdrücklicher als bisher. Der Wegweiser ist jetzt sozusagen empirisch faßbar geworden, ein Mensch unter Menschen, wenn auch mit einem ewig unbefleckten Innen. Wie aber geschieht diese Wegweisung konkret? Eben in der Weise, daß Jesus Christus den in seiner Person angelegten Widerstreit von Innen und Außen austrägt, um den Menschen ein Beispiel zu geben, wie dieser Streit zu demjenigen Ende geführt werden kann, welches das der ontologischen Beschaffenheit des Menschen einzig gemäße ist — eben zum Sieg des Innen über das Außen, des Zentrums über die Verlockungen der verderbten Peripherie®®. Poiret ist hier im Detail sehr ausführhch. In allen Richtungen sucht er den Gedanken der Beispielhaftigkeit Jesu Christi zu entfalten; in immer neuen Wendungen umschreibt er jenen Kampf Jesu Christi mit sich selbst, seines „Fleisches" gegen seinen „Geist"'^. Und eindringlich stellt er die Leiden dar, welchen Jesus Christus in diesem Kampf ausgesetzt ist, vor allem in der letzten Zeitspanne seines Lebens'®, endlich auch sein Leiden auf Gethsemane. Gerade dieses zeigt ihm, wie weit Jesus Christus in seinem Kampf gegen das Außen gegangen ist: ,,contra voluntatem carnis ita fortiter pugnasse, ut sanguinem pariter ac aquam sudaverit . . . imo ipsi morti carnis sese exposuerit"'®. Von kirchlicher Christologie ist hier natürlich nichts mehr zu erkennen; gerade letztes Zitat zeigt eher eine Position an, die jedem kirchlichen Reden von Christi Tod in geradezu elementarer Weise entgegensteht. Dennoch hat Poiret trotz all seiner Feme von der kirchlichen Christologie nicht daran gedacht, seine Beziehungen zu dieser gänzlich abzubrechen. Vielmehr hat er über seine Lehre von der Exemplarität Jesu Christi hinaus Fragen hinsichtlich seiner Aufgabe berührt, die auch unmittelbar die des kirchUchen Dogmas sind. So hat er trotz seiner Ablehnung der satisfactio vicaria-Lehre zu zeigen gesucht, daß dem Leiden Jesu Christi sündentilgende Wirkung zukomme. In welcher Weise? Poiret antwortet, in der Weise der conformitas des Ich mit dem „Geist" Jesu Christi. Macht der Mensch den Kampf Jesu Christi, seines Innen mit seinem Außen, auch zu seinem eigenen, so kann er im Verein mit seinem Urbild dem Bösen widerstehen, ereignet sich Reinigung von Sünde'®*'. 96 Vgl. Oec.Div. II, S. 55. AaO (II) S. 67. 98 AaO (II) S. 78f. 99 AaO (I) S. 8 1 9 . wo AaO (II) S. 83.
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Aber noch in einem allgemeineren Sinne hat Poiret sein Reden vom Leiden Jesu Christi mit dessen Deutung durch die offizielle Kirche zu verbinden getrachtet. Hat er es auch nicht als satisfactio vicaria auffassen können, so hat er doch immerhin die Frage gestellt, inwieweit diesem Leiden überhaupt satisfaktorische Bedeutung zukomme. Der Sprache nach ist hier sogar wiederum einiges kirchlich. So hat unser Theologe etwa die Genugtuung Jesu Christi als den Akt verstanden, durch welchen die ,Majestas Dei offensa' wieder versöhnt werde Nur, sachhch ist mit alledem wiederum nichts anderes ausgesagt, als was Poiret schon über die Versöhnung Gottes durch den Christus gloriosus im Paradies vermerkt hat. Das wird sogleich deutlich, wenn wir danach fragen, wie Poiret diese Genugtuung des näheren verstanden hat. Folgendes kristallisiert sich heraus: Hat Christus im Paradies Gott, konkreter, seiner Gerechtigkeit, in der Weise genug getan, daß dieser ihm in gänzlich positiver Weise entsprechen muß — eben weil Christus ganz und gar auf ihn hin ausgerichtet ist und Gott ein gerechter Gott ist —, daß sich dieser mithin auch Christi Bitte, sich der Menschheit erneut erbarmend zuzuwenden, nicht versagen kann, so ist die Genugtuung, welche Christus durch sein Leiden und Sterben als Jesus von Nazaret der göttlichen Gerechtigkeit leistet, lediglich als eine ,Erneuerung' jenes ersten Versöhnungsaktes aufzufassen; insofern nämlich als Christus nunmehr seine Bitte um die göttliche Gnade — in diesem Fall konkreter: um Gottes weitere Gnadenzuwendungen (Gott hat sich ja nicht noch einmal vom Menschen abgewandt) — eben durch dieses sein Leiden und Sterben auf Golgatha besiegelt Demgemäß versteht Poiret auch Jesu Christi „Verdienst" in der gleichen Weise wie das „Verdienst" des Christus gloriosus: Es besteht darin, daß Jesus Christus diese weitere Zuwendung der göttlichen Gnade in der Tat erreicht hat Wir sehen also, daß in all diesen Ausführungen zwar wieder einige Anklänge an die kirchliche Sprache bestehen, der Sache nach aber Poirets Entfernung von der überlieferten Satisfaktionslehre so groß wie eh und je ist. Diese Entfernung Poirets von der traditionellen Dogmatik wird auch in allen weiteren Elementen sichtbar, aus welchen sich sein Verständnis der Genugtuung der göttlichen Gerechtigkeit durch das Leiden Jesu Christi konstituiert. Vor allem dies ist wichtig: Hat Jesus Christus durch sein Leiden und Sterben Gott auch dazu bewogen, den Menschen wei-
101 AaO (II) S. 86. 102 AaO (II) S. 8 6 f . 103 A a O (II) S. 85.
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ter seine Gnade zukommen zu lassen, so ist mit dieser Genugtuung eo ipso durchaus noch keine Sündenvergebung verbunden. Will der Mensch die satisfactio auch für sich selbst gültig machen, so muß er Gottes Gnade ergreifen, d.h. auch seinerseits Genugtuung leisten „per purificationem peccatorum suorum"'®^. Damit aber steht Poirets Kirchenferne in seinem Verständnis der satisfactio wieder in einem hellen Licht. Nur wenig ist den bisherigen Ausführungen über Poirets Deutung der Aufgabe Jesu Christi noch hinzuzufügen. Erwähnt sei lediglich, daß die Oeconomie Divine auch einen Abschnitt über die Lehre Jesu Christi enthält. Wesentliches enthält dieser aber nicht. Lehre Christi — das bedeutet natürlich einzig und allein: verbale Wegweisung zur Praxis des inneren Weges'"', Ergänzung jener „Anweisungen", die Christus durch sein Beispiel gibt. Hervorzuheben ist im übrigen der antispekulative Zug, der Poirets diesbezügliche Äußerungen prägt Wie die kirchliche Theologie auf Poirets Christologie reagiert hat, haben wir schon erörtert. Neues bleibt dem nicht hinzuzufügen. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist etwas anderes: Zumindest in seiner Spätzeit, in den Vindiciae Veritatis et Innocentiae, hat sich Poiret noch einmal mit der Aufgabe Jesu Christi beschäftigt. Dabei ist das Ergebnis dieser Beschäftigung insofern interessant, als er hier versucht, sein Verständnis der Aufgabe Jesu Christi vermittels des dogmatischen Topos vom munus triplex Christi zu entfalten'"''. Freilich ist diese Annäherung an die kirchliche Tradition wiederum ganz oberflächlich, d.h. letztendlich nur eine Annäherung in der Sprache. Das zeigt schon Poirets Interpretation des munus sacerdotale. Die kirchliche Lehre betrachtet es bekanntlich unter dem Aspekt von satisfactio (vicaria) und intercessio. Was findet sich bei Poiret davon? Wir müssen sagen, nicht mehr als in der Oeconomie Divine. Das Moment der intercessio ist so gut wie ganz eliminiert (unter „Fürbitte" versteht Poiret j a etwas anderes als die Kirche), und der Begriff der satisfactio wird ganz wie in der Oeconomie Divine gedeutet. Ähnlich undogmatisch ist auch das munus doctorale behandelt. Lehre Jesu Christi bedeutet weiterhin für Poiret: Aufruf zur Praxis des inneren Weges, zur Abkehr von der Welt. Auch seine Deutung des munus regium ergibt kein anderes Bild. Die überlieferte Dogmatik interpretiert dieses Amt einerseits als IM 105 (II) 10« 107
AaO (II) S. 87. ,,Omnes . . . doctrinae capitales a Christo traditae . . . ad praxin spectant" (aaO S. 98f). Ebd. Vgl. zum folgenden Vindiciae, S. 363f.
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Christi Herrschaft über das regnum essentiale, die Kirche, darüberhinaus über das regnum universale, d.h. als Herrschaft Christi über die Welt. Hier erscheint bei Poiret wiederum alles in die Subjektivität des Ich hinein aufgelöst: Christus tritt sein königliches A m t an, wenn die Seele ihm gleichförmig geworden ist. Greift Poiret also auch Termini der Kirchenlehre auf, so hat er dennoch keine andere Position eingenommen als in der Oeconomie Divine. Im Gegenteil, gerade dadurch, daß nunmehr die Diskussion auf die Interpretation von Begriffen konzentriert erscheint, zeigt sich der Unterschied zwischen ihm und der Kirchenlehre besonders deutlich. Vermag sich Poiret auch der Begrifflichkeit der Kirche zu bedienen, so bleibt sein Denken dennoch von der herkömmlichen Dogmatik grundverschieden. c) Die Perioden bis zum Ende der Geschichte Betrachten wir die Perioden, durch welche Poiret die Geschichte nach der Zeit J e s u von Nazaret bis zum Ende der Geschichte charakterisiert findet, so begegnen auch hier wieder die gleichen Kennzeichen wie in Poirets Geschichtsdenken überhaupt: Trotz Gottes Gnadenangebot eilt die Zeit weiter dem Untergang zu; und dargestellt wird all dies wieder in jenem für Poiret so typischen Miteinander von biblischer Überlieferung, Restbeständen kirchlicher Dogmatik und theosophisch-mystischer Spekulation. Typisch in diesem Sinne ist etwa seine Beurteilung der Zeit der Kirche. Natürlich ist auch sie eine Zeit weiteren Niedergangs. Die Nachfolge Christi wird nicht mehr praktiziert; „rabbinische Gelehrsamkeit" ist in die Kirche eingedrungen — eine Entwicklung, die für Poiret gerade zu der Zeit Konstantins besonders heftig voranschreitet'"®. Die Radikahtät der Attacken Poirets auf die Kirche ist gewiß spiritualistisch; gänzlich unkirchlich ist jenes negative Urteil als solches freilich nicht; immerhin wird auch von „kirchlicheren" Theologen Konstantin bisweilen negativ beurteilt — wir denken an Bernhard von Clairvaux, Coccejus oder Spener'"^. Steht also Poiret mit seiner negativen Beurteilung der Kirche immerhin noch an den Rändern kirchlicher Tradition, so sind andere Elemente, durch die er die Zeit der Kirche stigmatisiert findet, gänzlich außerhalb des überlieferten Dogmas angesiedelt. S o sieht er etwa das Gnadenangebot Gottes, das nach der Zeit J e s u von Nazaret den Menschen zuge108 Vgl. bes. Oec.Div. II, S. 211 und S. 215. " » Vgl. E. Seeberg, aaO S. 333ff.
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dacht ist, in einem erneuten — und zwar geistlichen — Erscheinen Christi auf der Welt. Vermittels dieser seiner geistlichen Gegenwart wird Christus den Menschen die letzte Klarheit über das Tun Gottes und den Zustand der Welt b r i n g e n " " . Gewährsleute für diese Lehre dürften wieder Gestalten wie A. Bourignon s e i n ' ' * — sie etwa mit ihrer Anschauung von der „dritten Ank u n f t " Christi. Aber bereits J o a c h i m von Floris tendiert bekanntlich in die gleiche Richtung — sieht er auch, anders als Poiret, ein Zeitalter des Hl. Geistes heraufkommen und redet er nicht von einer erneuten Ankunft Christi Fast von selbst versteht sich, daß auch hier die Kirche wieder energischen Einspruch erhoben hat. S o hat etwa J ä g e r Poirets Lehre vom Christus spiritualis ins Visier genommen und als schwärmerisch, speziell joachimitisch, verurteilt''^. Vor allem, welchen Sinn könnte eine solche Lehre haben angesichts der Tatsache, daß die Kirche bereits alle notwendigen Heilsgüter erhalten hat: J e s u s Christus, die christliche Lehre, das Wort, die Sakramente, Verheißungen"''? Ausdrücklich beantwortet hat Poiret die Anfragen seiner Gegner nicht. Wir werden sehen, daß für ihn in den Vindiciae Veritatis et Innocentiae andere Fragen seiner Gegner im Vordergrund standen, vor allem die Frage nach dem Tausendjährigen Reich. Allein diesem Punkt hat er in seiner Apologie der Geschichtsschau der Oeconomie Divine noch Aufmerksamkeit gewidmet. Im übrigen sieht Poiret für die Zeit der Kirche auch bereits apokalyptische Ereignisse hereinbrechen. Auch den Christus spiritualis hat die Welt nicht angenommen. Damit ist ihr Schicksal aber endgültig besiegelt. Es beginnt die Vernichtung der Gottlosen, die große Reinigung der Welt vom Bösen Die siebte Periode der Geschichte, das Tausendjährige Reich, k o m m t herauf. Damit stehen wir vor der Peripetie der Geschichte: Die Welt kehrt in ihren Ursprung zurück. Auch hier können wir allerdings auf Details verzichten. Das Material, dem Poiret die Beschreibung dieser Periode entnimmt, stellt naturgemäß die Apokalypse, besonders A p k 20,4, dar. In diesem Sinne ist das 110 Oec.Div. II, S. 228. 111 Vorrede zur Erneuerung des Evangelischen Geistes, S. 81. 11^ Vgl. H. Grundmann, Studien über Joachim von Floris, Leipzig 1927, bes. S. 149ff. 113 Examen, S. 172. Ч'* AaO S. 186f. 115 Vgl. bes. auch Poirets Ausführungen über die Vernichtung der Gottlosen in der Kirche (Oec.Div. II, S. 238).
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Tausendjährige Reich das Reich Christi. Es bringt eine erste Auferstehung — die Auferstehung der Märtyrer, und diese werden mit Christus herrschen. Ebenso selbstverständlich wird all dies in das zyklische Geschichtsbild eingeordnet: Christus herrscht natürlich in seinem corpus gloriosum, desgleichen ist der Leib der Auferstandenen das protologische corpus gloriosum, wobei mit alledem naturgemäß auch die Lehre von der Androgynie angesprochen ist. Desgleichen kehrt auch die Natur wieder in ihren Urzustand zurück. Alles in allem schimmert auch hier das Denken der A. Bourignon durch"®. Es wäre müßig, die Reaktion eines Theologen wie Jäger auf Poirets Chiliasmus im einzelnen zu beschreiben; sie ist im wesentlichen klar. Das Tausendjährige Reich, wie Poiret es versteht, ist für Jäger die Periode der Schwärmer, Rückfall in jüdisches Denken. Das heißt zwar nicht, daß er den Chiliasmus als ganzen kompromißlos verurteilt — sofern er als subtiler Chiliasmus erscheint, ist er für ihn eher ein verzeihlicher Irrtum, im Blick auf Spener sogar die „Hoffnung eines trefflichen Mannes"; den apokalyptischen Überschwang, aus welchem heraus Poiret das Tausendjährige Reich ausmalt, kann er aber nur mit Ironie kommentieren: „Quis enim stolidas circumstantias in eo regno . . . non rideret?" Wenn Christus wiederkommt, dann zum Ende der Zeit und zum „Anbruch" der Ewigkeit, nicht aber zur Errichtung eines Tausendjährigen Reiches. Auch die Stelle Apk 20,4 trägt nichts aus: Sie steht zu vereinzelt im Gesamtzusammenhang der Hl. Schrift"·'. Ihrer Substanz nach ist auch diese Attacke an Poiret spurlos vorübergegangen, so wortreich er sich auch verteidigt. Warum, so fragt er seinen Gegner etwa, sollen nicht jene heiligen Seelen, die auf dieser Welt so vielen Leiden ausgesetzt waren, dereinst jene Glorie empfangen, von welcher er geschrieben hat"®? Und wieder bringt unser Theologe seine gesamte Belesenheit ins Spiel, um seinen Gegner zu treffen, indem er eine Reihe chiliastisch beeinflußter Autoren der frühen Kirche, etwa Laktanz, Tertullian und Victorin, anführt"®. Freilich, Durchschlagskraft dürfte gerade auch sein Hinweis auf jene letzteren Autoren für Jäger nicht besessen haben; denn so sehr auch Denker der frühen Zur Herrschaft Christi vgl. Oec.Div. II, S. 269; zur Herrschaft der Auferstandenen (Poiret zählt auch „Heiden" und „Ketzer" zu ihnen!) vgl. aaO (II) S. 274; zur eschatologischen Androgynie vgl. aaO (II) S. 250; vgl. auch Das Leben der Jungfrau Antoinette Bourignon, S. 455. II' Vgl. Examen, bes. S. 555ff; bes. S. 567f; Zitat S. 571; zur Beurteilung Speners durch Jäger vgl. aaO S. 5. 118 Vindiciae, S. 639. 119 AaO S. 641ff.
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Kirche unter dem Einfluß der Apokalypse (und bisweilen des Montanus) gelegentlich chiliastisches Gedankengut vertreten, so dennoch stets nur am Rand und seit Augustin eben ohne eigentliches Heimatrecht in der offiziellen Dogmatik. Mit der Darstellung der siebten Periode schließt Poiret seine Ausführungen zur Heilsgeschichte. Alles was über diese Periode hinausgeht, ist „Ewigkeit". Die Apotheose
der
Geschichte
Geschichte heißt für Poiret: Alles Seiende wendet sich von Gott weiter und weiter ab, um dennoch am Ende zu ihm zurückzukehren. Insofern entsprechen sich Urzeit und Endzeit. Ewigkeit ist dagegen auch für Poiret mehr: Sie ist Apotheose der Geschichte, Trans-geschichte. Gleichwohl steht auch sie unter dem Zeichen der Rückkehr. Jene Überzeugung, daß nichts sein wird, was nicht schon war, mit anderen Worten, die Macht des mystischen Kreises, ist so stark, daß sie auch die Dimension des Historischen sprengt. Wie aber kann Trans-geschichte „Vergangenheit" haben? Die Antwort wird von Poiret in einem kühnen, über die Anfänge der Geschichte zurückverweisenden Mythos gegeben: Ewigkeit — das bedeutet Rückkehr in eine Welt, welche vor der Welt der Menschen war; die gegenwärtige empirische Welt ist nicht die erste, sondern vor ihr bestand bereits eine von Engeln bewohnte. Diese aber haben ihren Untergang verursacht, dergestalt daß nicht alle von ihnen in der Gottschau verblieben, sondern sich zum Teil von Gott abwandten. Dieser Fall der Engel aber brachte das Chaos hervor, aus welchem Gott die gegenwärtige Welt der Menschen erschuf'^". Auch hier liegt Spekulation auf dem Hintergrand böhmianischen Denkens vor. Wir denken etwa an die ausführlichen Beschreibungen der angelischen Welt durch den Böhmianer Pordage'^'. Systemgestaltende oder gar -begründende Bedeutung besitzt dieser Mythos bei Poiret indes nicht. Er taucht innerhalb seines Systems nur an dieser Stelle auf. Immerhin hat unser Theologe ihn jedoch zum Anlaß
120 Oec.Div. II, S. 2 5 0 f . Zu Pordage vgl. Ein kurtzer Auszug . . . der Heiligen Englischen Welt (in: Theologia Mystica, Amsterdam 1 6 9 8 ) . 13 Krieg, Kreis
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genommen, von ihm aus noch weiter dem Wesen der Ewigkeit und ihrem „ A n b r a c h " nachzugehen. Im Detail spielt naturgemäß auch hier wieder die Johannesapokalypse eine wichtige Rolle. Ihr gemäß sieht unser Theologe als den Anfang des Überganges von der Geschichte in die Ewigkeit den letzten Versuch des Satans an, die Vollendung der Welt aufzuhalten; aber der Böse vermag nichts gegen die Macht Gottes. Vielmehr wird er n u n endgültig besiegt. Diesem letzten Angriff der widergöttlichen Mächte folgt das allgemeine Endgericht: Es wird das Buch des Lebens aufgeschlagen, und jeder erhält seinen L o h n , der Gottlose die Strafe der Hölle, der F r o m m e erhält Anteil am ewigen unwandelbaren Sein'^^. Er wird also der Erbe der angeüschen Welt. Wir sehen, spezifisch „poiretianisch" ist hier so gut wie nichts. Lediglich ein Zug ist auffällig: Das, was die Gottlosen erwartet, die Hölle, wird von unserem Theologen ganz in ontologischen Kategorien interpretiert: Hölle — das h a t nichts mit der justitia Dei vindex zu tun, sondern b e d e u t e t Seinsfeme Von diesem Einzelzug abgesehen, ist alles andere weitgehend biblisch. Bemerkenswert ist vor allem, daß unser Theologe nicht die Apokatastasenlehre vertritt, obwohl er, wie wir sehen werden, die Lehre von der Seelenreinigung nach dem Tod vertritt, also jene Lehre, welche bei Poiret gleichgestimmten Denkern wie J a n e Leade nachgerade als die Voraussetzung für die Anschauung von der Wiederbringung aller Dinge zu gelten hat'^'*. Man mag hier eine Inkonsequenz unseres Theologen sehen, vielleicht aber auch eine stärkere Bindung an die kirchliche Tradition, als sie bei manchen seiner separatistischen Zeitgenossen sichtbar wird. 3. Die Schriften
nach der Oeconomie
Divine
So ausführlich wie in seinem systematischen Hauptwerk hat Poiret sein Verständnis der Heilsgeschichte niemals mehr entfaltet. Aber auch die Einzelelemente, aus welchen sich seine heilsgeschichtliche Konzeption zusammensetzt, erscheinen n u r noch spärlich. Wo sie zu finden sind, k ö n n e n wir jedoch erkennen, wie sehr er sich in seinem S c h r i f t t u m auch in diesem Punkte treu geblieben ist, auch abseits von den Vindiciae Veritatis et Innocentiae. Werfen wir etwa einen Blick auf die Christologie des Büchleins über die christliche Kindererziehung. Im Mittelpunkt steht auch hier die Überzeu122 Vgl. insgesamt Oec.Div. II, bes. S. 309ff. IM AaO (II) S. 314. 124 Vgl. E. Seeberg, aaO S. 173, Anmerkung 1.
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gung, daß Jesus Christus das Urbild aller christlichen Existenz ist. In ihm, so zeigt Poiret erneut, wird anschaulich, wie sich der Kampf zwischen dem Innen und dem Außen des Menschen zu vollziehen hat: in der steten Abwehr der Verlockungen, welchen das Innen ausgesetzt ist, in Selbstverleugnung und in Abkehr von allen Gütern der Erde'^^. Von der satisfactio vicaria im kirchlichen Sinne ist natürlich nicht die Rede — ein Mangel, auf welchen Poiret von seinen Hamburger Gegnern energisch aufmerksam gemacht worden ist'^®, ohne daß diese in seiner Erwiderung auf ein für sie befriedigendes Echo gestoßen wären. Im übrigen erscheinen auch andere Punkte des Geschichtsverständnisses der Oeconomie Divine im Büchlein über die christliche Kindererziehung wieder, vor allem Poirets Chiliasmus (auch ihn hat unser Theologe gegen die Angriffe der Hamburger in Schutz nehmen müssen'^"'). Es bestätigt sich also, daß der Einspruch, den er in seiner Apologie der Oeconomie Divine gegen Jägers Attacken erhoben hat, mehr als eine bloße Pflichtverteidigung war. Mit diesen Ausführungen sind Poirets Bemerkungen zur Heilsgeschichte außerhalb der Oeconomie Divine und ihrer Apologie fast schon erschöpft. Nur das Buch über die dreifache Bildung bietet noch eine blasse Spur — und zwar im Blick auf die Zeit des Verfalls der Kirche, konkreter, im Blick auf die Entstehung der Schultheologie. Für Poiret ist diese Entwicklung nichts als ein zweiter Sündenfall Wo wir also auch hinschauen — es bestätigt sich auf der ganzen Linie, daß zumindest seit der Abfassung der Oeconomie Divine Poiret jenes Verständnis der Gestalt J e s u Christi, der Kirche und der Heilsgeschichte, das die offizielle Theologie besaß, endgültig geschwunden war.
Das Heil als individuelle Existenzerfahrung 1. Die Reflexion Die
des inneren Weges
Struktur
Entscheidend wird nun die Frage nach der Partizipation des Einzelnen an der in der Geschichte angebotenen Gnade. Eines ist a priori klar: Das Heil des Einzelnen liegt für Poiret nicht in der A n n a h m e der historisch fixierten Offenbarung; bekanntlich können S. 33 nach der in De Eruditione Solida Specialiora abgedruckten Ausgabe. 126 AaO S. 72. AaO S. 112f. »28 S. 528f in der Ausgabe von 1707.
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auch die „Heiden" des Heiles teilhaftig werden. Das besagt zugleich, es ist auch nicht notwendig auf die Person Jesu Christi gegründet, sosehr Poiret in ihr auch das Urbild christlicher Existenz gesehen hat; und in diesem Sinne spielt Poirets Christologie in seiner Beschreibung des inneren Weges trotz des Gedankens der Vorbildhaftigkeit Jesu eine äußerst geringe Rolle. Nein, Heilsempfang bedeutet für Poiret allein: Der Einzelne setzt sich mit seinem freien Willen zu jenem universalen göttlichen Gnadenwirken in Beziehung — negativ durch den Akt der Befreiung des wahren Ich von der ontologischen Peripherie, von „Welt" und „ V e r n u n f t " — und positiv vermittels der Ausrichtung seiner wesensmäßig trinitarischen, aber durch den Fall auf ihr ,,Begehren" zurückgeworfenen Seele auf die trinitarische Selbstentfaltung Gottes. Wohl betrifft all dies noch nicht die Cogitationes Rationales von 1677. Die Fragen des inneren Weges klingen in diesem Frühwerk zwar schon an, sind aber noch unentfaltet. Seit dem Discursus Praeliminaris steht freilich Poirets Verständnis der Partizipation des Individuums am Gnadenangebot Gottes voll ausgebildet vor uns. Der innere Weg nach dem Discursus
Praeliminaris
Haben wir im vorigen die Teilnahme des Individuums am Heil als Partizipation der Seele an Gottes trinitarischer Selbstentfaltung definiert, so ist damit die Soteriologie des Discursus Praeliminaris voll angesprochen. Der Gesichtspunkt, unter welchem diese Teilhabe am Heil entfaltet wird, ist in dieser Schrift der Gedanke des Glaubens. ,,Glaube" als Ausdruck des inneren Weges besagt mithin: Die Seele kehrt sich in ihrem Grundelement, ihrem „Begehren", ganz vom Außen ab, um sich dem göttlichen Licht, dem „Sohn", zuzuwenden und dadurch zu ihrer ,,Ruhe" zu gelangen, wie umgekehrt Gott dieses Tun mit seiner Gnade begleitet. In diesem Sinne legt Poiret sogar schon eine Definition des Glaubens vor, die nahe an diejenige der Oeconomie Divine herankommt. So spricht er von einem „actus desiderativus" des Glaubens, einem „actus illuminativus", schließlich von der „ R u h e " des Glaubens im Hl. Geist Der innere Weg nach der Oeconomie
Divine
a) Der Gedanke der cooperatio und seine Entfaltung Grundsätzlich ist die Oeconomie Divine durch das gleiche Verständnis des inneren Weges gekennzeichnet wie der Discursus Praeliminaris. Der 129 Vgl. insgesamt Discursus Praeliminaris S. 15ff und S. 34.
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Umfang der Reflexion über ihn ist freilich wesentlich größer geworden. Bleibt der Gedanke des „Glaubens" auch ein Kernstück der Beschreibung des inneren Weges, so erscheint dieses Kernstück doch mit einer Fülle weiteren Materials angereichert, vor allem vermittels einer recht weitgehenden Überncihme quietistisch-mystischen Gedankenguts. In diesem Sinne hat Poiret vor allem auch über jenes Miteinander von göttlicher Gnade und der Möglichkeit des Menschen, sich mit seinem freien Willen auf diese Gnade auszurichten, noch weiter nachgedacht. Er stellt es — im Gefolge quietistischer Mystik, etwa nach dem Vorgang Bernières-Louvignys — unter den Begriff der cooperatio'^°. Dabei trägt auch das Einzelelement, durch welches Poiret dieses Miteinander von Gott und Mensch gekennzeichnet findet, oft den Stempel quietistischen Gedankenguts (sofern dieses Gedankengut seinem Frömmigkeitstypus nicht ohnehin schon entspricht und insofern bereits in den Cogitationes Rationales von 1677 präfiguriert erscheint). So reflektiert Poiret etwa über den Beginn dieser cooperatio. Er liegt natürlich in jenem göttlichen Gnadenangebot selbst, wie es durch die Fürsprache des Christus gloriosus dem Menschen nach dem Fall wieder neu erschlossen worden ist. Dieser Gedanke ist an sich gut poiretianisch; er erhält allerdings sogleich eine eigentümlich quietistisch-mystische Färbung dadurch, daß Poiret dieses Gnadenangebot Gottes im Sinne quietistischer Psychologie als einen unmittelbaren an die Seele gerichteten Impuls versteht, gleichsam als Gnadenstrahl, der dem Menschen die erste Möglichkeit gibt, sich dem Guten zuzuwenden. Ähnlich spricht auch Mme. de G u y o n ' ^ ' . Dabei hat naturgemäß dieser göttliche Impuls — und auch dies entspricht Poirets Grundhaltung, aber selbstverständlich auch wieder seinen quietistischen Gewährsleuten — auf Seiten des Menschen die radikale Entäußerung zur Folge. Vor allem warnt Poiret auch — wie schon in den Cogitationes Rationales von 1677 — vor jeder Selbstreflexion der Seele in jener cooperatio von Gott und Mensch, denn damit käme wieder das Außen, in Gestalt der Vernunft, ins Spiel b) Der Aspekt des Glaubens Gemessen an den ontologischen Grundstrukturen des poiretianischen Systems ist indes die Definition des inneren Weges unter dem Aspekt des Glaubens die für Poiret am meisten typische. Naturgemäß ist sie im Sinne des Discursus Praeliminaris die ontologisch-trinitarische. Poirets 13Ò Oec.Div. II, S. 3 4 3 ; vgl. Bernières-Louvigny: ,,son (d.h. Gottes) principal ouvrage estant la cooperation" (zit. nach Winter, aaO S. 134). 131 Vgl. Oec.Div. II, S. 357 und S. 3 6 2 ; zu Mme. de Guyon vgl. Les Torrents, S. 160f (in: Opuscules Spirituels, Köln 1704). 132 Oec.Div. II, S. 3 6 6 f . 197
Sprache ist jedoch gewandter und differenzierter geworden. So wird Glaube nunmehr — analog zur Beschreibung der Seele in der Oeconomie Divine überhaupt — als Akt der einzelnen SeelenÄra/ie verstanden. Er kommt zustande, wenn Gott die erste Seelenkraft, also die, welche das „Begehren" trägt, stärkt (Poiret nennt sie, begrifflich unscharf, zumeist einfach „desiderium"), wenn er die zweite Kraft, die facultas intelligendi (sie heißt nunmehr capacitas intelligentiae) „erleuchtet", wenn er endlich die dritte Kraft, die facultas acquiescendi — nunmehr „capacitas acquiescentiae" — mit seiner Ruhe erfüllt Im einzelnen stellt sich dieser Prozeß wie folgt dar. Der Anfang dieser innerseelischen Bewegung ist naturgemäß durch Gottes Gnadenangebot, jenen „Gnadenstrahl", gegeben. Ihm muß sich der Mensch erschließen, sich freimachen von allem Nicht-Wesentlichen. Nun aber kann der Mensch von Stufe zu Stufe voranschreiten. Denn ist Gott — und sei es zunächst nur auf uranfängliche Weise — in der Seele gegenwärtig, dann aktiviert er ihr Verlangen, er, der „Verlangende", der „Vater", vereinigt sich mit ihrem Verlangen. Die Seele wird sozusagen in die innertrinitarische Bewegung Gottes hineingeschleudert Zu beachten ist dabei wieder das voluntaristische Element, das in alledem zum Ausdruck kommt. Auf seine böhmianische Komponente wurde bereits hingewiesen — im Blick auf die Gottesvorstellung. Hier sei zusätzlich die quietistisch-mystische Komponente vermerkt. Auch der Quietismus ist ja bekanntlich durchaus voluntaristisch orientiert, speist er sich doch aus der gleichen Quelle wie letztlich das Denken Böhmes, eben aus der Theologie des Duns Scotus. Dieser Voluntarismus ist es ja schließlich auch, der den Quietismus zum Quietismus macht, der mithin auch als der entscheidende Grund für Poirets Betonung der „Gelassenheit", der „ R u h e " zu gelten hat. Denn ist das eigentliche Movens zum Innewerden Gottes der Wille, dann bedeutet dies naturgemäß, daß dieser desto stärker zurücktritt, je näher er seinem Ziel, Gott, kommt. Von hier aus wird übrigens auch verständlich, daß der Terminus des Eigenwillens in der quietistischen Mystik, mithin auch bei Poiret und durch ihn bei seinen pietistischen Gefolgsleuten (man denke nur an Tersteegen), eine solche große Rolle spielt. Als Wille, der nicht auf Gott hin ausgerichtet ist, ist er ja Wille zum Außen, zum Nicht-Wesentlichen. Als solcher ist er aber dem Willen zu Gott radikal entgegengesetzt und somit Sünde 133 Vgl. Oec.Div. II, S. 389ff. 134 AaO (II) S. 395. 135 Vgl. insgesamt A. Ritsehl, Geschichte des Pietismus, Bd. I, Bonn 1880 (Neudruck Berlin 1966), S. 470ff.
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Von hier aus wird auch die zweite S t u f e des Glaubensweges verständlich, wie ihn die Oeconomie Divine versteht. Der Mensch, der das Verlangen der Seele vom Außen der Dinge abkehrt, erhält Gottes Antwort, hat wieder teil am Sohn. Gott erfüllt das Ich wieder mit seinem ursprünglichen Wesen, dem „ L i c h t " . Er verwandelt und verklärt es, bis das Ich wieder so licht und hell ist wie Gott selber'^®. Grundsätzlich ist mit diesem Gedanken Poirets Darstellung der zweiten Glaubensstufe bereits abgeschlossen. Und dennoch geht Poiret noch einen Schritt weiter. J e n e n Gedanken, daß das Ich durch die Erleuchtung wieder an Gott teilhat, hat er noch von anderer Seite zu vertiefen gesucht — dergestalt daß er den Glauben auf der zweiten S t u f e mit dem spezifisch quietistisch-mystischen Gedanken der fides implicita bzw. fides nuda in Verbindung bringt. Dieses Verständnis des ,,Glaubens der Erleuchtung" als eines „eingewickelten", ,,bloßen" Glaubens besagt: Das, was der Mensch, wesentlich mit Gott geworden, noch an eigenem Ich besitzt, ist — nichts. Der alles Wirkende ist nur noch Gott selbst. Der Wille hat sich — ein gut scotistischer Gedanke — in die Liebe zu Gott gewandelt und mit dieser — auch hier steht Poiret wieder im Gefolge quietistischer Mystik, man denke nur an Malaval — in die Liebe zum Nächsten Ein wesentlicher Sachverhalt bleibt in diesem Zusammenhang noch in Anschlag zu bringen: Ist dieser ,,eingewickelte",,,bloße" Glaube ein Glaube, in welchem der Mensch ganz ,,Wesen", „ I n n e n " ist, welcher mithin auch keinen Konnex zu den noetischen, „intellektuellen" Manifestationen des Menschen besitzt — wie verhält er sich dann zu Poirets System selbst? Daß dieses System mancherorts über sich hinausweist — etwa dort, w o Poiret über die Reflexion hinaus das Leben der Heiligen in den Blick rückt —, haben wir gesehen; dennoch verliert es dadurch seinen Systemcharakter nicht, bleibt es nichtsdestoweniger Ausdruck der Reflexion, mithin eines „rationalen" Aktes. Mag das, was Poiret sagt, der Sache nach auch noch so sehr ,,Innen" sein, so ist dieses Innen doch vom ,,Außen" abhängig, vom „ B u c h s t a b e n " , „Wort", es ist nicht das Innen-selbst. S o feindlich Poiret dem Außen gegenübersteht, so ist er dennoch immer dazu gezwungen, dieses Außen gleichsam mit 136 Oec.Div. II, S. 412. 137 Oec.Div. II, S. 417ff. Zur fides nuda (foi nue) des Quietismus vgl. etv»ra Mme. de Guyon, Discours Chrétiens et Spirituels, Köln 1716, Teil I, S. 139; zu Malaval vgl. Нерре, Geschichte der quietistischen Mystik, S. 67. Mme. de Guyon denkt in der Frage der Liebe innerhalb der fei nue strenger: Sie ist nur amour desinteressé, ohne irgendeine Perspektive, sei es eine zeitliche, sei es eine ewige (vgl. Discoiu-s Chrétiens et Spirituels, Teil I, S. 130).
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sich zu tragen als eine Last, die er nicht abwerfen kann, weil er sonst das Innen nicht vermitteln könnte. Das heißt, letztlich müßte auch sein eigenes System dem Innen zum Opfer fallen. Und in der Tat gibt es gerade im Zusammenhang mit den Ausführungen zur fides implicita Aussagen Poirets, die zeigen, daß er es vermag, angesichts des reinen Innen sein System selbst in Frage zu stellen und bedeutungslos werden zu lassen vor dem Wesentlichen. Man mache sich einmal klar, wie ein Gutteil von Poirets eigener Denkarbeit im folgenden Satz relativiert wird, weil es vom reinen Innen her gesehen wird: „Atque in eo statu (sc. fidei nudae), qua quaeso ratione mihi. Verbi gratia, aut alii ideae meae atque opiniones, utut erroneae, si quas teuerem obesse possent? Si, verbi gratia, statuerem . . . Deum corporalibus per essentiam suam praesentem non esse; et tarnen vel ahter haberet"'^®? So weit also kann die Entäußerung gehen! Selbst das Wort, welches sie gedanklich zu begründen sucht, wird im Angesicht der mystischen Erfahrung verbraucht. Das System-selbst wird, mag Poiret es sonst auch allerorten verteidigt haben, in den Strudel des mystischen Dranges zum Wesen hineingerissen. Dem dritten trinitarischen Element seines Glaubensbegriffes, der fides acquiescentiae, hat Poiret nicht so viel Aufmerksamkeit gewidmet. Verwunderlich ist dieser Tatbestand allerdings nicht; denn das Entscheidende ist ja schon in der Erleuchtung geschehen. Sofern Glaube „Beruhigung" bedeutet, dann in jenem scotistisch-voluntaristischen Sinne, daß das Ich nun auf seinem Weg zum Wesen an sein Ziel gekommen ist. Die Seele ist wieder in ihrer Heimat. Das bedeutet freilich in der Tat „Ruhe" — jene Ruhe, die der Hl. Geist selbst ist; und damit tauchen auch die anderen Begriffe auf, mit denen Poiret das Wesen des Geistes umschrieben hat: Freude, Liebe, Erquickung c) Die anderen Aspekte des inneren Weges Sachlich ist alledem nichts Wesentliches hinzuzufügen. Interessant ist lediglich, daß Poiret den inneren Weg in der Oeconomie Divine im Vergleich mit den Aussagen des Discursus Praeliminaris über seine Reflexionen über die cooperatio, die Funktion der Seelenkräfte und die fides implicita hinaus noch mit anderen Überlegungen angereichert hat. Hierher gehören seine Aussagen über die Seelenreinigung: Will die Seele zu ihrem Grund zurückkehren, bedeutet das auch immer Klärung der Dunkelheiten des Falles. Dabei tritt das quietistische Miteinander von 138 AaO (II) S. 4 2 6 . 139 AaO (II) S. 4 3 2 .
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Gott und Mensch auch wieder hervor: Am Anfang steht die Entäußerung des Menschen, die purificatio activa; in der anschließenden purificatio passiva nimmt Gott die bereits ansatzweise reine Seele, um sie völlig zu reinigen. All dies findet sich auch bei Poirets quietistischen Gewährsleuten wieder Übrigens findet sich auch die Lehre von einer Seelenreinigung nach dem Tod bei Poiret — ein Gedanke, den er sowohl von A. Bourignon als auch der gemeinkatholischen Theologie übernommen haben dürfte, ohne allerdings einen naturalistischen Fegefeuerglauben zu vertreten. Diese Reinigung ist gleichsam die letzte Chance für eine im Leben bereits ansatzweise gereinigte Seele, zu ihrem wahren Wesen zu gelangen*'": Ein weiterer Aspekt des inneren Weges ist hier zu nennen: der Aspekt der Rechtfertigung: Natürlich, reformatorische Rechtfertigungslehre wird man nach allem bisher Gesagten bei Poiret vergeblich suchen. Diese bezeichnet ja ein streng forensisches Geschehen, nämlich die Übereignung der Gerechtigkeit Christi an den einzelnen Menschen — eine Überzeugung, die Poiret angesichts seiner Abneigung gegen alles forensische Verständnis des göttlichen Tuns nicht nachvollziehen kann. Nein, Rechtfertigung ist für Poiret kein deklaratorischer, sondern ein rein konstatierender Akt Gottes: Gott sagt J a zum Menschen, wenn dieser den inneren Weg abgeschritten ist''*^. Dabei ist ein solches J a Gottes gemäß der Struktur des inneren Weges (vgl. Poirets Lehre von der Seelenreinigung nach dem Tod) sowohl diesseits wie jenseits der Todesgrenze möglich*''^. Fragt man nach dem Sinn einer solchen göttlichen Konstatierung, dann ist er letztlich für Poiret rein psychologischer Natur: Wenn Gott rechtfertigt, so besagt dies, daß der Mensch nun gewiß sein kann, daß das göttliche Licht wieder in ihm gegenwärtig ist. Er hat nunmehr Frieden mit G o t t " " . Zweifellos ist dieser Gedanke nicht völlig unkirchlich. Auch die Kirche weiß davon, daß die Rechtfertigung des Menschen durch Gott eine reale 1"® Oec.Div. II, S. 436ff; vgl. auch Juan de la Cruz, Aufstieg zum Berge Karmel (S. 269£f der deutschen Ausgabe, München 1927) und seine Dunkle Nacht (S. 8ff der deutschen Ausgabe, München 1924). Vgl. Oec.Div. II, S. 459ff (dort zahlreiche Begründungen); zu den entsprechenden Anschauungen der A. Bourignon vgl. Das Leben der Jungfrau Antoinette Bourignon, S. 411. Oec.Div. II, S. 513. 1« AaO (II) S. 511. '-M AaO (II) S. 541.
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Empfindung in der Seele hinterläßt, und sie hat diese Überzeugung in der Lehre von der justificatio passiva in eine dogmatische Form gegoss e n A b e r dieser Punkt ist bei Poiret eben zum einzigen Stigma der Rechtfertigung geworden, mithin ist auch hier eine erhebliche Verkürzung des kirchlichen Dogmas geschehen. Über diese antidogmatische Position führt so gut wie keine Aussage Poirets hinaus. Erwähnt sei lediglich, daß unser Theologe zumindest an einer Stelle versucht, unter dem Begriff der Rechtfertigung mehr als eine Konstatierung eines bereits vorhandenen Tatbestandes zu verstehen, dergestalt daß auch er von einer Vermittlung der göttlichen Gerechtigkeit spricht. Natürlich, um eine imputatio justitiae (eben der Gerechtigkeit Christi) handelt es sich auch hier nicht. Vielmehr erscheint der Begriff der Gerechtigkeitsvermittlung letztlich als Wechselbegriff zu dem Terminus der purificatio passiva (wie Poiret selbst indirekt zugibt): Sofern Gott dem Menschen seine Gerechtigkeit vermittelt, dann im Sinn der Durchdringung der Seele mit dem göttlichen Licht; und von hier aus kann Poiret auch von einer justitia infusa s p r e c h e n D i e s e r Punkt in Poirets Rechtfertigungslehre ist übrigens auch insofern interessant, als er wieder unmittelbar auf die spätscholastische Theologie verweist. Auch sie sieht ja die Vermittlung der göttlichen Gnade als das Endstadium des inneren Weges an, indem sie die Verleihung dieser Gerechtigkeit an den Menschen dort ansetzt, wo dieser sich gleichsam zum höchsten Akt der Liebe emporgeschwungen hat'·*'. Und beiden, Poiret wie seinen geistesgeschichtlichen Vorgängern, ist auch das „physische" Element in diesem Rechtfertigungsverständnis gemeinsam, nur daß es bei Poiret anders als bei den Theologen der Spätscholastik nicht im sakramentalistischen Sinne vorhanden ist, sondern im Sinne eines physisch-substantialistischen Wirkens Gottes unmittelbar in der Seele'"®. Poiret kennt neben dieser Form der Rechtfertigungslehre noch andere Formen. Sachliches Gewicht für ein Verständnis seiner Theologie besitzen sie jedoch nicht. Auch Poiret selbst hat sie von seiner „eigentlichen" Rechtfertigungslehre, wie sie im vorigen dargestellt wurde, abgegrenzt und als „uneigentliche" Formen verstanden. Wir können sie deshalb übergehen. 1« Vgl. Heppe-Bizer, aaO S. 442ff. Oec.Div. II, S. 522. 147 Vgl. Feckes, aaO S. 37ff. '48 Vgl. R. Seeberg, Dogmengeschichte, Bd. III, 6. Autlage Darmstadt 1959, S. 766
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d) Das Ziel des inneren Weges Hat der Mensch in seiner Seele das Bild des trinitarischen Gottes wiedergewonnen, dann ist er am Ziel. Poiret nennt diesen Stand mit der kirchlichen Tradition die „Wiedergeburt" Manches in Poirets detailliertem Verständnis dieses Topos liegt auf der Hand: Ist der innere Weg ein Weg der Abkehr vom Außen, dann ist der Wiedergeborene dem Außen abgestorben und lebt nur noch für Gott. Poiret geht in der Beurteilung dieses Zustandes sehr weit: Der Status der Wiedergeburt vermag für ihn sogar Sündlosigkeit zu bedeuten: „Sancti actu non peccant, possuntque (cum Dei gratia) non peccare" Das aber besagt, daß Poiret perfektionistisch denkt. Und dieser Perfektionismus schimmert in Poirets Verständnis der Wiedergeburt, wie wir es in der Oeconomie Divine finden, allerorten durch. Besonders augenfällig wird er dort, wo Poiret von der Erfüllung des Gesetzes spricht. Er lehrt: Sofern der Mensch wahrhaft wiedergeboren ist, vermag er das Gesetz Gottes — zumindest im Rahmen seiner Geschöpflichkeit — durchaus zu erfüllen, ja, er erfüllt es tatsächlich: „qui in (sc. hoc statu) versatur . . . mandata Dei implere potest, et reipsa imWie freilich manifestiert sich dieser Stand der Heiligkeit? Poiret erwidert: Das Leben des Wiedergeborenen ist eine permanente Transzendierung der „Welt". Gewiß, der Wiedergeborene lebt noch „diesseitig", aber diese Diesseitigkeit besagt ihm nichts mehr. Er nimmt zwar an den Weltdingen noch Anteil, aber sie sind — ganz im Sinne poiretianischer Ontologie — gänzlich peripher. Sobald es dem Wiedergeborenen möglich ist, entzieht er sich der Welt und widmet sich der Schau des göttlichen Wesens, dem I n n e n * " . Poiret ist sich dabei des perfektionistischen Stigmas seiner Wiedergeburtslehre durchaus bewußt; aber er nimmt dieses Stigma durchaus auf sich, ja, er legt sogar Wert darauf, als Perfektionist angesehen zu werden: denn hat nicht Jesus selbst geboten, so vollkommen zu sein wie der himmlische Vater Mancherlei ist hier bedeutsam.
149 Oec.Div. II, S. 5 3 9 f f . 150 151 152 153
AaO AaO AaO AaO
(II) (II) (II) (II)
S. S. S. S.
560. 566. 569. 581.
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Zunächst, die Dialektik der religiösen Erfahrung ist hier aufgegeben zugunsten eines undialektischen, statischen, präsentisch-eschatologischen Ziels; sie hat sich aufgelöst in die — durch Gott vermittelte — menschliche Identität mit sich selbst, der Existenz mit der Essenz des Ich. Der mystische Kreis ist, nachdem er abgeschritten ist, zum Stillstand gekommen, hic et nunc im empirischen Da. Das bedeutet zwar nicht, daß Poiret nicht diesen Perfektionismus auch zu relativieren vermag, d.h. die Dialektik der religiösen Erfahrung wieder in sein Verständnis des inneren Weges einbringen kann, wie seine Stellung zur reformierten Perseveranzlehre beweisen wird, zeigt aber andererseits wiederum eine erhebliche Ferne von der überlieferten Theologie der Kirche an; diese sieht ja den Menschen grundsätzlich und immer in einer dialektischen Existenz, im Widerspiel von „Sünde" und „Gnade". Gewiß, diese Dialektik ist auch im kirchlichen Sinne nicht ohne ein undialektisch eschatologisches Moment. Sie wird j a von Seiten Gottes gleichsam aufgefangen, vermittels seiner im streng-forensischen Prae des opus meritorium Christi sichtbar gewordenen ewigen Gnade, auf welche der Mensch trotz seiner Sünde immer wieder trauen kann und die ihn trägt. J a , bisweilen ist die Kirche sogar zu weit gegangen in ihrer Betonung dieses forensischen Prae, wie etwa die Deutung des oben von Poiret zitierten Jesuswortes durch die lutherische Orthodoxie zeigt, welche jenes Wort allein als Wegweiser zur oboedientia activa Christi interpretierte, die dem Menschen als seine Gerechtigkeit angerechnet wird, ja, den fordernden Charakter des Wortes ausdrücklich v e r n e i n t e U n d damit hat auch die Kirche die Dialektik christlicher Existenz letztlich aufgelöst, denn hier steht der Mensch nicht mehr in jener Spannung von göttlicher Gnade und seiner eigenen Sünde, wie sie etwa für Luther besteht, sondern diese Gnade wird gleichsam zu einem innergöttlichen Drama, in welchem der Mensch nicht mehr gefordert ist. Im Prinzip jedoch ist die Kirche bei diesem Widerspiel in der christlichen Existenz geblieben: Wie einerseits jene Tendenz der lutherischen Orthodoxie, alle Fähigkeit menschlichen Wesens, die göttliche Forderung zu erfüllen, in die oboedientia activa Christi hinein zu verlagern, letztlich Episode geblieben ist, so hat sie jene Fähigkeit andererseits erst recht nicht ganz in den Menschen hinein verlagert, wie Pbiret es tut. Gerade die Antwort Jägers auf Poirets Deutung christlicher Existenz zeigt dies sehr anschaulich Zweierlei Punkte sind in diesem Zusammenhang indes noch wichtig; zum einen: 154 Vgl. G. Bomkamm, Jesus von Nazaret, Stuttgart 1956, S. 203f. 155 Vgl. den nächsten Abschnitt.
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Dieser Perfektionismus Poirets trägt eindeutig moralistische Züge. Behauptet Poiret, der Mensch vermag im Stand der Wiedergeburt das Gesetz Gottes zu erfüllen, dann besagt das ja sachlich: Der Mensch ist aufgrund seines ihm ontologisch zugehörigen — wenngleich auch nur vermittels der göttlichen Gnade in der Existenz Wirklichkeit w^erdenden — Wesens fähig zu schlechterdings guten sittlichen Akten. Damit liegt hier aber bei Poiret letztlich wieder ein aufklärerisches Element in seiner Theologie vor. Zum anderen: Von hier aus wird auch Poirets negatives Urteil über die Kirche noch einmal auf höchst signifikante Weise beleuchtet. Er kann sie deshalb auch so negativ betrachten, weil er für die christliche Existenz die Forderung erhebt, das Innen sozusagen reinlich vom Außen zu scheiden, das „Wesen" von der Peripherie. Gerade das aber tut die Kirche eben nicht. So wie der Mensch immer Sünder und „Heiliger" zugleich ist, so nimmt auch die Kirche als ganze dieses Zugleich der Existenz auf sich, mit ihrer „Heiligkeit" zugleich ihre „Sünde". Poiret dagegen nimmt allein den „Heiligen" zum Maßstab, vor diesem freilich kann die ecclesia visibilis nicht bestehen''^. Immerhin, gänzlich perfektionistisch denkt Poiret auch am Ende seiner Beschreibung des inneren Weges nicht; das können wir an seiner Stellung zur kirchlich-reformierten Perseveranzlehre erkennen. Bekanntlich wird in dieser die Überzeugung vertreten, daß der Wiedergeborene als der zugleich Erwählte in der Wiedergeburt zu beharren vermöge. Gott hat ihn mit dem donum perseverantiae ausgestattet; sündigt er, dann nur noch aus Schwachheit und nicht ohne erneute Bekehrung"''. Poiret denkt hier anders. Zwar ist auch er der Ansicht, daß der Stand der Wiedergeburt bis zum Tode des Menschen dauern kann, aber der Wiedergeborene vermag ihn auch gänzlich wieder zu verlieren'^®. Damit bricht sich aber die Überzeugung Bahn, daß sich die undialektisch-eschatologisch verstandene Existenz des Wiedergeborenen in den mystischen Kreis zurückverwandeln kann: Der Mensch fällt aus seinem Wesen wieder heraus und ist erneut dazu aufgerufen, zu diesem seinem Wesen zurückzukehren. Natürlich hat dieser erneute Durchbruch der Dialektik in Poirets Verständnis des inneren Weges nichts mit dem kirchlich-dialektischen Ver•56 Hier dürfte auch ein weiterer Grund für Poirets Separation von der Kirche Hegen. 15'' Vgl. etwa das Bremische Bekenntnis, zit. bei Heppe—Bizer, aaO 4 6 3 f . 158 Oec.Div. II, S. 5 8 2 f f .
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ständnis christlicher Existenz zu tun. Jenes Zugleich von Sünde und — von Gott dem Menschen propter Christum zugesprochener — Gerechtigkeit, wie es die Kirche lehrt, liegt Poiret j a bereits von seiner Abneigung gegen das kirchliche Reden von Gottes forensischem Gnadenhandeln her durchaus fern. Im Gegenteil, es ist gerade diese Ablehnung des kirchlichen Redens von Gottes forensischem Tun, die ihn auch den Wiedergeborenen als einen zum Abfall aus seinem eigentlichen Wesen hin gefährdeten ansehen läßt: Der Mensch ist und bleibt für ihn j a frei-, er ist mithin niemals aus der Verantwortung für sich selbst entlassen, auch nicht im Stand der Wiedergeburt — geschweige denn für sein ewiges Heil erwählt und im Blick auf die Gefährdung seiner Wiedergeburt durch die Sünde mit einem donum perseverantiae ausgestattet. Deshalb kann er die Hilfe Gottes zu seiner Rückkehr in seinen ursprünglichen Zustand jederzeit annehmen, er kann ihr aber auch jederzeit wieder entraten, selbst wenn er sein anerschaffenes Wesen wiedererlangt hat'®®. Mehr noch, glaubt er an jene Erwählung und damit an eine seiner Existenz von Gott eingestiftete Perseveranz im Guten, dann verführt ihn dieser Glaube zu einer falschen Sicherheit im Bezug auf sein Heil, führt ihn in geistliche Bequemlichkeit und macht ihn damit für die Verlockungen der „Welt" wieder umso empfänglicher'®®. e) Poirets Verständnis des inneren Weges und die kirchliche Tradition Deutete sich schon allerorts im vorigen an, daß innerhalb Poirets Äußerungen zur christlichen Existenz kein Topos mehr im Sinne der reformatorischen Tradition bestimmt ist, dann versteht sich fast von selbst, daß die Kirche wiederum heftig reagiert hat. Vor allem auch Jäger hat wiederum seine Stimme erhoben. So hat er zunächst das Grundelement in Poirets Verständnis des inneren Weges, den Gedanken der cooperatio zwischen Gott und Mensch, ausführlich analysiert. Bereits Poirets Ansatz, seine Lehre von jener vermittlungslosen Berührung der Seele durch den Strahl der göttlichen Gnade, läßt ihn protestieren. Nein, allein die Hl. Schrift kann als Ansatz allen inneren Weges g e l t e n A b e r (und damit tritt einerseits das streng forensische Element, das alles kirchliche Reden über die christliche Existenz enthält, in den Vordergrund, aber andererseits auch das Moment der Dialektik) nicht nur ist es fcJsch, den Anfang christlicher Existenz in einem unmittelbaren Impuls Gottes zu sehen, es ist genauso falsch zu »59 AaO (II) S. 597. 160 AaO (II) S. 586. 161 Examen, S. 516.
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glauben, daß der Mensch auf einen solchen Impuls antworten könne, so daß jene cooperatio anfinge. Nein, der Mensch kann überhaupt nicht von sich aus antworten; er ist von Natur aus „ t o t " ' " . Auch die Antwort, die das Ich Gott gibt, ist — streng forensisch — Gottes Werk, sein im Wort der Schrift wirksamer Heiliger Geist. Und mehr noch, selbst diese Wirksamkeit des Hl. Geistes führt den Menschen zu keiner Vollkommenheit, wie Poiret sie bereits im empirischen Da menschlicher Existenz für möglich hält (und damit entfaltet Jäger das kirch/гс/г-theologische Verständnis christlicher Existenzdialektik), sondern stößt auf den Widerspruch des Menschen. Christliche Existenz, so zeigt der Tübinger mit Paulus, entfaltet sich stets als Kampf zwischen „Fleisch" und „Geist"; und dieser Kampf kommt zu seinem Ende erst mit dem Tode des Menschen Aber natürlich hat Jäger auch die anderen Elemente in Poirets Verständnis christlicher Existenz kritisiert. So vermißt er in Poirets Glaubensverständnis den Bezug auf die Schrift und den christologischen Bezug, vor allem einen Hinweis auf das Verdienst Jesu C h r i s t i ' ^ . Nicht verwunderlich ist auch seine Polemik gegen Poirets Lehre von der Seelenreinigung nach dem Tod. Hier bemüht er sich wieder, Poiret von der Bibel her zu widerlegen: Diese redet nur von Gläubigen und von Ungläubigen. Eine dritte Gruppe von Menschen, eben diejenigen, welche im Tod noch nicht ganz zum Glauben gekommen sind und mithin noch eine Reinigung zu erwarten haben, gibt es nicht'®'. Auch Jägers Polemik gegen Poirets Rechtfertigungslehre gehört hierher. Gerecht, so begründet der Tübinger von Paulus her, vermag kein Mensch dadurch zu werden, daß er sich in einen permanenten Reinigungsprozeß hineinstellt, sondern nur durch das Verdienst Jesu Christi, welches Gott dem Menschen als sein, des Menschen, Verdienst anrechnet'®®. Aber mehr noch (und hier wird das kirchlich theologische Verständnis christlicher Existenzdialektik wieder besonders deutlich), diese Gerechtigkeit des Menschen ist keine sozusagen real-empirische. Der Mensch, zu dem Gott propter Christum sein J a sagt, ist kein vollkommener Mensch, sondern ist und bleibt auch Sünder. Er hat, obschon „in Christus", dennoch die Überwindung des Falles immer noch vor sich
ιβ2 AaO S. 519. 163 AaO S. 519f und bes. S. 525. AaO S. 528f. »65 AaO S. 576ff. »6« AaO S. 536f. 167 AaO S. 538. 207
Blicken wir auf die Vindiciae Veritatis et Innocentiae, so können wir sehr bald erkennen, daß Poiret sich auch in der Beschreibung des inneren Weges, wie er sie in der Oeconomie Divine gegeben hat, zeitlebens treu geblieben ist. Daß Gott und Mensch bei der Erlösung zusammenwirken müssen, das ist ihm auch noch kurz vor seinem Tod eine unumstößliche Tatsache. Und in diesem Sinne erneuert er auch das Detail seines Verständnisses vom inneren Weg, seine Rechtfertigungslehre (mit heftiger Abgrenzung von derjenigen der protestantischen Theologie) seine Lehre von der S e e l e n r e i n i g u n g u n d sein Verständnis der Wiedergeburt mit allen perfektionistischen Konsequenzen'™. Erschöpft sind Poirets Aussagen über das Wesen des inneren Weges mit alledem bei weitem noch nicht. Vielmehr findet sich gerade auch außerhalb und besonders jenseits der Oeconomie Divine und der Cogitationes Rationales von 1685 manches für diesen Fragenkreis Bedeutsame. Indes besteht ein bemerkenswerter Unterschied zwischen Poirets Gedankengängen, wie er sie in jenen beiden Schriften zur Sprache bringt, und seinen sonstigen Äußerungen zum inneren Weg. Jene stellen den inneren Weg vornehmlich in der Weise der Reflexion dar; sie leiten ihn streng von den ontologischen Grundstrukturen des poiretianischen Denkens her, grenzen ihn von anderen Verstehensweisen christlicher Existenz ab (besonders von seiner Deutung durch die Kirche) und sind damit letztlich Ausdruck einer mystischen Dogmatik. Diese dagegen zeigen Poiret als einen Mann der mystischen Praxis. Spricht Poiret vom inneren Weg außerhalb der Cogitationes Rationales von 1685 und der Oeconomie Divine, dann in erster Linie als Pädagoge, als Lehrer mystischer Erfahrungsgehalte, vor allem auch als Editor, also als jemand, welcher über sich hinaus auch zu anderen verweisen will, welche mystische Erfahrungen kennen und zu vermitteln suchen. Ist diese Akzentverschiebung erstaunlich? Keineswegs; es wurde ja schon verschiedentlich deutlich, wie relativ für Poiret alle Reflexion ist angesichts der mystischen Erfahrung selbst, angesichts des trans-sprachlichen mystischen Aktes. Wir erinnern nur an Stellen der Oeconomie Divine, an welchen Poiret über die theologische Spekulation hinausweist zum Leben der Heiligen, an seine Aussagen über die Vorbildhaftigkeit Jesu für die menschliche Existenz, seine Wegweisung
Vindiciae, S. 438: „Fateor me ejusmodi doctrinam Euangelicam, quae per Dei misericordiam, cor meum nunquam tranquillare potuii omnino horrere". 169 Ygi. etwa seine ausführlichen Begründungen seiner Anschauungen von der Seelenreinigung vermittels der katholisch-kirchlichen Tradition (Vindiciae, S. 628ff). 1"» Vindiciae, S. 474ff.
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zum mystischen Tun, oder an seine Ausführungen zur fides implicita, in welchen vor der Wirklichkeit der mystischen Erfahrung seiq System ins Wanken gerät; und schon sein Gottesbeweis war trotz seines im Ansatz cartesianischen Charakters ein Bewçis mystischer Praxis. Das bedeutet natürlich nicht, daß Poiret in seinen pädagogischen Schriften und in seinen Editionen bloßer Methodologe, ist. Ganz abgesehen von seinem ohnehin zeitlebens vorhandenen spekulativen Interesse (тгш denke nur an die Schrift gegen Pungeler) enthalten auch seine pädagogischen Arbeiten spekulative Gedankengänge; und man muß sagen, notwendigerweise, denn ohne grundlegende Reflexion über das Wesen von Selbst und Welt bliebe ja seine Anleitung zum inneren Weg unverständlich. Und auch unter seinen Editionen findet sich manches Mystisch-Spekulative: Hierher gehören etwa die Werke der A. Bourignon (bezeichnenderweise fällt diese Edition in die Zeit der Abfassung der Oeconomie Divine) und die Schrift gegen Locke. Nur scheint, daß Poiret sich immer stärker der existentiellen Konsequenzen seiner mystischen Spekulationen bewußt geworden ist, der Notwendigkeit, die Reflexion hintanzusetzen und hthcnsvollzüge zu vermitteln, je weiter er im Verstehen des inneren Weges voranschritt. Und ziehen wir in Betracht, daß sich Poiret nach Abfassung der Oeconomie Divine immer stärker der romanischen Mystik zuwendet, diese aber in größerem Maße an mystischer Methodik interessiert ist als die germanische'"", die er bislang vornehmlich ediert hat (Thomas von Kempen, Theologia Deutsch, A. Bourignon), dann kommt man nicht umhin, gerade auch jene Amsterdamer Jahre als eine Zeit anzusehen, in der Poirets Verständnis von mystischer Existenz eine erhebliche Vertiefung erfahren hat. Der innere Weg und die Essentifikation
der
Vernunft
Es ist indes, bevor wir die mystische Praxis Poirets betrachten, zuvor eine andere Frage zu klären: Welchen Ort hat die Vernunft auf dem Weg der Seele zu ihrem Wesen? Denn ist sie, ontologisch gesehen, auch eine periphere Größe, so gehört sie dennoch in das Leben der Seele hinein. Sie hat im Urständ des Menschen ihren festumrissenen Ort, ist aber auch in den Fall hineingeraten. Wie ist ihr Wert zu beurteilen, wenn der Mensch am Ziel des inneren Weges steht? Eine vorläufige Antwort haben schon die Cogitationes Rationales von 1685 gegeben: Der Mensch, der erneut Gottes inne ist, ist durchaus fähig, seine Vernunft recht zu gebrauchen, ganz analog dazu, wie Gott
171 Vgl. Ritsehl, aaO S. 4 6 8 . 14 Krieg, Kreis
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erst in seiner innertrinitarischen Bewegung vollendet ist, bevor er sich den Ideen und der Schöpfung zuwendet. Ausführliches hören wir aber noch nicht, auch nicht in der Oeconomie Divine. An ontologisch Peripherem ist Poiret auf Dauer nicht interessiert. Immerhin, an einer Stelle seines Schaffens ist Poiret der Frage noch weiter nachgegangen, nämlich am Anfang seines Buches über die dreifache Bildung, im Traktat über die Wahrheitsfindung, und hier in einer Ausführlichkeit, die zeigt, daß er der theoretischen Spekulation trotz seines immer stärker werdenden praktisch-mystischen Interesses in der Tat nicht ganz entraten kann. Insofern verdient nun auch das Detail Beachtung. Gewiß ist von vornherein anzumerken, daß unser Theologe im Traktat über die Wahrheitsfindung die Frage nach der Vernunft ,sub specie essentificationis' weder in der trinitätstheologischen Begrifflichkeit der Cogitationes Rationales von 1685 angeht noch in der Sprache der Oeconomie Divine. Dieses „Essay" ist ja als Einführung in das Buch über die dreifache Bildung philosophischer Natur. Das Verständnis der Grundvoraussetzungen, von welchen Poiret hier ausgeht, macht indes keine Schwierigkeiten. Denn eine grundlegend andere Sprache als in seinen anderen, „theologischer" orientierten Schriften spricht er natürlich nicht. Zunächst, sofern Erkenntnis der „Welt", des „ A u ß e n " möglich ist, dann allein von der Seele aus, dem „Sitz" der cogitatio — und diese ist dreiteilig: Ihr entscheidender Teil ist der intellectus passivus, d.h. der Teil, welchen Poiret sonst trinitarisch definiert bzw. als den „Seelengrund" versteht; ihm untergeordnet sind die „unteren Seelenkräfte", d.h. einerseits die facultates sensuum corporeoram, andererseits die Vernunft — Poiret nennt sie hier den intellectus activus. Dieser Einteilung der Seele entspricht auf der anderen Seite: das göttliche Licht (in der Sprache der Oeconomie Divine: der „Sohn"), das lumen naturale externum, d.h. die Dingwelt, schließlich die „metaphysischen Wahrheiten", d.h. eben das, was zu behandeln das Geschäft der ratio ist'''^. Der Wahrheitsbegriff, der alledem zugrundeliegt, ist naturgemäß der scholastische von der adaequatio intellectus et rei. Aber ist das Problem der erkenntnismäßigen Beziehung zwischen der Seele und dem, was die Seele nicht ist — Gott und seinem Licht, der Welt, den Ideen — auch formal-ontologisch mit diesen Distinktionen gelöst, so bleibt die Frage bestehen, inwieweit diese adaequatio intellectus et rei in der Wirklichkeit besteht, vor allem wie sich der intelle172 S. 16f der Ausgabe von 1707.
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ctus activus, d.h. die Vernunft, und die „metaphysischen Wahrheiten", d.h. der mundus inteUigibilis, zueinander verhalten. Besteht zwischen beiden wirkUch eine ungebrochene Beziehung? Nein, irri Gegenteil, die Erfahrung lehrt, daß die Vernunft verdunkelt ist: Der Mensch glaubt zwar, die Welt in ihren Zusammenhängen erkennen zu können, trügt sich aber oft g e n u g W a r u m ? Eine ausführliche Antwort gibt der Traktat über die Wahrheitsfindung nicht, aber zumindest gelegentlich deutet sich an, daß Poiret auch hier die Sünde als die Ursache der menschlichen Unfähigkeit, dem mundus inteUigibilis angemessen zu begegnen, angesehen hat'''*. Daß in Gedankengängen dieser Art Kritik am cartesianischen Evidenzprinzip vorliegt, ist schon von anderen beobachtet worden und braucht deshalb hier nicht mehr besonders betont zu w e r d e n E n t s c h e i d e n d ist vielmehr die Frage, wie unser Theologe diese von ihm erkannte Defizienz der Vernunft zu überwinden gesucht hat. Letztlich, so können wir erkennen, hat er sich ihre Überwindung auf die gleiche Weise vorgestellt wie in den Cogitationes Rationales von 1685: Die Vernunft hat dann die Fähigkeit, als Erkenntnisorgan für den mundus inteUigibilis in der angemessenen Weise zu fungieren, wenn G o t t und sein Licht wieder in der Seele — konkreter: im intellectus passivus — anwesend sind. Vermittels dieses Lichtes vermag sich der Mensch in den Zusammenhängen der Welt zu orientieren; das Seiende wird transparent auf sein göttlichen Grund''®. All dies besagt aber zugleich, daß der Mensch von sich aus letztlich gar nichts unternehmen kann, um die Zusammenhänge der Welt zu erkennen; denn er ist j a gänzlich von Gott und seinem Licht abhängig. Mehr noch, er hat eigener Versuche, die Vernunft von ihrer Defizienz zu befreien, ausdrücklich zu entraten, denn damit hinderte er den intellectus passivus an seiner Erfüllung Es ist kaum zu verwundem, daß mit solchen Gedanken Poiret wieder Gegnerschaft auf den Plan getreten ist. Freilich sind es diesmal andere Gegner als diejenigen, welchen sich unser Theologe nach der Abfassung seines systematischen Hauptwerkes gegenübersah. Es sind diesmal nicht Theologen, sondern theologisch interessierte Laien; denn die Frage nach AaO S. 25. i-w AaO S. 26. l''5 Als erster Jüngst, aaO S. 46. „nemo res naturales ventate novit reali, nisi is cui Auetor naturae per vividas atque lucidas affectiones detexit causas eanim rerum exemplares, quae in ipso s u n t " (aaO S. 20). i''7 AaO S. 57.
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dem rechten Gebrauch der Vernunft ist ja in der Tat mehr als ein rein theologisches Problem, sondern führt unmittelbar in philosophische Bereiche - und zwar gerade in solche, die Poirets philosophischen Zeitgenossen unmittelbar am Herzen lagen. Die Gegner Poirets sind in diesem Falle Thomasius und sein Schüler, der Jurist Titius. Wir sahen: Beide sind Denker der Aufklärung. Aus diesem Grunde verbindet sie eine gemeinsame Frontstellung gegen Poiret, konkreter, gegen seinen Versuch, Erkenntnis als einen irrationalen, ja antirationalen Akt verstehen zu wollen, als einen Akt der göttlichen Erleuchtung. Beginnen wir mit der Attacke des Titius. Bereits Poirets Einteilung der Seele in einen intellectus activus und einen intellectus passivus ist ihm durchaus verdächtig. Er hält sie schlechterdings für schwärmerisch Entscheidender freilich für Titius sind die Folgerungen, die Poiret aus dieser Einteilung der Seele entstehen — eben die, daß alle menschliche Erkenntnis und Bildung (und damit wendet sich Titius naturgemäß auch gegen das Buch von der dreifachen Bildurtg selbst) nicht unmittelbar aus der Vernunft erwachsen, sondern dem intellectus passivus und dessen substantieller Füllung mit dem göttlichen Licht. Hier hört Titius das Herz des poiretianischen Schwärmertums schlagen: „Cor . . . enthusiasmi Poiretiani consistit in infusa rerum divinarum et humanarum eruditione"'^^ In gewisser Hinsicht steht cdso Titius in einer Reihe mit den bisher genannten Gegnern Poirets, mit Jäger und Lange — insofern nämlich, als auch er von einem „physischen" Verständnis der Beziehung zwischen Gott und Mensch nichts wissen will. Hier erweist also auch er seine Zugehörigkeit zum Denken der Reformation. Dennoch geht es Titius im Vergleich mit Poirets Gegnern aus dem Lager der Theologen um etwas anderes: nicht um eine Befragung des poiretianischen Ansatzes in Richtung auf die ,geistlichen Dinge', sondern um eine Gegenposition zu ihm im Horizont dessen, was die Aufklärung bewegte — nämlich des Glaubens an die Vernunft als eines integralen Bestandteils des Menschen gegenüber aller ihrer Abwertung durch die Mystik. Von hier .aus wird verständlich, daß er eine radikale Gegenposition entwirft. Zunächst, die Vernunft ist für ihn keine untergeordnete Seelenkraft, sondern ordnet sich ein als Bestandteil der einen unteilbaren Seele'®". Und es ist auch allein diese eine unteilbare Seele, durch welche Wahr1"« AaO S. 497. 179 AaO S. 504. Í80 AaO S. 497. 212
heitserkenntnis zu geschehen vennag. Dabei gründet sich diese Erkenntnis auch nicht auf ein substantiell-physisches Wirken Gottes im Inneren, sondern allein auf eine Wendung des Ich zu Gott mit der Bitte um Hilfe. Dieser Bitte wird sich Gott aber nicht versagen, sondern er wird den menschlichen Geist leiten, damit er zur Wahrheit gelange'®'. Diese Wendung des Menschen zu Gott, damit er ihn zur Wahrheit führe, bedeutet aber allein Aktivität. Gott will keine untätigen, sondern lebendige Menschen'®^. Der Mensch bleibt zwar immer auf Gott und seine Offenbarung angewiesen, weiß aber auch um die Bedeutung der Vernunft. Poirets Überzeugung von einer übernatürlichen Füllung der Seele durch Gott ist für Titius ein Hirngespinst'®^. Wenden wir uns dem zu, was Poiret diesen Ausführungen entgegensetzt, so zeigt sich wieder einmal, daß er in keiner Weise seinen Standpunkt geändert hat. Die Vernunft bleibt weiterhin für ihn ganz auf Gott angewiesen. Von sich aus kann sie nichts erreichen, gerade auch nicht in göttlichen Dingen'®"*. Allerorts betont Poiret dabei auch das substantialistisch-physische Element seiner Lehre von der Erleuchtung. Redet Titius etwa von einer Bitte des Menschen um die götdiche Hilfe, so kann Poiret darunter nur die Bitte um die „Infusio luminis divini" verstehen'®'. Dabei beweist diese letztere Uminterpretation der Gedanken des Titius zugleich auch, daß Poiret nicht nur an den kirchlichen Gegnern seiner Überzeugung vorbeizureden in der Gefahr ist, sondern an allen seinen Gegnern überhaupt, sofem sie in der Nachfolge der Reformatoren stehen: Ihr ganzes unsubstantialistisch orientiertes Denken blieb ihm zeitlebens fremd. Ein wenig anders liegen die Dinge in der Kontroverse zwischen Poiret und Thomasius. Was dieser im Verlauf seiner Entwicklung über Poiret geäußert hat, ist ja durchaus nicht einlinig. Anfänghch hat Thomasius Poiret im wesentlichen zugestimmt. Will er etwa Gott auch nicht als ,,Denken" verstanden wissen, so hat er selbst Poirets von der Kirche so heftig befehdete Gottes- und Seelenlehre beifällig aufgenommen, wie seine Erstausgabe des Buches über die dreifache Bildung von 1694 beweist, desgleichen seine Abwertung der Vernunft Geblieben ist jedoch von dieser Zustimmung in den späteren Jahren sehr wenig, wie Thomasius in seiner Zweitauflage des Buches über die drei181 182 183 184 185 186
AaO S. 506 f. AaO S. 5 2 1 . AaO S. 5 0 9 . AaO S. 4 7 8 . AaO S. 5 0 7 . Dissertatio der Ausgabe von 1 6 9 4 , S. (17) und S. (31).
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fache Bildung 1708 zu erkennen gibt. Der Gedanke der Erleuchtung als der Grundlage allen rechten Vemunftgebrauchs und aller Bildung ist nunmehr eliminiert. Das Ziel, auf welches der Mensch hin auszurichten ist, ist nicht mehr der Empfang des göttlichen Lichtes, sondern — und damit hat bei Thomasius die Aufklärung gesiegt — die Moral; sie gilt es zu v e r m i t t e l n M e h r noch, jene mystischen Elemente, welche Thomasius' Denken 1694 noch mitbestimmen, sind 1708 nicht allein verschwunden, sondern an ihre Stelle tritt zugleich eine für alles Seinsverständnis eminent positive Setzung: Zeigt jene ursprüngliche Zustimmung zu Poirets Veständnis des inneren Weges, daß auch Thomasius in jener Zeit der Überzeugung nahestand, alles menschliche Sein sei auf Gottes Wirken hin auszurichten — eben vermittels der Entäußerung des Ich von der ontologischen Peripherie und seiner Konzentration auf das Zentrum —, es existiere mithin nur ein einziger Bereich, in welchem sich menschliches Leben seinem Wesen nach vollziehe, nämlich das unter dem Horizont der Infusio luminis divini zusammengeschlossene Gesamt von Gott, Seele, (Vernunft und) Welt, so wird diese Überzeugung durch die Anschauung ersetzt, daß der Mensch zwei Bereichen zugehöre, der Immanenz und der Transzendenz, der Zeit und der Ewigkeit. Und an dieser Stelle wird etwas deutlich, was dem an Titius' Denken Beobachteten sehr ähnlich sieht: Die Vernunft erhält wiederum eine hohe ontologische Dignität. Sie ist es nämlich, welche den Bereich der Immanenz zu verwalten hat, die Welt und ihre Zusammenhänge. „ N u r " die Ewigkeit fordert den Menschen in seiner geistlichen Existenz. Beide Bereiche sind freiUch streng getrennt; sie dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Das aber besagt zugleich: Bedient sich der Mensch der Vernunft auf angemessene Weise, dann hat dies durchaus nicht als ein übernatürlicher, geistHcher Akt zu gelten, sondern als Betätigung einer durchaus autonomen Fähigkeit'®®. Von dieser neugewonnen Position aus mußte für Thomasius auf Poirets Irrationalismus, ja Antirationalismus ein schwerer Schatten fallen. Redet Poiret von einer Defizienz der Vernunft, dann ist das für seinen Gegner 1708 nur noch ein Vorurteil, das Poiret mit allen Mystikern teilt. Gewiß vermag die Vernunft auch zu versagen, aber das liegt nicht an ihrem eigentlichen Wesen, sondern am menschlichen Hang zu Meinungen und Irrtümern Insgesamt freilich ist Thomasius in seinen Ausführungen zur poiretianischen Erkenntnistheorie nicht so radikal wie sein Schüler. Für „schwär18'' Dissertatio der Ausgabe von 1708, S. (9). >88 S. (13) der Dissertatio von 1708. 189 Vgl. bes. S. (31) und S. (14).
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merisch" hält er Poirets Position nicht. Und insofern erhält seine Polemik gegen den früher von ihm so Verehrten letztlich sogar eine versöhnüche Note. Hätte Thomasius sonst auch das Buch über die dreifache Bildung noch einmal herausgegeben? Naturgemäß ist Poiret auch diese Attacke nicht entgangen. Und auch diesmal hat er den Fehdehandschuh aufgenommen, davon zeugt sein gegen Thomasius gerichteter Traktat „Defensio Methodi Inveniendi Verum". Auch diese Apologie bringt sachlich nichts Neues. Dennoch sei sie hier erwähnt, weil sie deutlich macht, daß Poiret trotz seiner Polemik gegen die Vernunft sich durchaus seines Grundansatzes bewußt geblieben ist, gemäß dessen diese trotz ihres ontologisch-peripheren Charakters zum Gegenstand sogar „wohlwollender" Reflexion werden kann. So betont er ausdrücklich, daß die Vernunft durchaus auch Geschenk Gottes sei, ja, er legt sogar Wert auf die Feststellung, daß er den Gebrauch der Vernunft durchaus für notwendig hält — nur eben: es muß sich dabei um ihren rechten Gebrauch handeln Allerdings ist ein solches unpolemisches Urteil über die Vernunft, wie wir es in Poirets Erwiderung an Thomasius finden, im Denken unseres Theologen ungewöhnlich selten. Antirationale Aussagen wiegen weit vor. Ein Denker der Aufklärung ist Poiret eben doch nicht, mag er auch bisweilen (und wir müssen sagen, unbewußt) in der Nähe aufklärerischer Gedankengänge stehen. Angesichts seiner Konzentration auf den inneren Weg blieben ihm die Fragen, welche seine aufklärerischen Zeitgenossen bewegten, letztlich fremd. 2. Die Praxis des inneren Das Wesen der praxis
Weges
mystica
Der innere Weg, wie ihn Poiret versteht, ist ein Gespräch der Seele mit ihrem Grunde. Hinter dieses Gespräch tritt alles Außen zurück: die Welt, vor allem die menschliche Vernunft. Was letztlich Gültigkeit hat, ist nur die Erfahrung Gottes, zu welcher der Mystiker hindurchzudringen bestrebt ist; diese Erfahrung und der Durchbruch zu ihr vermögen zwar Wortgestalt anzunehmen, Gegenstand der Reflexion zu sein — die Wirklichkeit des inneren Weges und die Wirklichkeit Gottes offenbaren sich aber nur im hehensvollzug, in der Praxis. Wie sich diese Praxis für Poiret darstellt, liegt dabei fast schon auf der Hand. 190 Posthuma, S. 122.
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Zunächst negativ: Sie bedeutet systematisierte Entweltlichung. In diesem Sinne hat sich ja Poiret auch selbst aus der „Welt" zurückgezogen — endgültig durch seine Übersiedlung in die Kollegiantensiedlung Rijnsburg. Sie bedeutet für Poiret zugleich auch Entkirchlichung. Die Kirche ist ja nach seinem Verständnis durch die „Vernunftspekulation" und die „rabbinische Gelehrsamkeit" verderbt, eine Struktur des Niederganges der Geschichte. Das bedeutet bei ihm zwar keine so schroffe Kirchenfeindlichkeit wie bei A. Bourignon, aber doch große innere Distanz: An den Gemeindegottesdiensten hat er zumindest in seinen Rijnsburger Jahren nicht mehr teilgenommen Es verwundert von hier aus nicht, daß in allen Äußerungen Poirets zur Praxis des inneren Weges weder Welt noch Kirche eine positive Rolle spielen. Darin stimmt er auch mit einem großen Teil seiner Gewährsleute und mystischen Zeitgenossen überein, etwa mit A. Bourignon oder dem frühen G. Arnold. Freilich nicht mit allen; zum einen nicht mit einem Mann wie Tersteegen, der, obzwar in der Zurückgezogenheit lebend, der Kirche immer ein gewisses freundliches Interesse entgegengebracht hat; vor allem aber die in ihrer Dogmatik noch „römisch-katholisch" gebliebenen Mystiker zeigen doch eine, wenn auch nicht „welthchere", so doch „kirchlichere" Haltung. Selbst die so individualistische Mme. de Guyon steht über Fénelon in einem engen Kontakt zur ecclesia visibihs, und erst recht Madre Teresa. Man mag mithin, will man Poirets totale Separation verstehen, auch daran denken, daß in Poirets reformierter Heimatkirche eine andere Ekklesiologie gültig ist als im römischen Katholizismus; Kirche ist dort weniger als hier ein universales Gefüge, in welches der Einzelne hineingeboren wird und welches — auch für den in der Einsamkeit auf Gott wartenden Mystiker — stets eine wie auch geartete kriteriale Funktion besitzt, vor allem in der Form des Bezogenseins der Gläubigen auf ein objektiv vorgegebenes „ A m t " , sondern geht stärker von dem Einzelnen aus, der auf kein „ A m t " der Kirche angewiesen ist, sondern nur auf Gott selbst, der mithin auch weit größeren Raum zur religiösen Selbstverwirkhchung besitzt. Was aber besagt für Poiret dann das Wesen der praxis mystica positiv? Letztlich allein dies: die totale Vereinzelung des Einzelnen und der Ruf dieses Einzelnen an andere in die gleiche Vereinzelung, damit in dieser Einsamkeit Gottbegegnung möglich sei.
191 Vgl. S. 38 dieser Arbeit.
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Wegiveisung zum Gespräch mit
Gott
a) Poirets eigene Aussagen Am signifikantesten für das Verstehen der Weise, wie Poiret mystische Praxis zu lehren sucht, sind naturgemäß seine eigenen Aussagen. An ihnen läßt sich ja ablesen, wie sich seine Ontologie in praktisch-mystischen Vollzügen bewähren will. Betrachten wir etwa Poirets Weisungen zum inneren Weg im Büchlein über die christliche Kindererziehung. Ausgangspunkt ist naturgemäß die Lehre von den Seelenkräften. Poiret teilt sie, wie wir wissen, in dieser Schrift in eine facultas desiderandi, eine facultas cognoscendi (die aus dem intellectus passivus, d.h. der Fähigkeit zur Aufnahme des göttlichen Lichtes, und den unteren Seelenkräften, besonders der Vernunft, besteht) und eine facultas laetandi ein; schließlich sieht er in der Seele noch ein viertes Vermögen wirksam, nämlich — gleichsam als ihr Tor nach außen — die facultas agendi. Das bedeutet für die Methode des inneren Weges im Blick auf die Kinder: Zum einen sollen sie lernen, die facultas desiderandi auf Gott zu richten, nicht auf sich selbst. Es gilt also ihren Eigenwillen zu brechen vermittels der Übungen der Demut und der Genügsamkeit mit dem, was man besitzt. Zum anderen sollen sie lernen, innerhalb der facultas cognoscendi nicht die Vernunft dominieren zu lassen; sofern die Kinder ihren Gebrauch lernen sollen, dann nur (und das entspricht Poirets Aussagen im Traktat über die Wahrheitsfindung), um die Dinge der Welt auf Gott hin durchsichtig zu machen, seine Weisheit, seine Macht und seine Güte. Schließlich sollen sie die wahre christliche Freude lernen vermittels der facultas laetandi, d.h. vor allem: nicht an Dingen der Welt, etwa am Geld, Gefallen finden Gleichsam zusammengefaßt erscheinen Poirets Anweisungen zur Kindererziehung in seiner Beschreibung des rechten Gebrauchs der facultas agendi. Diese Beschreibung zeigt die praxis mystica noch einmal ganz konkret: Letztlich muß das Ich in allen seinen Lebensbezügen darauf ausgerichtet zu sein, Gott in sich wirken zu lassen. Eigenwert besitzt kein Bereich der äußeren Existenz mehr, denn damit wäre ja der Welt wieder eine Dignität zugesprochen, die sie ontologisch nicht besitzt. Selbst Essen und Trinken erfüllen ihren Sinn nur, wenn sie im Horizont geistlicher Existenz stehen
192 Bes. S. 17, 28f und 39f (nach der in De Eruditione Solida Specialiora abgedruckten Ausgabe). 193 AaO S. 43ff.
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Nicht wesentlich anders steht sich die Anleitung zum inneren Weg im Buch über die dreifache Bildung dar. Auch sie orientiert sich an Poirets Verständnis der einzelnen Seelenkräfte und bietet von diesem Ausgangspunkt aus eine Fülle mystischer Anregungen. So stellt Poiret etwa dem, der allgemein über die Praxis des inneren Weges belehrt werden möchte, 1 Kor 13 vor Augen: Derjenige, welcher den inneren Weg geht, transformiert seinen Willen zu Gott in die Liebe zu Gott. Ihm fehlt der Neid, er ist nicht hochmütig oder ehrgeizig, er sucht nicht das Seine, er ärgert sich nicht, er denkt nichts Böses und freut sich nicht an Unger e c h t i g k e i t U n d dem, welcher selbst diesen Weg auch vermitteln will, rät er Demut an, Distanz zu allem menschlichen Beifall'^®. Aber noch ein wesentlicherer Punkt ist im BHck auf die letztgenannte Schrift anzumerken. Letztlich, so schreibt Poiret, geschieht Vermittlung des inneren Weges im entscheidenden durch das Beispiel des Lehrenden: „Exemplis . . . plus quam verbis attenditur a plerisque'"^®. Eine Aussage wie diese ist sehr bedeutsam; denn in ihr wird vollends deutlich, wie in der mystischen Praxis das Wort zurücktritt hinter der Wirklichkeit, dem Vollzug des inneren Weges. Von hier aus wird aber erneut einsichtig, warum Poiret gerade auch der Edition von Mystikerviten so großes Interesse bezeigt hat: Gerade solche Viten sind ja Beispiele; sie analysieren den inneren Weg nicht abstrakt, sondern zeigen, wie er konkret vorgelebt worden ist. b) Poirets Editionen Mit letzterem Sachverhalt sind ansatzweise auch Poirets Editionen mystischer Literatur in den Blick gekommen. Sie nehmen in seinen Bemühungen, mystisches Bewußtsein zu vermitteln, ja den meisten Raum ein. Von diesem seinem Bemühen aus ist auch von Anfang an klar, daß ein theologisch-intellektuelles Interesse in diesen Ausgaben nicht vorhegt. Von daher interessiert Poiret auch nicht, ob die Mystiker, die er vor das Forum seiner Zeit bringt, in der gleichen trinitarisch-theologischen Kategoriensprache reden wie er. Und in der Tat, wenn man die Mystiker durchmustert, die Poiret ediert, dann stößt man zwar allerorten auf das gleiche Lebensgefühl und das gleiche religiöse Grundanliegen wie bei Poiret selbst, recht selten aber auf ein durchsystematisiertes Begriffsinstrumentarium (sofern es sich bei diesen Mystikern nicht ohnehin um Laien handelt, denen jedes „wissenschaftlich"-theoIogische Reden ab-
S. 194ff in der Ausgabe von 1707. AaO S. 196 und S. 198f. AaO S. 194.
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geht). Etwas anders sieht es lediglich dort aus, wo die von Poiret edierten Mystiker zugleich auch seine Gewährsleute sind. Poirets eigenen pädagogischen Arbeiten am nächsten stéhen zweifellos seine Ausgaben mystischer Traktate, auch wenn sie sich in der mystischen Terminologie von derjenigen Poirets unterscheiden. Werfen wir etwa einen Blick auf die mystische Methodologie des in der Theologie du Cœur abgedruckten Traktates über die christliche Vollkommenheit. Er entfaltet in allen Einzelheiten, wie sich der Mensch für das Wirken Gottes in seiner Seele bereiten kann: Vor allem muß er natürlich alles Außen hinter sich lassen. Er darf nicht auf seine Umwelt achten, auch nicht auf Kleidung und Wohnung. So schreitet er Stufe um Stufe voran. Er gibt seinen „Eigenwillen" auf, die „unteren Seelenkräfte" verlocken ihn nicht mehr, sich dem Außen zuzuwenden, am Ende ist er nur noch ein leeres Gefäß, ohne Selbst, ganz Gott ergeben. Nun beginnt Gott sein Werk, indem er die Seele erleuchtet. Der Mensch wird ganz in die Höhe des Innewerdens Gottes emporgetragen: ,,il reçoit une divine lumière, qui produit en lui des intelligences et des connoissances tres-hautes". Und dieses göttliche Licht in der Seele ist nichts als der , , S o h n " : ,.Nôtre Seigneur Г($с. âme)élevant en une extase pratique et trés-vertueuse, opere parfaitement dans elle ce qu'il lui plait". Damit aber ist die christliche Vollkommenheit erreicht"^. Aber ganz ähnlich wollen auch die übrigen Editionen mystischer Traktate verstanden werden, so die Traktatsammlung der Opuscules Spirituels der Mme. de Guyon, die Edition der Briefe der gleichen Mystikerin, diejenige der Analysis Orationis Mentalis von la C o m b e : In jedem Falle — und die Vorworte, die Poiret den betreffenden Schriften vorausgeschickt hat, reden hier eine deutliche Sprache — will Poiret den Leser anleiten, die Welt hinter sich zu lassen, um in der Vereinzelung individueller Ekstase zu seinem Grund zu finden. Deutlicher freilich noch als in seinen Editionen mystischer Traktate wird diese seine Intention in seinen Ausgaben von Lebensbeschreibungen der Mystiker. In ihnen liegt der innere Weg j a schlechterdings bloß; er wird — fern von Reflexion und „ V e r n u n f t " — einfach dargestellt. Der Leser braucht sich nicht mehr durch einen theologischen Abstraktionsvorgang hindurchzufinden, um zur Sache zu kommen, weil sich die Sache sozusagen visibiliter selbst zur Sprache bringt als eine am alltäglichen Leben ablesbare; etwa am alltäglichen Leben eines Marquis de Renty: an seinen Bußübungen, seiner geistlichen und äußeren Armut, seiner 1®·' Abregé de la Perfection Chrétienne (in: L a Theologie du C œ u r , Bd. I), bes. S. 9 0 f f , die Zitate S . 1 4 5 ; vgl. auch Tilly, aaO S . 9 1 f f .
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inneren wie äußeren Demut, seiner Liebe zum verborgenen Leben, seiner Verachtung der Welt, seiner Geduld, seinen häuslichen Pflichten, seiner Abtötung, seiner Liebe zu den Armen, seinem Wohlverhalten im Beruf, seinem Glauben, seiner Hoffnung, seiner Liebe, seiner Beschauung, schließlich seinem „mystischen" wie seinem leibhchen Tod'®®. Und ähnlich bringt sich die Sache im Leben der Armelle Nicolas zur Sprache, wenn auch unter ganz anderen soziologischen Voraussetzungen: Armelle Nicolas ist eine arme Dienstmagd. Aber was besagt dies? Für den Mystiker schlechterdings nichts. Die Wirklichkeit des göttlichen Wirkens in der Seele ereignet sich ja jenseits des Außen des Intellekts, der Vernunft und der sozialen Schichtung. Gilt nicht die Torheit mehr als die Weisheit? Wiederum ähnlich, wenn auch wiederum unter anderen Bedingungen, bringt sich die Sache mystischer Existenz in der Vita de Mme. de Guyon zur Sprache: hier im Horizont des Quietismus-Streits. Hat nicht gerade das Verhalten der Mystikerin in diesem Streit starke mystische Impulsqualität? Hat nicht Mme. de Guyon gerade dadurch, daß die offizielle Kirche (in der Gestalt Bossuets) ihren Namen verhaßt machen wollte, viele Seelen zur Einkehr geführt? Und sollte das nicht weiterhin geschehen, wenn man ihre Vita betrachtet So wird sichtbar, wie sehr Poiret als Verfasser systematisch theologischer Schriften, als Polemiker und Apologet, als Pädagoge und Editor ein und dieselbe Person sind. Letztlich ist alles, was aus seiner Feder kommt und was er ediert, durch einen einzigen Grundgedanken bestimmt: die Beschreibung und beschreibende Vermittlung der Rückkehr der Seele in ihre ewige Heimat. 198 Vgl. Inhaltsangabe des Buches; zur Renty-Vita s. neuerdings auch M. Schmidt, Die Biographie des französischen Grafen Gaston Jean-Baptiste de Renty (1611 — 1649) und ihre Aufnahme im 18. Jahrhundert (in: Wiedergeburt und Neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus. Witten 1969, S. 390ff). 199 Vgl. die Vorworte der Ausgaben.
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Abschließende Erwägungen: Zu einer Beurteilung Poirets Gestalten wie Poiret bilden Drehpunkte in der Geschichte, dialektische Achsen, ohne sich dessen bewußt zu sein. Sie sehen ihre Heimat im Überkommenen, sind aber, ohne es zu wissen, bereits Boten des Kommenden. S o sieht sich Poiret als Verteidiger christlicher Tradition, aber er sprengt sie zugleich. Er beruft sich auf Christus als das Heilsereignis der Geschichte, aber indem er sein Wirken universalisiert, relativiert er es zugleich in Richtung auf eine theologia naturalis. Er insistiert auf der Gottebenbildlichkeit des Menschen, aber zugleich bereitet er durch seine — wohlgemerkt, wiederum aus der Tradition stammende — ontologisierende Betrachtungsweise dieser Gottebenbildlichkeit einer säkularen Anthropologie vor. Er polemisiert gegen jede Form von Rationalismus und bahnt ihm dennoch mancherorts den Weg. Er sieht die Geschichte im Niedergang, aber in seinem Glauben an die Perfektibilität des Menschen steht er letztlich denen nicht fern, die ihren Aufgang heraufdämmern sehen. Gleichsam zentriert erscheint diese Dialektik poiretianischen Denkens in der Dialektik der religiösen Erfahrung, der Begegnung von Gott und der Seele. In der Beschreibung dieser Erfahrung bricht aus dem „sakralen" das „ p r o f a n e " Denken hervor, aus der „ M y s t i k " der „Rationalismus", aus dem Glauben an den „sündigen" Menschen der Glaube an die Möglichkeit empirischer Vollkommenheit. Die religiöse Erfahrung erweist sich gleichsam als eine Potenz, welche das menschliche Selbst- und Seinsverständnis auf sehr verschiedene und sehr divergente Weisen zu aktualisieren vermag. Der Geschichte freilich ist all dies weitgehend verborgen geblieben. Lediglich die Zeitgenossen haben Poiret letzten Endes engagiert zugehört — sei es beifällig, sei es kritisch. Die Nachwelt wird an ihm zunehmend desinteressierter. Einer der letzten, die noch über Poiret Bescheid wissen, ist Walch. Worin liegt dieses wachsende Desinteresse begründet? Zunächst natürlich darin, daß Poiret selbst kein Interesse an ,,Nachr u h m " besessen zu haben scheint: Seine Editionen waren j a oft genug anonym, trugen also seinen Namen nicht weiter. 221
Aber auch seine eigenen Werke sind sehr bald der Vergessenheit anheimgefallen, mögen sie anfänglich auch erfolgreich gewesen sein. Sie figurieren als theologiegeschichtliche Glosse, am Rande christlicher Literatur. So verwunderlich es zunächst klingen mag, letztlich ist auch hier der Grund Poirets Anonymität, mag er seine Schriften auch mit seinem Namen signiert haben: Hat er sich in seinen Editionen hinter der Persönlichkeit anderer verborgen, so sehr, daß selbst sein Name unerheblich war, so bleibt er oft auch in seinem eigenen Schrifttum hinter der Persönlichkeit anderer verborgen, von ihnen abhängig, mitunter bis ins Detail, letztlich eine anonyme Größe. Sicher gibt es manches in seinem Denken, das erstaunlich zeitnah anmutet. Wir erinnern an seine von Böhme angeregte Beschreibung der Seele, sofern sie, im Zustand der Sünde, „Angst" und „Qual" ist. Hier liegen bisweilen Assoziationen an Tillichs Lehre vom Übel nahe. Nur haben gerade auch an diesem Punkte andere Denker Böhmes Anregungen besser aufgegriffen — etwa Schelling in seiner Freiheitslehre. So enthält auch Poirets Christusverständnis in seiner Abgrenzung von christologischem Triumphalismus dem heutigen Denken nahestehende Elemente; aber es ist andererseits zu sehr durchtränkt von „schwärmerischer" Spekulation, als daß es unmittelbare Relevanz für die Gegenwart besitzen könnte. Mithin nimmt es in der Tat nicht wunder, daß unser Theologe sehr bald dem Gedächtnis der Geschichte entfallen ist und seine Wirkung sich auf seine Tätigkeit als Vermittler des Denkens anderer beschränkte. Mithin ist es ebenfalls nicht zu verwundern, daß auch die historische Forschung weitgehend an ihm vorübergegangen ist; denn dadurch, daß das, was sich in seinem Denken dartut, andernorts bereits origineller gesagt worden ist und daß Poiret dieses von anderen bereits Gesagte lediglich adaptiert, wird der Betrachter unseres Theologen bisweilen zum bloßen ,,Traditionsgeschichtler": Seine Tätigkeit beschränkt sich dann darauf, die einzelnen Traditionsströme, die in Poiret zusammengeflossen sind, aufzuhellen. Und er konstatiert den Punkt, an welchem sich diese Ströme in das Ich des Theologen integriert haben; er entdeckt die Kraft Poirets, alles das, was ihm an seinem Denken verwandten Anschauungen begegnet, seiner Aussage anzuverwandeln. Aber von dem Denken, welches aus Poirets Gespräch mit seinen Gewährsleuten emporsteigt, gehen keine Impulse aus, welche die Geschichte so schöpferisch weitergeführt haben wie manche Impulse seiner bedeutenderen Zeitgenossen. Zu sehr ist sein Denken das Denken anderer, zu sehr ist auch sein Glaube der Glaube anderer. Insofern ist er auch in seiner 222
Bedeutung als ein Drehpunkt der Geschichte, in seiner Spannung zwischen Cartesianismus, kirchlicher Theologie, Mystik und Rationalismus, nur ein Symbol für das Denken vieler Zeitgenossen. Gleichwohl besitzt die Beschäftigung mit Poiret eine gewisse Bedeutung, obschon diese auf einer gänzlich anderen Ebene liegt. Ist Poiret auch nicht originell, so hat er dennoch ein Ich, welches (ganz im Sinne des mystischen Kreises) Grund und Ziel hat, beides nie aus den Augen verliert und dennoch von einer geradezu universalen Weite ist. Poirets Denken reicht von den Niederungen der Spekulationen der A. Bourignon bis in die Höhe cartesianischer Reflexion; die reformierte Theologie ist ihm ebenso geläufig wie die Mystik, die Kirchenväter sind ihm ebenso bekannt wie die Scholastik. Insofern vermag er nachgerade exemplarisch zu sein — für die Möglichkeit einer Integration des Denkens ins Sein, des Wissens in den Glauben. Gewiß, die nähere Entfaltung dieses Daseinsverständnisses, wie sie Poiret vornimmt, ist mitunter nur schwer zu begreifen. Man denke nur an seinen Glauben an die MögHchkeit menschlicher Vollkommenheit und an das damit verbundene Freiheitsverständnis ; an solchen Stellen im Obuvre Poirets kündigt sich eine eminente geistige und geistliche Verflachung an. Aber gerade dadurch, daß Poirets Position nach allen Seiten der Kritik offensteht (wie ja auch schon seine Zeitgenossen erkannt haben), ist sie auch so ,,echt". Poirets Frömmigkeit ist in der Tat mehr als „Buchstabe". Sie lebt, auch wenn sich dieses Leben mitunter auf eine etwas merkwürdige Weise manifestiert. Von dieser Erfahrung her, der Erfahrung des Ewigen, die unseren Theologen in allen seinen Lebensäußerungen bestimmt, geht freilich Poirets Bedeutung über das Wenige an Bedeutung hinaus, was ihm — sofern es um seine Persönlichkeit als eigenschöpferischer Theologe geht — die Historie zuerkannt hat (und zuerkennen konnte): Er wird zum Beispiel christlicher Existenz.
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Literatur Α. Übersicht
über Poirets
Schriften
und
Editionen
(* in der vorliegenden Arbeit hinzugezogen) I. Poirets eigene Schriften
(die verschiedenen
Ausgaben in Auswahl)
1. Poirets vorwiegend philosophisch-orientierte Werke: Cogitationum Rationalium de Deo, Anima et Malo Libri Quatuor: Ausgabe Amsterdam 1677*. Editio altera (Priore plus duplo auctior), Amsterdam 1685*. Ausgabe Amsterdam 1715. Vera et Cognita omnium prima, sive, de Natura Idearum ex origine sua repetitâ, asserti, et adversus A. Pungelerum defensâ, Disquisitio theologico-philosophica, Amsterdam 1715*. 2. Poirets vorwiegend mystisch-theologisch orientierte Schriften: Bibliotheca Mysticorum Selecta, Amsterdam 1708*. De Eruditione Solida Specialiora Tribus Tractatibus, Amsterdam 1707*. Mémoire touchant la vie et les sentimens de Mlle Antoinette Bourignon, in: Nouvelle République des Lettres, 1683; in lat. Fassung abgedruckt bei Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie III, S. 154ff*. Monitum Necessarium ad Acta Eruditorum Lipsiensia« Amsterdam 1686*. Die Oeconomie Divine und ihre Ausgaben: frz. Ausgabe: L'Oeconomie Divine ou Système universel et démontré des Oeuvres et des desseins de Dieu envers les hommes, Amsterdam 168 7. lat. Ausgaben: Oeconomiae Divinae Libri Sex, F r a n k f u r t 1705* und Amsterdam 1728. dtsch. Gesamtausgabe: Die göttliche Haushaltung oder Allgemeiner und klärlich bewiesener Zusammenhang der Wercke und Absichten Gottes gegen die Menschen, Berlenburg 1737*. holl. Ausgabe: De goddelyke Huishouding, Delft 1723. Ausgaben von La Paix des bonnes Ames: frz. Ausgabe: La Paix des bonnes Ames, dans tous les Partis du Christianisme sur les matières de Religion, et particulièrement sur l'Eucaristie, Amsterdam 1687*. dtsch. Ausgaben: Irenicum Universale oder gründliche Gewissens-Ruhe aller frommen Hertzen, Amsterdam 1702; Vollkommene Gewissensruhe der Frommen, Frankfurt/Leipzig 1714. lat. von Poiret selbst besorgte Ausgabe 1707. Petri Poireti Posthuma, Amsterdam 1721*. Theologiae Pacificae, itemque Mysticae, ac hujus Auctorum Idea Brevior, in gratiam Eruditorum, Amsterdam 1702*.
224
3. Poirets vorwiegend pädagogisch orientierte Werke: De Eruditione Triplici Solida, Superficiaria et Falsa Libri Tres (Das Buch über die dreifache Bildung); Ausgaben: Ausgabe Amsterdam 1692. Editio Nova, Amsterdam 1707* (enthält außerdem: Librorum Defensio contra C. G. Titium). Ausgabe Frankfurt/Leipzig 1694 (mit Dissertation von Thomasius)*. Ausgabe Frankfurt/Leipzig 1708 (mit neuer Dissertation von Thomasius)*. Das Buch über die christliche Erziehung der Kinder; Ausgaben: frz. Ausgaben: Les vrais Principes de l'Education chrétienne des Enfans (an: La Theologie du Coeur II, s.u.)*; Les Principes Solides de la Religion et de la Vie Chrétienne, Appliquéz à l'Education des Enfans, Amsterdam 1705 und 1710. lat. Ausgaben: De Christiana Liberorum e veris principiis Educatione Libellus, Amsterdam 1694*; De Educatione Liberorum Christiana (in: De Eruditione Solida Specialiora Tribus Tractatibus, s.o.*). dtsch. Ausgaben u.a.: Die Klugheit der Gerechten, die Kinder nach den wahren Gründen des Christenthums von der Welt zum Herrn zu erziehen, Altona 1693; Wahre Grund-Sätze eine christlichen Auferziehung der Jugend, Leipzig 1693.
II. von Poiret besorgte,
angeregte und in seinem
Umkreis entstandene
Editionen
1. Editionen der A. Bourignon und der Mme. de Guyon: Ausgaben der Werke der A. Bourignon: frz. Gesamtausgabe: Toutes les Oeuvres de Mlle Antoinette Bourignon, Amsterdam 1679 bis 1686. dtsch. Ausgaben u.a.: Probier-Stein, umb das Gold der wahren Liebe auß dem vergüldeten Kupffer der Schein-Liebe zu erkennen (angehängt: Wiederlegung derer Sechs und Siebentzig Puncten und vermeinte Irrthümem / die M. Georgius Burchardus, Prediger an der Thumb-Kirchen zu Schleßwig / hat zusammen-gefasset und heraußgegeben wieder J u n g f r . Antoinette Bourignon), Amsterdam 1676 (wohl ohne Zusammenhang mit Poirets Edition entstanden)*; Der entdeckte Widerkrist I—III, Amsterdam 1684*; Die Erneuerung des Evangelischen Geistes I - I I I , Amsterdam 1682*; Das Grab der falschen Theologie I - I I I , Amsterdam 1682; Das Heilige Perspectiv, Amsterdam 1684*; Hohe Schuhle der Gotts-Gelehrten I—III, Amsterdam 1682; Das Leben der J u n g f r a u Antoinette Bourignon, Theils durch Sie selbst / theils durch einen von ihren Bekandten geschrieben (mit der Vor- und Schutz-Rede Poirets, der Darstellung ihres „inneren" und „ ä u ß e r e n " Lebens, von ihr selbst, und Poirets Fortsetzung ihrer Vita bis zu ihrem Tod), Amsterdam 1684*; Das Liecht der Welt I, Amsterdam 1681*; Der Neue Himmel und die Neue Erde I, Amsterdam 1680*; Wunderwehrtes Tractat von der wahren Krafft-Tugend I und II, Amsterdam 1679*; dtsch. Gesamtausgabe Amsterdam 1717. Ausgaben der Werke der Mme. de Guyon: L'Ame amante de son Dieu, Köln 1717; dtsch. Ausgabe: Die ihren Gott liebende Seele, Regensburg 1719. 15 Krieg, Kreis
2 2 5
Discours Chrétiens et Spirituels sur divers Sujets qui regardent la Vie intérieure, Köln 1716*. Lettres Chrétiennes et Spirituels, Köln 1717/18, dtsch. Ausgabe: Christliche und geistreiche Briefe über verschiedene Materien, die das innere Leben oder den Geist und Sinn des wahren Christenthums betreffen, Leipzig 1728. Les Livres de l'Ancient Testament, avec des explications et réflexions . . ., Köln 1714/15; dtsch. Ausgabe: Die Heiligen Schriften des Alten Bundes, Regensburg und Landshut 1836. Le Nouveau Testament de Nôtre Seigneur Jésus-Christ, avec des Explications et réflexions . . . , Köln 1713; dtsch. Ausgabe: Die Heiligen Schriften des Neuen Bundes, Regensburg 1836. Opuscules Spirituels . . . , Nouvelle Édition . . . , Köln 1704*. Règle des associéz à l'Enfance de Jésus, Lion 1685; dtsch. Ausgaben u.a. 1705 und Frankfurt 1716. La Vie de Mme de la Mothe Guyon écrite par elle-même, Köln 1720; dtsch. Ausgabe: Das Leben der Madame J . M. B. de la Mothe Guyon . . . , Leipzig 1727*. 2. Poirets weitere Editionen: Catéchisme chretien pour la vie intérieure, par Monsieur Olier, Köln 1703. Le Chrétien Réel ou la Vie d u Marquis de Renty . . . , Köln 1701*. Le Chrétien Réel. Tome second, contenant la vie de la vénérable Mère Elisabeth de l'enfant Jésus, Köln 1702. L'Ecole du pur Amour de Dieu, ouverte aux Scavans et aux Ignorans, dans la vie inerveilleuse d'une pauvre fille idiote paysanne . . . , Armelle Nicolas, Köln 1704; dtsch. Ausgabe: Die Schule der reinen Liebe Gottes. Eröffnet den Gelehrten und Ungelehrten in dem Wunderleben einer armen unwissenden Weibs-Person . . . , Armelle Nicolas . . . , Regensburg 1708*. Fides et Ratio Collatae ac suo utroque loco redditae adversus Principia Joannis Lockii, Amsterdam 1707, zweite Ausgabe Amsterdam 1708*. Kempis Commun ou les quatre livres de l'Imitation de J . Christ . . . , Amsterdam 1683; weitere Ausgaben Amsterdam 1701, 1710, 1738; Bern 1708, Basel 1737*; dtsch. Ausgaben Tübingen 1714, 1717, 1749; Mmheim 1740. Les Oeuvres Spirituelles de Messire Fr. de Salignac de la Mothe Fénelon, 1718; Neuausgabe Rotterdam 1738. La Pratique de la Vraye Theologie Mystique, Contenue dans quelques Traités . . . , Liège 1709*. Sacra Orationis Theologia Duobus Libellis, Amsterdam 1711. Le saint refugié ou la vie et la mort édifiantes de Wernerus ..., Amsterdam 1701 (auf Poirets Anraten ediert). Le Saint Solitaire des Indes, ou la vie de Grégoire Lopez . . . , Köln 1717. Theologiae Christianae juxta Principia Jacobi Bohemii Teutonici Idea brevis et methodica, Amsterdam 1687 (und 1693?)*. La Théologie de l'Amour ou la Vie et les Oeuvres de Sainte Cathérine de Gênes, Köln 1701. La Théologie du Coeur . . . , Köln (Amsterdam?) 1690 bzw. 1696/1697*; dtsch. Ausgabe: Hertzens-Theologie oder einige sehr schöne . . . Tractätgen, F r a n k f u r t / Leipzig 1702. La Théologie de la Croix de Jésus-Christ ou les Oeuvres et la Vie de la Bienheureuse Angele de Foligni, Köln 1696.
226
La Théologie Germanique, Traduite en François, avec un Traité de l'Amour de Dieu, Amsterdam 1676*. La Théologie de la Présence de Dieu, contenant la Vie, les Moeurs, les Entretiens, la Pratique, et les Lettres du Frère Laurent de la Résurrection, Köln 1710; dtsch. Ausgabe 1714. La Théologie Réelle, Vulgairement ditte la Theologie Germanique, Amsterdam 1700*. Virtutum Christianarum Insinuatio Facilis . . . , Amsterdam 1705 und 1711. (Vgl. auch Wieser, Peter Poiret, S. 330ff)
B. Sekundäre
Quellen zu Poirets Leben und
Denken
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C.
Sekundärliteratur
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Aufsätze
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2. Artikel aus
Nachschlagewerken
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Ausgabe der Werke Gerhard Tersteegens Gerhard Tersteegen · Geistliche Reden Herausgegeben von Albert Löschborn und Winfried Zeller. 666 Seiten, Leinen (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. V) Gerhard Tersteegen (1697—1769), einer der namhaftesten Kirchenlieddichter, hat nicht nur der Frömmigkeitsgeschichte der evangelischen Christenheit entscheidende Impulse gegeben, sondern hat sich im Zeitalter des Pietismus auch nachhaltig für das Traditionsgut der christlichen Mystik eingesetzt. Durch sein Eintreten für die Gedankenwelt der neueren spanischen, italienischen und französischen Mystik wurde er im 18. Jahrhundert zu einem beachtenswerten Brückenschläger zwischen romanischer und deutscher Geisteskultur. Seine tiefe Jesus-Frömmigkeit hat auf weite Kreise des deutschsprachigen Protestantismus prägend eingewirkt. Um so schmerzlicher wurde bis heute eine greifbare Ausgabe der Werke Tersteegens vermißt. Die Tersteegen-Ausgabe soll zugleich der Tersteegen-Forschung wissenschaftlich brauchbare Quellentexte in die Hand geben. Vorgesehen sind zehn Bände, von denen der erste Tersteegens „Geistliche R e d e n " in chronologischer Reihenfolge enthält. Der nächste Band wird den „Geistlichen Dichtung e n " Tersteegens gewidmet sein. Weitere Bände werden Tersteegens religiöse Abhandlungen und kleinere Schriften bringen und die Vorreden, vor allem zu seinen Übersetzungswerken, zusammenfassen. Außerdem werden in mehreren Bänden Tersteegens ,,Geistliche Briefe", die für die Geschichte der Seelsorge und Seelenführung im Pietismus wichtig sind, vollständig herausgegeben werden. Die Herausgabe der .holländischen B r i e f e " wird bedeutende Quellen der über den deutschsprachigen R a u m hinausreichenden Korrespondenz Tersteegens erschließen. Ein Ergänzungsband wird neben den üblichen Registern Texte zur Biographie Tersteegens bieten. Außer den zum Teil schon seltenen älteren Drucken wird, besonders bei den Abhandlungen und den Briefen Tersteegens, ein reichhaltiges ungedrucktes Material herangezogen.
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Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen
Johann Christoph Blumhardt Gesammelte Werke Schriften, Verkündigung, Briefe. Herausgegeben von Gerhard Schäfer
Reihe I: Schriften · 1. Band: Der Kampf in Möttlingen, Texte 1979. XIII + 400 Seiten, Leinen Inhalt: Gerhard Schäfer: Vorwort / Theodor Bovet: Zur Heilungsgeschichte der Gottliebin Dittus / J o h a n n Christoph Blumhardt, Texte: Krankheitsgeschichte. Berichte an Justinus Kerner. Protokoll vom S . J u n i 1842. Evang. Kirchenblatt 1845, Mitteilung. Über die Ehe. Verteidigungsschrift gegen Herrn Dr. de Valenti / Anhang: E. J . G. de Valenti, Die Wunder in Möttlingen. A. K, A. Eschenmayer, Gutachten / Ausgewählte Akten
2. Band: Der Kampf in Möttlingen, Anmerkungen 1979. Etwa 144 Seiten, Leinen Inhalt: Vorwort: Die Quellen. Abkürzungen / Einleitung: J o h a n n Christoph Blumhardt. Die Familie Dittus-Stanger in Möttlingen. Die Dokumente über Blumhardts ,,Kampf" in Möttlingen / Anmerkungen zu den Dokumenten des Textbandes: Krankheitsgeschichte der Gottliebin Dittus. Blumhardts Berichte an Justinus Kerner. Protokoll vom S . J u n i 1842. Möttlingen, Mitteilungen von Pfarrer Blumhardt. Über die Ehe. Verteidigungsschrift gegen Herrn Dr. de Valenti. E. J . G. de Valenti, Die Wunder in Möttlingen. A. K. A. Eschenmayer, Dr. de Valenti und Blumhardt in Beziehung auf eine Besitzungsgeschichte. Ausgewählte Akten / Literaturhinweise / Register, Verzeichnis der Bibelstellen, der Orte, der Personen und der zitierten Briefe Blumhardts
Reihe II: Verkündigung · Blätter aus Bad Boll 1 9 6 8 - 7 5 . 5 Bände zusammen 1798 Seiten, Leinen ,,Die Blätter aus Bad Boll machen sichtbar, wie Blumhardt in seinem Leben und in seiner Verkündigung ein Seelsorger im Vollsinn des Wortes war. Heute noch kann man aus der Art und Weise wie Blumhardt an die Glaubensund Lernprozesse seiner Zeit heranging, lernen, mit den anderen Problemen unserer Zeit fertig zu werden." Stuttgarter Ευ. Sonntagsblatt
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