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Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg
Herausgegeben von Robert Kriechbaumer · Franz Schausberger · Hubert Weinberger Band 37
Reinhard Krammer · Christoph Kühberger Franz Schausberger (Hg.)
Der forschende Blick Beiträge zur Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert
Festschrift für Ernst Hanisch zum 70. Geburtstag
Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar
Gedruckt mit der Unterstützung durch :
Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Wien
Amt der Salzburger Landesregierung Stadt Salzburg Rektorat der Universität Salzburg Stiftung und Föderungsgesellschaft der Universität Salzburg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78470-8 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http ://www.boehlau.at http ://www.boehlau.de Umschlaggestaltung : Judith Mullan Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck : General Druckerei Szeged
Inhaltsverzeichnis
Vorworte: Ernst Hanisch – opus et vita Reinhard Krammer Zur Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph Kühberger Der Lehrer Ernst Hanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Franz Schausberger Ernst Hanisch und das Prinzip der Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Studien zur österreichischen Zeitgeschichte Robert Kriechbaumer Welcher Staat ? Die Christlichsoziale Partei und die Republik 1918–1920 . . .
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Ewald Hiebl Politische Lebenswege der bürgerlichen Eliten Des Gemeinderat der Stadt Hallein um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karl Klambauer »(…) ein in begeisterter Verehrung ergebener Unterthan !« Das Gymnasium Rosasgasse im Spiegel seiner Jahresberichte 1884–1917. Versuch einer zeitgeschichtlichen Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Laurenz Krisch Registrierungslisten als Quelle zur Erforschung der sozialen Merkmale ehemaliger Nationalsozialisten, dargestellt am Beispiel Bad Gastein . . . . . .
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Christian Dirninger Zugänge zur politischen Ökonomie der Staatsfinanzen in der Zweiten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Herbert Dachs Wählen mit 16 – Die Bundesländer als »Probierfeld« . . . . . . . . . . . . . . 139
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Blickpunkt Zeitgeschichte
Biografische Zugänge Robert Hoffmann Ständische Ordnung als Utopie. Josef von Löwenthal und seine Vision vom »Christlichen Ständestaat« des Jahres 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Franz Schausberger Rudolf Ramek – Notizen zu einer politischen Biografie . . . . . . . . . . . . . 179 Helmut Rumpler Der Ständestaat ohne Stände. Johannes Messner als »Programmator« der berufsständischen Idee in der Verfassung des Jahres 1934 . . . . . . . . . . 229 Roman Sandgruber Dr. Walter Schieber. Eine nationalsozialistische Karriere zwischen Wirtschaft, Bürokratie und SS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Gerhard Botz »Rechts stehen und links denken ?« Zur nonkonformistischen Geschichtsauffassung Friedrich Heers . . . . . . . . 277 Karlheinz Rossbacher Hinschauen, hinhören, lesen, schreiben. Über die Journalbücher von Karl-Markus Gauß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
Reflexionen Michael Gehler Im langen Schatten eines Buchs : Reaktionen auf eine österreichische Gesellschaftsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Sigrid Vandersitt Ernst Hanisch und Gerhard Botz. Der ›Anschluss‹ – ein Vergleich . . . . . . . 355 Günter Bischof Vom Elend der österreichischen Geschichtsschreibung zum Kalten Krieg . . . 371 Michael Mitterauer Europaname Mohammed ? Interkulturalität und Namengebung . . . . . . . . 391
Inhaltsverzeichnis
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Christoph Kühberger Von der Geschwätzigkeit der Worte. Ein Essay zur Sprache der Historiker/-innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Reinhard Krammer Die Probleme mit dem Geschichtsunterricht und das Schweigen der Historiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Thomas Hellmuth Wider das »normative Geschichtsbewusstsein«. Geschichtsdidaktik als historisch-analytische Sinnbildung . . . . . . . . . . . . 461
Ernst Hanisch – Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Herausgeber- und Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
Reinhard Krammer
Zur Person
Wer ist Ernst Hanisch ? Der Öffentlichkeit bekannt ist er als österreichischer Zeithistoriker, als Universitätsprofessor und wissenschaftlicher Autor. Die vielen Facetten seiner Persönlichkeit, die sein Werk und Wirken prägten, sind jedoch weit weniger geläufig und sollen an dieser Stelle konturiert werden. Ernst Hanisch wurde am 16. Jänner 1940 im niederösterreichischen Städtchen Thaya als erster Sohn einer kleinbürgerlichen Familie geboren. Das Kriegsende war für ihn der Beginn der schulischen Laufbahn, die am 1. Juli 1958 mit der Matura am Realgymnasium in Waidhofen an der Thaya endete. Hanisch hat sich in dieser Zeit als begeisterter Leser in Erinnerung, der alles gelesen habe, was ihm so zwischen die Finger geraten sei, und das war damals im Waldviertel nicht allzu viel. Neben der illustrierten Ausgabe Schillerscher Werke bleibt eine fromme Zeitschrift »Die Stadt Gottes« in Erinnerung, die den Ministranten faszinierte. Die Eindrücke sind dauerhaft, ein durch einen Hang zum Agnostizismus gemilderter katholischer Wertkonservativismus wird ein zentraler Bezugspunkt in seinem Leben. In der gymnasialen Bibliothek erweiterte sich der literarische Blick um Werke der amerikanischen Literatur, vor allem um die Bücher Hemingways, die den Pubertierenden mit männlichem Machismo vertraut machten. Sein Lesen und bald auch sein Schreiben – so erinnert er sich – setzte seine Familie und vor allem seinen Vater in die Gewissheit, dass er für »ernsthaftes« Arbeiten nicht zu haben sei und daher ein Studium ins Auge gefasst werden musste. Ernst Hanisch fasste – nachdem ihn ein weitblickender Berufsberater vom Plan, Zeitungswissenschaften zu studieren und eine journalistische Karriere einzuschlagen, abgebracht hatte (»Studieren s’ doch gleich was Gscheites !«) – schließlich ein Studium der Geschichte und der Germanistik ins Auge. Ob er es sich gar vorstellen konnte, Lehrer zu werden, ist heute nicht mehr in Erfahrung zu bringen. Unversehens erwies es sich jedoch als gar nicht leicht, das Studium zu finanzieren – der Vater starb und das elterliche Geschäft warf immer weniger ab. Stipendien gab es noch nicht, also blieb nur eine Möglichkeit, die damals von vielen österreichischen Studenten genutzt wurde : Der Weg nach Schweden, wo es damals möglich war, durch harte Arbeit in den Ferien relativ viel Geld zu verdienen. An der Wiener Universität lernt er auch seine spätere Frau Christa kennen, die ihm – selbst Historikerin und Germanistin – zur schärfsten Kritikerin seiner Schriften oder, wie er es auszudrücken pflegt, zur »Zensurbehörde« wird.
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Reinhard Krammer
Die Germanistik wusste den Studenten weniger zu begeistern : Lehrende, die eine Vorlesung ausschließlich im wörtlichen Sinn verstanden, trugen dazu bei, dass das Interesse am Studium der Germanistik, nicht aber das an der Literatur nachließ. Die spätere Veröffentlichung über Salzburg und Georg Trakl und ein Band, den er gemeinsam mit dem Germanisten Walter Weiss herausgegeben hat, bezeugen diese Liebe zur Literatur. Die für den Studenten und den späteren Wissenschaftler offensichtlich maßgebende Begegnung war jene mit dem aus der Emigration zurückgekehrten Friedrich Engel-Janosi, dessen Antrittsvorlesung er miterlebte. Die altösterreichische Aura, die dessen Habitus verströmte, die eigenwillige Eleganz und Kultiviertheit eines Mannes, der mit Gustav Mahler und Sigmund Freud bekannt gewesen war, faszinierten den jungen Hanisch. Das Vorbild tut noch immer seine Wirkung : Ein gewisser sentimentaler Hang zur altösterreichischen Noblesse ist nicht zu übersehen. Von Engel-Janosi lernte er wohl, die Geschichte mit intellektueller Leidenschaft zu betreiben, von ihm übernahm er die Abneigung gegen die »Geschichtsbeamten«. Der ästhetischen Dimension der Geschichtsschreibung galt seither Hanischs Interesse, jedoch zog er stets eine klare Grenze : Die literarische Form der Rekonstruktion von Vergangenheit darf nicht auf Kosten methodischer Gewissenhaftigkeit gehen. Auch die für Ernst Hanisch typische Liebe zur Theorie, seine Überzeugung, dass die Theorien es sind, die es erst ermöglichen, die relevanten Fragen an die Quellen zu stellen und die Problemstellung zu erfassen und zu formulieren, gehen wohl ebenfalls auf Einflüsse des alten Herrn Engel-Janosi zurück. Nicht untypisch für eine ganze Generation erscheinen die Themen, denen sich der Student zu allererst zuwendete. Der vom Sohn respektierte und geliebte Vater war Mitglied der NSDAP, die ersten Arbeiten des Geschichtsstudenten befassen sich mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die »Rebellion« gegen den toten Vater geht mit einem schwer zu lösenden Widerspruch einher : Die emotionale Hingezogenheit zum Vater einerseits und die rationale Ablehnung dessen politischer Haltung andererseits sind nicht nur für ihn, sondern für große Teile einer ganzen Generation ein kaum zu lösendes Problem. Das Thema Nationalsozialismus begleitet den Historiker Hanisch sein Leben lang : Gegenwärtig ist er mit dem Projekt einer Aufarbeitung der Geschichte der Stadt Salzburg zur Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt. Ernst Hanisch bezeichnete sich in seiner Abschiedsvorlesung – und auch sonst gerne – als der 68er Generation zugehörig. Auf mich, der ich in ebendiesem ominösen Jahr 1968 das Studium der Geschichte in Salzburg aufnahm und der einer auch unter so provinziellen Bedingungen wie in Salzburg merkbaren Aufbruchsstimmung mit Faszination begegnete, erschien dieser seriöse, bebrillte ältere Herr – Ernst war damals schon 28 ( !) – alles andere zu sein als ein Vertreter oder auch nur Sympathisant der Protestgeneration. Schon sein Kurzhaarschnitt und die mangelnde Scheu, ein so »bürgerliches« Kleidungsstück wie ein Sakko zu tragen, war für unsere Ge-
Zur Person
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neration ein Symbol der Zugehörigkeit zu einem System, das infrage zu stellen uns als vordringlich und notwendig erscheinen wollte. Auffallend war sein Hang zur sokratischen Methode : Wer durch ein nonkonformistisches oder aufmüpfig-kritisches Verhalten auffällig wurde, musste gewärtig sein, sich seinen intensiven und vordergründig auch naiv formulierten Fragen ausgesetzt zu sehen. Dass er sich schon 1964 im Privatissimum von Engel-Janosi ein Semester lang mit dem Marx’schen »Kapital« auseinandergesetzt hatte, wusste ja niemand. Damals war ich nicht der Einzige, der nicht erkannte, dass es weniger die Ablehnung der Anliegen und des Verhaltens der »Protestierer« war, die hinter seiner Neigung zum Widerspruch stand, sondern auch ein ansehnliches Maß an Sympathie und vor allem die Freude an der intellektuellen Schärfe einer Debatte, wie sie für Hanisch bis heute kennzeichnend ist. Damals und auch später ist es aber nicht jedem studentischen »Opfer« seiner Debattierlust klar geworden, dass sich hinter seinem Widerspruch und seiner Gegenrede echte Wertschätzung verborgen hat. Diese Freude am Streitgespräch, die unbedingte Bereitschaft zur Kritik, ist sicher einer seiner kennzeichnenden Wesenszüge. Manche gingen nicht ohne Verletzungen aus den verbalen Konfrontationen hervor, insbesondere jene, die eine andere charakterliche Seite nicht zu erkennen vermochten : seine außerordentliche Fähigkeit und Bereitschaft, auch die Kritik seines Gegenübers an seinen Standpunkten zu akzeptieren und zu schätzen. Nach erfolgter Promotion in Wien verschlug es den jungen Historiker schließlich nach Salzburg. Erika Weinzierl ging 1964 als junge Dozentin und Leiterin des Instituts für kirchliche Zeitgeschichte an das dortige Internationale Forschungszentrum und mit ihr der Stipendiat der Fritz Thyssen-Stiftung, der 1967 zu ihrem Assistenten avancierte. Weinzierl wurde zu einer seiner wichtigsten Bezugspersonen, noch heute weiß er ihr ausschließlich Rosen zu streuen. Im Assistentenseminar am Forschungszentrum herrschte eine Atmosphäre, die die leidenschaftliche Diskussion ermöglichte und förderte. Die Überzeugung, dass Kritik zum Kern der Wissenschaft gehöre, festigte sich, der junge Assistent beschäftigte sich mit Karl R. Popper und verfolgte den Dialog zwischen Theologie und Marxismus in der Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils. Sein damals erschienenes Werk, eine geistesgeschichtlich angelegte Studie zu den großen Denkern, findet heute wenig Gnade vor seinem kritischen Blick. Zu ebendieser Zeit wurde Hanisch mit einer Art »Erweckungserlebnis« konfrontiert, hervorgerufen durch die ersten Publikationen Hans-Ulrich Wehlers und Jürgen Kockas, die einen neuen Stern am Himmel der Geschichtswissenschaft aufgehen ließen : die Sozialgeschichte. Die Habilitationsschrift befasste sich indes noch einmal mit Karl Marx : »Der kranke Mann an der Donau. Marx und Engels über Österreich.« Diese Tatsache allein hat ihm in so manchen Kreisen den Ruf eingetragen, »Marxist« (gewesen) zu sein, ein Vorwurf, der ungerechter nicht sein könnte. Hanisch war nie Marxist,
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vielleicht »Marxologe«, der seinem Gegenstand mit kritischem Interesse gegenüberstand. Aber die Kenntnis der marxistischen Klassiker half, gegenüber der kritischen Studentengeneration zu bestehen. Das Ausbleiben studentischen Protests und politischen Engagements nach dem Abklingen der 68er-Bewegung hat Ernst Hanisch immer bedauert, wohl deshalb, weil ihm so ein »intellektueller Reibebaum« auf Dauer abhanden gekommen ist. Die Bekanntschaft mit den Thesen Wehlers und Kockas einerseits, die Begeisterung für die Geschichtsschreibung der französischen »Annales« andererseits beeinflussten seine Hinwendung zur Salzburger Zeitgeschichte, der nach einigen Aufsätzen 1983 das Buch »Nationalsozialistische Herrschaft in der Provinz. Salzburg im Dritten Reich« folgte. 1994 erschien sein Hauptwerk : »Der lange Schatten des Staates«, ein Buch, das 12.000 Mal verkauft wurde, viele positive Reaktionen auslöste, aber auch Kontroversen provozierte. Sein Bekenntnis zur Kritik als wichtiger Teil der Wissenschaft wurde dabei hin und wieder auf eine harte persönliche Probe gestellt. Was einige seiner Kritiker zu wenig in Rechnung stellten : Hanisch legte etwas vor, was in der Geschichtswissenschaft schon sehr selten geworden war. Die »große Erzählung« der Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, die weit über die Schubläden der Fachkollegen hinaus von einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurde, ist ein Beispiel dafür, dass die Erzeugnisse der Geschichtswissenschaft nicht automatisch auf die scientific community beschränkt bleiben müssen und dass ihre Ergebnisse auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können. Die Tatsache, dass eine derartige Gesamtdarstellung bei einigen Kapiteln mehr, bei anderen weniger auch auf die bereits vorliegenden Forschungsergebnisse zurückgreifen muss, ist naheliegend, eine darauf zielende Kritik vernachlässigt die vorgenannten Vorzüge. Von feministischer Seite wurde dem Buch angelastet, es mache die Frauen historisch zu wenig präsent. Diese Kritik gab den Anstoß zu einer weiteren Publikation »Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts«, das Hanisch ausdrücklich als Abschiedsgeschenk an die Universität Salzburg betrachtete, an der er sein gesamtes wissenschaftliches Leben verbracht hat und die ihn, wie er in seiner Abschiedsvorlesung betonte, immer gut behandelt hat. Seit 2005 ist Ernst Hanisch im Ruhestand, als Professor, nicht als Historiker, wie er zu sagen pflegt. Zu wünschen ist ihm, dass eine weitere Facette seiner Persönlichkeit jetzt stärker Geltung beanspruchen darf : seine Naturverbundenheit, insbesondere seine Freude an der Schönheit der Kärntner Berge. Neben der historischen Wissenschaft hängt er ja noch einer weiteren mit großer Leidenschaft an : der Mykologie, in der sich besser zu orientieren ihm ein Anliegen ist. Dass er über die Eigenschaft verfügt, sich über solche Dinge – fernab der Geschichtswissenschaft – herzlich erfreuen zu können, auch das macht Ernst Hanisch so schätzenswert.
Christoph Kühberger
Der Lehrer Ernst Hanisch
In der gebotenen Kürze eines Vorwortes ein vollständiges Bild Ernst Hanischs aus der Sicht eines »Schülers« zu zeichnen, ist nicht möglich, weshalb ich darauf vertraue, dass in der Form des anthropologischen Schreibens jene Züge sichtbar werden, die sich tief in meinen Erinnerungsschichten eingenistet haben. Es handelt sich dabei um Momente, die ich schon oft erzählt habe, wenn man mich nach meinem Doktorvater fragte, um dessen Esprit und akademischen Geist auf den Punkt zu bringen. Wenn man – wie ich – in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts an der Universität Salzburg Geschichte studierte, konnte man Ernst Hanisch noch als Professor in der Lehre erleben. Das Wissen darüber, dass »der Hanisch« viel, wenn nicht zu viel von seinen Studenten und Studentinnen zu verlangen pflegte, gehörte zu den mündlichen Überlieferungen von einer Studentengeneration zur nächsten. Die Seminare waren dann auch ungemein anspruchsvoll und man wurde alsbald mit der Tatsache vertraut gemacht, dass man mit einer Literaturrecherche allein nicht weit kommen würde. Das Aufsuchen der Archive und Bibliotheken zur Nutzung von historischen Quellenbeständen war für die Bewältigung der gestellten Forschungsfragen der zeitgeschichtlichen Seminare unerlässlich. Nicht selten war zu beobachten, dass sich die Seminaristen aus der Salzburger Provinz sogar auf den Weg machen mussten, um im fernen Wien nach geeigneten Quellen für eine Seminararbeit zu suchen. Diesem Umstand war es auch zu verdanken, dass die Seminare nicht überlaufen und die Referate und Seminararbeiten oft von ungewöhnlicher Qualität waren. Das Erlebnis Archivarbeit wurde für uns Studierende so eine sinnliche Erfahrung, die wesentlich zum Beruf des Historikers/der Historikerin gehört. Ernst Hanisch, das war merkbar, ging es beim Erarbeiten von Geschichte eben auch um das Sensitive. In einem Vortrag rekurrierte er dazu auf das »Archivfieber«, das er als Phänomen bei Carolyn Streedman fand : »Das Archivfieber bricht im Hotel in der Stunde der Dämmerung, in der ›Stunde der Dämonen‹ aus, wenn sich der Historiker schlaflos im Bett wälzt. Der Staub, die Gerüche der Vergangenheit der Benützer des Bettes vor ihm, der Staub des Archivs machen ihn unruhig. Das Hotel ist zu teuer, das Archiv sperrt zu früh ; und endlose Reihen der Kartons, die er noch nicht gelesen hat, türmen sich vor ihm auf. Die zahlreichen Stunden der Enttäuschung und Verzweiflung kehren zurück, wo man in dem Wust der Massenquellen nicht findet, was man sucht. Wiegen das die wenigen Momente des Glücksgefühles auf, wenn man tatsächlich etwas Entscheidendes findet ? Und die beunruhigendste Frage :
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Christoph Kühberger
Der Historiker denkt an die unendliche Flut der Vergangenheit und an die wenigen Sandkörner, die im Archiv übrig bleiben. Streedman beendet ihren Text mit dem Satz : ›Archivfieber, tatsächlich ? Ich kann dir alles über Archivfieber sagen !‹«1 Dieses »Archivfieber« gehörte in Hanischs Lehre und Forschung sicherlich zu den bestimmenden Faktoren. Die emotionale Hinwendung zur forschenden Tätigkeit des Historikers war er auch in der Lage, weiterzugeben. Um uns Studierenden zu zeigen, worin eine der Hauptaufgaben des Historikers/der Historikerin besteht, wurde uns ein hohes Maß an Enthusiasmus abverlangt. Um die frontal inszenierte Lehrsituation im Seminarraum zwischen der Professionalität des Zeithistorikers und der Semi-Professionalität der Studentenschaft aufzubrechen und um uns Studierende aus der Passivität zu locken, verfolgte Hanisch die Taktik, das Mittel der Provokation geschickt zum Einsatz zu bringen. Eine Episode, die verdeutlicht, wie Ernst Hanisch agierte, um einer scheinbar menschenleeren Struktur ihr »Fleisch« zurückzugeben,2 ereignete sich in einem Seminar zur Geschichte der Männlichkeiten. Zum Auftakt der Veranstaltung wurde im Plenum versucht, ein Begriffsfeld zu »Männlichkeit« zu erstellen, das anthropologisch gesättigt sein sollte. Als wir Studierenden mit unserem Latein am Ende waren, konnte man eindeutig spüren, dass Hanisch noch auf etwas hinauswollte, was ihm unter den Fingernägeln brannte. Im nicht unproblematischen Frage-Antwort-Spiel versuchten wir mit ihm, seine Gedanken zu erraten, was jedoch nicht von Erfolg gekrönt war. Hanisch versuchte es daher nicht mehr auf konzeptionell-theoretischer Ebene mit einem elaborierten sozialwissenschaftlichen Begriffsapparat, sondern über die »Authentizität« der historischen Quelle. Er fragte, soweit ich mich erinnern kann : »Haben Sie noch nie Feldpostbriefe gelesen ? Nein ? Was schreiben die Männer dort ? Was bewegt sie ?« Die so befragte Studentenschaft schwieg. Und nach einiger Zeit Stille, die wie eine unerträgliche Ewigkeit im Seminar hing, erlöste uns Hanisch mit einer plötzlichen, erregten und aufgewühlten, einen Anflug der Verärgerung enthaltenden, stimmgewaltigen Ausführung, indem er uns in drastischen Worten, an die zum Ausdruck gebrachten fleischlichen Bedürfnisse der Feldpostbriefschreiber erinnerte. Die Reaktionen auf seinen sprachlichen Realismus waren frappierend. Studierende, die Hanischs Hang zur Provokation und die Nutzung sämtlicher sprachlichen Register noch nicht kannten, lachten überrascht oder verschämt. Andere genossen genau diese Augenblicke der provokanten sprachlichen Zuspitzung. Historische Anthropologie zwischen alltagssprachlichem Erleben und fachtheoretischer Einordnung konnte so erfahrbar gemacht werden, und wenngleich der didaktische Weg nicht allen gleich gut geeignet erschien, war er für das Erlernen der Anfertigung von lebendigen historischen Erzählungen durchaus brauchbar, um narrative Spannung aufzubauen und um damit auch dem »cultural turn« gerecht zu werden. Noch intensiver verliefen die Privatissima für Diplomanden und Doktoranden. Diese hielt Ernst Hanisch regelmäßig in seinem Büro ab. Es lag im zweiten Stock des
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Hauses der Gesellschaftswissenschaften und das Zimmer war nicht rechteckig, sondern unterschied sich von den standardisierten Konventionen der restlichen Räume des Hauses. Welche Auswirkungen die schrägen architektonischen Achsen des Raumes auf das geschichtswissenschaftliche Schaffen des Bewohners hatten, lässt sich schwer feststellen. Überall in seinem Büro konnte man Stöße von Büchern sehen, gespickt mit beschriebenen Erinnerungsstützen und Notizblättern – wahrscheinlich mit Ideen und Anmerkungen zum Gelesenen. Der Charme des Ortes, an dem Clio ihn aufsuchte und küsste, erwuchs aus den Kleinigkeiten und Details, die sich in meinen Erinnerungen verfingen. So war am Beginn des 21. Jahrhunderts auch der Bleistift sein Freund und wichtigstes Arbeitsmittel und nicht der Computer, dessen Inanspruchnahme er – so weit es ging – zu vermeiden wusste. Manchmal, wenn man unangemeldet in das Reich von Ernst Hanisch einbrach, traf man ihn eine Pfeife rauchend und lesend im Schaukelstuhl an. Das Möbelstück aus Rattan hob sich von der ansonsten einfachen und nüchternen Einrichtung der Bundesbeschaffung deutlich ab. Dieser Stuhl war für mich Symbol für die spezifische Art seines historischen Arbeitens, das sich von studentischen Gewohnheiten so grundlegend unterschied. Die Freude am Lesen und das ausführliche Reflektieren und Kommentieren des Gelesenen gehörten eben zu Hanischs Arbeitsstil. Unvergesslich aber auch der Geruch des Raumes : Der Duft süßlichen Tabaks lag oft in der Luft, der unverkennbar einer seiner vielen Pfeifen entströmte. Die Praktiken jedes Historikers/jeder Historikerin unterscheiden sich ja gerade im Hinblick auf die Wege, um die Rekonstruktion und Analyse der Vergangenheit zu bewältigen bzw. um jenen Rahmen zu schaffen, um Vergangenheit als Geschichte denken zu können. Die hier niedergeschriebenen knappen und schlaglichtartigen Erinnerungen an die Person Ernst Hanischs als »Universitätslehrer« zeigen Ansichten des alten Professors und müssten um die Episoden des jungen Assistenten ergänzt werden, wie sie andere zu erzählen wissen. Über die Persönlichkeit von Ernst Hanisch ist mit der Wiedergabe dieser ungeordneten Eindrücke noch nicht allzu viel gesagt. In den Vorworten zu seinen Büchern kann man jedoch noch so manch anderen Hinweis zum Privatmann Hanisch finden.3 Wenn ich heute behaupten kann, dass mich sein wissenschaftlicher Habitus zutiefst beeinflusst und geprägt hat, so beruht dies vor allem auf der sichtbaren und ansteckenden Begeisterung, mit der Ernst Hanisch die Geschichtswissenschaft betreibt. Der hohe Anspruch, den Hanisch als Zeithistoriker an sich und als Universitätsprofessor an seine Studierenden stellt(e), sehe ich als Mahnung an mich selbst, eine ähnliche Offenheit gegenüber neuen Strömungen der Geschichtswissenschaft aufrechtzuerhalten. Auch wenn man Ernst Hanisch heute nicht mehr regelmäßig im Hörsaal antreffen kann, so gibt es doch noch hin und wider Gelegenheit, ihn bei Vorträgen zu erleben, und dann macht es nach wie vor Spaß, seinen intellektuellen, klugen und oft unkonventionellen Anmerkungen zur Geschichte zu folgen, die das
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Christoph Kühberger
Auditorium dazu drängen, zu widersprechen oder zuzustimmen, kurz : die Lust auf Geschichte machen.
Anmerkungen 1 Hanisch, Ernst : Archiv und Zeitgeschichte – ein notwendiges und spannungsreiches Verhältnis, 2003. In : Scrinium, 57/2003. S. 24–34. – Vgl. Streedman, Carolyn : Something She Called a Fever : Michelet, Derrida, and Dust. In : The American Historical Review 106/2001. S. 1159–1180. 2 Vgl. zu diesem Bild : Hanisch, Ernst : Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994. S. 10. 3 U.a. Hanisch, Der lange Schatten, S. 16f. – Hanisch, Ernst : Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wien 2005. S. 9. – Interessant ist auch sein oft implizit autobiographischer Zugang zu bestimmten Fragestellungen, vgl. etwa Hanisch, Ernst : Der Verlust der Bärte. Zur politischen Kultur der Wendehälse. In : »Dürfen’s denn das ?« Die fortdauernde Frage zum Jahr 1848. Hg. v. S. P. Scheichl. Wien 1998. S. 249–254.
Franz Schausberger
Ernst Hanisch und das Prinzip der Offenheit
Es liefen die Vorbereitungen für das von Landeshauptmann Wilfried Haslauer ausgerufene Salzburg-Jahr 1985. Als Landesparteisekretär der Salzburger ÖVP hatte ich die Aufgabe, einen Beitrag dazu zu leisten. Von der Geschichte schon immer fasziniert und beeindruckt von den regionalgeschichtlichen Publikationen des Salzburger Historikers Ernst Hanisch entschloss ich mich zur Herausgabe eines Buches zur Geschichte der Salzburger ÖVP. Es sollte nicht eine umfassende, durchgehende Geschichte der Salzburger Volkspartei sein, sondern sich vor allem mit der Aufarbeitung der Anfangsjahre nach 1945 befassen. Ich selbst nahm mir vor, die Jahre 1945 bis 1949 zu bearbeiten. Ich wollte keine Jubelschrift. Das Buch sollte auch dem Urteil von Fachhistorikern einigermaßen standhalten. Dazu brauchte ich Rat und fachliche Begleitung. Mein Wunschkandidat dafür war Ernst Hanisch. Mit großem Interesse las ich Hanischs Veröffentlichungen zu landesgeschichtlichen Themen vor allem des 20. Jahrhunderts. Die von ihm geprägte »regionale Zeitgeschichte« beeinflusste ganz stark auch meine regionalhistorischen Forschungen. Ich war mir aber keineswegs sicher, ob er, der katholisch-liberale politisch Unabhängige, sich auf ein solches »parteipolitisches« Projekt einlassen würde. Über meinen Freund Franz Riedl versuchte ich, Kontakt zu Ernst Hanisch, den ich persönlich noch nicht kannte, aufzunehmen. Wir trafen uns im Restaurant Pitter. Das war gleich nach der Landtagswahl 1984. Er war von meinem Vorhaben sofort angetan und meinte, dass die ÖVP ohnehin viel zu lange ein eher gestörtes Verhältnis zu ihrer eigenen Vergangenheit gehabt hätte. Sich nur auf Seipel und Kunschak, Figl und Raab zu konzentrieren, sei auf Dauer zu wenig. Er wolle mir für dieses Projekt gerne beratend zur Seite stehen, allerdings müsse es kritischen historischen Kriterien entsprechen. 1985 erschien schließlich das Buch »Im Dienste Salzburgs – Zur Geschichte der Salzburger ÖVP«. Hanisch bezeichnete es als »differenzierte, abgewogene Studie« und verlieh mir damit – so empfand ich es zumindest – die niedrigen historischen Weihen. Drei Jahre später, 1988, veröffentlichte ich die Monografie über den christlichsozialen Bürgermeister der Stadt Salzburg Josef Preis. Und wieder hatte Ernst Hanisch mich dazu ermutigt und war mir mit Rat zur Seite gestanden. Er stellte dazu fest, dass die »große« Geschichte im luftleeren Raum schwebe, wenn sie nicht regional fundiert werde. Als »passionierter Regionalhistoriker«, der er damals war, drückte er seine Freude darüber aus, dass die regionale Zeitgeschichte keine Domäne der Uni-
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Franz Schausberger
versität blieb, sondern auch »außerhalb des akademischen Elfenbeinturmes« aufgegriffen, diskutiert und erforscht wurde.1 Mich beeindruckte Hanischs »Lust auf Theorien«, die seine neue Regionalgeschichte unter dem Einfluss der »Annales« kämpferisch von der traditionellen Landesgeschichte und Heimatkunde, betrieben oft von »Dilettanten«, abzugrenzen versuchte. Andererseits wollte er bewusst der »Arroganz der Wissenschaftler – speziell derjenigen an den Universitäten« durch eine aufgeschlossene, methodisch innovationsbereite und auf die internationale wissenschaftliche Entwicklung achtende Regionalgeschichte entgegentreten.2 Wie Hanisch interessierte auch mich der Nationalsozialismus auf regionaler und lokaler Ebene, ein Bereich, der bis dahin kaum bearbeitet war. Während Hanisch sich vor allem der Zeit widmete, als die Nationalsozialisten schon an der Macht waren, stürzte ich mich auf die Frage, wie der Nationalsozialismus auf Orts- und Landesebene so groß werden konnte. Ich widmete mich also dem Phänomen des Aufstiegs des Nationalsozialismus Anfang der Dreißigerjahre. Wie agierten sie in den Landesparlamenten, in die sie 1932 gewählt worden waren ? Als ich Hanisch vom Vorhaben dieser vergleichenden Studie informierte, ermutigte er mich wiederum. Als ich fast fertig war, überraschte er mich mit der trockenen Frage, ob ich doch wohl daran dächte, diese Arbeit als Habilitationsschrift einzureichen. Selbstverständlich tat ich dies mit Freude und ich wusste, ohne sein positives Urteil und ohne seine aufrichtige Ermunterung würde dieses ehrgeizige Vorhaben einer Habilitation nie verwirklicht werden können. Andererseits war mir klar, dass er mich nie in ein solches Abenteuer schicken würde, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, dass es zumindest gute Aussichten auf ein positives Ergebnis gehabt hätte. Das war eben Hanisch : Auch wenn er wusste, dass das Ansinnen eines Parteipolitikers, noch dazu aus dem christdemokratischen Lager, sich in österreichischer Geschichte der neueren Zeit zu habilitieren, geradezu als Provokation aufgefasst und auf heftigen Widerstand stoßen würde, animierte er mich mit aktiver Unterstützung, ohne Zaudern den Weg unbeirrt zu gehen. Er war offensichtlich davon angetan, dass jemand aus der aktiven Politik seine langjährige Kenntnis der praktischen politischen Abläufe und Zusammenhänge mit der historischen Theorie kombinieren könnte. Er war überzeugt von der Fruchtbarkeit der Konstellation Politiker und Historiker, da kein Historiker so viel Insiderwissen wie ein Politiker erwerben könne. Die feinen Mechanismen der Macht, die Tricks der Politik kann nur ein Praktiker aufhellen, schrieb er einmal in einem Gutachten. Er war sich aber auch der Gefahr bewusst, dass der Politiker die notwendige kritische Distanz des Wissenschafters leicht verlieren könnte. Er ging das Wagnis meiner Habilitation trotzdem ein und resümierte 2006, dass es mir gelungen war, auch andere politische Positionen fair zu beurteilen und ein ausgewogenes Zeitbild zu entwerfen. Außerdem : Offenheit, Liberalität und Freiheit waren schon immer seine besonderen Charakteristika. Er lebte sie selbst konsequent (manchmal auch zum Leidwe-
Ernst Hanisch und das Prinzip der Offenheit
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sen ihm Nahestehender) und forderte sie auch anderen ab. Die Offenheit gegenüber allen politischen Richtungen wollte er damit auch seinem Institut abzwingen. So gelang schließlich, was ich nie für möglich gehalten hätte : Ich habilitierte mich in Neuerer Österreichischer Geschichte. Hanischs Lust an der Infragestellung ist legendär, ebenso aber seine Unduldsamkeit gegenüber dummen Argumenten. Seine immer wieder ausgesprochene Aufforderung, seine Arbeiten kritisch zu hinterfragen, sind ernst und ehrlich gemeint, auch wenns ihn manchmal in seiner durchaus vorhandenen Eitelkeit trifft. Auch er kritisiert präzise und ohne Umschweife, was manchen trifft. Streiten lässt sich mit ihm trefflich, vor allem weil er weit über seinen ureigensten Fachbereich hinaus bestens informiert ist. Vor allem in der Literatur. Auch das gezielte Fragen, Zuhören und Abwägen zählt zu seinen herausragenden Eigenschaften, die ihn stark machen. Die Fähigkeit, eigene Fehler auch einzugestehen und freimütig zu bekennen, ist ihm in einer Form wie wenigen anderen eigen. Vom Alter her trennen uns zehn Jahre. Er ist Jahrgang 1940, ich 1950. Aber beide gehören wir der sogenannten 68er-Generation an. Er machte sie von Anfang an mit, ich kam 1968 an die Salzburger Universität, also mitten hinein. Beide aus kleinen bürgerlichen Verhältnissen kommend, mit einem »unbändigen sozialen Aufstiegswillen« ausgestattet. Ich wollte, so wie Ernst Hanisch auch, Journalist werden und war es kurze Zeit auch. Dies entsprang anderen Gemeinsamkeiten : Er war immer – wie er in seiner Abschiedsvorlesung kundtat – ein Leser und ein Schreiber. Ich beneidete immer glühend alle, die sozusagen »hauptberuflich« die Möglichkeit hatten, zu lesen und zu schreiben. Ich zwackte mir die Zeit dafür immer wieder ab, weil ich ein geradezu geistig-erotisches Verhältnis dazu hatte. Ernst Hanischs Bücher sind auch für den Nicht-Fachhistoriker faszinierend und interessant lesbar. Das entspringt seinem Bekenntnis zu Präzision, Farbigkeit des Ausdrucks und Leidenschaft für die Sprache. Nur wenn beides zusammenkommt : abstrakte Durchdringung der Quellen und Fleisch, Sinnlichkeit, Sensibilität, nur dann kann wirklich etwas Gutes entstehen. Diese Herausforderung stellt sich für ihn jeden Tag am Schreibtisch neu.3 Leidenschaft und Sinnlichkeit sind auch dem 70-jährigen Ernst Hanisch nicht abhandengekommen. Dass er in den letzten Jahren zunehmend Gefallen an Tradition und barocken Riten und Formen findet, zeugt von der Grunddisposition als Genussmensch. Die Übernahme von (administrativen) Funktionen an der Universität lehnte Ernst Hanisch praktisch immer mit dem Hinweis ab, dies nehme ihm Zeit fürs Forschen, Publizieren und Lehren weg. Seine Arbeit war und ist von einer bewundernswerten Disziplin geprägt : Jeden Tag zumindest eine Seite schreiben ist der Grundsatz des manischen Arbeiters. Wenn man regelmäßig mit Ernst Hanisch auch in privatem Freundeskreis beisammen ist, lernt man auch die andere Seite des oftmals distanziert wirkenden, von
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seiner Fachkompetenz überzeugten Wissenschafters kennen : der charmant-witzige Plauderer, der den schönen und angenehmen Seiten des Lebens in keiner Weise abgeneigt ist. Im Gegenteil. Trotzdem sind ihm Fraternisierung und Kameraderie zuwider, gerade an seine Freunde stellt er hohe Ansprüche. Oberflächlichkeit und Plattheit deckt er schonungslos auf. Seine wissenschaftliche Korrektheit, sein akademisches Ethos geht ihm über alles. Da passiert es dann, dass er wegen der engen persönlichen Verbundenheit mit Franz Schausberger die Mitarbeit an der historischen Aufarbeitung der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts in Salzburg ablehnt. Ernst Hanisch ist ein Glücksfall für die österreichische Zeitgeschichtsforschung, ein Glücksfall für die Salzburger Universität und ihr Historisches Institut und erst recht ein Glücksfall für alle, mit denen er freundschaftlich verbunden ist.
Anmerkungen 1 Ernst Hanisch : Vorwort. In : Franz Schausberger. Eine Stadt lernt Demokratie. Bürgermeister Josef Preis und die Salzburger Kommunalpolitik 1919–1927. Salzburg 1988. S. 5. 2 Vgl. Ernst Hanisch : Regionale Zeitgeschichte. Einige theoretische und methodologische Überlegungen. In : Zeitgeschichte. Heft 2/ 1979. S. 39 f. 3 Vgl. Ernst Hanisch : Zeitgeschichte als politischer Auftrag. In : Zeitgeschichte. Heft 3/1985. S. 89.
Robert Kriechbaumer
Welcher Staat ? Die Christlichsoziale Partei und die Republik 1918–1920
»… die einzige Garantie …, uns vor der Anarchie zu bewahren.« (Karl Renner) Die Ausrufung der Republik am 12. November 1918. Das Ende der Monarchie 1918 vollzog sich in einer weitgehend von außen bestimmten Dynamik des Desintegrationsprozesses der Habsburgermonarchie, war Ergebnis der militärischen Niederlage und des durch alliierte Kriegszielpolitik verstärkten irreversiblen Nationsbildungsprozesses, dem Kaiser Karl I. am 16. Oktober 1918 in seinem »Völkermanifest« vergeblich gegenzusteuern versuchte, indem er die Umwandlung des Reiches in einen Bundesstaat ankündigte. Dem Aufruf, Nationalräte aus den Reichsräten jeder Nation zu bilden, folgten die 232 deutschsprachigen Mitglieder des cisleithanischen Abgeordnetenhauses am 21. Oktober und konstituierten sich als »Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich«. Die Provisorische Nationalversammlung agierte bis 30. Oktober noch im Rahmen des Völkermanifests Kaiser Karls I. An diesem Tag löste es sich mit dem Beschluss, die oberste Gewalt in Deutschösterreich zu beanspruchen und der Ernennung von Vollzugsorganen (»Vollzugsausschuss« bzw. »Deutschösterreichischer Staatsrat«) aus dem monarchischen Rahmen.1 Bis zum 12. November existierten somit de jure zwei Staaten und zwei Regierungen nebeneinander. Wenngleich die Enunziationen des Parteitags der SDAPÖ am 1. November 1918 bereits unmissverständlich in Richtung Republik wiesen und von einer de facto republikanischen Staatsgründung ausgingen, so war noch keine Entscheidung über die Staatsform gefallen. In den »Bedingungen für den Eintritt der Sozialdemokratie in die deutsch-österreichische Regierung«, die in der Nachtsitzung des Vollzugsausschusses vom 30. auf 31. Oktober 1918 angenommen wurde, hieß es im Kapitel »Staatsverfassung« : »Die endgültige Entscheidung darüber, ob Deutsch-Österreich Monarchie oder Republik wird, bleibt der Konstituante überlassen.«2 In der Debatte der Provisorischen Nationalversammlung hatte der deutschliberale Abgeordnete Leopold Waber wohl die Meinung der Mehrheit der Abgeordneten zum Ausdruck gebracht, als er bemerkte, es werde »wohl der Volksabstimmung überlassen bleiben«, ob das Volk »für die Monarchie oder die Republik ist«.3
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In diesen zwölf Tagen unternahm Kaiser Karl verzweifelte Schritte, die Monarchie zu retten, indem er die Katholische Kirche und die Christlichsoziale Partei zur Ablehnung der immer evidenter werdenden republikanischen Entwicklung aufforderte. Dabei stützte er sich auf den Umstand, dass die Christlichsozialen von einer Oppositions- zur schwarz-gelben Staatspartei mutiert waren, die noch während des parlamentarischen Transformationsprozesses, ebenso wie der Verband der deutschnationalen Parteien, am 21. Oktober 1918 verlauten ließ, man werde zwar in Richtung einer Demokratisierung Deutsch-Österreichs arbeiten, jedoch im Rahmen einer monarchischen Staatsform. In seinen handschriftlichen Aufzeichnungen bemerkt Kaiser Karl I : »Am 9. November sandte ich dem Kardinal (Theodor Piffl, Anm. d. Verf.) einen Brief, mit der Bitte, auf die Christlichsozialen und ihren Präsidenten, den geheimen Rat Hauser einzuwirken, damit sie nicht für die Republik stimmen möchten. Der Kardinal sprach mit Hauser und der gab ihm sein Ehrenwort, dass er sowohl persönlich gegen die Republik stimmen als auch die Abgeordneten im Sinne der Monarchie beeinflussen werde. Wie er gestimmt hat, weiß ich nicht, jedenfalls war er, Hauser, nach wenigen Tagen Obermacher bei den Republikanern. Als der betreffende Herr, der den Brief an den Kardinal überbrachte, zum Kardinal hineinging, verließ eben Seipel das Zimmer. Der Kardinal erwähnte jenem Herrn gegenüber, die Regierung bereite eine Erklärung des Kaisers vor, die den Christlichsozialen freie Hand ließe. Diese Nachricht dürfte von Seipel gestammt haben.«4
Der 9. November fungierte als Katalysator der endgültigen Entwicklung in Richtung Republik. Er traf sich mit der endgültigen politischen Wende der Christlichsozialen in Richtung Republik. Es waren die Entwicklung im Deutschen Reich und die drohende Radikalisierung vor allem in Ostösterreich einerseits sowie der Druck aus den westlichen Bundesländern andererseits die sowohl die Sozialdemokraten wie auch die Christlichsozialen zum endgültigen republikanischen Schwenk am 12. November veranlassten. Am 9. November 1918 berichtete ein sichtlich ergriffener Staatssekretär für Äußeres Viktor Adler dem Staatsrat, dass derzeit »alle Ereignisse … unter dem Geschehen der Stunde«, der Abdankung von Kaiser Wilhelm II. und seiner Erben, stünden. Reichskanzler Prinz Maximilian von Baden werde in einer offiziellen Erklärung die Ereignisse mitteilen und Wahlen für eine verfassunggebende deutsche Nationalversammlung ankündigen. Diese solle die zukünftige Staatsform »einschließlich der Volksteile, die ihren Eintritt in die Reichsgrenzen wünschen sollten, … feststellen. Ich will mich nicht darüber äußern, welch’ wirklich erschütternde Wirkung diese
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sich in den einfachsten Formen vollziehende Revolution in Deutschland auf jeden machen muss. Die Sache ist so glatt gegangen, wie man es nie erwartet hätte, und ich bin überzeugt, dass wir Deutsche der Welt auch dafür ein Vorbild geben werden, wie man am glattesten, klassischesten, einfachsten Revolution macht und durchführt. Wir haben der Welt schon viel vorgemacht, wir werden auch das vormachen. Wir in Österreich sind natürlich in der traurigen Lage, nicht die Vormacher, sondern die spät Nachhinkenden zu sein.«5 Der Staatsrat beschloss auf Antrag Viktor Adlers einstimmig ein Telegramm an Reichskanzler Max von Baden, in dem der Hoffnung Ausdruck verliehen wurde, »dass an der Wahl der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung, die die künftige staatliche Ordnung des deutschen Volkes bestimmen soll, auch das deutsche Volk von Österreich teilnehmen wird«.6 Zwei Tage später referierte ein sichtlich erregter Staatskanzler Karl Renner über die politische Lage sowie über einen Gesetzesentwurf über die Staats- und Regierungsform. »Die Ereignisse in Deutschland, die bis zur Stunde in ihrer ganzen Tragweite unserem Volke noch nicht bekannt sind, zwingen uns vorzubauen … Es ist unzweifelhaft, dass das Deutsche Reich eine Republik geworden ist. Der Kaiser von Österreich ist der letzte Monarch auf dem Festland, der letzte Vertreter einer Staatsform und eines Regierungssystems, das durch den Krieg aufs Tiefste erschüttert ist. Wir müssen annehmen, dass auf die ganze Bevölkerung die Ereignisse der letzten zwei Tage eine tiefe Wirkung ausüben. Diese Wirkung ist heute schon fühlbar. Insbesondere sind die Wirkungen dieser Ereignisse auf die Arbeiterschaft ganz außerordentlich. Es haben sich in Deutschland die zwei Fraktionen der Sozialdemokratie, die Rechte und die Linke, vereinigt und die Regierung gemeinsam übernommen. Die Folge dieser Ereignisse bei uns ist, dass das ganze Proletariat einmütig dieselbe Politik von uns fordern wird. Dadurch ist unsere Stellung hier auf das Äußerste bedroht. Es liegen polizeiliche Berichte vor, welche die Existenz dieses Staatsrates berühren. Es handelt sich auf der einen Seite um eine Bewegung der Roten Garde, auf der anderen Seite um eine Bewegung, die ich nicht gerade reaktionär nennen will, die aber, wenn auch aus anderen Gründen, auch die Beseitigung des Staatsrates will. Der Staatsrat beruht auf einer Koalition des Bürgertums, des Bauernstandes und der Arbeiterschaft, um aus der Katastrophe herauszuführen. Da in Deutschland alle sozialdemokratischen Parteien sich vereinigt und die Regierung übernommen haben, ist die erste Forderung, die vom Proletariat an uns gerichtet werden wird, dass wir hier das Gleiche tun. Sie wissen, wie stark die Tendenzen der Arbeiterschaft dahin gerichtet sind, eine Koalition mit bürgerlichen Parteien nicht zuzulassen. Meine Partei hat heute früh eine dringende Beratung abgehalten, und ist zu dem Beschluss gekommen, dass diese Koalition so lange als möglich aufrechtzuerhalten ist, weil sie die einzige Garantie ist, uns vor der Anarchie zu bewahren.«7 Sichtlich erleichtert berichtete Renner schließlich von der bevorstehenden Renunziationserklärung von Kaiser Karl I., die die angespannte Lage sicherlich beruhigen werde. »In dieser außerordentlichen Situation
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ist uns durch kompetente Leute die Kunde geworden, dass Seine Majestät der Kaiser bereit ist, zu verzichten. Dieser wirklich hochherzige Entschluss bietet uns wahrscheinlich die Möglichkeit, ohne große innere Kämpfe und ohne Bürgerkrieg über die gegenwärtige Situation hinwegzukommen und den aufgeregten Massen so viel zu bieten, dass sie nach der provisorischen Änderung der Staatsform beruhigt sind, und das normale Leben im Staate fortgeht, ohne dass die politischen Erschütterungen von sozialen begleitet werden, die wir ja alle am meisten gefürchtet haben. Es fragt sich für uns, ob wir Staatsformen, die von ihren Trägern selbst zur Zeit als unhaltbar empfunden werden, aufrechterhalten sollen, selbst auf die Gefahr hin, dass das soziale Leben dadurch erschüttert wird.«8 Renner wurde von Karl Seitz massiv unterstützt, der ebenfalls auf die revolutionäre Stimmung hinwies, der ein Ventil geschaffen werden müsse. Die Sozialdemokratie habe in der gegenwärtigen Lage »nur noch die Wahl, entweder geordnet mit den anderen Parteien die große Umwälzung vorzunehmen, die notwendig ist, oder uns von den anderen Parteien zu scheiden und den Massen zum Bewusstsein zu bringen, dass wir, ihrem Wunsch entsprechend, unsere eigene Politik, die der Sozialdemokratie, machen und daher jede Verbindung abbrechen. Wir sind der Ansicht, dass Österreich am allerletzten für die Experimente geeignet ist … Wir sind daher der Ansicht, dass wir die Pflicht haben, als verantwortliche Vertreter der Arbeiter mit den bürgerlichen Parteien die Wahl einer Konstituante in die Wege zu leiten und vorläufig das zu machen, was das Gebot der Stunde ist.« Wenngleich Wilhelm Miklas das Verhalten der sozialdemokratischen Politiker und ihr Bestreben um das Vermeiden eines offenen Klassenkampfes würdigte, so sprach er sich mit dem Hinweis auf die fragliche Legitimität der im Jahr 1911 gewählten Abgeordneten der Provisorischen Nationalversammlung dafür aus, dass Entscheidung über die Staatsform durch die Bevölkerung entweder in Form eines Referendums oder aber mittels Wahl der Konstituante erfolgen solle.9 Mit dieser Auffassung befand sich jedoch Miklas in der Christlichsozialen Partei bereits in der Minderheit. Die Partei hatte in den letzten Tagen eine realpolitische Wende in Richtung Republik vollzogen. Für diese Wende gab es eine Reihe von guten Gründen. Angesichts der drohenden Radikalisierung der politischen Landschaft gewann die Argumentation der Sozialdemokratie an Plausibilität und Überzeugungskraft. Für die an sich monarchisch ausgerichteten Wiener Christlichsozialen vollzog Ignaz Seipel, Sozialminister der letzten kaiserlichen Regierung Heinrich Lammasch, die endgültige realpolitische Wende unmittelbar vor der von ihm wesentlich mit verfassten Verzichtserklärung Kaiser Karls I. Bis 10. November war es sein Ziel, dem Kaiser und seinem Ministerpräsidenten die Teilnahme an der bevorstehenden Friedenskonferenz zu ermöglichen.10 Nunmehr zog er aus der irreversiblen Entwicklung die Konsequenzen. Bei Gesprächen im Parlament am 10. November hatten ihn der oberösterreichische Landeshauptmann und Klubobmann der Christlichsozialen,
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Prälat Johann Nepomuk Hauser, sowie der Vorarlberger Abgeordnete Jodok Fink, einer der Präsidenten der Provisorischen Nationalversammlung, über die dominant antimonarchistische Stimmung vor allem der christlichsozialen bäuerlichen Basis in den westlichen Bundesländern in Kenntnis gesetzt. Vor allem die kriegswirtschaftlichen Maßnahmen hatten in weiten Teilen der christlichsozialen Bauernschaft eine antimonarchische und revolutionäre Stimmung, die sich zunehmend auch in der Forderung nach einer Bodenreform äußerte, bewirkt. So erklärte der niederösterreichische Abgeordnete Josef Stöckler am 30. Oktober 1918 in der Provisorischen Nationalversammlung im Namen der christlichsozialen Bauernvertreter, die Bauern würden das Ende der Habsburgermonarchie auch mit der Hoffnung verbinden, dadurch der unerträglich gewordenen bürokratischen Hegemonie zu entrinnen. Zudem hoffe man durch den neuen demokratischen Staat auf die notwendige Beseitigung von Privilegien.11 Friedrich Funder berichtet in seinen Erinnerungen, Prälat Hauser habe ihm gegenüber im Parlament sorgenvoll erklärt : »Leider muss ich dir sagen, in Oberösterreich steht es gar nicht gut. Ich habe eine solche rebellische Stimmung in unserem Lande noch nicht erlebt. Gerade jetzt ist der Bürgermeister von Eferding zurückgekommen : lass dir von diesem alten Unteroffizier – du kennst diesen kernfesten Österreicher – erzählen. Die Stimmung richtet sich gegen den Kaiser.«12 Auch Ministerpräsident Lammasch hatte im Laufe des Tages mit Renner und Seitz die brisante Lage erörtert und mit seinen beiden Gesprächspartnern darin übereingestimmt, dass angesichts der Ereignisse im Deutschen Reich, d. h. der Demission Kaiser Wilhelms II., auch Kaiser Karl I. einen solchen Schritt setzen müsse, wolle man nicht angesichts der Auflösungserscheinungen des staatlichen Machtapparats nicht mehr kontrollierbare und letztlich drohende anarchische Zustände riskieren. Der von geringen Ausnahmen in der Christlichsozialen Partei ausgenommene, parteiübergreifende Konsens bedurfte zu seiner politischen Realisierung nicht nur einer von Renner im Staatsrat bereits detailliert vorgeschlagenen Dramaturgie, sondern – als Voraussetzung – einen entsprechenden Schritt des Kaisers. Die Situation war insofern prekär, als die allgemein als notwendig erkannte politische Dramaturgie durch ein Problem beeinträchtigt zu werden drohte : das Verhalten des Kaisers. Dieser hatte im Vorfeld bereits wissen lassen, dass er an keine Abdankung denke.13 Es war Ignaz Seipel, der in der von Heinrich Lammasch, Edmund Ritter von Gayer, Karl Renner und Karl Seitz am 10. November erarbeiteten Renunziationserklärung des Kaisers die entscheidenden Kompromissformeln einfügte, die die Anerkennung der zu beschließenden Verfassung sowie den Verzicht auf jeden Anteil an den Regierungsgeschäften, nicht jedoch auf die Krone, beinhaltete. In den Mittagsstunden des 11. November unterzeichnete Kaiser Karl in Schönbrunn mit Bleistift die Erklärung. Seipels Kompromissformeln begründete nicht nur die von Renner und Seitz mit dem Hinweis auf die widrigenfalls drohende Erstürmung von Schloss Schön-
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brunn durch revolutionäre Massen und die damit gegebene Gefährdung des Lebens der kaiserlichen Familie unausweichliche Notwendigkeit dieses Schritts,14 sondern ermöglichten den nach wie vor legitimistischen Teilen der Christlichsozialen ein Akzeptieren des am folgenden Tag von der Provisorischen Nationalversammlung einstimmig verabschiedeten Staatsgrundgesetzes und der Proklamation »Deutschösterreichs« als »demokratische Republik«, in der »alle Gewalten vom Volk eingesetzt« werden.15 Nach der Rede von Berichterstatter Karl Renner erfolgte die Abstimmung in einer Minute in völliger Ruhe. Österreich hatte einen revolutionären Akt, den Wechsel seiner Staatsform, in kürzester Zeit und absoluter Ruhe vollzogen. Viktor Adler, der am Vortag verstorben war, hätte darin eine Bestätigung für seine Auffassung vom 9. November gesehen, »dass wir Deutsche der Welt … dafür ein Vorbild geben werden, wie man am glattesten, klassischesten, einfachsten Revolution macht und durchführt.« Dennoch existierte auch nach der Ausrufung der Republik nach wie vor ein tiefer Graben zwischen dem republikanischen und monarchistischen Flügel um Prinz Alois Liechtenstein, der nach wie vor darauf insistierte, dass auch nach der Ausrufung der Republik die Partei ein Bekenntnis zum Haus Habsburg abgeben und damit ihren monarchischen Charakter betonen müsse. Angesichts einer drohenden Parteispaltung ersuchte Friedrich Funder Seipel, in der »Reichspost« eine Artikelserie mit dem Ziel zu schreiben, den republikanischen Schwenk zu begründen und die Einheit der Partei zu retten. Im letzten der insgesamt vier Aufsätze widmete er sich dem innerparteilich sensiblen Thema der künftigen Staatsform und betonte die Notwendigkeit, die Frage Monarchie oder Republik erst dann vom Volk entscheiden zu lassen, »bis es frei vom Drucke des Krieges, frei von der Sorge um den Frieden, vor allem aber frei von jeder Diktatur ist …« Zudem würde gegen eine endgültige Festlegung der Staatsform sprechen, »noch bevor die erste frei gewählte Nationalversammlung zu den Grundlagen unserer künftigen Verfassung Stellung genommen hat, die Wähler und die Wahlwerber auf eine bestimmte Staatsform festzulegen. … Wer an die Spitze des Staates berufen werden soll, ist der Zeit nach notwendig die letzte Frage der Verfassungsgebung. Aber, wird man mir vielleicht sagen, muss denn nicht ein monarchischer Staat von Grund auf anders angelegt werden als ein republikanischer ? Ich antworte : In der Vergangenheit war es wohl so, in der Zukunft wird es anders sein. Für uns stehen nicht irgendeine Monarchie und irgendeine Republik in Frage, sondern wir werden nur zwischen der demokratischen Monarchie und der demokratischen Republik wählen, jede andere aber ablehnen. … Wir wollen nicht kaiserlicher sein als der Kaiser und unterwerfen uns dem Willen des Volkes wie er.«16 Seipel gelang der politische Spagat, die christlichsozialen Monarchisten wurden Vernunftrepublikaner, vor allem auch deshalb, weil sie sich einem Argument nicht verschließen konnten, das Seipel drei Jahre später in einem Artikel in der »Reichspost« mit der Frage formulierte : »Was wäre geschehen, wenn unsere Partei die republi-
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kanische Staatsform nicht anerkannt und nicht gesucht hätte, auf ihrem Boden zu arbeiten ? Was wäre geschehen, wenn die einzige konservative Partei Österreichs sich selbst ausgeschaltet hätte ? Sie wäre heute darauf angewiesen, sich außerhalb des parlamentarischen Bodens Geltung zu verschaffen. Dann aber hätten wir den Bürgerkrieg.«17 Anlässlich des Todes von Kaiser Karl I. am 1. April 1922 erklärte Seipel in einer Veranstaltung der Christlichsozialen Partei im Wiener Rathaus : »Der Kaiser ist tot. Ich weiß wohl, dass es Leute gibt, die es mir und meiner Partei mächtig übelnehmen, wenn wir der Trauer um den Verewigten öffentlich Ausdruck geben. Dennoch möchte ich dies nicht unterlassen. Die Christlichsoziale Partei hat, solange der Staat bestand, treu zu Kaiser und Reich gehalten … Er ist weder vor den Folgen des verlorenen Krieges noch vor der Revolution geflohen. Als unter dem Protektorat oder unter dem Druck der Sieger ein Stück des alten Reiches nach dem anderen von ihm abfiel, als unter dem Einfluss der Berliner Ereignisse auch im deutschen Österreich, das nach der Ausdrucksweise eines sozialdemokratischen Führers fürchtete, als eine Art kaiserliche Krondomäne zurückzubleiben, und deswegen besonders harte Friedensbedingungen auferlegt zu erhalten, die Ausrufung der Republik unvermeidlich schien, da zog sich der Kaiser von den Regierungsgeschäften zurück, um seinem Volk die Bahn zum friedlichen Übergang in ein neues staatliches Leben zu ermöglichen … Der Weg des Kaisers und der Christlichsozialen Partei gingen im Spätherbst 1918 auseinander. Das alte Reich bestand nicht mehr und sollte nach dem Willen der Sieger im Weltkrieg nicht wiedererstehen. Das deutsche Volk in Österreich musste sich anderen Lebensverhältnissen anpassen, in denen für die Monarchie kein Platz war. Die Christlichsoziale Partei musste sich entscheiden, ob sie sich einem vom Gesichtspunkte persönlicher Anhänglichkeit gewiss sehr idealen, aber politisch aussichtslosen und daher praktisch unbrauchbaren Legitimismus verschreiben und damit das Volk den anderen Parteien überlassen sollte, die frei ins Meer der Revolution hinaustrieben, oder aber, die veränderten Tatsachen anerkennend, auch unter deren Herrschaft die Interessen des Volkes wie vorher vertreten sollte. Die Christlichsoziale Partei hat sich mit voller Klarheit für den zweiten Weg entschieden.«18
»Die Strukturen der Monarchie zerfielen, aber es gab zwei Strukturelemente, die überlebten: die ehemaligen Kronländer und die politischen Parteien.« (Ernst Hanisch) Die Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung am 16. Februar 1919 verschoben, der revolutionären Stimmung entsprechend, die politischen Gewichte. Die Sozialdemokraten wurden mit 72 Mandaten stärkste Fraktion, die Christlichsozialen
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erreichten 69 und die deutschnationalen Parteien 26 Mandate, 3 entfielen auf nationale Splittergruppen. In ihrem Wahlprogramm hatten die Christlichsozialen »die von der Provisorischen Nationalversammlung beschlossene republikanische Staatsform« anerkannt und erklärt, sie sei »sich der Pflicht bewusst, im Rahmen derselben am geordneten Wiederaufbau des Vaterlandes nach besten Kräften mitzuarbeiten«.19 Wie und nach welchen Prinzipien dieser Wiederaufbau geschehen sollte, darin schieden sich die Geister, wurden die ideologischen Fragmentierungen und Lagergrenzen sichtbar. Der Konflikt entbrannte in zwei Bereichen mit exemplarischer Schärfe : jenem zwischen Staat und Ländern (Zentrum versus Peripherie) und jenem der kulturellen Gegensätze, der sich vor allem im Antagonismus von Laizismus und Katholizismus (Staats versus Kirche) manifestierte. In beiden Konfliktfeldern wurde die Argumentation von den Christlichsozialen vielfach mit deutlich antisemitischen Tönen geführt. Das Wahlergebnis vom 16. Februar 1919 hatte zudem eine neue politische Landkarte gezeichnet. Im noch mit Niederösterreich vereinigten Wien errang die Sozialdemokratie eine Zweidrittelmehrheit, während sie in den übrigen Ländern deutlich in der Minderheit, in manchen, wie etwa Tirol und Vorarlberg, politisch marginalisiert blieb. Einen Sonderfall bildete Kärnten, in dem die Sozialdemokraten stets die stärkste Landtagsfraktion bildeten, ihr Einfluss sich jedoch ab 1923 durch die Bildung eines Bürgerblocks der im Spektrum der politischen Milieus stets an dritter Stelle liegenden Christlichsozialen mit den deutschnationalen Gruppierungen deutlich reduzierte.20 Es waren vor allem die christlichsozialen Länderpolitiker, die in der Formierungsphase der Republik den Versuch unternahmen, auf den verfassungsrechtlichen Staatsbildungsprozess bestimmenden Einfluss zu nehmen, wobei vor allem drei miteinander eng verwobene Motive dominierten : 1. ein bereits aus der Zeit der Monarchie stammender und sich während des Weltkrieges verschärfender Anti-Wien-Reflex, der sich vor allem gegen die bürokratischen Zwangsmaßnahmen der Zentralstellen richtete ; 2. ein durch den Zerfall der Monarchie und die Abdankung des Kaisers verstärktes Landesbewusstsein, das in Ermangelung eines Staatsbewusstseins mit dem juristischen Argument, dass durch das Erlöschen der Pragmatischen Sanktion im November 1918 die historischen Länder ihre Selbstständigkeit wiederum erlangt hätten und die eigentlichen Akteure des verfassungspolitischen Geschehens seien ; 3. ein sich entlang der Bruchlinien der politischen Kultur artikulierender Antimarxismus und Antisemitismus, der den historischen und machtpolitischen Gegensatz Bund–Länder zusätzlich ideologisch mit dem Hass auf das »rote Wien« begründete. Gegen Kriegsende bildeten die enormen wirtschaftlichen Probleme, die zunehmende Kriegsmüdigkeit und der sich immer deutlicher artikulierende sowie von antimonarchistischen Tönen begleitete Hass auf die Wiener Zentralstellen, die Hauptmotive der sich immer radikaler artikulierende Stimmung der christlichsozialen Basis in den Ländern. Es waren daher die führenden christlichsozialen Poli-
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tiker der Länder wie Johann Nepomuk Hauser oder Jodok Fink, die, gegen den hinhaltenden Widerstand vor allem der Wiener Christlichsozialen, vehement auf die Entscheidung zur Ausrufung der Republik sowie die Verabschiedung einer demokratischen Verfassung drängten. Die Ausrufung der Republik basierte jedoch auf keinem (neuen) Staatsbewusstsein, sondern verstärkte in den Ländern Vorarlberg, Tirol, Salzburg, Oberösterreich und der Steiermark ein sich historischer Argumente bedienendes Landesbewusstsein, das angesichts der anhaltenden wirtschaftlichen Probleme in Vorarlberg, Tirol und Salzburg auch zu Volksabstimmungen über einen Anschluss an die Schweiz bzw. das Deutsche Reich führten. In seinen Erinnerungen an die ersten Jahre der Ersten Republik bemerkte der Staatssekretär für Volksernährung, Hans Löwenfeld – Russ, die Bundesländer hätten zu dieser Zeit über kein Staatsbewusstsein verfügt. »Als nach dem Zusammenbruche die sogenannten Nachfolgestaaten sich konstituierten, blieb vom Besitzstande der alten Monarchie, sozusagen durch Subtraktion, ein Rest übrig, der sich nun Deutschösterreich nannte. Es war ein loses Ländergefüge, und wenn auch die einzelnen ›Länder‹ der Provisorischen Nationalversammlung feierliche ›Erklärungen zum Beitritte‹ an das neue Staatswesen abgegeben hatten, war es zunächst trotz der von der Nationalversammlung beschlossenen Verfassungsgesetze recht fraglich, welche Ingerenz die sogenannte Staatsregierung auf die Länder werde ausüben können. Schon im alten Österreich gab es, vom Offizierskorps und der hohen Bürokratie abgesehen, kein besonderes Staatsgefühl. Die diesseitige Reichshälfte hieß offiziell ›die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder‹, unter welchem Namen sich schamhaft das alte ›Österreich‹ verbarg. Ihre Einwohner nannten sich Tiroler, Steirer, Kärntner, aber nicht Österreicher, und bei festlichen Anlässen konnte man alle möglichen Landesfahnen, aber nur selten eine schwarzgelbe Fahne flattern sehen. Die Tiroler, die Kärntner usw. hatten ein stark ausgeprägtes Heimatgefühl, aber nur wenig Staatsgefühl. Und für den neuen Staat, der keine Tradition und keine Staatsidee besaß, war in den Ländern ein Staatsgefühl, ein Vaterlandsideal, schon gar nicht vorhanden.«21 Am 22. Juni 1921 erklärte der aus dem Amt scheidende Bundeskanzler Michael Mayr bei seinem Abschiedsempfang für die Mitarbeiter des Außenministeriums unter Hinweis auf seine Bemühungen um Auslandskredite, die diese konterkarierenden Anschlussbewegungen in den Ländern und die Fragmentierung der politischen Kultur des Landes : »Es ist meine persönliche tiefste Überzeugung, dass es in unserem Lande nicht vorwärtsgehen kann, solange wir nicht alle uns als Glieder der Gesamtheit des österreichischen Volkes fühlen, das, welches auch die ferne Zukunft und Endziel sein mag, erhaltenswürdig ist. Zuerst und vor allem muss der Anschluss der Österreicher an Österreich, der lebensvolle Zusammenschluss dieses Österreich kommen … Wir brauchen einer den anderen und das Land braucht uns alle.«22 Ernst Hanisch hat in seiner Untersuchung über das Entstehen der Salzburger Landesverfassung zu Recht darauf hingewiesen, dass »das Bekenntnis zur eigenen
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›Staatlichkeit‹ nicht allein als ideologische Verschleierung handfester sozioökonomischer Klassengegensätze erklärt werden kann. Die waren gewiss wirksam. Doch darüber hinaus. In dem ›Traum des Landes Salzburg‹ von der eigenen Staatlichkeit brach ein lang gehegtes Ressentiment gegen ›Österreich‹ durch : vor allem gegen den bürokratisch-zentralistischen Staat der alten Monarchie.«23 Franz Rehrl, der spätere Landeshauptmann Salzburgs, sprach offen von »Salzburg als eigenem Staat« und wurde nicht müde zu betonen, dass das Land erst 1816 durch die Gewalt der Politik an Österreich gekommen sei. Am Vorabend der Salzburger Volksbefragung über den Anschluss an das Deutsche Reich am 29. Mai 1921 bemerkte die »Salzburger Chronik«, dass dem Wanderer durch den bayerischen Chiemgau dessen Salzburger Tradition in zahlreichen Denkmälern sichtbar werde. »Die Gestaltung der deutschen Lande durch den Friedenskongress nach den Napoleonischen Kriegen hat wohl kein Gebiet so hart mitgenommen als Salzburg. Mit Wehmut klagen Salzburger Berichte, wenige Jahrzehnte nach der Lostrennung der fruchtbaren Gebiete, dass auf dem schönsten Platze der Stadt Gras wachse. Die Geschichte Salzburgs wurde unterbunden durch die unnatürlichen Grenzpfähle, die man unmittelbar vor die Gemarkungen der Landeshauptstadt setzte, ganz abgesehen von dem hässlichen Bilde der Landkarte, die der Zwickel Berchtesgaden aus dem früher einheitlichen Gebiet schnitt. Unmöglich hätte Salzburg durch die Jahrhunderte deutscher Geschichte eine so große kulturelle Aufgabe gelöst, wenn es angewiesen gewesen wäre auf das heutige Gebiet. … Schon im alten Österreich waren die westlichen Länder die Stiefkinder, die man nur fand, wenn es hieß, Opfer für den Staat zu bringen. … Der Zusammenbruch und der ihm folgende Friedensvertrag, die Spottgeburt des heutigen Österreich, hat diese Verhältnisse nur noch verschlimmert. Am Ostrand des Staates liegt, von ihren Lebensnerven abgeschnitten, die Millionenstadt Wien, in welche die armen Alpenländer niemals so viel wirtschaftliche Säfte leiten können, dass sie lebensfähig bleiben kann. An dem zum Siechtum verurteilten Haupte kranken auch die Glieder und niemals wird eine Regierung imstande sein, dieses Missverhältnis auszugleichen. Daher der Widerstreit zwischen Wien und den Ländern, der nicht im Eigennutz seine Wurzeln hat, sondern in der Unmöglichkeit der Alpenländer, ohne Verbindung mit ihrem natürlichen Vorlande sich selbst zu erhalten, geschweige denn die Millionenstadt eines zertrümmerten Reiches. Der Wille der Salzburger Bevölkerung nach dem Anschlusse und nach der Niederlegung der Grenzpfähle ist demnach nicht allein eine Folge der gegenwärtigen Not oder das Ergebnis einer momentanen Stimmung, sondern vielmehr begründet in der geschichtlichen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, die vor einem Jahrhundert gewaltsam abgerissen wurde.«24
Parallel zur Betonung der wiedergewonnenen Eigenstaatlichkeit der Länder und damit auch ihrer außenpolitischen Kompetenz erfolgte, gleichsam als zweite Variante,
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die Offensive der Länder in Richtung einer Verfassung der neu entstandenen Republik. Dabei vertraten sie die Ansicht, dass die Verfassungskompetenz nicht, wie von Karl Renner immer wieder betont, ausschließlich bei der am 16. Februar 1919 gewählten Verfassunggebenden Nationalversammlung liege, sondern bei den Ländern, die diese in einer Länderkonferenz zu verabschieden hätten.25 Nur die verfassunggebende Kompetenz der Länder und die damit verbundene stark föderalistische Struktur des Gesamtstaates schien den Christlichsozialen die Gewähr gegen eine ge- beargwöhnte starke Kompetenz der sozialdemokratisch geführten Zentralregierung sowie die in Wien im März/April 1919 ihren Höhepunkt erreichende Rätebewegung zu bieten.26 Dadurch schien eine drohende Wiederholung der Doppelherrschaft zwischen Duma und Räten zwischen Februar und Oktober 1917 in Russland und eine außerparlamentarische Begründung sozialdemokratischer Hegemonie möglich. Wenngleich die Gefahr der Rätebewegung nach dem gescheiterten kommunistischen Putschversuch im Juni 1919 deutlich abnahm und die Sozialdemokratie diese weitgehend durch das Betriebsräte- sowie Sozialisierungsgesetz zu integrieren vermochte,27 diente die Föderalismuspolitik den Christlichsozialen weiterhin als Speerspitze gegen den nach wie vor geargwöhnten Zentralismus der Sozialdemokratie, die als marxistische Variante des bürokratischen Zentralismus der Habsburgermonarchie betrachtet wurde. Mit ihrem stark föderalistischen Verfassungsentwurf vom 13. Mai 1919 ging die Christlichsoziale Partei vor allem angesichts der Rätebewegung in die Offensive. Wenngleich dieser Entwurf nicht zum Gegenstand parlamentarischer Verhandlungen wurde, so löste er bei Karl Renner erhebliche Beunruhigung aus. Renner beauftragte in Reaktion auf diesen Entwurf Hans Kelsen und die Verfassungsabteilung der Staatskanzlei mit der Erarbeitung eines bundesstaatlichen Verfassungsentwurfs, in dem wichtige Kompetenzen an die Zentralorgane übertragen werden sollten.28 Damit signalisierte Renner, dass er keineswegs gewillt war, die Verfassungskompetenz den Ländern zu übertragen, sondern dass diese nur einem gesamtstaatlichen Organ, der Verfassunggebenden Nationalversammlung, zustehe. In der Folgezeit erarbeiteten Kelsen und die Verfassungsabteilung einen Entwurf, der in den koalitionsinternen Verhandlungen an den unüberbrückbaren Gegensätzen der beiden Koalitionsparteien scheiterte. Angesichts des Stillstandes in der Verfassungsfrage ergriff der Tiroler Landtag am 27. September 1919 mit deutlichem Misstrauen gegenüber den Verfassungsarbeiten in Wien und unter Berufung auf die neue (alte) staatsrechtliche Stellung der Länder die Initiative, indem er die Einberufung einer Länderkonferenz vorschlug, da nur den Ländern die verfassunggebende Kompetenz zustehe. Die am 12./13. Oktober 1919 in Wien zusammentretende Länderkonferenz diskutierte das politisch äußerst kontrovers besetzte Thema einer Verfassung, wobei Karl Renner betonte, dass nur die Verfassunggebende Nationalversammlung Auftraggeber für und Beschlussinstanz einer Bundesverfassung sein könne. Angesichts der festgefahrenen Fronten unter-
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nahm Renner einen taktisch äußerst geschickten Schachzug, indem er den Tiroler christlichsozialen Abgeordneten Michael Mayr, einen der Verfasser des Verfassungsentwurfs der Christlichsozialen Partei vom 13. Mai 1919 und juristischen Wortführer der Positionen des Tiroler Landtages in der Verfassungsfrage, am 17. Oktober zum Staatssekretär ohne Geschäftsbereich mit der Aufgabe in die Koalitionsregierung berief, die Erarbeitung der Bundesverfassung zu koordinieren und zu forcieren. Weber unternahm in den folgenden drei Monaten den erfolgreichen Versuch, die von der Idee der Eigenstaatlichkeit geprägten Entwürfe der Länder Vorarlberg (Otto Ender), Tirol (Stefan Falser) und Salzburg (Franz Rehrl) zu akkordieren. Die sich im von revolutionären Wellen heimgesuchten Wien in der Defensive befindenden christlichsozialen Bundespolitiker, vor allem jene Wiens, sahen in den Ländern ihren einzigen Rückhalt im Ringen um die Gestaltung des neuen Staates. Die Koalition mit der Sozialdemokratie, so wurde man nicht müde zu betonen, habe man einzig und allein zu dem Zweck geschlossen, um Schlimmeres, d. h. eine drohende Bolschewisierung Österreichs, zu verhindern. Die große Koalition habe einen Bürgerkrieg verhindert, doch sei der sozialdemokratische Koalitionspartner mit seinen programmatischen Positionen lediglich eine mildere Variante des Bolschewismus. Ignaz Seipel entwickelte daher am 4. Dezember 1919 vor dem christlichsozialen Parteivorstand den Gedanken, mittels einer die anderen nicht-sozialistischen Parteien einbeziehenden Länderfront die Regierung Renner durch ein »Länderministerium« abzulösen, um den christlichsozialen Verfassungspositionen zum Durchbruch zu verhelfen. Unterbreitete Seipel dieses Konzept im internen Kreis des Parteivorstandes und wenig später auch im Parlamentsklub, so trat er mit diesem einen Monat später an die Öffentlichkeit. Am 6. Jänner 1920 erklärte er in einer Rede vor dem Wählerverein der Vereinigten Christen im 1. Wiener Bezirk im Rückblick auf ein Jahr Provisorische Nationalversammlung, die Christlichsozialen hätten bei ihrem Einzug in die Provisorische Nationalversammlung »bereits einen Staat vorgefunden. Nicht wir haben den alten Staat zerbrochen oder dazu mitgeholfen, dass er zerbrochen wurde, sondern wir sind vor eine fertige Tatsache gestellt worden. Wir haben nicht einen Augenblick geschwankt, wie wir uns diesem kleinen und armen Staate gegenüberstellen sollen. Es war für uns als Volkspartei selbstverständlich, dass wir alles versucht haben, um unserem Volke in diesem Staate das Leben so erträglich als möglich zu gestalten.« Man sei zu diesem Zweck in die Koalition mit der Sozialdemokratie eingetreten und habe damit zweierlei erreicht : eine Abwehr der drohenden Bolschewisierung des Landes und eine Verhinderung oder Abschwächung der gefährlichen sozial- und wirtschaftspolitischen Pläne des Koalitionspartners. An seine Erklärung zur Außenpolitik Anfang Oktober 1919 anknüpfend, in der er die sozialdemokratische Politik als reine Deklarationspolitik bezeichnete, die völlig ineffektiv sei und zudem dem Land schade,29 sprach er neuerlich von sozialdemokratischer außenpolitischer Ineffektivität, die es neben deren Versagen bei der Gestaltung
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des Staatsaufbaus verständlich mache, dass ein zunehmender Loslösungsprozess der Länder feststellbar sei. »Was vielleicht für den Augenblick das Schmerzlichste daran ist, wir müssen uns zugestehen, dass eigentlich diese Abbröckelungsprozesse verständlich sind und dass wir nicht einmal unseren Staatsgenossen in den Ländern draußen sagen können, es ist eine Torheit, wenn sie rufen : Los von Wien ! Los von Wien, von dem so veralteten Wien, los von diesen Zentralen und Zentralämtern, in denen so schlecht verwaltet und so wenig gut gewirtschaftet wird.« Die Sozialdemokratie müsse durch eine grundlegende Änderung ihrer Politik »die Länder wiederum mit Wien … versöhnen«. Geschehe dies nicht, müsse ein Systemwechsel erfolgen. »Da die Sozialdemokraten sich nicht bewährt haben, müssten es gut bürgerliche Gedanken sein, auf welche wir in Zukunft mit einiger Hoffnung gründen können. Ich will jetzt nicht den Propheten spielen und nicht einen Termin angeben, zu welchem sich dieser … Systemwechsel vollziehen kann, aber ich will Ihnen sagen, dass dieses Jahr für uns das eigentliche Entscheidungsjahr sein wird. Entweder wir kommen zu einem solchen Systemwechsel, dass dieser Staat und unsere Volkswirtschaft lebendig werden kann, oder wir kommen nicht dazu. Wenn wir dazu kommen wollen, dann seien Sie überzeugt, ich bin es voll und ganz, es kann kein Wechsel zum Guten sein, wenn das nicht ein Wechsel ist, der uns Christlichsozialen größeren Einfluss sichert, als wir ihn bisher gehabt haben.«30 Seipels innerparteilich bei der Mehrheit der christlichsozialen Abgeordneten auf Ablehnung stoßender Vorschlag eines »Länderministeriums« diente mehreren Zielen : durch demonstratives Verständnis für die vor allem in den westlichen Bundesländern starke »Los von Wien«-Stimmung diente er der Sicherung der Einheit der Partei. In mehreren zeitlich weitgehend akkordierten Erklärungen wurde er andererseits nicht müde zu betonen, dass letztlich – trotz aller Separationstendenzen – die gemeinsame Geschichte das Zusammenleben der Österreicher in einem Bundesstaat erfordere. Ein solcher Staat werde aber nur dann Bestand haben, wenn die zu beschließende Verfassung »es allen Teilen des Staates wünschenswert« mache, »dass sie Österreicher sind und bleiben«.31 Zum anderen diente es als koalitionsinterne Drohgebärde gegenüber einer selbstbewusst und offensiv agierenden Sozialdemokratie sowie als ideologisch-propagandistische Vorbereitung und Unterstützung der für Februar 1920 in Innsbruck anberaumten Länderkonferenz. Wenngleich Seipel wie auch viele andere Wiener Christlichsoziale durchaus Bedenken gegenüber den extensiven Forderungen der Länder hegten und diese stets durch die Betonung der gemeinsamen Geschichte und einer dadurch entstandenen historischen Schicksalsgemeinschaft auf eine gesamtstaatliche Basis zu fixieren trachtete, so schienen sie ihm doch eines der wirksamsten politischen (Druck-)Mittel gegenüber der Sozialdemokratie, vor allem in der offenen Verfassungsfrage. Gegen den Willen Renners und unter bewusster Nicht-Beachtung der Regierung beriefen die Länder vom 15. bis 17. Februar 1920 eine neuerliche Länderkonferenz
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nach Salzburg ein, in der unter Einbeziehung sämtlicher Landtagsparteien die Verfassungsfrage auf der Basis des von Mayr erstellten Länderentwurfs, der allerdings, so der Salzburger Landeshauptmann Oskar Meyer, »als Vorentwurf keine verbindliche Enunziation der Zentralregierung« darstelle,32 diskutiert werden sollte. Im Vorfeld der Länderkonferenz bemerkte die christlichsoziale »Salzburger Chronik« mit deutlicher Spitze gegen die Sozialdemokratie, das politische Leben des Landes sei vor allem auch deshalb bisher nicht zur Ruhe gekommen, weil »die föderalistische Struktur unseres Staates, die eine gewachsene, nicht gemachte ist, bis jetzt nicht den gebührenden Ausdruck gefunden hat«. Dies könne nur durch eine Verfassung geschehen, die das derzeit »ungebührende Übergewicht Wiens« beseitigt.33 Dieses »ungebührende Übergewicht« Wiens resultierte vor allem auch aus der noch nicht erfolgten Trennung Niederösterreichs von Wien. Ein zentraler Aspekt der christlichsozialen Föderalismuspolitik betraf daher die Trennung Niederösterreichs von Wien. Zum einen hätte ein ungeteiltes Wien/Niederösterreich in Österreich eine Position ähnlich jener Preußens im Deutschen Reich eingenommen, andererseits wollten sich die niederösterreichischen Agrarier von der sozialdemokratischen Dominanz Wiens lösen und damit die politische Landkarte der Republik zugunsten der Christlichsozialen zu ändern. In den Diskussionen der Salzburger Länderkonferenz prallten die gegensätzlichen parteipolitischen Positionen mit aller Härte aufeinander. Die unterschiedlichen ideologischen Positionen erwiesen sich erheblich stärker als ein parteienübergreifendes Föderalismuskonzept. Die von den Christlichsozialen intendierte Länderfront kam nicht zustande. Während die Christlichsozialen Wiens und Niederösterreichs den Verfassungsentwurf Mayrs, die darin enthaltene Selbstständigkeit der Länder und deren politische Vertretung in einem Bundesrat begrüßten, erklärte der sozialdemokratische niederösterreichische Landeshauptmann Albert Sever in Richtung der Christlichsozialen, diese hätten sich im November 1918 nur aus Furcht vor dem, was kommen könnte, zur Republik bekannt. »Heute haben sie keinen anderen Gedanken, als wie sie diese Republik wegbringen könnten. Die Schwarzgelben kriechen wieder hervor, um doch einen Habsburger auf den Thron zu bringen. Dazu gründen sie allerorts ihre Stände- und Bürgerräte, hinter denen sich nur die Reaktion verbirgt. Wir Sozialdemokraten … bleiben Gewehr bei Fuß, und wir sind überzeugt, dass auch die Arbeiterschaft in den Provinzen den Appell von Wien hören wird, wenn er ergeht. … Wenn ihr Salzburger Arbeiter seht, dass sich Wien ›rührt‹, dann Arbeiter heraus zum Schutz der roten Republik !« Für den sozialdemokratischen Wiener Vizebürgermeister Georg Emmerling waren die Sorgen der Bundesländer um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Wien und den Ländern nichts anderes »als die Sorge des Bürgertums vor dem sozialdemokratischen Wien. … Wien will die Gewissheit haben, dass es Freunde im Proletariat der Länder hat, wenn es gilt, die Errungenschaften der
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Freiheit zu verteidigen.« Und der sozialdemokratische Kärntner Landeshauptmann Florian Gröger ortete in der von den Ländern erhobenen Förderalismusforderung einen »Länderseparatismus, der nichts anderes besagt, als die Angst vor der Sozialdemokratischen Partei, vor dem roten Wien und Niederösterreich«. Die Forderung nach einer Länderkammer als Gegengewicht zum Parlament diene vor allem dazu, »es den reaktionären und arbeiterfeindlichen Elementen der Länder zu ermöglichen, die guten sozialpolitischen und kulturellen Gesetze der Nationalversammlung wiederaufzuheben«. Die Lösung der Verfassungsfrage stehe zudem nicht den Ländern, sondern ausschließlich der Nationalversammlung zu. Und der sozialdemokratische Wiener Stadtrat Ferdinand Skaret sah bereits ein sich verdichtendes Netz »zwischen den Bürgerlichen Deutschösterreichs und dem ungarischen Horthy- und HuszarRegime … bezüglich eines Einfalls nach Deutschösterreich zur Niederwerfung der sozialdemokratischen Macht und vielleicht auch zur Beseitigung der Republik.« Die Übeltäter seien die Christlichsozialen. »Weil nur das sozialdemokratische Wien ihnen im Wege steht, darum der Hass gegen Wien. Es liegt zweifellos vieles in der Luft, wir können es nur heute noch nicht greifen, aber wir müssen auf der Hut sein. Daher brauchen wir die Volkswehr. Wir Sozialdemokraten sind beim Umsturz in den besitz der Volkswehr gekommen und mögen die Bürgerlichen den Vorwurf einer roten Parteigarde immer wieder erheben, wir werden trachten, sie in unserer Hand zu erhalten, solange eine Gefahr droht. Und der sozialdemokratische Salzburger Abgeordnete Josef Witternigg bezeichnete die christlichsozialen Vertreter des Föderalismus als »Ländertrottel«, die einem Verfassungsentwurf huldigten, der einen »jesuitischen Geist« atme.34 Die von Witternigg apostrophierten »Ländertrottel« repräsentierten eine Koalition von christlichsozialen und deutschnationalen Politikern. So erklärte der deutschnationale Kärntner Landesrat Pflanzl gegen die sozialdemokratische Position, die Länder seien keine historischen Individualitäten, da man mit derselben Argumentation auch behaupten könne, die Städte hätten 1918 ihre Souveränität wieder gewonnen, die Länder seien sehr wohl nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie wiederum in den Besitz ihrer vollen Souveränität gelangt und damit selbstständige staatliche Individualitäten. Der christlichsoziale Landeshauptmann-Stellvertreter Jakob Ahrer argumentierte, »dass der Wegfall der Pragmatischen Sanktion und des Herrscherhauses« den Ländern »die volle Freiheit der Entschließung wiedergebracht« habe. Eine Bindung der Länder aneinander sei nur durch den Friedensvertrag von St-Germain gegeben. »Die revolutionäre Gründung des Staates Deutschösterreich ist nicht in der Weise erfolgt, dass nach der Zertrümmerung der Monarchie die gesamte Staatsgewalt der verbliebenen Länder die in Wien zusammentretende Nationalversammlung usurpiert hätte, vielmehr hat der aus der Mitte der Nationalversammlung eingesetzte Vollzugsausschuss am 29. Oktober 1918 den Wortlaut des Beschlusses mitgeteilt, mit denen die Länder ihren Beitritt zum Staate Deutschös-
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terreich erklären sollten.« Die steirische Landesversammlung habe daraufhin den Beitritt zum Staat Deutschösterreich vollzogen und sich eine provisorische Verfassung gegeben. Dieser Beschluss sei auch von der Provisorischen Nationalversammlung anerkannt worden. Dies bedeute, dass die Länder frei und selbstständig über ihre Verfassung verfügen können.35 Ähnlich argumentierte Vorarlbergs Landeshauptmann Otto Ender. Sein Land habe sich nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie sofort für selbstständig erklärt und Verhandlungen mit der Schweiz über einen Anschluss aufgenommen. Es möge diesbezüglich kein Zweifel bestehen, dass man in Vorarlberg dieses Recht auch weiterhin für sich in Anspruch nehmen werde. »Wenn Vorarlberger Delegierte trotzdem hier die Schaffung einer österreichischen Verfassung mit beraten, so hat es den praktischen Grund, dass wir durch den Friedensvertrag vorläufig gezwungen sind, in diesem Staat zu leben und daher an der Einrichtung des Hauses interessiert sind.« 36 Auch der Salzburger Landeshauptmann-Stellvertreter Franz Rehrl wies darauf hin, dass in Salzburg aufgrund seiner erst hundertjährigen Zugehörigkeit zu Österreich »das Gefühl für den Gesamtstaat Österreich keine rechten Wurzeln gefasst hat … Das Land ist unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Monarchie eines der ersten gewesen, das in richtiger Erkenntnis der Lage einstimmig, und zwar unter Beteiligung aller politischen Parteien, den Beschluss gefasst hat, dem neuen Staat unter dem Vorbehalte der staatlichen Selbstständigkeit und freier Hand bei Schaffung der künftigen Verfassung beizutreten.« Der Tiroler Senatspräsident i. R. und Verfasser des Tiroler Verfassungsentwurfen vom Dezember 1919, Stefan Falser, betonte, die Länder seien bereits selbstständige historische Gebilde gewesen, bevor sie durch die Habsburger zu einem einheitlichen Staatswesen zusammengeschlossen worden seien. Selbst die Pragmatische Sanktion habe die Länder als staatsrechtliche Gebilde nicht vernichtet und auch nicht die Verfassung des Jahres 1867. Leopold Kunschak resümierte in seiner Wortmeldung den Standpunkt der Christlichsozialen, indem er bemerkte : »Die Frage, ob die Selbständigkeit der Länder anerkannt oder einem zentralistischen Staat geopfert werden soll, ist für uns entschieden. Die Länder sind historische, ja selbst auch volkswirtschaftliche Individualitäten, über diese Tatsache ist das alte zentralistische Österreich nicht hinweggekommen, das neue Österreich darf sie nicht übersehen oder unterschätzen, sonst wird es an derselben ebenso scheitern wie das alte Österreich.«37
Die Salzburger Länderkonferenz offenbarte, dass der Plan der Christlichsozialen, einen parteienübergreifenden Verfassungsentwurf der Länder als politisches Druckmittel zustande zu bringen, an unüberwindbaren parteipolitischen Differenzen der Ländervertreter zum Scheitern verurteilt war. Wenngleich die Länderkonferenz mit Landeshauptmann Anton Rintelen, Landeshauptmann Albert Sever und Landesrat Anton Christoph ein sämtliche politische Lager repräsentierendes Präsidium wählte
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und für April die Fortsetzung der Beratungen bei einer neuerlichen Länderkonferenz in Linz beschloss, so schieden die Länder doch als entscheidende Träger einer verfassungspolitischen Willensbildung, wie dies von den Christlichsozialen intendiert wurde, aus.38 Durch das Hervortreten des parteipolitischen Gegensatzes wurde bereits bei der Salzburger Länderkonferenz deutlich, dass die Entscheidung über die Grundprinzipien der Verfassung als letztlich machtpolitische Frage in der Arena der parteipolitischen Auseinandersetzung, der Verfassunggebenden Nationalversammlung, fallen musste. Die »Salzburger Chronik« resümierte das Ergebnis der Salzburger Länderkonferenz mit der Bemerkung, »dass die endgültige Entscheidung schließlich eine Machtfrage zwischen den Parteien bleibt, worauf sich besonders die Sozialdemokratische Partei immer wieder beruft. In dem Bewusstsein, dass ihre Stärke weniger in den Landtagen als in der Nationalversammlung liegt, fordern sie, dass die Verfassung einzig und allein von der Nationalversammlung gemacht werde, und sprechen den ›reaktionären‹ Landtagen jedes Recht auf eine Einflussnahme bei der Verfassunggebung ab.«39 Im Vorfeld der Linzer Länderkonferenz versuchten die christlichsozialen Landesorganisationen nochmals, durch zahlreiche Resolutionen öffentlichen Druck auf die Sozialdemokratie zu erzeugen. Am 30. März fasste die Landesparteileitung der steirischen Christlichsozialen den Beschluss, im Falle der Nichtlösung der als vordringlich erachteten Verfassungsfrage im Sinne einer bundesstaatlichen Lösung die steirischen Abgeordneten aus der Nationalversammlung abzuberufen und aus dieser sogar auszuscheiden.40 Und der zweite Reichsbauerntag in Linz forderte in seiner am 6. April verabschiedeten Entschließung : »Die Reichsbauernschaft Deutschösterreichs fordert mit aller Entschiedenheit die eheste Schaffung einer endgültigen Verfassung. Sie fordert den Bundesstaat mit weitgehender Selbständigkeit der Länder, nur so kann das gegenseitige Vertrauen zwischen Ländern und Bundesgewalt wiederhergestellt und gefestigt werden.«41 In Linz prallten die gegensätzlichen Positionen mit noch größerer Härte als in Salzburg aufeinander. Die Gegensätze entzündeten sich nicht nur an der Frage der im Entwurf von Michael Mayr vorgesehenen Frage einer zweiten Kammer (Bundesrat), deren Zusammensetzung und Kompetenzen, der Schaffung des Amtes des Bundespräsidenten und der Modalitäten seiner Wahl, der Verfügungsgewalt über die Gendarmerie und der Verteilung der Steuereinnahmen (ausschließliche Bundeskompetenz mit Verteilung an die Länder oder strikte Aufteilung in Bundes- und Landessteuern), sondern vor allem im Bereich der Grundrechte an kulturellen Fragen. Die Sozialdemokraten lehnten, in diesem Fall unterstützt von den Deutschfreiheitlichen, die Positionen Mayrs vehement ab und bestanden auf einer strikten Trennung von Kirche und Staat. Dies implizierte die konfessionslose und sich ausschließlich in der Bundeskompetenz befindende Schule, die Abschaffung aller aus besonderen Rechtstiteln resultierenden Leistungen des Staates an Religionsgemeinschaften und die In-
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stallierung der Ehe als bürgerlicher Vertrag. Resignierend bemerkte die »Salzburger Chronik«, dass, »während man in Salzburg noch bei verschiedenen Fragen eine gemeinsame Formel gesucht und gefunden« habe, dies »in Linz bei keinem Gegenstande der Fall gewesen« sei.42 In Linz wurde deutlich, dass bei den im Bereich der Grundrechte diskutierten kulturpolitischen Fragen die Christlichsozialen einer Koalition aus Sozialdemokraten und Deutschfreiheitlichen gegenüberstanden, sodass an eine Einigung nicht zu denken war. Diese Frage sollte sich auch bei den wenig später erfolgenden Verfassungsberatungen im Verfassungsausschuss des Nationalrats als entscheidender Stolperstein erweisen, weshalb das politisch kontroverse Kapitel der Grundrechte bei der schließlich erfolgten Beschlussfassung ausgeklammert blieb. Die Diskussion der Linzer Länderkonferenz, vor allem die von Vertretern der Bundesländer wie etwa dem Salzburger Landeshauptmann-Stellvertreter Franz Rehrl erhobene Behauptung, die Länder würden unter dem Finanzdiktat der Wiener Zentralregierung leiden und müssten zudem die Stadt Wien ständig subventionieren, fand wenige Tage später in einer Debatte der Verfassunggebenden Nationalversammlung ihre Fortsetzung. Am 27. April bemerkte der sozialdemokratische Abgeordnete Hubmann in Richtung christlichsoziale und deutschfreiheitliche Abgeordnete, Wien bringe derzeit von den direkten Steuern in der Höhe von 528 Millionen Kronen 370 Millionen, d. h. 70 Prozent, auf. Die vor allem von prominenten Ländervertretern immer wieder aufgestellte Behauptung, die Länder würden Wien erhalten, entspreche somit keineswegs den Tatsachen. E sei vielmehr so, »dass der größte Teil der Länder aus den Geldern, die von Wien geleistet werden, unterstützt wird. … Wenn wir das Verhältnis der Steuerleistungen der Stadt Wien und der Länder in Betracht ziehen, so finden wir, dass die Länder absolut keine Ursache haben, so zu sprechen, wie es heute geschieht. Wenn wir nur die Verhältnisse ins Auge fassen, wie sie zur Zeit des Zusammenbruchs bestanden haben, so sehen wir, dass es nicht die Stadt Wien war, die Nutzen aus dem Zusammenbruch gezogen hat, sondern nur die Länder. Gerade in dem Moment, als sich der alte österreichische Staat aufgelöst hat, fühlten sich die Länder als Sieger und wir müssen hier erklären, dass die Länder gerade so habgierig wie die Ententestaaten und mit den gleichen Argumenten über den früheren Staat hergefallen sind, um zu rauben, was nur möglich war. … Um den Staat selbst und um die Stadt Wien hat sich niemand gekümmert.« Durch die Sperren der Binnengrenzen und die autonome Durchführung des Handels in der unmittelbaren Nachkriegszeit sei es so weit gekommen, »dass jedes Land einen eigenen Staat für sich gebildet hat«. Nunmehr würden sich »die Länder wieder zusammenschließen, um den Staat zu bekämpfen, um denjenigen Staat, den sie … heute täglich um Geld anbetteln, zu ihrem Vasallen zu machen. Ich betrachte auch die letzte Konferenz in Linz als nicht viel anderes, als wie eine Komplottschmiedung gegen diejenigen Vertreter, die hier in die Nationalversammlung geschickt wurden.
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Die Erlässe und die Gesetze, die von hier in die Länder hinausgehen, jede Verordnung stößt auf Widerstand. Wenn nicht direkt Opposition gemacht wird, so wird zumindest derart sabotiert, dass unmittelbar oder in der nächsten Zeit nichts Rechtes zu erwarten ist.«43 Der sozialdemokratische Salzburger Abgeordnete Witternigg sekundierte mit der Bemerkung, die christlichsozialen und deutschfreiheitlichen Ländervertreter hätten auf der soeben zu Ende gegangenen Linzer Konferenz »die tollsten Kapriolen geschlagen. … In den Ländern wird die Souveränität der Länder verlangt. Wenn diese aber Wirklichkeit würde, dann müssten die Länder … in 14 Tagen Bankrott machen. Kein einziges Land ist in der Lage, seine Verwaltung mit seinen eigenen Mitteln zu bestreiten.«44 Die Politik der Länder drohe eine Zerschlagung des einheitlichen Wirtschaftsgebietes herbeizuführen. Bei dieser »Ländertrottelose« marschierten »die Tiroler … an der Spitze. Sie können sich rühmen, unter den Länderseparatisten eingereiht zu werden. Tirol voran in alle Welt !«45 Die Linzer Länderkonferenz signalisierte aufgrund der bestehenden ideologischen Gegensätze der in den Landtagen vertretenen Parteien das Ende der Bemühungen der christlichsozial dominierten Länder und unter Hinweis auf den Zerfall des Gesamtstaates in seine historischen Gliedstaaten als entscheidender Akteur in der Verfassungsfrage zu agieren. Die parteipolitischen Gegensätze erwiesen sich stärker, wodurch sich Diskussion und Entscheidung über die Verfassung endgültig in die Nationalversammlung verlagerte. In der in den folgenden Monaten dominanten bundespolitischen Diskussion mit weitgehend völlig unterschiedlichen Zielvorstellungen bildeten allerdings die Länder weiterhin die Bastionen der Christlichsozialen. Die Christlichsozialen ließen wissen, dass ein Verfassungsbeschluss gegen den Willen der Länder nicht in Frage komme. Dadurch blieben die Länder im politischen Spiel, wobei sich allerdings nunmehr ihre Position entlang der parteipolitischen Grenzen definierte. Es waren nicht mehr, wie ursprünglich intendiert, die Länder als historische Gebilde jenseits parteipolitischer Fragmentierungen, sondern die christlichsozialen Landespolitiker – mit Ausnahme der im Bereich der Grundrechte enthaltenen kulturpolitischen Themen weitgehend unterstützt von den deutschfreiheitlichen/-nationalen Landespolitikern – ,die als Sprecher einer weitgehenden Landesautonomie und damit eines föderalen Bundesstaates agierten. So forderte der Landesparteitag der Salzburger Christlichsozialen einen »Bundesstaat mit weitgehender Selbstständigkeit der Länder«46 und der Salzburger Landeshauptmann-Stellvertreter Franz Rehrl, einer der in Verfassungsfragen profiliertesten Landespolitiker in den Reihen der Christlichsozialen, begründete wenige Tage später die Forderung nach einem föderalen Bundesstaat mit der Erklärung, im Fall der Republik Österreich handle es sich nicht darum, dass »bereits bestehende, selbstständige Staaten auf staatsrechtlicher Grundlage sich zu einem Oberstaate, im gegebenen Falle zu einem Bundesstaate sich vereinigen, sondern dass ein Teil eines seinerzeit zentral verwalteten Staates in seine historischen Bestandteile zurückgeführt und durch einen neuerlichen Zusammenschluss
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eben dieser einzelnen Teile ein neuer Staat geschaffen werden soll. So sonderbar es klingen mag, etwas zunächst in seine Teile aufzulösen, um sodann wieder aus ihnen eine Einheit zu bilden, so ist dieser Fall in unserem Falle doch notwendig, da derzeit ein Einheitsstaat gar nicht besteht, wie sehr sich auch die Sozialdemokratie darauf berufen mag, das seine Existenz auf papierenen Beschlüssen der Nationalversammlung beruht, hinter denen keineswegs der Wille des größten Teils des Volkes steht ; es ist vielmehr ein chaotischer Zustand vorhanden, der eben erst durch eine Verfassung, die im Denken der Bevölkerung tatsächlich wurzelt, beseitigt werden kann.«47 Verfassungsfragen sind ob ihrer grundlegenden gesellschaftspolitischen Bedeutung Machtfragen. Aufgrund der Verlagerung der Entscheidungsfindung in die Nationalversammlung und der stillschweigenden Übereinkunft der Parteien, dass die Länder bei den Beratungen zwar gehört werden sollten, aufgrund der unvorhersehbaren zeitlichen Verzögerung deren Zustimmung nach der parlamentarischen Beschlussfassung aber undurchführbar war, mussten die politischen Würfel in der Nationalversammlung fallen. Aufgrund der Mandatsverteilung und des zeitlichen Drucks nach der Demission der Koalitionsregierung Renner infolge der Auseinandersetzung über das Wehrgesetz am 11. Juli, der Bildung des Proporzkabinetts Mayr, des vorzeitigen Auflösungsbeschlusses der Nationalversammlung und der Ausschreibung von Neuwahlen für den 17. Oktober blieb nur mehr der Weg des Möglichen, d. h. des Kompromisses. Um die Verfassung in der noch verbleibenden kurzen Zeit doch noch zu verabschieden, mussten im Subkomitee (Unterausschuss) des Verfassungsausschusses rund 30 von den Christlichsozialen und Sozialdemokraten gestellten Anträge beraten und einer Lösung zugeführt werden. Um eine Beschlussfassung zu erreichen, wurden die politisch kontroversen kulturpolitischen Themen im Bereich der Grund- und Freiheitsrechte48 und des Schul-, Erziehungs- und Fortbildungsbereichs ebenso ausgeklammert und einer späteren parlamentarischen Beratung zugewiesen wie die Verwaltungsreform und der Finanzausgleich. Die Sozialdemokratie war zu einem solchen Schritt vor allem auch deshalb bereit, weil im Falle eines parlamentarischen Scheiterns eine neuerliche Inititiative der Länder drohte, an deren Ende letztlich nur eine extrem föderalistische Verfassung stehen konnte. In der parlamentarischen Behandlung des Verfassungsentwurfs am 29. September wies Ignaz Seipel als Berichterstatter des Verfassungsausschusses mit deutlicher Spitze in Richtung der sozialdemokratischen Behauptung einer drohenden Konterrevolution darauf hin, dass sich am 14. März 1919 alle in der Verfassunggebenden Nationalversammlung vertretenen Parteien einhellig auf das demokratische Element als Grundprinzip der neuen Verfassung verständigt hätten, »weniger in Hinblick auf die Gefahr einer sogenannten ›Reaktion‹ … als mit Rücksicht darauf, dass die Gefahr drohte, es könnte die demokratische Verfassung durch eine Herrschaft, eine Diktatur einer einzelnen Klasse ersetzt werden«. In der kontroversiellen Diskussion zwischen Einheitsstaat und Bundesstaat sei »immer stärker der bundesstaatliche Ge-
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danke zum Durchbruch« gekommen. Man könne für den Bundesstaat durchaus zu Recht historische Gründe anführen, doch seien aufgrund der erforderlichen Zweidrittelmehrheit bei den politischen Entscheidungen letztlich die »gegenwärtigen wirklichen Machtverhältnisse im Staate« entscheidend. »Man kann die Verfassung nicht konstruieren, denn man hat keine Mittel, eine solche konstruierte Verfassung jenen aufzuzwingen, die unter ihr leben und sich an sie halten sollen. Man muss mit den Realitäten rechnen. Und nun hat es sich in den abgelaufenen Monaten wahrlich als eine Realität erwiesen, dass unser Staat … eigentlich jetzt schon ein Bundesstaat ist. Die starken Autonomien der Glieder, nämlich der Länder, waren schon immer vorhanden gewesen. Sie waren bloße Autonomien gewesen, weil über aller Selbständigkeit der Landesvertretungen das Sanktionsrecht der Krone stand. Von dem Augenblick an, als dieses beseitigt war, sind die Länder schon mehr oder weniger Gliedstaaten geworden … So sind die zwei Grundlagen, die unsere Verfassung nach dem gegenwärtigen Entwurf haben soll, die des demokratischen Staatswesens und die des Bundesstaates …«
In den Verhandlungen seien Kompromisse notwendig gewesen und auch geschlossen worden. »Aber ich darf wohl sagen, es ist kein Kompromiss geschlossen worden, welcher der Reinheit eines dieser beiden Grundgedanken … Eintrag machte.«49
Auch Michael Mayr wies in seiner Wortmeldung auf den Kompromisscharakter hin und betonte die wichtige Rolle der Länder im Entstehungsprozess der Verfassung. Die Verfassungsdebatte sei durch die Länderkonferenzen von Salzburg und Linz erst in Schwung gekommen. Diese seien zwar »von den Ländern veranstaltet worden«, doch sei »die Regierung durch den zur Mitwirkung bei der Verfassungsreform bestellten Staatssekretär führend vertreten« gewesen. Die Länder hätten »in Salzburg und Linz jene Verfassungsentwürfe als Grundlage der Beratungen vorgelegt, welche in ihrem Aufbau und in ihrem Wesen richtunggebend geblieben sind und denen sich auch der vorliegende Entwurf des Verfassungsausschusses seinem ganzen Grundcharakter nach anschließt. Man kann daher mit vollem Recht sagen, dass die beiden großen Interessenten, Zentralstaat und Länder, gleichmäßigen Anteil an der Schaffung der neuen Verfassung beanspruchen können«.50 Die Wortmeldungen Seipels und Mayrs galten vor allem der Beruhigung der eigenen Partei. Gegenüber der Monarchie hatte die Stellung der Länder in der Verfassung 1920 tatsächlich eine erhebliche Veränderung nur in einem klar definierten Rahmen erfahren, die legislative und exekutive Gewalt kraft eigenen Rechts mit eige-
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nen Landesorganen auszuüben. Durch die Aufhebung der bisherigen Trennung von politischer und autonomer Verwaltung verlagerte sich durch den übertragenen Wirkungsbereich der Verwaltungsagenden des Bundes ein nicht unerheblicher Teil der Verwaltung von den bisherigen Zentralstellen auf die Behörden der Länder. Diese konnten ihre in der Verfassungsdiskussion stets vorgebrachten historischen Argumente insofern realisieren, als die verfassungsmäßigen Bestimmungen eine individuelle, der jeweiligen spezifischen Tradition und regionalen Besonderheit der Länder entsprechende Verwaltungsorganisation der Länder ermöglichte. Diese partiellen Errungenschaften konnten jedoch letztlich darüber nicht hinwegtäuschen, dass die Länder in ihren beiden zentralen politischen Forderungen scheiterten. Sie waren nicht das entscheidende verfassunggebende Organ und wurden auf gesamtstaatlicher Ebene mit dem politischen Placebo eines bundespolitisch lediglich mit dem aufschiebenden Veto ausgestatteten und damit zur Bedeutungslosigkeit verurteilten Bundesrates als zweiter Kammer abgespeist. Die österreichische Verfassung des Jahres 1920 installierte eine sich an den Prinzipien der Französischen Revolution und der unbeschränkten Volkssouveränität orientierende Dominanz des Nationalrates. Dieser Umstand sollte in den folgenden Jahren zu erbitterten verfassungsrechtlichen Kontroversen führen. 1917 hatte Karl Renner bemerkt, für die Sozialdemokratie sei der Staat der entscheidende »Hebel des Sozialismus«.51 Der 1918 bis 1920 entstandene Staat, vor allem die Verfassung 1920, sollte durch ihren Kompromisscharakter diese Funktion nicht erfüllen. Vor dem Hintergrund des deutlichen Wahlsiegs der Christlichsozialen bei der Nationalratswahl am 17. Oktober 1920. des Verlustes eines Zehntels der sozialdemokratischen Mandate und des von ihm durchgesetzten Entschlusses der Partei zum Gang in die Opposition erklärte Otto Bauer auf dem Parteitag der Sozialdemokraten von 5. bis 7. November 1920, die im Sommer 1920 beendete Regierungskoalition mit den Christlichsozialen könne man in zwei Phasen teilen. »Im Anfang der Epoche, etwa im ersten Jahre nach dem Umsturz, war es für die Bourgeoisie ganz klar, dass sie keinen Tag hätte den Staat regieren können. Die Bourgeoisie kannte damals ihre ganze Schwäche, sie zitterte vor der Revolution, und deswegen war sie damals weich und nachgiebig. Es war damals nicht besonders schwer, ihr das aufzuzwingen, was das Proletariat gerade gebraucht hat. … Deshalb war jenes erste Jahr der Koalition für das Proletariat so fruchtbar, deswegen war es in diesem ersten Jahre möglich, für die Arbeiterklasse so viel zu erobern, zu gewinnen, innerhalb der Koalition.« Diese Entwicklung habe sich im Laufe des Jahres 1920 zunächst durch außenpolitische Entwicklungen wie die Niederschlagung der Rätebewegung in Deutschland und Ungarn geändert. Diese Entwicklung hätte die bürgerlichen Parteien, vor allem die Christlichsozialen, ermutigt, sie seien aus ihrer Defensive hervorgetreten und »leisteten uns stärksten Widerstand, sie sabotierten unsere Forderungen, die Koalition wurde immer weniger fruchtbar«. Die schwan-
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kenden Mittelschichten kehrten zum Bürgertum zurück und bescherten den Christlichsozialen einen Wahlsieg. Das Bürgertum könne sich nunmehr der Regierungspflicht nicht mehr entziehen, die Sozialdemokratie hingegen habe »die Fesseln der Koalition abgeworfen. Was war das Resultat der zwei Jahre ? Das Wichtigste ist, dass wir durch die Koalitionspolitik die Republik gesichert haben. Sie war nicht entstanden aus dem Willen der Bourgeoisie. Das Proletariat hat, um ein Wort von Karl Marx zu wiederholen, der Bourgeoisie befohlen, die Republik zu proklamieren. Aber mit der Proklamierung war es nicht getan ; es war nötig, die Republik zu festigen, und diese Befestigung war das wesentliche Resultat der zwei Jahre Koalitionsarbeit. So wichtig das ist, so klar ist es, dass die Republik nichts anderes sein konnte und kann als eine bürgerliche Republik. Wir haben vielleicht anders gedacht in den ersten Wochen nach dem Umsturz, als noch nicht abzusehen war, wohin die revolutionäre Welle, die vom Osten kam, führen und wie hoch ihre Fluten schlagen werden. Da schien es einen Augenblick möglich, dass die Fluten weiter treiben, in schnellem Lauf zur proletarischen, zur sozialistischen Republik. Heute ist es klar, dass das nicht passieren konnte. (…) Wir stehen auf dem Boden der bürgerlichen Republik. Die bürgerliche Republik ist nicht die Emanzipation des Proletariats, aber sie ist, um wieder ein Marx’sches Wort zu zitieren : das günstigste Terrain für den Kampf um die Emanzipation des Proletariats.« Die bürgerliche Republik sei »nur eine Phase in der weiteren Entwicklung« des Kampfes zwischen Kapitalismus und Sozialismus, der jedoch nicht in Österreich entschieden werde. Es sei die Aufgabe der Sozialdemokratie, das österreichische Proletariat für diese »geschichtliche Stunde« bereit zu machen.52 Das durch die sozialdemokratische Mehrheit nunmehr »Rote Wien« sollte zum politischen und kulturellen Biotop des Kommenden werden, in dem die »Generation der Vollendung« heranwuchs. Hier konnte der Austromarxismus seine politische Visitenkarte abgeben, der bürgerlichen Republik den Spiegel ihrer sozialistischen Transformation vor Augen halten. Durch die Änderung der Mehrheitsverhältnisse auf Bundesebene am 17. Oktober 1920 änderten sich auch die Positionen der kollektiven politischen Akteure. Die von christlichsozialen Bundeskanzlern geführten Regierungen erweiterten nicht die Rechte der Länder, unter deren oftmals egoistischer Politik sie sowohl innerparteilich wie auch bundespolitisch zunehmend zu leiden hatten. Während die christlichsozialen Bundespolitiker dem Föderalismus weitgehend nur mehr in Lippenbekenntnissen huldigten und sich den Positionen Renners und Kelsens im Verfassungsbildungsprozess annäherten, entdeckte die Sozialdemokratie nach ihrem Ausscheiden aus der Bundesregierung und ihrer Konzentration auf den Ausbau des »roten Wien« vor allem in der Auseinandersetzung um die Wahrung der Sonderstellung der Bundeshauptstadt zunehmend die Attraktivität des Föderalismus.
48
Robert Kriechbaumer
Anmerkungen 11 STGBl 1/1918. 12 Der österreichische Staatsrat. Protokolle des Vollzugsausschusses, des Staatsrates und des Geschäftsführenden Staatsratsdirektoriums. 21. Oktober 1918 bis 14. März 1919. Band 1. 21. Oktober 1918 bis 14. November 1918. Hg. v. Gertrude Enderle-Burcel/ Hanns Haas/ Peter Mähner. Wien 2008. S. 84. 13 Zit. bei Wilhelm Brauneder : Deutsch – Österreich 1918. Die Republik entsteht. Wien – München 2000. S. 51. 14 Erich Feigl (Hg.) : Kaiser Karl. Persönliche Aufzeichnungen, Zeugnisse und Dokumente. Wien – München 1984. S. 256. 15 Der österreichische Staatsrat, Band 1. S. 327. 16 Ebd., S. 327f. 17 Ebd., S. 347f. 18 Ebd., S. 349. 19 Ebd., S. 354f. 10 Friedrich Rennhofer : Ignaz Seipel. Mensch und Staatsmann. Eine biographische Dokumentation. Wien – Köln – Graz 1978. S. 153. 11 Vgl. John W. Boyer : Tradition und Wandel. Die Christlichsoziale Partei am Vorabend des Ersten Weltkrieges. – In : Helmut Wohnout (Hg.) : Demokratie und Geschichte 2005/06. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich. Wien – Köln – Weimar 2007. S. 11–37. S. 16. 12 Friedrich Funder : Vom Gestern ins Heute. Aus dem Kaiserreich in die Republik. Wien 1952. S. 583. 13 Gordon Brook-Shepherd : Um Krone und Reich. Die Tragödie des letzten Habsburgerkaisers. 2. Aufl. Wien – München – Zürich 1968. S. 253. 14 Vgl. November 1918 auf dem Ballhausplatz. Erinnerungen Ludwigs Freiherrn von Flotow, des letzten Chefs des kaiserlichen Auswärtigen Dienstes 1895–1920. bearbeitet von Erwin Matsch. Wien – Köln – Graz 1982. S. 331. 15 STGBL. 5/1918. Artikel 1. 16 Ignaz Seipel : Der Kampf um die österreichische Verfassung. Wien/Leipzig 1930. S. 65f. 17 Zit. bei Klemens von Klemperer : Ignaz Seipel. Staatsmann einer Krisenzeit. Graz – Wien – Köln 1976. S. 93. 18 Salzburger Chronik 5. 4. 1922. S. 6. 19 Zit. bei Robert Kriechbaumer (Hg.) : »Dieses Österreich retten …« Die Protokolle der Christlichsozialen Partei der Ersten Republik. Wien – Köln – Graz 2006. S. 28. 20 Zur Situation der Christlichsozialen in den Ländern vgl. Dieter A. Binder : Fresko in Schwarz ? Das christlichsoziale Lager. – In : Helmut Konrad, Wolfgang Maderthaner (Hg.) : … der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik. 2 Bde. Wien 2008. Bd. 1. S. 241–260. S. 249ff. 21 Hans Loewenfeld-Russ : Im Kampf gegen den Hunger. Aus den Erinnerungen des Staatssekretärs für Volksernährung 1918–1920. Wien 1986. S. 167f. 22 Salzburger Chronik 24. 6. 1921. S. 1. 23 Ernst Hanisch : Kompromiss der Parteien : Die Entstehung der Salzburger Landesverfassung. – In : Alfred Ableitinger (Hg.) : Demokratisierung und Verfassung in den Ländern 1918–1920. St. Pölten – Wien 1983. S. 58–75. S. 67. (Studien zur Zeitgeschichte der österreichischen Länder. Band 1. Hg. v. d. Österreichischen Forschungsgemeinschaft.) 24 Salzburger Chronik 22./23. 5. 1921. S. 1. 25 Zu den unterschiedlichen Auffassungen vgl. Wilhelm Brauneder : das Verhältnis Gesamtstaat – Länder und die Entstehung der Republik Deutschösterreich. – In : Demokratisierung und Verfassung in den Ländern 1918–1920. S. 29–40. Zu den Länderkonferenzen vgl. Felix Ermacora : Materialien zur österreichischen Bundesverfassung (I). Die Länderkonferenzen 1919/20 und die Verfassungsfrage. Wien 1989.
Welcher Staat ?
49
26 Anton Staudinger : Aspekte christlichsozialer Föderalisierungspolitik 1918–1920. – In : Die österreichische Verfassung von 1918 bis 1938. Protokoll des Symposiums in Wien am 19. Oktober 1977. Wien 1980. S. 62–68. 64. (Wissenschaftliche Kommission des Theodor-Körner-Stiftungsfonds und des Leopold-Kunschak-Preises zur Erforschung der österreichischen Geschichte der Jahre 1918 bis 1938. Veröffentlichungen Band 6. Hg. v. Rudolf Neck und Adam Wandruszka.) 27 Vgl. Judith Garamvölgyi : Betriebsräte und sozialer Wandel in Österreich 1919/20. Wien 1983. (Studien und Quellen zur österreichischen Zeitgeschichte. Hg. im Auftrag der Wissenschaftlichen Kommission des Theodor-Körner-Stiftungsfonds und des Leopold-Kunschak-Preises zur Erforschung der österreichischen Geschichte der Jahre 1918 bis 1938 von Rudolf Neck und Adam Wandruszka. Band 5.) Erwin Wessel : Die Ohnmacht des Sieges. Arbeiterschaft und Sozialisierung nach dem Ersten Weltkrieg in Österreich. Wien 1976. 28 Zur Position Kelsens vgl. Reinhard Owerdieck : Parteien und Verfassungsfrage in Österreich. Die Entstehung des Verfassungsprovisoriums der Ersten Republik 1918–1920. Wien 1987. S. 85ff. (Studien und Quellen zur österreichischen Zeitgeschichte. Hg. im Auftrag der Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Geschichte der Republik Österreich von Isabella Ackerl und Rudolf Neck. Band 8.) 29 Rennhofer : Seipel. S. 189. 30 Salzburger Chronik, 10. 1. 1920. S. 1. 31 Reichspost, 21. 12. 1919. S. 4. 32 Salzburger Chronik, 17. 2. 1920. S. 1. 33 Salzburger Chronik, 15./16. 2. 1920. S. 1. 34 Salzburger Chronik, 17. 2. 1920. S. 1f. 35 Salzburger Chronik, 18. 2. 1920. S. 1. 36 Ebd., S. 1f. 37 Ebd., S. 2. 38 Günther Schefbeck : Verfassungsentwicklung 1918–1920. – In : 75 Jahre Bundesverfassung. Festschrift aus Anlass des 75. Jahrestages der Beschlussfassung über das Bundes-Verfassungsgesetz. Hg. v. d. Österreichischen Parlamentarischen Gesellschaft. Wien 1995. S. 53–107. S. 92. 39 Salzburger Chronik, 19. 2. 1920. S. 1. 40 Salzburger Chronik, 2. 4. 1920. S. 1. 41 Salzburger Chronik, 8. 4. 1920. S. 1. 42 Salzburger Chronik, 25./26. 4. 1920. S. 1. 43 Stenografische Protokolle des Nationalrates. 1. Republik. Nr. 76. 27. April 1920. S. 2275f. 44 Ebd., S. 2279. 45 Ebd., S. 2282. 46 Salzburger Chronik, 11. 5. 1920. S. 2. 47 Franz Rehrl : Die Verfassungsreform und die Finanzlage. – In : Salzburger Chronik, 23. 5. 1920. S. 1f. S. 1. Zu Rehrls Föderalismustheorie vgl. Herbert Dachs : Franz Rehrl und die Bundespolitik. – In : Wolfgang Huber (Hg.) : Franz Rehrl. Landeshauptmann von Salzburg 1922–1938. Salzburg 1975. S. 215–268. S. 220f. 48 Vgl. Felix Ermacora : Die Grundrechte in der Verfassungsfrage 1919/20. – In : Die österreichische Verfassung von 1918 bis 1938. S. 53–61. 49 Stenografisches Protokoll des Nationalrates. 1. Republik. Nr. 100. 29. 9. 1920. S. 3375f. 50 Ebd., S. 3383. 51 Karl Renner : Marxismus, Krieg und Internationale. Stuttgart 1917. S. 28. 52 Otto Bauer : Werke. Hg. v. d. Arbeitsgemeinschaft für die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung. 9 Bde. – Wien 1975/80. Bd. 5. S. 212ff.
Ewald Hiebl
Politische Lebenswege der bürgerlichen Eliten Der Gemeinderat der Stadt Hallein um 1900
1. Politische Eliten, gesellschaftliche Eliten? Die soziale Zusammensetzung des Gemeinderats Kurt Tweraser hat in seiner Untersuchung über den Linzer Gemeinderat von 1880 bis 1914 folgende Entwicklung in der Berufsstruktur der Gemeinderatsmitglieder festgestellt : Der Prozentsatz der Kaufleute und Kleinhändler nahm ab, ebenso jener der Fabrikanten, der Hoteliers und Gastwirte, der freien und akademischen Berufe sowie der hohen Staatsbeamten. Gestiegen ist hingegen vor allem der Anteil der mittleren Beamten sowie der Kleingewerbetreibenden.1 Das bedeutet eine Verschiebung der sozialen Zusammensetzung des Gemeinderates hin zum Mittel- und Kleinbürgertum, was auch der Entwicklung der Wahlbeteiligung – Anstieg der Wahlbeteiligung im dritten Wahlkörper – entspricht. In der Fraktion Hallein2 war der Anteil der Gewerbetreibenden und Handwerker im Gemeinderat bereits 1890 mit knapp 30 Prozent sehr hoch. Ihnen folgte die Gruppe der Beamten und Lehrer, dann die freien und akademischen Berufe sowie Kaufleute und Händler. Bis 1910 verschob sich das Bild dahin gehend, dass alle Gruppen außer den Gewerbetreibenden an Einfluss verloren, während Letztere mit 14 von 25 Sitzen bereits mehr als die Hälfte der Gemeinderatsmandate für sich verbuchen durften.3 Anders als in Linz war also in Hallein nicht in erster Linie die mittlere Beamtenschaft das politisch aufstrebende Element, sondern die alteingesessene Gruppe der Gewerbetreibenden und Handwerker. Doch auch innerhalb der Gruppe der Beamten und Lehrer kam es zu einer – wenn auch schwachen – politischen Ablösung zwischen 1890 und 1910 : Waren es im Jahre 1890 noch durchwegs mittlere bis kleine Landes- und Bezirksbeamte aus den Bereichen Justiz und Verwaltung4, die als Gemeinderäte aktiv waren, so stieg bis 1910 mehr und mehr die Gruppe der Lehrer5 ins politische Leben ein. Die Eingemeindung von Burgfried und Taxach brachte schließlich neue Berufsgruppen in den Halleiner Gemeindeausschuss, zunächst Bauern und Angestellte der Großbetriebe, 1912 dann auch die ersten Arbeiter (vgl. Tabelle).
52
Ewald Hiebl Berufsstruktur des Halleiner Gemeinderates 1896–1912 (in absoluten Werten)
gesamter Gemeinderat
1896
1899
1902
1906
1909
1912
7
5
4
3
4
5
13
12
14
20
20
18
Gastwirte, Bräuer
5
5
3
4
3
5
Hausbesitzer, Rentiers
0
1
1
0
0
3
freie und akademische Berufe
3
3
4
3
2
3
Beamte, Lehrer
6
8
8
6
7
6
Geistliche
1
1
0
0
0
0
Angestellte
2
2
3
2
1
3
Arbeiter
0
0
0
0
0
3
Gesamt
37
37
37
38
37
46
1896
1899
1902
1906
1909
1912
12
10
13
18
18
16
1
1
Bauern Handwerker, Gewerbetreibende, Kaufleute, Händler
Fraktion Hallein Handwerker, Gewerbetreibende, Kaufleute, Händler Gastwirte, Bräuer
5
Hausbesitzer, Rentiers
4
2
1
1
3 3
freie und akademische Berufe
3
3
4
2
2
2
Beamte, Lehrer
4
6
5
4
4
3
Geistliche
1
1
25
25
25
25
25
29
1896
1899
1902
1906
1909
1912
1
1
Angestellte Gesamt
Fraktion Burgfried
2
Bauern
2
Handwerker, Gewerbetreibende, Kaufleute, Händler
1
Gastwirte, Bräuer
2
1
2
2
2
1
1
2
1
1
freie und akademische Berufe
1
Beamte, Lehrer
2
2
3
2
Angestellte
1
1
1
1
1 3
1
Arbeiter Gesamt
Fraktion Taxach Bauern
3
2 6
6
6
8
7
11
1896
1899
1902
1906
1909
1912
5
5
4
3
3
4
53
Politische Lebenswege der bürgerlichen Eliten Fraktion Taxach
1896
1899
1902
Gastwirte, Bräuer Angestellte
1906
1909
1912
1
1
1
1
1
2
1
1
6
6
6
5
5
Arbeiter
1
Gesamt
6
Quellen: HSA, Sitzungsprotokolle der Stadtgemeinde-Vorstehung Hallein 1890; Volksfreund, 5.6.1896, 25.6.1896, 8.7.1899, 22.7.1899, 30.9.1899, 7.10.1899, 25.10.1902, 31.10.1902, 27.2.1909, 13.3.1909.
Berufsstruktur des Halleiner Gemeinderates 1896–1912 (in %) gesamter Gemeinderat
1896
1899
1902
1906
1909
1912
Bauern
18,9
13,5
Handwerker, Gewerbetreibende, Kaufleute, Händler
35,1
32,4
10,8
7,9
10,8
10,9
37,8
52,6
54,1
39,1
Gastwirte, Bräuer
13,5
13,5
8,1
10,5
8,1
10,9
Hausbesitzer, Rentiers
0,0
2,7
2,7
0,0
0,0
6,5
freie und akademische Berufe
8,1
8,1
10,8
7,9
5,4
6,5
Beamte, Lehrer
16,2
21,6
21,6
15,8
18,9
13,0
Geistliche
2,7
2,7
0,0
0,0
0,0
0,0
Angestellte
5,4
5,4
8,1
5,3
2,7
6,5
Arbeiter
0,0
0,0
0,0
0,0
0,0
6,5
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Fraktion Hallein
1896
1899
1902
1906
1909
1912
Handwerker, Gewerbetreibende, Kaufleute, Händler
48,0
40,0
52,0
72,0
72,0
55,2
Gastwirte, Bräuer
20,0
16,0
8,0
4,0
4,0
10,3
0,0
4,0
4,0
0,0
0,0
10,3
freie und akademische Berufe
12,0
12,0
16,0
8,0
8,0
6,9
Beamte, Lehrer
Gesamt
Hausbesitzer, Rentiers
16,0
24,0
20,0
16,0
16,0
10,3
Geistliche
4,0
4,0
0,0
0,0
0,0
0,0
Angestellte
0,0
0,0
0,0
0,0
0,0
6,9
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Fraktion Burgfried
1896
1899
1902
1906
1909
1912
Bauern
33,3
0,0
0,0
0,0
14,3
9,1
Handwerker, Gewerbetreibende, Kaufleute, Händler
16,7
33,3
16,7
25,0
28,6
18,2
0,0
16,7
16,7
25,0
14,3
9,1
Gesamt
Gastwirte, Bräuer
54 Fraktion Burgfried
Ewald Hiebl 1896
1899
1902
1906
1909
1912
0,0
0,0
0,0
12,5
0,0
9,1
Beamte, Lehrer
33,3
33,3
50,0
25,0
42,9
27,3
Angestellte
16,7
16,7
16,7
12,5
0,0
9,1
0,0
0,0
0,0
0,0
0,0
18,2
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Fraktion Taxach
1896
1899
1902
1906
1909
1912
Bauern
83,3
83,3
66,7
60,0
60,0
66,7
0,0
0,0
0,0
20,0
20,0
16,7
16,7
16,7
33,3
20,0
20,0
0,0
freie und akademische Berufe
Arbeiter Gesamt
Gastwirte, Bräuer Angestellte Arbeiter Gesamt
0,0
0,0
0,0
0,0
0,0
16,7
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Quellen: HSA, Sitzungsprotokolle der Stadtgemeinde-Vorstehung Hallein 1890; Volksfreund, 5.6.1896, 25.6.1896, 8.7.1899, 22.7.1899, 30.9.1899, 7.10.1899, 25.10.1902, 31.10.1902, 27.2.1909, 13.3.1909.
Das bis 1918 auf Gemeindeebene bestehende Kurienwahlrecht schloss die Gruppe der Besitzlosen vom aktiven politischen Leben aus. Nur etwa 12 Prozent der Bevölkerung waren zur Stimmabgabe berechtigt. Darunter befanden sich auch Angehörige der sozialen Unterschichten. Ihnen gelang es jedoch nicht, sich gegen die bürgerliche Mehrheit durchzusetzen. Innerhalb des Bürgertums zeigte sich dieser Gleichklang von sozialer und politischer Hierarchisierung mehr und mehr gestört : Im Gemeinderat von 1890 fanden sich mit dem Brauereibesitzer Josef Moldan, dem Landesgerichtsrat Karl Benedikt, dem Stadtpfarrer Johann B. Moser, dem Holzwarenhändler und Fabriksbesitzer Alois Oedl oder dem Zimmermeister, Sägewerksbesitzer und Elektrizitätswerkgründer Josef Schöndorfer – um nur einige zu nennen – noch sämtliche Honoratioren im Gemeinderat, die in der Hierarchie des alteingesessenen Bürgertums ganz oben standen. 1909 übernahm immer stärker das mittlere, weniger das kleine Bürgertum die Funktion als politische Elite. Der Sohn des allseits geschätzten Bürgermeisters der 1890er-Jahre, Johann Schöndorfer, brachte es 1909 nur mehr zur Funktion eines Ersatzmitgliedes. Die verstärkte Ideologisierung hatte das ideologische Moment über die soziale Hierarchisierung als Grundlage der politischen Partizipation gestellt. Auffällig ist, dass diese Fraktionierung in Hallein nur kurz als Kampf zwischen altem Liberalismus und aufkommendem Deutschnationalismus geführt wurde. Ab der Jahrhundertwende wurden die Auseinandersetzungen dann innerhalb des Kommunalvereins als Sammelbecken aller liberalen und deutschnationalen Kräfte geführt. Die berufliche Gliederung nach Wahlkörpern zeigt, dass im ersten Wahlkörper die Gruppe der Beamten und Lehrer im gesamten Untersuchungszeitraum domi-
Politische Lebenswege der bürgerlichen Eliten
55
nierte. Gemeinsam mit den freien und akademischen Berufen stellten die Beamten immer mindestens drei Viertel der Ausschuss- und Ersatzmitglieder der ersten Kurie. Der zweite Wahlkörper war stets eine Domäne der Handwerker, wobei ihr Anteil tendenziell anstieg, von 50 Prozent im Jahr 1896 über 75 (1902) auf 62,5 Prozent im Jahr 1909. Der dritte Wahlkörper zeigte zunächst das am breitesten gestreute Berufsspektrum : Handwerker, Gastwirte, Selbstständige im Dienstleistungssektor, Realitätenbesitzer und der Halleiner Stadtpfarrer waren als Ausschussmitglieder tätig, nie jedoch Beamte oder Lehrer. Im Laufe der Zeit erlangte auch hier die Gruppe der Handwerker die Oberhand, im Jahr 1909 stellte sie mit acht von neun Ausschussund Ersatzmitgliedern die bei weitem dominierende Mehrheit. Die Steuerlisten von 1903 bieten Informationen über die Binnendifferenzierung innerhalb der ›Großgruppe‹ der Handwerker, Gewerbetreibenden und Händler. Danach war die Sozialstruktur der gewählten Vertreter keineswegs ein Spiegelbild der sozialen Zusammensetzung der Wählerschaft. Vielmehr zeigt sich eine breite Streuung vom Bekleidungshandwerk über Holz- und Seilverarbeitung, Baugewerbe, Metall- und Nahrungsmittelhandwerk bis hin zum Transport- und Handelsgewerbe. Offensichtlich wurde die Teilnahme vieler verschiedener Gewerbetreibender für die Vertretung möglichst breiter Kreise der Handwerker als notwendig erachtet. Viel weniger ausgeglichen war die Zusammensetzung des Gemeinderates, was die geleisteten Steuern betrifft. Die kleinen Gewerbetreibenden waren in der institutionalisierten Gemeindepolitik nicht vertreten. Die knapp 500 Wahlberechtigten im dritten Wahlkörper wählten ausschließlich Mandatare, die unter den 82 größten Steuerträgern ihrer Kurie zu finden waren. Etwas breiter gestreut war das Spektrum im zweiten Wahlkörper. Etwa 60 Wahlberechtigte votierten für Kandidaten, die unter den 41 größten Steuerträgern ihrer Kurie zu finden waren. Die Tendenz ist jedoch in beiden Fällen die gleiche : Die ökonomisch dominierenden Mitglieder der einzelnen Kurien wurden in die politischen Funktionen gewählt.6
2. Politische Lebenswege Im Folgenden gilt es die Entwicklung der politischen Elite auf Ebene der Stadtgemeindepolitik zu untersuchen. Als theoretischer Ausgangspunkt dient die bereits skizzierte Theorie der politischen Fraktionierung. Ausgehend von der konkreten Entwicklung in der Stadt Hallein ist von folgender Hypothese auszugehen : Trotz einer vermehrten politischen Ideologisierung und Fraktionierung kommt es durch die hohe Dominanz der Liberalen und später durch die Gründung des Kommunalvereins zu keinen starken Diskontinuitäten im Halleiner Gemeinderat. Vorweg muss jedoch betont werden, dass die Karrierewege der Mitglieder des Halleiner Gemeindeausschusses sehr unterschiedlich waren.7 Statt eines typischen
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Karrieremusters gibt es zahlreiche voneinander stark abweichende ›politische Lebenswege‹ (vgl. Tabelle S. 52–54). Allein die Karrieren der zwischen 1890 und 1914 gewählten Bürgermeister zeigen diese große Heterogenität. Josef Schöndorfer avancierte vom einfachen Gemeindeausschussmitglied direkt zum Bürgermeister. Sein Nachfolger wurde 1899 der damals längstdienende Gemeinderat, der Arzt Benedikt Speckbacher. Er wurde nach sieben Jahren in der zweithöchsten Funktion der Stadtgemeinde zum Bürgermeister berufen. Johann Brandl, der Speckbacher 1906 ablöste, kam sozusagen als ›Quereinsteiger‹ in die höchste Funktion in der Gemeinde, nachdem er Ende der 1890er-Jahre drei Jahre als Gemeinderat fungiert hatte, dann aber sieben Jahre lang nicht im Gemeindeausschuss tätig war. Insgesamt sind bis 1909 im Halleiner Gemeindeausschuss vier verschiedene Funktionen zu unterscheiden. An der Spitze der Gemeinde stand der Bürgermeister, der vom Gemeindeausschuss gewählt wurde. Ihm standen sechs Gemeinderäte zur Seite. Gemeinsam mit dem Bürgermeister bildeten sie den Gemeindevorstand. Mit den insgesamt 18 ordentlichen Gemeindeausschussmitgliedern bestand der Halleiner Gemeindeausschuss aus insgesamt 25 Mitgliedern. Dazu wurden 13 Ersatzmitglieder gewählt, welche in Sitzungen nicht teilnehmende Gemeindeausschussmitglieder vertreten bzw. bei gänzlichem Ausscheiden eines Gemeindeausschussmitglieds diesem in seiner Funktion nachrücken sollten. 1909 wurde das Amt des Gemeinderats abgeschafft. An die Stelle der sechs Gemeinderäte traten zwei Vizebürgermeister.8 Zeigen schon die Karrieren der Bürgermeister starke Unterschiede, so sind auch die Karrieren der Gemeinderäte und -ausschüsse in mehrere Typen zu unterteilen. Der erste Typus zeigt den klassischen Aufstieg vom Ersatzmitglied zum Gemeindeausschuss und in manchen Fällen weiter zum Gemeinderat. Ein Großteil der Karrieren endete jedoch bei der Funktion eines Gemeindeausschusses. Manche kamen über die Funktion eines Ersatzmitgliedes nicht hinaus. Die Grenzen zwischen Ersatzmitgliedern und Gemeindeausschüssen waren jedoch fließend. Oft fungierten Ersatzmitglieder als ›De-facto-Gemeindeausschüsse‹, waren bei fast allen Sitzungen anwesend, obwohl sie nie in die Funktion eines ordentlichen Gemeindeausschusses ›befördert‹ wurden. Die Funktion des Gemeinderates war vor Einführung der Bezeichnung ›Vizebürgermeister‹ offiziell das zweithöchste Amt in der Stadt. In den meisten Fällen (15 von 24) beendeten Gemeinderäte in dieser Funktion ihre politische Laufbahn. Während in der Fraktion Hallein die Hälfte der Gemeinderäte noch vor der Beendigung ihrer politischen Karriere wieder zu ihrer Funktion als Gemeindeausschuss zurückkehrte, beendeten sämtliche (6) Gemeinderäte der Fraktionen Burgfried und Taxach als solche ihre Karriere. Dafür war offensichtlich die stärkere Politisierung in der Stadtfraktion verantwortlich. Sie hat die Zahl der Kandidaten um die höheren politischen Ämter erhöht und damit die Auseinandersetzung gesteigert. In den Fraktionen Taxach und Burgfried, in denen auch die Wahlbeteiligung deutlich ge-
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ringer war als in der Fraktion Hallein, schien das Amt eines Gemeinderates weniger begehrt gewesen zu sein, weshalb es Mandataren, die es einmal übernommen haben, auch bis zu ihrem Rückzug aus dem politischen Leben blieb. Die Verweildauer in den Funktionen betrug durchschnittlich 5,8 Jahre, also etwas weniger als zwei Legislaturperioden.9 Die hohe Standardabweichung (3,94) – in allen Fraktionen mit Ausnahme Taxach – zeigt jedoch, dass dieser Durchschnittswert sich aus eher sehr kurzen und langen Dienstzeiten zusammensetzt. Für die sehr kurzen Amtszeiten zeichnen die Ersatzmitglieder verantwortlich, die oft nur für eine kurze Periode tätig sind. Es gibt jedoch auch Abgeordnete, die bis zu neun Jahre lang als Ersatzmitglieder tätig sind und dann erst zu ordentlichen Gemeindeausschüssen aufsteigen. Die Dauer der Tätigkeit korreliert mit der Bedeutung der Funktion. Die Ersatzmitglieder waren mit 2,48 Jahren – wie bereits angeführt – am kürzesten tätig. Das entspricht auch ihrer Funktion als Stellvertreter für verhinderte bzw. ausscheidende Gemeindeausschussmitglieder. Fast doppelt so lang wie die Ersatzmitglieder währte die Funktionsdauer der Gemeindeausschüsse (4,69 Jahre). Nur wenig länger waren die Gemeinderäte durchschnittlich im Amt, nämlich 5,04 Jahre. Und durchschnittlich sieben Jahre dauerte die Amtszeit eines Halleiner Bürgermeisters im Untersuchungszeitraum. Daraus ergibt sich, dass die leitende Funktion eines Gemeinderates nur unwesentlich länger besetzt war als jene eines Gemeindeausschusses. Die statistischen Maßzahlen deuten ein wesentliches Phänomen der Funktionsdauer an, wenn sie stark vom Mittelwert abweichende Werte darstellen. Am auffälligsten, da aufgrund der geringeren Zahl von Gemeindeausschüssen am übersichtlichsten, zeigt sich in der Fraktion Burgfried eine Trennung in zwei Kategorien von Gemeindeausschussmitgliedern. Während die Mehrzahl nur jeweils eine Wahlperiode im Amt bleibt, sorgen wenige Abgeordnete für Kontinuität. Sie sind es dann auch, die die Funktion eines Gemeinderates übernehmen. Etwas komplexer gestaltet sich die Situation in Hallein. Doch auch hier ist die Trennung zwischen kurzfristig tätigen und längerfristig aktiven Ausschüssen erkennbar. Ebenso wie in Burgfried soll hier Kontinuität gewahrt bleiben. Die Ablösung einer Generation erfolgt nicht innerhalb weniger Jahre, sondern über den Untersuchungszeitraum hinweg. Von den 26 im Jahr 1890 im Gemeindeausschuss tätigen Mitgliedern zogen sich 1908 die letzten drei aus dem politischen Leben zurück. Die 1890 Tätigen waren durchschnittlich noch knapp elf Jahre im Amt, also bis etwa 1901. Und von den 19 im Jahr 1914 tätigen Vertretern der Fraktion Hallein des Gemeinderates begannen zwei 1895, sechs zwischen 1903 und 1904 sowie weitere sechs zwischen 1907 und 1909 ihre politische Karriere. Sie waren durchschnittlich seit knapp acht Jahren, also seit etwa 1907 im Amt. Dazwischen lag eine Übergangszeit, die – wie später noch gezeigt werden soll – nicht nur durch die Länge der Dienstzeit gekennzeichnet war. Für jene, die zwischen 1891 und 1898 neu in den Gemeinderat kamen, betrug die zu erwartende Dienstzeit lediglich etwa fünf Jahre. Dieser Wert stieg dann bis 1905
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nur gering an. Für die 1909 gewählten Mandatare galt, dass sie fast ausschließlich bis Ende des Untersuchungszeitraumes im Gemeinderat tätig waren. Bei den Dienstjahren der aus dem Gemeinderat Ausscheidenden sind die hohen Standardabweichungen zu beachten. So lag die durchschnittliche Dienstzeit der scheidenden Gemeindeausschüsse im Jahr 1908 bei 10,57 Jahren, die Standardabweichung betrug 7,42. Das heißt : Neben sehr lang dienenden Gemeinderäten legten auch zahlreiche erst kurz im Amt befindliche ihre Funktion nieder (vgl. Tabelle S. 52–54). In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass die politische Tätigkeit eines Mandatars oft durch Pausen von einer, selten mehr Funktionsperioden unterbrochen war. Dabei spielten natürlich politische Richtungsauseinandersetzungen eine große Rolle. Daneben scheinen auch andere Gründe – privater wie geschäftlicher Natur – ausschlaggebend gewesen zu sein. Die eingangs skizzierte Kontinuität lässt sich bei näherer Betrachtung in mehrere Phasen unterteilen. Kriterien für diese Unterteilung sind die Anzahl der aus dem Gemeinderat austretenden sowie die neu eintretenden Mitglieder, und dann die Unterscheidung danach, ob sie ihre politische Karriere beginnen oder beenden oder ob sie nach einer Pause wieder in den Gemeinderat kommen bzw. ausscheiden, um später wieder zurückzukehren. Demnach dauert die erste Phase einer sehr stabilen Funktionärsschicht vom Untersuchungsbeginn bis zu den Wahlen von 1895. Hier kommt es erstmals zu einem – politisch bedingten – Auswechseln der Gemeindeausschussmitglieder. Die nun beginnende zweite Phase (1895–1899) zeichnet sich durch einen hohen Anteil an erstmals eintretenden sowie vorübergehend austretenden Mandataren aus. Die dritte Phase (1899–1902) zeigt sowohl einen hohen Anteil an vorübergehend ausscheidenden als auch zahlreiche wieder eintretende Gemeindeausschüsse. In der darauffolgenden vierten Phase (1903–1908) bleibt die Zahl der wieder eintretenden Mandatare relativ hoch, während jene der vorübergehend ausscheidenden fast gänzlich abnimmt. In einer letzten Phase (1909–1913) nimmt auch die Zahl der wieder eintretenden Gemeindeausschüsse ab. Spätestens hier scheint sich – nach einer 15-jährigen Übergangsperiode – eine neue politische Elite etabliert zu haben. Die unvollständigen Informationen über Alter und Herkunft der Gemeindeausschüsse erlaubt keine umfassenden Erklärungen.10 Von etwa 60 Prozent der Gemeindeausschussmitglieder ist das Geburts- oder Sterbedatum erhalten. Aus diesen Daten ergibt sich folgendes Bild : Nur wenige Mandatare scheiden durch Tod oder schwere Krankheit aus dem Gemeindeausschuss aus. Dem Ausscheiden aus ihrer Funktion – durchschnittlich im sechsten Lebensjahrzehnt – folgen in der Regel noch einige Jahre ›Ruhestand‹. Auch die regionale Mobilität spielt so gut wie keine Rolle. Meist sind es die wenigen Beamten in der Stadt, welche ihre Karrierechancen nützen und höheren Positionen in anderen Städten zuliebe Hallein verlassen. Die politische Elite im Untersuchungszeitraum ist also in der Regel zwischen 40 und
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60 Jahren alt und zieht sich noch vor einer altersbedingten Unfähigkeit, ihr Amt auszuüben, aus der Politik zurück. Ab dem Jahr 1902 kommt es zu einer Verjüngung innerhalb des Gemeindeausschusses. Einige 30- bis knapp 40-Jährige beginnen – zunächst als Ersatzmitglieder – ihre Karriere. Diese langsame Ablösung der alten politischen Elite ist nicht nur generationsbedingt, da sie vor allem in den Wahljahren große Brüche zeigt und in der Übergangszeit von einem hohen Anteil an vorübergehend Ausscheidenden oder Wiedereintretenden geprägt ist. Sie ist Ergebnis der bereits weiter vorne beschriebenen Formierung und Etablierung der bürgerlichen politischen Lager. Die wahlkämpferischen Auseinandersetzungen zwischen Klerikalen, Altliberalen und Deutschnationalen fielen in die Zeit zwischen 1895 und 1902. Erst nach einiger Zeit gelang es dem seit 1902 als Sammelbecken aller bürgerlichen politischen Richtungen kandidierenden Kommunalverein, die Stabilität im Gemeinderat wiederherzustellen.11 Die Verjüngung des Gemeinderates hängt auch mit der vermehrten Durchsetzung deutschnationalen Gedankenguts innerhalb des Kommunalvereins und einer fortschreitenden Radikalisierung in Richtung Rassismus und Antisemitismus zusammen. Was eingangs aufgestellte Hypothesen anbelangt, kann gesagt werden, dass die personelle Diskontinuität in der Zeit bis 1902 größer war als erwartet. Daraus ergibt sich, dass die Liberalen ab 1895 von ihrer Dominanz eingebüßt haben, die Gründung des Kommunalvereins dann aber zu einer stärkeren Kontinuität in der Gemeindepolitik geführt hat. Die ideologischen Auseinandersetzungen wurden aus dem öffentlichen Bereich in jenen der ›Partei‹ (Kommunalverein) verlagert. Damit wurde die Gefahr einer Spaltung des bürgerlichen Lagers verhindert. Immer stärker jedoch gewannen die Deutschnationalen die Oberhand im Kommunalverein und bestimmten die politischen Themen.
Anmerkungen 1 Kurt Tweraser : Der Linzer Gemeinderat. In : Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 1979 (1980), S. 328. Die genauen Prozentwerte lauteten : Kaufleute und Kleinhändler : 36,3 % (1890) – 33,3 % (1900) – 18,8 % (1913) ; Fabrikanten : 8,3 – 11,1 – 4,2 ; Hoteliers und Gastwirte : 8,3 – 2,8 – 4,1 ; freie und akademische Berufe : 13,9 – 22,2 – 12,6 ; hohe Staatsbeamte : 13,9 – 8,3 – 8,3 ; mittlere Beamte : 5,5 – 11,1 – 20,9 ; Kleingewerbetreibende : 8,3 – 11,2 – 16,7. 2 Die folgenden Auswertungen beziehen sich auf die Fraktion Hallein im Halleiner Gemeinderat. Bis zu den Ausführungen über die Fraktionen Burgfried und Taxach meint ›Hallein‹ also genauer die ›Fraktion Hallein im Halleiner Gemeinderat‹. 3 Alle Angaben über Wahlergebnisse, Wahlbeteiligung, soziale Zusammensetzung des Gemeinderates beruhen auf eigenen Berechnungen. Quellen : HSA, Sitzungsprotokolle der Stadtgemeinde-Vorstehung Hallein 1890 ; Volksfreund, 5.6.1896, 25.6.1896, 8.7.1899, 22.7.1899, 30.9.1899, 7.10.1899, 25.10.1902, 31.10.1902, 27.2.1909, 13.3.1909. 4 Landesgerichtsrat Karl Benedikt, Bergrat Johann Heupel, Bezirksrichter Dr. Anton Sieber.
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5 Bürgerschuldirektor Josef Krassinksy, Fachlehrer Karl Louis. 6 Eigene Berechnungen nach HSA, Gemeinde-Umlage von Hallein, Burgfried und Taxach 1903 ; Volksfreund, 25.10.1902, 31.10.1902. 7 Die empirische Grundlage für die folgende Untersuchung bilden alle im Untersuchungszeitraum als Mandatare im Gemeinderat tätigen Personen, also auch Ersatzmitglieder, die an Gemeindeausschusssitzungen teilnahmen. Nicht berücksichtigt wurden gewählte Ersatzmitglieder, die nie an Sitzungen teilnahmen. Grund dafür ist die Praxis der Protokollführung des Gemeindeausschusses, der bis zur Jahrhundertwende genau zwischen Gemeindeausschüssen und Ersatzmitgliedern unterschied, diese Differenzierung später jedoch wegließ und Ersatzmitglieder als Gemeindeausschüsse bezeichnete. 8 Volksfreund. 20.3.1909. 9 Zur Berechnung herangezogen wurden die Jahre zwischen 1890 und 1914. Kandidaten, welche vor 1890 ihre politische Laufbahn begonnen oder nach 1914 beendet hatten, wurden miteinbezogen. Ihre tatsächliche Amtszeit dürfte länger gewesen sein als die zur Berechnung herangezogene. Trotzdem ist die naheliegende Vermutung, ihre Berücksichtigung senke den Durchschnittswert, nicht richtig. Denn zieht man nur jene Abgeordneten zur Berechnung heran, welche nach 1890 ihre Laufbahn begonnen und vor 1914 wieder beendet haben, so sinkt der Durchschnittswert drastisch auf 3,71 Jahre. 10 Informationen über die biographischen Daten der Gemeindeausschussmitglieder stammen aus den Halleiner Kirchenbüchern, aus im Halleiner Stadtarchiv gesammelten Zeitungsartikeln sowie aus einem biografischen Lexikon über Hallein. Vgl. Halleiner Geschichtsblätter 4 : Halleiner Biographien (1985). 11 Eigene Berechnungen aus : HSA, Sitzungsprotokolle der Stadtgemeinde-Vorstehung Hallein 1890–1914 ; Volksfreund, 5.6.1896, 25.6.1896, 8.7.1899, 22.7.1899, 30.9.1899, 7.10.1899, 25.10.1902, 31.10.1902, 27.2.1909, 13.3.1909, 9.3.1912, 16.3.1912.
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»(…) ein in begeisterter Verehrung ergebener Unterthan !«1 Das Gymnasium Rosasgasse im Spiegel seiner Jahresberichte 1884–1917. Versuch einer zeitgeschichtlichen Deutung
Das Wiener Gymnasium Rosasgasse im 12. Gemeindebezirk hat seit seiner Gründung im Jahre 1883 als eine Kommunalschule der damaligen Vorortegemeinde Unter-Meidling durchgehend bis zum Jahr 1917 Jahresberichte herausgegeben. Dann endet diese Serie und setzt erst wieder im Jahr 1946 ein, fortlaufend bis heute. Die massiven, zum Teil auch gewaltvollen politischen Systembrüche der Zeit 1918 bis 1945 brachten die Schule zum Schweigen. Dies zeigt, dass Schule generell ein Bereich ist, der eng und sensibel mit dem jeweiligen politischen und gesellschaftlichen System eines Staates verflochten ist. Das macht den besonderen heuristischen Wert von Jahresberichten als historische Quelle aus. Aber folgende Fragen öffnen sich dabei : Wie geht man an diese Quelle heran ? Wie sind diese Berichte zu lesen und als historische Spur zu dekodieren ? Der einfachste, vordergründigste Blick ist der auf die Rohdaten. Jahresberichte zeigen die Eckpunkte einer spezifischen Schulbiografie. Die äußere Schulentwicklung ist darin abzulesen : 1889 – das »öffentliche Communal-Gymnasium« der Gemeinde Unter-Meidling wird in die Staatsverwaltung übernommen, die Schule ist nun ein »k. k. Staats-Gymnasium« ; 1890 – nach der Eingemeindung des Vorortes Meidling in die Residenzstadt Wien ist es das Gymnasium im 12. Wiener Bezirk ; 1891/92 – Schulneubau ; Mit Beginn des Schuljahres 1892 übersiedelt die Schule an die heutige Adresse, Einweihungsfeier am 19. 9. 1892 ; 1897 – auf Initiative der Direktion darf sich die Schule offiziell »k. k. Carl Ludwig-Gymnasium« nennen, nach Erzherzog Carl Ludwig, dem 1896 verstorbenen Bruder des Kaisers und Vater des Thronfolgers Franz Ferdinand. Das innere Schulleben ist in den Texten dokumentiert : Lehrer- und Schülerstand, Statistiken, Erlässe, Schulfeiern, Veranstaltungen, Exkursionen, Bibliotheksbestände, Schularbeitsthemen, Angaben der Maturaarbeiten usw. Jahresberichte sind grundsätzlich Selbstrepräsentationen einer Schule nach innen und vor allem nach außen. Das bestimmt diese Texte in Inhalt, Form und Sprache. Dazu gehörte damals auch, dass Gymnasiallehrer in den Jahresberichten aus ihren Fachgebieten Aufsätze und Texte publizierten, die um wissenschaftliche Qualität bemüht waren. Damit machten die Autoren für sich selbst als Lehrer, aber auch für den Schultyp des humanistischen Gymnasiums den Anspruch deutlich, als Be-
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standteil der bildungsbürgerlichen und akademischen Elite akzeptiert zu werden.2 Doch grundsätzlich gilt für schulische Jahresberichte damals wie heute, dass Kritik und schon gar Selbstkritik ihre Sache nicht ist. Sie präsentieren sich zumeist stark formalisiert, standardisiert, bis hin zum Floskelhaften. Primär sind sie Rechtfertigungstexte, und das umso mehr und offensichtlicher, je stärker die Schule einem dirigistischen politischen System unterworfen ist. Für die Zeit von 1883 bis 1917 war genau dies der Fall. Die hoch komplexe Habsburgermonarchie war damals und bis zu ihrem Ende nur ein halbdemokratischer, halbparlamentarischer Staat – für die Zeit des Krieges ab 1914 nicht einmal das –, das obrigkeitsstaatliche, autoritäre Prinzip und ein allumfassender Paternalismus blieben bestimmend. Eine liberale, offene Zivilgesellschaft konnte sich in Österreich nur sehr verspätet, erst weit in der Zweiten Republik entwickeln.3 Die Jahresberichte des Gymnasiums Rosasgasse von 1884–1917 halten somit nicht allein eine spezifische Schulgeschichte fest, sondern in ihnen manifestieren sich zugleich Eckpunkte der Geschichte der späten Habsburgermonarchie. Darin vor allem besteht ihr wichtigerer Quellenwert. Das liegt auch daran, dass Schulen generell ein Instrument des Staates sind. Die jeweils hegemonialen gesellschaftlichen und politischen Kräfte definieren die formalen und inhaltlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer an Schulen die Vermittlung von Kenntnissen und Werten an die jungen Generationen erfolgen soll. In den Schulen geschieht somit staatlich reglementierte Sozialisation.4 Dementsprechend erscheinen umgekehrt schulische Jahresberichte als Repräsentationen herrschender gesellschaftlicher und politischer Systeme und sind darum mitunter Gegenstand gesellschaftswissenschaftlicher Untersuchungen. Ein historisches Interesse aber, das allein auf das Vergangene gerichtet wäre, müsste sich unweigerlich die kritische Frage nach seiner Erkenntnisrelevanz gefallen lassen. Es hätte zweifellos ein Rechtfertigungsproblem. Der historische Blick, der auf geschichtliches Verstehen aus ist, hat den Kontext von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Auge. Er verfolgt Kontinuitäten und Brüche, sucht Zusammenhänge, zielt auf eine interpretierende Synthese, schließlich auf eine Vergegenwärtigung. Davon soll auch die folgende Betrachtung der Jahresberichte der Rosasgasse aus den Jahren 1884–1917 geleitet sein. Obwohl aus einem weiten Blickwinkel 1914 bzw. 1917/18 jene weltgeschichtlichen Zäsuren sind, die das »lange 19. Jahrhundert« enden und das »kurze 20. Jahrhundert« beginnen lassen5, und dies auch grundsätzlich für Österreich zutrifft, zeigt doch ein fokussierter Blick auf dieses Österreich, dass dessen spezifisches 20. Jahrhundert seine Anfänge schon in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten der Habsburgermonarchie hat, in den 1880er- und 1890er-Jahren. Neben anderen Faktoren sind hier zu nennen : die Formierung der politischen Lager und Ideologien, darunter des Politischen Katholizismus, der nationalen Massenbewegungen und die Auseinandersetzung zwischen einer deutschen oder österreichischen Identitätsbildung.6 In einer
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größeren Perspektive schreibt Karl Dietrich Bracher zur formierenden Bedeutung der Zeit um 1900 : »Die Jahrhundertwende bildet den Kristallisationspunkt einer Zeit der Gärung, die von den Achtzigerjahren bis 1914 reicht. Es ist gleichsam die Bereitstellung der Ideen und Weltanschauungen, der politischen Heilslehren wie des technisch-ökonomischen und sozial-psychischen Potenzials, das die Mobilisierung der Massen für absolut gesetzte Ziele und die Bereitstellung oder Anfälligkeit nicht zuletzt auch von Bürgern und Intellektuellen für den Prozess der totalitären Verführung überhaupt ermöglicht.«7 Es war vor allem der »Kampf um die österreichische Identität«8, der die österreichische Geschichte im 20. Jahrhundert so folgenreich und letztlich weltgeschichtlich bedeutsam bestimmt hat. Denn der auch wesentlich aus diesen Identitätsproblemen resultierende »Anschluss« 1938 und dann Österreich im NS-Staat sind mit der Herrschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und insbesonderes mit der des Holocaust engstens, ja zum Teil konstitutiv verbunden. Aber auch der Erste Weltkrieg und seine Vorgeschichte waren mit den Konflikten österreichischer Identitätsfragen behaftet. Die beiden Weltkriege und der Zivilisationsbruch der Shoah sind die überragenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Sie sind die Schlüsselereignisse dieses Zeitalters und bilden heute – vor allem der Holocaust – die zentralen Inhalte europäischer Gedächtniskultur.9 Österreich und seine Gesellschaft standen im Epizentrum dieser Megakatastrophen – aber nicht bloß als ein mitbetroffener Weltteil, sondern auch als ein Hauptakteur und Mitverursacher. Da nun die Jahresberichte 1884/1917 genau jenen Zeitraum umfassen, der die historischen Wurzeln dieser Katastrophen enthält, bietet sich der Versuch an, diese Berichte auch mit dieser Perspektive zu lesen : Mit dem Blick auf den Ereignishorizont österreichischer Zeitgeschichte von 1914/18–1938/45. Allein schon äußere Gedenkmarken im Schulgebäude indizieren die gedächtniskulturelle Dominanz dieser beiden Eckdaten. Während die Gründungsgeschichte des Gymnasiums Rosasgasse in der Habsburgermonarchie heute nur mehr versteckt angedeutet ist, an Wandstuckaturen mit Kroneninsignien und Kaiser-Initialen FJI unterhalb der Decke des Treppenhauses, erinnern auffälliger zwei große schwarze Marmortafeln gleich im Schuleingang an Angehörige der Schule, die als Soldaten in den beiden Weltkriegen gefallen sind. Dass hier eine ganz wesentliche dritte Gedenktafel noch fehlt, die an ganz andere Opfer erinnern sollte, nämlich an einstige jüdische Schüler, die nach dem »Anschluss« von der Schule verwiesen wurden und dann der NS-Verfolgung ausgeliefert waren, widerspiegelt nur die allgemeinen Signaturen österreichischer Gedenkpolitik nach 1945. Man konzentrierte sich hier bald auf ein überwiegend exkulpierendes Gefallenengedenken, drängte dabei die Opfer des antinazistischen Widerstandes an den Rand des öffentlichen Gedenkens. Die österreichischen Opfer der Shoah wurden überhaupt aktiv beschwiegen, denn sie
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widersprachen zu offenkundig der österreichischen Opfererzählung, erinnerten zu sehr an die eigene Mitverantwortung an der NS-Herrschaft, zu sehr an die österreichische Tätergeschichte.10 Der evidenteste sachliche Deutungskontext der Jahresberichte 1884/1917 mit der Zeit zwischen 1918 und 1945 liegt in der generationellen Verschränkung. Denn so groß ist die generationelle Distanz zwischen diesen beiden Zeitabschnitten nicht, die in der Geschichte zumeist als getrennte Kapitel und mit dem Vorzeichen von Bruch und Zäsur gehandelt werden. Die Gymnasiasten aus der späten Habsburgermonarchie waren schließlich dann die politisch Handelnden in den zahlreichen Krisen- und Entscheidungsjahren der Ersten Republik und bis in die NS-Zeit hinein. Und sie waren meistens auch Handelnde als Teil der gesellschaftlichen Elite, als Entscheidungsträger und Meinungsbildner. Die Jahresberichte gaben auch immer die geplante Berufs- und Studienwahl der Maturanten an. Von 1891 bis 1917 dominieren bei weitem die Angaben Jus und Beamtenlaufbahn, dann folgen Medizin und Theologie. Häufig sind auch die Angaben Philologie (klassische, moderne) und Philosophie. Der Jubiläumsbericht von 1908 enthält ein Verzeichnis der Berufe und Studienrichtungen aller Maturanten seit dem Jahr 1891. Hier wimmelt es von k. k. Ministerialbeamten und anderen k. k. Beamtentiteln, von Juristen, Ärzten, (Gymnasial-)Professoren, cand. jur., cand. med., cand. phil. … Alle diese Akademiker und Absolventen haben wesentliche Phasen ihrer Sozialisation und Bildung im Gymnasium erfahren. Daraus ergibt sich die Leitfrage für die folgende Deutung der Jahresberichte : Lassen sich in den Bildungs- und Schulstrukturen jener Periode Inhalte finden, die formierend und mitentscheidend sein konnten für die gesellschaftliche und politische Entwicklung Österreichs bis 1945 ? Repräsentativ für das Klima und geistige Milieu im gymnasialen Bildungssystem der späten Habsburgermonarchie erscheinen die schulischen Festveranstaltungen, die an der Rosasgasse gefeiert und in den Jahresberichten genau dokumentiert wurden. Zu einem großen Teil waren es Festzeremonien zu Ehren des Monarchen und der kaiserlichen Dynastie, aber auch verschiedene schulinterne Anlässe. So wurde die Einweihung des neu errichteten Schulgebäudes in der Rosasgasse im September 1892 mit einem großen Fest begangen. Jede Menge k. k. Ehrengäste, Blumen- und Flaggenschmuck, Hymnen, Chöre, Segnungen, Festmesse und viele Ansprachen. Auch Johann de Matha Wastl, der Gründungsdirektor des Gymnasiums Rosasgasse und dann sein langjähriger Leiter (bis 1911), hielt eine ausgedehnte Rede. Darin findet sich eine Passage, in der Direktor Wastl verdichtet die Bildungsziele an seiner Schule formuliert und dies gleich in Form eines Gelöbnisses. Wastl sieht den Festakt als Gelegenheit, »(…) in dieser weihevollen Stunde es neuerlich und öffentlich zu geloben, daß wir die Schüler, die in diesem Hause erzogen und unterrichtet werden sollen, zu wahrer Religiosität und Gottesfurcht, zu geistig und körperlich gesunden, redlichen und charakterfesten Männern, zu braven und tüchtigen Bürgern unseres theuren Vaterlandes,
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zu treuen Unterthanen unseres heißgeliebten Monarchen, und so zu innerlich zufriedenen Menschen heranbilden wollen, die ihre Kräfte nicht in der Jagd nach äußerem Genusse und nach äußeren Ehren verzehren, sondern in felsenfestem Gottvertrauen ihr inneres Glück suchen und in gewissenhafter Erfüllung ihrer Pflichten ihre Befriedigung finden.« (1893/75f) Nach dem Direktor ergriff der k. k. Statthalter Erich Graf Kielmansegg das Wort. Die programmatische Bildungserklärung des Pädagogen fasste der Politiker zu einer Trias zusammen : »Der Geist, der von den Lehrern in Wirklichkeit gepflegt und gefördert werden soll, das ist der Geist wahrer Religiosität, der Geist eines treuen Patriotismus, der Geist echt sittlicher Bildung !« (1893/83) Diese drei Einheiten bilden drei Bezugsebenen, die als die Säulen des damaligen gymnasialen Schulsystems erscheinen und sich so auch in den Jahresberichten der Rosasgasse darstellen : Schule und Monarchie, Schule und Religion, Schule und Humanismus. Sie sollen daher hier die Hauptlinien der Untersuchung der vorliegenden Jahresberichte ergeben. Der zentralen Bedeutung des Ersten Weltkrieges entsprechend wird sich außerdem ein Kapitel eigens mit der Schule im Krieg befassen.
Schule und Monarchie Nach dieser Rede des Statthalters sangen die Schüler eine Hymne, deren Text von Direktor Wastl verfertigt wurde : Die Schüler schworen darin unter anderem, »Getreu und wahr / So recht vom Herzen gern / Zu dienen unserm Herrn / Dem Kaiser und dem Land.« (1893/84) Der Direktor selbst präsentierte sich in dieser Gesinnung den Schülern als Vorbild. Schon in seiner Rede hatte er bekannt, was er neben anderem mit göttlicher Hilfe auch sein wolle : »(…) meinem Vaterlande ein dankbarer Sohn, meinem erhabenen Kaiser ein in begeisterter Verehrung ergebener Unterthan !« (1893/77) In diesen Zielen scheint die Schulerziehung in der Monarchie langfristig nicht unerfolgreich gewesen zu sein. Abgesehen von den bekannten autoritären Gesellschaftsentwicklungen 1918 bis 1945, mehrere Umfragen in der Zweiten Republik zur politischen Kultur zeigen noch bis Ende der 1980er-Jahre für Österreich eine ausgeprägte Untertanen- und Gehorsamsmentalität und ein relativ hohes autoritäres Potenzial.11 In der Habsburgermonarchie zur Zeit des Schuldirektors Wastl war der Begriff des Untertans in erster Linie an den schon jahrzehntelang im Amt stehenden, »guten, lieben Kaiser« gebunden und dann erst an den Staat. So schließt Wastl auch seine Rede in der Schuleinweihungsfeier mit einer expliziten Verehrungsbezeugung an Kaiser Franz Joseph I.: »Wo auf der weiten Welt regiert ein Monarch, welcher seine Völker inniger liebte, welcher für das Wohl seiner Unterthanen treuer besorgt wäre, welcher der Jugend mehr Huld schenken könnte als unser erhabener, gütiger Landesvater ! Wie wir deshalb immerdar mit schwärmerischer Liebe an unserem guten, lieben Kaiser hängen (…)« (1893/81) Aus der Fest-
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menge folgten nun »brausende Hoch-Rufe« mit »echt patriotischer Begeisterung«, und die Schule sandte ein Huldigungstelegramm an den Herrscher : »Seiner Majestät dem Allergnädigsten Kaiser Franz Joseph I., Lustschloss Schönbrunn. Die zur Eröffnungsfeier vereinigte Festversammlung huldigt Eurer Majestät Allerunterthänigst in einem begeisterten dreimaligen Hoch. Die Allergehorsamste Direction des k. k. Staats-Gymnasiums im XII. Bezirke von Wien.« (ebd.) Diese Zitate sind nur einige Beispiele von vielen einer an den Kaiser gerichteten demonstrativen Huldigungs- und Patriotismusrhetorik in Festreden und Artikeln, die in den Jahresberichten veröffentlicht wurden. Kultische Verehrung der habsburgischen Herrscherdynastie war ritualisierter Bestandteil im jährlichen religiösen Festprogramm der Schule. Zu den festen Daten in den alljährlichen Schulchroniken der Jahresberichte gehörten der 4. Oktober und der 19. November. Diese Tage waren die »Allerhöchsten Namensfeste« (1884/18) des Kaiserpaares Franz Joseph und Elisabeth und wurden stets mit einem Festgottesdienst unter Anwesenheit der Schüler und des Lehrkörpers begangen. Auch nach dem Tod Elisabeths wurde an jedem 19. November ein schulischer Gedächtnisgottesdienst abgehalten. An den Begräbnistagen des Kronprinzen Rudolf und der Kaiserin Elisabeth fanden schulische Trauergottesdienste statt, und auf ministerielle Anordnung hin war an diesen Tagen gänzlich unterrichtsfrei. Über die ermordete Kaiserin bringt der Jahresbericht 1899 erwartungsgemäß einen langen, verehrungsvollen Trauerartikel (1899/3ff), aber auch zum Tod Rudolfs verhält sich die Schule sichtlich linienkonform. Dem Skandalon des Selbstmordes des Kronprinzen wie auch der bekannten Distanz des Monarchen zu seinem liberalen Thronfolger entsprechend, gibt es im Jahresbericht außer einer lapidaren Chroniknotiz, dass am Begräbnistag unterrichtsfrei war und die Schüler und Lehrer einem Trauergottesdienst beiwohnten, keine weitere Zeile zur Person des unglücklichen Kaisersohnes. (1889/26f) Die häufige Beflaggung des Schulgebäudes zu den verschiedensten Anlässen mit dem kaiserlich-habsburgischen Schwarzgelb könnte auch nur als formelle sichtbare Loyalitätsbekundung gegenüber Staat und Monarchie gesehen werden. Mit dem erfolgreichen Majestätsgesuch der Direktion der Rosasgasse im Jahr 1896, sich nach einem Mitglied des Kaiserhauses »k. k. Carl Ludwig-Gymnasium« nennen zu dürfen, gab die Schule schon ein kräftigeres äußeres Zeichen ihrer Dynastietreue. In der halböffentlichen Sphäre von Festveranstaltungen im Festsaal demonstrierte die Rosasgasse dann am eindringlichsten ihre Bereitschaft, sich in den allgegenwärtigen kaiserlichen Personenkult einzuordnen. Denn bei allen feierlichen Zeremonien gab es immer wieder die gleiche unumstößlich festgefügte Regie : Frontal im Festsaal der geschmückte Hausaltar, daneben die ebenfalls geschmückte Kaiserbüste, der obligatorische katholische Festgottesdienst, Ansprachen mit Huldigungen und Hochrufen an den Kaiser, Absingen der Hymne. Diese Inszenierungen demonstrierten vor allem, dass Dynastie und katholische Kirche, das Bündnis von Thron und Altar, eine zentrale Herrschaftsachse der Monarchie bilde-
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ten. Und in diese Achse waren die Schulen als Medium zur Herrschaftsstabilisierung miteingebunden. Vor besonderen kaiserlichen Memorialdaten kamen ministerielle Anweisungen an die Schulen zur Gestaltung diesbezüglicher Festveranstaltungen. Diese Anordnungen enthielten zum Teil detaillierte Angaben, immer war die Forderung darunter, den Schülern die besondere patriotische Bedeutung der Feier klarzulegen.12 Die Regierungsjubiläen Kaiser Franz Josephs im Jahr 1898 und 1908 sind die akzentuiertesten Repräsentationen des Kaiserkults der späten Habsburgermonarchie. Generell waren die Schulen in diese beiden staatlich organisierten Festereignisse eingespannt, es war ganztägig unterrichtsfrei. 1898 wurden Zehntausende Schulkinder in einen Umzug über den Ring geschickt, 1908 jubelten wiederum Massen von Schülern dem alten Kaiser in Schönbrunn zu.13 In der Nachbarschaft dieses Schlosses huldigte auch das Gymnasium Rosasgasse gemäß den amtlichen Weisungen im Festsaal dem Herrscher, und die Jahresberichte hielten dies penibel fest. Um sich einen Eindruck vom Pathos dieser Kaiserhuldigungen machen zu können, seien einige Passagen aus Ansprachen zitiert. 1898 hielt Direktor Wastl die Festrede, deren durchgehende hymnische Würdigung und Idealisierung des Kaisers und seiner 50jährigen Regierung er mit einer Anrede an die Schüler abschloss : »Ich bin überzeugt, dass auch Ihr (…) mit glühendem Herzen an unserem geheiligten Monarchen hängt, mit Begeisterung Seine Tugenden preist, Seinen Edelsinn bewundert und dankbar die Gaben genießet, die Seine Gnade Euch in so reichem Maße verlieh : und darum bin ich auch sicher, dass Ihr durch Wort und That mitbeweisen werdet, dass es keinen geliebteren Herrscher auf dem weiten Erdenrunde gibt als den mächtigen Regenten unseres herrlichen Vaterlandes.« (1899/19) Nach der Rede wurde »mit echt patriotischer Begeisterung« (ebd.) die Hymne gesungen. 1908 sprach ein Lehrer aus dem Kollegium zu den Schülern im Festsaal. Auch hier ruft der Redner alle Pathosformeln ab, die in der Rhetorik des Herrscherlobes vorhanden sind. Zugleich zeigen sich aber gerade in der überbordenden Dynastie- und Österreichschwärmerei dieser Rede die Realitäten des Nationalitätenkampfes, in dem die Monarchie zu dieser Zeit tief steckte. Österreich hat kurz davor Bosnien/Herzegowina annektiert und damit eine europäische Krisensituation ausgelöst, und am Tag dieser Jubiläumsfeiern gab es schwere nationalistische Krawalle in Prag zwischen Tschechen und Deutschen, das Standrecht wurde verhängt. Der Lehrer in der Rosasgasse spricht zwar in seiner Festrede diese politische Krisenlage kurz an (»… dass schon seit Jahren über die lachend-schönen Gefilde unseres lieben Vaterlandes ein wilder, hässlicher Orkan streicht« [1909/33]), setzt dem dann aber ein idealisiertes, harmonisierendes, utopisches und universelles Österreichbild entgegen : »(…) überbrückt unser freudetrunkenes Herz am heutigen Tage Zeit und Raum und fühlt trotz alledem und alledem dereinst die Stunde nahen, wo die ganze Menschheit ein großes glückliches Österreich sein wird, da der Kampf der Zungen zur Gruft gesunken, Babels Fluch hinweggenommen (…)« (ebd.) Der oberste Garant einer solchen Zukunft ist der Kaiser.
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Der Direktor in seiner Rede : »Die ganze Welt aber durchstrahlt die überwältigende Offenbarung, wie tief im Herzen der Völker Österreichs der dynastische Gedanke wurzelt, welch starkes Band hier Herrscher und Volk umschlingt und wie die ererbte Treue für das Habsburgische Erzhaus vertieft und gefestigt wird durch die hingebungsvollste Verehrung für den allgeliebten Kaiser.« (1909/33f.) Die schulischen Feiern der Rosasgasse zu den Kaiserjubiläen widerspiegeln zwei Eckpunkte der späten Habsburgermonarchie. Erstens : Kaiserkult und Kaisermythos, Formen symbolischer Politik, waren von einer religiösen Aura umgeben. Der Kaiser war eine Instanz von sakraler Zentralität. Schon allein in der langen Titelkette des Kaisers »von Gottes Gnaden« wird das sichtbar. Franz Joseph I. nannte sich »Apostolische Majestät« und symbolisch auch »König von Jerusalem«. Mit der Sakralisierung des Monarchen geschah zugleich auch jene der Monarchie im Gesamten. Kaiser und Reich erschienen als Teil und Ausdruck eines göttlichen Ordo. Jede Gegnerschaft zu dieser Habsburgermonarchie wurde damit in die Nähe eines Angriffs auf eine gottgewollte Ordnung gerückt.14 Nicht zuletzt daraus erwuchs eines der Hauptprobleme der nachfolgenden Ersten Republik, nämlich der fehlende breite gesellschaftliche Konsens zu ihrer neuen säkularen Ordnung. Der massive staatlich organisierte und kirchlich unterstützte Kaiserkult der späten Habsburgermonarchie war einer der Faktoren, warum der viel zitierte »Transfer des Sakralen« auf die Republik nach 1918 nicht wirklich erfolgte.15 Und zu diesen Faktoren sind auch die Gymnasien in der Monarchie zu zählen, die ihre heranwachsenden Staatsbürger zum Teil nachhaltig mit diesem sakralen Bild von Kaiser und Monarchie indoktriniert hatten. Zweitens : Obwohl die Schulen und Gymnasien sichtlich staatliche Untertanenund Patriotismus-Anstalten ersten Ranges waren, verhielt es sich unter dieser Oberfläche widersprüchlicher und komplexer. Die offiziell forcierten Bekenntnisse zu Dynastie und Monarchie, der in den Schulen verordnete Österreich-Patriotismus gemeinsam mit einem hymnischen schwarz-gelben Kaiserkult erscheinen in diesen Jahren eher schon als Symptome ihrer Bedrängnis.16 Die Vielvölkermonarchie der Habsburger war in ihren letzten Jahrzehnten nicht nur national, sondern auch gesellschaftlich und politisch ein tief fragmentiertes Gebilde. Neben den nationalen Trennlinien verschärften sich insbesondere die politischen und ideologischen Gegensätze zwischen Liberalismus und Antiliberalismus, vorrangig dem katholischen Konservativismus. Als zentrale integrative Gegenkraft zu diesen vielen auseinanderstrebenden Kräften fungierte der Kaiser und der dynastische Kult um seine Herrscherperson. Seine Bündnispartner und wichtigsten Stützen der Gesamtmonarchie waren die katholische Kirche, die Armee und die Bürokratie, darunter auch die Schulbürokratie.17 Kaiser Franz Joseph hat sich zwar immer als ein deutscher Fürst gesehen, zugleich aber repräsentierte er das ideelle Prinzip einer supranationalen Habsburgermonarchie, in der jedoch den deutschsprachigen Österreichern eine hegemoniale Rolle zukommen sollte. Eine Reihe von Widersprüchen steckt
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in dieser Konzeption. Dazu gehörte auch ein vielschichtiger Deutschnationalismus vieler deutschsprachiger Staatsbürger der Donaumonarchie, der ab den 1870er-Jahren deutlich zugelegt hatte. Mit den wachsenden slawischen Nationalbewegungen und vor allem mit der forcierten deutschen – und antiösterreichischen – Einigungspolitik Bismarcks verstärkte sich bei den österreichischen Deutschsprachigen ein nationaler und kontroverser Identitätsdiskurs, der grundsätzlich zwischen zwei Polen schwankte : einem radikalen, separatistischen, preußisch orientierten und antiklerikalen Deutschnationalismus, der die multinationale, dominant römisch-katholische Habsburgermonarchie verachtete, und einem beharrenden, von der katholischen Kirche gestützten österreichisch-habsburgischen Staats- und Reichspatriotismus. Die meisten Deutschsprachigen der Monarchie verorteten ihre nationale Identität irgendwo dazwischen, als ein Gemenge aus Deutschtum und Österreichertum. Sie fühlten sich kulturell als Deutsche und bekannten sich zugleich politisch loyal zum habsburgischen Staat. Ihr nationales Bekenntnis war eine Mischung daraus in unterschiedlichen Anteilen, formierte sich überwiegend als eine Doppelidentität.18 Dieses Oszillieren zwischen (kulturell, ethnisch) deutscher und (politisch, geschichtlich) österreichischer Identität ist auch aus den Jahresberichten der Rosasgasse herauszulesen, und zwar am besten aus den Themenstellungen der schriftlichen Haus- und Schularbeiten des Deutschunterrichts der Oberstufe. Daraus hier nur eine kleine Auswahl : Einerseits gab man betont österreichpatriotische Themen, wobei sich vor allem die habsburgischen Türkenkriege als ein wichtiges Element der Bildung einer österreichischen Staatsidentität zeigen. »Warum lieben wir Österreicher unser Vaterland ?« (1897/42), »Die geschichtliche Bedeutung des Kampfes Österreichs gegen die Türken« (1907/33), »Die Bedeutung der Türkenkriege für den österreichischen Staat« (1910/28) usw. Daneben aber gab es jede Menge Themenstellungen, die ein kulturelles, mentales Deutschtum und altes deutsches Kulturerbe hervorhoben. »Welche von Tacitus gerühmten Charakterzüge des deutschen Volkes haben sich weiterentwickelt und dessen welthistorische Bedeutung mit herbeigeführt ?« (1899/47), »Die Bedeutung der Kreuzzüge für die Entwicklung der deutschen Kultur« (1903/24), »Grundzüge des deutschen Nationalcharakters im Nibelungenlied« (1910/28) usw. Die Schulen waren aber keinesfalls, wie es in dieser Themenauswahl erscheint, ein Ort einer ausgewogenen deutsch-österreichischen Doppelidentität. Das galt zwar auf der Ebene der Schulbehörde und der Direktionen, aber nicht mehr für das Gros der Lehrer und Schüler. Ganz im Gegenteil. Gerade an den Gymnasien, in den zahlreichen Mittelschüler-Vereinigungen, den Pennalien, grassierte in den letzten Jahrzehnten der Donaumonarchie ein emphatischer, jugendlich aufgeheizter Deutschland-Glaube, eine Heilserwartung an eine Erlösung der Deutschösterreicher im Nationalitätenkampf durch die große Mutter Germania. Schwärmerische Wotan-Verehrung und Walhalla-Phantasien, ein ausufernder Bismarck-Kult und
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eine begeisterte Anhängerschaft des rabiaten Alldeutschen Georg von Schönerer herrschten hier in immer steigendem Ausmaß vor allem seit der deutschen Reichsgründung 1871, die in der Schülerschaft, in der studentischen Jugend, aber auch bei Lehrern und Professoren der Gymnasien und Hochschulen begeistert gefeiert worden war. Nicht im habsburgischen Völkergemisch, sondern in der rassischen Reinheit und Einheit Deutschlands sahen diese bildungselitären, akademischen Kreise ihre Zukunft. Deutschnationalismus und ein völkischer Rassismus, gipfelnd in einem aggressiven Antisemitismus, gingen hier eine enge Symbiose ein. Die habsburgische Schulverwaltung und die Politik reagierten auf diese Entwicklung mit Erlässen, Weisungen, oktroyiertem Patriotismus und Kaiserkult sowie mit Verboten, die wenig erreichten oder sogar kontraproduktiv waren.19 Vom christlichsozialen Wiener Bürgermeister Karl Lueger ist die Aussage überliefert, dass Lehrer keine Republikaner (= Sozialdemokraten) und Schönerianer sein dürften und aus den Schulen verjagt werden müssten.20 Es half wenig. Die Deutschnationale Partei blieb vor allem auch die Partei der Lehrer und Professoren. Die Entwicklung dieses mehrdimensionalen österreichischen Deutschnationalismus pflanzte sich in die Erste Republik fort und belastete diese schwer. Die mit idealisiertem deutschen Bildungsgut imprägnierten Maturanten der Gymnasien – die Themenangaben der Deutscharbeiten in den Jahresberichten der Rosasgasse zeigen dies deutlich – kamen an die Universitäten und setzten dort ihren Deutschtumsglauben noch lauter fort. Die Geschichte der österreichischen Universitäten und Hochschulen zwischen 1918 und 1938/45 ist bestimmt von der Hegemonie eines radikalen, völkisch-rassistischen, scharf antisemitischen Deutschnationalismus.21 An den Universitäten geschah die ideologische Zurüstung für den Aufstieg des Faschismus. Die deutschnationale junge österreichische Akademikerschicht war ein ergiebiges Rekrutierungsfeld des Nationalsozialismus in Österreich, vor allem schon vor 1934, aber auch danach.22 Viele davon hatten noch ihre Matura an k. k. Gymnasien abgelegt und waren dort sozialisiert worden. Deutschnationalismus und Deutschtumsglaube behielten auch im christlichsozialen Ständestaat ihre gesellschaftliche Kraft. Selbst die gegen den deutschen Nationalsozialismus gerichtete austrofaschistische Österreich-Ideologie beruhte auf der tradierten deutsch-österreichischen Doppelidentität, was ihre Effizienz in der Abwehr der NS-Anschlusspolitik grundlegend schwächte.23 Der österreichische Nationalbildungsprozess fand letztlich sehr spät statt, Österreich gilt als »verspätete Nation«. Deutschtumsorientierung zum einen und innere Distanz zum republikanisch-parlamentarischen System zum anderen, die sich in der österreichischen Gesellschaft über die Monarchie und die Zäsur von 1918 hinweg konservierten, tragen eine Hauptverantwortung an dieser spezifischen Entwicklung. Und die Jahresberichte 1884–1917 der Rosasgasse verdeutlichen im Detail den entsprechenden Anteil der k. k. Gymnasien daran.
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Die Schule im Krieg Auch anlässlich des 70. Geburtstages des Kaisers wies das Ministerium die Schulen an, zu Beginn des Schuljahres im Herbst 1900 eine »würdige patriotische Schulfeier« (1901/3) abzuhalten. Das tat auch die Rosasgasse in der üblichen Inszenierung mit Hausaltar, Kaiserbüste, Messe, Reden. Wieder hielt Direktor Wastl eine Ansprache, die er mit dem Appell schloss : »Geloben wir aufs neue dem Kaiser und dem Vaterlande unverbrüchliche Treue und Ergebenheit bis in den Tod – ein Gelöbnis, das wir halten wollen immerdar und allezeit !« (1901/8) Im Herbst 1914 war es dann so weit. Diese häufigen Treueschwüre »bis in den Tod« – was bisher patriotische Rhetorik war, wurde für die k. u. k. Untertanen nun zur Realität. Aber die ideologische und mentale Einschwörung auf das militärische Treue- und Pflichterfüllungsgebot hatte schon lange vor dem Ersten Weltkrieg im Bildungskanon der Schulen ihren festen Platz.24 Wieder zeigen dies die in den Jahresberichten der Rosasgasse angegebenen Themen zu den schriftlichen Deutscharbeiten. Beispielhaft etwa aus den Jahren 1892, 1894 : »Wer muthig für sein Vaterland gefallen, der baut sich selbst ein ewig Monument (…)« (1892/45,1894/41). Den Lehrern erschienen diese soldatischen Tugenden von bedingungsloser Gefolgschaft, Treue und Kampf bis zum Sieg oder Tod ihren idealtypischen Ausdruck in den germanischen und mittelalterlichen deutschen Heldenliedern zu besitzen. Durchgehend seit Beginn der Berichte 1884 finden sich unzählige Themenstellungen zu den deutschen Heldendichtungen. Daneben stehen auch die griechischen Heroen als Verteidiger des Abendlandes gegen die barbarischen Perser wiederkehrend auf der Themenliste. Spitzenreiter in den schulischen Thematisierungen der Prinzipien von Treue, Heldenehre, Kampf und Heldentod ist neben dem Hildebrandslied jedoch das Nibelungenlied. Die Nibelungendichtung wurde im 19. Jahrhundert als deutsches Gegenstück zur griechischen Ilias gehandelt, nicht selten sprach man auch von der »deutschen Ilias«, in der man deutsche Nationaltugenden, vor allem die der Treue und des soldatischen Gehorsams, am reinsten ausgedrückt glaubte. Schon seit den deutschen Befreiungskriegen gegen Napoleon wurde das Nibelungenlied zur Konstruktion deutscher nationaler Identitätsbilder verwendet. Vor allem über die Schiene nationalistischer Propaganda und Erziehung gelangte es zu seinem Ruf einer deutschen Nationaldichtung. Das Schlagwort der »Nibelungentreue« gehört zur Geschichte des deutsch-österreichischen Bündnisses im Ersten Weltkrieg wie auch der Begriff der »Siegfried-Linie«, einer Abwehrstellung deutscher Truppen in diesem Krieg. Über die nationalistische Rezeption des Nibelungenliedes und des Siegfried-Mythos hat sich auch die verhängnisvolle »Dolchstoßlegende« in die politische Mythologie des rechten nationalen Lagers in Deutschland nach 1918 eingebettet und zum Aufstieg des Nationalsozialismus beigetragen. Der NS-Herrschaft diente dann das Nibelungen-Motiv im Zweiten Weltkrieg wieder für militärische Durchhalteparolen.25
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1912, am Vorabend des Weltkrieges, als es schon Krieg am Balkan gab, lautete ein Schularbeitsthema an der Rosasgasse : »Die Treue sei des deutschen Volkes Ruhm (…) So hört’ ich sagen und ich glaub’ es fest. (Zu beweisen aus dem Nibelungenlied).« (1912/23) Als dann die Monarchie im »großen Krieg« stand, waren das Nibelungenthema und sein zentrales Treue-Motiv selbstverständlich wieder Inhalt von Deutschaufsätzen. 1915 und 1916 galt es zu erörtern : »Das Nibelungenlied, ein Lied der Treue.« (1915/15,1916/11) Vorzeichen des Krieges und die Verschärfungen der außenpolitischen Lage widerspiegeln sich auch in der Einrichtung vormilitärischer Übungen an den Schulen schon vor 1914.26 Seit dem Schuljahr 1910/11 bot die Rosasgasse Fechtunterricht an, 1911/12 kamen schon Schießübungen dazu, die von Militärs geleitet wurden. Die Teilnahme an diesen Übungen war freiwillig. Die Schulbehörde propagierte sie allerdings und legte deren außerschulische Ziele offen dar. Bei einem Schaufechten von Schülern der Rosasgasse, wo auch Schülereltern anwesend waren, erklärte der Landesschulrat-Vizepräsident den Hintergrund dieser Übungen. Diese sollten »nicht bloß der Stählung des Körpers«, sondern in ihrem »letzten und höchsten Zwecke auf die Erstarkung der nationalen Idee, der Heimat- und Reichsliebe hinarbeiten«. (1913/42) In den Kriegsjahren standen weitere Übungen am Plan, die nun eindeutig den Titel »Militärische Jugendvorbereitung« trugen. 1916 gab es für die Schüler der 7./8. Klassen der Rosasgasse einen Bajonettfechtkurs, damit – wie es im Jahresbericht heißt – »diese Schüler für den Nahkampf für Bajonett und Säbel vorbereitet« (1916/22) seien. Hier wird eine der Signaturen des Ersten Weltkrieges sichtbar, nämlich die Differenz zwischen den Vorbereitungen, Erwartungen, mit denen die Soldaten in diesen Krieg zogen, und der dann völlig unbekannten Realität des ersten technisierten, totalen Krieges der Geschichte. Wie die Säbel- und Bajonettübungen an der Rosasgasse zeigen, stellte man die jungen Burschen zum Teil noch wie auf einen vormodernen, fast ritterlichen Krieg mit Zweikampf ein. In Feldpostbriefen aus dem Ersten Weltkrieg ist aber dann zu lesen, wie traumatisiert die Soldaten von der unerwarteten Entgrenzung des Tötens durch die neuen Massenvernichtungswaffen waren und mit welcher Ohnmacht sie diesem Massensterben ausgeliefert waren.27 Ende April 1917 jedoch empfand es die Rosasgasse als »hohe Ehre«, dass Kaiser Karl selbst die militärischen Übungen an der Schule inspizierte und Schüler und Übungsleiter »mit überaus huldvollen Ansprachen auszuzeichnen geruhte«. (1917/10) Der Krieg beherrschte zunehmend das Schulleben an der Rosasgasse. Häufige Wechsel der Lehrer gab es, weil sie an die Front eingezogen wurden. Da das Gymnasium am Henriettenplatz im 15. Bezirk als Lazarett verwendet wurde, musste sich die Rosasgasse 1915–1918 ihr Gebäude mit dieser Schule für den Unterricht teilen, was nur Wechselunterricht ermöglichte. Dem Kriegsdienst junger Soldaten wurden alle Maturastandards untergeordnet. Es gab viele Genehmigungen für Freiwillige und Einberufene zur vorzeitigen Reifeprüfung, viele außerordentliche Prüfungster-
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mine, etliche Schüler wurden »unter Verzicht auf jede schriftliche und mündliche Prüfung für reif erklärt«. (1916/14) Trotz der Katastrophenerfahrungen dieses Weltkrieges, die Schule blieb bis zum Schluss ein Ort und Instrument der Kriegsbejahung, Kriegsmobilisierung und Herrschaftsstabilisierung.28 Auf der Welle öffentlicher patriotischer Begeisterung zu Kriegsbeginn 1914 war auch die Rosasgasse geritten. Gleich zu Schulbeginn im Herbst 1914 wurden die Oberstufenschüler in den schriftlichen Deutschaufgaben auf den Krieg positiv eingeschworen. »O welche Lust, Soldat zu sein !« (1915/15) hieß euphorisch das erste Schularbeitsthema in einer 5. Klasse. Weitere ähnliche Themen gab es in den anderen Klassen. »Krieges Anfang«, »Der Krieg erweist der Völker Eigenart«, »Einigkeit macht stark«, »Mutter der Helden, Austria, im Freiheitskampf unbezwungen ! Du Hort des Glaubens, der Freiheit, des Rechts«. (1915/16) Zwei der drei schriftlichen Maturathemen aus Deutsch im Sommer 1915 hatten den Krieg zum Inhalt. Das eine suggerierte ihn als positiven Wert : »Der Krieg als staatsbürgerlicher Erzieher«, das andere rekurrierte auf das Narrativ einer historisch abendländischen Identität Österreichs, offensichtlich gerichtet gegen die slawischen Kriegsgegner : »Die Ostmark – Österreich-Ungarn. Zwei Bollwerke.« (1915/20) Noch eine weitere Auswahl kriegsorientierter Deutschthemen aus dem Jahr 1916 : »Auf welche Taten unseres Heeres dürfen wir besonders stolz sein ?«, »Die erziehliche Wirkung des Krieges« (1916/11f.). Auch die deutschen Klassiker müssen zur Kriegslegitimierung antreten, und so wird aus Schillers »Jungfrau von Orleans« zitiert : »Was ist unschuldig, heilig, menschlich gut / Wenn es der Kampf nicht ist ums Vaterland.« (1916/12) Gewalt in der Sprache und durch die Sprache war ein Zentralthema im essayistischen und literarischen Werk des österreichischen Schriftstellers Karl Kraus während dieses Weltkrieges. Er erkannte in diesem Krieg die zur Phrase deformierte Sprache als eine todbringende Macht.29 Hätte er diese Aufsatzthemen mit ihrer Kriegs-Phraseologie zu lesen bekommen, sie hätten gute Chancen gehabt, in der »Fackel« satirisch zitiert oder in seine »Letzten Tage der Menschheit« wörtlich hineinmontiert zu werden. In diesem großen (Anti-)Kriegsdrama lässt er den kritischen »Nörgler« an einer Stelle sagen : »Jetzt geb’ ich sogar der Phrase die Blutschuld«, und im Vorwort zu diesem Drama schreibt Kraus : »Phrasen stehen auf zwei Beinen – Menschen behielten nur eines.«30 Viele ehemalige Schüler der Rosasgasse verloren als Soldaten an den Fronten ihr Leben. Der Jahresbericht 1915 enthält schon einen Nekrolog (»In piam memoriam«) auf 14 ehemalige Schüler und einen Lehrer, die nach 11 Monaten Krieg gefallen sind. (1915/9ff) Der pensionierte ehemalige Direktor Johann Wastl griff zur Feder und vergrößerte die Unzahl heroisierender patriotischer Kriegsgedichte um ein weiteres. Opferbereitschaft, Heldentum der Gefallenen – das sind die zentralen Motive seines bemühten Sonetts. Auch von einer Opferrolle Österreichs spricht er darin (»Zahllose Feinde standen auf der Lauer / Um Österreich von Grund
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aus zu verderben« [1915/8]) und baute so an der letztlich bis in die Zweite Republik hinein fortwirkenden Geschichte der verschiedenen österreichischen Opferthesen mit, die allesamt Österreich und seine Bevölkerung aus der Verantwortung an der Katastrophengeschichte von 1914–1945 herauslösen wollten und zu einer Opfergemeinschaft stilisierten. Im kollektiven österreichischen Gedächtnis, vor allem in dem des katholisch-konservativen Lagers, konnten sich diese österreichischen Opfer-Erzählungen sehr lange bewahren. Jene von Österreich und seiner Gesellschaft als ausschließliche Opfer des Nationalsozialismus ist davon die bedeutendste Version, und diese erfuhr erst nach 1986 in der Folge der Waldheim-Debatte ihre weitgehende Dekonstruktion und Erosion.31 1916 nennt der Jahresbericht neun ehemalige Schüler und einen früheren Lehrer, die »den Tod für Kaiser und Vaterland auf dem Felde der Ehre starben« (1916/4), Wastl widmet wieder ein Gedicht den »Heldensöhnen« (»All diesen Opfern haßentflammter Horden !« [1916/3]). 1917 zählt der Jahresbericht elf einstige Schüler, »die in Erfüllung ihrer vaterländischen Pflicht den Tod gefunden haben« (1917/3), der Lyriker Wastl verstummt nun. Insgesamt spricht die Schulchronik der Rosasgasse von 74 ehemaligen Schülern und zwei Lehrern, die im Ersten Weltkrieg als Soldaten ums Leben kamen. Die Hälfte dieser Toten ist demnach im letzten Kriegsjahr gefallen. Ebenso in diesem letzten Kriegsjahr 1918 feiert eine eigens herausgegebene Broschüre das vierjährige Bestehen einer besonderen schulinternen Institution der Rosasgasse, die anhaltend einen affirmativen Umgang mit dem Krieg demonstriert hat. Ende Oktober 1914 richtete die Schule einen Raum als »Studier- und Erholungsraum« ein (als »ersten und bisher einzigen dieser Art an einer Mittelschule in Österreich«32), der von Schülern unter der Leitung eines Schülerausschusses mit Obmann grundsätzlich selbst verwaltet wurde und für den sich die Bezeichnung »Lesesaal« eingebürgert hat. Gemäß der offiziellen Gründungserklärung sollte dieser Raum den Schülern eine Rückzugsmöglichkeit bieten zum Lernen, für Vorbereitungen, zur Lektüre, aber auch zum sozialen Kontakt, zur Kommunikation und für Spiele. Bücher und Zeitschriften lagen auf, und an den Nachmittagen war für einige Stunden dieser Raum geöffnet. Veranstaltungen, Lesungen und Vorträge sollten hier stattfinden. Die Festbroschüre von 1918 mit dem Titel »Der Lesesaal. Ein Stück junges Österreich« nennt das »elementare Dürsten nach dem Schönen, nach dem Balsam der Kunst und Poesie«33 als eine Motivation für diesen Raum, in dem der »Kultus der ewigen Ideale des Guten und Schönen«34 gepflegt werde. Doch dieser »Lesesaal« erwies sich von Anbeginn an als ein Ort und Instrument der Kriegsunterstützung und Kriegsmobilisierung. Ein Ort der »Kriegsjugendgeneration«. Karten der aktuellen Kriegsschauplätze lagen auf, es gab regelmäßig, fast wöchentlich Berichte über das Frontgeschehen (»Der Rückzug der Russen aus Galizien«, »Vier Monate im Schützengraben« [1916/19]), Referate über neue Waffensysteme (Unterseeboote, Flugzeuge, »Über Kriegstechnik« [ebd.]), andere kriegsbe-
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zogene Vorträge (»Sport und seine Bedeutung für den Krieg«, »Kriegsseuchen und ihre Bekämpfung« (1915/4,26]), Spendenaktionen für die Kriegsfürsorge und vor allem immer wieder Lesungen von Kriegsgedichten und Kriegsliteratur (»Ernstes und Heiteres aus dem Weltkriege«, »Heitere Kriegsdichtungen« [1916/19]). Für den Jahresbericht 1915 standen alle diese Kriegsaktivitäten des »Lesesaals« »im Zeichen der großen Zeit«. (1915/4) Über dieses intensive Kriegsengagement ist der »Lesesaal« der Rosasgasse schließlich in Berührung mit einem Stück österreichischer Literaturgeschichte aus der Zeit des Ersten Weltkrieges gekommen. In dieser Geschichte stand Karl Kraus mit seiner Kritik am Krieg und dessen Sprache auf der einen Seite, auf der anderen Seite befanden sich sehr viele Dichternamen, zu deren Werkgeschichte auch ihre unrühmliche Involvierung in die Kriegsbegeisterung und offizielle Kriegspropaganda gehört. Kraus polemisierte in seiner »Fackel« scharf gegen die Kriegsdichtung und Kriegspublizistik, besonders gegen die »Reimbereitschaft« der unzähligen Dichter, der guten wie der dilettantischen, für den Krieg, schimpfte die schreibenden Kriegspatrioten »Sprachgesindel« und empörte sich über die »Blutbereitschaft des Wortes«.35 Der »Lesesaal« der Rosasgasse lud sich jedoch nun jene ein, die auf der Seite der Kriegsbejahung und eines martialischen, mythisierenden Patriotismus standen, die diesen »Großen Krieg« apologetisch als Klärung, als reinigende, zukunftsweisende Kraft, als eine Katharsis sahen, eben als eine »große Zeit«. Stolz präsentierte die Festbroschüre von 1918 die Reihe von prominenten Namen der damaligen österreichischen Literatur- und Kulturszene, die, vor allem 1917 und 1918, im »Lesesaal« Vorträge und Lesungen hielten. Die bekanntesten darunter sind : Hugo von Hofmannsthal, Anton Wildgans, Stefan Zweig (er wandelte sich nach anfänglicher Kriegsbegeisterung dann zum akzentuierten Pazifisten), Franz Karl Ginzkey und Richard von Kralik.36 Den Anfang der Serie der Dichterlesungen machte im Dezember 1914 Richard von Schaukal, der als Ministerialrat auch zur Beamtenelite der Monarchie gehörte. Er las aus seinen »Ehernen Sonetten« (1915/5,26), einer Sammlung von Kriegsgedichten, von denen er über hundert verfasste. Schaukals Kriegslyrik ist gekennzeichnet von scharfer Aggressivität, einer verhöhnenden und rassistischen Rhetorik gegen die Kriegsgegner der Monarchie. Anfang 1918 wurde er für seinen literarischen Kriegseinsatz mit einem Orden belohnt. Nach 1918 wies er sich dann vor allem als scharfer Antisemit aus. Begleitet wurde Schaukal bei seiner Lesung in der Rosasgasse vom Landesschulrats-Vizepräsidenten Khoss von Sternegg. Dieser hohe Schulbeamte – er verfasste für die Lesesaal-Broschüre von 1918 dann auch einen Beitrag – hielt die »Ehernen Sonette« Schaukals bestens geeignet zur patriotischen Aufrüstung in den Schulen und unterstützte den Autor in dem Bemühen, seine Kriegsgedichte in die Schulen zu bringen.37 An der Rosasgasse hatten beide darin einen frühen Erfolg. In der Jubiläumsfestschrift der Rosasgasse des Jahres 1958 widmete sich ein Artikel wiederum diesem einstigen »Lesesaal«. Sein Autor war eine prominente Person
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des österreichischen Kulturbetriebs – Friedrich Schreyvogl, ein damals bekannter Schriftsteller, der 1958 als Vizedirektor des Wiener Burgtheaters fungierte. Er hatte 1918 an der Rosasgasse maturiert und war 1916–1918 Schülerobmann des »Lesesaals« gewesen. In dieser Funktion war er Mitherausgeber der Festbroschüre von 1918 und verfasste auch selbst einen Beitrag über die Aktivitäten des »Lesesaals«. Darin zeigte der Maturant Schreyvogl ziemlich deutlich an, dass die patriotische Mobilisierung zu Kriegsbeginn eine Gründungsintention des »Lesesaals« gewesen ist : »Die schwere Kriegszeit, die das Wort vom ›jungen Österreich‹ wieder stolz und verheißend auferstehen ließ, ist ihm [dem »Lesesaal«] gleichsam Pate gestanden«.38 Die Broschüre von 1918 sollte zudem eine Anthologie dichterischer Texte jener Personen sein, die Vortragende im »Lesesaal« gewesen sind. Viele der prominenten Dichter schickten dazu Gedichte, darunter Hofmannsthal, Wildgans, Kralik und Schaukal. Nun jedoch, 1918, wurde eher nicht mehr von Kriegsbegeisterung und Siegesgewissheit gedichtet, es überwiegt ein resignativer Ton. Auch der Schüler Schreyvogl hat ein Gedicht verfasst, das die Leiden des Krieges anspricht (»Auferstehung«39), und in der Jubiläumsschrift von 1958 nimmt dies der hohe Kulturfunktionär Schreyvogl nun als Beweis seiner jugendlichen Kriegsgegnerschaft. Auch sonst tilgt er in seinem Beitrag zur Festschrift 1958 – in dem er Khoss von Sternegg als Initiator des »Lesesaals« nennt – jeden Hinweis auf die kriegspropagandistischen Tätigkeiten des Rosasgasse-»Lesesaals« während des Ersten Weltkrieges.40 Ein Musterbeispiel eines selektiven, legitimatorischen historischen Erinnerns, in dem schließlich auch das schon Jahre vor dem »Anschluss« sehr engagierte Bekenntnis des Schriftstellers Schreyvogl zum Nationalsozialismus verdeckt blieb.41 Der österreichisch-sudetendeutsche Dichter und Gymnasiallehrer Emil Hadina richtet in der »Lesesaal«-Broschüre 1918 sein Gedicht »Ver sacrum«42 an die gefallenen jungen Soldaten des Weltkrieges. Antikisierend in Inhalt und Sprache stellt er diese Soldatentoten in eine mythische himmlische Gemeinschaft mit den todesmutigen Helden der griechischen Sagen. Das massenhafte Soldatensterben in diesem Weltkrieg wird so zum glanzvollen Heldentod überhöht, erfährt eine sakralisierende Sinnstiftung, und die militärische heroische Pflichterfüllung erscheint als eine überzeitlich gültige Tugend. Diese verklärende, legitimierende Botschaft evoziert letztlich auch die Gedenktafel für die gefallenen Lehrer und Schüler der Rosasgasse, die am 28. Juni 1925 in der Eingangshalle der Schule enthüllt worden ist und seitdem dort hängt. Schon allein das Enthüllungsdatum, der Jahrestag des Attentats von Sarajevo, deutet eine Rechtfertigung der Kriegsentscheidung der Habsburgermonarchie an. Die lateinische Textierung der Gedenktafel – »Huius scholae / magistris et discipulis / pro patria / 1914–1918 / occisis / posteri grati« – aber rückt den Gefallenentod in eine ewig gültige, ahistorische Sphäre. Die unmittelbar daneben angebrachte, in Material, Größe und Form gleiche Gedenktafel für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Schüler der
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Rosasgasse wiederholt dieses Gedenkmuster. Auch hier wieder die Sakralisierung, die überzeitliche Sinngebung des jugendlichen Heldentodes in der Textur »1939 1945 / immatura morte immortales / Den Gefallenen ihre Mitschüler«. Gerade diese formale und sprachliche Analogisierung der beiden Gedenktafeln verwischt aber die essenziellen Unterschiede zwischen den beiden Weltkriegen, tabuisiert im Kern den untrennbaren Nexus von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. Bis heute ist es ein Versäumnis der Schule, bei diesen beiden Gedenktafeln nicht eine angemessene historische Konnotierung sichtbar hinzuzufügen. Es gibt einen Kontext zwischen den endlosen Thematisierungen der archaischen Todesbereitschaft germanischer, deutscher Heldenfiguren im schulischen Unterricht und der Bereitschaft der Schule zur Kriegsmobilisierung im Ersten Weltkrieg sowie einem tendenziell affirmativen Gefallenengedenken, wie es sich in den beiden Weltkriegs-Gedenktafeln in der Eingangshalle der Rosasgasse manifestiert. Der Historiker Thomas Kühne schreibt in einem Aufsatz zum Soldaten als Sozialfigur im 20. Jahrhundert : »Die Vorstellung, dass die Tötungs- und Todesbereitschaft den Soldaten nicht diskriminiere, sondern im Gegenteil geradezu adele (…), war die kulturelle Grundlage der europäischen Kriege des 19. und erst recht des 20. Jahrhunderts.«43 Und zu dieser kulturellen Basis gehörte ebenso die zeitenthobene, mythisch-sakrale Sinnstiftung des Soldatentodes.44 Zuletzt noch ein weiterer Kontext. Der Lehrkörper der Rosasgasse hat seinem Direktor Wastl zum 25-Jahr-Jubiläum der Schule 1908 ein Ölgemälde geschenkt. Es zeigt den Gymnasialdirektor Wastl stramm in Uniform der k. u. k. Armee, im Rock des Kaisers, mit Orden geschmückt und die Hand am Säbel. Wastl hatte sich in dieser Haltung fotografieren lassen, das Ölbild wurde nach diesem Foto gearbeitet.45 Dieses Bild des Schulmannes in Uniform steht nicht nur für die Einheit zwischen Schule und Armee in der Monarchie, es steht auch für das Hineinreichen des Militärischen und seines Wertesystems in das Zivile. Die Habsburgermonarchie war von dieser Überlappung geprägt, der Staatsbürger in Uniform galt als Vorbild. Noch wusste man nichts vom Massensterben im kommenden Weltkrieg. Jedoch nicht zuletzt die Heroisierungen im militärischen Totenkult nach 1918 begünstigten den Fortbestand militarisierter Gesellschaften in der sogenannten Zwischenkriegszeit. Der Aufstieg des Faschismus hat einen seiner Gründe darin.46 Erst die ultimative Gewalterfahrung des Zweiten Weltkrieges und seiner Massenverbrechen, in die auch massiv die Wehrmacht verstrickt war, hat hier nach 1945 einen Wandel bewirkt. Es hat sich gesamtgesellschaftlich – und somit auch in den Bildungsnormen der Schulen – die Auffassung durchsetzen können, dass Militär und Zivilgesellschaft grundsätzlich diskrepante Wertesysteme darstellen.
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Schule und Religion Das alte Bündnis von Thron und Altar, von Dynastie und katholischer Kirche hielt eisern bis zum Kriegsende. Die Kirche hat den Krieg der Habsburgermonarchie 1914–1918 stets als einen vor Gott gerechten legitimiert und bis zum Schluss zur Geschlossenheit der Schlachtreihen aufgerufen. »Für Gott, Kaiser und Reich !«, lautete einer dieser vielen Appelle. Ende August 1918 propagierte der österreichische Episkopat in einem Hirtenbrief die unbedingte Treue zum Kaiser, und noch kurz vor der militärischen Kapitulation predigte im Oktober 1918 der Wiener Kardinal Piffl : »Gut und Blut für unseren Kaiser, Gut und Blut für unser Vaterland.«47 Das war die konsequente Weiterführung der patriotischen Treueschwüre »bis in den Tod«, die schon Jahre vor dem Weltkrieg auch an den Schulen zu hören waren, wie das Beispiel eines solchen Treue-Aufrufs des Direktors Wastl an seine Schüler in einer Festansprache zum Kaiser-Geburtstag 1900 demonstriert. Die Kirche fürchtete den Fall der Habsburgermonarchie, denn die Dynastie war ihre zuverlässigste und mächtigste Stütze wie auch umgekehrt. Seinen Ort und seine politische Artikulation fand diese enge Allianz von Herrscherhaus und Kirche schließlich in der antiliberalen, konservativen, habsburg- und monarchietreuen Christlichsozialen Partei. Aus dieser Konstellation heraus erwuchs der österreichische Politische Katholizismus, der über die Monarchie hinaus bis zum Ende der Ersten Republik eine mächtige politische Kraft blieb. Rechtlich gestützt auf das Konkordat 1855, war die schulische Jugenderziehung eines der zentralen Wirkungsfelder des Politischen Katholizismus. Die Schule betrachtete er als seine Domäne, als seine Hausmacht. Als dann der Liberalismus diese kirchliche Schulbastion angriff und gesetzlich – mit den »Maigesetzen« 1868/69/74 – eine stärkere Trennung von Schule und Kirche bewirkte und den kirchlichen Einfluss auf die Schulen abschwächte, bedeutete das Kulturkampf mit der Kirche. Verbissen kämpfte der Politische Katholizismus um die Rekonfessionalisierung der Schulen.48 Diese scharfe Auseinandersetzung um die Position von Kirche und Religion in der Schule dauerte auch in der Ersten Republik an, bis sich schließlich die katholische Linie mit der Diktatur des christlichsozialen Ständestaates durchsetzen konnte.49 Der Politische Katholizismus verstand sich als eine gegenreformatorische Bewegung, als ein Bollwerk gegen die aufbrechende Moderne, gegen die »verjudete« liberale Kultur und Presse und ging dabei mit aggressiver Kreuzzugsrhetorik vor. Eine seiner Speerspitzen im Kampf um seine gesellschaftliche Hegemonie war der »Katholische Schulverein«, der sich 1886 konstituierte und zu einer mitgliederstarken, einflussreichen Organisation anwuchs. Ein integraler, romtreuer Katholizismus, Schutz der katholischen Familie, Pflege der Vaterlandsliebe und vor allem die konfessionelle Schule, das waren Eckpfeiler seines Programms. Mit einem Zitat Papst Leo XIII. verdeutlichte der »Katholische Schulverein« Anfang 1888 seine Strategie :
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»Die Schulstube ist der Kampfplatz, auf dem entschieden werden muss, ob die Gesellschaft ihren christlichen Charakter beibehält.«50 Nur in diesem Gesamtkontext des Politischen Katholizismus in der späten Habsburgermonarchie ist das religiöse, katholische Erscheinungsbild des Gymnasiums Rosasgasse zu verstehen. Denn eine der Besonderheiten der Rosasgasse in diesen Jahren erscheint geradezu als prototypisch für den österreichischen Politischen Katholizismus : Das ist der eigene Hausaltar im Festsaal der Schule. Im Zuge des Schulneubaus 1891/92 ließ Direktor Johann Wastl auf seine Kosten einen Altar für den neuen Festsaal der Schule errichten. Bei der Einweihungsfeier der Schule im September 1892 empfing dann der Hausaltar, der ordnungsgemäß Reliquien enthielt, seine kirchliche Segnung. Dieser Altar in Symbiose mit der Kaiserbüste bildete schließlich das zeremonielle Zentrum aller schulischen Festveranstaltungen im Haus. Damit präsentierte die Schule ihre Integration in die sakrale Einheit von Kirche und Kaiser und somit auch in die sakrale Ordnung der Monarchie. Das fürsterzbischöfliche Ordinariat hatte diese Altarerrichtung zur Kenntnis genommen und bewilligt, »dass die Familie [Wastls] sowie das Lehrer- und Dienerpersonale des Gymnasiums an Sonn- und Feiertagen dem für die Gymnasialschüler abzuhaltenden Gottesdienste anwohnen, womit zugleich dem Kirchengebote entsprochen wird«. (1893/26) Hier wurde ein Zentralnerv im Konflikt zwischen konfessioneller und säkularer Schulpolitik berührt : die Praxis der sogenannten »religiösen Übungen«, die nach den Vorstellungen des Politischen Katholizismus für die Schüler obligatorisch sein sollten. »Religiöse Übungen« – das hieß : Gottesdienstbesuche und Sakramentsempfang. Sie waren ein Angelpunkt im Kulturkampf um die Schule. Im April 1919 hat schließlich der Reformpädagoge und sozialdemokratische Leiter des Unterrichtsministeriums Otto Glöckel im bekannten »Glöckel-Erlass« die verpflichtende Teilnahme von Schülern an diesen »religiösen Übungen« aufgehoben, im Sinne einer Befreiung von klerikaler Bevormundung.51 Der Politische Katholizismus bekämpfte diesen Erlass als »Schulbolschewismus«, und nach der christlichsozialen Diktaturerrichtung im März 1933 galt eine der frühen gesetzlichen Maßnahmen der Aufhebung dieses »Glöckel-Erlasses«. Die Teilnahme an »religiösen Übungen« war für Schüler nun wieder vorgeschrieben, und der Lehrkörper wurde zur Aufsicht verpflichtet. Im austrofaschistischen Ständestaat hat die katholische Kirche ihre staatskirchenartig hegemoniale Position in der Schule wieder zurückerhalten.52 Für den Politischen Katholizismus der Habsburgermonarchie war das Gymnasium Rosasgasse ein guter Platz, denn genau dieses Programm der »religiösen Übungen« wurde hier kontinuierlich befolgt. Als die Schule im Schuljahr 1892/93 das neue Gebäude bezog, feierte sie zugleich ihr zehnjähriges Jubiläum. Der chronikale Rückblick Direktor Wastls enthält als einen Unterpunkt das Kapitel »Religiöse Übungen«. Gleich einleitend heißt es : »An jedem Sonn- und Feiertage wohnten die katholischen Schüler der heiligen Messe und Exhorte in der Meidlinger Pfarrkirche,
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seit 1892/93 in dem Gymnasialgebäude selbst bei ; (…) Dreimal in jedem Jahre empfingen die katholischen Schüler die heiligen Sakramente der Buße und des Altares in der Meidlinger Pfarrkirche.« (1893/42) Regelmäßig beinhaltet der Chronikteil aller Jahresberichte von 1884 bis 1910 diese Mitteilung. Dazu kamen dann noch »geistliche Osterexerzitien für die Schüler« (1900/72), die wie die anderen religiösen Zeremonien beim Hausaltar im Festsaal abgehalten wurden. Die Lehrer überwachten dabei die Schüler, Direktor Wastl lobte seine Schule dafür : »Die Kircheninspektion wurde ebenso gewissenhaft wie die Ganginspektion nach einer förmlichen internen Instruction versehen.« (1893/43) Die Berichte führen einen heute veralteten Begriff aus dem katholischen Sprachgebrauch an : zusammen mit der Messe ist stets von der »Exhorte« die Rede, zu der die Schüler geführt werden. Die »Exhortatio«, lat. »Ermunterung«, wurde als eine religiös-erzieherische Handlung verstanden, als Belehrung, Ermahnung. Schon von Beginn an ist der neue Schulfestsaal mit Hausaltar auch als »Exhortensaal« (1893/26) bezeichnet worden. Gerade daraus wird ersichtlich, wie über die Schiene der »religiösen Übungen« der Politische Katholizismus die Schule als ein Instrument sozialer Kontrolle und Disziplinierung einsetzte. »Bete und arbeite«, das sei die »unvergängliche Lebensweisheit« (1908/84), die Schüler an der Rosasgasse gelernt hätten, sagt Wastl in einer Rede zum Schuljubiläum 1908. Der Erfolg katholischer Schulpolitik war allerdings gemischt. Zum einen war sie kontraproduktiv. Denn die omnipräsente katholische Zuchtrute mit ihrem verzopften moralischen Rigorismus, fixiert auf die Kontrolle jugendlicher Sexualität, trieb viele Gymnasiasten und Studenten in einen Antiklerikalismus, den sie – in ihrer schulischen Bildung ohnehin erzogen zu einem Bewusstsein ihres »Kulturdeutschtums« – in der deutschnationalen Bewegung fanden. Ein radikaler Deutschnationalismus sah in Habsburg-Rom jene übernational orientierte, altvordere, finstere Allianz, die einer sogenannten modernen, dynamischen, von (römisch-)klerikalen Fesseln befreiten (rassisch-)deutschen Einheit entgegenstand. Auch der österreichische Nationalsozialismus wird später von diesem jugendlichen Protest gegen die restriktiven klerikalkatholischen Autoritäten profitieren. Allerdings operierte man auch innerhalb des katholisch-konservativen Lagers und des österreichischen Politischen Katholizismus in der Habsburgermonarchie bis zum Ende des Ständestaates mit einer österreichisch-deutschen Doppelidentität. Der k. k. Schuldirektor, Katholik und Schulaltar-Errichter Johann de Matha Wastl ist hier ein Beispiel. In seiner Jubiläumsrede 1908 lobte er die Rosasgasse nicht nur dafür, dass hier die Lebensmaxime »Bete und arbeite« gelehrt werde, sondern dass sie auch das Haus sei, »in dem (…) die wundervolle Pflanze wienerisch-deutschen Fühlens (…) gepflegt und betreut werde«. (1908/84) Zum anderen konnte die katholische Kirche mit ihrer schulischen Präsenz zumindest am Gymnasium Rosasgasse sichtbaren Erfolg verbuchen. Die Schule war ein fruchtbares Rekrutierungsfeld für den Klerikernachwuchs. Die Schulfestschrift zum 50jährigen Jubiläum 1933 gibt einen statistischen Überblick zu den gewählten
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Berufen von über 2200 bisherigen Maturanten der Rosasgasse. Davon ergriffen 102 ehemalige Schüler den Priesterberuf.53 Einer davon ist der bis heute prominenteste ehemalige Schüler der Rosasgasse – Ignaz Seipel. 1895 hat Seipel an der Schule maturiert. Bis zu seinem Tod 1932 blieb er mit der Schule in Kontakt, war Ehrenmitglied des »Vereins ehemaliger Meidlinger Gymnasiasten«, des Absolventenvereins der Rosasgasse. 1923 hält er – Seipel ist damals Bundeskanzler der Republik – als Priester zum 40jährigen Jubiläum der Schule einen Gottesdienst im Festsaal. In naiver Verkennung der verfeindeten Lage zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten will der Absolventenverein Ende 1932 beim »roten Wien« erreichen, die Rosasgasse in »Dr. Ignaz Seipel-Gasse« umzubenennen. Der Antrag bleibt erfolglos. Inoffiziell soll aber die Schule mit seinem Namen genannt worden sein. 1934 wurde im Schulgebäude ein Seipel-Relief als Denkmal enthüllt, das 1938 wieder entfernt wurde.54 Zweifellos war Seipel eine der intellektuellsten und maßgeblichsten Personen der Christlichsozialen der Ersten Republik und ein herausragender Repräsentant des österreichischen Politischen Katholizismus. Aber ebenso zweifellos war er nicht unwesentlich mitverantwortlich an der Zerstörung der demokratischen Ersten Republik und ihrem Weg in Diktatur und Faschismus und damit in ihren Untergang. Was die Ideologie des österreichischen Politischen Katholizismus bestimmt, findet sich ausgeprägt bei Seipel. Dessen zwischen gesamtdeutscher Kulturzugehörigkeit und österreichischer Staatsidentität changierende Staats- und Nationentheorie zeichnete die Grundlinie der späteren ständestaatlichen Österreich-Ideologie. Der parlamentarischen Parteiendemokratie und dem republikanischen System blieb er immer skeptisch bis ablehnend gegenüber. Nach dem Juli 1927 wandte sich Seipel eindeutig der faschistischen Heimwehrbewegung zu und trat offen für eine autoritäre Staatskonzeption ein.55 Der restaurative Politische Katholizismus nach 1918 wurde schließlich zu einer ideologischen Säule des Austrofaschismus. Der Linzer Bischof Gföllner feierte nach 1933 den Jahrestag der Ausschaltung des Parlamentes mit einem Festgottesdienst, andere österreichische Bischöfe polemisierten zum Teil mit antisemitischer Rhetorik gegen den Republikanismus. Die Monarchie wäre die Repräsentation des Himmels und der Gottesherrschaft, die Republik dagegen die der Hölle und der Satansherrschaft. Der Katholizismus war in Summe wesentlich beteiligt an der Verhinderung jenes schon genannten »Transfers des Sakralen« von der Monarchie auf die Republik.56 Als Resümee ist festzuhalten : Der österreichische Politische Katholizismus in der späten Habsburgermonarchie und in der Ersten Republik trug eine Hauptverantwortung an der Aushöhlung und Zerstörung der Demokratie in Österreich. Darüber hinaus hat er nachhaltig – und insbesondere in den Schulen – mitgewirkt, das Prinzip des Autoritären in der Gesellschaft und politischen Kultur Österreichs tief zu verankern.
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Schule und Humanismus Mit diesem Blick auf den Kult des Autoritären, der nach 1918 im Aufstieg und in der Herrschaft des Faschismus und Nationalsozialismus seinen katastrophalen Höhepunkt erreicht hat, stellt sich auch wieder die einleitende Frage nach Strukturen und Inhalten eines öffentlichen Bildungssystems, das eine solche negative gesellschaftliche Entwicklung nicht verhindern konnte, wenn nicht sogar begünstigt hat. Hiermit ist ein archimedischer Punkt für das Verstehen der Geschichte des 20. Jahrhunderts angesprochen. Wie konnte es geschehen, dass die hoch aggressive Ideologie des Nationalsozialismus in der Mitte Europas an die Macht gelangte ? Wie konnte eine zivilisierte europäische Gesellschaft mit ihren humanistischen Gymnasien, wie es Österreich und Deutschland vor und nach 1918 waren, zu einem Kollektiv werden, aus deren Mitte – nicht aus deren Rändern – die Täter, (Mit-)Verantwortlichen und Bystander des Zivilisationsbruchs des Holocaust kamen ? Um es noch einmal zu betonen, ohne dabei generalisieren zu wollen oder eine simple biografische Linearität zu meinen : die zeitliche Distanz zwischen der späten Habsburgermonarchie, dem Fin de Siècle und der Zeit des Nationalsozialismus war nicht so groß, dass hier nicht generationelle und personelle Kontinuitäten und Kontexte wirksam gewesen wären.57 Von weiteren strukturellen und anderen historischen Zusammenhängen leitet sich dann schließlich die Erkenntnis ab, dass der Nationalsozialismus auch wesentlich »ein Produkt des alten Österreich«58 ist. Das Gymnasium Rosasgasse pflegte den neuhumanistischen Bildungskanon. Latein (ab 1. Klasse) und Griechisch (ab 3. Klasse) wurden intensiv unterrichtet, mit einer hohen Anzahl an Wochenstunden. Im Deutschunterricht dominierte die Lektüre der sogenannten »deutschen Klassik«, vor allem der Weimarer Klassik. Die Jahresberichte 1884–1917 ermöglichen mit den Themenlisten zu den schriftlichen Deutscharbeiten einen Einblick in Unterrichtsinhalte der sogenannten neuhumanistischen Bildung. Goethe, Schiller, Lessing, Klopstock, Herder – sie sind die Spitzenreiter der Themenstellungen in der gesamten Oberstufe. Daneben gab es eine intensive Antikenrezeption, vor allem der griechischen Klassik. Zahlreiche Zitate aus der griechischen und römischen Antike : Homer, Ovid, Cicero ; immer wieder auch Themen zur Geschichte der Griechen. Nicht nur im österreichischen Bildungsmilieu, auch im Deutschen Kaiserreich entwickelte sich eine deutliche Gräkophilie. Griechentum stand für ausgebildetes Menschentum, im besonderen aber wurde es in Analogie gesetzt zum Wesen abendländischer und deutscher Kultur.59 In den Festreden betonte man stets den pädagogischen Wert dieser klassischen Bildung, indem man deren Ziele formulierte. Dabei tat sich vor allem Direktor Wastl hervor, nicht allein in seiner Funktion als Schulleiter, sondern auch in seinem Selbstverständnis als Altphilologe. In seinen Reden, gespickt mit lateinischen und griechischen Zitaten, verteidigte er immer wieder die klassisch-humanistische Schul-
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bildung gegenüber den aufstrebenden Naturwissenschaften. Er plädierte für eine ausgewogene Gymnasialbildung, die aber letztlich im Gesamten und mit Einsatz »guter Disciplin« zu den »Ideen der Religion und der Sittlichkeit« (1893/76) führen müsse. »Sichere Grundsätze und ein klarer Sinn und eine helle Begeisterung für alles Edle und Gute, Große und Erhabene« (1908/83), »der Geist des Abscheus vor allem Niedrigen und Schlechten« seien »das letzte Ziel aller Jugendbildung«. (1893/76) Diese Erklärungen sind ziemlich allgemein gehalten, haben eine große Bandbreite möglicher Inhalte. Daher stellt sich die Frage, welche konkreteren Werteakzente und Wertehierarchien hinter diesen phrasenhaft verallgemeinerten humanistischen Bildungsansagen stecken. Das von Direktor Wastl bei der Schuleinweihung 1892 formulierte gymnasiale Bildungsprogramm macht doch ziemlich klar, worauf die Bildung der Schüler hinführen sollte – zur Treue zu Gott, Kaiser und Vaterland.60 Die aufklärerisch-humanistischen Ideale sind in der Schule gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker autoritären und nationalistischen Tendenzen untergeordnet worden.61 Die Jahresberichte überliefern auch Reden ehemaliger Schüler bei diversen Schulfeiern. Diese einstigen Maturanten der Rosasgasse und nun arrivierten Akademiker präsentieren sich in den Berichten gleichsam als Zeugen und Ausweise richtiger und effizienter Bildungsarbeit ihrer ehemaligen Schule. Auch hier findet man Hinweise, was damals im bildungsbürgerlichen Milieu mit humanistischer Bildung noch assoziiert wurde. Bei einer abendlichen Feier zum Schuljubiläum 1908 hält Dr. med. Hans Lenz (Matura 1894) eine Festrede und kommt dabei auf die grundsätzlichen schulischen Aufgaben zu sprechen. Idealismus fürs gesamte Leben müsse die Schule mitgeben, besonders auch »brennende Liebe zu unserem Volke, für unser eigen Volkstum muß erweckt werden. Und da ist es vor allem das humanistische Studium, das national denken und fühlen lehrt. Ein Zufall ist es nicht, dass nationaler Sinn vor allem in Kreisen der Intelligenz Verständnis und Pflege findet.« Doch um diesem Idealismus rationale Grenzen zu setzen, müsse er von »Manneszucht« (1908/94) begleitet sein. In der Festschrift zur 50-Jahr-Feier der Rosasgasse im Mai 1933 hören sich diese Bekenntnisse schon zeitgeistig schärfer an. Dr. Julius Lasnicek, Maturajahrgang 1896 und ehemaliger Bundesbahnpräsident, verkündet, dass die Rosasgasse ihre erzieherische Bestimmung erfüllt habe. Die Schule habe die Jugendlichen »in besonderem Maße für den Lebenskampf« gerüstet, befähigt, »den Kampf ums Dasein in Ehren zu bestehen«. Dazu hätten die Lehrer an den Schülern jene alte Weisheit täglich erprobt : »Wer nicht geschunden wird, wird nicht erzogen.« Dr. Lasnicek spricht weiters noch von »Heldenwillen«, »Kampfesfreude und dem eisernen Willen«. Zum Schluss wünscht er sich noch, dass der Geist seiner einstigen Lehrer auch weiterhin an der Rosasgasse herrsche – »der Geist idealen Fühlens und Denkens, gepaart mit einem unbeugsamen Willen (…) und der Geist der Liebe und Treue zu unserem deutschen Volke«.62 Ähnlich tönt es auch beim ehemaligen Obmann des Absolventenvereins der Rosasgasse, dem Primararzt Dr. Hugo Zeller-
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Zellenberg (Matura 1891), in dessen Beitrag zur Festschrift 1933. Für die Jugend sei wichtig im »gesunden Körper die gesunde Seele«. Dazu bedürfe es der »Körperstählung« und der »Reinheit«. »Nur junge, reine und gesunde Menschen sollten eine Ehe eingehen.« Und zur Reinheit gehöre die Treue »als festeste Grundlage der Familie und damit jeder wahren Volksgemeinschaft«. Weiters auch die »Treue der Gesinnung. Unentwegtes Festhalten an Grundsätzen, die man als recht erkannt hat. Dazu gehört in hohem Grade die nationale Einstellung (…) die Liebe zu seiner engeren Heimat, zum Ort, dem Tal (…) Sie führt dazu, den körperlich und geistig bestentwickelten Teil eines Volkes hochzubringen, fremde Volkseinflüsse kräftig abzuwehren. Diese nationale Auffassung, die jedem Volke die Erhaltung seiner Eigenart sichert, muß jeder wahren Internationalität zugrunde liegen. Sie führt zwangsläufig zu Rassenduldsamkeit und Menschenliebe.« 63 So lässt sich aus der genaueren Lektüre der Jahresberichte und Festschriften der Rosasgasse ein Bündel von Begriffen herausdestillieren, die in den Gymnasien der späten Habsburgermonarchie als eigentliche Zentralwerte klassisch-humanistischer Bildung wahrgenommen und gelehrt wurden : Sekundärtugenden wie (Deutsch-) Nationalismus, Patriotismus, Gottesfurcht, Treue, Gehorsam, Disziplin, Reinheit, Pflichterfüllung – zusammengefasst : das Prinzip des Autoritären. Die Jahresberichte 1884/1917 umfassen einen Zeitraum, in dem der Anbruch der Moderne stattgefunden hat, vor allem in Wien, einem Zentrum der österreichischen und zentraleuropäischen Moderne. »Moderne«, »Wiener Moderne« – das hieß damals Thematisierung und Kritik des Scheins tradierter Sicherheiten, deren Verlust und Aufbrechen, Auflösung kategorialen und normativen Denkens, Betonung des Pluralen, Relativen, Fragmentarischen, Subjektiven und Ambivalenten.64 Das alles ist, wie es sich darstellt, im Bildungs- und Humanismusverständnis der Schule Rosasgasse eher nicht vorgekommen. Der damalige geistige Stand des Gymnasiums Rosasgasse, wie er uns aus den Jahresberichten entgegentritt, war überwiegend jener der Vormoderne, der vorliberalen Zeit, bis hin zu einer Antimoderne mit ihren holistischen Gegenentwürfen.65 Ein autoritäres Beharren auf absolut gesetzte Wahrheiten, das sich als idealistische Gesinnung ausgibt – wie das in den Gymnasien der späten Habsburgermonarchie und des wilhelminischen Deutschland der Fall war – trägt jedoch in sich die Signatur eines »gnadenlosen Humanismus« 66. Der Ethnologe Claude Lévy-Strauss hat einmal gemeint, dass ein solcher absolutistischer Humanismus, wie er in Europa seit der Renaissance dominiert habe, zu kriegerischen Katastrophen, Genoziden und Konzentrationslagern geführt habe.67 Ähnlich sah das auch der 1922 geborene und im Freisinger Dom-Gymnasium schulisch erzogene deutsche Schriftsteller Carl Amery, wenn er im Versagen des katholischen Milieus in Deutschland, das seit dem 19. Jahrhundert Sekundärtugenden wie Sauberkeit, Obrigkeitsgehorsam, Pünktlichkeit, Disziplin, Ordnung, Patriotismus usw. als oberste Erziehungsmaximen gepredigt und sich scharf gegen die Moderne gestellt hat, eine
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Ursache für den Aufstieg des Nationalsozialismus erkannte : »Ich kann pünktlich zum Dienst im Pfarramt oder im Gestapokeller erscheinen«, meinte er zur problematischen Instrumentalisierbarkeit des kleinbürgerlichen und besonders von den christlichen Kirchen seit dem 19. Jahrhundert gestützten sekundären Tugendkatalogs.68 Dazu an dieser Stelle ein anderes Zitat : »Es gibt einen Weg zur Freiheit. Seine Meilensteine heißen : Gehorsam, Ehrlichkeit, Sauberkeit, Nüchternheit, Fleiß, Ordnung, Opfersinn, Wahrhaftigkeit, Liebe zum Vaterland.« Dieser Spruch könnte sehr ähnlich auch in den schulischen Festreden am Gymnasium Rosasgasse gesagt worden sein, wie sie in den Jahresberichten und Festschriften der Schule nachzulesen sind und wo diese genannten Sekundärtugenden häufig aufgerufen wurden.69 Aber dort ist er nicht zu finden. Dieser Spruch stand in einigen NS-Konzentrationslagern, auch in Mauthausen, zynisch gut sichtbar angebracht für alle Häftlinge, und er stammt von Heinrich Himmler.70 Der deutsche Schriftsteller Alfred Andersch hat 1979/80 mit einer Erzählung einen literarischen Versuch unternommen, aus der Herkunft Himmlers dessen Entwicklung zu einem führenden NS-Verbrecher zu ergründen. Andersch beschreibt aus autobiografischem Hintergrund heraus eine Griechischstunde in einem Münchner humanistischen Gymnasium im Jahre 1928. Diese Stunde hält der Schulleiter, der Altphilologe und Oberstudiendirektor »Rex« Himmler, der Vater Heinrich Himmlers, der »Vater eines Mörders«, so der Titel der Erzählung. Der alte Himmler, ein erzkonservativer bayrischer Katholik, tritt in dieser Unterrichtsstunde als ein autoritärer Schulherrscher auf, der seine Stehsätze vom hohen Wert der Sprache und Kultur des Homer, Sokrates und Sophokles doziert. In seinem Nachwort verweist Andersch nun darauf, dass der SS-Mann Heinrich Himmler eben nicht »im Lumpenproletariat aufgewachsen ist, sondern in einer Familie aus altem, humanistisch fein gebildetem Bürgertum«, und stellt dann die Frage : »Schützt Humanismus denn vor gar nichts ?«71 Es geht in Anderschs Schulgeschichte – so der Germanist Gunter Grimm – vor allem »um den autoritären Charakter, und dass dieser im humanistischen Gymnasium besonders gut gedieh«, um die »Diskrepanz von autoritärem Verhalten und humaner Maskierung« und schließlich darum, dass »die dort eingebleute blinde Autoritätsgläubigkeit [den] Boden für den NS-Totalitarismus bereitet« hat.72 Die Erzählung von Alfred Andersch steht in einer längeren Reihe literarischer Thematisierungen des geistigen Milieus an den Gymnasien Deutschlands vor 1933, vor allem des wilhelminischen Kaiserreichs.73 Bekannte Beispiele dafür sind Frank Wedekinds »Frühlings Erwachen« (1891), Hermann Hesses »Unterm Rad« (1906), Heinrich Manns »Professor Unrat« (1905) ; zur späten Habsburgermonarchie Robert Musils »Die Verwirrungen des Zöglings Törless« (1906), die autobiographischen Texte Arthur Schnitzlers »Jugend in Wien« (1915/1920 ; erschienen 1968) und Stefan Zweigs »Die Welt von gestern« (1942). Diese Texte zeigen tendenziell einen gemeinsamen Befund : Die Gymnasialprofessoren als Repräsentanten des autoritä-
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ren Charakters, die Gymnasien des Deutschen Kaiserreichs und der Habsburgermonarchie um die Jahrhundertwende als Kaderschulen des autoritären Prinzips und militaristischer Gehorsams- und Untertanenmentalität.74 Auch Thomas Mann schildert in seinen »Buddenbrooks« (1901), wie zu dieser Zeit an den Gymnasien primäre humanistische Bildungswerte durch autoritaristische Sekundärtugenden überlagert wurden : »Wo ehemals die klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten hatte (…), da waren nun die Begriffe Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, Carrière zu höchster Würde gelangt (…)«75 Zum literarischen Paradigma einer so autoritären wie armseligen Gymnasiallehrerfigur um die Jahrhundertwende wurde Heinrich Manns »Professor Unrat«. An einer Stelle des Romans wird dieser Professor für Griechisch so geschildert : »Er ereiferte sich für alle Autoritäten (…) Er wollte sie stark : eine einflußreiche Kirche, einen handfesten Säbel, strikten Gehorsam und starre Sitten.«76 Unweigerlich erinnert dieses Bild des wilhelminischen Lehrers »Unrat« an den k.k. Gymnasialdirektor Wastl der Rosasgasse, der den Schulaltar aufstellen und sich abbilden ließ in militärischer Haltung in Uniform und die Hand am Säbel. Die Literatur zeigt aber auch, wie diese jahrzehntelang in den Schulen internalisierten Werte in die Zeit nach 1918 weiterwirkten. Alfred Döblin beschreibt in seinem Romanzyklus »November 1918. Eine deutsche Revolution«, wie ein echt humanistisch und demokratisch gesinnter Altphilologe und Lehrer an einem Berliner Gymnasium nach dem Ersten Weltkrieg in seinem Unterricht scheitert, da die Schüler nur auf Gehorsam und das Autoritäre fixiert sind und einen reflexiven Humanismus aggressiv verachten.77 Einen Zusammenhang der Situationen an Schulen der Weimarer Republik, die weiterhin von wilhelminisch-autoritärem und nationalem Denken beherrscht waren, mit der folgenden Katastrophe des Nationalsozialismus formuliert zugespitzt der 1917 geborene deutsche Schriftsteller Heinrich Böll. Mit dem Hinweis auf die »Hindenburgblindheit« der Lehrer im katholischen Köln schrieb Böll : »Die verhängnisvolle Rolle dieser hochgebildeten, ohne jede Einschränkung anständigen deutschen Studienräte machte letzten Endes Stalingrad und Auschwitz möglich.«78 Unter einer österreichischen Perspektive führt dieser Kontext zurück zur »Törless«-Erzählung Musils. Die darin beschriebenen Autoritäts-, Gehorsams- und Gefolgschaftspraktiken innerhalb eines Schul- und Schülermilieus der späten Habsburgermonarchie sind in einer Lesart nach 1945 auch als modellhafte Vorläufer faschistischer Radikalisierung gedeutet worden. Ernst Hanisch weist auf diese spezifische »Törless«-Rezeption hin : »So gelesen, bietet der ›Törless‹ einen unheimlichen Einblick in die Machtmechanismen und Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts. Sie geschahen nicht ad hoc, sie sind eingebettet in die alte Welt. Die Monarchie selbst bot das Sprungbrett.«79 Das Werk des deutschen Soziologen und Philosophen Theodor W. Adorno war von der Erfahrung des Nationalsozialismus und des Holocaust wesentlich mitgeprägt. So haben Adorno auch die Bedingungen beschäftigt, die diese Katastrophe
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ermöglicht haben bzw. sie künftig verunmöglichen sollten. Mehrmals hat er sich in diesem Kontext auch zu Fragen der schulischen Bildung und Erziehung in Vorträgen und Aufsätzen geäußert. Bekannt davon ist sein 1966/67 entstandener Text zur »Erziehung nach Auschwitz«, der mit folgendem markanten Satz eingeleitet ist : »Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.«80 Und in dieser Abhandlung steht dann auch der Satz : »Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie (…) ; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.«81 Heute, vier Jahrzehnte nach diesem Adorno-Text, haben Fragen zur Bedeutung und Vermittlung der Thematik des Holocaust im schulischen Unterricht mehr als zuvor einen zentralen Stellenwert innerhalb des gesamten Gedächtnis- und Geschichtsdiskurses eingenommen. Dabei hat sich der spezifische Begriff der »Holocaust Education« etabliert. Die Diskussionen und Erörterungen zur »Erziehung nach Auschwitz« stellen aber auch die Frage auf nach der Erziehung vor Auschwitz. Dazu darf der historische Blick nicht nur auf die Schulen in den Jahren vor 1933/38 zurückreichen, sondern er muss sich weiter zurückwenden bis in die Zeit vor 1918, in die Schulen und Gymnasien der späten Habsburgermonarchie und des wilhelminischen Deutschland. Die Jahresberichte des Gymnasiums Rosasgasse aus den Jahren 1884–1917 bieten diesem erweiterten zeitgeschichtlich forschenden Blick ein reiches Feld.
Anmerkungen 1 Zehnter Jahresbericht des k.k. Staats-Gymnasiums im 12. Bezirke von Wien. Wien 1893. S. 77. Soweit nicht anders angegeben ist, stammen alle unter Anführungen gesetzten Zitate aus den Jahresberichten 1884–1917 des Gymnasiums Rosasgasse ; im Weiteren zitiert mit Jahresangabe und Seite in Klammer. 2 Reinhard Krammer : Intention und Prozess im Geschichtsunterricht. Der Einfluss externer Faktoren auf die Praxis an den deutschsprachigen Mittelschulen Österreichs 1849–1914. – Innsbruck 2008. S. 261f. 3 Ernst Hanisch : Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. (Österreichische Geschichte 1890–1990). – Wien 1994. S. 209–212. Vgl. : Helmut Rumpler : Grenzen der Demokratie im Vielvölkerstaat. – In : Helmut Rumpler, Peter Urbanitsch (Hg.) : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 7/1. Wien 2000. S. 1–10. Anton Pelinka : Zur österreichischen Identität. Zwischen deutscher Vereinigung und Mitteleuropa. – Wien 1990. S. 24–32. 4 Peter Gstettner : Schule : Ein staatlich regulierter Sozialisationsbereich. – In : Herbert Dachs, u.a., (Hg.) : Handbuch des politischen Systems Österreichs. Wien 1991. S. 433–440. 5 Franz J. Bauer : Das »lange« 19. Jahrhundert. Profil einer Epoche. – Stuttgart 2004. S. 7–16. Eric Hobsbawm : Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. – München 2002. S. 16–26. 6 Hanisch : Der lange Schatten des Staates. S. 9–17. 7 Karl Dietrich Bracher : Zeiten der Verführung : Die Ausbreitung des Totalitarismus im 20. Jahrhundert. – In : Norbert Leser (Hg.) : Macht und Gewalt in der Politik und Literatur des 20. Jahrhunderts. Wien 1985. S. 11–28. Hier S. 14. 8 Friedrich Heer : Der Kampf um die österreichische Identität. – Wien 1981 (3. Aufl. 2001).
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19 Tony Judt : Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. – München 2006. S. 933–966. Dan Diner : Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust. – Göttingen 2007. 10 Siegfried Mattl, Karl Stuhlpfarrer : Abwehr und Inszenierung im Labyrinth der Zweiten Republik. – In : Emmerich Tálos, u.a. (Hg.) : NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. Wien 2000. S. 902–934. 11 Hanisch : Der lange Schatten des Staates. S. 24. Oliver Rathkolb : Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005. – Wien 2005. S. 64–67, 411–413. Pelinka : Zur österreichischen Identität. S. 29f. 12 Krammer : Intention und Prozess. S. 107, 165. 13 Daniel Unowsky : Creating Patriotism. Imperial Celebrations and the Cult of Franz Joeph. – In : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 9 (1998) 2, S. 280–293. Hier S. 287. Ernst Hanisch, Peter Urbanitsch : Die Prägung der politischen Öffentlichkeit durch die politischen Strömungen. – In : Helmut Rumpler, Peter Urbanitsch (Hg.) : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 8/1. Wien 2006. S. 15–111. Hier : S. 107. Ernst Bruckmüller : Österreichbegriff und Österreichbewußtsein in der franziskojosephinischen Epoche. – In : Richard G. Plaschka, u.a. (Hg.) : Was heißt Österreich ? Inhalt und Umfang des Österreichbegriffs vom 10. Jahrhundert bis heute. (Archiv für österreichische Geschichte 136). Wien 1995. S. 255–288. Hier S. 271f. 14 Heer : Der Kampf um die österreichische Identität. S. 258–260. Hanisch : Der lange Schatten des Staates. S. 31, 155, 212–214. 15 Ernst Hanisch : Kontinuitäten und Brüche : Die innere Geschichte. – In : Dachs, u.a. (Hg.) : Handbuch des politischen Systems Österreichs. S. 11–19, 18. Ernst Hanisch : Politische Symbole und Gedächtnisorte. – In : Tálos, u.a. (Hg.) : Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1933. Wien 1995. S. 421–430, 423, 430. 16 Krammer : Intention und Prozess. S. 160–172. 17 Hanisch : Der lange Schatten des Staates. 209–225. Hanisch, Urbanitsch : Die Prägung der politischen Öffentlichkeit durch die politischen Strömungen. S. 73, 98–110. 18 Hanns Haas : Staats- und Landesbewusstsein in der Ersten Republik. – In : Tálos, u.a. (Hg.) : Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik. S. 472–487. Hier S. 472–477. Ernst Bruckmüller : Nation Österreich. Kulturelles Bewusstsein und gesellschaftlich-politische Prozesse. (Schriften zu Politik und Verwaltung Bd. 4). Wien 1996. S. 291–298. Hanisch : Der lange Schatten des Staates. S. 154–157. 19 Krammer : Intention und Prozess. S. 187. Heer : Der Kampf um die österreichische Identität. S. 262–277, 287–298, 308–310. Bruckmüller : Nation Österreich. S. 298–303. 20 Richard Olechowski : Schulpolitik. – In : Erika Weinzierl, Kurt Skalnik (Hg.) : Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik. Graz 1983. Bd. 2. S. 589–607. Hier S. 590. Zur Ausgrenzung sozialdemokratisch eingestellter Lehrer siehe : Krammer : Intention und Prozess. S. 114, 264. 21 Brigitte Lichtenberger-Fenz : »Ein Hort deutschen Geistes, deutscher Wissenschaft und deutschen Wesens.« Schritt für Schritt auf dem Weg in die Barbarei. Österreichs Hochschulen zwischen 1918 und 1945. – In : Zeitschrift für Hochschuldidaktik. Beiträge zu Studium, Wissenschaft und Beruf, 9 (1985) 3/4, S. 429–444. 22 Gerhard Botz : Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme und Herrschaftssicherung. – Wien 1988. S. 213–220, 237–242. 23 Anton Staudinger : Austrofaschistische »Österreich«-Ideologie. – In : Emmerich Tálos, Wolfgang Neugebauer (Hg) : Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938. (Politik und Zeitgeschichte 1). Wien 2005. S. 28–52. 24 Thomas Winkelbauer : Krieg in Deutsch-Lesebüchern der Habsburgermonarchie (1880–1918). – In : Klaus Amann, Hubert Lengauer (Hg.) : Österreich und der Große Krieg 1914–1918. Die andere Seite der Geschichte. Wien 1989. S. 37–47. Hier S. 38f. 25 Ursula Schulze : Das Nibelungenlied. – Stuttgart 2006. S. 108, 275, 278–298. Peter Wapnewski : Das Nibelungenlied. – In : Etienne Francois, Hagen Schulze (Hg.) : Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1. München 2001. S. 159–169.
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26 Ralph Großmann, Rudolf Wimmer : Schule und Politische Bildung I. Die historische Entwicklung der Politischen Bildung in Österreich. (Klagenfurter Beiträge zur Bildungswissenschaftlichen Forschung 6). Klagenfurt 1979. S. 45–47. 27 Thomas Kühne : Der Soldat. – In : Ute Frevert, Heinz-Gerhard Haupt (Hg.) : Der Mensch des 20. Jahrhunderts. Essen 2004. S. 344–372. Hier S. 359. Volker Berghahn : Europa im Zeitalter der Weltkriege. Die Entfesselung und Entgrenzung der Gewalt. – Frankfurt/M. 2002. S. 60–69. David Stevenson : Der Erste Weltkrieg. – Düsseldorf 2006. S. 219–242. 28 Barbara Holzer : Die politische Erziehung und der vaterländische Unterricht in Österreich zur Zeit des Ersten Weltkrieges. – Wien 1987. Winkelbauer : Krieg in Deutsch-Lesebüchern. S. 42–44. 29 Eberhard Sauermann : Literarische Kriegsfürsorge. Österreichische Dichter und Publizisten im Ersten Weltkrieg. (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 4). – Wien 2000. S. 75–82. 30 Karl Kraus : Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. – Frankfurt/M. 1986. S. 255, 9. 31 Klambauer Karl : Österreichische Gedächtniskultur zu Widerstand und Krieg. Denkmäler und Gedächtnisorte in Wien 1945–1986. – Innsbruck 2006. Heidemarie Uhl : Das »erste Opfer«. Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik. – In : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 30 (2001) 1, S. 19–34. 32 Friedl Schreyvogl (Hg.) : Der Lesesaal. Ein Stück junges Österreich. – Wien 1918. S. 3. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 4. 35 Zit. in : Sauermann : Literarische Kriegsfürsorge. S.79, 81, 94. 36 Zur Involvierung der hier genannten Autoren in die literarische Kriegspropaganda siehe : Peter Broucek : Das Kriegspressequartier und die literarischen Gruppen im Kriegsarchiv 1914–1918. – In : Amann, Lengauer (Hg.) : Österreich und der Große Krieg. S. 132–139. Albert Berger : Lyrische Zurüstung der »Österreich«-Idee : Anton Wildgans und Hugo von Hofmannsthal. – In : ebd., S. 144–152. Bernhard Doppler : »Ich habe diesen Krieg immer sozusagen als meinen Krieg angesehen«. Der katholische Kulturkritiker Richard von Kralik (1852–1934). – In : ebd., S. 95–104. Ulrich Weinzierl : Hofmannsthal. Frankfurt/M. 2007. S. 61–69. 37 Johann Sonnleitner : Eherne Sonette 1914. Richard von Schaukal und der Erste Weltkrieg. – In : Amann, Lengauer (Hg.) : Österreich und der Große Krieg. S. 152–158. 38 Schreyvogl (Hg.) : Der Lesesaal. S. 10. 39 Ebd., S. 23. 40 Friedrich Schreyvogl : Unser Lesesaal. – In : Jahresbericht und Festschrift zum 75-jährigen Jubiläum des Realgymnasiums in Meidling und zum 50-jährigen Jubiläum des Vereines ehemaliger Meidlinger Gymnasiasten, hgg. vom Verein ehemaliger Meidlinger Gymnasiasten. Wien 1958. S. 38–41. Hier S. 41. 41 Klaus Amann : P.E.N. Politik Emigration Nationalsozialismus. Ein österreichischer Schriftstellerklub. – Wien 1984. S. 30, 58, 101f. Klaus Amann : Der österreichische NS-Parnass. Literaturbetrieb in der »Ostmark«. – In : Tálos, u.a. (Hg.) : NS-Herrschaft in Österreich. S. 570–596. Hier S. 572–576, 590f. Zur NSVergangenheit Friedrich Schreyvogls siehe auch passim : Gerhard Renner : Österreichische Schriftsteller und der Nationalsozialismus (1933–1940). Der »Bund der deutschen Schriftsteller Österreichs« und der Aufbau der Reichsschrífttumskammer in der »Ostmark«. Frankfurt/M. 1986. Klaus Amann : Zahltag. Der Anschluß österreichischer Schriftsteller an das Dritte Reich. Bodenheim 1996. 42 Schreyvogl (Hg.) : Der Lesesaal. S. 21. 43 Kühne : Der Soldat. S. 346f. 44 Reinhart Koselleck : Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden. – In : Odo Marquard, Karlheinz Stierle (Hg.) : Identität. (Poetik und Hermeneutik 8). München 1979. S. 255–276. Reinhart Koselleck, Michael Jeismann (Hg.) : Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne. München 1994.
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45 Es gab eine gesetzliche Auflage für Professoren, bei offiziellen Anlässen, wie etwa bei Feiern, in Uniform mit umgehängtem Säbel aufzutreten : Krammer : Intention und Prozess. S. 183. 46 George L. Mosse : Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben. Stuttgart 1993. S. 133, 195, 223–244. Stevenson : Der Erste Weltkrieg. S. 644–653, 660–664. 47 Maximilian Liebmann : Die Entscheidung der katholischen Kirche für die Republik. – In : Christliche Demokratie, 8 (1990) 3, S. 189–195. Hier S. 190. 48 Peter Leisching : Die römisch-katholische Kirche in Cisleithanien. – In : Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch (Hg.) : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 4. Wien 1985. S. 1–247. Hier S. 25–63. 49 Herbert Dachs : Schule und Politik. Die politische Erziehung an den österreichischen Schulen 1918 bis 1938. – Wien 1982. S. 39–44, 267–270. Herbert Dachs : »Austrofaschismus« und Schule. Ein Instrumentalisierungsversuch. – In : Tálos, Neugebauer (Hg.) : Austrofaschismus. S. 282–296. 50 Die christliche Familie. Mit Beilage »Das gute Kind«. Organ des katholischen Schul-Vereines für NiederÖsterreich. 3 (März 1888), S. 29. Vgl. Anton Staudinger : Die christliche Familie im Krieg. – In : Amann, Lengauer (Hg.) : Österreich und der Große Krieg. S. 113–121. 51 Dachs : Schule und Politik. S. 40–44. 52 Dachs : »Austrofaschismus« und Schule. S. 283, 287. 53 Festschrift anlässlich des 50jährigen Bestandes des Bundesgymnasiums in Wien XII. Rosasgasse 1–3, hgg. vom Verein ehemaliger Meidlinger Gymnasiasten im Mai 1933. S.22. 54 Festschrift 1958. S. 28f. Festschrift 1933. S. 70. 55 Klemens von Klemperer : Ignaz Seipel. Staatsmann einer Krisenzeit. – Graz 1976. S. 222–233 ; 298–309. Ernst Hanisch : Die Ideologie des Politischen Katholizismus in Österreich 1918–1938. – Wien 1977. S. 11, 20. Anton Staudinger : Christlichsoziale Partei. – In : Weinzierl, Skalnik (Hg.) : Österreich 1918–1938. Bd.1. S. 249–276. Heer : Der Kampf um die österreichische Identität. S. 361ff. 56 Hanisch : Ideologie des Politischen Katholizismus. S. 9f, 14. Ernst Hanisch : Der Politische Katholizismus als ideologischer Träger des »Austrofaschismus«. – In : Tálos, Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. S. 68– 86. Ernst Hanisch : Das System und die Lebenswelt des Katholizismus. – In : Tálos u.a. (Hg.) : Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik . S. 444–453. 57 Zum Begriff der Generation als heuristischer Ansatz zur Erforschung der Gruppe der (Mit)Täter und (Mit-)Verantwortlichen in der NS-Geschichte vgl : Michael Wildt : Blick in den Spiegel. Überlegungen zur Täterforschung. – In : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 19 (2008) 2, S. 13–37. Hier S. 29–33. 58 Gerhard Botz : Österreich und die NS-Vergangenheit. Verdrängung, Pflichterfüllung, Geschichtsklitterung. – In : Dan Diner (Hg.) : Ist der Nationalsozialismus Geschichte ? Zu Historisierung und Historikerstreit. Frankfurt/M. 1987. S. 141–152. Hier S. 146. 59 Krammer : Intention und Prozess. S. 25. Margret Kraul : Das deutsche Gymnasium 1780–1980. (edition suhrkamp. Neue Folge 251). Frankfurt/M. 1984. S. 32, 67–70, 120f. Zur intensiven Antikenrezeption in den österreichischen Gymnasien der späten Habsburgermonarchie siehe auch : Rainer Leitner : Das Gymnasium der österreichischen (zentraleuropäischen) Moderne und seine autobiographische Rekonstruktion : »Kreatives Milieu« oder »Büchse der Pandora« ? Eine kultursemiotisch-mnemistische Betrachtung autobiographischer Schulerinnerungen. (Phil. Diss.) Graz 2004. S. 80–88. Wendelin Schmidt-Dengler. Das Fin de Siècle – Ende eines Bildungsideals ? Zur Antiken-Rezeption im Kreis des ›Jung Wien‹. – In : Neohelicon IX (1982) 2, S. 61–85. 60 Ganz ähnlich bis in den Wortlaut hinein und ähnlich in ihren Zielen, die Schüler zu Patriotismus, Gehorsam, Gottesfurcht und Dynastietreue zu erziehen, zeigen sich beispielhafte Reden der Direktoren eines Gymnasiums im Deutschen Kaiserreich sowohl vor als auch in der wilhelminischen Zeit : Kraul : Das deutsche Gymnasium. S. 70, 98f, 124. 61 Leitner : Das Gymnasium der österreichischen (zentraleuropäischen) Moderne. S. 83. Eine ähnliche Ent-
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wicklung vollzog sich in Deutschland. Norbert Elias konstatiert für das deutsche Bürgertum nach 1871 eine Verschiebung in der Wertehierarchie von Humanismus und Aufklärung hin zu autoritären Begriffen und Moralvorstellungen wie Stärke, Härte, Disziplin, Gehorsam : Norbert Elias : Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1008). Frankfurt/M. 1992. S. 151–158, 235–237, 271–273. Festschrift 1933. S. 43f. Ebd., S. 34f. Klaus Peter Müller : Moderne. – In : Ansgar Nünning (Hg.) : Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. – Stuttgart 2008. S. 508–511. Dagmar Lorenz : Wiener Moderne. (Sammlung Metzler 209). – Stuttgart 2007. Jacques Le Rider : Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität. Wien 1990. Rudolf Haller (Hg.) : nach kakanien. Annäherung an die Moderne. (Studien zur Moderne 1). Wien 1996. Rainer Leitner ist der Frage nachgegangen, ob die (humanistischen) Gymnasien der späten Habsburgermonarchie, vor allem jene im urban-kreativen Milieu Wiens, zur Genese der »Wiener Moderne« signifikant beigetragen hätten. Dazu untersuchte er autobiografische Schulerinnerungen von Repräsentanten der Wiener Moderne, von denen viele an humanistischen Gymnasien maturierten. Das Resümee seiner Arbeit ergab einen differenzierten, aber überwiegend negativen Befund. In vielen dieser autobiographischen Rekonstruktionen gab es äußerst ablehnende Erinnerungen an das autoritäre System und Schulleben in diesen Gymnasien : Leitner : Das Gymnasium der österreichischen (zentraleuropäischen) Moderne. S. 173–226, 255–257. Michael W. Fischer : Völkermord und Massenvernichtung im 20. Jahrhundert. Anmerkungen zu einer politischen Theorie des Todes. – In : Norbert Leser (Hg.) : Macht und Gewalt in der Politik und Literatur des 20. Jahrhunderts. – Wien 1985. S. 29–49. Hier S. 39. Zit. in : ebd. Zit. in : Hermann Glaser : Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalsozialismus. – Frankfurt/M. 1895. S.198. Siehe auch : S. 60, 83f., 184ff. Vgl. Großmann, Wimmer : Schule und Politische Bildung. S. 54. Dirk Riedel : »Arbeit macht frei«. Leitsprüche und Metaphern aus der Welt des Konzentrationslagers. – In : Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hg.) : Realität – Metapher – Symbol. Auseinandersetzungen mit dem Konzentrationslager. (Dachauer Hefte 22, 2006). S. 11–29. Hans Marsalek : Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. Wien 1980. S. 74. Alfred Andersch : Der Vater eines Mörders. Eine Schulgeschichte. – Zürich 1982. S. 136. Gunter E. Grimm : Alfred Andersch : Der Vater eines Mörders. Die Maske des Bösen (oder die Kunst des »corriger la fortune«. – In : Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Bd.2 (Reclam Interpretationen). Stuttgart 1996. S. 224–251. Hier S. 231, 234, 236. Siehe dazu : Holger Rudloff : Zur Darstellung des Themas Schule und Faschismus in der deutschen Literatur. – In : Traugott Krischke (Hg.) : Horváths »Jugend ohne Gott«. – Frankfurt/M. 1984. S. 180–197. Vgl. Kraul : Das deutsche Gymnasium. S. 100–126. Großmann, Wimmer : Schule und Politische Bildung. S. 40–55. Vgl. dazu : Leitner : Das Gymnasium der österreichischen (zentraleuropäischen) Moderne. S. 177–208, 222–226, 255–257. Thomas Mann : Buddenbrooks. Verfall einer Familie. (Fischer Taschenbuch) Frankfurt/M. 2008. S. 722. Heinrich Mann : Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen. (Fischer Taschenbuch) Frankfurt/M. 2003. S. 45. Rudloff : Schule und Faschismus in der deutschen Literatur. S. 190f. Vgl. dazu : Kraul : Das deutsche Gymnasium. S. 142, 151–156. Zit. in : ebd., S. 184.
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79 Hanisch : Der lange Schatten des Staates. S. 255. Siehe auch : Harald Welzer : Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt/M. 2008. S. 70. 80 Theodor W. Adorno : Erziehung nach Auschwitz. – In : ders. : Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt/M. 1977. S. 88–104. Hier S. 88. 81 Ebd., S. 93.
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Registrierungslisten als Quelle zur Erforschung der sozialen Merkmale ehemaliger Nationalsozialisten, dargestellt am Beispiel Bad Gastein
Wie in ganz Österreich, so wurden im Sommer 1945 auch in Bad Gastein die im Ort wohnhaften ehemaligen Nationalsozialisten mittels eines Fragebogens erfasst,1 in dem sie verschiedene Angaben zu ihrer Person machen mussten. Grundlage für die Meldepflicht bildete das Verfassungsgesetz vom 8. Mai 1945 über das Verbot der NSDAP (Verbotsgesetz) und die NS-Registrierungs-Verordnung vom 11. Juni 1945 über die Registrierung der Nationalsozialisten. Der Fragebogen zur Registrierung der Nationalsozialisten wurde auf Grund eines Erlasses des Landeshauptmannes in Salzburg vom 8. August 1945 (Zl. 41 DFS) ausgegeben. Im Anschluss daran mussten sich die Nationalsozialisten Ende August 1945 vor einer Kommission verantworten, die pro Gemeindesprengel aus drei sogenannten »Vertrauensmännern« bestand, wobei jeweils ein Vertrauensmann der Österreichischen Volkspartei, einer der Sozialdemokratischen Partei und einer der Kommunistischen Partei angehörte. Im Zuge dieser Registrierung ehemaliger Nationalsozialisten wurden 1945 in Bad Gastein insgesamt 1.059 Nationalsozialisten in Listen aufgezeichnet, von denen im August 1945 noch 903 im Ort wohnten. Quellkritisch muss angemerkt werden, dass sich trotz Strafandrohung nicht alle Nationalsozialisten registrieren ließen bzw. ihre Angaben nicht immer wahrheitsgemäß waren.2 1947 erfasste die Registrierungsbehörde St. Johann für die Gemeinde Bad Gastein aufgrund des »Verbotsgesetzes«3 noch einmal 665 Personen, die zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 27. April 1945 der NSDAP oder ihren Wehrverbänden SS oder SA angehört hatten. Wenn man beide Teilmengen zusammenfasst, so sind dies insgesamt 1.092 Namen (ohne Mehrfachnennungen), die ich näher auswertete.4 Für die hier vorliegende Studie musste ich die registrierungspflichtigen Personen nach ihrem Zuzug nach Bad Gastein in zwei Gruppen teilen, nämlich in jene, die schon vor 1945 hier wohnten, und in jene, die erst gegen Kriegsende aus Ostösterreich hierher flüchteten. Um die Aussagekraft der in den Registrierungslisten ermittelten sozialen Merkmale ehemaliger Nationalsozialisten beurteilen zu können, habe ich zu Vergleichszwecken weiteres Material herangezogen5, da 1945 etliche Nationalsozialisten gar nicht mehr im Ort lebten, sei es dass sie den Wohnort gewechselt hatten, inzwischen verstorben bzw. gefallen waren oder sich noch in Kriegsgefangenschaft befanden. Die nach monatelanger Recherche6 erhobenen Daten ergaben schließlich
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Laurenz Krisch
Abbildung 1 : Vierseitiger Registrierungsfragebogen des Herrn N.N. (Parteimitglied Nr. 614.758) vom 29. 8. 1945, S. 1 Gemäß Verfassungsgesetz vom 8. Mai 1945 über das Verbot der NSDAP (StGBl. Nr. 13) mussten sich alle Nationalsozialisten, die zwischen 1. Juli 1933 und dem 27. April 1945 »Nationalsozialisten« waren, behördlich registrieren lassen. Quelle : Gemeindearchiv Bad Gastein, Registrierungsfragebögen 1945, Urmaterial – 4 Ordner. Die registrierungspflichtigen Personen wurden in 6 Ortsteilen (Zellen) erfasst, hier : Ordner 1, Zelle 2, Nr. 29.
Registrierungslisten als Quelle zur Erforschung der sozialen Merkmale
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Abbildung 2 : Registrierungsblatt des Herrn N.N. (Parteimitglied Nr. 614.758) gem. § 4 Verbotsgesetz von 1947, Vorderseite Quelle : Gemeindearchiv Bad Gastein. Registrierungslisten 1947 der Gemeinde Bad Gastein (6 Bände), Band III (bestehend aus den Registrierungsblättern Nr. 201 bis 300). Die Listen wurden vom 6. Oktober bis 3. November 1947 zur öffentlichen Einsicht aufgelegt.
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quasi eine »Vollerhebung« mit einem Datensatz von insgesamt 1.421 Nationalsozialisten7, von denen 904 bereits vor 1945 in Bad Gastein wohnten, die restlichen 517 kamen erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieges als Flüchtlinge überwiegend aus Ostösterreich nach Bad Gastein. Ziel dieses Aufsatzes soll es sein, zu ermitteln, ob auf lokaler Ebene die Analyse der Registrierungslisten zur Erforschung der sozialen Merkmale ehemaliger Nationalsozialisten ausreicht, oder ob eine quasi »Vollerhebung« notwendig ist, wie ich sie für Bad Gastein durchgeführt habe. Um eine qualifizierte Antwort geben zu können, überprüfte ich zunächst die Fragestellung anhand aller bis 1947 in Bad Gastein wohnhaften ehemaligen Nationalsozialisten, ehe ich in einem zweiten Schritt die Untersuchung auf jene Personen beschränkte, die bereits vor 1938 als Illegale bekannt waren. Für die vorliegende Arbeit verwende ich das Klassifikationsmodell von Reinhard Schüren8, das sich in der Praxis bewährt hat. Jeder Beruf wird mit einem dreistelligen Code versehen, wobei die erste Nummer die Berufsschicht darstellt, die zweite Nummer die Stellung im Beruf und die dritte den Wirtschaftsbereich. Bei meinen Untersuchungen habe ich für die Analyse der Wirtschaftssektoren alle im Hotelbereich tätigen Personen wie z. B. Hoteliers, Gastwirte, Zimmermädchen, Köche, Kellner, aber auch Hotelkutscher, Hoteltischler und Hotelelektriker dem Dienstleistungssektor – »Häusliche Dienste« zugeordnet. Zudem habe ich in Abweichung von Schüren die Ehegattinnen in die Schicht der Ehegatten gereiht und ebenso in deren Wirtschaftsbereich sowie Basismilieu. Ihre Zuordnung zur Berufsstellung war allerdings nicht möglich.
Alters- und Sozialstruktur aller Bad Gasteiner Nationalsozialisten – Vergleich Registrierungslisten 1945, 1947 und »Vollerhebung« Wirtschaftssektor9 Zur Analyse der Sozialstruktur einer Gesellschaft bietet sich zunächst die volkswirtschaftliche Sektorengliederung an. Demnach kann man die Bevölkerung nach ihrer Tätigkeit einem bestimmten Wirtschaftssektor zuordnen. Man unterscheidet zwischen dem Primären Sektor (Land- und Forstwirtschaft), dem Sekundären Sektor (warenproduzierendes Gewerbe – Industrie) und dem Tertiären Sektor (Dienstleistungsbereich wie Tourismus, Freiberufler, Handel, Verkehr, Banken und öffentlicher Dienst).
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Registrierungslisten als Quelle zur Erforschung der sozialen Merkmale Grafik 1 : Wirtschaftssektoren, Registrierungslisten 1945
Registrierungslisten 1945 Nationalsozialisten nach Wirtschaftssektoren nach dem Zeitpunkt des Hauptwohnsitzes in Bad Gastein (bereits vor 1945: N=452; erst seit 1945: N=325); 126 nicht zuordenbar 80%
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70%
62,2%
60% 50% 40%
34,3% 27,1%
30% 20% 10%
3,5%
3,4%
0%
Primärer Sektor Hauptwohnsitz vor 1945
Grafik 2 : Wirtschaftssektoren, Registrierungslisten 1947
Sekundärer Sektor
Tertiärer Sektor
Hauptwohnsitz seit 1945
Registrierungslisten 1947 Nationalsozialisten nach Wirtschaftssektoren nach dem Zeitpunkt des Hauptwohnsitzes in Bad Gastein (bereits vor 1945: N=409; erst seit 1945: N=194); 62 nicht zuordenbar 80%
70,6%
70%
61,9%
60% 50% 40%
34,0% 26,8%
30% 20% 10%
4,2%
2,6%
0%
Primärer Sektor Hauptwohnsitz vor 1945
Sekundärer Sektor
Tertiärer Sektor
Hauptwohnsitz seit 1945
98
Laurenz Krisch
Grafik 3 : Wirtschaftssektoren, »Vollerhebung«
"Vollerhebung" Nationalsozialisten nach Wirtschaftssektoren nach dem Zeitpunkt des Hauptwohnsitzes in Bad Gastein (bereits vor 1945: N=771; erst seit 1945: N=431) Quelle: "NS-Datenbank", eigene Berechnungen 80%
69,6%
70%
62,1%
60% 50% 40%
33,5%
30%
27,4%
20% 10%
4,4%
3,0%
0%
Primärer Sektor Hauptwohnsitz vor 1945
Sekundärer Sektor
Tertiärer Sektor
Hauptwohnsitz seit 1945
Die Auswertung der beiden Registrierungslisten bezüglich der Zugehörigkeit der Nationalsozialisten Bad Gasteins zu einem der drei Wirtschaftssektoren ergab trotz des geringeren Datenbestandes (1945 – 903 bzw. 1947 – 665 registrierte Nationalsozialisten) ein fast identisches Bild mit jener der »Vollerhebung« mit den 1.421 erfassten Personen. Demnach waren nur 4 % aller Bad Gasteiner Nationalsozialisten in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt. Ein Drittel gehörte zum Sekundären Sektor und fast doppelt so viele waren im Tertiären Sektor tätig. Diese Art der Einteilung der Bevölkerung hat jedoch den Nachteil, dass innerhalb eines Sektors völlig unterschiedliche Milieus zusammengewürfelt werden. So finden sich etwa im Sekundären Sektor neben allen in gewerblichen Betrieben beschäftigten Arbeitnehmern auch deren Arbeitgeber. Eine weitere Schwierigkeit bietet die bloße Berufsbezeichnung der »Hilfsarbeiter«, die keinem Wirtschaftssektor eindeutig zuzuordnen ist und daher für die Auswertung nicht verwendbar ist.
Basismilieus In Anlehnung an Kurt Bauer, der in seiner Dissertation für ein horizontal ausgerichtetes Milieumodell plädierte, das zwischen »bäuerlichen Milieus«, »Arbeitermilieus« und »kleinbürgerlich/bürgerlichen Milieus«10 unterscheidet, habe ich in der hier vorliegenden Arbeit auch diese drei Basismilieus untersucht. In jedem dieser oben genannten »soziokulturelle(n) Milieus«11 herrschen jeweils andersartig strukturierte Lebensverhältnisse, die die Denk- und Handlungsweisen des Einzelnen beeinflussen. Demnach wird das Milieu durch dichte, emotional hoch besetzte soziale Beziehungen
Registrierungslisten als Quelle zur Erforschung der sozialen Merkmale
99
geprägt. Dazu zählen »die primäre Umwelt, der Kreis der Alltagskontakte, Verwandte, Freunde, Arbeitskollegen, Bekannte ; intermediäre Instanzen wie Vereine, Genossenschaften, Kirchen, Parteien«.12 Zur Verdeutlichung der Ergebnisse habe ich die beiden Gruppen »Einheimische« sowie »Kriegsflüchtlinge« gesondert untersucht. Grafik 4 : Basismilieus, Registrierungslisten 1945
Registrierungslisten 1945: N=903 Nationalsozialisten nach Basismilieus nach dem Zeitpunkt des Hauptwohnsitzes in Bad Gastein (bereits vor 1945: N=496; erst seit 1945: N=354; 53 nicht zuordenbar)
80%
72,6%
70% 60%
55,2%
50%
41,3% 40% 30%
24,3%
20% 10%
3,4% 3,1%
0%
Bäuerliche Milieus
Arbeitermilieus
Hauptwohnsitz vor 1945
Grafik 5 : Basismilieus, Registrierungslisten 1947
Bürgerliche Milieus Hauptwohnsitz seit 1945
Registrierungslisten 1947: N=665 Nationalsozialisten nach Basismilieus nach dem Zeitpunkt des Hauptwohnsitzes in Bad Gastein (bereits vor 1945: N=432; erst seit 1945: N=205; 28 nicht zuordenbar) 80%
66,8%
70% 60%
54,4%
50%
41,4% 40%
30,7% 30% 20% 10%
4,2% 2,4%
0%
Bäuerliche Milieus
Arbeitermilieus
Hauptwohnsitz vor 1945
Bürgerliche Milieus Hauptwohnsitz seit 1945
100
Laurenz Krisch
Grafik 6 : Basismilieus, »Vollerhebung«
"Vollerhebung" N=1421 Nationalsozialisten nach Basismilieus nach dem Zeitpunkt des Hauptwohnsitzes in Bad Gastein (bereits vor 1945: N=833; erst seit 1945: N=466; 122 nicht zuordenbar) 80%
69,7%
70% 60%
50,8% 50%
45,0%
40%
27,5%
30% 20% 10%
4,2% 2,8%
0%
Bäuerliche Milieus
Arbeitermilieus
Hauptwohnsitz vor 1945
Bürgerliche Milieus Hauptwohnsitz seit 1945
Die Ergebnisse der Registrierungslisten von 1945 und 1947 decken sich weitgehend mit jenen der »Vollerhebung«. Alle drei Grafiken (4–6) zeigen übereinstimmend, dass der bürgerliche Anteil unter den Nationalsozialisten, die als »Kriegsflüchtlinge« seit dem Frühjahr 1945 vorübergehend ihren Hauptwohnsitz nach Bad Gastein verlegten wesentlich höher war als unter den ortsansässigen Nationalsozialisten, während jener der den Arbeitermilieus zugehörigen Personen entsprechend niedriger war.
Geschlechterverteilung Gliedert man die gesamten Nationalsozialisten nach dem Geschlecht, so wird deutlich, dass die Hitlerbewegung in Bad Gastein überwiegend von Männern getragen wurde. Auffallend ist, dass gemäß der »Vollerhebung« der Frauenanteil bei den »Kriegsflüchtlingen« wesentlich höher lag als der bei den »einheimischen« NSFrauen, wohingegen bei den Registrierten dieser signifikante Unterschied nicht feststellbar ist.
101
Registrierungslisten als Quelle zur Erforschung der sozialen Merkmale Registrierungslisten 1945 : Geschlechterverteilung der Bad Gasteiner Nationalsozialisten (N = 903) Hauptwohnsitz vor 1945 (N = 512) Geschlecht
Hauptwohnsitz seit 1945 (N = 391)
Anzahl
Prozent
Anzahl
Prozent
Männer
333
65,0 %
235
60,1 %
Frauen
179
35,0 %
156
39,9 %
Tabelle 1 : Geschlechterverteilung Registrierungslisten 1945 Registrierungslisten 1947 : Geschlechterverteilung der Bad Gasteiner Nationalsozialisten (N = 665) Hauptwohnsitz vor 1945 (N = 443) Geschlecht
Hauptwohnsitz seit 1945 (N = 222)
Anzahl
Prozent
Anzahl
Prozent
Männer
300
67,7 %
146
65,8 %
Frauen
143
32,3 %
76
34,2 %
Tabelle 2 : Geschlechterverteilung Registrierungslisten 1947 »Vollerhebung« Geschlechterverteilung der Bad Gasteiner Nationalsozialisten (N = 1.421) Hauptwohnsitz vor 1945 (N = 904) Geschlecht
Hauptwohnsitz seit 1945 (N = 517)
Anzahl
Prozent
Anzahl
Prozent
Männer
657
72,7 %
322
62,3 %
Frauen
247
27,3 %
195
37,7 %
Tabelle 3 : Geschlechterverteilung »Vollerhebung«
Tendenziell kommen zwar alle Quellenmaterialen zum gleichen Ergebnis. Vergleicht man jedoch für die »einheimischen« Nationalsozialisten die Ergebnisse der Registrierungslisten 1945 mit jenen der Vollerhebung, so betragen die Unterschiede immerhin fast acht Prozentpunkte.
Altersstruktur Zur Verdeutlichung der Altersstruktur habe ich die Personen nach ihren Geburtsjahrgängen geordnet. Wie nachfolgende Grafiken zeigen, waren ungefähr zwei Drittel aller Nationalsozialisten jünger als 45 Jahre.
102
Laurenz Krisch
Grafik 7 : Altersstruktur, Registrierungslisten 1945
Registrierungslisten 1945 Nationalsozialisten nach Geburtsjahren nach dem Zeitpunkt des Hauptwohnsitzes in Bad Gastein (bereits vor 1945: N=512; erst seit 1945: N=391) 33%
35,0% 30,0%
25%
25,0% 20,0%
25%
22% 19%
17%
15,0%
18%
17% 13%
12%
10,0% 5,0% 0,0%
vor 1890
1890-1900
1900-1910
Hauptwohnsitz vor 1945
1910-1920
nach 1920
Hauptwohnsitz seit 1945
Registrierungslisten 1947 Nationalsozialisten nach Geburtsjahren nach dem Zeitpunkt des Hauptwohnsitzes in Bad Gastein
Grafik 8 : Altersstruktur, Registrierungslisten 1947
(bereits vor 1945: N=443; erst seit 1945: N=222) 40,0%
36%
35,0%
31%
30,0%
27% 23%
25,0% 20,0%
21%
20% 16%
15,0% 10,0%
9%
7%
9%
5,0% 0,0%
vor 1890
1890-1900
1900-1910
Hauptwohnsitz vor 1945
1910-1920
nach 1920
Hauptwohnsitz seit 1945
Der Vergleich mit der »Vollerhebung« macht deutlich, dass die Registrierungslisten von 1945 bezüglich der Altersstruktur wesentlich genauere Ergebnisse liefern als die von 1947. Für die nach 1920 Geborenen differieren die Ergebnisse der Registrierungslisten 1945 erheblich von denen, die zwei Jahre später erhoben wurden. Möglicherweise haben viele junge Leute in der Zwischenzeit Bad Gastein wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage verlassen.
103
Registrierungslisten als Quelle zur Erforschung der sozialen Merkmale Grafik 9 : Altersstruktur, »Vollerhebung«
"Vollerhebung" Nationalsozialisten nach Geburtsjahren nach dem Zeitpunkt des Hauptwohnsitzes in Bad Gastein (bereits vor 1945: N=872; erst seit 1945: N=517) Quelle: "NS-Datenbank", eigene Berechnungen 40,0%
34%
35,0%
29%
30,0% 25,0% 20,0% 15,0%
23%
21%
20%
18%
15%
12%
12%
14%
10,0% 5,0% 0,0%
vor 1890
1890-1900
1900-1910
Hauptwohnsitz vor 1945
1910-1920
nach 1920
Hauptwohnsitz seit 1945
Berufsschichtzugehörigkeit13 Teilt man die Gesamtheit der Nationalsozialisten des Ortes Bad Gastein entsprechend dem Klassifikationsmodell von Schüren nach den unterschiedlichen Berufsschichten ein, so ergibt sich, dass die örtliche NSDAP nach der sechsteiligen »Schüren-Skala« eindeutig eine Partei der Mittelschicht war. Auffallend im Vergleich zu den »einheimischen« Nationalsozialisten ist, dass über 20 % aller Nationalsozialisten, die nach 1945 nach Bad Gastein kamen, zu den oberen Schichten gehörten. Alle drei Grafiken zeigen übereinstimmend, dass sich der überwiegende Teil der Nationalsozialisten aus dem Mittelstand rekrutierte. Abweichungen zeigen hingegen die Ergebnisse bezüglich der Oberschichten. Grafik 10 : Berufsschichtzugehörigkeit, Registrierungslisten 1945
Registrierungslisten 1945 Nationalsozialisten nach Schichtzugehörigkeit nach dem Zeitpunkt des Hauptwohnsitzes in Bad Gastein (bereits vor 1945: N=492; erst seit 1945: N=359); 52 nicht zuordenbar 70%
63,2% 63,2%
60% 50% 40% 30%
25,3%
22,2%
20%
14,6%
11,4% 10% 0%
Unterschichten
Mittelschichten
Hauptwohnsitz vor 1945
Oberschichten
Hauptwohnsitz seit 1945
104
Laurenz Krisch
Grafik 11 : Berufsschichtzugehörigkeit, Registrierungslisten 1947
Registrierungslisten 1947 Nationalsozialisten nach Schichtzugehörigkeit nach dem Zeitpunkt des Hauptwohnsitzes in Bad Gastein (bereits vor 1945: N=429; erst seit 1945: N=203); 33 nicht zuordenbar 70%
63,2%
66,5%
60% 50% 40% 30%
20,7%
21,4% 20%
15,4%
12,8%
10% 0%
Unterschichten
Mittelschichten
Hauptwohnsitz vor 1945
Grafik 12 : Berufsschichtzugehörigkeit, »Vollerhebung«
Oberschichten
Hauptwohnsitz seit 1945
"Vollerhebung" Nationalsozialisten nach Schichtzugehörigkeit nach dem Zeitpunkt des Hauptwohnsitzes in Bad Gastein (bereits vor 1945: N=833; erst seit 1945: N=469) Quelle: "NS-Datenbank", eigene Berechnungen 70%
59,3%
60%
62,3%
50% 40% 30% 20%
26,5%
24,3% 14,2%
13,4%
10% 0%
Unterschichten
Hauptwohnsitz vor 1945
Mittelschichten
Oberschichten
Hauptwohnsitz seit 1945
Vergleicht man nämlich die Werte der »Kriegsflüchtlinge« aus den Registrierungslisten untereinander und mit jenen der Vollerhebung, so fällt auf, dass der Anteil der Oberschichten 1947 gegenüber dem Jahre 1945 merklich gesunken ist. Offensichtlich haben wesentlich mehr Personen dieser Schicht Bad Gastein zu diesem Zeitpunkt wieder verlassen als Personen aus den Unterschichten, deren Anteil mit 13 % nahezu unverändert blieb. Auch hier zeigt sich, dass sich die Werte aus den Registrierungslisten von 1945 weniger von denen der »Vollerhebung« unterscheiden als die der Registrierungslisten von 1947.
105
Registrierungslisten als Quelle zur Erforschung der sozialen Merkmale
Berufsstellung14 Grafik 13 : Berufsstellung, Registrierungslisten 1945
Registrierungslisten 1945 Nationalsozialisten nach Berufsstellung nach dem Zeitpunkt des Hauptwohnsitzes in Bad Gastein (bereits vor 1945: N=475; erst seit 1945: N=348); 80 Private 40%
37% 35%
35% 30%
27%
25%
25%
23%
20%
20% 15%
10%
10%
7%
8%
4%
5%
2%
1%
0%
Lohnarbeiter
hausrechtlich eingebundene Arbeiter
Selbständige
Angestellte
Hauptwohnsitz vor 1945
Grafik 14 : Berufsstellung, Registrierungslisten 1947
Beamte
berufslose Ehegattinnen
Hauptwohnsitz seit 1945
Registrierungslisten 1947 Nationalsozialisten nach Berufsstellung nach dem Zeitpunkt des Hauptwohnsitzes in Bad Gastein (bereits vor 1945: N=423; erst seit 1945: N=207); 35 Private 45% 40%
39%
35% 30%
28%
29%
27%
25%
22% 19%
20% 15%
11% 9%
10%
8%
5%
5%
1%
2%
0%
Lohnarbeiter
hausrechtlich eingebundene Arbeiter
Selbständige
Hauptwohnsitz vor 1945
Angestellte
Beamte
berufslose Ehegattinnen
Hauptwohnsitz seit 1945
106
Laurenz Krisch
Grafik 15 : Berufsstellung, »Vollerhebung«
"Vollerhebung" Nationalsozialisten nach Berufsstellung nach dem Zeitpunkt des Hauptwohnsitzes in Bad Gastein (bereits vor 1945: N=843; erst seit 1945: N=493) Quelle: "NS-Datenbank", eigene Berechnungen 45%
41%
40% 35%
31%
30% 25%
24%
23%
22%
20%
17%
15%
12%
14%
8%
10% 5%
5%
2%
2%
0%
Lohnarbeiter
hausrechtlich eingebundene Arbeiter
Selbständige
Hauptwohnsitz vor 1945
Angestellte
Beamte
berufslose Ehegattinnen
Hauptwohnsitz seit 1945
Wie aus den drei Grafiken (13–15) hervorgeht, waren die »einheimischen« Nationalsozialisten in Bad Gastein überwiegend Lohnarbeiter und Selbstständige, die gemeinsam ca. zwei Drittel aller Nationalsozialisten rekrutierten. Bei den »kriegsflüchtigen« Nationalsozialisten fällt der hohe Anteil der Angestellten auf15. In Bezug auf die Fragestellung nach der »Berufsstellung« deckten sich abgesehen von den »berufslosen Ehegattinnen« die Ergebnisse aus den beiden Registrierungslisten ziemlich genau mit jenen aus der »Vollerhebung«.
Alters- und Sozialstruktur aller bis 1938 in Bad Gastein wohnhaften illegalen Nationalsozialisten – Vergleich Registrierungslisten 1945, 1947 und »Vollerhebung« Als »Illegale« werden jene Personen bezeichnet, die sich während der Verbotszeit der NSDAP in Österreich zwischen dem 19. Juni 1933 und dem 12. März 1938 als Nationalsozialisten zu erkennen gaben.16 Wie schon eingangs ausgeführt, wurden im Zuge der Registrierung von 1945 in Bad Gastein insgesamt 1059 Nationalsozialisten in Listen aufgezeichnet, von denen im August 1945 noch 903 im Ort wohnten, die mittels Fragebogens verschiedene Angaben zu ihrer Person machen mussten. Lediglich 262 von ihnen gaben an, sich bereits vor 1938 als Illegale in Bad Gastein aufgehalten zu haben. 1947 erfasste die Registrierungsbehörde St. Johann für die Gemeinde Bad Gastein aufgrund des »Verbotsgesetzes« 665 Personen, die zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 27. April 1945 der NSDAP oder ihren Wehrverbänden SS oder SA angehört hatten. 252 von ihnen waren bereits vor 1938 als Illegale in Bad
107
Registrierungslisten als Quelle zur Erforschung der sozialen Merkmale
Gastein bekannt. Wenn man beide Teilmengen vereinigt, bleiben aus der Datenmenge der Registrierungslisten – aufgrund der Überschneidungen – nur 294 Personen übrig, die für die weitere Auswertung herangezogen werden können. Nach weiteren Recherchen konnte ich zusätzlich 28 Illegale Bad Gasteiner ermitteln, die während des Krieges gefallen waren, und aus diversen Akten im Salzburger Landesarchiv, die ich dank umfangreicher Genehmigungen dort einsehen konnte, weitere 231 Bad Gasteiner herausfiltern, die sich hier als illegale Nationalsozialisten betätigt hatten. Bei diesen Untersuchungen konnte ich somit insgesamt 553 Personen17 ermitteln, die sich hier illegal für die NSDAP engagiert hatten18. Die Ergebnisse dieser quasi »Vollerhebung« sollen im Folgenden mit den Detailergebnissen der Registrierungslisten verglichen werden. Während die Analyse der Illegalen nach ihrer Zugehörigkeit zu einem der drei Wirtschaftssektoren bei allen drei Datenbeständen – trotz ihrer unterschiedlichen Gesamtmenge – annähernd zum gleichen Ergebnis kommt (Grafik 16), ergeben sich bei der Fragestellung nach den »Basismilieus« signifikante Unterschiede insbesondere bei den »Arbeitermilieus« (Grafik 17). Dies liegt möglicherweise daran, dass von der hier vor 1938 wohnhaften Personen mehr Arbeiter als Angehörige »kleinbürgerlicher« Bevölkerungsgruppen während des 2. Weltkrieges ihren Wohnort wechselten oder gefallen waren bzw. sich noch in Kriegsgefangenschaft befanden. Grafik 16 : Wirtschaftssektoren, Illegale
Illegale Nationalsozialisten nach Wirtschaftssektoren mit Hauptwohnsitz in Bad Gastein vor 1938 Quelle: Registrierungslisten 1945/47 und "NS-Datenbank", eigene Berechnungen 70% 60,7% 60%
62,6% 58,0%
50% 40%
34,8%
37,4% 33,3%
30% 20% 10%
4,5% 4,6% 4,0%
0%
Primärer Sektor
Sekundärer Sektor
Registrierungslisten 1945: N=244 von 262 "Vollerhebung": N=495 von 553
Tertiärer Sektor
Registrierungslisten 1947: N=238 von 252
108
Laurenz Krisch
Grafik 17 : Basismilieus, Illegale
Illegale Nationalsozialisten, die bereits vor 1938 in Bad Gastein wohnten, nach Basismilieus Quelle: Registrierungslisten 1945/47 und "NS-Datenbank" - eigene Berechnungen 2009 70%
62,3% 60%
59,6% 55,2%
50%
41,0% 40%
33,5%
36,0%
30%
20%
10%
4,2% 4,4% 3,8% 0%
Bäuerliche Milieus
Arbeitermilieus
Registrierungslisten 1945: N=260 von 263
Bürgerliche Milieus
Registrierungslisten 1947: N=250 von 252
"Vollerhebung": N=527 von 553
Einen weiteren Hinweis für die oben geäußerte Vermutung liefert die Analyse der Geschlechterverteilung. Der nach Kriegsende wesentlich geringere Anteil der männlichen Illegalen gegenüber dem der weiblichen könnte seine Ursache eben genau darin haben, dass etliche von ihnen während des Krieges gefallen waren bzw. sich noch in Kriegsgefangenschaft befanden. Diesen Schluss lässt auch der Vergleich der Registrierungslisten von 1945 mit 1947 zu, wonach infolge Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft zwei Jahre später der Anteil der männlichen Illegalen wieder merklich angestiegen ist. Geschlechterverteilung der bis 1938 in Bad Gastein wohnhaften illegalen Nationalsozialisten Registrierungslisten 1945 N = 262 Geschlecht
Registrierungslisten 1947 N = 252
»Vollerhebung« N = 553
Anzahl
Prozent
Anzahl
Prozent
Anzahl
Männer
184
70,2 %
183
72,6 %
413
Prozent 74,7 %
Frauen
78
29,8 %
69
27,4 %
140
25,3 %
Tabelle 4 : Geschlechterverteilung, Illegale
Dieselbe Aussage lässt sich auch aufgrund der auffällig unterschiedlichen Ergebnisse der drei Datenbestände bezüglich der Altersstruktur der Illegalen treffen. Demnach rekrutierten sich gemäß »Vollerhebung« 21 % der Illegalen aus den Geburtsjahrgängen 1910–1920. Die Registrierungslisten von 1945 zeigen dafür aber nur einen Wert von 13 %. Zwei Jahre später waren es wieder 16 %.
109
Registrierungslisten als Quelle zur Erforschung der sozialen Merkmale Grafik 18 : Altersstruktur, Illegale Illegale Nationalsozialisten nach Geburtsjahren mit Hauptwohnsitz in Bad Gastein vor 1938 Quelle: Registrierungslisten 1945/47; "NS-Datenbank", eigene Berechnungen
40,0%
37%
38% 37%
35,0% 30,0% 25,0% 20,0%
26% 25% 21% 19% 17%
22%
21% 16% 13%
15,0% 10,0%
3% 2% 3%
5,0% 0,0%
vor 1890
1890-1900
1900-1910
Registrierungslisten 1945: N= 262
1910-1920
nach 1920
Registrierungslisten 1947: N= 252
"Vollerhebung": N=520 von 553
Betrachtet man lediglich die Berufsschichten, so fällt auf, dass aufgrund der Ergebnisse der »Vollerhebung« im Vergleich zu den Registrierungslisten von 1945 der Anteil der »Illegalen«, die den Unterschichten angehörten, um fast neun Prozentpunkte höher lag. 1947 betrug der Unterschied nur noch vier Prozentpunkte. Grafik 19 : Berufsschichten, Illegale Illegale Nationalsozialisten nach Schichtzugehörigkeit mit Hauptwohnsitz in Bad Gastein vor 1938 Quelle: Registrierungslisten 1945/47 und "NS-Datenbank", eigene Berechnungen
65,8%
70% 60%
63,3% 60,0%
50% 40% 30% 20%
18,5% 13,6%
22,3%
20,6% 18,1%17,7%
10% 0%
Unterschichten
Mittelschichten
Registrierungslisten 1945: N= 257 von 262
Oberschichten
Registrierungslisten 1947: N= 248 von 252
"Vollerhebung": N=525 von 553
Was die Berufsstellung betrifft, so sind auch hier große Unterschiede erkennbar. Die »Vollerhebung« belegt, dass sich wesentlich mehr »Lohnarbeiter« als illegale Nationalsozialisten in Bad Gastein betätigten, als aus den Ergebnissen der Registrie-
110
Laurenz Krisch
rungslisten von 1945 hervorgehen würde. Die Abweichungen im Vergleich zu den Registrierungslisten von 1947 hingegen sind geringer. Wie schon oben ausgeführt, ist m. E. der scheinbar niedrige Anteil der Lohnarbeiter an den »Illegalen« 1945 auf die zahlreichen Gefallenen und Kriegsgefangenen zurückzuführen, die überwiegend aus dem »Arbeitermilieu« stammten. 1947 waren viele der kriegsgefangenen Illegalen wieder nach Bad Gastein zurückgekehrt. Grafik 20 : Berufsstellung, Illegale
Illegale Nationalsozialisten nach Berufsstellung mit Hauptwohnsitz in Bad Gastein vor 1938 Quelle: Registrierungslisten 1945/47 und "NS-Datenbank", eigene Berechnungen 45% 40% 35%
39% 35%
37%
30%
30%
34% 30%
25%
18% 17% 17%
20% 15% 10% 5%
5%4%6%
2%1%2%
9%8% 7%
0% Lohnarbeiter hausrechtlich Selbständige eingebundene Arbeiter
Registrierungslisten 1945: N=253 von 262 "Vollerhebung": N=510 von 553
Angestellte
Beamte
berufslose Ehegattinnen
Registrierungslisten 1947: N=244 von 252
Resümee Grundsätzlich muss unterschieden werden, ob man generelle Aussagen über die Sozialstruktur der Nationalsozialisten treffen will oder ob man sich auf eine Teilmenge, wie hier die »Illegalen«, beschränkt. Würde man für meinen Heimatort Bad Gastein nur allgemeine Aussagen zur Sozialstruktur der Nationalsozialisten treffen wollen und wären dafür nur die Registrierungslisten von 1945 bzw. die von 1947 zur Verfügung gestanden, so wäre es durchaus zielführend gewesen, ausschließlich diese Quellenmaterialien für die Analyse heranzuziehen. Die Unterschiede im Vergleich zu meiner quasi »Vollerhebung« sind mit ca. fünf Prozentpunkten vertretbar gering. Größere Abweichungen gab es lediglich bei der Fragestellung nach der Schichtzugehörigkeit und nach dem Geschlecht. Ortschronisten müssen m. E. also keine aufwändige Vollerhebung durchführen, um zu allgemeinen Aussagen über ihren Heimatort zu gelangen. Zur Erfassung der sozialen Merkmale ehemaliger Nationalsozialisten genügt die Auswertung der Registrierungslisten, wobei die vom Jahre 1945 genauere Werte liefert als jene
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von 1947. Das liegt mit Sicherheit darin begründet, dass aufgrund der natürlichen Fluktuation die 1945 erfassten Personen noch eher mit den schon früher im Ort wohnhaften übereinstimmen als die zwei Jahre später registrierten. Will man aber nur die Sozialstruktur der illegalen Nationalsozialisten eines Ortes analysieren, so ist m. E. eine »Vollerhebung«, wie ich sie vor einigen Jahren für den Ort Bad Gastein durchgeführt habe19, unerlässlich. Die Analyse der Registrierungslisten ist für diesen Zweck nicht ausreichend, da definitionsgemäß die Illegalen bereits vor 1938 im Ort wohnten und der zeitliche Abstand zwischen deren Betätigung und Registrierung mehr als sieben Jahre beträgt. Viele der damals im Ort ansässigen »Illegalen« lebten gar nicht mehr hier, waren während des Zweiten Weltkrieges gefallen oder in Kriegsgefangenschaft geraten, sodass sie 1945 in ihrem Heimatort nicht als »Nazis« erfasst werden konnten. Die Ergebnisse der Registrierungslisten von 1947 sind deshalb genauer als jene von 1945, da bereits etliche von ihnen aus der Kriegsgefangenschaft wieder nach Bad Gastein zurückgekehrt waren.
Anmerkungen 1 Die Gemeinde Bad Gastein bestand insgesamt aus 6 Gemeindesprengeln – sogenannten Zellen. Es waren dies : Zelle 1 – Vom Hotel Austria bis Grenzberg (119 Registrierte – davon 37 illegal) ; Zelle 2 – Hotel Austria bis Irnberger (82 Registrierte – davon 16 illegal) ; Zelle 3 – Mozartplatz bis Gemeindesiedlung (335 Registrierte – davon 114 illegal) ; Zelle 4 – Gasteinerhof bis Habsburgerhof (135 Registrierte – davon 27 illegal) ; Zelle 5 – Badbruck (85 Registrierte – davon 33 illegal) ; Zelle 6 – Böckstein (147 Registrierte – davon 35 illegal). 2 So konnten beispielsweise die amerikanischen Dienststellen im März 1946 nachweisen, dass »von insgesamt 42 schwer belasteten Nationalsozialisten, die den angesehensten Kreisen in Badgastein angehören, … dreizehn der wissentlich falschen Ausfüllung der Fragebögen der amerikanischen Militärregierung überführt werden (konnten)«. Zit. nach : Wiener Kurier vom 3.10.1946. 3 Durch das Bundesverfassungsgesetz vom 6. Februar 1947 über die Behandlung der Nationalsozialisten (Nationalsozialistengesetz) erhielt das seit 1945 geltende Verbotsgesetz seine endgültige Fassung. Demnach wurden unter anderem gem. § 4 Abs. 1 »alle Personen, die ihren ordentlichen Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt im Gebiet der Republik Österreich haben und – wenn auch nur zeitweise – zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 27. April 1945 der NSDAP oder ihren Wehrverbänden SS oder SA … angehört haben … in besonderen Listen verzeichnet.« Als Angehörige der NSDAP zählten demnach nicht nur die Parteimitglieder, sondern auch die Personen, die als »Parteianwärter« aufgenommen wurden und gem. § 4 Abs. 2 das »Recht zum vorläufigen Tragen des Parteiabzeichens erworben haben.« Von der Registrierung ausgenommen waren gem. § 4 Abs. 5 jene NS-Parteimitglieder, die vor dem 1. Jänner 1945 aus politischen Gründen ausgeschlossen wurden oder bereits vor dem 1. Jänner 1944 ausgetreten sind, sowie Parteianwärter, deren Aufnahme in die NSDAP aus politischen Gründen abgelehnt wurde. 4 Gemeindearchiv der Gemeinde Bad Gastein : Registrierungsfragebögen von 1945 (Urmaterial – 4 Ordner komplett) und Registrierungslisten von 1947 (»Urschrift« bestehend aus 6 gebundenen Bänden – komplett). 5 Dazu zählen u.a. die sogenannten »Gefallenenlisten« während des Zweiten Weltkrieges mit genauer Personenbeschreibung der gefallenen Bad Gasteiner Kriegsteilnehmer, aus denen weitere 75 Personen als
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Nationalsozialisten identifiziert werden konnten. Aus den »Einrückungslisten«, in denen alle 1.230 Bad Gasteiner Männer namentlich mit Geburtsdatum und Einrückungstag verzeichnet wurden, konnte ich eruieren, in welche militärischen Truppenteile die jungen Soldaten einberufen wurden. Darunter befanden sich 23 Personen, die in eine SS-Einheit einrückten, und obwohl sie den Krieg überlebten, in den Registrierungslisten nicht verzeichnet wurden. Möglicherweise liegt dies daran, dass diese Personen sehr spät aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrten. Nach gründlicher Recherche in den diversen Archiven, insbesondere im Salzburger Landesarchiv, wo ich zahlreiche Akten bearbeitete, konnte ich weitere 231 Bad Gasteiner herausfiltern, die sich hier als illegale Nationalsozialisten betätigt hatten. Die Recherche erfolgte in folgenden Archiven : Gemeindearchiv Bad Gastein, Salzburger Landesarchiv (mit den Salzburger Landesgerichtsakten, Gasteiner Bezirksgerichtsakten und Akten der Bezirkshauptmannschaft St. Johann, Mikrofilme der Amerikanische Besatzungsakten 1945–1955), Österreichisches Staatsarchiv Wien (Akten des Bundeskanzleramtes), Bundesarchiv Berlin, Konsistorialarchiv Salzburg, Pfarrarchiv Bad Gastein, Archiv des Bauamtes Bad Gastein, Archiv des Museums Gastein und Archiv des Fremdenverkehrsverbandes Bad Gastein. In einem zweiten Arbeitsschritt mussten alle Daten tabellarisch in eine Excel-Datei eingegeben werden, bevor sie in einem dritten Schritt mittels mathematischer Formeln und »Spezialfilter« ausgewertet wurden, um schlussendlich zu Aussagen zu gelangen, die das gelebte Leben nicht im statistischen Durchschnitt untergehen lassen. Reinhard Schüren : Soziale Mobilität, Muster, Veränderungen und Bedingungen im 19. und 20. Jahrhundert. St. Katharinen 1989. Hier insbesondere S. 33–35 und S. 313–361. Alle Auswertungen erfolgten mit dem Tabellenkalkulationsprogramm »Excel 2000«. Bei der »Vollerhebung« konnten 133 »einheimische« und 86 »kriegsflüchtige« Nationalsozialisten, die sich als »Hilfsarbeiter« bezeichneten, nicht zugeordnet werden. Die berufslosen Ehegattinnen habe ich jeweils in den Wirtschaftssektor des Haushaltsvorstandes einbezogen. Kurt Bauer : Sozialgeschichtliche Aspekte des nationalsozialistischen Juliputsches 1934. Diss., Universität Wien, geistes- und kulturwissenschaftliche Fakultät 2001. S. 180–181. Ernst Hanisch versteht darunter »das Zusammenfallen verschiedener Strukturmerkmale wie wirtschaftliche Lage, schichtspezifische Ausprägung, kulturelle Orientierung, religiöse Durchsäuerung usw.«. Vgl. dazu : Ernst Hanisch : Bäuerliches Milieu und Arbeitermilieu in den Alpengauen : ein historischer Vergleich. – In : Rudolf G. Ardelt u. Hans Hautmann (Hg.) : Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich : in memoriam Karl R. Stadler. Wien/Zürich 1990. S. 583–598. Hier S. 583. Vgl. dazu auch : M. Rainer Lepsius : Demokratie in Deutschland. Göttingen 1993. S. 38. Hanisch : Bäuerliches Milieu und Arbeitermilieu in den Alpengauen. S. 583. Bei der »Vollerhebung« konnten von den 904 »einheimischen« Nationalsozialisten 71 Personen (Pensionisten und ausschließlich im Haushalt tätige Personen) nicht zugeordnet werden. Von den 517 »kriegsflüchtigen« Nationalsozialisten konnten 48 nicht zugeordnet werden. Bei der »Vollerhebung« konnten von den 904 »einheimischen« Nationalsozialisten 61 Pensionisten, Studenten und Arbeitslose nicht zugeordnet werden. Von den 517 »kriegsflüchtigen« Nationalsozialisten konnten 24 nicht zugeordnet werden. Bei der »Vollerhebung« ergeben sich die 31 % der Angestellten aus der Berechnung : 152 Angestellte bezogen auf eine bekannte Gesamtheit von 493. Darunter fallen alle diejenigen, welche innerhalb dieser Zeitspanne Parteimitglieder blieben oder wurden, und diejenigen, die sich für den Nationalsozialismus betätigten, ohne Parteimitglied gewesen zu sein. Viele Nationalsozialisten wurden nämlich erst nach dem Anschluss Mitglieder der Partei, wobei als Beitrittsdatum für diese Personen der 1. Mai 1938 vermerkt wurde, sofern sie eine illegale Betätigung nachweisen konnten – erkennbar sind diese »38-er« auch an ihrer Mitgliedsnummer, die zwischen 6,100.000 und 6,600.000 lag. Hierbei muss aber bedacht werden, dass unter diesem Personenkreis sicherlich auch
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etliche »Opportunisten« waren, denen es mithilfe von alten Parteigenossen gelang, diesen Status der »Illegalität« zu erhalten. 17 Die Zusammenfassung der personenbezogenen Daten aus den Salzburger Landesgerichtsakten, den Bezirksgerichtsakten des Gerichtes Gastein, den Akten der BH. St. Johann i. Pg. und der Registrierungsakten ergab eine »Excel-Datei« mit über 5.500 Zeilen und 256 Spalten. 18 117 von ihnen gehörten zu den »Mai«-Parteimitgliedern. Bei 71 von diesen »Mai«-Mitgliedern konnte einwandfrei anhand von Anzeigen oder Verurteilungen während der NS-Verbotszeit eine illegale Betätigung nachgewiesen werden. 19 Laurenz Krisch : Kollektivbiografische Studie zum Nationalsozialismus in den Dreißigerjahren in Bad Gastein. Eine Lokalgeschichte als Allgemeingeschichte. Phil. Diss., Universität Salzburg 2002 ; sowie : Laurenz Krisch : Zersprengt die Dollfußketten. Die Entwicklung des Nationalsozialismus in Bad Gastein bis 1938. Wien – Köln – Weimar 2003.
Christian Dirninger
Zugänge zur politischen Ökonomie der Staatsfinanzen in der Zweiten Republik
1. Zum Konzept der »politischen Ökonomie« Im Jahr 1994 legte Ernst Hanisch eine viel beachtete und viel diskutierte Gesellschaftsgeschichte Österreichs unter dem Titel »Der lange Schatten des Staates« vor.1 Kommt in diesem Titel programmatisch ein Wesensmerkmal der österreichischen Gesellschaftsordnung zum Ausdruck, so gilt dies auch für die Wirtschaftsordnung. In dieser lässt sich im Verlauf der Zweiten Republik ein Wandel von einer etatistisch-korporativen hin zu einer liberalistischen Konstellation erkennen, wobei sich wesentliche Wende-Phasen in der Mitte der 1980er-Jahre und mit dem Antritt der rechts-konservativen Regierungskoalition 2000 identifizieren lassen.2 Ein für die Analyse der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in besonderem Maße relevanter Faktor sind ohne Zweifel die Staatsfinanzen bzw. deren Gestaltung und Handhabung, also die Finanzpolitik, geht es hier doch letztendlich um jenen politischen Handlungsbereich, in dem die volkswirtschaftliche Wertschöpfung hinsichtlich ihrer Aufbringung, ihrer quantitativen und strukturellen Entwicklung sowie hinsichtlich ihrer Verteilung in hohem Maße determiniert wird. Oder um es einmal mehr mit Joseph A. Schumpeter auszudrücken : »Die Finanzen sind einer der besten Angriffspunkte der Untersuchung des sozialen Gebildes, besonders, aber nicht ausschließlich des politischen.« 3 Wie die finanzgeschichtliche Forschung immer wieder zeigt, gilt dies sowohl in Bezug auf das Akteursystem als auch hinsichtlich der Rolle und Funktion des Staates in Bezug auf Wirtschaft und Gesellschaft, also in ordnungspolitischer Hinsicht. Im Sinne dessen manifestiert sich die »politische Ökonomie« der Staatsfinanzen im Grunde in zwei Dimensionen : Zum einen in der konzeptionellen und konkreten Gestaltung der Finanzpolitik als zentrales politisches Handlungsfeld mit hohem staatlichem Interventionspotenzial. Zum anderen im finanzpolitischen Institutionen-, Träger- und Akteurssystem, speziell in der dortigen Verteilung von Entscheidungsmacht und in den finanzpolitischen Willensbildungs- und Entscheidungsvorgängen. Damit wird von einem breiten Begriffsverständnis von »politischer Ökonomie« ausgegangen Dabei geht es nicht um die von der in den 1960er-Jahren etablierten »Neuen politischen Ökonomie« verfolgten Frage nach aus Angebots- und Nachfragerela-
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tionen auf »Wählermärkten« abzuleitenden politischen Kostenkalkülen, also der Suche nach ökonomischen Erklärungsmodellen politischer Präferenzen und Entscheidungen.4 Sondern es wird an in weiterer Folge in den Vordergrund gerückte »Denkansätze der Neuen Politischen Ökonomie«5 angeknüpft, in denen es um die Analyse der wechselseitigen Einflüsse von Wirtschaft und Politik, die kontextbezogene Analyse wirtschaftspolitischen Handelns und damit um die Konstellation und Funktionsweise des wirtschaftspolitischen Systems selbst geht. Das schließt auch die Akzeptanz wirtschaftspolitischer Entscheidungen und Maßnahmen bei den Wirtschaftssubjekten bzw. in der Bevölkerung und die davon ausgehenden Rückkoppelungen in den wirtschaftspolitischen Willenbildungs- und Entscheidungsprozess als wesentliches analytisches Kriterium mit ein. Die im Zentrum stehenden Fragen sind : »Wie« und »von wem« und unter welchen Rahmenbedingungen und Zielsetzungen wird Finanzpolitik »gemacht« ? Das inkludiert wiederum Einsichten in die Funktionsweise finanzpolitisch relevanter Institutionen sowie die Rückführung institutioneller Arrangements auf die Interaktion von Entscheidungsträgern und deren Interessenlagen. Analytisch wird dabei bei der Unvollständigkeit von Regelsystemen und den nach dem Prinzipal-Agent-Modell gegebenen Ermessens- und Gestaltungsspielräumen der finanzpolitischen Akteure angesetzt.6 Hier liegt auch der Ansatzpunkt für die Erfassung eines »personalen« Elementes, womit die Bestimmung der Abläufe durch einzelne, exponierte Handlungsträger ins Blickfeld kommt. In besonderer Weise lässt sich das an den Finanzministern, gleichsam als »Leitfiguren« des jeweiligen Entwicklungszustandes des finanzpolitischen Systems, festmachen.7 So lässt sich in diesem Sinne aufgrund der vergleichsweise langen Dauer der Amtsausübung etwa ein »System Kamitz«, ein »System Androsch«, ein »System Lacina« und wohl auch ein »System Grasser« unterscheiden. Davon ausgehend liegt das spezifische Anliegen der historischen Prozessanalyse in der Identifikation, der Beschreibung, Strukturierung und erklärenden Analyse eines von Wandel und Kontinuität gekennzeichneten Entwicklungsverlaufes in der politischen Ökonomie der Staatsfinanzen in der Zweiten Republik. Zugänge und Ansatzpunkte dafür finden sich in der Veränderung in der ordnungspolitischen Positionierung der Finanzpolitik in Bezug auf das sich im Verlauf der Jahrzehnte wandelnde wirtschafts- und finanzpolitische Anforderungspotenzial. Innerhalb dieses Entwicklungsrahmens, der in diesem Beitrag skizziert werden soll, wäre in weiterer Folge die konkrete Darstellung und Analyse der Veränderungen im finanzpolitischen Institutionen-, Träger- und Akteurssystem bzw. in den finanzpolitischen Willensbildungs- und Entscheidungsvorgängen in exemplarischer Weise anhand ausgewählter wesentlicher Entscheidungsmaterien und Maßnahmen durchzuführen.8 Als ein vielversprechender Ansatz erscheint hier die Analyse von »Reformen« in Teilbereichen der Wirtschaftsordnung.9
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2. Wandel in der ordnungspolitischen Grundkonstellation Versucht man den Entwicklungspfad der politischen Ökonomie der Staatsfinanzen in der Zweiten Republik zu überblicken, so kann von einem Wandel der ordnungspolitischen Grundkonstellation im Rahmen der allgemeinen (europäischen) Entwicklungstrends ausgegangen werden. Dieser Wandel umfasst zunächst eine in der wirtschaftspolitischen Rekonstruktion der Nachkriegszeit einsetzende »Austrifizierung« des keynesianischen Mainstreams, die in den 1970er-Jahren ihren Höhepunkt im sogenannten »Austrokeynesianismus« erreichte. Entwicklungsbestimmend dabei war insbesondere der Auf- und Ausbau eines interventionistischen gesamtwirtschaftlichen Gestaltungsanspruches der Finanzpolitik. Mitte der 1980er-Jahre kommt es sodann zu einer nachhaltigen Wende in Richtung einer vom monetaristisch-liberalistischen Mainstream (»Thatcherismus«, »Reaganomics«, »Washington-Consensus«) und einer entsprechenden ordnungspolitischen Dynamik der europäischen Integration (Liberalisierung des Binnenmarktes ; Maastricht-Kriterien) geprägten österreichischen Variation von Entstaatlichung bzw. Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung. Als treibende Determinanten erscheinen dabei zunächst das Aufbrechen wesentlicher Strukturprobleme innerhalb der österreichischen Volkswirtschaft in den Konjunkturkrisen in der ersten Hälfte der 1980er- und der ersten Hälfte der 1990erJahre und sodann die Vorbereitung und der Vollzug des Beitrittes Österreichs zur Europäischen Union sowie die damit verbundenen externen, restriktiven finanzpolitischen Handlungsparameter. In diesem Sinne wird in der im Jahr 2000 von Anton Pelinka und Sieglinde Rosenberger vorgelegten Darstellung der österreichischen Politik diagnostiziert : »Der Austrokeynesianismus als Leitfaden für die Wirtschafts- und Sozialpolitik gehört seit der Krise und der folgenden Privatisierung der Verstaatlichten der Vergangenheit an. Seit dem EU-Beitritt (1. 1. 1995) hat die österreichische Politik ihre regulatorischen, interventionistischen Eingriffe abgebaut, ohne jedoch bereits einen marktradikalen Kurs zu steuern. Budgetsanierung und Verbesserung des Wirtschaftsstandortes Österreich durch ein Mehr an Flexibilisierung und Deregulierung der Märkte wurden zur Maxime der Wirtschaftspolitik der Bundesregierungen der 90er-Jahre. Die schrittweise Privatisierung des gemeinwirtschaftlichen Sektors und sozialstaatliche Umbauoptionen auf der Basis von Eigenvorsorge identifizieren eine gewandelte Rolle der Politik und deren Anpassung an Globalisierungstrends.«10 Die noch in den 1980er-Jahren versuchte Mischung aus Weiterführung einer interventionistisch-antizyklischen Ausrichtung der Finanzpolitik einerseits und dem Bemühen um fiskalische Konsolidierung andererseits erwies sich als immer schwieriger gestaltbar und in ihrer Effizienz sichtlich abnehmend. Der auf den finanzpolitischen Akteuren lastende ambivalente Druck zwischen der aus politischen Gründen als notwendig erachteten Bedienung von Ansprüchen und Interessen auf der Ausgabenseite
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und der, zu einem wesentlichen Teil ebenso aus politischen Gründen wachsenden Notwendigkeit der budgetären Konsolidierung auf der Einnahmenseite verstärkte sich. Mit der politischen Wende im Jahr 2000 wurde dieser ambivalente Druck auf die Finanzpolitik insofern wesentlich reduziert, als nunmehr dem fiskalischen Konsolidierungsziel absolute Priorität eingeräumt und der interventionistisch-antizyklische Gestaltungsanspruch weitestgehend aufgegeben wurde. Die aus einer ÖVP-FPÖ-Koalition gebildete Bundesregierung hat als einen ihrer programmatischen Eckpunkte den Budgetausgleich und den Verschuldungsabbau, verknüpft mit einer umfassenden Privatisierungspolitik auf ihre Fahnen geschrieben. In der medialen Öffentlichkeit haben sich dabei, gemäß der programmatischen Festlegung der Regierungskoalition, die Leitbegriffe »Nulldefizit« und »schlanker Staat« etabliert. Hilfreich war dabei ohne Zweifel eine generelle, auch medial stark forcierte und sich damit geradezu zu einem dogmatischen Wert entwickelnde Präferenz der »Einsparung« an sich, im Zuge derer die Frage der »öffentlichen Güter« bzw. der öffentlichen Infrastruktur deutlich in den Hintergrund gerückt und im Zuge einer Revitalisierung des Begriffes der »Civil Society« und einer Forcierung von »Social Corporate Responsibility« zunehmend private Verantwortlichkeit und damit auch Kostentragung eingefordert wurde.11 Dieser leitmotivische Charakter des »Sparens« erscheint eingebettet in eine generelle, in gewisser Weise moralisierende Aufwertung des Sparens in allen Lebensbereichen.12 Verbunden damit war eine explizite Absage an eine interventionistisch-antizyklisch konzipierte Finanzpolitik. Im Sinne dessen wurde die seit den 1970er-Jahren unter SPÖ-Führung betriebene Finanzpolitik generalisierend als »Verschuldungspolitik« qualifiziert, von der es sich nunmehr konsequent zu verabschieden gelte. Im September 2001 hieß es im Konjunkturprogramm der Regierung : »Vorbei sind die Zeiten des sinnlosen wirtschaftspolitischen Aktionismus keynesianischer Prägung.«13 Innerhalb dieses generellen Wandels in der ordnungspolitischen Grundkonstellation lässt sich der Entwicklungsverlauf der politischen Ökonomie der Staatsfinanzen in mehrere Phasen gliedern. Dies unter der Annahme, dass die relevanten Veränderungen wesentlich durch einen externen Anpassungsdruck bedingt waren, wobei jeweils spezifische Konsensszenarien und Konfliktlagen zum Tragen gekommen sind.
3. Der Zwang zum Kompromiss in Rekonstruktion bis Stabilisierung In der Nachkriegszeit ist es unter den Bedingungen und Anforderungen der wirtschaftlichen bzw. wirtschaftspolitischen Rekonstruktion und der monetären Stabilisierung zu einem wirtschafts- und finanzpolitischen Kompromiss im Rahmen eines auf parteipolitischem Proporz, sozialpartnerschaftlicher Akkordierung und hohem
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Staatsanteil in und an der Volkswirtschaft (Verstaatlichungsgesetze) beruhenden wirtschaftspolitischen (und auch finanzpolitischen) Grundkonsens gekommen, dessen institutionelle Konstellation die Entwicklung der politischen Ökonomie der Staatsfinanzen in den folgenden Jahrzehnten prägte. Die These ist, dass dieser Kompromiss bzw. Grundkonsens letztendlich durch einen komplexen Handlungsdruck erzwungen wurde. Für diesen Handlungsdruck lassen sich zwei wesentliche Quellen erkennen : Eine davon war das realwirtschaftliche und monetäre Stabilisierungserfordernis, das gleichsam per se einen hochgradigen wirtschafts- und finanzpolitischen Interventionismus bedingte. So ging es im Wesentlichen um die Bewältigung der unmittelbaren Versorgungsprobleme, die Währungsreform, den in einem komplexen Zusammenspiel von Lenkungsmechanismen und Liberalisierungsmaßnahmen zu gestaltenden sukzessiven Übergang vom Bewirtschaftungssystem in ein grundsätzlich marktwirtschaftliches System14, die Beherrschung des latenten Inflationsdrucks im Zuge von Lohn- und Preisabkommen (»paktierte Inflation«)15, die Schaffung einer entsprechenden volkswirtschaftlichen Kapitalbasis, die Herstellung einer funktionsfähigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Infrastruktur und die Anbindung an das westliche internationale Wirtschafts- und Währungssystem, das sich auf der Basis des Abkommens von Bretton Woods entwickelte. Die zweite Quelle des Handlungsdrucks war die große Abhängigkeit von ERPMitteln, war doch der Marshallplan, angesichts des weitgehenden Fehlens einer entsprechenden inländischen Sparquote, eine unverzichtbare Ressourcen- und Kapitalquelle von existenzieller Bedeutung für den notwendigen Aufbau einer volkswirtschaftlichen Kapitalbasis und die (Wieder-)Herstellung einer entsprechenden Infrastruktur.16 Die dabei von der ECA (European Cooperation Administration) vorgegebenen und letztendlich zum wirtschafts- und finanzpolitischen Kompromiss erzwingenden Ziele und Prinzipien betrafen insbesondere den Budget- und Zahlungsbilanzausgleich. Zu Beginn der 1950er Jahre waren die weitgehende Ineffizienz der Praxis der Preis- und Lohnabkommen gegenüber der zunehmenden Inflation, der absehbare Wegfall der Zufuhr an ERP-Mitteln sowie die nicht mehr bestehende Bereitschaft der Europäischen Zahlungsunion (EZU), Österreich weiterhin eine Sonderstellung zuzugestehen, gewichtige Anlässe, die den wirtschafts- und finanzpolitischen Handlungsdruck akut verstärkten, was beträchtliches Konfliktpotenzial in der Regierungskoalition erzeugte. Die Positionen lagen einigermaßen weit auseinander. Noch bevor er das Amt des Finanzministers antrat, hatte Reinhard Kamitz in seiner Funktion als wirtschaftspolitischer Referent der Bundeswirtschaftskammer 1951 ein wirtschafts- und finanzpolitisches Konzept mit dem Titel »Marktkonforme, widerspruchsfreie Wirtschaftspolitik als Voraussetzung der privatwirtschaftlichen Gesellschaftsform« erarbeitet17,
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dem unter Bezugnahme auf die Theorien von Friedrich A. von Hayek und Ludwig Mises eine prononcierte ordoliberale Ausrichtung zugrunde lag und in dem er einen strikten antiinterventionistischen Stabilisierungskurs favorisierte. Demgegenüber sahen SPÖ und ÖGB vor allem das Problem des durch monetäre und fiskalische Restriktion in einer schwachen Konjunkturphase, wie sie 1952 gegeben war, bedingten Anstieges der Arbeitslosigkeit und leiteten daraus, in Erinnerung an die 1930erJahre, entsprechende Vorbehalte gegen einen deflatorischen Kurs ab und forderten eine beschäftigungspolitisch ausgerichtete interventionistische Gegensteuerung keynesianischer Prägung. Ungeachtet dieser ordnungspolitischen Diskrepanzen zwangen die konkreten Verhältnisse in kurzfristiger Sicht in der wirtschafts- und finanzpolitische Praxis zu einem pragmatischen Kompromiss. Dass dieser aber alles andere als leicht war, zeigt sich darin, dass diese Frage zu einer wesentlichen Ursache des Endes der bestehenden Koalition unter Bundeskanzler Leopold Figl und für Neuwahlen im Herbst 1952 wurde. Im Wahlkampf wurde denn auch das Verhältnis von öffentlichen Investitionen und Budgetausgleich zu einem zentralen Thema. So wurde auf sozialistischer Seite den öffentlichen Investitionen nicht nur infrastrukturelle Bedeutung, sondern darüber hinaus ein wesentlicher gesellschaftspolitischer Stellenwert beigemessen, damit in Zusammenhang aber auch das Interesse an der Sicherung politischer Einflussmöglichkeit verbunden. Demgegenüber stand die Präferenz in der ÖVP für Eindämmung der öffentlichen Investitionen und einer stärkeren Verlagerung der staatlichen Förderung auf den Bereich der konsumnahen Produktion und für eine schrittweise Reduzierung der Steuerbelastung.18 Nach der Wahl kam es angesichts des bestehenden Handlungsdrucks nach etlichen Kontroversen im Ministerrat mit einem bis Mai 1953 befristeten Budgetprovisorium zu einer Kompromisslösung. Diese stellte in Verbindung mit einem sozialpartnerschaftlich akkordierten Preis- und Lohnstopp eine wirksame »Stabilisierungsaktion« dar, die den Ausgangspunkt für den großkoalitionär-sozialpartnerschaftlichen Konsens- und Konkordanzmechanismus im Wachstumsklima der 1950er-Jahre bildete.
4. Konkordanz im Wachstumspfad der 1950er-Jahre Der diesem Konkordanzmechanismus zugrunde liegende pragmatische ordnungspolitische Kompromiss bestand in einer Verknüpfung einer wachstumsorientierten, primär angebotsseitigen und vorwiegend allokativen sowie auf Budgetausgleich orientierten Budgetpolitik, in deren Rahmen der öffentlichen Investitionstätigkeit weiterhin ein wesentlicher Stellenwert eingeräumt wurde, mit einer hauptsächlich über die Tarif- und Sozialpartnerschaft gesteuerten Verteilungspolitik sowie mit der Beibehaltung eines hohen Staatsanteils in zentralen Bereichen der Wirtschaftsstruk-
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tur, also der Industrie, dem Bankensystem und der E-Wirtschaft. Begünstigend für diesen ordnungspolitischen Kompromiss und die Funktionsweise des Konkordanzmechanismus wirkte das allgemeine starke Wachstumsklima der 1950er-Jahre und die darin bestehende Möglichkeit einer Verteilung des Zuwachses. Maßgeblich für die politische Ökonomie der Staatsfinanzen war, dass das Finanzministerium bzw. der Finanzminister in der Person von Reinhard Kamitz zu einer zentralen Schaltstelle der Wirtschaftspolitik geworden ist. Wilhelm Weber stellte in einer Analyse der Finanzpolitik am Beginn der 1960er Jahre rückblickend fest, dass der Finanzminister »den Kurs der Wirtschaftspolitik geradezu verkörpert« und »die wirtschaftliche Schlüsselgewalt innehat.«19 Eine zweite zentrale Schaltstelle stellte das von Karl Waldbrunner geführte Bundesministerium für Verkehr und verstaatlichte Betriebe (ab 1956 Bundesministerium für Verkehr und Elektrizitätswirtschaft) dar. Dabei war die Funktionsweise des wirtschaftspolitischen Konkordanzmechanismus wesentlich durch die informelle Kooperationsfähigkeit der leitenden Akteure, also den Elitenkonsens, sowie durch eine spezifische Form wirtschaftspolitischer »Arbeitsteilung« bestimmt. So wurden die Gestaltung der Preis- und Lohnentwicklung und damit auch die Umverteilung weitgehend in den sozialpartnerschaftlichen Tarifkonsens ausgelagert. Institutioneller Ausdruck dafür ist Einrichtung der »Paritätischen Kommission für Lohn- und Preisfragen« (1957). Die Verbindung von ausgabenintensiver Förderungs- und Investitionspolitik einerseits und monetärer Stabilität andererseits war einer Koordination der Entscheidungen und Maßnahmen im Finanzministerium und in der Notenbank anheimgestellt, wobei bei Letzterer wiederum die Sozialpartner über ihre Positionen im Generalrat entscheidende Mitsprache hatten. Als weiterer wichtiger Teil dieser »Arbeitsteilung« ist die Funktion der verstaatlichten Industrie sowie der staatlichen Verkehrs- und Elektriziätswirtschaft in der Realsubventionierung der industriell-gewerblichen Privatwirtschaft (günstige Grundstoff- und Energiepreisgestaltung) sowie hinsichtlich der Beschäftigungs- und Infrastrukturentwicklung zu sehen. Insofern wäre der in der Charakterisierung der Wirtschaftspolitik der 1950er-Jahre etablierte Begriff »Raab-Kamitz-Kurs« wohl zu relativieren bzw. in dieser personifizierten Form um den Namen Waldbrunner zu erweitern. Dies auch im Hinblick auf die spätere Positionierung des Begriffes »RaabKamitz-Kurs« seitens der ÖVP als ordnungspolitischer Leitbegriff in Analogie zur in der BRD etablierten und eng mit dem Namen Ludwig Erhards verbundenen »Sozialen Marktwirtschaft« und damit als ein prinzipiell marktwirtschaftliches Gegenkonzept zu staatswirtschaftlichen und vor allem finanzpolitisch interventionistischen Ordnungskonzepten der SPÖ.20 So wurde beispielsweise in der ordnungspolitischen Debatte der 1980er-Jahre von der damaligen ÖVP-Führung in programmatischer Analogie zum »Raab-Kamitz-Kurs« ein »Schüssel-Ditz-Kurs« in Abgrenzung zum »Austrokeynesianismus« propagiert.21
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Die gesamtwirtschaftliche Relevanz öffentlicher Investitionstätigkeit wurde im Sinne einer »aktiven« Konjunktur- und Beschäftigungspolitik insbesondere von der Arbeitnehmervertretung eingefordert, wohingegen in einer restriktiven Budgetgestaltung die Gefahr einer deflationistischen Entwicklung gesehen wurde.22 Finanzminister Kamitz lehnte eine in dieser Weise expansive Finanzpolitik grundsätzlich ab, ging aber andererseits in der Praxis in einem Mix aus angebots- und nachfrageorientierten Maßnahmen durchaus auch in die Richtung einer, wie dies Felix Butschek ausdrückt, »kompensatorischen Finanzpolitik keynesianischer Prägung«.23 So wurde, als es 1958/59 nach den überaus hohen Wachstumsraten des Sozialprodukts in der Mitte der 1950er-Jahre erstmals zu einer spürbaren Konjunkturabschwächung gekommen war, die bis dahin vor allem angebotsseitig forcierte wachstumspolitische Strategie durch eine kurzfristig über defizitfinanzierte Ausgabenerhöhungen konjunkturpolitische Gegensteuerung abgelöst. Jedoch wurde diese konjunkturpolitisch motivierte Ausgabenerweiterung im Übergang in die 1960er-Jahre bzw. am Ende der Finanzministerschaft von Kamitz angesichts des relativen Anstiegs der Staatsschuld rasch zu einer politischen Konfliktmaterie, nicht nur zwischen den Koalitionsparteien sondern auch innerhalb der ÖVP. Insofern kündigte sich hier eine Veränderung in der politischen Ökonomie der Staatsfinanzen an.
5. Diskrepanzen und Positionierungen im Verlauf der 1960er-Jahre Im Verlauf der 1960er Jahre veränderte sich das wirtschafts- und finanzpolitische Anforderungspotenzial nachhaltig. Ein latenter Anstieg der Staatsschuld, eine, nicht zuletzt aus der inzwischen erreichten Vollbeschäftigung resultierende »schleichende« Inflation24, ein sich als Folge des Wandels der »Wiederaufbaugesellschaft« zur »Wohlstandsgesellschaft« verstärkender budgetärer Ausgabendruck, mehrfache Strukturprobleme in der österreichischen Volkswirtschaft sowie eine deutliche Konjunkturschwäche 1966/67 erzeugten neuerlich Handlungsdruck. Dieser erscheint maßgeblich für das Auseinanderbrechen des ordnungspolitischen Kompromisses und für erhebliche Spannungen im Konkordanzsystem der Nachkriegs- und Wiederaufbauzeit sowie schließlich für Veränderung in der Performance der Finanzpolitik entsprechend dem keynesianischen Mainstream und für eine explizite konkurrierende parteipolitische Programmatik. Das somit spannungsgeladene Umbruchsszenario in der Finanzpolitik fand nicht zuletzt auch darin Ausdruck, dass es in diesem Jahrzehnt nicht weniger als fünf Finanzminister gab.25 In einer Analyse am Ende der 1960er-Jahre diagnostizierte der Herausgeber der »Finanznachrichten«, Horst Knapp, eine »finanzideologische Antinomie«, deren grundsätzliche Positionen bereits in den 1950er Jahren angelegt waren, nun aber an
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die Oberfläche der parteipolitischen Auseinandersetzungen drängten. Bei der ÖVP die Ablehnung einer wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Steuerungsfunktion des Staates und bei der SPÖ eine geradezu gegenteilige Positionierung hinsichtlich einer gesamtwirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Wohlstandsmehrungs- und Umverteilungsfunktion der Finanzpolitik. Im Lichte einer derartigen, nun offensichtlich werdenden ordnungspolitischen Frontstellung ortete Knapp im großkoalitionären Konkordanzklima der 1950er-Jahre einen »Schein-Kompromiß«, der unter den Bedingungen des Wachstums der Staatseinnahmen als Folge des allgemeinen Wachstumstrends der Wirtschaft tragfähig gewesen war. »Die ÖVP setzte ihr Ziel der generellen Steuersenkungen (und der speziellen Steuerbegünstigungen, insbesondere zugunsten der Vermögensbildung) durch ; die SPÖ ihr Ziel der wachsenden Staatsausgaben (vor allem zugunsten der sozialen Belange und der öffentlichen Investitionstätigkeit).«26 Diese »politische Symmetrie« der Finanzpolitik ist aber – so die Knapp’sche Diagnose – am Beginn der 1960er-Jahre brüchig geworden. Sie ist aber bis zur Mitte des Jahrzehnts bzw. bis zum Ende der Großen Koalition als »finanzpolitischer Proporz« mit Mühe und mit wachsenden Transaktionskosten prolongiert worden, indem etwa der »rote« Bundes- Wohn- und Siedlungsfonds und der »schwarze« Wohnhaus-Wiederaufbaufonds gleichermaßen zu dotieren waren oder »eine Art politischer Parität« zwischen der Finanzierung von Autobahnbau und ÖBB-Elektrifizierung herzustellen war oder eine dem ASVG nachgebildete, parallele gewerbliche Sozialversicherung (GSPVG) eingerichtet wurde.27 Für die politische Ökonomie kennzeichnend erscheint, dass angesichts der Entscheidungsschwäche der Regierungskoalition der Einfluss von Interessenvertretungen, insbesondere im Rahmen einer Stärkung der Sozialpartnerschaft, zunahm, was vor allem dazu führte, »den von ihnen vertretenen Gruppen größere Privilegien zu verschaffen«.28 Ebenso für die politische Ökonomie kennzeichnend erscheint, dass sich im Hintergrund der großkoalitionären »Götterdämmerung« Ansätze für eine nachhaltige Veränderung in der Performance der Finanzpolitik entwickelten, infolge derer die Finanzpolitik wieder in eine wirtschaftspolitische Führungsrolle hineinwachsen sollte, die sie im Prinzip unter Kamitz in den 1950er-Jahren schon einmal gehabt hatte. Nunmehr aber – durchaus dem wirtschafts- und finanztheoretischen Mainstream entsprechend – als institutionelles und funktionelles Zentrum einer wirtschaftspolitischen »Globalsteuerung« und konjunkturpolitischen »Feinsteuerung«. Diese Ansätze wurden bezeichnenderweise auf der im Windschatten des politischen Tageskampfes gelegenen sozialpartnerschaftlichen Ebene entwickelt. Insbesondere in dem 1963 als dritten Unterausschuss der Paritätischen Kommission eingerichteten »Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen«, dem im sogenannten »Raab-Benya-Abkommen« spezielle Unterausschüsse beigegeben wurden.29 Dieser Beirat wurde nicht nur zu einem wirtschaftspolitischen Koordinations- bzw. Strategiegremium, sondern auch zu einem wirtschaftspolitischen Personalreservoir. So
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wurde der erste Vorsitzende des Beirates, Wolfgang Schmitz, Anfang April 1964 Finanzminister und behielt diese Funktion auch im Übergang von der Großen Koalition zur ÖVP-Alleinregierung. Die strategische Rolle des Beirates war auch wesentlicher institutioneller Ausdruck einer Fundierung der Finanzpolitik auf Expertenwissen, wissenschaftlichen Analysen und Prognosen. In diesem Zusammenhang gewann auch das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) sowohl in inhaltlicher wie in personeller Hinsicht wesentlich an Bedeutung. So hatte Schmitz’ Nachfolger als Finanzminister, Stefan Koren, auf dieser Ebene wesentliche Grundlagen seiner in der Folge überaus einflussreichen wirtschafts- und finanzpolitischen Aktivitäten geschaffen.30 Parallel dazu entwickelte sich die wirtschaftspolitische Abteilung der Wiener Arbeiterkammer unter der Leitung des aus Harvard zurückgekehrten renommierten Wirtschaftswissenschafters Eduard März zu einem wirtschaftspolitischen Brain-Trust der SPÖ.31 Der mit dieser »Versachlichung« wirtschafts- und finanzpolitischer Entscheidungen Platz greifende »wirtschaftspolitische Stilwandel«32 brachte auch eine gewisse Tendenz zur Auslagerung wesentlicher Teile der wirtschafts- und finanzpolitischen Willensbildung- und Entscheidungsabläufe aus dem unmittelbaren politischen Geschehen auf eine politisch nicht unmittelbar verantwortliche Akteursebene mit sich, sodass allenthalben auch die »mögliche Gefahr des Abgleitens in eine ›GutachterDemokratie‹« geortet wurde.33 Ein für den Wandel der politischen Ökonomie der Staatsfinanzen besonders relevanter Effekt dieser »Versachlichung« lag in einem zunehmenden Machbarkeitsglauben hinsichtlich der, insbesondere finanzpolitischen, Steuerungsmöglichkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung. Im Sinne dessen wurde »die Änderung eines zentralen Paradigmas der Wirtschaftspolitik«34 in die Richtung eines antizyklischkeynesianischen Zuschnitts der Finanzpolitik eingeleitet, wobei sich die ordnungspolitischen Positionen der beiden großen Parteien inhaltlich in unterschiedliche Richtungen ausdifferenzierten. Beschleunigend wirkte hierbei zweifelsohne die Konjunkturschwäche 1966/67, die auf eine antizyklische Gegenstrategie nach dem Muster von 1958/59 drängte. In der Folge stellte sich dann aber die Anforderung einer zukunftsorientierten Konzeption moderner Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dies führte in beiden Großparteien zur Erstellung von umfassenden wirtschaftspolitischen Programmen, in denen grundlegende ordnungspolitische Positionierungen vorgenommen wurden. Es war dies einerseits der von dem im März 1967 zum Staatssekretär für Wirtschaftskoordination und Strukturpolitik und in der Folge zum Finanzminister in der ÖVP-Alleinregierung bestellten Universitätsprofessor Stefan Koren als wirtschaftspolitisches Programm der ÖVP-Alleinregierung ausgearbeitete und 1968 veröffentlichte »Koren-Plan«. 35 Und es war dies andererseits das bewusst als Alternativkonzept und als Basis für Wirtschaftskompetenz von Fachleuten, von denen
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etliche in den späteren Kreisky-Regierungen wesentliche Positionen besetzen sollten, ausgearbeitete, ebenfalls im Jahr 1968 beschlossene Wirtschaftsprogramm der SPÖ.36 Beide Programme spiegelten in ihrer Differenziertheit, ihrer inhaltlichen Komplexität und ihrer gesamtwirtschaftlichen Ausrichtung einen bisher nicht in dieser Weise gegebenen Standard des wirtschafts- und finanzpolitischen und damit auch des ordnungspolitischen Diskurses auf der politischen Ebene wider. So jedenfalls sah dies Horst Knapp in einem Kommentar in den »Finanznachrichten«, wenn er in den beiden Programmen das »gleichermaßen Neuartige« darin sah, »dass zwei Kopf an Kopf liegende Parteien keine zwei Jahre vor dem Urnengang anstelle eines Sammelsuriums von inhaltlichen Parolen einigermaßen geschlossene wirtschaftspolitische Konzepte vorlegen, von denen beide Parteispitzen genau wissen, dass sie das Begriffsvermögen des ›Mannes auf der Straße‹ und auch das der Wald- und WiesenFunktionäre übersteigen.«37 Gemeinsam war beiden Programmen die zentrale Position, die der Finanzpolitik zur Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung beigemessen wurde, wobei die Sicherung der Vollbeschäftigung als der wesentliche operative Ansatzpunkt bzw. als das primäre wirtschafts- und finanzpolitische Finalziel unbestritten war. Ordnungspolitisch relevante Unterschiede lagen in der Konzeption der instrumentellen Gewichtung und damit in den wirtschafts- und finanzpolitischen Modalzielen, wobei hier auf beiden Seiten längerfristig tradierte Grundpositionen, deren Wurzeln zum Teil in der Ersten Republik lagen, zum Tragen kamen. Dem entsprechend, hatte der »Koren-Plan« im Grunde eine primär angebotsorientierte Ausrichtung. Dabei wurden der notwendige Strukturwandel sowie die notwendige Wachstumsdynamik primär über Maßnahmen zur Senkung der Produktionskosten und allokative Effekte steuerpolitischer Maßnahmen angestrebt. Ebenso wurde auf verstärkten Wettbewerb und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes gesetzt. Das Wirtschaftsprogramm der SPÖ hatte, aufbauend auf der schon im Parteiprogramm 1958 formulierten Präferenz für antizyklische Maßnahmen, einen auf indikativer Planung basierenden starken struktur- und wachstumspolitischen Akzent und zugleich eine deutlich stärkere Akzentuierung in nachfrageorientierter Hinsicht und damit einen expliziten keynesianischen Zuschnitt. Das inkludierte explizit eine konjunktur- und beschäftigungspolitisch motivierte Ausweitung des Ausgabenrahmens, vor allem im Bereich der öffentlichen Infrastruktur und öffentlichen Güter. Budgetäre Einnahmenzuwächse wurden vor allem »von einem Abbau ungerechtfertigter Steuerprivilegien und von einer Akzentverschiebung der Staatseinnahmen zu progressiven direkten Steuern erwartet«. Es wurde hier also bewusst eine Alternative zum Koren-Plan der ÖVP aufgebaut, bei dem die Budgetsanierung »in erster Linie durch eine Verringerung der öffentlichen Ausgaben angestrebt werden soll«.38 Insgesamt lief der Koren-Plan auf ein Primat der marktwirtschaftlichen Orientierung der Wirtschaftssubjekte hinaus, denen seitens der Wirtschafts- und Fi-
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nanzpolitik entsprechende Möglichkeiten und Anreize geboten werden sollten, die strukturpolitisch erwünschten Aktivitäten zu entfalten. Es ging also primär um die staatlicherseits zu schaffenden Rahmenbedingungen privatwirtschaftlicher Planung. Demgegenüber war die volkswirtschaftliche Planungskompetenz staatlicher Wirtschaft- und Finanzpolitik in bewusster Anlehnung an die damals Modellcharakter annehmende französische »planification indicative« gerade ein wesentliches Element des SPÖ-Programmes.39 Für die Umsetzung einer derartigen wirtschaftspolitischen Gesamtstrategie war im SPÖ-Wirtschaftsprogramm die Errichtung eines Wirtschaftsministeriums als »koordinierende Leitstelle« vorgesehen. Nach 1970 ist unter der SPÖ-Alleinregierung ein solches Wirtschaftsministerium aber nicht zustande gekommen, vielmehr ist eine derartige wirtschaftspolitische Koordinierungsfunktion vom Finanzministerium bzw. vom Finanzminister selbst in Anspruch genommen worden.
6. Finanzpolitischer Führungsanspruch in den 1970er-Jahren Der von 1970 bis 1981 amtierende Finanzminister Hannes Androsch stellte und praktizierte von Beginn an einen expliziten und umfassenden wirtschaftspolitischen Steuerungsanspruch, der auch die Geld- und Währungspolitik (Hartwährungspolitik, Liberalisierung der Geld- und Kreditwirtschaft) umfasste. In der konkreten Umsetzung spielte das von Androsch in spezifischer Intensität entwickelte Netzwerk zwischen Finanzpolitik, Sozialpartnern sowie der Nationalbank, in dem der Finanzminister eine dirigierende und koordinierende Position einnahm, eine wesentliche instrumentelle Rolle. In diesem Zusammenhang ist es auch ein Kennzeichen der Handhabung des Finanzressorts durch Androsch, dass er stärker als seine Vorgänger und auch Nachfolger als Kommunikator der Wirtschafts- und Finanzpolitik und der für diese gegebenen Rahmen- und Entwicklungsbedingungen in der Öffentlichkeit aufgetreten ist.40 In gewisser Weise kann dies – bezogen auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik – wohl auch als eine Variante bzw. eine im Verlauf der Zeit immer stärker konkurrierende Aspekte annehmende Parallele zur Kreisky’schen Politikkommunikation gesehen werden. Androsch hat diesen Anspruch auf wirtschaftspolitisches »Leadership« auch über das ganze Jahrzehnt seiner Ministerschaft hinweg aufrechterhalten und wenn nötig auch eingefordert, was bekanntlich zunehmend Konfliktpotenzial in der Regierung und in der Partei evozierte.41 In besonderem Ausmaß ist dieser gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Steuerungsanspruch der Finanzpolitik im Zusammenhang mit der Stagflationskrise Mitte der 1970er-Jahre zum Tragen gekommen, als mit einer massiven antizyklischen Krisenintervention bisher nicht gekannten Ausmaßes in Verbindung
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mit Hartwährungspolitik sowie restriktiver Preis- und Lohngestaltung durch die Sozialpartner Vollbeschäftigung und auch Preisstabilität erhalten werden konnte.42 Hinsichtlich einer nach dem »Durchtauchen« der Krise notwendig erscheinenden budgetären Konsolidierung sowie erforderlicher strukturpolitischer Eingriffe verfolgte Androsch eine wirtschaftspolitische Linie, die mit einem wohlfahrtsstaatlichem Konzept des »sorgenden Staates«, wie es von maßgeblichen Teilen der SPÖ präferiert wurde, nicht deckungsgleich war. Insofern erscheint der immer wieder auf die 1970er-Jahre angewandte Begriff des »Austrokeynesianismus« in keiner Weise eindeutig43 und es ist in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zu einem in seiner Intensität rasch zunehmenden ordnungspolitischen Strategiekonflikt innerhalb der SPÖ gekommen. Ein wichtiger Ansatzpunkt dafür lag in einem sich zu verfestigen drohenden Problem des »Zwillingsdefizits«. Zum einen gab es einen sprunghaften Anstieg des Haushaltsdefizits und infolgedessen der Staatsverschuldung und zum anderen ein stark zunehmendes Leistungsbilanzdefizit. Im Grunde ging es in diesem Strategiekonflikt um die Grenzen der Staatsverschuldung und um eine Neudefinition der Rolle des Staatskredites und des Deficit-spending im Hinblick auf die Infrastrukturentwicklung und den wirtschaftlichen Strukturwandel. Hier trat Androsch der im sozialdemokratischen Lager weit verbreiteten Erwartung einer im Grunde universellen und unbegrenzten Einsetzbarkeit des Staatskredites entgegen. Ein zweiter wesentlicher Teil dieses Strategiekonfliktes war bekanntermaßen das konsequente Festhalten des Finanzministers an der Hartwährungspolitik, wobei hier insbesondere der Elitenkonsens zwischen dem Finanzminister, der Gewerkschaftsführung unter Anton Benya und der Leitung der Nationalbank (ab 1977 unter Stephan Koren) von zentraler Bedeutung war.44 In der nachträglichen Analyse und wohl auch in der Wahrnehmung der Beteiligten und auch in der Öffentlichkeit erscheint dieser sich letztlich auf eine Konfrontation zwischen Androsch und Bundeskanzler Bruno Kreisky zuspitzende Strategiekonflikt als wesentlich mehr als nur ein Streit um konkrete einzelne wirtschaftpolitische Maßnahmen.45 Der Konflikt wurde politisch entschieden. Der Bundeskanzler behielt die Oberhand und der Finanzminister musste 1981 aus dem Amt scheiden, wurde dafür aber Generaldirektor der mehrheitlich im Staatsbesitz befindlichen CreditanstaltBankverein, der damals größten Kommerzbank Österreichs. Nach dem Ausscheiden von Hannes Androsch aus der Funktion des Finanzministers wurde erkennbar, wie stark die Positionierung der Finanzpolitik als wirtschaftsund gesellschaftspolitische Steuerungszentrale vom Persönlichkeitsfaktor abhängig war. Denn nunmehr veränderte sich die funktionelle Rolle der Finanzpolitik im wirtschafts- und gesellschaftpolitischen Institutionengefüge erkennbar, indem ihr bestimmender strategischer Einfluss abnahm und sie wieder stärker auf die Finanzierungsfunktion konzentriert wurde. Insofern kann damit der Beginn einer Wende in
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der politischen Ökonomie der Staatsfinanzen konstatiert werden, die sich im Verlauf der 1980er Jahre in mehreren Etappen vollzog.
7. Krise des Austrokeynesianismus und Anbahnung der »konservativen Wende« Angesichts der Verschlechterung der konjunkturellen Entwicklungs- und Rahmenbedingungen und angesichts daraus resultierender nachhaltiger Struktur- und Beschäftigungsprobleme kam es in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre im Endstadium der SPÖ-Alleinregierung (1981–1983) und zur Zeit der Kleinen SPÖ-FPÖ-Koalition (1983–1986) im Spannungsfeld zwischen beschäftigungspolitischem Interventionismus einerseits und strukturpolitischem Veränderungsbedarf sowie fiskalischem Konsolidierungsbedarf andererseits zur Krise des »Austrokeynesianismus«.46 Deren zentrale Determinanten waren eine existenzielle Krise der Verstaatlichten Industrie, eine steigende Staatsverschuldung und daraus resultierend eine deutliche Einschränkung der interventionistischen Handlungsspielräume. Demgegenüber bestanden Erwartungen hinsichtlich einer Fortsetzung der budgetären Machbarkeit von Konjunktur und Beschäftigung, die eigentlich nicht mehr erfüllbar, aber realpolitisch weiterhin sehr wirkungsmächtig waren.47 Im Rahmen dessen wurde die Staatsverschuldung stärker als bisher als Bedrohung wahrgenommen bzw. konnte im Zuge des sich verstärkenden ordnungspolitischen Konfliktes als solche inszeniert werden. Im Zusammenhang damit formierte sich in der zunächst noch in Opposition befindlichen ÖVP in nachhaltiger Weise eine ordnungspolitische Linie unter der Devise »Mehr Markt – weniger Staat«. Bereits 1981 plädierte der Präsident der Nationalbank Stephan Koren, der weit über die Parteigrenzen hinaus als ökonomische Autorität galt, nachdrücklich für eine ordnungspolitische Wende. Unter Hinweis auf eine seiner Ansicht nach erwiesene Ineffizienz antizyklischer, volkswirtschaftlicher Steuerungskapazität der Finanzpolitik forderte er eine primär an der Geldwertstabilität orientierte nachhaltige Haushaltskonsolidierung unter dem Primat des Budgetausgleichs. In der Folge wurde in der ÖVP eine prononciert auf Stärkung der marktwirtschaftlichen Komponenten, auf Abbau von Staatseigentum und Staatseinfluss, also auf Privatisierung ausgerichtete Argumentation aufgebaut. Einer der wesentlichen Opinion-leader dabei war der nachmalige Wirtschaftsminister und ÖVP-Bundesparteiobmann sowie spätere Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, der diese Programmatik u.a. in zwei, gemeinsam mit Johannes Hawlik herausgegebenen Büchern mit den bezeichnenden Titeln »Mehr privat – weniger Staat« (1983) und »Staat lass nach. Vorschläge zur Begrenzung und Privatisierung öffentlicher Aufgaben« (1985) umfangreich entwickelte. Parallel dazu legte die ÖVP 1985 ein »Privatisierungs-
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und Eigentumsbildungskonzept« vor.48 Darauf aufbauend kam von ÖVP-Obmann Alois Mock im Wahlkampf 1986 unter Berufung auf den »Raab-Kamitz-Kurs« die immer wiederholte Forderung nach einer »anderen Politik«. Im Sinne dessen gewann dann auch die ÖVP in der Neuauflage der Großen Koalition ab 1987, insbesondere über das von ihr geführte Wirtschaftsministerium, wachsenden Einfluss auf die weiterhin bei der SPÖ ressortierende Finanzpolitik. Zugleich nahm die Bedeutung der Sozialpartnerschaft als wirtschaftspolitische Gestaltungsebene tendenziell ab.
8. Handlungsdruck und Konfliktzonen ab Mitte der 1980er-Jahre Eng verknüpft mit einer zunehmend fiskalisch-monetaristischen Ausrichtung der Finanzpolitik war eine speziell die staatlichen Unternehmensbeteiligungen betreffende Privatisierungsstrategie und die Ausgliederung bestimmter öffentlicher Finanzierungsbereiche aus dem Budget. Letzteres entsprach der Etablierung des Prinzips der Kostenorientierung öffentlicher Leistungsbereiche und Betriebe und damit einer entsprechenden Transformation des tradierten Gewährleistungsstaates.49 Christian Smekal erkennt hier einen Wandel, »der sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts von der makroökonomischen Budgetsteuerung hin zur mikroökonomischen Managementorientierung der öffentlichen Leistungserstellung vollzieht« und eine Abkehr von der bis dahin entwickelten »schuldenfinanzierten Gefälligkeitsdemokratie«.50 Zugleich aber wuchsen die auf die Finanzpolitik zukommenden sozialpolitischen Anforderungen, insbesondere im Bereich der Arbeitslosenversicherung, der Pensionsversicherung und zunehmend auch im Gesundheitsbereich. Das waren wesentliche Faktoren für einen starken, dauerhaften Anstieg der Staatsverschuldung, die nunmehr keinerlei antizyklischen Charakter mehr hatte. In der Mitte der 1990er-Jahre spitzten sich das Staatsschuldenproblem und der budgetäre Konsolidierungsdruck massiv zu. Einerseits forderte die deutliche Verschlechterung der Konjunktur- und Beschäftigungslage eine budgetäre Ausweitung. Andererseits hatten Steuersenkungsmaßnahmen den budgetären Handlungsspielraum einnahmenseitig reduziert. Demgegenüber waren die Ausgaben im Bereich der Sozialversicherung sowie im Transferbereich und durch zusätzliche Einstellungen im öffentlichen Sektor beträchtlich ausgeweitet worden.51 Dazu kam das mit dem EU-Beitritt (1995) und dem Ziel, an der ersten Runde der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, also der Einführung des EURO, teilzunehmen, verbundene Erfordernis, die Maastricht-Kriterien zum bestimmenden Parameter für eine massive budgetäre Restriktion zu machen. Im Zuge der damit unausweichlichen Forcierung einer budgetären Sparpolitik wurde die Frage, in welchen Bereichen und in welchem Ausmaß diese erfolgen sollte, zu einem wesentlichen Kriterium einer
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sich intensivierenden finanzpolitischen Konfliktlage in der großen Koalition, die letztlich auch zu deren Ende im Jahr 1999 führte. Eine seit Mitte der 1980er-Jahre ins Zentrum der politischen Ökonomie der Staatsfinanzen gerückte Materie war einmal mehr die Steuerreform. Der SPÖ-Finanzminister Ferdinand Lacina befand sich dabei letztlich unter einem zweifachen Druck. Zum einen vonseiten des Koalitionspartners ÖVP, wo vehement eine auf Entlastung der Unternehmen und Kapitalveranlagung ausgerichtete steuerpolitische Linie eingefordert wurde. Zum anderen von Teilen der eigenen Partei und der Gewerkschaft hinsichtlich der Belastungsverteilung bzw. Umverteilung. Und es war letztlich der verteilungspolitische Aspekt, der den langjährigen und international anerkannten Finanzminister, angesichts der massiven und zuletzt sogar in demonstrativen Aktionen vorgetragenen Kritik der Gewerkschaft, im Zuge derer ihm mangelndes soziales Gewissen vorgeworfen wurde, im Frühjahr 1995 veranlasste, zurückzutreten. Sein Nachfolger im Amt, Andreas Staribacher, scheiterte sehr rasch in diesem Spannungsfeld zwischen Einsparungserfordernis einerseits und steigenden Sozialaufwänden sowie gewerkschaftlichen Umverteilungsforderungen andererseits. Der von Bundeskanzler Franz Vranitzky mit dem Auftrag zur Erstellung eines Einsparungsprogramms unternommene Rückgriff auf die Lösungskompetenz der Sozialpartner brachte keine Entspannung. Der finanzpolitische Konfliktpegel in der Koalition war bereits derart angestiegen, dass ein Scheitern der Budgetverhandlungen immer wahrscheinlicher wurde und schließlich auch eintrat, was in der Folge zu Neuwahlen im Dezember 1995 führte. Ein besonders sensibler Punkt im Wahlkampf war die wachsende Verunsicherung in der Bevölkerung hinsichtlich der Pensionen und drohender Einschnitte im öffentlichen Dienst. Die neu gebildete Große Koalition, nunmehr mit Viktor Klima als Finanzminister, schlug einen dezidierten Sparkurs mit einem auf die Jahre 1996 und 1997 ausgelegten Sparpaket und einem bis 2000 terminisierten Budgetkonsolidierungsprogramm ein.52 Maßgeblich war hier auch ein starker Druck vonseiten der ÖVP, deren Obmann Wolfgang Schüssel, der ein derartiges Primat der Einsparungs- und Entschuldungspolitik zur Koalitionsbedingung machte. Ein Bericht der Europäischen Kommission spricht in diesem Zusammenhang von einer »eindrucksvollen Kehrtwendung 1996–1997«53 in der österreichischen Budgetpolitik. Andererseits verstärkte die Kommission im Hinblick auf die Kriterien für den Eintritt in den EURO ihre Kritik an strukturellen Defizitquellen auf der Ausgabenseite, insbesondere bei den Sozialtransfers und den budgetären Zuschüssen zum Pensionssystem54, was zunehmenden externen Handlungsdruck auf den bisher letzten SPÖ-Finanzminister Rudolf Edlinger bedeutete. Zugleich wurde Ende der 1990er-Jahre die Steuerreform neuerlich zu einem zentralen Kriterium der politischen Ökonomie der Staatsfinanzen. Die Arbeit der im Sommer 1998 eingesetzten »Steuerreformkommission« stand bald sehr stark unter
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dem Eindruck des Wahlkampfes.55 Dabei fand auch die in den mittel- und osteuropäischen Transformationsländern einsetzende Steuersenkungsstrategie zunehmenden Niederschlag in der politischen Auseinandersetzung. Unter anderem dadurch, dass der FPÖ-Obmann Jörg Haider nach US-Vorbild in populistischer Weise eine Politik der »Flat Tax« einforderte. Die ÖVP beschloss 1998 ein Steuerprogramm, das eine durchgängige Senkung der Lohnsteuersätze und die Einführung des Karenzgeldes für alle enthielt. Die SPÖ plante größere Lohnsteuersenkungen für kleinere Einkommen sowie Freibeträge für Lehrlinge und ältere Arbeitnehmer. All diese letztlich auf eine Senkung der Steuerquote ausgerichteten Konzeptionen ließen bei Finanzminister Edlinger die Befürchtung aufkommen, dass die damit bedingte Reduzierung des budgetären Einnahmenaufkommens eine Maastricht-konforme Absenkung des Defizits verunmöglichen würde. Er drohte daher mit seinem Rücktritt.56 Nachdem die umgesetzten steuerlichen Maßnahmen in der Tat eine Verringerung des Aufkommens, jedoch nicht eine spürbare Absenkung der Lohnnebenkosten brachten, wurde für 2000 neuerlich eine »große Steuerreform« angekündigt und wiederum eine Expertenkommission beauftragt.57
9. Transformationsschub in der »Wende« Ab 2000 forcierte die rechts-konservative Kleine Koalition (ÖVP-FPÖ) durch eine prononciert monetaristische und angebotsorientierte Linie der Finanzpolitik die seit den frühen 1980er-Jahren konzipierte ordnungspolitische Wende im Sinne eines »Austro-Neoliberalismus«.58 Für die politische Ökonomie der Staatsfinanzen in spezifischer Weise relevant ist, dass die Zuteilung des Finanzministeriums zu einem entscheidenden Kriterium des letztendlichen Scheiterns der Koalitionsverhandlungen zwischen SPÖ und ÖVP geworden ist. Dies erscheint als ein Indiz für die zentrale Bedeutung, die der Finanzpolitik für die Umsetzung der jeweiligen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen generell beigemessen wurde. Dass das Finanzministerium dann nicht an die ÖVP ging, war in dieser Hinsicht nicht von Bedeutung. Denn auch mit der Nominierung Karl-Heinz Grassers (FPÖ) waren gute Voraussetzungen gegeben, um nunmehr die im Grunde schon in der Mitte der 1980er Jahre von Alois Mock und Wolfgang Schüssel propagierte, im Kern antikeynesianische Finanzpolitik unter dem Leitmotiv »Weniger Staat – mehr privat« konsequent umzusetzen. Dabei wurde gegenüber einem von den EU-Konvergenzkriterien ausgehenden budgetären Restriktionsdruck nicht mehr, wie bisher, in defensiver Weise, sondern vielmehr in Form einer nun politisch möglich gewordenen offensiven Weise vorgegangen. Demgegenüber wurde von oppositioneller Seite keine grundsätzliche ordnungspolitische Alternative entwickelt und angebo-
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ten. Denn in der SPÖ war man schon im Grundsatzprogramm 1998 weitestgehend von einer gesamtwirtschaftlich umfassenden interventionistischen Konzeption der Finanzpolitik abgegangen und sah Ansatzpunkte nur mehr in Bereichen des so genannten »Marktversagens«.59 Insgesamt stellt sich die nunmehr eingeleitete »Wende« im Bereich der Finanzpolitik letztendlich als signifikanter Schub in den Pfaden der seit der Mitte der 1980er-Jahre in Gang gekommenen ordnungspolitischen Transformation in drei Richtungen dar.60 Erstens in die Richtung einer raschen Realisierung des budgetären Haushaltsausgleichs, wofür das »Null-Defizit« zum politischen Leitbegriff im Rahmen eines von der Regierung medienwirksam inszenierten »Reformdialogs für Österreich« wurde. In besonderer Weise wurden dabei auch die Werte »Sparen« und »Schulden vermeiden« als finanzpolitische Handlungsmaximen propagiert und damit durchaus eine zustimmende Haltung in weiten Teilen der Bevölkerung für einen restriktiven haushaltspolitischen Kurs geschaffen. Zweitens in Richtung einer weitestgehenden Privatisierung, die die Bereiche der öffentlichen Leistungserstellung so wie den Abbau von Unternehmensbeteiligungen gleichermaßen, ohne weitere Differenzierung zwischen diesen beiden Bereichen, umfasste. Dazu wurde die ÖIAG mit einem expliziten und umfassenden Privatisierungsauftrag ausgestattet. Und drittens in die Richtung einer möglichst niedrigen Steuer- und Abgabenquote. Dies wurde zu einem zentralen Kriterium für das angestrebte generelle ordnungspolitische Ziel eines »schlanken Staates«. Im Zusammenhang mit der Steuerpolitik bildete sich in der Kleinen Koalition alsbald ein spezielles Konfliktpotenzial heraus. Und zwar insofern, als der nicht der Regierung angehörende FPÖ-Obmann Jörg Haider in einer oppositionellen Haltung gegenüber dem forcierten finanzpolitischen Restriktionskurs und insbesondere dessen verteilungspolitischen Effekten einen wesentlichen Ansatzpunkt sah, das seinen bisherigen politischen Erfolg wesentlich tragende populistische Eintreten für die Interessen des »kleinen Mannes« auch in der Koalition fortzusetzen. In diesem Sinne wurde der von Schüssel und Grasser verfolgte steuerpolitische Kurs zum Anlass für eine durch eine Spaltung in der FPÖ (Knittelfeld) hervorgerufene Koalitionskrise und Neuwahlen im November 2002. Deren Ergebnisse gaben politischen Rückhalt für den Regierungskurs und banden den Finanzminister, nunmehr parteifrei, noch stärker als bisher an die vom Bundeskanzler vorgegebene und auch von der Industriellenvereinigung wesentlich mitbestimmte finanzpolitische Linie.
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Pfeifer, Gabriele : Stephan Koren. Wirtschaft im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. – Salzburg 1993. Reform der österreichischen Wirtschaft. Wirtschaftsprogramm der SPÖ, beschlossen am Parteitag 1968. Rossman, Bruno : Ein Rückblick auf die Budgetpolitik Österreichs seit dem Beitritt zur Europäischen Union. – In : Wirtschaft und Gesellschaft 31/4 (2005). Rossmann, Bruno : Die Budgetpolitik nach der politischen Wende 2000 – Versuch einer Bilanz. – In : Emmerich Tálos (Hg.) : Schwarz-Blau. Eine Bilanz des »Neu Regierens«. Wien 2006. Scharpf, Fritz W. : Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa. – Frankfurt/M. New York 1987. Schumpeter, Joseph A. : Die Krise des Steuerstaats. – In : Rudolf Goldscheid, Joseph A. Schumpeter : Die Krise des Steuerstaats. Beiträge zur politischen Ökonomie der Staatsfinanzen, hg. von Rudolf Hickel. Frankfurt/Main 1976. S. 329–379. Seidel, Hans : Der Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen. – In : Karl Socher (Hg.) : Wolfgang Schmitz – Wirtschaftspolitische Weichenstellungen 1963–1973 – Reminiszenzen eines Jahrzehnts. Wien 1996. S. 1–19. Seidel, Hans : Österreichs Wirtschaft und Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. – Wien 2005. Smekal, Christian : Ordnungspolitische Aspekte der budgetpolitischen Willensbildung. – In : Engelbert Theurl, Hannes Winner, Rupert Sausgruber (Hg.) : Kompendium der österreichischen Finanzpolitik. Wien New York. S. 3–21. Tichy, Gunther : Strategy and Implementation of Employment Policy in Austria (Research Memo 83/2). – Graz 1983. Venus, Theodor (Hg.) : Austrokeynesianismus in Theorie und Praxis. – Wien 1993. Veselsky, Eugen : Probleme und Methoden der länger-(mittel-)fristigen Finanzplanung. – In : Clemens A. Andrae (Hg.) : Handbuch der österreichischen Finanzwirtschaft. Wien Innsbruck München 1970. S. 248–262. Weber, Wilhelm, Herbert Zogelmann : Österreichische Finanzpolitik 1945–1961. – Wien 1962. Weber, Wilhelm : Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen. – In : Clemens A. Andrea (Hg.) : Handbuch der österreichischen Finanzwirtschaft. Wien Innsbruck München 1970. S. 155–175. Wysocki, Josef : Die Wirtschaft. – In : Robert Kriechbaumer, Franz Schausberger, Hubert Weinberger (Hg.) : Die Transformation der österreichischen Gesellschaft und die Alleinregierung von Bundeskanzler Dr. Josef Klaus. Salzburg 1995. S. 65– 75. Zehn Jahre ERP in Österreich 1948/1958. Wirtschaftshilfe im Dienste der Völkerverständigung. – Wien 1958.
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Christian Dirninger
Anmerkungen 11 Ernst Hanisch : Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. -Wien 1994. 12 Christian Dirninger, Jürgen Nautz, Engelbert Theurl, Theresia Theurl : Zwischen Markt und Staat. Geschichte und Perspektiven der Ordnungspolitik in der Zweiten Republik. – Wien Köln Weimar 2007. 13 Joseph A. Schumpeter : Die Krise des Steuerstaats. – In : Rudolf Goldscheid, Joseph A. Schumpeter : Die Krise des Steuerstaats. Beiträge zur politischen Ökonomie der Staatsfinanzen, hg. von Rudolf Hickel. Frankfurt/Main 1976. S. 329–379. Hier S. 332. 14 Antony Downs : An Economic Theory of Democracy. – New York 1957. 15 Reinhard Neck, Friedrich Schneider (Hg.) : Politik und Wirtschaft in den neunziger Jahren. Empirische Untersuchungen zur Neuen Politischen Ökonomie (Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann-Instituts zur Analyse wirtschaftspolitischer Aktivitäten Bd. 15). – Wien 1996. S. 3. 16 Wesentlicher Ansatz in der Neuen Institutionenökonomie. Douglas C. North : Institution, Institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung. – Tübingen 1992. Rolf Ackermann : Pfadabhängigkeit, Institutionen und Regelform. – Tübingen 2001. 17 Zur zentralen Position des Finanzministers bzw. des Finanzministeriums im wirtschafts- und finanzpolitischen System : Bernhard Kittel : Verbände in der österreichischen Finanzpolitik. Akteursspektrum und Interaktionsmodi in Gesetzgebungsprozessen. – In : Engelbert Theurl, Hannes Winner, Rupert Sausgruber (Hg.) : Kompendium der österreichischen Finanzpolitik. Wien New York 2002. S. 129–152. 18 Dazu ist ein Projekt in Vorbereitung, wozu auch dieser Beitrag dienen soll. 19 Stefan Bayer, Klaus W. Zimmermann (Hg.) : Die Ordnung von Reformen und die Reform von Ordnungen : Facetten politischer Ökonomie. – Marburg 2008. 10 Anton Pelinka, Sieglinde Rosenberger : Österreichische Politik. Grundlagen – Strukturen – Trends. – Wien 2000. S. 40. 11 Emil Brix (Hg.) : Civil Society in Österreich. – Wien 1998. Peter Köppl, Martin Neureiter (Hg.) : Corporate Social Responsibility – Leitlinien und Konzepte im Management der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen. – Wien 2004. 12 Dazu Ronald Barazon in einem Leitartikel in den Salzburger Nachrichten 8./9. November 2003 unter dem Titel »Der Götze Sparen«. 13 Zitiert nach Bruno Rossmann : Ein Rückblick auf die Budgetpolitik Österreichs seit dem Beitritt zur Europäischen Union. – In : Wirtschaft und Gesellschaft 31/4 (2005). S. 493–534. Hier S. 524. 14 Dafür wurde der Begriff des »Gradualismus« geprägt : Hans Seidel : Österreichs Wirtschaft und Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. – Wien 2005. S. 33, 63 f. Felix Butschek : Die österreichische Wirtschaft im 20. Jahrhundert. – Stuttgart 1985. S. 65 ff. 15 Franz Nemschak : Zehn Jahre österreichische Wirtschaft. – Wien 1955. 16 In Verbindung damit war der Marshallplan in vielfacher Hinsicht ein sehr maßgeblicher Faktor der Einbindung Österreichs in das »westliche« Wirtschaftssystem bzw. in die »westliche« Wirtschaftsordnung. Zehn Jahre ERP in Österreich 1948/1958. Wirtschaftshilfe im Dienste der Völkerverständigung. – Wien 1958. Wilfried Mähr : Der Marshallplan in Österreich. – Graz Wien Köln 1989. Hannes Hofbauer : Westwärts. Österreichs Wirtschaft im Wiederaufbau. – Wien 1992. 17 Fritz Diwok, Hildegard Koller : Reinhard Kamitz. Wegbereiter des Wohlstands. – Wien München Zürich Innsbruck 1977. S. 103 ff. 18 Wilhelm Weber, Herbert Zogelmann : Österreichische Finanzpolitik 1945–1961. – Wien 1962. S. 11 f. 19 Ebd., S. 6. 20 Felix Butschek : Vom Staatsvertrag zur Europäischen Union. Österreichische Wirtschaftsgeschichte von 1955 bis zur Gegenwart. – Wien Köln Weimar 2004. S. 36.
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21 Johannes Ditz war 1987/88 und 1991–1995 Staatssekretär im Finanzministerium und 1995/96 Wirtschaftsminister. 22 Diwok, Koller : Reinhard Kamitz. S. 148 f. Butschek : Vom Staatsvertrag zur Europäischen Union. S. 40. 23 Butschek : Vom Staatsvertrag zur Europäischen Union. S. 37. 24 Herbert Matis : Vom Nachkriegselend zum Wirtschaftswunder – Der Schilling im »goldenen Zeitalter«. – In : Karl Bachinger, Herbert Matis, Dieter Stiefel : Abschied vom Schilling. Eine österreichische Wirtschaftsgeschichte. Graz Wien Köln 2001. S. 155–285. Hier S. 234 f. 25 Eduard Heilingsetzer (17. 6. 1960 –11. 4. 1961), Josef Klaus (11. 4. 1961–27. 3. 1963), Franz Korinek (27. 3. 1963–2. 4. 1964), Wolfgang Schmitz (2. 4. 1964–19. 1. 1968) und Stefan Koren (19. 1. 1968–20. 4. 1970). 26 Horst Knapp : Das Irrationale in der Finanzpolitik. – In : Clemens A. Andrae (Hg.) : Handbuch der österreichischen Finanzwirtschaft. Innsbruck Wien München 1970. S. 33–43. Hier S. 38. 27 Ebd., S. 38. 28 Matis : Vom Nachkriegselend zum Wirtschaftswunder. S. 241. 29 Hans Seidel : Der Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen. – In : Karl Socher (Hg.) : Wolfgang Schmitz – Wirtschaftspolitische Weichenstellungen 1963–1973 – Reminiszenzen eines Jahrzehnts. Wien 1996. S. 1–19. 30 Gabriele Pfeifer : Stephan Koren. Wirtschaft im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. – Salzburg 1993. 31 Felix Butschek : Vom Konflikt zur Konsensorientierung. Die Kammer für Arbeiter und Angestellte und die österreichische Wirtschaftspolitik. – Wien 1996. S. 139 ff. 32 Butschek : Vom Staatsvertrag zur Europäischen Union. S. 65. 33 Wilhelm Weber : Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen. – In : Clemens A. Andrea (Hg.) : Handbuch der österreichischen Finanzwirtschaft. Wien Innsbruck München 1970. S. 155–175. Hier S. 171. 34 Josef Wysocki : Die Wirtschaft. – In : Robert Kriechbaumer, Franz Schausberger, Hubert Weinberger (Hg.) : Die Transformation der österreichischen Gesellschaft und die Alleinregierung von Bundeskanzler Dr. Josef Klaus. Salzburg 1995. S. 65–75. Hier S. 69. 35 Der Koren-Plan. Das wirtschaftspolitische Konzept der Bundesregierung, hrg. vom Bundesministerium für Finanzen. – Wien 1968. Pfeifer : Stephan Koren 1993. 36 Reform der österreichischen Wirtschaft. Wirtschaftsprogramm der SPÖ, beschlossen am Parteitag 1968 37 Finanznachrichten 22/23 (31.5.1968). 38 Eugen Veselsky : Probleme und Methoden der länger-(mittel-)fristigen Finanzplanung. – In : Clemens A. Andrae (Hg.) : Handbuch der österreichischen Finanzwirtschaft. Wien Innsbruck München 1970. S. 248– 262. Hier S. 260 f. 39 Ebd., S. 249. 40 Hannes Androsch : Staat, Steuern und Gesellschaft. Wirtschaftspolitik als Gesellschaftspolitik in der Welt von morgen. – Wien 1978. 41 Barbara Liegl, Anton Pelinka : Chronos und Ödipus. Der Kreisky-Androsch-Konflikt. – Wien 2004. Beppo Mauhart : Ein Stück des Weges gemeinsam. Die Ära Kreisky/Androsch in Texten und Bildern. – Wien 2006. S. 198 ff. 42 Fritz W. Scharpf : Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa. – Frankfurt/M. New York 1987. S. 81– 96. 43 Peter Mitter : Austrokeynesianismus. Festschrift für Hans Seidel zum 65. Geburtstag. – Heidelberg 1990. Karl Bachinger : »Ein paar Milliarden mehr Schulden sind weniger schlimm als ein paar hunderttausend Arbeitslose«. Ökonomie und Beschäftigung. – In : Bruno Kreisky. Seine Zeit und mehr. Wissenschaftliche Begleitpublikation zur 240. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien. Wien
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1998. S. 71–85. Fritz Weber, Theodor Venus (Hg.) : Austrokeynesianismus in Theorie und Praxis. – Wien 1993. Heinz Kienzl : Gesamtstabilität, der Weg und das Ziel – Einkommenspolitik und Währungspolitik seit 1951. – In : Austrokeynesianismus in Theorie und Praxis. Wien 1993. S. 63–72. Liegl, Pelinka : Chronos und Ödipus. 2004. Helmut Kramer, Felix Butschek (Hg.) : Strukturpolitik als Dimension der Vollbeschäftigungspolitik. – Wien 1983. Anton Pelinka : Die Kleine Koalition SPÖ-FPÖ 1983–1986. – Wien Köln Graz. 1993. Gunther Tichy : Strategy and Implementation of Employment Policy in Austria (Research Memo 83/2). – Graz 1983. Johannes Hawlik, Wolfgang Schüssel : Mehr privat – weniger Staat. – Wien 1983. Johannes Hawlik, Wolfgang Schüssel : Staat lass nach. Vorschläge zur Begrenzung und Privatisierung öffentlicher Aufgaben. – Wien München 1985. Claudio Franzius : Die europäische Dimension des Gewährleistungsstaates. – In : Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, Deutsches und Europäisches öffentliches Recht 45/4 (2006). S. 547–581. Christian Smekal : Ordnungspolitische Aspekte der budgetpolitischen Willensbildung. – In : Engelbert Theurl, Hannes Winner, Rupert Sausgruber (Hg.) : Kompendium der österreichischen Finanzpolitik. Wien New York. S 3–21. Hier S. 4. Europäische Kommission. Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen : Die wirtschaftliche und finanzielle Lage in Österreich. 1998. S. 84. Ebd., S. 85. Ebd., S.12. Ebd., S. 19. Wolfgang Fritz : Für Kaiser und Republik. Österreichs Finanzminister seit 1848. – Wien 2003. S. 279. Profil 30. 22. 1998. Europäische Kommission 1998. S. 90. Dazu eine Analyse des ordnungspolitischen Wandels in Österreich seit 2000 von Matthäus Kattinger »Österreichs Reformer mit zu hoch gesteckten Zielen« In : Neue Zürcher Zeitung 23./24.9.2006, 13. Jürgen Nautz : Vom Binnenmarkt zum Gemeinsamen Markt. Zur Entwicklung der Ordnungspolitik in Österreich vom Ersten Weltkrieg bis zum EU-Beitritt. – In : Jürgen Schneider (Hg.) : Öffentliches und privates Wirtschaften in sich wandelnden Wirtschaftsordnungen (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 156), Stuttgart 2001. S. 191–225. Hier S. 197 f. Rossmann : Ein Rückblick auf die Budgetpolitik Österreichs. Bruno Rossmann : Die Budgetpolitik nach der politischen Wende 2000 – Versuch einer Bilanz. – In : Emmerich Tálos (Hg.) : Schwarz-Blau. Eine Bilanz des »Neu Regierens«. Wien 2006. Butschek : Vom Staatsvertrag zur Europäischen Union. S. 177 ff.
Herbert Dachs
Wählen mit 16 Die Bundesländer als »Probierfeld«
Vorrede Das Thema unseres Beitrags mag im Kreis der in diesem Sammelband versammelten historischen Studien ein wenig aus dem Rahmen fallen. Die Themenwahl erklärt sich aber aus dem Umstand, dass der Autor – obzwar vom Studium her Historiker mit Schwerpunkt auf Zeitgeschichte – schon seit den frühen 70er-Jahren den Fokus seiner wissenschaftlichen Interessen auf politikwissenschaftliche Themen bzw. genauer auf Fragen der österreichischen Politik und der Demokratieentwicklung in unserem Lande gelenkt hat.1 Trotzdem kann eine gewisse Verbindung zu den Arbeiten von Ernst Hanisch insofern hergestellt werden, als viele seiner Studien von politischen Entwicklungen in den Regionen bzw. in den Bundesländern handeln und die Debatte um die Senkung des Wahlalters, um das heute österreichweite etablierte »Wählen mit 16« also, ohne die Bundesländer und die dort abgelaufenen Überlegungen und Versuche nicht denkbar gewesen wäre. Wurde doch dieser Prozess in Richtung »Wählen mit 16« zunächst in einer Reihe von Bundesländern vorangetrieben, indem sie dieses in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende durch entsprechende Landesgesetze – zunächst nur für den kommunalen Bereich – möglich gemacht haben. Uns interessieren daher zunächst vor allem die in diesem Zusammenhang in den Länderparlamenten verwendeten Pro- und Kontra-Argumente bzw. die Qualität der damals ins Treffen geführten Einschätzungen, weiters die Frage, inwieweit dieses neu zugewachsene Wahlrecht von den 16- bis 18-Jährigen bisher auch tatsächlich wahrgenommen wurde, und schließlich, welche aufklärenden und ermunternden Initiativen und Aktionen in den Bundesländern und seit der bundesweit gültigen Reform 2007 zur Verbesserung der Politischen Bildung österreichweit gesetzt worden sind.
Festlegung des Wahlalters als permanentes Politikum Die Festlegung der Grenzen für das aktive und passive Wahlalter war und ist allgemein – und so auch in Österreich – ein Politikum insofern, als sich darin seit je allgemeine gesellschafts- und demokratiepolitische Überlegungen mit Partikularin-
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teressen der am politischen Wettbewerb beteiligten Gruppen und Parteien vermengt haben. Weitet man nämlich den Kreis der Wahlberechtigten aus, so kann zwar einerseits erwartet werden, dass die Legitimationsbasis eines politischen Systems grundsätzlich verbreitert und die inklusiven und integrierenden Effekte verstärkt werden, andererseits wird u. U. der Politikprozess wegen der neu dazugekommenen Interessen komplizierter und zudem wachen die über eine mögliche Wahlrechtsänderung entscheidenden Parteien mit Argusaugen darüber, wer von dem neuen WählerInnen-Segment am ehesten profitieren könnte bzw. ob die Jungwähler die eine oder andere Partei bevorzugen bzw. andere weniger schätzen. Auch in Österreich waren die Grenzen für das aktive und passive Wahlrecht seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Bewegung : Lag 1848 das aktive Wahlrecht noch bei 24 Jahren (passiv 30), wurde dieses 1918–1928 auf 20 Jahre gesenkt und mit der Verfassungsreform 1929 wieder auf 21 angehoben um 1949 wieder auf 20 zu sinken. Die Nationalratswahlordnung 1968 setzte die Grenze mit 19 Jahren fest und die lange diskutierte Wahlrechtsreform von 1992 schließlich mit 18 Jahren. Parallel dazu war auch das passive Wahlrecht auf zuletzt 19 Jahre gesenkt worden.2 Ähnlich anderen vergleichbaren westlichen Demokratien sind also auch in Österreich die Grenzen ständig erweitert worden. Der gesellschaftliche und politisch-emanzipative Wandel hat also die jüngere Generation zumindest formal näher zur Politik herangeholt. In Österreich sind nach der Wahlrechtsreform 1992 und der damit verbundenen Wahlalterssenkung auf 18 Jahre weitere diesbezügliche Debatten zumindest in der Parteienarena zunächst verstummt. Hin und wieder fanden sich dort oder da Stimmen aus sozialdemokratischen Jugendorganisationen oder von den Grünen, die das aktive Wahlalter senken wollten. Diese blieben aber ohne sonderliche Resonanz. Dabei hätte man schon damals bei etwas großzügigerer Auslegung gewisser Bestimmungen aus dem UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes (kurz Kinderrechtskonvention genannt, KRK) durchaus Pro-Argumente herauslesen können und es ist interessant, dass auch bei den späteren Debatten auf dieses grundlegende Dokument nur sehr selten Bezug genommen worden ist.3 Diese 1989 von der UNOGeneralversammlung beschlossene Konvention wurde 1990 auch von Österreich unterzeichnet und 1992 ratifiziert (allerdings vom Nationalrat als gesetzesändernder und gesetzesergänzender Staatsvertrag mit Erfüllungsvorbehalt ausgestattet).4 Zwar galten die meisten der hier vorgesehenen Rechte des Kindes in Österreich bereits als realisiert, hinsichtlich einer möglichen Wahlaltersenkung sind aber die Artikel 12–17 von Interesse, wonach dem Kind (= lt. Art. 1 der KRK alle Menschen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben) u. a. Gelegenheit zur freien Meinungsäußerung in allen eigenen Angelegenheiten zu garantieren und entsprechend seinem Alter und seiner Reife berücksichtigt werden sollten. Nach Artikel 15 darf es insgesamt »keine gesetzlichen Einschränkungen geben, als solche, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen oder der öffentlichen Sicherheit
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notwendig sind«. Nimmt man den Geist dieser Konvention insgesamt, so bleiben die Vorgaben für die Konkretisierung naturgemäß vage (wohl um den Unterzeichnern breitere Spielräume für verschiedene Varianten der Realisierung zu eröffnen), jedoch lassen sich daraus doch – wie Karim Gise im »Expertenbericht zum UNÜbereinkommen über die Rechte des Kindes« 5 schrieb, »möglicherweise positive Handlungspflichten der Vertragsstaaten ableiten : dass nämlich zur Gewährleistung der Entfaltung der Persönlichkeit z.B. auch eine stärkere Interessenvertretung und intensivierte Formen der Partizipation von Kindern und Jugendlichen an den bestehenden Kommunikations- und Informationsprozessen sicherzustellen ist.«6 Das sind also für den österreichischen Kontext schon früh formulierte und interessante Aussagen. Neue Impulse brachte in dieser Frage dann der österreichische EU-Vorsitz in der zweiten Hälfte des Jahres 1998.7 Hatte doch Österreich für den Jugendbereich den Schwerpunkt »Partizipation« gewählt und versuchte, auf supranationaler und auch nationaler Ebene entsprechende Entwicklungen anzustoßen und auf den Weg zu bringen. Diese Bemühungen gipfelten dann in einer Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Jugendminister zur Mitbestimmung von jungen Menschen8, in der es zwar allgemein aber andererseits doch unmissverständlich u.a. hieß, man sehe »… in dem Bestreben der jungen Menschen nach vermehrter, aktiver Mitwirkung eine der zentralen Herausforderungen bei der Gestaltung der europäischen Gesellschaft«. Gleichermaßen erkennen die Minister »… die Bedeutung der aktiven Teilhabe junger Menschen an allen Belangen (Hervorhebung H.D.) der Gesellschaft, insbesondere an den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten an«.9 In Österreich wurde eine aus Vertretern der neun Landesjugendreferaten beschickte Arbeitsgruppe »Partizipation« eingerichtet und in der Folge haben sich dann in praktisch allen Bundesländern entsprechende regionale Arbeitsgruppen konstituiert. Deren Aktivitäten im Detail zu rekonstruieren ist hier nicht möglich. Generell ist aber festzuhalten, dass damit in Österreich das Thema »Partizipation von Jugendlichen« zumindest vorübergehend in der öffentlichen Debatte eine bisher noch nie gekannte Aufmerksamkeit erfahren hatte. Wählen mit 16 bzw. eine spürbare Senkung des Wahlalters galt als eine Option, die vor allem von SPÖ-nahen Stimmen und von den Grünen vertreten wurde, während vor allem in Ländern mit konservativen Mehrheiten demgegenüber unverbindlichere Formen der Partizipation favorisiert wurden, die auf konsultative Beteiligungsformen (z.B. Kinder- und Jugendbeiräte für Fragen, welche die Jugendlichen direkt betrafen) oder Modelle advokativer Einflussnahmen (z.B. Etablierung von Kinder- und Jugendbeauftragter) hinauslaufen sollten. Die Spannungen zwischen diesen Varianten sollten auch in den Jahren nach 2000 fortbestehen. Die Vertreter der beiden zuletzt genannten Zugänge versuchten damit zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen : Einerseits konnte man mit diesen
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selektiven Formen von »Jugend-Beteiligung« in meist zeitlich begrenztem Rahmen quasi Partizipation inszenieren, ohne den Betroffenen letztlich echte, d. h. gesetzlich garantierte direkte Einflussmöglichkeiten in die Hand zu geben. Die Möglichkeiten der Kontrolle dieser Prozesse blieben also intakt. Auf die Schwächen dieser Beteiligungsformen wurde im »Dritten Bericht zur Lage der Jugend in Österreich« verwiesen10, in dem argumentiert wurde, dass es auf diesem Weg (der »weichen« Beteiligungsformen) sehr schwer sein würde, den Interessen Jugendlicher auf Ebene der Gemeinden dauerhaft Gehör zu verschaffen, hätten sie doch dort kaum Ansprechpartner für Jugendanliegen, wegen der unterschiedlichen Sprachen gebe es Kommunikationsprobleme und Hierarchieunterschiede, kaum ausreichende Informationen und zudem mangle es an Sanktionsmöglichkeiten. Zwar würden eine Reihe von institutionellen Neuerungen versucht (wie z.B. Schaffung von Einrichtungen für offene Jugendarbeit ), viele interessante Initiativen und Projekte lösten sich aber nach einiger Zeit wieder auf. Solange daher – so Fiesinger/Stotz11 – »die Politik bemüht ist, die Strukturen der ›Stellvertreter-Politik‹ auszubauen, Entscheidungen an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbei durchgesetzt werden … so lange werden die Versuche, neue Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen, ins Leere laufen und letztendlich kontraproduktiv sein sowie zu noch mehr Politik- und Staatsverdrossenheit führen. Konsequent muss daher die Beteiligungsmöglichkeit von Kindern und Jugendlichen auf allen Ebenen unter Berücksichtigung schon bestehender Partizipationsstrukturen gefordert werden.« Das Thema Ausweitung von Partizipationsmöglichkeiten von Jugendlichen bzw. die Frage, ob Jugendliche zu politischem Urteil überhaupt schon fähig seien, spielten während der 9oer-Jahre auch in den sozialwissenschaftlichen und demokratiepolitischen Debatten der Bundesrepublik eine wichtige Rolle. Neben skeptischen Stimmen finden sich auch sehr entschiedene Befürworter wie etwa Klaus Hurrelmann, der eine Reihe von schlagenden Argumenten für eine drastische Senkung des Wahlalters anführt. Unter anderem verweist er auf das quantitativ gestörte Verhältnis zwischen den Generationen (»Wahlen werden künftig in den Altersheimen entschieden !«), auch würden heute die Jugendlichen vermehrt gefordert. Sie seien »heute in den meisten ihrer täglichen Lebensvollzüge wie Erwachsene aufgefordert, ihren eigenen Weg zu finden. Es gibt keinen stichhaltigen Grund, sie ausgerechnet von der politischen Beteiligung auszuschließen.« Auch zeige die kognitive Entwicklungsforschung, dass um das 14. Lebensjahr herum bei fast allen Jugendlichen »ein intellektueller Entwicklungsschub stattfindet, der sie dazu befähigt, abstrakt, hypothetisch und logisch zu denken. Parallel hierzu steigt in dieser Altersspanne auch die Fähigkeit an, sozial, ethisch und politisch zu denken und entsprechende Urteile abzugeben … Regeln und Werte können nach dem 14. Lebensjahr unabhängig von eigenen Interessenlagen wahrgenommen und umgesetzt … komplexe Zusammenhänge intellektuell verstanden werden.«12
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Insgesamt – so kann man resümierend festhalten – wurden also mit einer Senkung des Wahlalters drei Erwartungen verknüpft : 1. eine Erhöhung des politischen Interesses junger Menschen, 2. eine Verminderung der Politikverdrossenheit und schließlich 3. die Hoffnung, »… dass dadurch der Druck auf die Politik zunehmen würde, die Lebensbedingungen und Lebenschancen junger Menschen in unserer Gesellschaft zu verbessern«.13 In der Bundesrepublik Deutschland führten diese Debatten seit Mitte der 90erJahre dann in einer Reihe von Bundesländern tatsächlich zu entsprechenden gesetzlichen Veränderungen : Seit 1996 wurde nämlich in mehreren Bundesländern das Wahlrecht für die kommunale Ebene auf 16 Jahre gesenkt, und zwar in SchleswigHolstein, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Berlin, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Hessen (hier wurde die 1998 eingeführte Reform nach einem Mehrheitswechsel wieder zurückgenommen).14 Für die österreichische Diskussion war die von den Roten Falken Österreich herausgegebene und von Seifried Seyer und Günther Leeb verfasste Publikation »Senkung des Wahlalters – eine notwendige Diskussion. Expertise über die Situation in Österreich und Deutschland« (Linz 1998) wichtig. Hier wurden die damaligen Diskussionsstände in der Bundesrepublik und in Österreich zusammengefasst und die gängigen Argumente pro und kontra diskutiert und auch die Positionierung der Parteien und deren Jugendorganisationen in den einzelnen Bundesländern erhoben. Demnach setzten die Grünen am konsequentesten auf Wählen mit 16 auf allen Ebene ; für Wählen mit 16 zunächst auf kommunaler Ebene traten auch die meisten Landesorganisationen der SPÖ ein (zögerlich bzw. noch nicht entschieden Burgenland, Niederösterreich und wohl wegen der Angst, Stimmen an FPÖ und Grüne zu verlieren, auch Wien) ; auch bei der FPÖ findet sich für Wählen mit 16 in den Gemeinden durchgehende Zustimmung, während das überwiegende Nein der ÖVP-Landesorganisationen von entschiedenen Befürwortungen ihrer Jugendorganisationen (JVP) in Niederösterreich, Kärnten und Steiermark konterkariert wird.15 Nach Einschätzung der beiden Autoren wachse aber auch in Österreich insgesamt der Druck der Jugendorganisationen auf ihre Parteien »sehr dynamisch in Richtung Wahlaltersenkung … Ähnlich wie bei den Parteien herrscht in den Bundesorganisationen der Jugendverbände eine größere Skepsis vor als in den meisten einzelnen Ländern.«16
Wählen mit 16 in den Bundesländern Wie wir in groben Zügen zeigen konnten, war die Frage nach der Senkung des Wahlalters schon in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in Österreich zwar nicht gerade in aller, aber doch schon
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in vieler Munde. Im Zuge dieser Debatten konnten – bei aller Verschiedenheit der Argumente – zumindest zwei Grundforderungen mit relativ starker Zustimmung rechnen, nämlich : 1. die Frage der Partizipation und damit die erhoffte Integration der Jugendlichen sollte mit Nachdruck verfolgt und vertieft werden (strittig war dabei – wie gesagt – freilich die Form, Wählen mit 16 oder stattdessen andere, unverbindlichere Modelle der Jugendpartizipation) und 2. sollte – wenn schon – mit den ersten Reformschritten auf der Gemeindeebene begonnen werden. Hier – so die gängige Argumentation – könne so etwas wie »Betroffenheit« durch Politik erlebt werden, hier könnte man in relativer Nähe die politischen Entscheidungsregeln beobachten, nachvollziehen und verstehen, über diese Ebene wisse man am meisten, hier könnten auch eigene Interessen und die anderer identifiziert und benannt werden, hier könnte man am ehesten die inhaltlichen Konsequenzen von politischem Handeln beobachten und die Glaubwürdigkeit der politischen Akteure beurteilen. Die Gemeinde als Probierstube, als »Schule« für Demokratie also, so der Tenor dieses Argumentationsmusters ! Tatsächlich zeigen verschiedenste Untersuchungen, dass individuelle Partizipations-Erfahrungen (positiver oder negativer Natur) sehr früh in diesen Kontexten erlebt werden und dass sich zudem bei den Erwartungen Jugendlicher an die Politik sehr deutlich zwei Themenfelder unterscheiden lassen, nämlich konkrete Wünsche an die Gesellschaft, welche den jungen Menschen unmittelbar zugutekommen würden (z. B. »genügend Lehrstellen«, »Spiel- und Sportplätze«, »jüngere Lehrer« u. Ä.) und daneben weiter reichende generelle Erwartungen, die außerhalb des direkten Erfahrungsbereiches liegen (wie »Weltfriede«, »intakte Umwelt« usw.). Je jünger die Befragten, desto relativ wichtiger sind für sie lebensweltnahe politische Themen.17 So gesehen machte es durchaus Sinn, dass sich – ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland – auch in Österreich die ersten Schritte in Richtung Wahlaltersenkung auf die Ebene der Gemeinde bezogen haben. Den entsprechenden verfassungsrechtlichen Gestaltungsraum eröffnet Artikel 117/2 B-VG, wonach für das kommunale Wahlrecht »… die Bedingungen nicht enger gezogen sein (dürfen) als in der Wahlordnung zum Landtag …«, und im Artikel 95 B-VG, Abs. 2 heißt es : »Die Landtagswahlordnungen dürfen die Bedingungen des aktiven und passiven Wahlrechts nicht enger ziehen als die Bundesverfassung für Wahlen zum Nationalrat.« Mit anderen Worten : das Wahlalter kann auf Ebene der Gemeinden und der Länder (je nach politischen Präferenzen) auch ausgeweitet bzw. gesenkt werden. Dieser Gestaltungsspielraum wurde ab 2000 von einer Reihe von Landtagen genutzt (nämlich zwischen 2000 und 2002 von den »Pionieren« Kärnten, Steiermark, Burgenland und Wien) und wir wollen im Folgenden die Debatten in den einzelnen Landesparlamenten und die dort verwendeten Argumente etwas genauer unter die Lupe nehmen. Das Eis gebrochen hat in der Causa »Wählen mit 16« das Bundesland Kärnten bzw. das dortige Landesparlament mit einem entsprechenden Beschluss am 12. Juli
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2000. Das Thema war hier freilich schon knapp vier Jahre davor, nämlich am 3. Oktober 1996, auf der Tagesordnung gestanden. Die SPÖ-Fraktion hatte damals einen Dringlichkeitsantrag eingebracht, die Landesregierung bzw. der ressortzuständige SPÖ-Landesrat (zudem LHStv. und SPÖ-Landesparteiobmann) Dr. Ausserwinkler solle eine entsprechende Novelle der Gemeinderatswahlordnung und ein Paket mit Begleitmaßnahmen (das u.a. Maßnahmen zur verbesserten politischen Bildung zum Inhalt haben sollte) dem Landtag zur Beschlussfassung vorlegen.18 Klubobmann Ambrozy wollte diesen – für viele überraschenden – Vorstoß als »Botschaft des Kärntner Landtages … an die Jugend …« verstanden wissen, »dass wir sie einladen, mitzugestalten und Mitverantwortung für das Land zu tragen.«19 – Der sozialistische Politiker Ambrozy sah sich in dieser Frage aber schon seit mehreren Tagen in den Medien kritischen Kommentaren ausgesetzt, hatte er doch kurz zuvor (am 1. Oktober) in der Zeitung »Die Presse« noch eindringlich eine Reihe von schweren Bedenken gegenüber Wählen mit 16 formuliert und sich damit offen gegen die von seinem Parteiobmann Ausserwinkler schon mehrmals – und zuletzt am 23. September – formulierte Präferenz für diesen Reformschritt gestellt. – Der freiheitliche Klubobmann Strutz kommentierte diese offensichtlichen Divergenzen zwar genüsslich und sprach sich aber doch für die Zuerkennung der Dringlichkeit dieses Antrags aus, um damit ein »Signal an die Jugend« zu senden, dass es dem Landtag Ernst sei mit seinem Anliegen.20 Die FPÖ habe übrigens schon 1992 auf einem Bundesparteitag beschlossen, die politischen Gremien für die Jugend öffnen zu wollen und der kommunale Bereich sei »mit Sicherheit das wichtigste Gremium. Da nämlich, wo die unmittelbaren Lebensinteressen der Jugendlichen tangiert werden.«21 – Auch die Redner der ÖVP Slabatnig und Wutte hielten Ambrozy vor, dass er offenbar innerhalb kürzester Zeit vom Saulus zum Paulus geworden sei. Habe er doch in dem Presse-Artikel durch Wählen mit 16 die Einheitlichkeit des Landes- und Bundeswahlrechts gefährdet gesehen sowie die drohende Verpolitisierung der Schulen (wenn in diese die Wahlkämpfe hineingetragen würden), auch drohten Konsequenzen für das Jugendschutzgesetz usw. Die ÖVP sprach sich aber gegen die Dringlichkeit aus und bezweifelte, ob die Jugend überhaupt das Wahlrecht wolle. Meinungsumfragen zeigten das Gegenteil. Zwar wolle die Jugend deutlich mehr Mitsprache, aber durch die Herabsetzung des Wahlalters sei »das Problem der Mitsprache der jungen Menschen nicht gelöst …«22 Die ÖVP plädierte daher für eine gründliche Erörterung dieser Problematik im zuständigen Rechtsausschuss. Sie sei für echte Partizipation, »aber echte Partizipation heißt Mitwirkung und nicht nur Stimmenkauf. Dafür ist uns die Kärntner Jugend wirklich zu schade. Und wer nur auf die Stimmen der Jugendlichen schielt, ohne ihnen echte Mitsprache zu geben … der verschaukelt die Kärntner Jugend.«23 – Trotz dieser massiven Einwände bekam dieser Antrag mit den Stimmen von SPÖ und FPÖ die für die Dringlichkeit notwendige Zweidrittelmehrheit. Diese dringende Aufforderung an die Regierung und insbesondere den zuständigen Landesrat blieb freilich
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ohne Folgen. Die Initiative blieb offenbar stecken. Dr. Ausserwinkler war offenbar seiner Zeit voraus gewesen. Mitte des Jahres 2000 kam es zu einem neuerlichen Anlauf. In der Landtagssitzung vom 12. Juli gab es zunächst wieder das schon bekannte Spiel – diesmal seitens der Freiheitlichen –, der im zuständigen Ausschuss ohnehin schon in Beratung stehenden Causa »Wählen mit 16« durch Zuerkennung der Dringlichkeit besondere mediale Aufmerksamkeit zu verschaffen und sich selber ins beste Licht zu setzen. »Wir sind der Meinung« – so der Klubobmann der FPÖ Strutz –, »mehr Mitspracherecht auf allen politischen Ebenen, aber vor allem im kommunalen Bereich sollte daher Gebot der Stunde sein.« Die diesbezüglichen Erfahrungen in einigen deutschen Bundesländern seien positiv und auch Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention fordere vermehrte Mitspracherechte für Jugendliche.24 – SPÖ und ÖVP bevorzugten aber den üblichen und – wie sie meinten – seriöseren Weg der Vorberatung im zuständigen Ausschuss und lehnten daher die Dringlichkeit ab. Die ÖVP ließ zudem auch massive Bedenken in der Sache selbst durchklingen.25 Bereits in der nächsten Sitzung (28. September) kam dann im Landtag der im Rechtsausschuss einstimmig beschlossene Antrag, für Kommunalwahlen das aktive Wahlalter auf 16 Jahre zu senken, zur Abstimmung. Im Folgenden einige pointierte Argumente und Aussagen aus der Plenardebatte26 : Kärnten habe damit »wieder einmal die Nase vorne«. Es gehe darum, »auch Druck auf die politisch Verantwortlichen auszuüben, jugendrelevante Themen … stärker aufzugreifen« (Strutz/FPÖ). – Die Erwachsenen sollten sich davor hüten, vorschnelle Urteile über die angebliche Unreife der Jugendlichen zu fällen. Freilich sollte unterstützend vermehrtes Augenmerk auf politische Bildung gelegt werden (Wulz/SPÖ). – Die ÖVP wiederum gab sich »nicht ganz so euphorisch« wie die beiden anderen Parteien. Sie habe darauf bestanden, dass nach der Wahlaltersenkung noch ein Demokratiepaket mit einer Reihe weiterer Mitwirkungsmöglichkeiten ausgearbeitet und verabschiedet werde. Unter dieser Bedingung trete man – obzwar mit »durchaus gemischten Erwartungshaltungen« – diesem Kompromiss bei (Wutte/ÖVP). – Zuletzt wurde noch betont, dass der Kärntner Gemeindebund (d.i. der Zusammenschluss aller Bürgermeister) diesen Schritt ausdrücklich begrüße. Zwar dürften in der Bevölkerung in der Frage Wahlaltersenkung die Vorbehalte noch überwiegen, doch werde dadurch eine Dynamik angestoßen, die sich für die Gemeinden und die Gesellschaft insgesamt positiv auswirken werde (Schwager/FPÖ). – Der Antrag »Wählen mit 16« wurde schließlich einstimmig beschlossen. Ebenso einstimmig wurden von der Landesregierung Vorschläge eingefordert, welche die politische Bildung verstärken und insbesondere die demokratischen Mitgestaltungsmöglichkeiten Jugendlicher in den Gemeinden ausweiten sollten : Jugendgemeinderäte in allen Gemeinden mit echten Mitwirkungsmöglichkeiten, Jugendvolksbefragungen, Einrichtung von Jugendausschüssen in den Gemeinderäten usw. 27
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Auch im steirischen Landtag fand sich in der Sitzung am 3. Juli 2001 eine breite Befürwortung für Wählen mit 16 auf Gemeindeebene.28 SPÖ und Grüne wollten gleich eine generelle (d.h. auch für Landtagswahlen gültige) Absenkung, sie setzten sich aber damit gegenüber ÖVP und FPÖ nicht durch. Ein Sprecher der ÖVP sprach trotzdem von einem »historischen Beschluss«, der weitere Dynamiken in Gang setzen werde von einer »Frischzellenkur für die Demokratie«, die beweise, »dass wir die Partizipation junger Menschen und so etwas wie einen intergenerativen Interessenausgleich sehr ernst nehmen« und übrigens habe sich Landeshauptmann Waltraud Klasnic schon im Februar 1998 für Wählen mit 16 in den Gemeinden ausgesprochen. Die Gemeindeebene eigne sich ja für diesen Versuch sehr gut, »weil eben einerseits die direkte Betroffenheit, aber auch das Interesse für Entscheidungsvorgänge« hier am größten sei (Drexler/ÖVP).29 – Auch die Grünen gaben sich erfreut, auch wenn sie die Landtagswahlen in die Neuregelung gleich mit einbeziehen wollten. Entschieden verteidigten sie ihre Vorreiterrolle in dieser Frage. Hätten sie doch schon in den Jahren 1997 und 1998 entsprechende Anträge im Landtag eingebracht, sie seien damit aber an der ablehnenden Haltung der anderen Parteien gescheitert (Lechner-Sonneck/Grüne).30 – Die FPÖ stellte wiederum in Aussicht, man könnte ja – sollte sich das gesenkte Wahlalter bewähren – dieses auch auf Landtagswahlen ausdehnen (Lafer/FPÖ).31 – Der Antrag wurde schließlich – trotz kritischer Einwendungen und weiter reichender Wünsche seitens SPÖ und Grünen (nur ein »halber Schritt … keine Ernsthaftigkeit«) einstimmig angenommen. Alle Redner mahnten zudem entsprechende flankierende und unterstützende Initiativen im Bereich politischer Bildung ein, ohne jedoch konkrete Wünsche zu formulieren oder entsprechende Anträge zu stellen. Von großer Einhelligkeit und Harmonie waren auch am 18. 4. 2002 die Debatten um Wählen mit 16 auch im Burgenländischen Landtag geprägt.32 Auch hier wurde über einen Vierparteienantrag abgestimmt und auch hier kam es zu einem rhetorischen Geplänkel darüber, wer denn nun dieses Thema zuerst aufs Tapet gebracht habe : Die FPÖ nahm für sich in Anspruch, diese Forderung schon »vor Jahren und seit Jahren« aufgestellt und verfolgt zu haben,33 die SPÖ verwies auf eine entsprechende Kampagne der Kinderfreunde 199834 und die ÖVP erinnerte an Aktivitäten ihres damals für Jugendfragen zuständigen Landesrates Gerhard Jellasitz im Jahre 1998.35 Zwar sei gegenwärtig – so Margarethe Krojer von den Grünen – nur eine Minderheit der Bevölkerung und auch der Jugendlichen für eine Wahlaltersenkung, trotzdem sei dieser Anlauf sehr zu begrüßen. Jugendliche hielten zwar »Distanz zu den eingefahrenen Ritualen und Abläufen in den Parteien und in den Vereinen«, das gesenkte Wahlalter könnte aber neues Interesse hervorrufen und auch das Interesse der PolitikerInnen an der Jugend verstärken. Auch sollten unbedingt alle Möglichkeiten zur Forcierung der politischen Bildung genützt werden.36 – Auch andere Redner mahnten zusätzliche Maßnahmen zur politischen Bildung und zu vermehr-
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ter Information ein, es wurden aber keine konkreten Beschlüsse verabschiedet. Der Abgeordnete Lentsch (ÖVP) ließ anklingen, dass es in seiner Partei intern längere Debatten gegeben habe (»… wiewohl wir auch bei uns in den Reihen lange diskutiert haben und es einige kritischer gesehen haben«37), schließlich sei aber der für alle tragbare Kompromiss zustande gekommen, weil man davon Abstand nahm, auch das passive Wahlrecht – wie teilweise gewünscht – auf 16 zu senken. – Die Jugendlichen – so Abg. Gossy (SPÖ) – sei heute schon mit den verschiedensten Entscheidungssituationen konfrontiert (sie dürften gar schon den »Pilotenschein« machen), sodass es nur konsequent wäre, das kommunale Wahlrecht auf 16 zu senken.38 – Diese Novelle zur Gemeindewahlordnung 2002 wurde schließlich einstimmig angenommen. In Wien schließlich stand die Debatte am 13. 12. 2002 um die im sog. »Wiener Demokratiepaket« enthaltene Senkung des Wahlalters für die Gemeindeebene (in Wien gleichzeitig auch Landtagsebene) im Schatten der mit wesentlich mehr Emotionen behafteten Auseinandersetzungen um das »Kommunale Wahlrecht für Zuwanderer«.39 Vorbehaltlos begrüßt wurde die Wahlaltersenkung von der Grünen Vassilakou, und zwar mit »großer Freude«. Das sei »einerseits ein Stück tatkräftiger (sic !) Respekt der Wiener Politik gegenüber der eigenen Jugend, andererseits aber auch die Erfüllung der langjährigen Forderung von jungen Menschen in dieser Stadt, endlich auch in Wien wählen zu können, wie dies sehr wohl in anderen Ländern der Fall ist«.40 Sie forderte aber flankierend vermehrte politische Bildung und sie warnt davor – wie andere RednerInnen auch – den Wahlkampf in die Schulen zu tragen. – Die Freiheitlichen stimmten dem Vorschlag unter Verweis auf die Vorreiterrolle des freiheitlich geführten Kärntens ebenfalls zu. Für Wählen mit 16 war natürlich auch die SPÖ, die als treibende Kraft hinter dem ganzen »Demokratiepaket« stand. Ihre Sprecher polemisierten in dieser Frage vor allem gegen die sich ablehnend verhaltende ÖVP. Deren Argumente : Wählen mit 16 werde auch von der Mehrheit der Jugendlichen nicht vordringlich gewünscht – wie Umfragen beweisen würden –, auch wiesen Jugendpsychologen darauf hin, »wie wichtig diese Phase des Jugendlichseins, diese Phase der Entwicklung« sei und »dass man den Jugendlichen diese wichtige Entwicklungsphase nicht ohne Weiteres und ohne ausführliche Debatte und Diskussion nehmen soll«. Zudem werde damit fast zwangsläufig der Wahlkampf in die Schulen getragen und der Abg. Ulmer nannte konkrete Beispiele, welche seine diesbezüglichen Befürchtungen beweisen sollten.41 In dasselbe Horn stieß auch der Abg. Pfeiffer (ÖVP), nach dessen Meinung man die Jugendlichen erst zur politischen Reife heranführen solle »und nicht zu Auseinandersetzungen in einem Bereich, wo sie noch gar nicht dafür tatsächlich die Argumentationsfähigkeit, die Reife und das Wissen haben können«.42 Von dieser ablehnenden Position rückte die VP auch dann nicht ab, als man sie mit Zeitungsartikeln konfrontierte, in denen die ÖVP- Burgenland die Zustimmung zur Wahlaltersenkung positiv begründet hatte und wo bei den eben abgelaufenen Gemeinderatswahlen an die 85 % der Jugendlichen zur Wahl ge-
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gangen waren.43 – Für Stadträtin Renate Brauner (SPÖ) war Wählen mit 16 »kein Gnadenakt«, sondern es liege im allgemeinen Interesse. Auch versprach sie zusätzliche Information und Aufklärung. – Schließlich stimmten SPÖ, FPÖ und Grüne für den Antrag.
Erfahrungen Um das Jahr 2005 herum konnte man dann schon auf erste Erfahrungen mit dem abgesenkten Wahlalter bei Kommunalwahlen zurückblicken. Diese wurden teilweise als derart positiv eingeschätzt, dass etwa zusätzlich zu Wien auch im Burgenland und in Salzburg Wählen mit 16 bei Landtagswahlen ermöglicht werden sollte. So bot sich um 2005 herum hinsichtlich des Wahlalters in den Bundesländern ein recht buntes Bild : Weiterhin auf Wählen mit 18 beharrten die Bundesländer bzw. Mehrheiten in den Landtagen in Vorarlberg, Tirol, Niederösterreich und Oberösterreich (alle ÖVP dominiert), Kärnten und die Steiermark, Wählen mit 16 auf Gemeindeebene und Wählen mit 16 auch auf Landesebene eben in Wien, Burgenland und Salzburg.44 Bis 2005 waren in den einzelnen Bundesländern kaum tiefer reichende Nachwahluntersuchungen durchgeführt worden. Diese scheiterten oft an den Kosten, aber auch an methodischen Problemen mit den kleinen Stichproben (machte doch diese Gruppe der 16- bis 18-jährigen meist nur ca. 2 Prozent der Wählerschaft aus). Immerhin liegen einige Zahlen vor, die eine gewisse Beurteilung möglich machen und für das Bundesland Wien wurde zudem eine gründliche und hoch interessante Nachwahlanalyse für die Wahl 2005 erstellt.45 Das Hauptinteresse bei den ersten Wahlgängen, bei denen die 16- bis 18-Jährigen erstmals wählen durften, bezog sich auf die Frage, ob denn die jungen Leute überhaupt zur Wahl gehen würden. Zur Erleichterung aller Befürworter stellte sich bald heraus, dass die Wahlbeteiligung dieser Gruppe dem des Bevölkerungsschnitts ähnlich war. So lag etwa die Wahlbeteiligung der unter 18-jährigen bei der Gemeinderatswahl in Graz 2003 deutlich über der Altersgruppe der 18- bis 30-jährigen und mit 57 % über der allgemeinen Wahlbeteiligung.46 – Bei den Gemeinderatswahlen 2002 im Burgenland haben sich ca. 80 % der jugendlichen Wahlberechtigten beteiligt (das war nur um 5,6 % niedriger als die allgemeine Beteiligungsrate). Als Gründe für dieses positive Ergebnis wurden die breite öffentliche Diskussion in den Medien, die umfassende Information für die 16- bis 18-jährigen sowie die gesetzlich vorgesehene vorherige Verteilung von amtlichen Musterstimmzetteln angegeben.47 – Bei den burgenländischen Landtagswahlen im Jahr 2005 haben ca. drei Viertel der Jugendlichen an der Wahl Teil genommen.48 Schon vorhin haben wir darauf verwiesen, dass die Parteien trotz aller demokratiepolitischer Argumente vor allem daran interessiert waren und sind, welche vom
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Wahlverhalten dieses neuen Wählersegments am ehesten profitieren könne. Die erste umfassende Nachwahlanalyse wurde – wie erwähnt – 2005 nach den Wiener Landtagswahlen erstellt. Sie gab auch erstmals detaillierte Auskunft über die Parteipräferenzen der ErstwählerInnen : So lag die Wahlbeteiligung mit 59 % nahe beim allgemeinen Durchschnitt (61 %).49 Die SPÖ war bei den 16- bis 18-jährigen die stärkste Partei – ähnlich stark wie in der Gesamtwählerschaft –, während die Grünen mit einem Viertel aller Jugendstimmen signifikant besser als beim Rest der Wiener Wahlbevölkerung abschnitten (14,7 %), ÖVP und FPÖ lagen darunter. – Bei den allgemeinen Wahlmotiven wurden die Möglichkeit, mitzubestimmen, und das Wahlrecht an erster und wichtigster Stelle genannt50 und als hauptsächlich motivierendes Thema wurden Probleme der Integrationspolitik hervorgehoben. – Sehr deutlich wurde auch die – schon in ähnlichen Untersuchungen immer wieder betonte – große Distanz zu den Institutionen der repräsentativen Demokratie deutlich. »Der Begriff Politik wird mit Parteien, Institutionen und Politikern gleichgesetzt und kaum in Verbindung zum eigenen politischen Verhalten bzw. der Mitbestimmung im persönlichen Lebensumfeld gesetzt.«51 Starke positive Auswirkungen für die Motivation, zur Wahl zu gehen, hatten schließlich die verschiedenen laut Umfrage sehr wirkungsvollen, weil die meisten Jugendlichen erreichenden Informationskampagnen wie : »Ganz Wien geht wählen« (Stadt Wien, MA 62), »Ich wähle« (Landesjugendreferat) und die Wahlinformationen in den Schulen.52
Wählen mit 16 auf Bundesebene So war also Wählen mit 16 – sei es nun auf Gemeinde- oder auch auf Landesebene – in zumindest fünf Bundesländern sozusagen Teil der politischen Normalität geworden. Seit 2002/2003 hatte es nun immer wieder Vorstöße gegeben, Wählen mit 16 auf allen Ebenen möglich zu machen. Dafür sprachen sich SPÖ und Grüne bzw. ihnen nahestehende Jugendorganisationen aus. So schlug z. B. der Vorsitzende der Sozialistischen Jugend im September 2003 schon eine bundesweite Wahlaltersenkung vor (»Jugendliche können ab 16 arbeiten, also sollen sie auch wählen dürfen … Erst durch die Wahlaltersenkung wird die Politik sich auch stärker den Belangen junger Menschen widmen.«53). Auch wurden im Nationalrat immer wieder diesbezügliche Anträge eingebracht (z. B. am 30. 10. 2006 von den Grünen), jedoch ohne Erfolg. Die Grünen hatten diese Forderung seit 2001 auch in ihrem Grundsatzprogramm. In der Begründung zum erwähnten Antrag vom Oktober 2006 sprach man u.a. von der gestörten Balance zwischen der jungen Generation und der Gruppe der über 60-jährigen. Dies habe nämlich die fatale Konsequenz, »dass sich Parteien zunehmend um die Verbesserung der Situation der älteren WählerInnen bemühen und
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langfristige Verbesserungen für die Jugend auf der Strecke bleiben«.54 – Spätestens seit Beginn des Jahres 2002 zementierten sich ÖVP und SPÖ in Wahlrechtsreformfragen sozusagen ein : Die SPÖ drängte immer wieder auf die Senkung des Wahlalters, während die ÖVP dagegen einwandte, die Jugend sei dazu noch nicht reif, die überwältigende Mehrheit der ÖsterreicherInnen und auch eine deutliche Mehrheit der 16- bis 18-Jährigen sei dagegen und zudem müsse vorher – was viel wichtiger sei – die Briefwahl eingeführt werden, wogegen sich wiederum die SPÖ vehement verwahrte.55 Diese mit den immer gleichen und immer weniger überzeugend klingenden Argumenten aufrechterhaltene Pattsituation hielt über Jahre. Im Frühjahr 2007 löste dann die eben erst ins Amt gekommene neue Koalitionsregierung plötzlich und ohne vorhergehende ausführlichere Debatten die bisherigen Blockaden und schnürte – wie teilweise schon im Regierungsübereinkommen angekündigt – ein Bündel, bestehend aus Briefwahl, Wählen mit 16 und Verlängerung der Legislaturperioden auf fünf Jahre,56 und bereits im Juni des gleichen Jahres wurde dieses – vor allem wegen der Verlängerung der Legislaturperiode von der Opposition heftig kritisierte – »Demokratiepaket« im Nationalrat ausführlich diskutiert und auch mit den erforderlichen Mehrheiten in Kraft gesetzt. Dem Wählen mit 16 stimmten dabei alle Fraktionen zu. Die ausführliche Debatte im Parlament, an der sich über 30 RednerInnen beteiligten, brachte in puncto Wahlalter kaum neue inhaltliche Argumente.57 Fast ein wenig lächerlich der auch hier wieder beobachtbare »positive Vaterschaftsstreit« darüber, wer diese Forderung zuerst erhoben habe : die Grünen verwiesen auf ihre schon 1992 beginnende »hartnäckige Arbeit über viele Jahre, in denen die Grünen immer wieder Anträge zur Wahlaltersenkung eingebracht hatten, die aber abgelehnt worden sind«.58 – Strache (FPÖ) sprach von einer »ur-freiheitlichen Forderung« und zuletzt habe man 1999 zwei diesbezügliche Anträge gestellt.59 – Der steirische Abgeordnete Thomas Einwallner führte ins Treffen, dass die Junge ÖVP Steiermark auch schon 1992 auf einer Landeskonferenz Wählen mit 16 gefordert habe,60 und den Vogel schoss schließlich die junge sozialistische Abg. Laura Rudas ab, die dem leicht belustigt lauschenden Plenum eröffnete, dass die Sozialistische Jugend unter ihrem damaligen Bundesvorsitzenden und gegenwärtigen Bundeskanzler Alfred Gusenbauer schon in den Achtzigerjahren die Wahlaltersenkung gefordert habe !61 – Abgesehen von diesem Wettbieten fanden sich aber doch zahlreiche nachdenkliche Zwischentöne und Hinweise auf die noch geringe allgemeine Akzeptanz für Wählen mit 16 und den einhelligen Wunsch, dass man die Jungwähler intensiv animieren und informieren und vor allem durch eine intensivierte politische Bildung aufklären und motivieren sollte, bzw. wurden entsprechende Aufforderungen und Wünsche vor allem an die Unterrichtsministerin, aber auch an den Wissenschaftsminister adressiert. Tatsächlich liefen schon parallel zum parlamentarischen Entscheidungsprozess und den damit einhergehenden und vielfach von Vorbehalten und Geringschätzung
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geprägten Medienberichten im Unterrichtsministerium (teilweise arbeitsteilig mit dem Wissenschaftsministerium) entsprechende Aktivitäten. Insbesondere das von allen politischen Richtungen ausgehende sehnsüchtige Seufzen nach mehr politischer Bildung sollte den noch immer vorhandenen kritischen Einwänden und Befürchtungen sozusagen die Spitze nehmen. Die Basis dafür lieferte die von den beiden Ministerien in Auftrag gegebene Pilotstudie »Jugend und Politische Bildung«62, die Anfang Mai – also noch vor der Verabschiedung der Wahlaltersenkung durch den Nationalrat (5. Juni) – der Öffentlichkeit präsentiert worden ist. Ein Großteil dieser Umfragedaten waren einerseits geeignet, Wählen mit 16 bzw. vielfältige daraus resultierende Ängste zu entdramatisieren, und sie dienten gleichzeitig dazu, die insbesondere seitens des Unterrichtsministeriums geplante Offensive für mehr politische Bildung zu legitimieren. Die Studie versuchte zu beweisen, dass sich die politische Einstellung Jugendlicher vielfach nur wenig von denen der Erwachsenen unterschieden (z.B. 20 % an Politik »sehr interessiert«, 68 % »etwas politisch interessiert«63) ; 69 % – also mehr als zwei Drittel – gaben an, mit der österreichischen Demokratie »sehr zufrieden« oder »etwas zufrieden« zu sein (ganz ähnlich wie die Umfragedaten bei Erwachsenen)64 ; 62 % beklagten, dass sich ihrer Meinung nach die PolitikerInnen zu wenig um die Meinung junger Menschen kümmern würden und eine Zweidrittelmehrheit meinte, dass für die politische Bildung zu wenig getan werde,65 und sie akzeptierten in dieser Hinsicht eine starke Rolle der Schule bzw. 71 % wünschen für SchülerInnen ab 14 Jahre ein eigenes Fach Politische Bildung.66 Schule und auch Universität werden also als neutrale Orte der Politik- und Demokratievermittlung anerkannt. – Das Wählen mit 16 befürworteten nur 41 % der befragten 14- bis 24Jährigen, wobei allerdings die Zustimmung unter den unmittelbar betroffenen 14bis 18-Jährigen höher lag (bei 50 %).67 Diese Studie wurde dann Anfang Mai (8.) von den Ministern Claudia Schmied und Johannes Hahn gemeinsam der Öffentlichkeit präsentiert. Die Untersuchung zeige – so der Tenor – dass mehr politische Bildung nicht nur nötig, sondern auch gewünscht werde, und sie versprachen, sich gemeinsam um eine Konkretisierung bemühen zu wollen. »Politik braucht die Mitwirkung junger Menschen. Das Wahlalter zu senken ist ein erster Schritt. Aber damit ist es noch lange nicht getan.«68 Tatsächlich wurden in den folgenden Monaten eine Reihe interessanter Initiativen begonnen, deren Verlauf wir hier im Detail zwar nur skizzieren können, deren Vielfalt jedoch beeindruckend ist : So wurde nach einem in den Ministerien gemeinsam mit Experten durchgeführten »Demokratie-Dialog« am 13. November 2007 die »Demokratie-Initiative der österreichischen Bundesregierung ›Entscheidend bist DU‹« von den beiden ressortzuständigen Ministern präsentiert und offiziell gestartet.69 Auf einer interaktiven Online-Plattform (www.entscheidend-bist-du.at) wurden die verschiedensten Materialien, Zugänge und Themen im Bereich der politischen Bildung allgemein bzw. in Richtung politischer Partizipation aufbereitet und
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zu interaktiven Modellen angeregt und später in einem eigenen Informationserlass zusammengefasst.70 Gelungen ist es auch, politische Bildung in der Sekundarstufe 1 zu etablieren : Mit Schulbeginn 2008/2009 wurde für die 8. Schulstufe der Gegenstand »Geschichte und Politische Bildung« geschaffen und an der Universität Wien konnte eine neu eingerichtete Professur für »Didaktik der Politischen Bildung« kompetent besetzt werden. Materialien entwickelt und Möglichkeiten zur interaktiven Kommunikation geboten wurde z.B. in den folgenden Themenfeldern : »Starke Demokratie braucht mündige BürgerInnen«, »Netzwerk Demokratie«, »Innovation Demokratie«, »Vermittlung in der Schule – LehrerInnenbildung«, »Demokratie-Kunst-Kultur« und »Demokratie-Wissenschaft«.71 – Die überraschend auf den 28. September 2008 vorgezogenen Nationalratswahlen haben dieses auf mehrere Jahre angelegte Konzept vorübergehend etwas irritiert, andererseits aber in seiner Aktualität aufgewertet. Grundsätzlich sind die eben genannten Zugänge und Themen ja quasi auf »Dauernutzung« angelegt bzw. wäre es zu hoffen, dass sie wie selbstverständlich Teil der politisch bildnerischen Schulwirklichkeit werden. Ende September 2008 wurde also erstmals Wählen mit 16 bei einer Nationalratswahl Realität. Groß war die Spannung bei den wahlwerbenden Parteien, wie ihr personelles und inhaltliches Angebot bei den ca. 180.000 16- bsi 18-jährigen Erstwählern ankommen würde, d. h., ob diese überhaupt zur Wahl gehen, ob sie sich etwa aus Protestmotiven heraus für extreme Positionen entscheiden, welche Parteien sie bevorzugen usw. Eine erst jüngst (Mitte Mai 2009) publizierte und von SORA und dem Institut für Strategieanalyse (ISA) erarbeitete Nachwahlanalyse versuchte derartige Fragen zu beantworten :72 Demnach war die Wahlbeteiligung der 16- bis 18-Jährigen ähnlich hoch wie die der Gesamtbevölkerung. Zur Wahl zu gehen »wird als Recht, nicht als Pflicht verstanden. Kritische Ansichten gibt es bezüglich des Stellenwerts der Wahl an sich.«73 Für »sehr wichtige« Themen im Wahlkampf hielten 76 % ›Ausbildung für die Jugend‹, 67 % ›Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit‹, 67 % ›Gleichberechtigung‹ und 65 % ›Armut‹. Die Distanz zu PolitikerInnen und Parteien ist nach wie vor erheblich (relativ am meisten wird demnach der Arbeiterkammer und den Landesregierungen vertraut, deutlich am wenigsten den politischen Parteien und den PolitikerInnen), trotzdem kann man laut dieser Untersuchung nicht von einem generellen »Rechtsruck« der Jung- und ErstwählerInnen sprechen : rechnet sich doch ca. die Hälfte selbst der politischen Mitte zu, die übrigen Anteile rechts und links halten sich in etwa die Waage. Bei der NRW war freilich bei den Lehrlingen die FPÖ mit 25 % am stärksten vertreten, während die SPÖ sogar in dieser Kategorie mit 14 % nur auf den dritten Platz kam (hinter der ÖVP mit 20 %). Von den 16- bis 18-Jährigen insgesamt gaben 22 % der ÖVP ihre Stimme (Gesamtanteil 26 %), 18 % der FPÖ (gesamt 17,5 %), 14 % den Grünen (gesamt 10,4 %) und
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nur 12 % ( !) der SPÖ (gesamt mit 29,3 % relativ stärkste Partei !). Das BZÖ kam auf 6 % (gesamt 10,7) österreichweit, in Kärnten jedoch auf 27 % ! Schmerzlich auch für die in Wien erfolgsverwöhnte SPÖ die Ergebnisse in der Bundeshauptstadt : mit 20 % belegte sie bei den Jungwählern nur Rang drei, hinter der FPÖ (24 %) und den Grünen (22 %). Die ÖVP kam hier laut der genannten Nachwahluntersuchung nur auf 7 %, während sie z. B. in Salzburg (35 %), Tirol (31 %) und Niederösterreich (28 %) bei den Jungwählern wesentlich besser abschnitt. Die Grünen hatten nach Wien ihr zweitbestes Ergebnis in Vorarlberg (20 %). Nach wie vor wird der Schule eine wichtige Rolle für politische Wissensvermittlung zugerechnet. Nach Aussage der Studienautoren »ist die Schule ein wichtiger Ankerpunkt in der individuellen Auseinandersetzung mit Politik«. Die Jugendlichen wollen auch mehr über Parteien und deren Programme erfahren und »… weisen diese Kompetenz der Schule zu, weil sie die Schule als den Ort der Vermittlung von objektiven Informationen wahrnehmen. Diskussionen in der Schule sind statistisch relevant für die Teilnahme an einer Wahl.«
Resümee • Das Experiment »Wählen mit 16« auf Ebene der Gemeinden zu starten war zweifelsohne klug. Hier konnten eine Reihe von Einwänden wie mangelndes Problembewusstsein und Wissen, mangelnder Durchblick der Entscheidungsabläufe und schwer identifizierbare Interessenlagen noch am plausibelsten relativiert oder entkräftet und in positive Argumentation umgewandelt werden. Dieses in den Landtagen beobachtbare Argumentieren findet aber bei den weiteren Schritten – dem teilweise gestatteten Wählen auf Länder- und dann auf Bundesebene – keine substanzielle Vertiefung. Es gab also kaum Ansätze, die Erfahrungen systematisch zu evaluieren (mit Ausnahme der Nachwahluntersuchung in Wien 2005) und die Argumentation für die weiteren Schritte der Wahlaltersenkung zu adaptieren. Immerhin unterscheiden sich die Politikprozesse auf Gemeinde-, Landes- und Bundesebene erheblich. Das Niveau der diesbezüglichen Debattenbeiträge in Landtagen und Nationalrat war durchwegs bescheiden und von normativen Appellen und Eigenlob dominiert. • Wie bei der Debatte um Wählen mit 16 die Anteile von demokratiepolitischem Altruismus und parteipolitischem Egoismus bei den einzelnen Akteuren genau verteilt waren, können wir nicht beurteilen.74 Sehr stark dürfte aber die Parteien doch die Hoffnung bewegt haben, mit diesem Schritt die Inklusion, das Verringern der Distanz zwischen Jugend und politischem System und dessen Akteuren und Regeln zu erreichen. Wiesen und weisen doch diverse Untersuchungen immer wieder dramatisch darauf hin, wie gering das Vertrauen und die Wertschätzung
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demokratischer Institutionen insbesondere bei jüngeren WählerInnen ausgeprägt ist. Wählen mit 16 sollte also – so die bei den Parteien weit verbreitete Hoffnung – die politische Legitimationsbasis verbreitern. • Als eine Art positiver und in seiner quantitativen und qualitativen Bedeutung hoch zu schätzender »Nebeneffekt« der öffentlichen Debatte um die Senkung des Wahlalters ist das durch alle Parteien gehende klare Bekenntnis zu forcierter politischer Bildung (insbesondere in der Schule) zu bezeichnen. Zwar wird auch – insbesondere von Parteien in der Opposition – immer wieder vor Politik und Wahlkampf in den Schulen gewarnt, trotzdem werden durchwegs große, ja vielfach überzogene Erwartungen auf die Aufklärungs- und Informationsschiene projiziert. Politische Bildung hat damit ein in Österreich noch nie gekanntes Maß an öffentlicher Akzeptanz erfahren75 und seit dem couragierten Schritt von Frau BM Elisabeth Gehrer 2001 (Verankerung von Politischer Bildung in den 7. und 8. Klassen der AHS) wurden noch nie derart fundierte und vielfältige Initiativen und Programme angeregt und angestoßen wie seit dem Frühjahr 2007 (nun wesentlich von den BM für Unterricht und Wissenschaft). Darüber hinaus haben aber schon früher verschiedene Bundesländer über ihre Jugendreferate entsprechende Informationskampagnen für Jungwähler gestartet (Musterbeispiel Wien 2005) und Umfragen zeigen, dass derartige öffentliche Aufklärungsbemühungen unbedingt notwendig sind, um das Problembewusstsein bei den Erstwählern zu wecken und damit das Maß an Wahlbeteiligung zu heben. Diese spezifische Form von Informations- und Sozialisationsleistung muss daher das politische System unbedingt immer wieder anbieten ! • Es wäre naiv, anzunehmen, dass durch Wählen mit 16 alle Probleme der politischen Entfremdung wie Desinteresse, Institutionenkritik, Uninformiertheit, Ohnmachtgefühle u. Ä. beseitigt werden könnten. Vielmehr müssen in Familie, Schule, Berufsausbildung weitere effektive Beteiligungsmöglichkeiten geboten und auch praktiziert werden. Mit anderen Worten : das Wahlrecht muss unbedingt in verschiedene andere lebendige Beteiligungsformen eingebettet sein. Es ist also »nur ein – wenn auch sehr wichtiger – Bestandteil der Intensivierung der Partizipation«.76 Zudem gilt, dass im Falle des Ausschlusses der Jugendlichen von der aktiven Partizipation wie dem Wahlrecht, sich »die politischen Akteure in Parteien, Parlament und Regierungen nicht verpflichtet (fühlen), diesen Teil der Bevölkerung zu repräsentieren«.77 Mit logischen empirischen Argumenten lässt sich Wählen mit 16 freilich letztlich nicht zwingend »beweisen« oder herbeiargumentieren. Finden sich doch neben zahlreichen Pro- auch bedenkenswerte Gegenargumente. Wir meinen aber, dass die Argumente bei Weitem überwiegen, das Wahlalter zu senken (unter den erwähnten Bedingungen), und dass allein schon die dadurch ausgelösten Ini-
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tiativen im Bereich der politischen Bildung positiv zu Buche schlagen. Praktische und taktische Überlegungen hin oder her : im Sinne einer normativen Demokratietheorie gehören formale Mitbestimmungsmöglichkeiten zu den substanziellen Instrumentarien einer Demokratie und sie sollten – wenn schon nicht allen – so doch möglichst vielen zugänglich sein.78 Die Bundesländer – bzw. ein Teil von ihnen – verstanden sich in diesem Kontext quasi als demokratiepolitisches Testgelände und sie haben sich als Vorreiter gut bewährt.
Anmerkungen 11 Vgl. Herbert Dachs : Politikwissenschaft – als ›Demokratiewissenschaft‹ ? – In : Forschungsinstitut für politisch-historische Studien. Jahresbericht 2008. – Salzburg 2009. S. 69–97. 12 Vgl. Barbara Steininger : Der Souverän und die Volksvertretung. In : Informationen zur Politischen Bildung 27/2006. Wien 2006. S. 17. 13 http ://www.lau.at/un_rechte_kind.htm 14 Vgl. dazu Thomas Müller : Jugend wählt, Jugend zählt. Für und Wider einer Wahlaltersenkung auf Kommunaler Ebene. Master Thesis, masch, Innsbruck 2003. S. 40–45. 15 Hg. vom BM für Umwelt, Jugend und Familie. Wien 1993. 16 Ebd., S. 272. 17 Vgl. Müller : Jugend zählt, S. 43 ff. 18 Europäische Union (Hg.) : EU-Resolution zur Jugendpartizipation. Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Jugendminister zur Mitbestimmung von jungen Menschen. O.O. 1998. 19 Ebd., S. 187–189. 10 BM für Umwelt, Jugend und Familie. Wien 1999, E – S. 28 ff., zitiert nach : Müller, Jugend wählt, S. 62 f. 11 Dieter Fiesinger/ Christiane Stotz. In : Landesjugendring Schleswig-Holstein e.V.(Hg.) : Auf der Suche nach mehr Demokratie. o.O. 1995. S. 1. 12 Klaus Hurrelmann : Für eine Herabsetzung des Wahlalters. – In : Christian Palentin/ Klaus Hurrelmann (Hg.) : Jugend und Politik. Ein Handbuch für Forschung, Lehre und Praxis. 2.Aufl., Neuwied 1998. S. 280–289, hier 286 f. 13 Ursula Hoffmann-Lange/Johann de Rijke : Mitwirkung Jugendlicher an der politischen Willensbildung. In : Ulrich v. Alemann/Martin Morlok u.a. (Hg.) : Jugend und Politik. Baden-Baden 2006. S. 59–74, hier S. 59. 14 Vgl. Ferdinand Karlhofer : Wahlen mit 16. Erwartungen und Perspektiven. In : Informationen zur Politischen Bildung. 27/2006. Wien 2006. S. 37–44, hier S. 38. 15 Leeb/Seyer, S. 44–48. 16 Ebd., S. 48. 17 Vgl. Achim Lauber/Daniel Hajok : Freizeit und Politisches. Interessen Jugendlicher. – In : Bernd Schorb/ Helga Theunert (Hg.) : »Ein bisschen wählen dürfen …« Jugend-Politik-Fernsehen. München 2000. S. 37–59, hier 53 f. 18 Stenogr. Protokolle des Kärntner Landtages, 27.GP., 40.Sitzung, 3.10.1996. S. 3414. 19 Ebd., S. 3416. 20 Ebd., S. 3419. 21 Ebd., S. 3418. 22 Ebd., S. 3417.
Wählen mit 16 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67
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Ebd., S. 3420. Stenogr. Protokolle des Kärntner Landtages, 28. GP, 18. Sitzung, 12. Juli 2008, S. 2051 f. Ebd., S. 2052–2055. Stenogr. Protokolle des Kärntner Landtages, 28. GP., 19. Sitzung, S. 2109–2119. Vgl. ebd., S. 2118. Vgl. Stenogr. Protokolle des Steiermärkischen Landtages, 14. GP., 13. Sitzung, S. 43–55. Ebd., S. 45 f. Ebd., S. 46 f. Ebd., S. 47 f. Vgl. Stenogr. Protokolle des Burgenländischen Landtages, 18. GP., 21. Sitzung, 18. 4. 2002, S. 2735– 2745 Ebd., S. 2740. Ebd., S. 2743. Ebd., S. 2741. Ebd., S. 2738. Ebd., S. 2742. Ebd., S. 2743. Stenogr. Protokolle des Wiener Landtages, 17. GP.,11. Sitzung, 13. 12. 2002, S. 23–40. Ebd., S. 23. Ebd., S. 29. Ebd., S. 40. Ebd., S. 33. Vgl. Bundesjugendvertretung (Hg.) : Wal 16. Geht zu den Wahlen. O.O. und o.J. S. 12 f. SORA-ÖIJ-WZW : »Wählen heißt erwachsen werden«. Wien 2005. masch. Vgl. ebd., S. 49. Vgl. Paul Weikovics : »Wählen mit 16«. In : Österreichische Gemeindezeitung, 11/2002. Vgl. SORA : »Wählen heißt erwachsen werde«, S. 51. Vgl. ebd., S. 13 ff. Ebd., S. 18 f. Ebd., S. 45. Vgl. ebd., S. 25–29. Der Standard (weiter als : St), 24.9.2003 Antrag am 30.10.2006, masch. Vgl. z.B. St. 6. 1. 2002 ; 7. 1. 2002 ; 25. 8. 2003 ; 19. 1. 2005 Vgl. dazu St 27. 4. 2007 ; 24. 5. 2007 ; 2. 6. 2007 ; Parlamentskorrespondenz Nr. 439, 5. 6. 2007 Stenogr. Protokolle des Nationalrats 23. GP., 24. Sitzung, 5. 6. 2007, S. 73–122. Ebd., Glawischnig S. 74 ; Zwerschitz S. 91. Ebd., S. 80. Ebd., S. 102. Ebd., S. 100. Vgl. Peter Filzmaier : Jugend und Politische Bildung. Einstellungen und Erwartungen von 14- bis 24-Jährigen. – Wien 2007, masch. Ebd., S. 19. Ebd., S. 8. Ebd., S. 11 f. Ebd., S. 16. Ebd., S. 20.
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Presseinformation 8.5.2007 von BMUK und BMWF, masch. Presseunterlage 13. November 2007, masch. Vgl. Informationserlass »Politische Bildung NEU im Schuljahr 2008/2009«, 28. Aug. 2008, masch. Vgl. Barbara Blümel : Entscheidend bist DU ! Demokratie-Initiative der österreichischen Bundesregierung. Wien 2009, Manus masch. Mit Stichprobe 1000, 19 Focus-Gruppen und 15 Tiefeninterviews ; Schwankungsbreite +/–3 Prozent. Hier verwendet : Presseunterlage und Zusammenfassung, Wien 15.5.2009, masch. Ebd. Vgl. dazu allgemein : Herbert Dachs : Reflexionen über politische Innovationsbereitschaft am Beispiel der Reformdebatten um den Regierungsproporz im Bundesland Salzburg. Ein Essay. – In : Franz Schausberger (Hg.) : Vom Regierungsproporz zur Konkurrenz. Die Reform der Salzburger Landesverfassung 1998. – Wien 1999, S. 177–195, hier S. 177–183. Vgl. Herbert Dachs : Politische Bildung in Österreich – ein historischer Rückblick. In : Cornelia Klepp/ Daniela Rippitsch (Hg.) : 25 Jahre Universitätslehrgang Politische Bildung in Österreich. – Wien 2008, S. 17–34. Hurrelmann, Für eine Herabsetzung des Wahlalters, S. 289. Klaus Hurrelmann : Eine politische Boutiquengesellschaft ? Warum Jugendliche politisch beteiligt werden müssen. In : Seyer/Leeb : Senkung des Wahlalters, S. 6. Vgl. auch Seyer/Leeb : Senkung des Wahlalters, S. 14.
Robert Hoffmann
Ständische Ordnung als Utopie Josef von Löwenthal und seine Vision vom »Christlichen Ständestaat« des Jahres 2000
Einleitung Josef Freiherr von Löwenthal hinterließ im politischen und kulturellen Geschehen der Zwischenkriegszeit keine markanten Spuren. Als Kabinettsdirektor der Präsidentschaftskanzlei wirkte er diskret im Hintergrund der Bundespräsidenten der Ersten Republik, als Präsident des »Österreichischen Kulturbundes« stand er in den 1930er-Jahren an der Spitze einer zu Unrecht fast vergessenen Institution der damaligen Elitenkultur. Völlig in Vergessenheit geraten ist, dass Löwenthal als Verfasser eines utopischen Romans hervorgetreten ist, der die Vision eines nach berufsständischen Ordnungsvorstellungen organisierten Musterstaats zum Gegenstand hat.1 Die Rahmenhandlung dieses Romans, der 1936 im Paul-Zsolnay-Verlag unter dem Titel »Die unsterbliche Stadt« veröffentlicht wurde, spielt im Österreich des Jahres 2000.2 Entworfen wird darin die gesellschaftliche Utopie eines nach den Prinzipien der Enzyklika »Quadragesimo anno« aufgebauten Staatswesens, in dem das berufsständische Ordnungsmodell zum Wohl aller sozialen Schichten verwirklicht ist. Vor- oder Nachteile aufgrund von Geburt, Stand oder Klasse gibt es in diesem idealen Ständestaat, in dem Gemeinnutz vor Eigennutz steht, längst nicht mehr. In der klassischen Form des utopischen Staatsromans entwirft Löwenthal den idealen Staat der Zukunft als Kontrastbild zur unzulänglichen Gegenwart. Damit enthält sein Werk zwangsläufig eine Kritik an der Unvollkommenheit des österreichischen »Ständestaats«.3 Löwenthals Utopie erregte nach ihrer Veröffentlichung dennoch nur geringe Aufmerksamkeit. Einem Erfolg beim Publikum standen zum einen der trockene Stil und die wenig unterhaltsame, vor allem auf Belehrung des Lesers ausgerichtete Handlung entgegen. Zum anderen befand sich das ständestaatliche System Ende 1936 bereits in einem Zustand der perspektivenlosen Erstarrung, sodass die gesellschaftspolitischen Aussagen des Romans de facto auf keine Resonanz stießen. Während zur selben Zeit im Dritten Reich vom nationalsozialistischen Gedankengut beeinflusste Zukunftsvisionen und Utopien eine Hochkonjunktur erlebten,4 artikulierte sich die Literatur im österreichischen »Ständestaat« viel eher im Genre des historischen Romans. Anstatt von Zukunftsvisionen dominierten von Vergangenheitssehnsüchten
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bestimmte »regressive Utopien«.5 Als einziges Beispiel einer genuin berufsständischen Utopie verkörpert Löwenthals »Die unsterbliche Stadt« daher eine kuriose Ausnahme im Literaturbetrieb der 1930er-Jahre.6
Herkunft und berufliche Laufbahn Zum besseren Verständnis des Entstehungskontexts sei zunächst auf den familiären Hintergrund sowie den Werdegang des Autors eingegangen. Josef Freiherr von Löwenthal, geboren 1873, entstammte einer angesehenen Familie von Industriellen, Offizieren und Beamten, deren sozialer Aufstieg um 1800 mit der Konversion der Brüder Jakob und Kosmas Löwenthal von der jüdischen zur katholischen Religion eingesetzt hatte.7 Nachdem die beiden im Großhandel zu beträchtlichem Wohlstand gelangt waren, festigten Heiratsverbindungen mit Familien des Beamten- und Militäradels in den folgenden Generationen die Integration in die wirtschaftlich saturierte und kulturell tonangebende »Zweite Gesellschaft« der Habsburgermonarchie.8 Josef von Löwenthals Großvater Maximilian (1799–1872) profilierte sich neben seinen literarischen Ambitionen als Fachmann des Post- und Telegraphenwesens und stieg im Verlauf seiner Beamtenlaufbahn zum Generaldirektor des österreichischen Post- und Telegraphenwesens auf. Höhepunkt seiner Karriere war 1868 die Erhebung in den Freiherrnstand. Im Salon seiner Gattin Sophie verkehrte nicht nur die Elite der vormärzlichen Staatsbeamten, sondern auch Nikolaus Lenau, welcher der Hausherrin in unglücklicher Liebe zugetan war.9 Josef von Löwenthals Vater Arthur (1835–1905) betätigte sich als Industrieller, und zwar zunächst als Besitzer einer Gießerei im 2. Wiener Bezirk, in weiterer Folge als Miteigentümer des Blech- und Eisenwerks »Styria« in Judenburg.10 Er vermählte sich mit Anka Freiin von Maroicic, der Tochter eines hochdekorierten Kriegshelden, der bis zum Rang eines k. u. k. Feldzeugmeisters aufgestiegen war. Im Wiener Gesellschaftsleben der Gründerzeit trat der junge Industrielle unter anderem als Mitbegründer und erster Präsident des Wiener Eislaufvereins in Erscheinung. Joseph von Löwenthal sah sich in seiner Jugend somit in ein weit gespanntes Netzwerk an verwandtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen eingebunden, das von der k. u. k. Hochbürokratie über prominente jüdisch-großbürgerliche Kreise bis hin zum gutsbesitzenden kroatischen Militäradel reichte. Auf den Besuch des Schottengymnasiums, wo er 1891 maturierte, folgte das Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Wien. In diesen Jahren verkehrte der junge Löwenthal zusammen mit seinem Bruder Carl unter anderem im Umkreis der Familien Wertheimstein und Gomperz, wo er die Bekanntschaft des um ein Jahr jüngeren Hugo von Hofmannsthal machte.11 Beide absolvierten 1894 ihr Freiwilligenjahr beim noblen k. u. k. Dragonerregiment Nr. 6. In einem Brief aus diesem Jahr beschreibt
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Hofmannsthal seinen »näheren Bekannten« als »sehr festen, reflectierenden und verlässlichen Menschen«, der das Bestreben habe, »das Leben zu verstehen und ihm gerecht zu werden«.12 Hofmannsthal und Marie von Gomperz mokierten sich allerdings auch über einen »bureaukratischen« Zug im Wesen Löwenthals.13 1897 trat Löwenthal tatsächlich in den Staatsdienst ein.14 Die Beamtenlaufbahn führte ihn über das Handelsministerium ins Ministerratspräsidium, wo er 1917 zum Vorstand des Staatsrechtsdepartements ernannt wurde. Für seinen Vorgesetzten Robert Freiherrn von Erhart, Sektionschef im Ministerratspräsidium, verkörperte Löwenthal den Idealtypus des altösterreichischen Beamten : »Ein Mann von gediegenem Können, ebenso verläßlich als Beamter wie als Mensch.«15 Der eigentliche Karriereschub erfolgte für den »klerikalen Baron«16 paradoxerweise erst nach dem Sturz der Monarchie, als er im November 1918 von Karl Renner zunächst zum Leiter der Kanzlei des österreichischen Staatsrates ernannt und im März 1919 von Karl Seitz, der als Präsident der Provisorischen Nationalversammlung zugleich auch als erstes Staatsoberhaupt der Republik amtierte, im Rang eines Sektionschefs zum Kabinettsdirektor der neugeschaffenen Präsidentschaftskanzlei bestellt wurde.17 Der Entschluss, in den Dienst der Republik zu treten, fiel Löwenthal, wie sein Sohn überliefert, nicht leicht : »Der Republik zu dienen galt als nicht standesgemäß. Aber mein Vater sagte : ›Wir müssen dem Land dienen. Von uns hängt ab, was aus ihm wird‹.«18 In materieller Hinsicht hatte sich die Lage der Familie Löwenthal, wie sich Bundespräsident Michael Hainisch erinnert, durch Krieg und Inflation entscheidend verschlechtert. »Wie viele Leute der wohlhabenden Klassen hatte auch Löwenthal bessere Zeiten gesehen, ein großes Pekuniar-Fideikommiss war völlig entwertet,19 ein ansehnliches Stadthaus stand unter Mieterschutz und die ›Styria-Werke‹ zahlten nur kleine oder gar keine Dividenden.«20 Besonderen Schmerz, so Hainisch, habe Löwenthal aber der Verlust des Adels bereitet.21 Als Kabinettsdirektor stand Löwenthal bis zu seiner Pensionierung im Dezember 1933 unterstützend und beratend an der Seite der Bundespräsidenten Hainisch und Wilhelm Miklas. Hainisch schildert seinen engsten Mitarbeiter als »Mann von großer bureaukratischer Erfahrung und Klugheit«, mit dem er während seiner achtjährigen Amtszeit nicht den geringsten Konflikt gehabt habe. Zugleich hebt er dessen »übertriebene Ängstlichkeit« hervor : »Er wich jedem Konflikt aus, um es sich mit niemandem zu verderben.«22 Dieser Charakterzug manifestierte sich im letzten Jahr von Löwenthals Dienstzeit, als er Bundespräsident Miklas in seiner vorsichtig-abwartenden, letztlich passiven Haltung in der Verfassungskrise von 1933 bestärkte.23 Löwenthals Zurückhaltung ging so weit, dass er Miklas dringend davon abriet, den christlichsozialen Sozialtheoretiker Ernst Karl zu empfangen, der um einen Konsens mit der Sozialdemokratie bemüht war.24
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Präsident des »Österreichischen Kulturbunds« Angesichts der Zuspitzung der innenpolitischen Entwicklung lässt sich vermuten, dass Löwenthal den Rückzug in die Pension Ende 1933 mit einem Gefühl der Erleichterung antrat. Zudem ergab sich für ihn zur selben Zeit ein neues Betätigungsfeld. Nach dem Ableben des Schriftstellers und Sektionschefs im Unterrichtsministerium Albert von Trentini übernahm er zu Beginn des Jahres 1934 das Präsidium des elitären »Österreichischen Kulturbundes«, der 1922 von Karl Anton (Prinz) Rohan gegründet worden war. Rohans Vereinsgründung war vom Ideengut der »konservativen Revolution« geprägt gewesen und hatte sich die Formierung einer neuen europäischen »Geistesaristokratie« zum Ziel gesetzt, welche die diskreditierten alten Eliten ersetzen sollte.25 Die Anziehungskraft des Kulturbundes auf neokonservative intellektuelle Kreise erwies sich bereits im Verlauf der ersten Veranstaltungen in Wien, an denen unter anderem auch Hugo von Hofmannsthal als Festredner mitwirkte. In den folgenden Jahren erweiterte sich der Aktivitätsradius des Kulturbundes auf weite Teile Europas. Unter dem Namen »Europäischer Kulturbund« formierte sich von Wien, Paris, Mailand und Frankfurt aus ein Netzwerk von beachtlicher intellektueller und ideologischer Spannweite, das als »bedeutendste europäische Elitenvereinigung der zwanziger Jahre« gelten kann,26 in deren Rahmen Persönlichkeiten unter anderem vom Rang Thomas Manns, Rainer Maria Rilkes, Paul Valerys und des französischen Architekten Le Corbusier in Erscheinung traten. Politische Unterstützung fand der »Europäische Kulturbund« vor allem in seinem Ursprungsland Österreich, wo Bundeskanzler Ignaz Seipel darauf hoffte, Wien neben Genf als ein Zentrum europäischer Begegnungen zu installieren.27 Seipel und auch Hugo von Hofmannsthal erwiesen sich als durchaus empfänglich für Rohans Idee, die mittleren und kleineren Völker des Südostens »in der ›reichs‹-bildenden Form eines ›mitteleuropäischen commonwealth‹ […] an den deutschen Raum heranzuführen«.28 Durch die Machtergreifung des Nationalsozialismus in Deutschland war derartigen nostalgischen Mitteleuropavisionen allerdings der Boden entzogen. Nach der Auflösung des organisatorischen Netzwerks des »Europäischen Kulturbundes«, der bis in die frühen 1930er Jahre mit zahlreichen Tagungen und Publikationen in Erscheinung getreten war, blieb die österreichische Ortsgruppe als einzige aktive Teilorganisation übrig.29 Josef von Löwenthal übernahm Anfang 1934 die Leitung eines Vereins, der sich − wie es in § 2 der Statuten hieß − als eine »Vereinigung der geistigen Träger der Kultur zu dem Zwecke« verstand, »um unabhängig von Partei, Klasse und Rasse und mit Ausschluß jeder Politik schöpferische Beziehungen zwischen den verschiedensten Standpunkten und Auffassungen zu ermöglichen«.30 Trotz der elitären Ausrichtung zielte die Vereinstätigkeit nicht bloß darauf ab, die »Mitglieder in die noble Beschäftigung mit den wahren Gütern des Geistes einzuführen«.31 Im Vortrags- und
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Veranstaltungsprogramm des Kulturbundes scheinen hochkarätige Referenten aus allen Bereichen von Kunst und Wissenschaft auf, wobei neben der intellektuellen und ideologischen Vielfalt der Themen vor allem die breite internationale Streuung der Referenten auffällt.32 Gestaltende Kraft des Vortragsprogramms war allerdings nicht Löwenthal, sondern Jolande Jacobi, die 1928 von Albert von Trentini als geschäftsführende Generalsekretärin des »Österreichischen Kulturbundes« installiert worden war. Jacobi, die 1938 bei Charlotte Bühler promovieren sollte und nach ihrer Emigration als enge Mitarbeiterin von C. G. Jung in Zürich wirkte, galt als »femme inspiratrice« und stand mit zahlreichen internationalen Größen aus Kunst, Kultur und Wissenschaft in persönlicher Verbindung. Unter anderem gewann sie als Vortragende Hermann Broch, Arnold Schönberg, Edmund Husserl, Ernst Cassierer, Bronislaw Malinowski, Karl Zuckmayer, Franz Werfel, Bruno Walter und sogar Filippo Tomasi Marinetti, den Verfasser des Futuristischen Manifests von 1909.33 Vermutlich auf Initiative Löwenthals wurden auch katholisch-universalistische Themen ins Vortragsprogramm des Österreichischen Kulturbundes aufgenommen. Im Oktober 1933 referierte Othmar Spann über »Die geistigen Grundlagen des Ständestaates«.34 1935/36 war ein ganzer Vortragszyklus dem Thema »Das Abendland im Kampf der Weltanschauungen« gewidmet. Dabei ging es − laut Ankündigung − um die »erregende Phase des Kampfes, den das Abendland seit dem Ende des mittelalterlichen Universalismus um die Wiedergewinnung einer neuen, allgemein verpflichtenden Ordnung seiner Lebenswelt« führt.35 Unter den Referenten finden sich der Religionspädagoge Michael Pfliegler, der General des Dominikanerordens Pere M. Gillet sowie der Münchner Theologe und Kulturphilosoph Josef Bernhart.36 Trotz der bemerkenswerten kulturpolitischen Offenheit seines Programms stand der Kulturbund keineswegs außerhalb des tagespolitischen Geschehens. Das Ständestaatsregime nutzte das hochkulturelle Ambiente des Kulturbundes zur Selbstdarstellung seiner vorgeblich offenen und kosmopolitischen Gesinnung in kulturellen Belangen. Bundeskanzler Kurt Schuschnigg eröffnete die Veranstaltungssaison 1934/35 − die erste unter dem Präsidium von Löwenthal − mit einer Festrede, in der er die Brückenfunktion des Kulturbundes betonte, denn dieser sei »ein Forum, das geistige Menschen vereint, die Sachlichkeit über alles stellen […].«37 Zuletzt noch zum Jubiläum »Fünfzehn Jahre Kulturbund« am 6. November 1937 trat Schuschnigg ans Rednerpult, um die Bedeutung des Kulturbundes für die Erfüllung der »europäischen Kulturaufgabe Österreichs« zu beschwören. Dabei erinnerte er »an die fortwirkende, die verschiedenen volklichen Kulturen verbindende und vermittelnde, oft zitierte Brückenstellung, die uns zukommt, von der aus wir unter anderem dafür zu sorgen haben, daß die Wunderwelt deutscher Kultur und Geistigkeit auch dort, wo andere Sprachen zu Hause sind, nicht nur bewundert und respektiert, sondern auch menschlich verstanden wird«.38
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Zum Zeitpunkt dieser Rede Schuschniggs stand Löwenthal aber nicht mehr an der Spitze des Kulturbundes. Sein Rücktritt war bereits im Februar 1937 erfolgt, nachdem es im Gefolge des Juliabkommens 1936 zu einer kulturpolitischen Annäherung zwischen dem Ständestaatsregime und dem Dritten Reich gekommen war. Beide Seiten hatten eine Instrumentalisierung des Kulturbundes als hochkulturelles österreichisch-deutschen Kontaktforum im Sinne, wobei als Akteure Hans Freiherr von Hammerstein-Equord, Schuschniggs Bundeskommissär für Kulturpropaganda, sowie der deutsche »Sondergesandte« Franz von Papen in Erscheinung traten. Papens Ambitionen divergierten allerdings mit jenen der Landesleitung der illegalen österreichischen NSDAP.39 Während der deutsche Gesandte den Kulturbund durch die vermehrte Entsendung von Vortragenden aus dem deutschen Reich sukzessive unter reichsdeutschen Einfluss bringen wollte, protestierte die illegale Parteileitung um Josef Leopold bei der Reichsparteileitung in Berlin vehement gegen eine derartige Strategie, da es sich beim Kulturbund um ein »stark verjudetes Unternehmen« mit »exclusivem Charakter« handle.40 Stein des Anstoßes waren für Leopold insbesondere die »Volljuden« Löwenthal41 und Jacobi. Auf Veranlassung Schuschniggs wurde Papen bereits im Herbst 1936 ein Wechsel an der Spitze des Kulturbundes in Aussicht gestellt.42 Die Einlösung dieses Versprechens erfolgte im Februar 1937 als Hammerstein-Equord, der als Exponent einer deutsch-österreichischen Annäherung galt, Löwenthal als Präsident des Kulturbundes nachfolgte.43 Da Schuschnigg nicht auf ganzer Linie nachgeben wollte und vorerst auf einem Weiterverbleib von Jolande Jacobi als Vizepräsidentin des Kulturbundes beharrte, stellte sich die angestrebte Intensivierung der deutsch-österreichischen Kooperation im Rahmen des Kulturbundes jedoch nicht ein. Ganz in Gegenteil. Vonseiten der Auslandsorganisation der österreichischen NSDAP setzte nun »ein vehementer, ja, gehässiger Kampf gegen Papens Kulturpolitik« ein, der so weit ging, dass den in Wien ansässigen Reichsdeutschen verboten wurde, Veranstaltungen des Kulturbundes zu besuchen.44 Eine Reaktion Löwenthals auf seinen erzwungenen Rücktritt vom Präsidium des Kulturbundes ist nicht überliefert. Beim Festakt zum fünfzehnjährigen Jubiläum des Kulturbundes im November 1937 war der vormalige Präsident nach Aussage seines Nachfolgers Hammerstein-Equord »durch Krankheit leider verhindert«.45 Als wahrscheinlicher erscheint, dass dieser angesichts des antisemitischen Hintergrunds der Affäre die Peinlichkeit eines öffentlichen Auftritts vermied. Die Desavouierung durch das Ständestaatsregime musste Löwenthal um so schwerer treffen, als er nur wenige Monate zuvor mit der Veröffentlichung des Romans »Die unsterbliche Stadt« sein Vertrauen in eine glückliche Zukunft des österreichischen »Ständestaats« bekundet hatte.
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Der Entstehungskontext Löwenthals Roman war im September 1936 im Zsolnay-Verlag erschienen, vermutlich dank der Vermittlung des Verlegers und Kulturvereinsmitglieds Paul Zsolnay.46 Als ständische Utopie steht das Werk ideell im Kontext der während der Zwischenkriegszeit in Mitteleuropa weit verbreiteten Vorstellungen und Zukunftsentwürfe einer ständischen Ordnung, welche sich die Überwindung der kapitalistischen Klassengesellschaft zum Ziel setzten und im Bereich von Sozial-, Wirtschafts- und Staatswissenschaften sowie vor allem in der katholischen Soziallehre intensiv diskutiert wurden.47 Löwenthal, der sich im Laufe seiner Beamtenkarriere als Verfassungsexperte profiliert hatte,48 nahm an dieser Diskussion bereits in den 1920er Jahren regen Anteil. Mehrmals referierte er im Rahmen der Österreichischen Leogesellschaft, dem vom Moraltheologen Franz Martin Schindler begründeten intellektuellen Forum der österreichischen Katholiken, über Fragen einer berufsständischen Verfassung.49 Während der wissenschaftliche Ständediskurs in Deutschland ohne greifbares politisches Ergebnis blieb und mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 seine Relevanz verlor, erfolgte die Etablierung des autoritären Systems der Jahre 1934 bis 1938 in Österreich mit dem Anspruch einer realpolitischen Umsetzung des berufsständischen Ordnungsmodells. Nach der schrittweisen Ausschaltung aller demokratischen Institutionen sowie der Niederschlagung des sozialdemokratischen Widerstands oktroyierte Bundeskanzler Engelbert Dollfuß am 1. Mai 1934 für den »christlichen, deutschen Bundesstaat« Österreich eine neue Verfassung, die − wie es in der Präambel heißt − »auf ständischer Grundlage« stehen sollte. Die Selbstbezeichnung »Ständestaat« blieb jedoch – wie es Ernst Hanisch einmal ausgedrückt hat – ein »maskierendes Aushängeschild«.50 Hinter einer »Nebelwand ständischer Programmatik und Rhetorik«51 verbarg sich ein autoritäres Regime, das berufsständische Strukturen nur in marginalem Ausmaß realisierte und den alten katholischen Traum von einer Aufhebung der Klassengegensätze in einer nach berufsständischen Ordnungsvorstellungen gegliederten Gesellschaft unverwirklicht ließ.52 Löwenthal hatte die Maiverfassung 1934 zunächst durchaus wohlwollend kommentiert.53 Die Diskrepanz zwischen der politischen Realität des österreichischen »Ständestaats« und den uneingelösten ideologischen und sozialpolitischen Zielvorstellungen war jedoch schon bald unübersehbar und scheint den pensionierten Sektionschef zur Abfassung seines utopischen Romans motiviert zu haben, der in der klassischen Form eines Staatsromans das Idealbild eines auf ständischer Grundlage aufgebauten Staatswesens entwerfen und dieses fiktional als bereits verwirklicht vorführen sollte. Als Autor sah sich Löwenthal in der Tradition von Theodor Hertzkas »Freiland« sowie Eduard Bellamys »Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887«, also jener sozialutopischen Romane, die sich in seiner Jugendzeit besonderer Beliebtheit
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erfreut hatte. Anders als die Verfasser dieser großen Utopien − so bekennt er im Vorwort − folge er jedoch keinen eigenen Eingebungen, sondern nur den Grundsätzen, »die in der Enzyklika Quadragesimo anno vom Papste Pius XI. entwickelt wurden«.54 Der Wortlaut der Sozialenzyklika verkörpere für ihn die reine »Wahrheit«. Alles andere im Roman sei dagegen »Märchen«, insbesondere das, »was über die Tätigkeit und bestimmte Einrichtungen der Berufsstände« gesagt werde. Denn : »Mit Ausnahme des im Juli 1935 geschaffenen Berufsstandes Land- und Forstwirtschaft bestehen die anderem im Buche angeführten Berufsstände in Österreich noch gar nicht, sondern werden erst vorbereitet.«55 Löwenthal beteuert, dass ihm nichts ferner liege, »als seinerseits auch nur die geringsten Anregungen für den weiteren Aufbau des österreichischen Ständestaates […] zu geben«.56 Zugleich entschuldigt er sich, dass seine Vision der Realität vorauseilt : »Wenn der Verfasser das Wirken der Berufsstände, wie es sich allenfalls in einer fernen Zukunft abspielen könnte, mit allzu kräftigen Strichen gezeichnet hat, so geschah dies, weil gegenüber ins alltägliche Leben versetzten Darstellungen eine sachliche Prüfung leichter einzusetzen vermag als gegenüber den vorsichtiger gehaltenen wissenschaftlichen Werken und Abhandlungen.«57 Bei der Ausgestaltung seines Zukunftsbildes gestattet sich Löwenthal dennoch nur ein Minimum an dichterischer Freiheit. Ein kommentiertes Literaturverzeichnis gibt fast ebenso ausführlich Aufschluss über die vom Autor rezipierte nationalökonomische und staatswissenschaftliche Literatur, wie man es von einer wissenschaftlichen Abhandlung erwarten würde.58 Im Detail schöpfte Löwenthal seine Anregungen aus dem Schrifttum der katholischen Soziallehre und hier insbesondere aus Johannes Messners Anfang 1934 veröffentlichter Studie über »Die soziale Frage der Gegenwart«, welche ihm − wie er offen bekennt − als Vorlage bei »der Darstellung sämtlicher behandelter Fragen« gedient habe.59 Die Bezugnahme auf Messner scheint im Kontext der damaligen österreichischen Ständediskussion als durchaus naheliegend, da dessen sozialreformerische Ideen sowohl innerhalb der Amtskirche Anklang fanden als auch in die christlichsozialen Konzepte einer Neuordnung von Staat und Wirtschaft Eingang fanden. Dazu kam, dass der katholische Sozialtheoretiker von Dollfuß quasi zum Interpreten von »Quadragesimo anno« berufen wurde und als der »eigentliche Programmator« der berufsständischen Idee in der Verfassung von 1934 galt.60 Messners naturrechtlich fundierte Theorie einer freien und selbstbestimmten Vereinigung der Berufsstände wurde in der politischen Realität des österreichischen »Ständestaats« nicht einmal ansatzweise verwirklicht. Die Diskrepanz zwischen der einseitig unternehmerfreundlichen Politik des autoritären Regimes und den Grundsätzen eines sozialen Katholizismus stürzte überzeugte Anhänger der katholischen Soziallehre wie Löwenthal zwangsläufig in einen inneren Konflikt. Vermutlich hoffte er, dass es ihm in Form einer utopischen Erzählung gelingen würde, auf politischer Ebene die Erinnerung an das uneingelöste Versprechen einer ständischen Neuord-
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nung der Gesellschaft wiederzubeleben und darüber hinaus einer breiteren Öffentlichkeit die Vorzüge eines berufsständischen Ordnungsmodells auf der Grundlage von »Quadragesimo anno« zu veranschaulichen.61
Der Inhalt des Romans Von den deutschen Utopien des 20. Jahrhunderts heißt es, dass sie geprägt sind durch das Fehlen jener selbst-ironischen, distanzierten Geisteshaltung, die für den angelsächsischen Bereich so bezeichnend ist. Vor allem in der Zwischenkriegszeit sei das spielerische utopische Denken vom angewandt-politischen, ideologischen Denken überwuchert worden.62 Diese Diagnose trifft ohne Einschränkung auch auf Löwenthals »Unsterbliche Stadt« zu. Sein Versuch einer literarischen Konkretisierung des berufsständischen Gesellschaftsmodells folgt dem bewährten, damals freilich schon altmodischen Muster des Staatsromans. Bei der Schilderung des Idealstaats der Zukunft hält sich Löwenthal zudem so schematisch an die Vorgaben der katholischen Soziallehre, dass kaum mehr Spielraum für eine eigenständige und phantasievolle Ausgestaltung der Rahmenhandlung bleibt. Im Grunde schleppt sich das Geschehen holprig von einem belehrenden Gespräch über ständische Themen zum nächsten. Die eigentliche Handlung lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen : Wirtschaftliche Prosperität, kulturelle Blüte und sozialer Frieden kennzeichnen Staat und Gesellschaft Österreichs im Jahr 2000. Völlig in Vergessenheit geraten ist allerdings, wie viel Mühe es gekostet hat, sich »aus der Auseinandersetzung zwischen den Klassen zur einträchtigen Zusammenarbeit der Stände« emporzuarbeiten.63 Die »schon alt gewordene Verfassung von 1934« befindet sich nach wie vor in Geltung. Österreich ist darüber hinaus Teil eines »Zentraleuropäischen Bundesstaats«, der in seinem geographischen Umfang allerdings nicht näher definiert wird, wodurch sich Assoziationen sowohl auf einen Anschluss an Deutschland wie auch auf eine Wiederherstellung des Wirtschaftsraums der Habsburgermonarchie eröffnen. Längst verblasst ist auch die Erinnerung an die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, in denen Wirtschaftskrise und Klassenkampf das gesellschaftliche Leben verdüsterten. Welche Umstände eine Wende zum Besseren eingeleitet haben, will Hanspeter Gabelhof, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Innsbruck, in einer Studie über »Österreichs Volkswirtschaft in den Jahren 1900–1935« aufzeigen. Im Zuge seiner Recherchen besucht er zunächst das Eisenwerk in Marnitz,64 dessen Generaldirektor ihn in die Familie des Walzmeisters Trawöger einführt. Durch diese Bekanntschaft wird Gabelhof − und damit auch dem Leser − ein plastisches Bild vom Lebensstil einer typischen Arbeiterfamilie im ständischen System vermittelt. Trawöger, ein belesener Mann, der sich in der Freizeit intensiv mit der Exegese der päpstlichen Sozialenzykliken beschäftigt, schildert dem Wirtschaftshistoriker am
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Beispiel seiner Familie, wie sich innerhalb von drei Generationen ein kontinuierlicher Aufstieg aus Armut und Arbeitslosigkeit bis hin zum gegenwärtigen Wohlstand vollzogen habe. Beim Besuch in Trawögers villenartigem Landhaus lernt der noch unverheiratete Professor zwei attraktive junge Frauen kennen. Die vornehme und begehrenswerte Eva von Lenzing, die in Trawögers Haushalt ein freiwilliges Arbeitsdienstjahr als Kindererzieherin absolviert, sowie Hilda, die reizende Schwester des Hausherrn, die Gabelhof schon im ersten Gespräch nicht im unklaren über ihre Zukunftspläne lässt : »Wir Mädchen wollen alle geheiratet werden. Wenn einer mir von Liebe spricht oder gar sich zu Schwüren versteigt, dann sage ich immer : ›Der Weg in mein Schlafzimmer führt durch die Kirche‹«.65 Aus der Perspektive seiner großbürgerlichen Herkunft glaubt Gabelhof zunächst in Erika die passende Partnerin gefunden zu haben. Als dann aber in der Person des Bergknappen Georg Hochrainer, eines selbstbewussten und vor Tatkraft strotzenden »Arbeiteraristokraten«, ein ernsthafter Konkurrent auftaucht und dieser die spröde Adlige im Sturm erobert, wendet sich Gablhof der Arbeiterin Hilda zu. Unterschiede der sozialen Herkunft, erklärt Hanspeter Gabelhof seinem etwas altmodischen Vater, würden angesichts »der heute grundsätzlich gleichen Wertung aller Schichten unseres Volkes« bei der Partnerwahl keine Rolle mehr spielen.66 Die einzigen Protagonisten, die sich in diesem musterhaften Sozialsystem der Zukunft nicht zurechtfinden, sind der Maschinenmeister Robert Massanell und der Arbeiter Lorenz Furthaus. Die beiden treffen am Beginn des Romans im selben aus Innsbruck kommenden »Großaeroplan« wie Gablhof in Wien ein. Beide beklagen sich bitterlich, dass in dieser »Epoche wiedererstandener Ethik und Ordnung« nirgendwo mehr eine »käufliche Frau« zu finden sei. Auch im ständischen Arbeitsleben sind beide schlecht integriert. Massanell liest längst vergessene anarchistische Literatur und ist überdies in unglücklicher Liebe zu Erika von Lenzing entbrannt. Da diese ihn brüsk zurückweist, stürzt er sich von einer Bergwand. Furthaus ist weniger radikal, will sich aber aus einem fehlgeleiteten Freiheitsdrang heraus keinem geregelten Arbeitsverhältnis unterordnen. Sein Direktor, ein ausgebildeter »Arbeitspädagoge«, vermag bei ihm keinen Gesinnungswandel herbeizuführen und so wird er schließlich wegen »fortgesetzter Arbeitsflucht« aus seinem Berufsstand ausgeschlossen. Dennoch findet sich zu guter Letzt ein fürsorglicher Unternehmer, der es noch einmal mit ihm versuchen will.
Der berufsständische Idealstaat des Jahres 2000 Löwenthals Utopie räumt der detaillierten Erläuterung des berufsständischen Systems der Zukunft weitaus mehr Raum ein als der eigentlichen Handlung. Zahlreiche Gespräche des Professors mit führenden Funktionären der berufsständischen Selbst-
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verwaltungskörper sowie hohen Ministerialbeamten werden in aller Ausführlichkeit wiedergegeben. In Summe vermitteln diese exkursartigen Einschübe ein kaleidoskopartiges Bild von der historischen Entwicklung und der aktuellen Verfassung des ständischen Systems im Jahr 2000. Wie nicht anders zu erwarten, herrscht bei allen Gesprächspartnern Gablhofs Übereinstimmung darüber, dass mit der Schaffung eines Gewerkschaftsbundes der Arbeiter und Angestellten67 sowie der Zusammenfassung verschiedener Unternehmergruppen in Bünden, wie etwa den »Landesbauernbünden« oder dem »Bund der österreichischen Industriellen« in den Jahren 1934 und 1935 eine neue Ära begonnen habe.68 So weit die historisch reale Entwicklung. Diese Maßnahmen seien aber erst die »Vorbereitungsstadien der neuen Volksordnung, der Beginn einer neuen Zeit« gewesen.69 Im Gegensatz zur tatsächlichen Stagnation des ständischen Aufbaus in Österreich gründen Unternehmer und Arbeitnehmer in Löwenthals Utopie paritätisch zusammengesetzte »berufsständische Ausschüsse« von zunächst nur »geringem Wirkungskreis«. Aber allmählich »gewöhnte man sich daran, sie bei allen möglichen Gelegenheiten zu befragen«.70 In einer letzten entscheidenden Etappe des ständischen Umbaus erfolgt schließlich die tatsächliche Zusammenfassung aller Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den Berufsständen. Damit werden der Gewerkschaftsbund und die verschiedenen Kammerorganisationen entbehrlich. Der Zeitrahmen des ständischen Umbaus bleibt unbestimmt. Immerhin erfährt der Leser, wann es zu einigen weiteren entscheidenden Sozialreformen gekommen ist. Vier Maßnahmen werden besonders hervorgehoben : erstens eine 1945 beginnende »Ausgestaltung der Wohlfahrtsinstitute der Berufsstände«, welche dem Geburtenrückgang durch Zuschüsse an kinderreiche Familien entgegen wirkte ;71 zweitens ein 1975 geschlossenes »internationales Abkommen über die Arbeitswoche von dreißig Stunden« bei vollem Lohnausgleich ;72 drittens eine intensive Förderung des Siedlungswesens, wodurch »die teilweise entwurzelte Bevölkerung der großen Städte wieder auf das engste mit der Natur und der Heimat« verbunden wurde ; viertens schließlich »das Verbot der Arbeit der verheirateten Frau in den Unternehmungen«,73 wobei freilich unklar bleibt, inwiefern dieses Verbot im Jahr 2000 noch gilt.74 Hauptzweck der berufsständischen Ordnung ist es, durch einvernehmliches Zusammenwirken von Arbeitgebern und Arbeitnehmern »dem Eintritt von Krisen möglichst vorzubeugen«.75 Innerhalb der Berufsstände werden paritätisch vereinbarte Kollektivlöhne festgelegt. Nur die Entlohnung von Akkordlöhnen und Einzelleistungen erfolgt auf Betriebsebene, wobei der Betriebsinhaber und eine Mehrheit der Vertrauensmänner der Arbeitnehmer übereinstimmen müssen.76 Die Löhne sind an die Konjunktur gekoppelt, das Ziel der Vermögensbildung in der Arbeiterschaft ist umgesetzt. Auch die Sozialversicherung ist berufsspezifisch gegliedert. Neben den eigentlichen berufsständischen Körperschaften existieren eine Reihe von Beratungs- und Schlichtungsinstitutionen. Die volkswirtschaftliche Kompetenz
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der vormaligen Handelskammern ist in ein in deren Nachfolge gegründetes Institut für Konjunkturforschung eingeflossen, das durch seine Gutachtertätigkeit im Konfliktfall zwischen den berufsständischen Hauptgruppen vermittelt.77 Die Interessen der Verbraucher werden durch eine Gilde der Konsumvereine vertreten. Außerdem gibt es ein Handelsgericht in Wettbewerbs- und Preisangelegenheiten, das Kartellbildungen entgegenwirkt und Streitigkeiten wegen unlauterer Konkurrenz schlichtet.78 Althergebrachte ständische Tugenden wie »Ehre« und »Treue« erfahren im ständischen Berufsleben eine zeitgemäße Wiederbelebung.79 So können Disziplinargerichte einem Fabrikanten wegen Schädigung der Berufsehre − z. B. bei betrügerischer Reklame für Schundware − zeitweise die Leitung eines Unternehmens entziehen. Als ein derart gemaßregelter Unternehmer androht, seine Fabrik in einen anderen Weltteil zu verlegen, wird ihm entgegnet : »Wir werden es zu ertragen wissen. Ein Schädling weniger im Land ist gewiß nur ein Vorteil.«80 Oberstes Prinzip ist : »Gemeinnutz geht vor Eigennutz.«81 Im »zentraleuropäischen Bundesstaat«, dem Österreich angehört, sind die Zollmauern weitgehend abgebaut. Binnenzölle gibt es nur für die Landwirtschaft, in der Autarkie herrscht. Bei den freien und geheimen Wahlen auf Staatsebene und innerhalb der Berufsstände ist jegliche Wahlwerbung untersagt.82 Der Staat ist funktionell und finanziell entlastet. Fast alle vormals staatlichen Agenden werden von den berufsständischen Einrichtungen wahrgenommen. Das Ministerium für Soziale Verwaltung ist längst aufgelöst.83 Dem Finanzministerium obliegt lediglich die Finanzierung der auf wenige Zentralstellen geschrumpften Staatsverwaltung sowie des Heeres.84 Durch weitgehende Trennung von Staat und Wirtschaft wird das Ansehen des Staates stark gesteigert : »Die heiße Liebe zum Vaterlande ist eines der charakteristischsten Merkmale unserer Zeit.«85 Es verwundert den Leser nicht, dass der Wirtschaftshistoriker Gabelhof die Verkündigung von »Quadragesimo anno« im Jahr 1931 als den eigentlichen historischen Wendepunkt der gesellschaftlichen Entwicklung im 20. Jahrhundert betrachtet. Die päpstliche Enzyklika habe schon damals das Scheitern des Kapitalismus diagnostiziert, heißt es doch in ihr : »Der freie Wettbewerb hat zu seiner Selbstauflösung geführt. […] das Gewinnstreben steigerte sich zum zügellosen Machtstreben. Dadurch kam das ganze Wirtschaftsleben eine furchtbare, grausenerregende Härte.«86 Die Zukunft liegt in einer auf den Ideen von »Quadragesimo anno« basierenden neuen Wirtschafts- und Sozialordnung. Wenn Gablhof dennoch gegen einen sogenannten »dritten« Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus Stellung bezieht, dann spricht aus ihm der Sozialethiker Messner, dessen komplexe Vorstellungen zum Aufbau einer berufsständischen Ordnung − wie auch an anderen Stellen in Löwenthals Utopie − hier in vereinfachter Form zusammengefasst werden. Die berufsständische Ordnung der Wirtschaft sei eben »nicht eine Mittelstufe zwischen freier Ver-
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kehrswirtschaft und Planwirtschaft, sondern vielmehr eine Ordnung höherer Art, welche nicht nur die Wirtschaftsfreiheit, sondern die Freiheit überhaupt in weitestem Maße verwirklicht. […] Sie ist auf gegenseitige Zuordnung von Einzelmensch und Gemeinschaft, also auf jene Harmonie von Einheit und Freiheit gerichtet, die der schon von Aristoteles dargelegten Natur des Menschen als sozialem Wesen entspricht«.87 Im Rückblick habe der Umbau der Gesellschaft nur gelingen können, weil an die Stelle des Individualismus der Solidarismus der katholischen Soziallehre getreten sei : »Vormals behauptete man : die Volkswirtschaft habe ihre eigenen, völlig selbständigen Gesetze und stehe über oder wenigstens außerhalb der Ethik. Die Wirtschaftsform des Jahres 2000 gibt die Formel wieder : die Ethik herrscht über die Wirtschaft.«88 Verglichen mit dem Raum, den die Schilderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Löwenthals Sozialutopie einnimmt, bleibt die technisch-utopische Komponente eher unterbelichtet. Technologische Innovationen, welche den Fortschritt der Industrie im berufsständischen Wirtschaftssystem gefördert haben, werden zwar am Rande erwähnt, jedoch nicht näher beschrieben. Der gehobene Lebensstandard, dessen sich alle Stände erfreuen, spiegelt im Grunde nur die tatsächlich gegebenen Entwicklungsperspektiven der Technik um 1930, sieht man einmal davon ab, dass Elektrizität im Jahr 2000 aus »Luftspannungen« gewonnen wird. Die Haushalte auch der Arbeiter sind mit »Radio-Bild- und Hörschränken«, »selbsttätigen Abwaschmaschinen«, »Wäschereinigungsmaschinen« sowie Staubsaugern ausgestattet.89 Die Motorisierung des Verkehrs ist weit vorangeschritten. »Unzählige Kraftwagen und Motorräder« stauen sich am arbeitsfreien »Weekend« − auch der Samstag ist arbeitsfrei − auf den Ausfahrtstraßens Wien.90 Das Flugzeug nimmt eine wichtige Rolle in der Freizeit ein : »Großaeroplane« verbinden alle größeren Städte, zudem gibt es günstige Vergnügungsflüge im Alpenraum, bei denen die Flugzeuge mitten in der Bergwelt, zum Beispiel am Semmering oder am Feuerkogel, landen können. Aber auch Fernreisen sind üblich : Man trifft sich zum »Weekend« am Lido von Venedig und »wer auf sich hält, bringt den Mai in Tibet zu«.91 Trotz allen Fortschritts in der Technik herrscht im Jahr 2000 eine maßvolle Zurückhaltung im alltäglichen Konsumverhalten. Das gesellschaftliche Leben entfaltet sich »gerade wegen der Einfachheit der Sitten in Essen und Kleidung in hohem Maße«.92 Nur die Magenärzte sind unzufrieden, denn sie finden keine Patienten mehr.
Epilog »Utopien sollen glaubhaft sein.«93 Diese vielleicht wesentlichste Voraussetzung für einen Publikumserfolg war bei Josef von Löwenthals utopischem Roman »Die unsterbliche Stadt« zweifellos nicht gegeben. Zwar finden sich in ihm die katholischen
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Träume und Sehnsüchte der Zwischenkriegszeit in fast idealtypischer Form gebündelt.94 Im Jahr 1936 war die Aussicht auf deren Umsetzung im Rahmen der berufsständischen Ordnung in Österreich allerdings nicht mehr vorhanden und die berufsständische Euphorie folglich abgeflaut. Angesichts der geringen Resonanz, die selbst Johannes Messners im selben Jahr publizierte Studie über »Die berufsständische Ordnung«95 fand, verwundert das fast vollständige Desinteresse an Löwenthals »Die unsterbliche Stadt« nur wenig. Nicht einmal regimenahe und katholische Medien wie die Zeitschrift »Der christliche Ständestaat« oder die »Reichspost« nahmen von der Neuerscheinung Notiz. Lediglich in der »Neuen Freien Presse« findet sich eine kurze Besprechung. Der wohlwollende Rezensent reiht Löwenthal unter die »aus der Tiefe eines redlich ringenden Geistes schöpfenden Bildner der Zukunft« ein, wobei er seine Sicht auf das Jahr 2000 mit jener von Eduard Bellamy vergleicht : »Es ist wahrhaft erstaunlich, wahrhaft ergreifend, daß, als Bellamy vor einem Menschenalter seine Utopie schrieb, er mit äußerster Klarheit die düsteren Ansätze des Klassenkampfes und der Mechanisierung erblickte. Gibt es ein bedrückenderes Bild als das, welches der amerikanische Autor vom Newyork des späteren zwanzigsten Jahrhunderts malt ? Und gibt es ein freundlicheres, ein idyllischeres, ein pastoraleres, als das vom Wien der gleichen Zeit, das uns Baron Löwenthal gibt ?«96 Josef von Löwenthal verstarb im Jänner 1940, kaum zwei Jahre nach dem kläglichen Ende des »Ständestaats«, dem er in seinem Roman eine blühende Zukunft prophezeit hatte.97 An der Bahre des Verstorbenen zeichnete sich – wie sein Sohn Max Löwenthal-Chlumecky, später Botschafter in Rom und Washington, überliefert – die Aussöhnung der verfeindeten politischen Lager nach 1945 bereits ab.98 »Ohne dass wir ihn darum gebeten hätten, nahm Kardinal Innitzer die Einsegnung vor, und in der gesteckt vollen Karlskirche sah man nicht nur zwei frühere Bundespräsidenten und das bürgerliche Wien, sondern auch Karl Seitz und die alten Sozialdemokraten.«99 Löwenthals Traum von einer Aufhebung der Klassengegensätze in einer nach berufsständischen Prinzipien organisierten Gesellschaft ging nach dem Krieg zwar nicht in Erfüllung. Im österreichischen Modell der »Sozialpartnerschaft« und hier insbesondere in der Paritätischen Kommission hätte er aber immerhin einige Vorstellungen seiner berufsständischen Utopie als verwirklicht wiedererkannt.100
Anmerkungen 1 Der einzige Hinweis auf Löwenthals Utopie findet sich in : Christian Mertens : Zukunftsbilder. Utopische Visionen in Literatur und Film. (Katalog der 239. Wechselausstellung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek). – Wien 2001. S. 37 f. 2 Joseph Freiherr von Löwenthal : Die unsterbliche Stadt. Eine utopische Erzählung aus dem Jahr 2000. – Berlin, Wien, Leipzig 1936.
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13 Der Begriff »Ständestaat« dient im Folgenden nicht zur Definition des österreichischen Herrschaftssystems der Jahre 1934/38, sondern ist Ausdruck der Sicht Josef von Löwenthals. 14 Vgl. Jens Hohensee : Geschichtsbilder in der utopischen Literatur des »Dritten Reichs« – Versuch einer Annäherung. In : Thomas Stamm-Kuhlmann u.a. (Hg.), Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag. – Stuttgart 2003. S. 243–258. 15 Horst Jarka : Zur Literatur- und Theaterpolitik im »Ständestaat«. In : Franz Kadrnoska (Hg) : Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1919 und 1938. – Wien, München, Zürich. S. 499–538, hier S. 516. 16 Obwohl die Urbanisierungsfrage in Löwenthals Roman nur vage angedeutet wird, beinhaltet allein schon der Titel eine Gegenansage zu einem prominenten Werk der zeitgenössischen Schollenliteratur : Guido Zernatto : Sinnlose Stadt. Roman eines einfachen Menschen. Leipzig 1934. 17 Anna L. Staudacher : Jüdische Konvertiten in Wien 1782–1868, Teil 2. – Frankfurt a. M., Wien u.a. 2002. S. 296. 18 Vgl. Heinrich Friedjung : Geschichte in Gesprächen. Aufzeichnungen 1898–1919. – Hg. von Franz Adlgasser und Margret Friedrich, Bd. 1 1898–1903. (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreich, Bd. 87). – Wien, Köln, Weimar 1997. S. 39 f. 19 Vgl. Eduard Castle : Lenau und die Familie Löwenthal. – 2 Bde., Leipzig 1906. 10 Helmut Lackner : Kohle – Eisen – Stahl. Eine Industriegeschichte der Region Aichfeld-Murboden. – Judenburg 1997. S. 103. 11 S. zahlreiche Belege in : Hugo von Hofmannsthal : Briefwechsel mit Marie von Gomperz 1892–1916. Hg. von Ulrike Tanzer. – Freiburg im Breisgau 2001. S. 144, 147. 12 Hugo von Hofmannsthal an Edgar Karg von Bebenburg, 4.11.1894. In : Hugo von Hofmannsthal : BriefChronik. Regestausgabe, Band 1, 1874–1911. Hg. von Martin E. Schmid. Heidelberg 2003. – S. 226. 13 Hofmannsthal : Briefwechsel mit Marie von Gomperz. S. 144, 147. 14 Gertrude Enderle-Burcel, Michaela Folner : Diener vieler Herren. Biographisches Handbuch der Sektionschefs der Ersten Republik und des Jahres 1945. – Wien 1997. S. 276 f. ; vgl. auch Das Jahrbuch der Wiener Gesellschaft. Biographische Beiträge zur Wiener Zeitgeschichte. – Wien 1929. S. 390. Im Jahr 1900 erfolgte die Heirat mit Alice Türk Edle von Karlovacrad, welche ebenso wie Löwenthals Mutter einer Familie des kroatisch-slawonischen Militäradels entstammte. 15 Robert Erhart : Im Dienste des alten Österreich. – Wien 1958, S. 156. 16 Max Löwenthal : Doppeladler und Hakenkreuz. Erlebnisse eines österreichischen Diplomaten. – Innsbruck 1985, S. 18. 17 Enderle-Burcel, Folner : Diener vieler Herren. S. 276 f. 18 Löwenthal : Doppeladler und Hakenkreuz. S. 18. 19 Tatsächlich waren die Fideikommissgüter der Familie bereits im späten 19. Jahrhundert veräußert worden. Löwenthal : Doppeladler und Hakenkreuz. S. 28. 20 Michael Hainisch : 75 Jahre aus bewegter Zeit. Lebenserinnerungen eines österreichischen Staatsmannes. (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs, Bd. 64). – Wien, Köln, Graz 1978. S. 227. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Friedrich Weissensteiner : Die österreichischen Staatspräsidenten. Leben und Werk. – Wien 1982. S. 105. 24 Hilde Verena Lang : Bundespräsident Miklas und das autoritäre Regime 1933–1938. – Diss. Wien 1972. S. 24, 115 f. Ob und inwiefern sich Löwenthal, wie sein Sohn schreibt, angesichts des von Bundeskanzler Dollfuß vollzogenen Staatsstreichs für die »Wahrung der Demokratie« exponierte, lässt sich nicht verifizieren. Vgl. Löwenthal : Doppeladler und Hakenkreuz. S. 192. 25 Zum »Österreichischen Kulturbund«, über dessen Wirken noch keine zusammenfassende Darstellung
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existiert, vgl. Murray G. Hall : Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938. Band II : Belletristische Verlage der Ersten Republik. – Wien, Köln, Graz 1985. S. 460 f. Peter Malina : Der »Österreichische Kulturbund«. Ergebnisse einer fragmentarischen Spurensuche. In : Michael Benedikt, Rudolf Burger (Hg.) : Die Krise der Phänomenologie und die Pragmatik des Wissenschaftsfortschritts. – Wien 1986. S. 250–272 ; Klaus Amann : Zahltag. Der Anschluß österreichischer Schriftsteller an das Dritte Reich. – 2. erw. Aufl. Frankfurt a. M. 1988. S. 168–185. Guido Müller : Jenseits des Nationalismus ? »Europa« als Konzert grenz-übergreifender adlig-bürgerlicher Elitendiskurse zwischen den beiden Weltkriegen. In : Heinz Reif (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland, II, Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert. (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 2). – Berlin 2001. S. 235–268, hier S. 246. Guido Müller : Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund. – München 2005. 450. Karl Anton Rohan : Heimat Europa. Erinnerungen und Erfahrungen. – Düsseldorf, Köln 1954. S. 197. Müller : Europäische Gesellschaftsbeziehungen, S. 455. Österreichischer Kulturbund. – Wien 1937. S. 30. Malina : Der österreichische Kulturbund. S. 259. Im Zeitraum von 1927 bis 1937 sprachen neben 118 Deutschen und 103 Österreichern im Kulturbund auch 142 Angehörige anderer Nationen. Fünfzehn Jahre Kulturbund. S. 5. Edith Prost : Emigration und Exil österreichischer Wissenschaftlerinnen. In : Friedrich Stadler : Vertriebene Vernunft I. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940. – Wien, München 1987. S. 444–447, hier S. 445 f. Österreichischer Kulturbund, S. 15. Ebd., S. 20 f. Ebd., S. 21. Reichspost, 21. Oktober 1934. S. 4. Fünfzehn Jahre Kulturbund. Festrede, gehalten am 6. November 1937 von Bundeskanzler Dr. Kurt von Schuschnigg. – Wien 1937. S. 14. S. dazu : Amann : Zahltag. S. 168–185 ; Franz Müller : Ein »Rechtskatholik« zwischen Kreuz und Hakenkreuz : Franz von Papen als Sonderbevollmächtigter Hitlers in Wien 1934–1938. (Europäische Hochschulschriften, Reihe III, Bd. 446). – Frankfurt a. M. u.a. 1990. S. 248–252. Amann : Zahltag. S. 177 ; Müller : »Rechtskatholik«. S. 249. Vermutlich war Löwenthal nach der Rassenterminologie des Dritten Reichs »Vierteljude«. Amann : Zahltag. S. 178. Ebd., S. 179 f. Ebd., S. 181. Hammerstein : »[…] wir grüßen ihn, der durch Krankheit leider verhindert ist, heute bei uns zu weilen, mit Dank und Verehrung und den herzlichsten Wünschen für seine baldige vollkommene Wiederherstellung«. Zit. Nach : Fünfzehn Jahre Kulturbund, S. 4 Murray G. Hall : Der Paul Zsolnay Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 45). – Tübingen 1945. S. 480. Vgl. Paul Nolte : Ständische Ordnung im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit. Zur Ideengeschichte einer sozialen Utopie. In : Wolfgang Hardtwig (Hg.) : Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 56). – München 2003. S. 233–255. Vgl. u.a. Josef Freiherr von Löwenthal : Die rechtliche Natur von Österreich-Ungarn (Eine Analyse der gemeinsamen Angelegenheiten). In : Zeitschrift für öffentliches Recht, Heft 4 (1917). ; Josef, Löwenthal : Unsere Verfassung verglichen mit jener anderer Republiken. Vortrag gehalten im Niederösterreichischen Gewerbeverein am 25. April 1919. – Wien 1919.
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49 U.a. »Über das Buch von Univ.-Prof. Dr. Othmar Spann, ›Der wahre Staat‹« (1924) sowie »Der deutsche Reichswirtschaftsrat. Anklänge an ein berufsständisches Parlament« (1927). 50 Ernst Hanisch : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. – Wien 1994. S. 316 ; vgl. Emmerich Tálos : Das austrofaschistische Herrschaftssystem. In : Emmerich Tálos, Wolfgang Neugebauer (Hg.) : Austrofaschismus. Politik − Ökonomie − Kultur 1933–1938. – (Politik und Zeitgeschichte, Bd. 1). – 5. Aufl., Wien 2005. S. 394–420, hier S. 404 f. 51 Anton Pelinka : Stand oder Klasse ? Die christliche Arbeiterbewegung Österreichs 1933–38. – Wien, München, Zürich 1972. S. 275. 52 Auf die umfangreiche Literatur zum »Ständestaat« (bzw. zum »Austrofaschismus«) kann hier nur in kleiner Auswahl verwiesen werden : Dieter Stiefel : Utopie und Realität. Die Wirtschaftspolitik des Ständestaates. In : Thomas Albrich, Klaus Eisterer, Rolf Steininger (Hg.) : Tirol und der Anschluß. Voraussetzungen, Entwicklungen, Rahmenbedingungen 1918–1938. (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, Bd. 3). – Innsbruck 1988. S. 403–433 ; Roman Sandgruber : »Ständestaat« und Wirtschaft. In : Historicum. Frühling 1999. S. 10–14 ; Ulrich Kluge : Der Österreichische Ständestaat 1934 –1938. Wien 1984 ; Helmut Wohnout : Regierungsdiktatur oder Ständeparlament ? Gesetzgebung im autoritären Österreich. (Studien zu Politik und Verwaltung, Bd 43). – Wien, Graz u.a. 1993 ; Paul Pasteur : Unter dem Kruckenkreuz. Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen in Österreich 1934–1938. – Innsbruck 2008. 53 Vgl. Josef Löwenthal : Die Verfassung 1934, verglichen mit früheren und fremden Verfassungen. – Wien 1935. 54 Löwenthal, Unsterbliche Stadt. S. 8. 55 Ebd., S. 263. 56 Ebd., S. 8. 57 Ebd., S. 263. 58 Ebd., S. 264 f. 59 Johannes Messner : Die soziale Frage der Gegenwart. – 1. Aufl., Innsbruck, Wien, München 1934, S. 569, definiert den Berufsstand wie folgt : »Der Berufsstand ist die Gemeinschaft derer, die durch das Zusammenwirken an einer im gesellschaftlichen Leistungsorganismus zu vollbringenden Leistung verbunden sind. Die Teilnahme an einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion begründet somit die Zugehörigkeit zu einem Stande, die Art der Mitwirkung an der gemeinsamen Funktion, ob in leitender oder abhängiger Stellung, ist für die Standeszugehörigkeit nebensächlich.« 60 Heinrich Bußhof : Berufsständisches Gedankengut zu Beginn der 20er Jahre in Österreich und Deutschland. In : Zeitschrift für Politik 13 (1966), S. 451–463, hier. S. 457 und 461 ; zu Messner vgl. auch : Alexander Pytlik : Berufsständische Ordnung oder »Ständestaat« ? Die Idee der berufsständischen Ordnung bei Johannes Messner. – (Schriftenreihe des Instituts für Ethik und Sozialwissenschaften). Wien 1993. 61 Löwenthal, Unsterbliche Stadt. S. 264. 62 Hans-Jürgen Krysmanski : Die utopische Methode. Eine literatur- und wissenssoziologische Untersuchung deutscher Utopischer Romane des 20. Jahrhunderts. (Dortmunder Schriften zur Sozialforschung, Bd. 21). – Köln, Opladen 1963. S. 109. 63 131. 64 Gemeint ist offenbar das Schöller-Bleckmann-Werk in Ternitz. 65 Löwenthal, Unsterbliche Stadt. S. 76. 66 Ebd., S. 170. 67 Gemeint ist damit die im Frühjahr 1934 gegründete ständestaatliche Einheitsgewerkschaft. 68 Ebd., S. 104. 69 Ebd., S. 105. 70 Ebd., S. 105 71 Ebd., S. 48.
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Ebd., S. 46. Ebd., S. 48–50. Hilda, eine der beiden weiblichen Hauptpersonen, ist Arbeiterin in einer Gummifabrik für Spielwaren. Löwenthal, Unsterbliche Stadt. S. 98. Ebd., S. 45. Ebd., S. 115. Ebd., S. 115. Ebd., S. 134 f. Ebd., S. 179 f. Ebd., S. 136. Ebd., S. 163. Ebd., S. 110. Ebd., S. 246 Ebd., S. 249 Ebd., S. 194 f. Ebd., S. 195 ; vgl. Messner : Soziale Frage. S. 425, Ebd., S. 197 f. Ebd., S. 67. Ebd., S. 125. Ebd., S. 234. Hier zeigt sich Löwenthal beeinflusst durch die französische Reiseschriftstellerin und Tibetreisende Alexandra David-Néel, welche 1936 einen Vortrag im Kulturbund gehalten hatte. Ebd., S. 176. Ferdinand Seibt : Utopica. Zukunftsvissionen aus der Vergangenheit. – 2. Aufl. München 2001. S. 265. Nach Ernst Hanisch war das katholische Milieu durch eine »antikapitalistische, sozialreformerische Sehnsucht, eine spezifische Konfliktunfähigkeit und Harmoniebedürftigkeit« sowie durch »die Sehnsucht, die fragmentierte Gesellschaft zu überwinden« geprägt. Ernst Hanisch : Politischer Katholizismus als ideologischer Träger des »Austrofaschismus«. In : Tálos, Neugebauer (Hg.) : Austrofaschismus. S. 68–86, hier S. 82. Johannes Messner : Die berufsständische Ordnung. Innsbruck. – Wien, München 1936. Nikolaus v. Sisserman, in : Neue Freie Presse, 11. Oktober 1936, S. 29. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten befand sich die Familie Löwenthal in einer prekären Situation. Max Löwenthal musste aus dem diplomatischen Dienst ausscheiden. Auch wurde der Landsitz der Familie in Traunkirchen beschlagnahmt. Löwenthal : Doppeladler und Hakenkreuz. S. 186, 205. Max Löwenthal-Chlumecky interpretiert dieses Zusammentreffen an der Bahre seines Vaters als »Demonstration demokratischer Solidarität«. Löwenthal : Doppeladler und Hakenkreuz. S. 192. Löwenthal : Doppeladler und Hakenkreuz. S. 192 ; vgl. auch Gerald Stourzh : Vom Reich zur Republik. Studien zum Österreichbewußtsein im 20. Jahrhundert. – Wien 1990. S. 44; St. zitiert aus den unveröffentlichten Aufzeichnungen Josef Schörners, eines Freundes der Familie Löwenthal. Johannes Messner hat die Anpassung an die neuen Gegebenheiten des österreichischen Sozialstaats in den späteren Auflagen seiner Schriften vollzogen, z. B. in der 7. Auflage von »Die soziale Frage« (1964).
Franz Schausberger
Rudolf Ramek – Notizen zu einer politischen Biografie
Ernst Hanisch, der der Erforschung der regionalen Zeitgeschichte Salzburgs zum Durchbruch verhalf, schrieb auch die erste Geschichte der Christlichsozialen Partei dieses Bundeslandes.1 Dabei stellte er fest, dass die christlichsoziale Landesparteiführung einerseits eine hohe Stabilität aufwies, da es zwischen 1918 und 1934 nur zwei Parteiobmänner gab : Den Präsidenten des Katholischen Bauernbundes Johann Lackner (1918–1922) und den Salzburger Abgeordneten zum Nationalrat und Rechtsanwalt Dr. Rudolf Ramek (1922 bis zum Selbstauflösungsbeschluss 1934). Andererseits müsse man aber deutlich zwischen der nominellen und der tatsächlichen Parteiführung unterscheiden, da sich der »landespolitisch eher blasse« Ramek gegenüber dem alles dominierenden Landeshauptmann Franz Rehrl nur schwer durchsetzen konnte.2 Nun ist diese Beurteilung, was die landespolitische Bedeutung Rameks betrifft, sicher richtig. Hier entschied in der Praxis ausschließlich Rehrl über die Politik der christlichsozialen Landespartei. Ob die Beurteilung, dass Ramek »gewiss kein charismatischer Politiker war, sondern ein biederer Verwalter« auch auf seine bundespolitische Karriere uneingeschränkt zutrifft, wird wohl noch einiger genauerer Forschungen bedürfen. Die Attribute »freundlich«, »konziliant«, »redlich« und »besonnen«, die man Ramek von allen Seiten zuordnete, müssen nicht automatisch mit »schwach«, »initiativlos« etc. verbunden sein. Isabella Ackerl zieht etwa für Rameks knapp zwei Jahre dauernde Zeit als Bundeskanzler eine »sehr positive Bilanz«.3 Für eine umfassendere Beurteilung wäre eine ausführliche, das ganze Leben Rameks umfassende biografische Studie dringend notwendig, war er doch immerhin zweimal Mitglied der österreichischen Bundesregierung, Bundeskanzler und Zweiter Präsident des österreichischen Nationalrates. Die vorliegende Arbeit greift nur einige wichtige Ereignisse aus dem politischen Leben Rameks heraus. Sie sollen und können kein biographisches Gesamtbild ergeben. Die notierten Blitzlichter sollen nur einige Mosaiksteine erhellen. Im Sinne von »Montage« als biografisches Verfahren.4 Eine Sammlung von Bausteinen und mancher neuer Details, die später einmal zu einem umfassenderen Bild von Rudolf Ramek und seinem politischen Wirken beitragen können. Bisher liegen nur zwei kürzere Gesamtdarstellungen vor : ein Beitrag von Walter Goldinger5 und einer von Isabella Ackerl6. Den dortigen Erkenntnissen sollen durch diesen Beitrag noch einige hinzugefügt werden. Durchaus im Sinne der Feststellung, dass »Biographien, wie alle Geschichte, immer wieder neu geschrieben werden müssen. Theoretisch
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muss es zahlreiche unterschiedliche Biographien zu einer einzigen historischen Figur geben.«7
Jugend in Teschen, Studium in Wien und Anwaltslaufbahn in Salzburg Rudolf Ramek wurde am 12. April 1881 als Sohn eines Eisenbahnbeamten in der schlesischen Stadt Teschen, der Hauptstadt des gleichnamigen Herzogtums in Österreichisch-Schlesien geboren. Er besuchte das Albrechtsgymnasium in Teschen. Die Stadt war zu dieser Zeit Sitz einer Bezirkshauptmannschaft, eines Kreisgerichts und eines Bezirksgerichts und zählte im Jahr 1880 13.000 Einwohner.8 Die Geburtsstadt Rameks zählte zu den drei wichtigen Sprachinseln Schlesiens, nämlich Troppau, Bielitz und eben Teschen. Während auf dem Land überwiegend polnisch gesprochen wurde, dominierte in den Städten die deutschsprechende Bevölkerung. Gerade zur Zeit von Rameks Jugend befand sich Teschen in einem enormen wirtschaftlichen und industriellen Aufschwung, der vor allem mit der Anbindung der Stadt an das Eisenbahnnetz zusammenhing : Im Jahr 1869 wurde die Teilstecke Oderburg–Teschen, im Jahr 1871 die Teilstrecke Teschen–Sillein eröffnet. Dadurch nahmen Fracht-, Post- und Reiseverkehr enorm zu, um die Stadt herum entstanden zahlreiche Fabriken.9 Zeitgenössische Schilderungen weisen den Deutschen dieses Teils von Schlesien einen »eigenthümlichen schlesischen Provinzialgeist und Volkscharakter« zu. Als »Vermittler zwischen norddeutschem und süddeutschem Wesen« sind sie durch ein »gewisses Mittel der Extreme« ausgezeichnet. Gelassenheit und Ruhe, Friedensliebe, Rechtsgefühl, Ehrlichkeit, Sparsamkeit, Beständigkeit, Bodenständigkeit, Bescheidenheit, Vaterlandstreue, zähe Ausdauer, Wissbegierigkeit und schnelle Auffassung sind Charaktereigenschaften, die ihnen zugeschrieben wurden10 und die in der späteren öffentlichen Beurteilung von Rudolf Ramek auch ihm immer wieder attestiert wurden. »Ruhig, fast phlegmatisch, jeder großen Geste abhold« bezeichnete ihn Anton Rintelen, der in Rameks II. Kabinett als Unterrichtsminister eintrat.11 Insgesamt eine Form von Gemütlichkeit, die sich schon in der Sprache manifestierte, die durch ihren ausgesprochen musikalischen Charakter eine besondere »Weichheit« erhielt. »Gegenüber anderen Dialekten ist zunächst das langsame Redetempo so charakteristisch, dass man selbst den gebildeten Schlesier in ganz Deutschland an seiner gemütlich breiten Aussprache erkennt.«12 Gerade dieses schlesische Idiom brachte es mit sich, dass Ramek vor allem auf Wiener Boden immer wieder belächelt wurde. So mokierte sich der Wiener Polizeipräsident Johannes Schober über Rameks Aussprache »Böamtenfrage«13, der damalige Bundespräsident Michael Hainisch erinnert sich an Rameks »deutsch-tschechi-
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schen Akzent« seiner Reden, die er, obwohl er ganz gut reden konnte, meistens von einem Zettel ablas.14 Ab dem Jahr 1900 studierte Ramek Rechtswissenschaften an der Universität Wien. Während des Studiums trat er der katholischen Verbindung »Norica« bei und wurde somit Mitglied des katholischen Cartell-Verbandes. Die 1884 gegründete Katholische akademische Verbindung Norica ist die älteste CV-Verbindung auf Wiener Boden. Das Studium schloss Ramek mit der Promotion zum Dr. iur. am 26. Februar 1907 ab. Zur Ableistung des Wehrdienstes war Ramek beim 4. Festungsregiment in Pola stationiert. Seinen Feld- und Frontdienst während des Ersten Weltkrieges leistete er vom 29. Juli 1914 bis zum 10. November 1918, zuletzt als Hauptmann und Batteriekommandant beim 1. Schweren Artillerieregiment an der italienischen Front.15 Nach dem Abschluss des Studiums absolvierte Ramek ein Jahr Gerichtspraktikum am Kreisgericht in Teschen und anschließend Kanzleipraktika in Rechtsanwaltskanzleien in Meran und in Innsbruck. Dort lernte er seine aus Innsbruck stammende Frau kennen. Im Jahr 1909 kam er nach Salzburg als Konzipient in die Kanzlei des bekannten Salzburger »Milieu-Rechtsanwaltes«16 Dr. Robert Huber. Die Anwaltskanzlei Huber vertrat zu dieser Zeit die juristischen Interessen zahlreicher katholischer Organisationen und bot dem jungen Konzipienten Dr. Rudolf Ramek das berufliche Sprungbrett für den juristischen Nachwuchs des katholischen Milieus.17 Im Jahr 1910 heiratete er seine Frau Adele, 1911 kamen sein Sohn Friedrich, 1914 der zweite Sohn Karl und 1918 die Tochter Gabriele zur Welt. Die Kinder hatten wenig Kontakt zu den Eltern. Die Mutter war eine kühle, zurückhaltende Frau, sie führte zumindest zu Hause das Regiment, der Vater Rudolf war eher gutmütig und nachgiebig. Über sein privates Leben ist kaum etwas bekannt. Er hielt sein Familienleben völlig fern von der Politik, was offensichtlich auch sehr den Vorstellungen seiner Frau entsprach. Aus seinem persönlichen Nachlass ist leider absolut nichts vorhanden. Seine Tochter Gabriele Wild hatte den Nachlass Rudolf Rameks aufbewahrt, nach ihrem Tod wurde alles sofort über Altwarenhändler in alle Winde zerstreut.18 Dank seines freundlichen und sympathischen Wesens aber sicher auch mithilfe seines beruflichen Mentors Dr. Robert Huber war Ramek bald in die bürgerliche Salzburger Gesellschaft integriert. Er war mit der Bankiersfamilie Spängler und den Besitzern des Cafés Tomaselli befreundet und hatte gute freundschaftliche Kontakte zu prominenten Vertretern des Salzburger Kunst- und Kulturlebens, wie etwa zu dem berühmten Sänger Richard Mayr und dem Dirigenten Felix Weingartner.19 Auf Rameks Engagement im kulturellen Bereich, etwa beim Mozarteum20 oder bei den Salzburger Festspielen,21 kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Seiner gesellschaftlichen Integration sicher sehr förderlich war auch sein öffentliches Bekenntnis und sein Engagement für das katholische Couleurstudententum.
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Als Mitglied der Wiener CV-Verbindung Norica fand er auch rasch Eingang in den Salzburger CV und unterstützte auch die 1901 gegründete Mittelschulverbindung »Almgau«, deren Ehrenmitglied er 1931 wurde.22 Immer wieder sieht man Ramek auf Fotos im Couleur im Kreise der CV-er und MKV-er bei festlichen Anlässen. Im Salzburger CV traf er auf Landeshauptmann Franz Rehrl, Landesrat Daniel Etter, den späteren Landeshauptmann Adolf Schemel u. v. a. Am 22. 11. 1913 wurde er selbst Rechtsanwalt in Salzburg und blieb dort bis 1938. Am 24. Dezember 1918 veröffentlichte Dr. Ramek eine Anzeige, in der er mitteilte, dass er vom Krieg zurückgekehrt sei und seine Kanzlei wieder eröffne und diese mit der Kanzlei von Rechtsanwalt Dr. Robert Huber vereinigt habe. Die Kanzlei befand sich im 1. Stock des Hauses Kaigasse 8.23
Einstieg in die Politik und erste Zusammenarbeit mit Ignaz Seipel Rudolf Ramek zählte zu den ersten Repräsentanten der heranwachsenden jungen, eigenständigen christlichsozialen Parteiintelligenz, die der Partei aus dem CV zugeführt wurde. Dieses Rekrutierungsmuster hatte sich allerdings Anfang der Zwanzigerjahre noch nicht voll durchgesetzt, sodass vorerst noch die katholischen Priester zahlreiche Aufgaben in der Partei übernehmen mussten. Ramek ist sicher ein interessantes Beispiel im Rekrutierungsprozess politischer Eliten der Christlichsozialen Partei Salzburgs. Seine »Politiknähe«, die Art seiner Berufstätigkeit, seine berufsbedingte »Abkömmlichkeit« für die Politik waren gute Voraussetzungen für den Einstieg in die Politik.24 Der »Wahlsalzburger« Rudolf Ramek, fast zehn Jahre älter als sein späterer jahrzehntelanger Partner Franz Rehrl und fünf Jahre jünger als sein späterer Mentor Ignaz Seipel, war rund 30 Jahre alt, als er sich die ersten politischen Sporen verdiente. Über die Rechtsanwaltskanzlei Dr. Huber fand der Rechtskonzipient Dr. Rudolf Ramek Eingang in den Bauernbund als Rechtsberater für die Bauern (»Reden statt prozessieren«)25 und bereits 1911 übernahm Ramek das Mandat eines Lungauer Bauern im 20-köpfigen Ausschuss des Katholischen Bauernbundes Salzburgs. Dort traf er die bedeutenden katholischen Landespolitiker Dr. Viktor von Fuchs, Dr. Alois Rottensteiner, Landeshauptmann Prälat Alois Winkler, Präsident Franz Schoosleitner, Daniel Etter usw.26 Seit damals blieb Ramek dem Bauernbund immer eng verbunden und wurde von diesem auch politisch unterstützt. Er wurde – neben Alt-Landeshauptmann Prälat Winkler und Rechtsanwalt Dr. Robert Huber – Ehrenmitglied des Salzburger Bauernbundes mit Sitz und Stimme in der Landesleitung.27 Als im Vorkriegsjahrzehnt das Bedürfnis im katholischen Milieu nach nationaler Betätigung stieg, wurde im Frühjahr 1909 in Oberösterreich die Schutzvereinsbewegung »Ostmark« gegründet, die sehr rasch und stark wuchs. Sie war vor allem
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auch gegen den Antiklerikalismus der bestehenden Schutzvereine, vor allem der »Südmark«, gedacht. In Salzburg, wo der antiklerikale Aktivismus der »Südmark« besonders rege war, wurde zu Pfingsten 1909 eine Filiale der »Ostmark« gegründet, der der hiesige Philisterzirkel des Cartellverbandes als Gründer beitrat. Zum Obmann wurde Dr. Rudolf Ramek gewählt, zu seinem Stellvertreter Dr. Friedrich Rottensteiner, der Sohn des katholischen Landespolitikers Dr. Alois Rottensteiner. Die »Ostmark« vereinigte die beiden politischen Stränge des katholischen Milieus, den eher konservativen Bauernbund und die Christlichsozialen. Als Obmann der »Ostmark« wurde Rudolf Ramek alsbald Ausschussmitglied von Bauernbund und Christlichsozialem Verein und verklammerte so beide Richtungen. Sein vermittelndes Wesen scheint schon hier zum Tragen gekommen zu sein.28 Als 1912 der Salzburger Zweigverein der »Leo-Gesellschaft« zur Förderung der Wissenschaft und Kunst gegründet wurde, saß Ramek als Schriftführer im ersten Vereinsvorstand. Präsident der »Leo-Gesellschaft« in Salzburg wurde Ignaz Seipel, seit 1909 Universitätsprofessor für Moraltheologie in Salzburg.29 Die Leo-Gesellschaft war als eine Art Akademie für Gelehrte zur Pflege der Wissenschaft und Kunst im christlichen Geist gedacht. Der erste offizielle Leo-Gesellschafts-Abend in Salzburg fand am 12. Oktober 1912 statt und war äußerst gut besucht. Seipel, der schon 1907 in Wien zum Direktor der Leo-Gesellschaft ernannt worden war30, hätte die Führung des Salzburger Zweigvereins gerne in die Hände eines Laien gelegt, allerdings war dafür niemand Geeigneter vorhanden. Von Anfang an aber stand ihm aktiv ein enger Mitarbeiter, der für weitere Aufgaben aufgebaut wurde, zur Seite : »der spätere treue Gefolgsmann im politischen Leben«, Rudolf Ramek.31 Dieses enge Verhältnis, das in dieser Zeit zwischen Seipel und Ramek entstand, ist für die Beurteilung der weiteren politischen Karriere Rudolf Rameks von großer Bedeutung und wurde bisher nicht ausreichend berücksichtigt. Im Jahr 1913 scheint Ramek auch bereits als Referent im Rahmen der »Sozialen Vorträge« beim Katholischen Frauenbund auf. Diese Vorträge wurden vom Gesellenvereinspräses Franz Schmitz, von Professor Ignaz Seipel und eben von Rudolf Ramek bestritten.32 In diesen Jahren dürfte die Bekanntschaft zwischen Seipel und Ramek, beide Mitglieder der CV-Verbindung Norica, noch vertieft worden sein.
Erstes politisches Mandat : Gemeinderat der Stadt Salzburg Die neue Zeit nach dem Zusammenbruch der Monarchie brach im Gemeinderat der Stadt Salzburg mit der Sitzung vom 16. Dezember 1918 an. Den neuen politischen Verhältnissen entsprechend wurde in der Sitzung des Salzburger Gemeinderates am 9. Dezember 1918 mitgeteilt, dass Sozialdemokraten und Christlichsozialen nun eine stärkere Vertretung zustünde.33 Die Gesamtzahl der Gemeinderatssitze wurde
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um zehn auf 40 erhöht und die Mandate wurden nach dem Ergebnis der letzten Gemeinderatswahl von 1911 auf die drei Parteien aufgeteilt. Den Deutschfreiheitlichen standen nun 23 Sitze, den Sozialdemokraten zwölf und den Christlichsozialen fünf Sitze zu. In der Sitzung des Gemeinderates vom 16. Dezember34 kamen zu den bisherigen zwei christlichsozialen Gemeinderäten Josef Preis und Karl Baldinger nun der Rechtsanwalt Dr. Rudolf Ramek, der Arbeitersekretär Johann Bachinger und die Kondukteursgattin Anna Karl neu dazu. Ramek hatte mit 37 Jahren sein erstes politisches Mandat übernommen.35 Er wurde Mitglied in vier Gemeinderatsausschüssen, nämlich für Rechtsangelegenheiten, Polizeiangelegenheiten, Theater- und Fremdenverkehr sowie für den Bau und Betrieb von Kleinbahnen.36 Für die Gemeinderatswahl 1919 kandidierte Ramek auf der christlichsozialen Liste an zweiter Stelle, für die Gemeinderatswahl 1923 auf dem dritten Platz und 1927 wieder an zweiter Stelle. Sein kommunalpolitisches Engagement musste Ramek, bedingt durch seine bundespolitischen Aufgaben, ziemlich einschränken. Im Gemeinderatswahlkampf 1919 scheint er als Redner bei Wahlveranstaltungen nur sehr selten auf, zur großen christlichsozialen »Aulaversammlung« am 10. Juli 1919 wurde er mehrmals in der Salzburger Chronik als Redner angekündigt, schließlich aber war er nicht dabei.37 Am 8. Juli sprach er bei einer Vertrauenspersonen-Versammlung der Christlichsozialen Partei und warnte in seiner Rede vor den Arbeiterräten, die in Wien den Klassenkampf und die Diktatur des Proletariats forderten. Die Christlichsoziale Partei sei für den Ausgleich der Stände, vor allem für die »Pflege des arg bedrohten Mittelstandes«. Die Wahlwerbung des Freisinns sei »greisenhaft matt und faschingsmäßig lächerlich«.38 Die Gemeinderatswahlen vom 13. Juli 1919 brachten eine totale Veränderung der Mehrheitsverhältnisse im Salzburger Gemeinderat. Die Christlichsoziale Partei wurde mit 16 Mandaten die eindeutig stärkste Partei und stellte mit Josef Preis nunmehr den Bürgermeister. Wegen seiner Belastung als Abgeordneter zur Nationalversammlung übernahm Preis im christlichsozialen Gemeinderatsklub keine Führungsfunktionen und ging nur mehr in zwei Ausschüsse : in den Ausschuss für Rechtsangelegenheiten und in den Theaterausschuss.39 Bei der Gemeinderatswahl am 13. Mai 1923 wurde die christlichsoziale Mehrheit bestätigt, Josef Preis blieb Bürgermeister. Ramek engagierte sich sehr in der Frage der Errichtung des Strubklammkraftwerkes und es gelang ihm, für dieses Projekt eine Finanzierung durch den Wiener Bankverein zu erreichen. Zu Weihnachten 1924 wurde das Kraftwerk in Anwesenheit von Ramek als Bundeskanzler eröffnet.40 Nach der Niederlage der Christlichsozialen Partei bei der Gemeinderatswahl vom 3. April 1927 und dem Verlust des Bürgermeisteramtes, legte Ramek mit Schreiben vom 27. April 1927 sein Gemeinderatsmandat zugunsten des Fachlehrers Heinrich Seibert zurück.41
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Einstieg in führende parlamentarische Funktionen Für die Wahl zur Konstituierenden Nationalversammlung am 16. Februar 1919 kandidierte Ramek an zweiter Stelle hinter dem Obmann der Christlichsozialen Landespartei, dem Zehenthofbauern aus Reitdorf bei Altenmarkt, Johann Lackner. Wie das christlichsoziale Parteiorgan, die Salzburger Chronik, schrieb, sei der Rechtsanwalt Dr. Ramek ein Kandidat, »der als langjähriges Mitglied der christlichsozialen Parteileitung, als Bundesanwalt des katholischen Bauernbundes und in letzter Zeit als Gemeinderat der Stadt Salzburg alle Voraussetzungen besitzt, die ihn zum Vertreter Salzburgs befähigen. Auch die christliche Arbeiterschaft, deren Forderungen Dr. Ramek zu den seinen gemacht hat, hat einmütig seine Kandidatur gebilligt.« Als Begründung für Rameks Kandidatur wurden vor allem seine rechtlichen Kenntnisse angeführt : »Beim Aufbaue eines neuen Staates liegt das Schwergewicht in der Schaffung von grundlegenden Gesetzen, welche den großen Überbau über alle anderen wirtschaftlichen und politischen Fragen herstellen müssen. Es handelt sich um die Fragen der Staatsverfassung, der Regelung des staatsrechtlichen Verhältnisses der einzelnen Länder untereinander und zum Gesamtstaate, des Verhältnisses der Kirche zum Staate und um die Erlassung von grundlegenden volkswirtschaftlichen Gesetzen. Das alles sind Dinge, die unbedingt einen Mann in der gesetzgebenden Körperschaft erfordern, der imstande ist, tiefer in das Räderwerk der Staatsgestaltung zu blicken, der die dazu notwendige Vorbildung besitzt. Wenn schon jeder kleine Verein, wenn schon jede kleine wirtschaftliche Organisation einen juristischen Beirat braucht, so ist es umso notwendiger, dass an der Werkstätte der Gesetzgebung ein Fachmann der Gesetzeskunde eine große Volkspartei vertritt. Das gleiche gilt von der Mitarbeit an der Staatsverwaltung und von der endgültigen Überwindung unserer unseligen Bürokratie, die noch immer in den Staatskanzleien und Behörden ihr Unwesen treibt. Deshalb wurde als zweiter Kandidat einstimmig Herr Dr. Rudolf Ramek aufgestellt.«42 Anlässlich der Konstituierung wurde Ramek am 5. 3. 1919 gleich in den Vorstand der Christlichsozialen Vereinigung (Klub) in der Nationalversammlung gewählt. Nach der Berufung von Jodok Fink zum Vizekanzler wurde an seiner Stelle Dr. Ramek als Mitglied in den Hauptausschuss der Nationalversammlung nominiert.43
Auf dem Weg zur Führung der Christlichsozialen Landespartei Salzburgs Am 7. Dezember 1918 veröffentlichte die Salzburger Chronik das Programm der Christlichsozialen Partei für das Land Salzburg. Gleichzeitig wurde bekannt ge-
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geben, dass sich auf der Basis dieses Programms der Katholische Bauernbund, der Christlichsoziale Verein, der »Verband der christlichen Arbeiterorganisationen« und die Katholische Frauenorganisation zur einheitlichen Christlichsozialen Partei für das Land Salzburg bei Wahrung der vollen Selbstständigkeit der genannten Organisationen zusammengeschlossen hatten.44 Der neuen, 14-köpfigen Parteileitung gehörte auch Rudolf Ramek an. Zum Obmann der Christlichsozialen Partei Salzburgs wurde der Präsident des Katholischen Bauernbundes, Johann Lackner, gewählt. Sein erster Stellvertreter war Dr. Rudolf Ramek, sein zweiter Stellvertreter war Wilhelm Schernthanner. Gesellenpräses Franz Schmitz wurde zum Schriftführer, Kassier und Parteisekretär bestellt. Das neue Christlichsoziale Parteisekretariat wurde in der Franz-Josef-Straße 15 eingerichtet. Beim christlichsozialen Landesparteitag am 8. Mai 1920 wurde die gesamte Führung der Landespartei, damit auch Ramek als einer der beiden LandesparteiobmannStellvertreter, gewählt. Schon bei diesem ersten Landesparteitag hielt Ramek, so wie bei allen folgenden Landesparteitagen, das bundespolitische Hauptreferat. Ramek war inzwischen am 17. Oktober 1919 Staatssekretär für Justiz geworden. Er verteidigte vor allem die Koalition aus Sozialdemokraten und Christlichsozialen unter der Führung Renners, die bei der Basis beider Parteien und vor allem bei den Christlichsozialen in den Bundesländern denkbar unbeliebt war und zu ständiger Kritik Anlass gab. Dieser Koalition sei es zu verdanken, dass es nach dem Zusammenbruch der Monarchie zu keinem weiteren Umsturz gekommen sei und wirtschaftlicher und sozialer Friede herrsche, meinte Ramek. Man dürfe die Regierung nicht nur durch die Parteibrille, sondern vor allem im Interesse des allgemeinen Wohles sehen. Aus diesen Ausführungen kann man schon erkennen, dass Ramek ein Befürworter der Zusammenarbeit mit möglichst vielen politischen Kräften, auch mit den Sozialdemokraten, war. Anhand der Parteitagsreden zeigte sich die zwar nicht direkt thematisierte, aber unverkennbare Diskrepanz zwischen Ramek und Rehrl. Während Ramek die Bundespolitik, soweit sie von den Christlichsozialen (und ihren Koalitionspartnern) bestimmt war, loyal erklärte und verteidigte, hielt sich Rehrl nicht im Geringsten mit seinen verbalen Attacken und seiner heftigen Kritik an der Bundespolitik, auch wenn sie von den Christlichsozialen getragen war, zurück. Vor allem Rehrls tiefe Aversion gegen die Wiener Bürokratie und gegen die jüdischen Banken und Medien kam in all seinen Reden in ungeschminkter Deutlichkeit zutage.45 Beim 2. Landesparteitag der Christlichsozialen Salzburgs am 30. November 1921 wurde Ramek als Landesparteiobmann-Stellvertreter wiedergewählt. Seit dem letzten Parteitag hatte es weitreichende politische Veränderungen gegeben. Am 10. Juli 1920 hatten die Christlichsozialen die Koalition mit den Sozialdemokraten aufgekündigt, die folgende Regierung Michael Mayr, eine Proporzregierung aus Christ-
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lichsozialen, Sozialdemokraten und Großdeutschen schaffte am 1. Oktober 1920 den Beschluss über die Bundesverfassung. Ramek war als Opfer der neuen Proporzregierung aus der Regierung ausgeschieden, das Justizressort wurde von einem Großdeutschen übernommen. Bei den Nationalratswahlen am 17. Oktober 1920 wurde die Christlichsoziale Partei die stärkste Partei, es folgte eine Koalitionsregierung aus Christlichsozialen und Großdeutschen unter der Führung von Bundeskanzler Mayr. Am Ende dieser Regierung war Ramek für zwei Monate Innen- und Unterrichtsminister. Diese Regierung stürzte über die in einigen Bundesländern durchgeführten Abstimmungen über den Anschluss Österreichs an Deutschland. Es folgte die erste Regierung Schober, die zum Zeitpunkt des Landesparteitages im Amt war und – nach Ramek – nicht als christlichsoziale Regierung anzusehen war.46 Der christlichsoziale Landesparteiobmann Johann Lackner legte am 11. November 1922 aus gesundheitlichen Gründen seine Funktion zurück. Dr. Rudolf Ramek wurde zum geschäftsführenden Parteiobmann bestellt. Ramek wurde beim Landesparteitag am 24. Februar 1923 definitiv zum Landesparteiobmann gewählt und bei den Parteitagen 1924, 1925, 1927, 1928, 1929, 1930, 1931 und 1932 wiedergewählt. Einen weiteren Landesparteitag gab es aufgrund der bundespolitischen Entwicklung dann nicht mehr. Rameks verschiedene bundespolitische Funktionen verlangten natürlich eine hohe Präsenz des salzburger Landesparteiobmannes in Wien. Trotzdem scheint er jede Möglichkeit genutzt zu haben, in Salzburg zu sein, um hier seinen politischen Einsatz zu leisten. Darüber hinaus führte er in den Zeiten, in denen er kein Regierungsamt innehatte, seine Rechtsanwaltskanzlei weiter. Vor allem bei Nationalratswahlkämpfen war er als Redner bei vielen Parteiversammlungen im Einsatz. In der Zeit Rameks als Bundeskanzler führten in Salzburg seine Stellvertreter Josef Hauthaler und Josef Bachinger die Landespartei. Seine tatsächlichen Aktivitäten als Landesparteiobmann bedürfen noch näherer Recherchen. Fest steht jedenfalls, dass er sich in die landespolitischen Gestionen der Landespartei wenig eingemischt hat, diese verblieben fast ausschließlich im Entscheidungsbereich Landeshauptmann Rehrls und seiner christlichsozialen Regierungsmitglieder.
Staatssekretär für Justiz als Signal gegen die »Losreissung« der Länder von Wien Am 17. Oktober 1919 nahm die Nationalversammlung endgültig den Friedensvertrag von Saint-Germain an. Damit hatte die Koalition zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen ihre bisher wichtigste Aufgabe erfüllt und die Regierung trat
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am selben Tag zurück. Nach vorangegangenen, mehr als einwöchigen Verhandlungen waren die Koalitionspartner übereingekommen, eine neue gemeinsame Regierung zu bilden, auf der Basis eines konkreten, alle wesentlichen Teile umfassenden Regierungsprogramms, das die immer schärfer gewordenen Auseinandersetzungen zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten in eine konstruktivere Zusammenarbeit führen sollte. Zu groß waren die anstehenden Probleme im Bereich der Staatsfinanzen, der Ernährungs- und Energiesicherung, des Aufbaues der Verwaltung und öffentlichen Ordnung und bei der Schaffung einer neuen Verfassung. Man befürchtete, dass ein Winter bevorstand, wie man ihn noch nie erlebt hatte. So war dieses gemeinsame Regierungsprogramm der »Winterkoalition« »kein Vertrag aus Neigung, sondern aus Not«.47 Die neue Regierung umfasste 19 Mitglieder, 13 Staatssekretäre (Minister) und 6 Unterstaatssekretäre. Vier Staatssekretäre und drei Unterstaatssekretäre stellte die Christlichsoziale Partei, fünf Staatssekretäre und drei Unterstaatssekretäre kamen von der Sozialdemokratischen Partei und vier Staatssekretäre waren parteilos. Die Zusammensetzung der Regierung brachte auch einige personelle Neuerungen. Darunter war auch der neue Staatssekretär für Justiz, Dr. Rudolf Ramek. Er war neben dem Staatssekretär für Verfassungs- und Verwaltungsreform, dem Tiroler Prof. Dr. Michael Mayr, ein deutliches Signal an die Länder. Dieses entsprach dem Bestreben, »die Führer der Länder in das Kabinett aufzunehmen und durch sie auf die Stimmung gegen Wien und auf die Kräfte zur Losreißung zu wirken«.48 Ramek erhielt einen sozialdemokratischen Landespolitiker aus Graz, Dr. Arnold Eisler, als Unterstaatssekretär zur Seite gestellt. Acht Monate später war die Regierung nach einer zweiwöchigen Regierungskrise am Ende. Die Verhandlungen über die Bildung einer Proporzregierung aus Christlichsozialen, Sozialdemokraten und Großdeutschen scheiterten an der Besetzung des Innenministeriums. Die christlichsozialen Staatssekretäre und Unterstaatssekretäre traten von ihren Ämtern am 24. Juni 1920 zurück, sie wurden durch sozialdemokratische Regierungsmitglieder ersetzt, sodass kurzfristig eine rein sozialdemokratische Regierung bestand. Unterstaatssekretär Eldersch übernahm die Funktion von Ramek. Die Christlichsozialen waren bereit gewesen, das Justizressort »trotz der verdienstvollen Wirksamkeit ihres Staatssekretärs Abg. Dr. Ramek«49 den Großdeutschen zu überlassen. Die Sozialdemokraten weigerten sich allerdings, entsprechend dem vereinbarten Proporz eines ihrer bisherigen Ressorts an die Großdeutschen abzutreten. Die Christlichsozialen boten überdies an, das Innenressort durch einen neutralen Beamten zu besetzen, was von den Sozialdemokraten ebenfalls abgelehnt wurde. Am 3. Juli 1920 einigte man sich schließlich im Hauptausschuss des Nationalrates auf die Bildung einer Proporzregierung mit einer geringeren Anzahl von Regierungsmitgliedern als bisher. Es war keine gemeinsame Regierung, sondern eine
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Regierung, in welche die drei Parteien ihre Vertreter nach dem Proporz entsandten, eine Übergangsregierung. Es wurde kein Staatskanzler (bisher Renner) mehr gewählt, sondern der Christlichsoziale Dr. Michael Mayr fungierte als Leiter der Staatskanzlei und Vorsitzender der Regierung. Als Staatssekretär für Justiz, also als Nachfolger von Ramek, wurde der Vertreter der Großdeutschen, Präsident des Obersten Gerichtshofes Dr. Julius Roller, bestellt.50 Ramek wurde also Opfer der neuen Proporzregierung und kehrte wieder als Abgeordneter ins Parlament zurück.
Bundesminister für Inneres und Unterricht – eine Folge von Ex-Kaiser Karls »Osterbesuch« in Ungarn Die Berufung Rudolf Rameks in die Regierung war eine direkte Folge des überraschenden Oster-Besuchs des früheren Kaisers Karl in Ungarn vom 29. März bis zum 5. April 1921. Über die Frage nach der Zusammensetzung der österreichischen Begleitdelegation im Zug auf der Durchreise durch Österreich war es innerhalb der österreichischen Bundesregierung zu einer ernsthaften Krise gekommen. Während Innen- und Heeresminister (Baron) Egon Glanz eine Begleitung nach dienstlichen Vorschriften und ohne Kompromittierung des Ex-Kaisers zusammenstellte, legte die sozialdemokratische Fraktion eine stark parteipolitisch sozialdemokratisch gefärbte Liste vor. Bundeskanzler Mayr entschied, dass alle Vorgeschlagenen in der Begleitung Karls mitfahren sollten.51 Glanz sah darin eine schwere Beschneidung seiner Kompetenz und eine Beschädigung seiner Autorität gegenüber dem Heer an und erklärte am 6. April 1921 seinen Rücktritt.52 Mit der Führung der Ressorts wurde Vizekanzler Walter Breisky betraut. Nach längeren Diskussionen innerhalb der Christlichsozialen Partei wurde schließlich dieser Ressortbereich geteilt und für die Bereiche Inneres und Unterricht Dr. Rudolf Ramek und für das Heereswesen Karl Vaugoin vorgeschlagen. Ignaz Seipel war als ehemaliger kaiserlicher Minister durch die unbedachte Aktion des Ex-Kaisers innerhalb der Christlichsozialen Partei in eine persönlich schwierige Situation gebracht worden und hatte einen mehrwöchigen Urlaub angetreten und sich so aus der vordersten politischen Schusslinie genommen. Die Berufung Rudolf Ramek in die Regierung bedeutete für Seipel, einen Vertrauensmann in wichtiger Position zu wissen, mit dem er »von seiner Salzburger Zeit her in bester Verbindung stand«.53 Nachdem die Sozialdemokraten nicht bereit waren, den beiden Ministerkandidaten im Nationalrat ihre Zustimmung zu geben, führten die Christlichsozialen Verhandlungen mit den Großdeutschen und der Deutsch-österreichischen Bauernpartei, die ihre Unterstützung zusagten. Am 28. April wurde dem Vorschlag Ramek/Vaugoin im Nationalrat mit 79 : 54 Stimmen die Zustimmung erteilt. Der So-
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zialdemokratische Abgeordnete Dr. Adler erklärte, dass man trotz des ablehnenden Stimmverhaltens den beiden neuen Ministern »vorläufig vorurteilslos entgegensehen« werde, vom Innenminister allerdings verlange, dass von ihm das Land Wien mit den anderen Ländern vollständig gleichberechtigt behandelt werde.54 Besonders entscheidend aber sei, wie sich der neue Innenminister zum Bezirksverwaltungsgesetz stellen werde. Wenn er sich dazu berufen fühle, »die Paschawirtschaft der alten k. k. Bezirkshauptleute aufrechtzuerhalten, und kein Verständnis dafür zeigen wird, der Demokratie auf dem Boden des Bezirkes zum Durchbruch zu verhelfen«, dann werde er eine »absolut ablehnende Haltung« der Sozialdemokratie erhalten.55 Die beiden Minister hatten bei den Sozialdemokraten deshalb »eine auffallend günstige Aufnahme gefunden«, weil die Sozialdemokraten den Rücktritt von Dr. Glanz als ihren Erfolg werteten, da die beiden als Abgeordnete aus dem Parlament kamen und nicht Beamte waren und weil beide »bereits lange Zeit gemeinsam mit den Führern der sozialdemokratischen Partei« zusammengearbeitet hatten. Minister Glanz hatten die Sozialdemokraten Opposition um jeden Preis entgegengebracht.56 Das christlichsoziale Parteiorgan wiederum verwies darauf, dass Ramek es verstanden habe, »durch seine maßvolle Art, sein konziliantes Wesen, seinen Pflichteifer und seine streng sachliche Objektivität« sowie durch »seine Kenntnisse in Verwaltung und Rechtspflege sich allgemeine Wertschätzung weit über die Kreise seiner Parteigenossen hinaus auch bei den Gegnern zu gewinnen«.57 Ramek und Vaugoin wurden am 29. April 1921 von Bundespräsident Hainisch als neue Minister angelobt. Als Innenminister machte sich Ramek die Abrüstungs- und Entwaffnungsfrage zu einem persönlichen Anliegen. Infolge des ungeordneten Zurückströmens der verschiedenen Truppenteile aus dem Ersten Weltkrieg waren in Österreich Unmengen von Kriegsgeräten und Waffen in private Hände gelangt. Der Staatsvertrag von Saint-Germain verlangte, dass alles Kriegsgerät an die Alliierte Kontrollkommission abgeliefert werde. Diese Vertragsbedingung konnte allerdings nie wirklich voll erfüllt werden. Als Innenminister bemühte sich Ramek nachdrücklich, die Leiter der Exekutive und die Landeshauptmänner anzuhalten, diese Verpflichtungen einzuhalten. Die Heimwehren hatten vergeblich darauf gehofft, dass sie unter Innenminister Ramek leichter zu solchen Waffen kommen würden.58 Wie wenig er aber letztlich bei seinen Bemühungen Erfolg hatte, zeigte sich einige Jahre später, als die Waffen bei den paramilitärischen politischen Wehrorganisationen wieder auftauchten und bei den bewaffneten Zusammenstößen zum Einsatz kamen.59 Rameks Funktion als Innenminister endete schließlich etwa zwei Monate später mit dem Rücktritt der Regierung Mayr am 1. Juni, formal am 21. Juni 1921. Die Regierung, die wirtschafts- und außenpolitisch durchaus erfolgreich war, scheiterte an den Volksabstimmungen in den Ländern zum Anschluss an Deutschland. Diese waren mit den erfolgreich begonnenen Verhandlungen mit dem Völkerbund über
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Auslandskredite für Österreich unvereinbar. Bei der Volksabstimmung in Tirol am 24. April stimmte eine große Mehrheit für den Anschluss an Deutschland. Nach dieser Abstimmung fuhr Bundeskanzler Mayr in Begleitung seines neuen Innenministers Ramek nach Salzburg und verhandelte dort am 14. Mai mit der Salzburger Landesregierung. An diesem Gespräch nahmen auch ein Vertreter des niederösterreichischen Landtages und Vertreter aller politischen Parteien Kärntens teil. Die Kärntner ersuchten Salzburg dringend im nationalen Interesse, die Abhaltung der Abstimmung in Salzburg zu verschieben. Bundeskanzler Mayr verlangte unter Hinweis auf die außenpolitischen Konsequenzen von den Mitgliedern der Salzburger Landesregierung die Absetzung der geplanten Abstimmung in Salzburg. Die Salzburger Politiker erklärten allerdings, dass sie an einen einstimmigen Beschluss des Landtages gebunden seien. Über Vorschlag von Landeshauptmann-Stellvertreter Rehrl beschloss man, dem Salzburger Landtag die Position des Bundeskanzlers und der Kärntner zu übermitteln und zu ersuchen, seinen früheren Beschluss auf Durchführung einer Volksabstimmung zu überprüfen.60 In seiner Sitzung vom 18. Mai bekräftigte der Salzburger Landtag seinen Beschluss über die Durchführung der Anschlussabstimmung am 29. Mai, allerdings über Weisung der Bundesregierung als nichtamtliche, private Veranstaltung der Parteien.61 Die Abstimmung in Salzburg am 29. Mai brachte ebenfalls eine große Mehrheit für einen Anschluss an Deutschland.62 Als schließlich auch der steirische Landtag beschloss, am 3. Juli eine solche Abstimmung in der Steiermark durchzuführen, trat die Regierung Mayr zurück. Auf Druck der christlichsozialen Gesamtparteileitung zogen die Christlichsozialen der Steiermark aber ihren Beschluss zurück und die Abstimmung fand nicht statt. Nach wochenlangen Verhandlungen, im Zuge derer Rudolf Ramek (und auch einige andere) immer wieder als Bundeskanzler eines christlichsozialen Minderheitenkabinetts im Gespräch war63, folgte eine »Beamtenregierung« unter der Führung des Wiener Polizeipräsidenten Johannes Schober. Die Neue Freie Presse, die natürlich eine solche Regierung protegierte, hatte eine mögliche Regierung Ramek schon als »Kabinett der Armseligkeit« mit »Männern der letzten Garnitur« bezeichnet, das aufgrund der fehlenden Unterstützung durch die Großdeutschen jederzeit gestürzt werden konnte.64 Auch die Zeitung »Neues 8 Uhr Blatt« nannte Ramek als möglichen Regierungschef,65 für die Montags-Zeitung war Ramek »aussichtsreichster Kandidat«66. Nachdem sich die Großdeutschen entschieden, in keine von einem christlichsozialen Bundeskanzler geführte Bundesregierung einzutreten und auch eine christlichsoziale Minderheitsregierung nicht zu unterstützen, blieb den Christlichsozialen letztendlich nichts anderes übrig, als dem großdeutschen Vorschlag auf Bildung eines sogenannten Beamtenkabinetts unter Führung des parteilosen Wiener Polizeipräsidenten Johannes Schober zuzustimmen. Ramek kehrte neuerlich auf seinen Abgeordnetensessel im Parlament zurück. Im Juli 1921 wurde er Mitglied des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes und
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blieb dies bis November 1924, als er Bundeskanzler wurde. Nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler im Oktober 1926 wurde er wieder Mitglied des Verfassungsgerichtshofes.67
Bundeskanzler Ramek – »Vertrauensmann der Länder«? Die Genfer Verträge verlangten von der Regierung eine Verwaltungsreform, eine gravierende Reduzierung des Beamtenapparates, eine Neuorganisation der Verwaltung in den Ländern und eine Neuregelung des finanziellen Ausgleichs zwischen Bund und Ländern. Dies brachte Seipel in eine doppelte Konfrontationsstellung : Einerseits gegenüber seinem großdeutschen Koalitionspartner, der sich als Vertreter der Beamteninteressen sah, eine zentralistische Politik betrieb und die Meinung vertrat, der Beamtenabbau solle vor allem in den christlichsozial dominierten Länderverwaltungen erfolgen, und andererseits gegenüber den christlichsozialen Ländervertretern, die die meisten Potenziale für Einsparungen in der Zentralverwaltung sahen und sich gegen jede Reduzierung der Finanzhoheit der Länder mit aller Macht wehrten. Anfang Oktober lud der Kanzler alle Ländervertreter zu einer Konferenz nach Wien, um mit ihnen die Reformen zu beraten. Schon damals zeigte sich, dass seitens der Länder wenig Bereitschaft bestand, die Wünsche des Bundes zu erfüllen. Je vehementer der Kanzler aufrief, die Gesamtinteressen vor die Interessen der Länder zu stellen, umso stärker wurden die föderalistischen Interessen in den Vordergrund gestellt. In den finanziellen Fragen traten die Gegensätze noch mehr hervor. Mehrere christlichsoziale Landesregierungen hatten schon überlegt, wegen der Weigerung der Ertragsanteilszahlungen gegen den Bund Klage beim Verfassungsgerichtshof zu erheben.68 Über Ersuchen des christlichsozialen Klubobmannes im Nationalrat, Jodok Fink, fand am 10. Oktober 1924 im Sitzungszimmer der Salzburger Landesregierung unter dem Vorsitz von Landeshauptmann Rehrl eine Länderaussprache der christlichsozialen Mitglieder der Landesregierungen statt.69 Das einzige Thema waren die Vorlagen der Bundesregierung zur Verwaltungsreform. Es sollten christlichsoziale Änderungsvorschläge ausgearbeitet werden, die als Grundlage für den christlichsozialen Parlamentsklub dienen sollten. Der mit anderen Nationalratsabgeordneten anwesende Dr. Ramek berichtete ausführlich über die Regierungsvorlagen zur Verwaltungsreform. Es ging etwa um die Frage des Geltungsbereiches einer gesetzlichen Vereinheitlichung des Verwaltungsapparates in allen Ländern, um die Stellung der Landesamtsdirektoren, der Beamtenschaft, von Polizei und Gendarmerie, um die Inkraftsetzung des Kompetenzartikels der Bundesverfassung u. v. a. Nach langen Diskussionen
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konnte Landeshauptmann Rehrl als Vorsitzender das Ergebnis in einer gemeinsamen Formulierung zusammenfassen. Die Vorschläge der Bundesregierung in der Frage der Organisation der Verwaltung in den Ländern wurden als unannehmbar abgelehnt und Ramek erhielt den Auftrag, einen Gegenentwurf der Länder zu den Vorstellungen der Bundesregierung auszuarbeiten.70 Am 7. November 1924 erklärte die Regierung Seipel ihren Rücktritt. Es war dies die Antwort auf das Scheitern der Lohnverhandlungen mit den Eisenbahnern und deren Streikbeschluss. Eisenbahn-Präsident Günther erklärte, dass er mit seinen Angeboten bis an die Grenze des Verantwortbaren gegangen sei, weitere Zugeständnisse hätten die Sanierung der Bundesbahnen unmöglich gemacht. Er erklärte daher seinen Rücktritt, genau so wie die Bundesregierung, die die Genfer Sanierung gefährdet sah. Während die sozialdemokratischen und christlichen Eisenbahnergewerkschaften durchaus kompromissbereit waren, stimmte die deutsche Verkehrsgewerkschaft keinem der Vorschläge der Bundesbahnverwaltung zu. Ab 7. November 24 Uhr streikten in ganz Österreich die Bundesbahnen. Die Reichspost stellte daher klar, dass die Eskalation nicht vom Parlament ausgegangen sei, sondern sie sei »zunächst von hakenkreuzlerischen Extremisten ausgegangen, die dann auch die gemäßigteren deutschnationalen Elemente und die Sozialdemokraten mit sich rissen.«71 Vor allem spekulierte die Regierung auch damit, dass der Völkerbund, der die Garantie für die Genfer Sanierung untrennbar mit dem Namen Seipel verbunden sah, mit Druck reagieren würde, dem die Eisenbahner nachgeben müssten. Die Reform der Bundesbahnen zählte zu den wichtigsten Maßnahmen der Sanierung. Da die Regierung den eingeschlagenen Weg der Sanierung keinesfalls aufgeben oder verwässern wollte, trat sie zurück und erwartete vom Parlament – einschließlich der Opposition – eine klare Entscheidung über den weiteren Weg. Seipel betonte, dass die Regierung nur weitermachen werde, wenn der Eisenbahner-Streik abgebrochen werde und sie die Gewissheit gewinne, das Sanierungswerk ungestört zu Ende führen zu können. Trotzdem rechneten die Öffentlichkeit und vor allem die Medien im Ausland mit einer Fortsetzung einer Regierung unter Bundeskanzler Seipel. Leopold Kunschak erklärte bei einer Versammlung des Christlichsozialen Arbeitervereins unter großem Applaus, dass sich für die Christlichsoziale Partei nicht die Frage stelle, »Seipel oder ein anderer, sondern Seipel oder kein Christlichsozialer« und noch deutlicher : »Für uns gibt es keinen anderen Bundeskanzler als wieder unseren Dr. Seipel !«72 Tatsächlich wurden die Verhandlungen am 11. November mittags wieder aufgenommen und es einigten sich die Unternehmensführung und die Vertreter der drei Gewerkschaften darauf, dass der Streik beendet und der Eisenbahnverkehr am 12. November Mitternacht wieder aufgenommen werde. Zur gleichen Zeit wurde im Hauptausschuss des Parlaments der Rücktritt der Regierung zur Kenntnis genommen und Seipel mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt.
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Seipel gab aber gleich zu erkennen, dass er nur dann bereit und in der Lage sei, eine neue Regierung zu bilden, wenn der Eisenbahnerstreik tatsächlich beendet werde und er die Gewissheit erhalte, dass die Sanierungspolitik fortgesetzt werden könne, und zwar innerhalb der zeitlichen Zielsetzungen. Für ein Nachgeben gegenüber Einzelwünschen und für eine Verlängerung der Übergangszeit bis zur Erfüllung der Sanierung stünde er nicht zur Verfügung. Deshalb müsse er noch ausführliche Gespräche innerhalb und außerhalb des Nationalrates führen.73 So führte er nicht nur am Staatsfeiertag Gespräche mit allen Parlamentsparteien, sondern lud auch alle Landeshauptmänner nach Wien und erklärte, dass diese Aussprache eine »Vorbedingung für die Entscheidung über die Bildung der Regierung sei«.74 Diese Konferenz mit den Landeshauptmännern und Landesfinanzreferenten, die den Regierungsparteien angehörten, begannen am 14. November im Bundeskanzleramt und wurden am 15. November bis 14 Uhr fortgesetzt. Es ging dabei vor allem um die Verfassungs- und Verwaltungsreform und um die Neuregelung der Bundesfinanzverfassung zwischen Bund, Land und Gemeinden. Bei der Verwaltungsreform stand die Zusammenführung der Bundesverwaltung in den Ländern mit den autonomen Landesverwaltungen im Vordergrund. Die Länge der Beratungen zeigte, wie ernst es Seipel mit seiner Bedingung war, die Versicherung zu erhalten, die Sanierungspolitik wie vorgesehen fortführen zu können. Die Reichspost erkannte richtig, dass es keinesfalls sicher sei, wie Seipel sich letztendlich entscheiden werde.75 Offensichtlich verliefen die Verhandlungen ohne gemeinsames Ergebnis, da für spätestens 18. November ein neuerliches Treffen der Landeshauptmänner mit dem Bundeskanzler vereinbart wurde. Man konnte sich augenscheinlich über grundlegende Fragen des Föderalismus in Österreich nicht einigen. Im Anschluss an die Besprechungen mit den Landeshauptmännern beriet sich Seipel mit den Mitgliedern der Bundesregierung, mit den Parteiführern und ließ eine christlichsoziale Fraktionssitzung einberufen. Letztlich aber war ihm die Unterstützung für den konsequenten Sanierungskurs nicht ausreichend, sodass er schon am Montag, 17. November, am Abend dem Nationalratspräsidenten Miklas gegenüber schriftlich den Auftrag zur Regierungsbildung zurück und in die Verantwortung des Parlaments legte. Er teilte dem Bundespräsidenten mit, dass er zwar aus den Besprechungen mit den Vertretern der politischen Parteien und der Landesregierungen die Überzeugung gewonnen habe, dass die Mehrheitsparteien und die ihnen angehörenden Mitglieder der Landesregierungen an der Sanierungspolitik festhalten wollten. Allerdings habe er sich nicht die Gewissheit verschaffen können, dass alle als notwendig erachteten Einzelmaßnahmen die Unterstützung durch alle verantwortlichen politischen Kräfte ohne Unterschied der Partei, innerhalb oder außerhalb der parlamentarischen Körperschaften finden würden. Daher sei er zur Überzeugung gekommen, dass die Führung der Regierung an eine andere Persönlichkeit übergehen sollte, und verwies auch auf seine seit der Ver-
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wundung verminderte persönliche Leistungsfähigkeit.76 Seipel hatte sich von dem Attentat am 1. Juni auf ihn bei weitem nicht gänzlich erholt und schien offensichtlich noch nicht die notwendige Kraft zu besitzen, das Sanierungsprogramm auch gegen erbitterte Widerstände durchzusetzen. Die Neue Freie Presse, in deren Kommentar sich auch die anti-föderalistische Position der Deutschnationalen wiederspiegelte, versuchte den Konflikt auf den Punkt zu bringen : »Es ist Dr. Seipel nicht gelungen, die Widerstände innerhalb seiner eigenen Partei zu meistern und die föderalistischen Bestrebungen in den Hintergrund zu drängen.«77 Es ginge grundsätzlich um »die Frage, ob wir einen Bundesstaat haben sollen oder einen Staatenbund. Die Länder fordern die volle Politisierung der Verwaltung, insbesondere die Besetzung der Bezirkshauptmannschaften, die bisher formell Organe des Bundes waren.«78 Von christlichsozialer Seite ließ man durch Generalsekretär Schönsteiner verlauten, dass es unrichtig sei, dass Seipel »durch eine Revolution der Landeshauptmänner« gestürzt wurde. Es sei allerdings wahr, »dass in der Frage der Regelung des Finanzwesens zwischen dem Bunde und den Ländern innerhalb der christlichsozialen Partei sachliche Meinungsverschiedenheiten bestehen … Nicht geringer sind die Schwierigkeiten auf dem Gebiete der unbedingt notwendigen Verwaltungsreform und der damit im Zusammenhang stehenden Abänderung der Verfassung«.79 Die Hauptdifferenz bestand zwischen den Landeshauptmännern und Finanzreferent Kienböck in der Frage der obligatorischen Vorsanktionierung aller Finanzgesetze durch die Bundesregierung, was von den Bundesländern strikt abgelehnt wurde. Seipel war erst in das Schussfeld der Landespolitiker geraten, als er sich mit Kienböck solidarisierte.80 Aus Vorarlberg verlautete, dass die Demission Seipels nicht überraschend sei, da »der Bundeskanzler jene ruhige Sicherheit, die ihn früher so sehr auszeichnete, mehr oder weniger verloren hat«.81 So überraschend für alle seine Entscheidung war, den Auftrag zur Regierungsbildung zurückzulegen, so wenig überraschend war letztlich sein Vorschlag für seinen Nachfolger : nämlich Dr. Rudolf Ramek. Es war unzweifelhaft Seipels Wunsch, Ramek mit der Regierungsbildung zu beauftragen und die Christlichsoziale Partei – vom Rücktritt Seipels überrascht – stimmte der Berufung Rameks sofort zu.82 Ramek war schon Staatssekretär und Minister gewesen, gehörte seit dem Beginn der Konstituierenden Nationalversammlung dem österreichischen Parlament an, galt als fleißiger, loyaler, sachkundiger und gemäßigter Abgeordneter, der auch gute Kontakte zu den anderen Parteien hatte. Ramek, der wie erwähnt schon früher als möglicher Bundeskanzler im Gespräch gewesen war, galt – vielleicht neben Ender – als »seit langem der einzige ernsthafte Kandidat der christlichsozialen Partei, falls bei einem Rücktritt Dr. Seipels eine neue Regierung zu bilden wäre«, und war »persönlich als ein unbedingter Vertrauensmann Dr. Seipels bekannt«.83Was besonders in dieser Situation für ihn sprach, war die Tatsache, dass er seit 1922 Landesparteiob-
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mann der Christlichsozialen Salzburgs war und damit als Vertreter der Länder gelten konnte. Das Vorarlberger Volksblatt etwa attestierte ihm, »im Rufe eines klugen, sachlichen und energischen Politikers« zu stehen.84 Seipel, der wieder die Funktion des Obmannes der Christlichsozialen Partei übernahm, wusste, dass Ramek einerseits seinen Kurs fortsetzen würde, und hoffte, dass andererseits einer der heftigsten Kritiker der Verfassungs- und Verwaltungsreform, der Salzburger Landeshauptmann Franz Rehrl, sich seinem eigenen Landesparteiobmann gegenüber etwas gemäßigter verhalten würde.85 Dass Seipel als christlichsozialer Parteiobmann hinter Ramek stand, war für viele die »Gewähr für Kontinuität und für ein Festhalten an den bisherigen Richtlinien«.86 Tatsächlich bezeichnete Landeshauptmann Rehrl den neuen Bundeskanzler in einem Glückwunschschreiben als »Vertrauensmann der Länder« und bat ihn, »entsprechend unseren bei den letzten in Salzburg stattgefundenen Konferenzen präzisierten Anschauungen die Forderungen der Länder zu vertreten«. Rehrl versprach Ramek »stets treue Gefolgschaft«, vor allem bei der Durchsetzung der »Minimalforderungen« der Länder, und stellte unmissverständlich fest : »Denn wenn diese nicht erfüllt werden sollten, so würde das meines Erachtens zum Untergang der christlichsozialen Partei führen und damit wäre auch dem Bundesstaate Österreich das Grab geschaufelt.« Ramek antwortete knapp und unverbindlich, er werde stets bestrebt sein, das ihm »anvertraute Amt in einer mit unseren Auffassungen übereinstimmenden Weise zu führen.«87 Wohl nicht gerade zur Freude der mit der Seipel’schen Politik so unzufriedenen Landeshauptmänner wurde vor allem in Wien die neue Regierung Ramek als Fortsetzung der bisherigen Regierung gesehen. »Die Kontinuität bleibt erhalten«, schrieb die Neue Freie Presse und führte als Beleg dafür den Weiterverbleib der Großdeutschen in der Regierungskoalition, das Ablehnen einer Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten sowie die neuen Persönlichkeiten in der Regierung an, die »zu den wärmsten Anhängern des früheren Kanzlers gezählt haben«.88 Der Seipel-Intimus und neue Außenminister Heinrich Mataja stellte auch sofort klar : »Wenn Dr. Seipel die Regierung Ramek nicht vorgeschlagen hätte, hätte die christlichsoziale Partei die Regierung Ramek nicht gewählt, die Regierung Ramek hätte ihre Berufung nicht angenommen … Die Regierung Ramek ist die geradlinige Fortsetzung der Politik Dr. Seipels. Und wenn gesagt wird, wir seien ein Pseudonym der Regierung Seipel, so akzeptieren wir das.«89 Damit wollten die Wiener Christlichsozialen unzweideutig den Eindruck verwischen, dass die Regierung Seipel durch die Bundesländer gestürzt worden sei. Ramek musste nun den großdeutschen Koalitionspartner im Boot halten und eine Kompromissformel finden zwischen den föderalistischen Forderungen der Bundesländer und der ablehnenden Haltung der Großdeutschen gegenüber einer »Politisierung der Landesverwaltungen«. Die Großdeutschen würden »sehr genau erfor-
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schen, ob die föderalistischen Pläne ins Uferlose gehen, ob tatsächlich die Länder die Absicht haben, den Bund in den Austrag zu schicken, ihn zum Kostgänger zu verprügeln, seinen Organen jede Kompetenz und seiner Finanzwirtschaft den letzten Inhalt wegzunehmen«.90 Als am 18. November, wie vereinbart, die Konferenz der Landeshauptmänner fortgesetzt wurde, begannen sich die Länderinteressen durchzusetzen und der umstrittene steirische Landeshauptmann Rintelen und sein Stellvertreter Dr. Jakob Ahrer, der als Finanzminister designiert war, führten bereits das große Wort.91 Mit der Aufnahme Ahrers in die Bundesregierung war das Wohlwollen des steirischen Landeshauptmannes Rintelen gesichert. Rintelen hatte die Steiermark quasi zu einem »Staat im Staat« gemacht, war ein Mann der Autorität und des scharfen Antimarxismus, verstand es aber als ein »Meister der politischen Intrige«, durch seine Konkurrenz zu Seipel auch den Sozialdemokraten immer wieder Zugeständnisse abzutrotzen. Die Wiener Christlichsozialen begegneten ihm mit großem Mißtrauen, auch mit den anderen Ländern ergab sich keine tragfähige Vertrauensbasis.92 Ahrer, als verlängerter Arm Rintelens, versuchte immer wieder, Ramek »zu einer klaren Stellungnahme gegenüber der mächtigen Opposition der Sozialdemokraten zu bewegen«. An der Tatsache, dass Ramek dies nicht oder zu wenig tat, »krankte das Ministerium Ramek vom ersten Tage angefangen, daraus ergab sich eine Reihe von Konflikten auch innerhalb der eigenen Partei«, meinte später der selbst höchst umstrittene Ahrer.93 Die Erwartungen, die von den divergierenden Richtungen an den neuen Bundeskanzler Ramek gerichtet waren, hätte wohl auch eine wesentlich stärkere Persönlichkeit als er kaum erfüllen können. Die Ländervertreter übersahen wohl, dass sich Seipel und Ramek schon aus ihrer gemeinsamen CV-Verbindung Norica kannten, seit 1911 in verschiedensten Bereichen zusammengearbeitet hatten und sich zwischen beiden offensichtlich ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte. An der Loyalität Rameks gegenüber Seipel gab es keinen Zweifel. Was die Bezeichnung »Länderkabinett« betraf, so traf dies insofern zu, als unter den neun Regierungsmitgliedern der Regierung Seipel drei (Emil Schneider/Vorarlberg, Rudolf Buchinger/Niederösterreich und Hans Schürff/Niederösterreich) aus Bundesländern kamen, während im Kabinett Ramek mit dem Bundeskanzler selbst und Finanzminister Jakob Ahrer noch zwei weitere Bundesländervertreter dazukamen. Die beiden großdeutschen Minister Buchinger und Schürff konnten allerdings nicht zu den Föderalisten gezählt werden.
Zwischen den Mühlsteinen Alsbald kam auch Ramek zwischen die Mühlsteine von Bundes- und Länderinteressen. Als am 5. September 1925 Bundeskanzler Ramek mit Finanzminister Ahrer und
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Außenminister Mataja zur Herbsttagung des Völkerbundes nach Genf reiste, gab es aufgrund der guten wirtschaftlichen Fortschritte Österreichs deutliche Signale, dass die Finanzkontrolle durch den Völkerbund nach Beschluss des Budgets 1926 und des Rechnungsabschlusses 1925 im Jahr 1926 aufgehoben würde. Allerdings waren einige Bedingungen damit verbunden, darunter auch die Forderung, dass das Gleichgewicht des Budgets nicht gefährdet werde. Dazu war, wie Bundeskanzler Ramek am 10. September vor Journalisten in Genf bekannt gab, der Abbau der Zahl der Beamten um 100.000 zu Ende zu führen. Dies würde auch die Gendarmerie und Polizei betreffen, die besonders in den höheren Dienstposten zusammengeführt werden sollten. Außerdem garantiere die bestehende Verteilung der Gendarmerie nicht ihre volle Schlagfertigkeit. Daher würde eine Reduzierung der Zahl der kleinen Gendarmerieposten und dafür die Errichtung größerer Gendarmerieposten angestrebt. Die Grundlagen dieser Reform seien bereits im Bundeskanzleramt ausgearbeitet worden, nun werde der Entwurf dem Ministerrat und dann den Ländern vorgelegt.94 Damit werde es möglich sein, in drei bis fünf Jahren den Stand der beiden Körper um zirka 3000 Mann zu reduzieren. Diesen Vorschlag habe er – Ramek – bereits dem Völkerbund bekannt gegeben.95 Dies führte zu heftigen Gegenreaktionen der Landeshauptmänner, die in Briefen ihren schärfsten Widerstand gegen dieses Vorhaben zum Ausdruck brachten. Der Vorarlberger Landeshauptmann Ender schrieb seinen Kollegen in Tirol, Salzburg, Oberösterreich, Steiermark und Kärnten, dass er gegen die Verschmelzung von Gendarmerie und Polizei schwerste Bedenken hege. Der Tiroler Landeshauptmann behauptete in seinem Schreiben an die Kollegen überhaupt, dass die Gendarmerie mit der Wiener Polizei vereinigt und dieser unterstellt werde. Er erhob gegen Ramek den Vorwurf, »dass er eine Politik verfolgt, die den Interessen der Länder gewiss nicht parallel läuft«. Die Sache habe nämlich auch noch einen politischen Hintergrund : »Ich denke ebenso wie es in Tirol der Fall ist, wird es auch in den anderen Ländern zutreffen, dass die Gendarmerie sich zu einer wirklich verlässlichen Exekutive entwickelt hat, die in der Hand der Landesregierung ist.« Dem Bundeskanzler teilte Stumpf in einem Schreiben mit, dass die Länder selbst am besten wüssten, was sie nötig hätten. Auch wenn in der Verfassung stehe, dass Gendarmerie und Polizei Bundessache sei, müssten diese beiden Einrichtungen dem verfassungsmäßig zur Leitung der mittelbaren Bundesverwaltung berufenen Landeshauptmann vollkommen untergeordnet bleiben. »Wird der Sicherheitsdienst dem Landeshauptmann entzogen oder entrückt, dann wird damit seine Stellung im Lande erschüttert, er sinkt zu einer reinen Schattenfigur herunter.« Hinter der Etikette »Einsparung« stünden in Wahrheit ganz andere Ziele : »Es soll hier wieder zugunsten eines Faktors in die Stellung der Länder eine weitere Presche zur Eroberung des Einheitsstaates gebrochen werden.«96 Beim christlichsozialen Bundesparteitag am 2. Februar 1926 in Wien ging Ramek in einer beeindruckenden Rede auf die politische Situation und die Umstände seiner
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Arbeit ein. Es »habe großer und geduldiger Festigkeit, oft eines ermüdenden Aufwandes taktischer Geschicklichkeit bedurft und wir haben manchmal auch Konzessionen … machen müssen, um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments … zu sichern oder wiederherzustellen … Es war bisweilen ein mühseliges, ruckweises Arbeiten, aber wir sind doch, wenn auch mit Fristversäumnissen, vorwärtsgekommen und haben unsere Ziele erreicht.«97 Die in verschiedenen Fragen mit den Bundesländern schwierig zu erzielenden Einigungen konnten schließlich durch zahlreiche Länderkonferenzen, zu denen Ramek eingeladen hatte, doch einer Lösung zugeführt werden. Ramek versprach, er werde »auch in Zukunft die Harmonie zwischen Bund und Ländern aufrechtzuerhalten bemüht sein, die im Interesse beider Teile notwendig ist … Es gehört dazu nur der feste Entschluss, an dem föderativen Aufbau des Gesamtstaates festzuhalten. Der Föderalismus auf dem Papier genügt nicht, wir müssen und wir wollen zu einem positiven Föderalismus gelangen.«98 Trotz dieses klaren Bekenntnisses des Bundeskanzlers zu den Ländern und zum Föderalismus wurde gerade von Delegierten aus den Bundesländern, besonders auch aus Salzburg, ziemlich heftige Kritik an der Regierung geübt, in welcher Wunde Parteiobmann Seipel in seiner Rede noch besonders wühlte.99 Insgesamt aber konnte man den Eindruck gewinnen, dass Ramek die Rückendeckung der Partei hatte.
»Er kam als Föderalist und vertrat die Forderungen des Zentralismus.« Am Ende der Frühjahrssession 1925 des Nationalrates veröffentlichte die Neue Freie Presse am 31. Juli 1925 eine Zwischenbilanz der Regierung Ramek in Form eines Kommentares unter dem Titel »System Ramek«, die völlig überraschend äußerst positiv war.100 In dieser Beurteilung wurde vor allem auf die persönlichen Charaktereigenschaften von Bundeskanzler Ramek eingegangen, die sich mit den eingangs des Beitrags für die Schlesier generell angeführten Charakteristika decken und sich bislang als sehr vorteilhaft herausgestellt hatten. Der Kommentator stellte fest, dass allein schon die Tatsache, dass die Regierung bereits neun Monate im Amt sei, bemerkenswert sei. »Das Wesen dieses Ministeriums ist, dass es kein Wesen aus sich gemacht hat, es ist sein besonderes Merkmal, dass ihm die in die Augen springenden besonderen Merkmale fehlen.« Es sei auffallend, dass die Regierung Ramek nach dem bedeutenden Staatsmann Seipel »neun Monate das Parlament beinahe ohne Opposition zu führen weiß und zu quantitativen Höchstleistungen veranlasst«. Tatsächlich hatte das Parlament in seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause noch wichtige Gesetze beschlossen, wie etwa die Verfassungsgesetze, die Novelle zum Arbeitslosenversicherungsgesetz, die Änderungen des Mietengesetzes und drei Heimatrechtsgesetze, insgesamt alle jene letzten großen Gesetze, die zur Erfüllung der
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Genfer Vereinbarungen noch ausständig waren. Ohne die großen Leistungen Seipels schmälern zu wollen, konstatierte der Kommentator : »In der Taktik ist das heutige System beinahe überlegen, in der Fähigkeit, die Parteien zu gewinnen, heftige Kontroversen zu vermeiden und jene seltsame Atmosphäre zu schaffen, aus welcher die Zusammenarbeit sich ungezwungen und ohne Knirschen der Scharniere zu ergeben vermag.« Nicht nur in der Innenpolitik agiere die Regierung Ramek so glücklich, auch außenpolitisch gäbe es Erfolge : Die Beziehungen zu England konnten beruhigt werden, der Ärger in der Tschechoslowakei habe sich vermindert und der Völkerbund habe seine Einstellung wesentlich zugunsten Österreichs verbessert. Auch wenn manche Umstände sich günstig entwickelten, so hätte die Regierung Ramek die Fähigkeit, dies zu nützen und sie biete »selbst für den radikalsten Stürmer keinen unmittelbaren und offenkundigen Angriffspunkt«. Der eigentliche Grund dafür liege im Wesen des Bundeskanzlers : »… es ist die inkarnierte Ruhe und Nervenlosigkeit, es ist das inkarnierte Gleichmaß. Wer hat jemals Dr. Ramek ungeduldig gesehen in diesen neun Monaten heftiger Spannung ? … Wenn er sich im Ausschuß oder im Hause erhebt, um eine Rede zu halten, so ist nicht wie bei Dr. Seipel der Widerspruchsgeist lebendig, das Lauern auf eine heimliche Spitze, sondern es verbreitet sich jene eigentümliche Luft der Sachlichkeit, jene eigentümliche Kühle, die Gleichgiltigkeit werden könnte, wenn man nicht wüßte : Der gewiss nicht bedeutende, gewiß nicht geniale Führer dieses Ministeriums hat Zielbewußtsein, Ehrlichkeit und innere Mäßigung … Ehrlichkeit und Mäßigung, das sind Elemente, die auch den Mißtrauischen entwaffnen, der Verleumdung den Giftzahn nehmen und selbst bedenkliche Irrtümer manchmal verzeihlich erscheinen lassen. Bei geringfügiger Rednergabe, beim Versagen alles dessen, was auf die Phantasie des Volkes Eindruck macht, bleibt dennoch ein Kern des Wertvollen, den niemand verkennen darf, der österreichische Politik realistisch betrachtet.« Ramek wird nochmals als »Mann des Ausgleiches« bezeichnet und dann kam die journalistisch knappe Zusammenfassung jenes Spannungsfeldes, das die gesamte Kanzlerschaft Rameks prägte : »Er kam als Föderalist und vertrat die Forderungen des Zentralismus.« Kompromisse zu finden war schon immer die Stärke der Staatsmänner in Österreich, auch schon vor dem Krieg, so die Neue Freie Presse. Insofern sei Ramek Nachfolger mancher Ministerpräsidenten der Monarchie, von denen es aber niemandem bisher gelungen sei, dass sich überhaupt keine Opposition mehr gezeigt hatte und alle Parteien, wenn auch nicht formell, an einem Strang zogen. In die gleiche Richtung urteilt sogar der sozialdemokratische Journalist Jacques Hannak und tut sich schwer, Ramek persönlich zu kritisieren. Er gesteht zu, dass Ramek »im Wesen stets einem billigen Kompromiss zugeneigt war« und sich darauf verstand, »in der Mitte durchzuschwimmen« wodurch die von Seipel geschaffene »scharfe Spannung gemildert (wurde), und die Verhältnisse im Parlament waren einigermaßen erträglich.« Um allerdings nicht zu positiv zu urteilen, – ergänzte
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Hannak –, war die Regierung Ramek »von einer Ideenlosigkeit, dass sie einem fast leid tat«.101 Der bedeutende sozialdemokratische niederösterreichische Landespolitiker Oskar Helmer bestätigt gleichfalls, dass Bundeskanzler Ramek sich bemühte, »die schroffen Gegensätze zur Opposition zu mildern und das Parlament möglichst arbeitsfähig zu machen«.102 Rameks Selbstbeschränkung und Bescheidenheit waren es, die es ermöglichten, dass sich die anderen politischen Kräfte von ihm nicht provoziert fühlten. Auch bei Erfolgen stellte er sich nicht in den Vordergrund und ermöglichte es den anderen, am Erfolg teilzuhaben. »Konnte man sich stärker effacieren, als der Kanzler dies in seiner Rede über die Verfassungsreform getan hat, und war in seinen Worten auch nur das leiseste Selbstbewusstsein zu spüren, eine Empfindung vielleicht nicht unerklärlich am Ende eines so steinigen Pfades ? Das ist schon beinahe Kleinmannssucht gewesen im Gegensatz zu der Großmannssucht anderer Staatsmänner. Diese Art ist jedoch nicht etwa angelernt oder bewusst verwendet. Sie ist naturhaft und darin liegt ein Element der Stabilität und der Rückversicherung gegen die nervösen Zuckungen an manchen anderen Stellen… Ramek, über den man anfangs lächelte, hat dort Erfolg, wo Seipel gefallen ist.«103 Auffallend ist, dass zwar auch die christlichsoziale Reichspost eine positive Bilanz des Parlaments zieht, das »überall einem gerechten Ausgleich der Interessen nahe gekommen ist, galt es nun die des Bundes, der Länder, der Gemeinden, der allgemeinen Volkswirtschaft oder einzelner Teile derselben« zufrieden zu stellen, aber mit keinem Wort einen Beitrag des Bundeskanzlers zu diesem Ergebnis erwähnt. Die Reichspost, das »Leibblatt« Seipels, verhielt sich Ramek gegenüber immer spürbar distanziert.104 Tatsächlich stellte die Verfassungsreform 1925 eine bedeutende und keineswegs selbstverständliche Konsensleistung der Parteien dar, die ja seit 1920 auf Regierungsebene nicht mehr kooperierten. Darüber hinaus brachte die Regierung Ramek einen wesentlichen Schritt zu einer Verwaltungsreform weiter. Die Doppelverwaltung in den Ländern – unter Seipel von den Ländern noch mit Zähnen und Klauen verteidigt – wurde durch die mittelbare Bundesverwaltung ersetzt, die Bezirkshauptmannschaften wurden – den Länderwünschen entsprechend – Landesbehörden, der Vorstoß der Sozialdemokraten nach Demokratisierung der Bezirksverwaltungsbehörden wurde abgewehrt.105 So konstruktiv das Klima im Nationalrat auch gewesen sein mag, auf den Straßen eskalierte die politische Auseinandersetzung von Tag zu Tag mehr. Die Folge davon war eine unbeschreibliche mediale Hetze zwischen den linken und rechten Blättern, an denen sich auch die christlichsoziale Reichspost mit heftigen antisemitischen Polemiken beteiligte. Das öffentliche politische Klima wurde dadurch gefährlich angeheizt. Eine Serie von Gewalttaten und gewalttätigen politischen Auseinandersetzungen und die Genehmigung der Durchführung des 14. Internationalen Zionisten-
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kongresses in Wien durch die Regierung Ramek verschärften die Situation immer mehr. Am 10. März hatte der Nationalsozialist Otto Rohstock den bei den Antisemiten wegen seiner tendenziösen, frivolen Schriften verhassten jüdischen Schriftsteller Hugo Bettauer bei einem Revolverattentat so schwer verletzt, dass dieser zwei Wochen später an den Verletzungen starb. Am 7. April war es auf dem Wiener Rathausplatz zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen kommunistischen Demonstranten und der Polizei gekommen. In der Nacht vom 20. auf den 21. Mai lieferten sich nationalsozialistische Wehrorganisationen und sozialdemokratische Arbeiter in Mödling heftige gewaltsame Auseinandersetzungen, bei denen der sozialdemokratische Gemeinderat und Obmann des Republikanischen Schutzbundes, Leopold Müller, von einem Nationalsozialisten getötet wurde. Am 10. Juli war es schließlich in Stockerau zu einem Zusammenstoß zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen gekommen, bei denen 21 Verletzte zu beklagen waren. Am 29. Juli war der frühere sozialdemokratische Bürgermeister von Wien, Jakob Reumann, verstorben. Das Begräbnis war für 1. August angesetzt. Nach den Trauerfeierlichkeiten versammelten sich Gruppen des Republikanischen Schutzbundes auf dem Praterstern, offensichtlich, um gegen die Provokationen der »Hakenkreuzler« zu demonstrieren. Die Stimmung heizte sich immer mehr auf und als der 21-jährige Buchhalter Josef Mohapl und sein Freund vorbeikamen, wurden sie als »Hakenkreuzler« angesehen, verfolgt und im Hotel »Dresden«, wohin sie sich geflüchtet hatten, wurde Mohapl mit Messern niedergestochen und tödlich verletzt. Diese Mordtat nützten die Christlichsozialen und ihr Parteiorgan Reichspost sofort zu heftigsten antisemitischen und antisozialdemokratischen Angriffen. Die Reichspost übertitelte ihre Ausgabe vom 2. August mit den Schlagzeilen »Von Sozialisten hingeschlachtet. Republikanische Schutzbündler ermorden grausam einen christlichen Turner. Die Folgen der Hetze jüdischer Blätter und sozialistischer Führer«, obwohl die Täter noch nicht ausgeforscht waren.106 Auch als am nächsten Tag der Täter ausgeforscht werden konnte und sich herausstellte, dass es sich um einen amtsbekannten, mehrfach vorbestraften kriminellen Messerhelden und Zuhälter handelte, der in keiner Weise politisch organisiert war107, blieb die Reichspost bei ihrer Version, »dass Mohapl als Opfer einer sozialistisch-jüdischen Haßpropaganda gefallen ist«.108 Tatsächlich hatten die radikalisierte Stimmung unter den Demonstranten und der Ruf eines Unbekannten : »Zwei Hakenkreuzler !« zur Verfolgung der beiden jungen Burschen durch mehrere Schutzbündler geführt und im Tumult hatte der Kriminelle seine Mordtat verübt. Letztlich war also dieser sinnlose Mord eine Folge der monatelangen Verhetzung und Radikalisierung von Rechts und Links. Die Radikalisierung der Gesamtsituation wirkte sich natürlich auch auf die Atmosphäre im Parlament negativ aus, und der erste Schwung der gemeinsamen Gesetzesbeschlüsse ebbte wieder ab. Da die Arbeit im Nationalrat wieder zunehmend vom Stillstand und von der Blockade gekennzeichnet war, schrieb die Neue Freie Presse
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im Mai 1926 unter dem Titel »Was geht im Parlament vor ?«, dass es nun wieder die Taktik der sozialdemokratischen Opposition sei, »die Verhandlungsbereitschaft der Regierung auszunützen und nirgends nachzugeben«, vor allem in Finanzfragen und bei der Sozialgesetzgebung. Der Vorwurf der Untätigkeit treffe aber nicht die Regierung, da diese zahlreiche Vorlagen ausgearbeitet habe.109
Die Loyalität zwischen Seipel und Ramek Die enge Verbindung zwischen Seipel und Ramek, die schon aus den ersten gemeinsamen Aktivitäten in Salzburg stammte, berechtigt zur Frage, wie weit die gegenseitige Loyalität in der Kanzlerschaft Rameks vorhanden war. Es gibt Beispiele, wo Seipel als Parteiobmann Ramek stützte und verteidigte, wenn dieser als Bundeskanzler in Schwierigkeiten geriet oder angegriffen wurde. Als Bundeskanzler Ramek im Juni 1925 das geschlossene Auftreten der Frontkämpfervereinigung verbot, wurde er deshalb heftig kritisiert. Der Frontkämpfervereinigung110 war nämlich das geschlossene Ausrücken bei der Wiederbestattung des ehemaligen Großadmirals Anton Haus111 verboten worden, während der Republikanische Schutzbund einen Tag später sehr wohl am Begräbnis eines sozialdemokratischen Gemeinderates in geschlossener Formation und in Uniform teilnehmen konnte. Dies führte zu einer Diskussion im Wiener Gemeinderat, bei der sich Bürgermeister Seitz damit verteidigte, dass das Verbot des Auftrittes der Frontkämpfervereinigung nicht von ihm, sondern von der Polizei erlassen worden sei, und versprach, sich dafür einzusetzen, dass in Hinkunft alle Organisationen gleich behandelt würden.112 Als bei einer christlichsozialen Veranstaltung in Wien am 18. Juni 1925 die dort anwesenden Vertreter der Frontkämpfervereinigung den Referenten des Abends, Ignaz Seipel, stürmisch feierten und gleichzeitig ihr Missfallen gegen Bundeskanzler Ramek wegen des Auftrittsverbotes zum Ausdruck brachten, hielt Seipel ihnen eine gehörige Standpauke und brachte seine uneingeschränkte Solidarität zu Ramek zum Ausdruck. Er verwies auf die unterschiedliche Lage derer, die im Moment die Last der Regierung trugen, und jener, die diese Last nicht auf sich hatten. Es solle niemand glauben, »man mache einem von uns eine Freude, wenn man gerade ihn in recht demonstrativer Weise begrüße und dafür einen anderen, mit dem man gerade nicht zufrieden ist, weniger freundlich behandelt, wenn man z. B. etwa den gewesenen Bundeskanzler, weil er jetzt nicht mehr so viel anstellen kann als in der Zeit, als er die Regierung führte, so stark feiert, um den gegenwärtigen Regierungschef eines anzuhängen … Deshalb verlange ich von Ihnen aber auch, dass Sie das uns seinerzeit entgegengebrachte Vertrauen auf jene übertragen, die unser Werk fortsetzen und zu Ende führen müssen.«113 Als ein Vertreter der Frontkämpfer – obwohl diese nicht Mitglieder der Christlichsozialen Partei waren – das Wort ergriff und erklärte, seine
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Vereinigung könne der Regierung Ramek nicht ihr Vertrauen schenken, entgegnete Seipel scharf, die Frontkämpfer sollten der Christlichsozialen Partei beitreten, dann hätten sie Gelegenheit, ihre Beschwerden vorzubringen, ohne in eine Versammlung Unruhe hineinzubringen. Dies habe nämlich zur Annahme geführt, dass es sich um eine sozialdemokratische Störaktion handle. Seipel rief die Frontkämpfer auf, zur Kenntnis zu nehmen : »Von mir erreichen Sie gar nichts und Sie zwingen mich sogar in die äußerste Zurückhaltung hinein, wenn Sie mich etwa gegen irgend jemand anderen in der Partei auszuspielen versuchen. So darf man es nicht machen.«114 Zwei Monate später, vom 18. bis zum 28. August 1925, fand in Wien der Zionistische Weltkongress, zu dem sich etwa 7.000 Teilnehmer angesagt hatten, statt. Ein als große Gegendemonstration gegen diesen jüdischen Kongress vor allem von den Nationalsozialisten115 geplanter »Wiener Volkstag« wurde von der Polizei im letzten Moment im Interesse der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung untersagt. Die Veranstalter nahmen dieses Verbot allerdings nicht zur Kenntnis und es kam am 17. August vor allem auf dem Ring, vor der Votivkirche und vor dem Rathaus zu großen Kundgebungen mit heftigen Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei mit vielen Verletzungen und Sachschäden. Zahlreiche Verhaftungen wurden vorgenommen. An den Ausschreitungen beteiligten sich Nationalsozialisten, Großdeutsche und Christlichsoziale. Wie die Neue Freie Presse vermutete, könnten die kleinen Gruppen von »Nationalbolschewisten« (Nationalsozialisten) nur dann erfolgreich sein, wenn »doch von irgendwelchen stärkeren Kräften Ansporn und Ermutigung kommt«. Es sei der Name »eines Mitgliedes der herrschenden Regierungspartei genannt worden, von dem behauptet wurde, dass er an dem Versuch, das polizeiliche Versammlungsverbot zu umgehen, sehr aktiven Anteil genommen hat«. Jedenfalls sei bei den Christlichsozialen eine Haltung festzustellen, »die von den Draufgängern als Zustimmung gedeutet werden konnte.«116 Tatsächlich hatte etwa die Reichspost durchaus Verständnis signalisiert für die Erbitterung der Bevölkerung »über die Monat für Monat nun schon andauernden Anmaßungen und Herausforderungen der christlichen Bevölkerung in der jüdischen Hetzpresse und in Versammlungen und über die Terrorakte einer von jüdischen Führern gelenkten, mit diktatorischer Gewalt gegen den christlichen Mittelstand wütenden Partei und über das schwächliche Gehenlassen seitens der Behörden«. Indirekt erhob die Reichspost heftige Vorwürfe gegen die Regierung Ramek, in dem vor allem das Verbot des Auftritts der Frontkämpfervereinigung kritisiert wurde. »Die Ehre anständiger Menschen, ganzer Stände … wird von einer verkommenen jüdischen Presse täglich verunglimpft, Lügen und Verleumdungen ergießen sich über die besten Männer dieses Staates, Sittlichkeit und Glaube der christlichen Bevölkerung werde in frechen Druckschriften und Plakaten verhöhnt. Und niemand rührt sich.« Den Protest Zehntausender Wiener in den Straßen werde »niemand einfach
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als ›Hakenkreuzler‹ abtun können. Das war Wiener Volk aller Schichten und aus den breitesten nichtsozialistischen Parteilagern.« Diese Vorgeschichte müsse man berücksichtigen, der »Zionistenkongress und die übergroße Fürsorge, mit der ihn die Behörden umgeben, wohl zum Unterschied von Veranstaltungen einer sozusagen etwas bodenständigen Bevölkerung, waren nur der letzte Anlass«. Die Ausschreitungen wären verhindert worden, wenn die Veranstaltung des »Wiener Volkstages« zugelassen worden wäre. Die Reichspost forderte, dass die christlichsozialen Politiker, die sich überwiegend auf Urlaub befanden, nach Wien zurückkehren sollten und »dass die Regierung eine klare Stellung zu den heutigen Vorgängen bezieht«.117 Dieser Haltung des christlichsozialen Parteiorgans stand eine sehr deutliche Botschaft von Bundeskanzler Ramek an den Zionistenkongress entgegen. Ramek bezeichnete den Zionismus als eine der »meist umstrittenen Volksbewegungen der letzten Jahrzehnte«, weshalb es nicht verwunderlich sei, dass er in der christlichen Bevölkerung vielfach auf Gegnerschaft stoße. Aber er selbst sei überzeugt, »dass der Zionismus kein Interesse der christlichen Bevölkerung verletzt, dass er im Gegenteil eine Bewegung darstellt, die geeignet erscheint, uralte Gegensätze auszugleichen und ein besseres, auf Achtung gegründetes gegenseitiges Verständnis zu fördern«.118 Der Vollzugsausschuss der deutschvölkischen und christlichen Verbände beschloss noch in der Nacht des 17. August eine Resolution (abgedruckt in der Reichspost !) gegen das Verbot des Wiener »Volkstages« und attackierte die Regierung, die sich gegen den Willen der Bevölkerung Wiens und der Bundesländer verhalten habe, prangerte die »brutalste Rücksichtslosigkeit« der Polizei an, die »durch ihre vorgesetzten Behörden geradezu aufgereizt wurde« und brachte die Überzeugung zum Ausdruck, »dass das christlichsoziale Wien erst dann wieder zur Ruhe kommen wird, wenn die verantwortlichen Faktoren des heutigen Blutbades zur Verantwortung gezogen werden und die Regierung Ramek zurücktritt«.119 Die Wiener Christlichsozialen suchten ihr Feindbild in Polizeipräsident Johannes Schober, dem sie ein zu scharfes Vorgehen der Wiener Polizei vorwarfen, verlangten von der Regierung Ramek den Rücktritt Schobers und warfen dem Polizeipräsidenten vor, gegen die Christlichsozialen vorzugehen, weil er neuerlich auf eine Berufung zum Bundeskanzler hinziele. Anlässlich einer Vorsprache einer christlichsozialen Delegation unter Führung von Seipel und Schmitz konnte Schober sich darauf berufen, im Einvernehmen mit Bundeskanzler Ramek gehandelt zu haben. So dürfte es neben den Spannungen Seipel–Schober in diesem Zusammenhang durchaus auch Spannungen Seipel–Ramek gegeben haben.120 Im Laufe des Nachmittags und Abends des 18. August kam es neuerlich zu Demonstrationen, bei denen wiederum der Rücktritt der Regierung Ramek gefordert wurde, die sonst aber im Wesentlichen ruhig verliefen. Nachdem Bundeskanzler Dr. Ramek von der Eröffnung der Salzburger Festspiele nach Wien zurückgekehrt war, fand am Vormittag des 18. August eine Ausspra-
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che zwischen ihm, dem christlichsozialen Parteiobmann Ignaz Seipel und Minister Schürff statt. Am Abend hielt Ramek eine Pressekonferenz ab, in der er zu einigen Behauptungen der letzten Tage klar Stellung nahm und dabei auch ziemlich direkt gegen christlichsoziale Kreise und das christlichsoziale Parteiorgan vorging :121 1. Der Ministerrat habe das Ansuchen des Zionistischen Weltkongresses sehr genau geprüft und beraten und einstimmig genehmigt. »Die zionistische Bewegung hat heute internationalen Charakter und ist eine Angelegenheit, die unter dem Schutze des Völkerbundes steht, dem ja auch unsere Republik als Mitglied angehört. Alle Staaten bringen dem Zionismus großes Interesse entgegen und haben daher in früheren Jahren nie die Abhaltung des Kongresses in ihren Hauptstädten abgelehnt.« 2. Zuallererst hatten die Nationalsozialisten versucht, mit dem Zionistenkongress die Bevölkerung zu verunsichern und zu erregen, indem sie behaupteten, es würden 30.000 Juden nach Wien kommen und 20.000 davon nicht in ihre Heimat zurückkehren, sondern in Wien bleiben, um in Wien die Herrschaft über Österreich zu gewinnen. Dies sei zur Gänze erfunden worden. 3. Die Erregung habe schließlich auch auf andere – nicht nationalsozialistische – Kreise der christlichen Bevölkerung Wiens übergegriffen. Der Grund dafür liege in einem Teil der Wiener Presse, die »mit den stärksten Gegenangriffen, die weit über das erforderliche Maß hinausgingen« auf den Weltkongress antworteten. 4. Darüber hinaus habe die sozialdemokratische Partei und ihre Presse der Regierung vorgeworfen, »die Führung verloren zu haben«, und behauptet, dass »ein Teil der christlichsozialen Partei, insbesondere mein verehrter Amtsvorgänger, Altbundeskanzler Dr. Seipel, den Versuch unternehme, durch eine intrigante Politik die Stellung der gegenwärtigen Regierung zu unterwühlen«. Ramek stellte dazu fest, »dass diese Behauptung vollkommen haltlos ist und jeder Begründung entbehrt«. Zwischen den Mitgliedern der Bundesregierung und den Führern der beiden Regierungsparteien bestehe »eine aufrichtige und jedem Misstrauen unzugängliche Freundschaft, die ein harmonisches Zusammenarbeiten gewährleistet hat und auch in Zukunft gewährleisten wird. Dies gilt vor allem von dem Verhältnis, das zwischen Altbundeskanzler Dr. Seipel und mir persönlich besteht. Mit allem Nachdruck mache ich Sie, meine Herren, darauf aufmerksam, dass gerade diese Kampagne, die als ein Versuch empfunden wurde, einen Keil ins Gefüge der christlichsozialen Partei zu treiben, von breiten Kreisen meiner Partei mit dem stärksten Unwillen verfolgt worden ist. Sie erklärt zum Teil die Erregung, die sich dieser Kreise in der letzten Zeit bemächtigt und auch in der christlichsozialen Presse Ausdruck gefunden hat.« 5. Ramek stellte auch klar, dass die Bundesregierung stets bemüht gewesen sei, die Stimmung zu besänftigen, Objektivität walten zu lassen und den Boden des Geset-
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zes und der Demokratie nicht zu verlassen. Der Deutsche Volkstag sei ausschließlich zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung verboten worden. Wären die Garantien dafür, wie sie von der Polizeidirektion gefordert waren, geboten worden, wäre die Kundgebung erlaubt worden. 6. Was die Vorwürfe gegen das Vorgehen der Polizei betraf, stellte Ramek eindeutig fest, »dass die erhobenen Anschuldigungen unbegründet sind und die Polizei im Interesse der Sicherheit dieser Stadt nur ihre Pflicht getan hat«. 7. Unrichtig sei auch, erklärte Ramek, »dass die Bundesregierung jemals die Organisationen der verschiedenen Parteien und Gruppen unterschiedlich behandelt hätte. Gesetzwidrigkeiten, die ihr zur Kenntnis gelangen, ist jederzeit mit den gesetzlichen Mitteln entgegengetreten worden, ob es sich nun um den republikanischen Schutzbund oder um andere Verbände gehandelt hat.« Sowohl Bundeskanzler Ramek als auch die Reichspost versuchten nun, die in den vergangenen Tagen ziemlich klar zutage getretenen Differenzen herunterzuspielen bzw. zu dementieren. Der Bundeskanzler betonte, dass man in der Reichspost nichts lesen konnte, »was irgendwie als Angriff gegen die Regierung gedeutet werden könnte«. Die von den völkischen Verbänden erhobene Rücktrittsforderung bezeichnete Ramek als nicht maßgebend, solange die Regierung das Vertrauen der Mehrheit des Nationalrates habe. Rücktrittsforderungen seien an die Regierung schon mehrmals und von verschiedenen Seiten und Gruppen gestellt worden. »Das ist das Schicksal jeder Regierung, in allen Staaten, zu allen Zeiten.«122 Die Reichspost ruderte zwar etwas zurück und verwahrte sich gegen die Beschuldigung, »weiß der Himmel welchen dunklen Machenschaften gegen die bestehende Regierung zu folgen, weil wir von unserer Freiheit Gebrauch machten, der Anmaßung und dem Terror eines gewissen Partei- und Pressejudentums entgegenzutreten und üble Dinge beim Namen zu nennen«. Das christlichsoziale Parteiblatt ging aber nicht davon ab, seine Vorwürfe zu wiederholen und Verständnis für die Demonstrationen zu zeigen : »Nicht der Wunsch nach Unordnung, sondern das Verlangen, endlich einmal die Vergifter der öffentlichen Ordnung in Schranken zu weisen, ist der tiefste Ursprung der Bewegung, die jetzt weiteste Kreise der christlichen Bevölkerung erfasst hat. Mit Parteipolitik hat das alles am wenigsten zu schaffen.«123 Die Tatsache, dass es nicht darum ging, diesen Kreisen das Demonstrationsrecht zu nehmen, sondern darum, im Zusammenhang mit dem zionistischen Weltkongress die Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, welche durch antisemitische Kundgebungen nicht gewährleistet gewesen wären, wollte die Reichspost nicht zur Kenntnis nehmen. Der Korrespondent der Times kommentierte die Vorkommnisse dahingehend, dass Teile der christlichsozialen Partei mit Ramek unzufrieden seien und noch vor der bevorstehenden Tagung des Völkerbundes in Genf, wo die Zukunft Österreichs beraten werde, einen Wechsel in der Regierungsführung anstrebten. Dies wäre »im
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Interesse ganz Europas bedauerlich«.124 Dass aufgrund der Tatsache, dass die Reichspost dem christlichsozialen Parteiobmann Seipel sehr nahe stand, die heftigen Angriffe der Reichspost gegen die Regierung zu wilden Spekulationen führte, war nicht verwunderlich. Auffallend ist jedenfalls, dass es vonseiten des Parteiobmannes Seipel keine öffentlichen Erklärungen zu den Vorkommnissen gab. Seipel nahm an einer Sitzung der Wiener christlichsozialen Parteileitung am 19. August teil, bei der festgestellt wurde, »dass keine offizielle Organisation der Wiener christlichsozialen Partei an der Veranstaltung der Demonstrationen vom 17. d. M. beteiligt war.« Dies, obwohl der Wiener christlichsoziale Abgeordnete Dr. Anton Jerzabek als wesentlicher Organisator des »Wiener Volkstages« fungierte. Die Parteileitung hielt fest, dass sich der »Antisemitismus der bodenständigen Bevölkerung« nicht »gegen die nationalen Bestrebungen der zionistischen Juden, sondern gegen jenes Judentum« richte, »das durch seine Wühlarbeit auf kulturellem, seine Überhebung auf wirtschaftlichem und politischem Gebiete und die Ausschreitungen der von ihm geleiteten zügellosen Presse Moral und Wirtschaft unseres Volkes untergräbt«. Diesen Abwehrkampf werde die Christlichsoziale Partei mit allen gesetzlichen Mitteln fortsetzen, um ihn nicht unverantwortlichen Gruppen zu überlassen. Gleichzeitig beschloss die Parteileitung, die gleichmäßige Behandlung aller Staatsbürger durch die Polizei zu verlangen und zu überprüfen, ob die von Ramek gemachten Zusagen auch durchgeführt würden.125 Das christlichsoziale Grazer Volksblatt wiederum nahm »unbekümmert um die Stellungnahme christlichsozialer Parteiblätter und ganz vereinzelter christlichsozialer Mandatare« klar für die Regierung Ramek Stellung : »Wenn die österreichische Regierung die Erlaubnis gab, in Wien den diesjährigen Kongress abzuhalten, so wird sie ihre Gründe gehabt haben, nach gegebener Zustimmung aber hatte sie die Pflicht, das Gastrecht zu schützen, und zu beweisen, dass in Österreich eine verantwortliche und auch wirkliche Regierung vorhanden ist und nicht irgendeine Nebenregierung entscheidet, ob eingegangene Verpflichtungen eingehalten werden und Gäste ihres Lebens sicher sind oder nicht … Wenn nun trotzdem Blut floss … so haben jene Schuld, die gegen die Entscheidung der Behörden und in offener Auflehnung gegen Regierung und Polizei auf die Straße zogen.«126 Dass also in in- und ausländischen Medien Spekulationen darüber angestellt wurden, ob Freunde Seipels am Werk gewesen seien, die Regierung Ramek zu stürzen, war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Parteiobmann Seipel in der Öffentlichkeit zu dieser Frage schwieg und sich an Protestvorsprachen gegen die Wiener Polizei beteiligte. Eine klare, loyale öffentliche Stellungsnahme Seipels als Parteiobmann der christlichsozialen Partei wäre am Platz gewesen. Allerdings ist die Argumentation, die Die Neue Zeitung unter dem Titel »Warum Dr. Seipel kein Ministerstürzer werden kann« in Form eines Kommentars publizierte, durchaus einleuchtend : Die Sanierung Österreichs mithilfe des Völkerbundes, ein Werk Seipels, stand zu diesem Zeitpunkt vor einem entscheidenden Wendepunkt. Es ging um die weitgehende Be-
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seitigung der Kontrolle Österreichs durch den Völkerbund, die bei der nächsten Tagung in Genf auf der Tagesordnung stand. Dazu war die Einbindung des gesamten Nationalrates, auch der Opposition, notwendig, die Sanierung der Volkswirtschaft war nur durch einen parlamentarischen Burgfrieden möglich. Dies wäre einer von Seipel geführten Regierung, der sich einer erbitterten persönlichen Gegnerschaft der Sozialdemokraten gegenübersah, nicht gelungen. Daher konnte es gar nicht im Sinne Seipels, dem der Abschluss der Sanierung ein persönliches Anliegen war, sein, eine Regierung zu diesem Zeitpunkt anzuführen. »Von diesen Gesichtspunkten aus wird es auch sachlich vollkommen verständlich, daß der ehemalige Bundeskanzler keinen Anreiz finden kann, seinen Nachfolger zu verdrängen … Nach Seipels Rücktritt ist die Sanierungsarbeit nicht zum Stillstande gekommen. Im Gegenteil : alles das, was zu einem Abbau der zeitweise sehr rücksichtslosen Kontrolle des Völkerbundes seitens des Nationalrates geschehen mußte, ist noch vor der Sommertagung beschlossen worden … Der Bundeskanzler Ramek hat in der Vorsommertagung des Nationalrates bewiesen, daß er die parteipolitischen Kämpfe erfolgreich zu mildern versteht.«127 Grundsätzlich aber kann festgestellt werden, dass der radikalere, antisemitische und gegen eine moderate Verständigungspolitik mit der sozialdemokratischen Opposition eingestellte Wiener Flügel der Christlichsozialen mit der Politik Rameks immer unzufriedener wurde und die Vermutungen, dass einige seiner Exponenten einen Sturz Rameks betrieben, nicht von der Hand zu weisen waren. Allerdings scheint ebenso unbestritten zu sein, dass Seipel daran (noch) nicht beteiligt war und loyal zu Ramek stand. Der »Wiener Volkstag« fand schließlich doch mit Genehmigung der Regierung am Samstag, 22. August 1925, als Massenaufmarsch am Ring ohne Zwischenfälle statt. Die Kritik an der Regierung, an der Genehmigung des Zionistenkongresses und an der Polizei wurde bekräftigt. Eine beantragte Gegenkundgebung der Kommunisten wurde untersagt.128
Der Schulkonflikt Wenige Tage nachdem Ramek aus Genf von der Völkerbundtagung mit durchaus positiven Ergebnissen nach Österreich zurückgekehrt war, stürzte das Land in eine tiefe politische Krise im Zusammenhang mit der heftig umstrittenen Schulpolitik von Unterrichtsminister Emil Schneider. Dieser hatte in der Zeit der Abwesenheit Rameks Verhandlungen mit den Sozialdemokraten geführt und Vereinbarungen getroffen, die der Kanzler nach seiner Rückkehr wieder zurücknehmen musste. Seit der Konstituierung des Wiener Landesschulrates im Frühjahr 1922 kam es in der österreichischen Schulpolitik zu einem sich immer mehr verschärfenden Dualis-
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mus. Unter dem sozialdemokratischen geschäftsführenden Stadtschulratspräsidenten Otto Glöckel ging die Initiative in Sachen Schulreform fast ausschließlich vom Wiener Landesschulrat aus. Die von Glöckel als Unterstaatssekretär für Unterricht eingeleiteten Reformen wurden im Bereich Wiens weitergeführt und erprobt. Von den folgenden christlichsozialen Unterrichtsministern wurden diese Reformen in Wien in keiner Weise gutgeheißen. Auch die Großdeutschen distanzierten sich zunehmend von den Reformen. 1926 lief die provisorische Geltung des neuen Volksschullehrplanes, dessen Erprobungszeit mehrfach verlängert worden war, aus. Auch die Frage der Einheitsschule musste entschieden werden, da die vier Jahre Probezeit für die Allgemeine Mittelschule abgelaufen war. Glöckel wollte die Schulversuche verlängern und auf eine noch breitere Basis stellen, sodass sie später wohl nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten.129 Bundeskanzler Seipel hatte 1922 den Vorarlberger Gymnasialprofessor und Nationalratsabgeordneten Emil Schneider als Bundesminister für Unterricht und Kultur in seine erste Regierung aufgenommen. Dieser konziliante, moderate und kompromissorientierte Politiker gehörte der CV-Verbindung »Raeto-Bavaria zu Innsbruck« an.130 Bundeskanzler Ramek hatte Emil Schneider in seine Regierung übernommen. Zwischen dem christlichsozialen Unterrichtsminister und dem sozialdemokratischen Wiener Stadtschulratspräsidenten Otto Glöckel herrschte – wie erwähnt – laufend ein äußerst harter politischer Kampf, der aus ständigen politischen Provokationen bestand. Ein Beispiel dafür war der sogenannte »Zweite Maulkorberlass« des Wiener Stadtschulratspräsidenten Glöckel. Nachdem im Bereich des Wiener Landesschulrates immer wieder Religionslehrer wegen der Frage an Schüler betreffend die Erfüllung religiöser Pflichten, etwa Besuch der Heiligen Messe, disziplinär zur Rechenschaft gezogen worden waren, hatte das Unterrichtsministerium in einem Erlass am 25. Dezember 1925 klargestellt, dass solche Fragestellungen keinen strafbaren Tatbestand bildeten, sofern damit kein Zwang und keine Strafen verbunden waren. In einem Durchführungserlass dazu hatte Glöckel am 9. Januar 1926 diesen ministeriellen Erlass praktisch außer Kraft gesetzt. Dies wiederum hatte zur Folge, dass das Ministerium diesen Glöckel’schen Durchführungserlass am 22. Mai 1926 aufhob. Prompt kündige Glöckel an, an seiner Vorgangsweise festhalten zu wollen.131 Eine leidenschaftlich diskutierte parlamentarische Anfrage Glöckels an Ramek, die der Bundeskanzler sehr sachlich und juristisch, Parteiobmann Seipel sehr politisch behandelte, verlief letztlich ergebnislos im Sand.132 Die Provokation ging weiter : Am 31. Mai gab Glöckel bekannt, dass die Mittelschulreform entschieden sei, indem für alle Wiener Knabenmittelschulen – mit Ausnahme der humanistischen Gymnasien – ein gemeinsamer vierklassiger Unterbau eingeführt werde und die Bundesanstalten für Lehrerbildung in allgemeinbildende, zur Hochschulreife führende Schulen umgewandelt würden. Unverzüglich
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reagierte das Unterrichtsministerium mit der Feststellung, dass diese Informationen nicht den Tatsachen entsprächen, die Verhandlungen über die Reformen noch nicht abgeschlossen seien und vor allem eine endgültige Regelung von der Zustimmung aller anderen Landesschulräte abhänge.133 Wie sich schließlich herausstellte, hatte es bei Verhandlungen zwischen dem Unterrichtsministerium und dem Wiener Landesschulrat am 29. Mai zwar gewisse Zugeständnisse, aber keine Vereinbarungen gegeben. Die Reformen müssten sich auf das gesamte Bundesgebiet beziehen und nicht nur auf Wien. Anlässlich einer Länderkonferenz mit den Landeshauptmännern und Landesfinanzreferenten und den Parlamentsklubs der Regierungsparteien, an der auch Bundeskanzler Ramek und andere Regierungsmitglieder teilgenommen hatten, waren von den Ländervertretern negative Stellungnahmen zu den Reformen in Wien abgegeben worden.134 Die Reichspost formulierte drei Bedingungen an die Mittelschulreform : 1. Die Einheitlichkeit des österreichischen Mittelschulwesens musste garantiert sein ; 2. die bisherigen bewährten Schultypen müssten erhalten und fortentwickelt werden ; 3. das gemeinsame Bestreben nach einer Vereinheitlichung der Unterstufe bedeutet keinesfalls die Einführung der »Deutschen Mittelschule« bzw. der »Allgemeinen Mittelschule«, wie sie in Wien teilweise schon bestanden. Das christlichsoziale Parteiorgan drängte nach einer raschen und klaren Regelung. »Um ihres eigenen Ansehens und um der Zukunft unseres Bildungswesens willen, soll die oberste Unterrichtsbehörde ohne Schwanken und faule Kompromisse den Weg schreiten, den die Besprechungen mit den Ländervertretern gewiesen haben. Es ist Zeit, diesem Wirrwarr ein Ende zu machen.«135 Nach diesen Festlegungen und nachdem es noch in letzter Minute gelungen war, einen Streik der Mittelschulprofessoren zu verhindern, reisten Bundeskanzler Ramek und Finanzminister Kollmann am 3. Juni nach Genf zu den Beratungen des Finanzkomitees und des Völkerbundrates136, an deren Ende die endgültige Aufhebung der Finanzkontrolle in Österreich stehen sollte. Altkanzler und Parteiobmann Seipel war bereits am 1. Juni nach Paris und weiter zu einer längeren Amerikareise aufgebrochen. Bereits am 1. Juni war im Verordnungsblatt des Unterrichtsministeriums der definitive Lehrplan für die erste bis fünfte Schulstufe der Volksschulen erlassen worden. Die Federführung dafür hatte sehr wesentlich der Landesschulinspektor für die Pflichtschulen und Lehrerbildungsanstalten in Niederösterreich, Heinrich Güttenberger.137 Damit schien eine fast sechs Jahre dauernde, z. T. sehr politisch geprägte Auseinandersetzung über den Volksschullehrplan endlich beendet zu sein. 1920 war
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vom damaligen Unterstaatssekretär Glöckel ein Versuchslehrplan ausgearbeitet worden, der allerdings sehr umstritten war. Deshalb führte das Unterrichtsministerium eine Umfrage bei den Lehrern, Bezirks- und Landesschulräten über ihre Erfahrungen mit diesem Lehrplan durch. Die Ergebnisse wurden in den neuen (definitiven) Lehrplan eingearbeitet.138 Der neue Volksschullehrplan stieß sofort auf heftigen Widerstand seitens Glöckels. Da die Wiener Mittelschul- und Lehrerbildungsreform beim Unterrichtsminister und die Reform des Volksschullehrplanes beim Wiener Stadtschulratspräsidenten Glöckel Widerstand hervorriefen, fanden am 8. und 9. Juni weitere langwierige und teilweise heftige politische Verhandlungen im Unterrichtsministerium mit Glöckel über die Mittelschulreform und die neuen Volksschullehrpläne statt. Eine Einigung konnte auch nach diesen zweitägigen Verhandlungen nicht erzielt werden, allerdings gab es Kompromissvorschläge, die am Samstag den Parteileitungen vorgelegt werden sollten.139 Die Position des Unterrichtsministers war durch die gesetzlich festgelegte Zweidrittelmehrheit für alle Schulgesetze und die föderalistische Organisation des Schulwesens nahezu aussichtslos. Aus dieser politischen Sackgasse wollte Unterrichtsminister Schneider bei diesen Verhandlungen mit den Wiener Sozialdemokraten über einen »Schulkompromiss« kommen. Die Forderung der Sozialdemokraten war, dass für die Stadt Wien und alle Städte mit autonomem Statut die Möglichkeit geschaffen werde, die Volksschulerziehung nach dem Lehrplan des sozialdemokratischen Wiener Schulexperten Viktor Fadrus140 zu gestalten. Mit dieser Forderung setzten sie sich am Ende der Verhandlungen durch. Die Reichspost ließ am 12. Juni die Bombe platzen und berichtete, dass sich die Christlichsoziale Partei verpflichtet habe, dass neben dem am 19. Mai verordneten Volksschullehrplan für autonome Städte auch der Lehrplan von Fadrus durch eine Ministerialverordnung zugelassen werde. Dem müsse auch von den Landesschulräten zugestimmt werden, sodass auch in christlichsozial dominierten Ländern der Lehrplan von Fadrus für autonome Städte dieser Länder gelten könne. Damit werde das bisher einheitliche Volksschulwesen auseinandergerissen. Die aus dieser Vereinbarung erwachsende Krise war schon aus dem Kommentar der Reichspost zu erkennen : »Die Verantwortung für diese Zerreißung scheint uns zu schwer und wir möchten es der christlichsozialen Partei ernstlich zu bedenken geben, ob sie sich mit dieser Verantwortung belasten soll… Es wird viele Christlichsoziale geben, die an diesem Unglück keinen urheberrechtlichen Anteil werden haben wollen.«141 Für die Mittelschulreform wurde im übrigen wieder keine endgültige Einigung gefunden, es wurde von christlichsozialer Seite allerdings einigen Regelungen zugestimmt, die sehr stark in die Richtung der sozialdemokratischen Vorstellungen gingen. Heftige Proteste gegen die beabsichtigten Schullösungen erhoben sich vor allem aus kirchlichen und christlichsozialen Kreisen.
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Mit dieser kritischen Situation wurde Bundeskanzler Ramek, der am 11. Juni nachmittags aus Genf nach Wien zurückkehrte, konfrontiert. Unterrichtsminister Schneider hatte auf politischer Ebene, ohne den Bundeskanzler und den Koalitionspartner zu informieren, die kritisierten Vereinbarungen geschlossen. Das Vorgehen Schneiders widersprach eindeutig den Regierungsvereinbarungen zwischen Chrístlichsozialen und Großdeutschen, die vorsahen, dass bei derartigen Veränderungen das Einvernehmen unter den Koalitionspartnern herzustellen sei. In beiden Fällen hatte – nach Ansicht der Großdeutschen – Minister Schneider gegen diese Vereinbarungen verstoßen. Gesetzlich hätte auch das Einvernehmen mit den Landesschulräten hergestellt werden müssen. Aus all diesen Gründen erklärte Bundeskanzler Ramek – um den Bestand seiner Regierung zu retten –, dass er die Vorgangsweise seines Unterrichtsministers ablehne, da die beabsichtigten Maßnahmen nicht durch Verordnungen, sondern nur durch Gesetze umgesetzt werden konnten, wozu ein Einvernehmen mit dem Koalitionspartner notwendig sei. Am 16. Juni trat die christlichsoziale Gesamtparteileitung zusammen und schloss sich einvernehmlich der Haltung des Bundeskanzlers an.142 Unterrichtsminister Schneider war schon kurz vor dieser Sitzung dazu veranlasst worden, seinen Rücktritt einzureichen, was er auch tat. Die Situation war allerdings insofern besonders kompliziert, als bei den Verhandlungen mit den Sozialdemokraten auch die christlichsozialen Nationalratsabgeordneten Leopold Kunschak und Richard Wollek und der christlichsoziale Stadtschulrat Rummelhart teilgenommen hatten. Ihnen wurde jedoch von der Parteileitung attestiert, »vollkommen korrekt vorgegangen« zu sein. Die von Schneider mit den Sozialdemokraten ausgehandelten Kompromissregelungen waren damit hinfällig und der Schulkonflikt neuerlich verschärft. Politische Kommentatoren sagten voraus, dass nach der Ablehnung des »Kompromisslehrplanes« die Stadt Wien den alten sozialistischen Lehrplan aufrechterhalten werde und sich nicht um die Erlässe des Unterrichtsministeriums kümmern, in den Wiener Schulen wieder einen aggressiven Kulturkampf eröffnen und den Religionsunterricht wesentlich erschweren würde. Auch eine Auflösung des Parlaments und Neuwahlen seien nicht auszuschließen.143 Für Bundeskanzler Ramek war die Krise um die Schulreform – wie er selbst in der Ministerratssitzung sagte – »außerordentlich unangenehm«. Die Ursache lag in der Art, wie der Unterrichtsminister diese Angelegenheit gehandhabt hatte. »Das sind Dinge, die in den Ministerrat gehört hätten«, stellte Ramek klar. »Es ist ein Wirrwar, wie es nicht ärger sein kann. Hätte man sie im Ministerrat behandelt, mit den Parteien besprochen und Vorlagen an den Nationalrat gemacht, so wäre das der richtige Weg gewesen. So haben sich vier Leute zusammengesetzt und über das Schicksal des Unterrichtswesens in Österreich entschieden.« In der ihm eigenen Art vertrat er die Meinung, man werde »die ganze Situation wieder gewinnen, wenn man nicht die Ruhe verliert«.144
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In der Sitzung des Nationalrates am 17. Juni kam es zu überraschend aggressiven Angriffen der Sozialdemokraten gegen Bundeskanzler Ramek, den sie bisher eher geschont und als Mann des Kompromisses und der Versöhnung angesehen hatten.145 Die Sozialdemokraten griffen Ramek persönlich an und warfen ihm Wortbruch, Ehrlosigkeit, Niederträchtigkeit vor. »Pultdeckel trommelten, Besessene brüllten, das Bodenbrett seiner zertrümmerten Schublade schwenkte wie ein Assagai146 in der Hand des Herrn Witternigg, eine Bronzelampe als Wurfgeschoß gegen den Kanzler suchte sein Gesinnungsgenosse Zelenka zu erobern, eine drängende, boxende, schreiende Masse – das war heute die parlamentarische Anwaltschaft für die Schulreform des Herrn Präsidenten Glöckel«, schilderte das christlichsoziale Parteiorgan die Vorkommnisse im Parlament.147 Von Krawallen, »wie sie auch im früheren Reichsrat nur selten vorkamen«, sprach Die Neue Zeitung. Tatsächlich kam es zu Krawallen, Handgreiflichkeiten und tätlichen Zusammenstößen unter den Abgeordneten, die Sitzung musste unterbrochen werden, eine Obmännerkonferenz wurde einberufen, an der jedoch die Sozialdemokraten nicht teilnahmen. Nach der Wiederaufnahme der Sitzung verhinderten die Sozialdemokraten auch die Beschlussfassung des Arbeitslosenfürsorgegesetzes, die Sitzung wurde vertagt.148 Über Vorschlag von Bundeskanzler Ramek beschloss der christlichsoziale Parlamentsklub, den steirischen Landeshauptmann Anton Rintelen zu ersuchen, das Amt des Unterrichtsministers zu übernehmen. Und das war eine kleine Sensation, mit der niemand gerechnet hatte, da ganz andere Namen im Gespräch waren : der Professor für Deutsche Rechts- und Verfassungsgeschichte, Staatsrecht und Kirchenrecht und Bundesrat Karl Gottfried Hugelmann und der niederösterreichische Abgeordnete Emmerich Czermak.149Aber auch diese Entscheidung ging nicht reibungslos über die Bühne. Die am 17. Juni eilig einberufene Nachtsitzung der Landesparteileitung der steirischen Christlichsozialen konnte wegen des Protestes verschiedener Mitglieder, denen eine Teilnahme nicht möglich war, keinen endgültigen Beschluss fassen, sodass erst eine für 21. Juni einberufene Sitzung darüber entscheiden konnte, »ob Landeshauptmann Dr. Rintelen der Berufung als Bundesminister für Unterricht Folge leisten darf.«150 Wie tief die Krise auch die Christlichsoziale Partei selbst erreicht hatte, zeigt der Rücktritt von Leopold Kunschak als Obmann der Wiener Christlichsozialen. Die Funktion des Obmannes des Wiener Gemeinderatsklubs behielt er bei. Kunschak hatte an der Vereinbarung über den »Kompromisslehrplan« mitgewirkt, »da er einen auf dem Rücken der Schulkinder auszutragenden Kulturkampf vermeiden wollte«. Zahlreiche Wiener christlichsoziale Organisationen sprachen in Resolutionen Kunschak umgehend das Vertrauen aus und baten ihn, die Obmannschaft der Partei beizubehalten.151 Die Christlichsoziale Partei zeigte also insgesamt ein Bild der Zerrissenheit, der Unentschlossenheit und der Führungslosigkeit. Parteiobmann Seipel war zu diesem
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Zeitpunkt in Amerika. Seipel war zu dieser Zeit viel auf Reisen. Am 1. Juni war er zu einer langen Reise, die ihn auch nach Paris führte, zum Eucharistischen Kongress in Chicago, zu dem er als Referent eingeladen worden war, aufgebrochen. Erst am 20. Juli, lange nach Beendigung der Regierungskrise, war er wieder in Wien. Es war klar, dass im Zuge solcher Krisen die führende Hand des christlichsozialen Parteiobmannes fehlte. Man hatte Seipel zwar per Telegramm von der Regierungskrise informiert, aber er hatte kaum Möglichkeit, direkten Einfluss zu nehmen.152 Die gesamte Krise um die Schulpolitik warf ein schlechtes Licht auf die Partei und die Regierung Ramek, in der »jeder mehr oder minder das macht, was ihm gefällt« und »zwischen Kanzler und Unterrichtsminister Katz und Maus gespielt wird«. Und weiter teilte die Neue Freie Presse ihre Kritik nach allen Seiten aus : »Man konnte nicht mit größerer Unbeholfenheit in dieser Schulsache herumstolpern, als dies in den letzten Wochen geschehen ist, und die Opposition hätte nicht das Talent der Demagogie, das sie unstreitig ihr eigen nennt, schlüge sie nicht Kapital aus solchen Zuständen. Dabei helfen den Sozialdemokraten natürlich auch die brünftigen Schreie der militanten Klerikalen, so dass der unbefangene Zuschauer wirklich nicht zu entscheiden vermag, wer den stärkeren Tadel verdient …«153 In dieser kritischen Situation entglitt Ramek zunehmend die Führung der Regierung, seine ursprünglich gelobte Konzilianz und Gutmütigkeit wurden ihm zum Verhängnis. Die fehlende Härte und Konsequenz stärkte die Empfindung, »dass im Regierungslager die Führerlosigkeit immer mehr zutage tritt und dass heute wirklich niemand mehr weiß, wohin der Wagen fährt«. Kritisiert wurde auch, dass man mit der Bestellung Rintelens zum Unterrichtsminister nicht bis zur Rückkehr des Parteiobmannes Seipel gewartet hatte. Man hätte seine Meinung hören sollen, »ehe man Dispositionen trifft, welche die ganze Zukunft der Majorität und die ganze Zukunft des Landes immerhin sehr wesentlich berühren«.154 In der Sitzung der steirischen Landespartei am 21. Juni wurde Rintelen nur mit äußerst knapper Mehrheit die Ermächtigung erteilt, in die Bundesregierung einzutreten. Zuerst erhielt ein Antrag, der forderte, dass Rintelen auf seinem Posten als steirischer Landeshauptmann bleiben möge, 32 Pro- und 32 Gegenstimmen und damit gerade keine Mehrheit. Ein weiterer Antrag auf Ermächtigung zur Übernahme des Unterrichtsressorts erhielt 38 Pro- und 24 Gegenstimmen. Nun konnte Bundeskanzler Ramek mitgeteilt werden, dass Rintelen bereit sei, als Unterrichtsminister in die Regierung einzutreten.155 Damit war nach dem Abgang von Jakob Ahrer wieder ein Steirer in der Regierung vertreten. Eine Massendemonstration der Sozialdemokraten in Wien gegen die Schulpolitik der Regierung am 18. Juni verlief in vollkommener Ruhe. Am 29. Juli 1926 wurde der Volksschullehrplan schließlich doch von Unterrichtsminister Rintelen erlassen, obwohl bei Weitem nicht in allen Punkten ein Einvernehmen mit den Sozialdemokraten gefunden werden konnte. Bei den Verhandlungen, an denen Vertreter der Christ-
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lichsozialen, der Großdeutschen und der Sozialdemokraten teilnahmen, konnte aber eine Übereinstimmung über den grundsätzlichen Aufbau des Volksschullehrplanes erzielt werden. Keine Einigung konnte erzielt werden über die Frage, ob im Gesangsunterricht auch das Kirchenlied zu pflegen sei und ob die »sittlich-religiöse Erziehung« an die Spitze der Verordnung gestellt werden sollte.156 Letztlich aber hatte der Schulkonflikt der Regierung Ramek stark zugesetzt. In der Folge gab es bereits in den ersten Augusttagen Meldungen in der Presse über einen bevorstehenden Rücktritt der Regierung Ramek. Die Regierung büßte an Ansehen und Vertrauen weiter stark ein, als Ende August 1926 die Zentralbankaffäre zu einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss führte. Die Opposition schoss unerwartet heftig gegen Bundeskanzler Ramek. Vor allem durch eine Rede Seipels im Parlament fühlten sich die Sozialdemokraten wieder einmal heftig provoziert und es kam zu scharfen parlamentarischen Auseinandersetzungen.157 Vielleicht auch mit Rücksicht auf die anfangs September in Genf zu führenden Verhandlungen mit dem Völkerbund kam es zu einer vorübergehend ruhigen politischen Phase. Bei der Durchsetzung der österreichischen Wünsche konnte Ramek in Genf beachtliche Erfolge erzielen. »Innenpolitisch aber wurde er bei aller Anerkennung seiner sauberen und korrekten Haltung als zu wenig energisch und durchschlagskräftig angesehen.«158 Anfang Oktober 1926 begann die Stellung der Regierung Ramek immer unhaltbarer zu werden, der Rückhalt in der Christlichsozialen Partei wurde immer geringer. Man darf nicht übersehen, dass Ramek mit Rintelen wohl einen Minister in seiner Regierung hatte, der nicht nach Wien gekommen war, »um einen beliebigen Ministerposten zu ergattern, sondern um an Ort und Stelle zu sein, wenn Ramek selber abzutreten und einem Nachfolger Platz zu machen haben werde.«159 Es war überhaupt keine Frage, dass Rintelen weiterreichende Ambitionen hatte, die aber Seipel vereitelte. Die unter den ständigen ultimativen Streikdrohungen stehenden Verhandlungen mit den Beamten blockierten jede andere Regierungstätigkeit. Die Regierung Ramek beschloss daher in der Ministerratssitzung vom 15. Oktober 1926 ihre Demission.160 Obwohl Seipel eigentlich keine besondere Neigung zeigte, die Regierungsgeschäfte wieder zu übernehmen, kam er dem Ersuchen der christlichsozialen Parteileitung nach und trat an die Spitze der neuen Regierung, gebildet wieder aus Christlichsozialen und Großdeutschen.161 Auch diese Regierung konnte keine zufriedenstellende Lösung der Beamtenfrage erzielen.
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2. Präsident des Nationalrats – Ehe der Hahn dreimal krähte, dreimal verraten. Am 4. Dezember 1930 konstituierte sich der neue Nationalrat. Obwohl sich die nicht-sozialistischen Parteien zu einer gemeinsamen Kleinen Koalition aus Christlichsozialen, Schoberblock und Landbund zusammengefunden hatten, zeigten die Parteien bei der Wahl des Präsidenten des Nationalrates schon große Uneinigkeit. Die neue Regierung stand unter der Führung von Bundeskanzler Dr. Otto Ender und Vizekanzler Dr. Johann Schober. Die Christlichsoziale Partei nominierte Dr. Rudolf Ramek für die Funktion des Ersten Nationalratspräsidenten, »einen Mann also, über dessen sachliche und persönliche Eigenschaften für die Leitung des Parlamentes auf keiner Seite Zweifel bestehen könnten«.162 Beim ersten Wahlgang erhielt der Sozialdemokrat Matthias Eldersch 80 Stimmen, der Christdemokrat Ramek 65, der Landbündler Viktor Pistor 8 und der Heimatbundabgeordnete Josef Lengauer 8 Stimmen. Damit hatte keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit erreicht und es musste ein zweiter Wahlgang durchgeführt werden. In diesem zweiten Wahlgang stimmten 71 Abgeordnete für Eldersch (die Sozialdemokraten, Dr. Schober und 8 weitere Mitglieder des »Schoberblocks«), 73 für Ramek (65 Christlichsoziale und 8 des Heimatblocks) und 8 Abgeordnete des Landbunds stimmten für Pistor. Damit erreichte wieder kein Kandidat die absolute Mehrheit und es kam zur Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen, also Ramek und Eldersch. Eldersch erhielt 80 Stimmen von den Sozialdemokraten und dem Nationalen Wirtschaftsblock mit Dr. Schober an der Spitze. Für Ramek stimmten die Christlichsozialen und der Heimatblock (73 Stimmen). Damit war der Sozialdemokrat Eldersch zum Ersten Präsidenten des Nationalrates gewählt. Zum Zweiten Präsidenten wurde hierauf mit den 84 Stimmen der Christlichsozialen, des Nationalen Wirtschaftsblocks und des Heimatblocks Rudolf Ramek gewählt. 80 Sozialdemokraten und Landbündler gaben leere Stimmzettel ab. Mit 111 Stimmen des Nationalen Wirtschaftsblocks, der Sozialdemokraten und eines Teiles der Christlichsozialen wurde schließlich Dr. Straffner zum Dritten Präsidenten gewählt. 51 Stimmzettel waren leer.163 Die Christlichsozialen sahen in diesem Abstimmungsverhalten des »Schoberblocks« einen Verrat gegenüber dem gemeinsamen Regierungsbündnis, die Vertreter des Nationalen Wirtschaftsblocks argumentierten mit der alten Tradition, dass die stärkste Parlamentsfraktion den Präsidenten stellen solle. »Ehe der Hahn dreimal krähte«, habe Schober dreimal für die Sozialdemokraten und gegen die Christlichsozialen gestimmt. Tatsächlich aber war seit 1918 der Erste Präsident des österreichischen Parlaments immer von der stärksten Parlamentsfraktion gestellt worden.
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Nachdem bei der Nationalratswahl vom 9. November 1930 die Sozialdemokratische Partei die eindeutig stärkste Partei geworden war, wäre die Wahl des Christlichsozialen Rudolf Ramek zum Ersten Präsidenten tatsächlich ein eklatanter Bruch mit der bisherigen parlamentarischen Usance gewesen. Von großdeutscher Seite betonte man gerade diesen Faktor, ein wesentlicher Grund aber lag offensichtlich »bei so viel Sticheleien und Reizungen, bei so viel angesammelter Bitterkeit«164 nach dem abgelaufenen Wahlkampf, in dem die Christlichsozialen das nationale Lager heftig bekämpft hatten. Die Ereignisse des 4. März 1933 im Nationalrat, die zur sogenannten »Selbstauflösung des Parlaments« führten, und die Rolle der drei Nationalratspräsidenten Dr. Karl Renner, Dr. Rudolf Ramek und Dr. Sepp Straffner sind vielfach ausführlich dargestellt worden. Nachdem am 16. Februar 1934 die sozialdemokratischen Mandate von der Regierung Dollfuß annulliert worden waren, berief Ramek das Rumpfparlament für 30. April 1934 ein. Bei dieser letzten Nationalratssitzung waren nur mehr 76 stimmberechtigte Abgeordnete anwesend. Die von der Bundesregierung seit 7. April erlassenen Notverordnungen wurden mit den 74 Stimmen der Christlichsozialen, des Landbundes und des Heimatblocks gegen zwei Stimmen der Großdeutschen angenommen. Es war wohl keine innere Überzeugung, sondern die Loyalität zu einem anderen, in diesem Fall Dollfuß, die Ramek leitete. Er hatte nicht nur immer wieder zu erkennen gegeben, dass er für die Heimwehren keine Sympathien hatte und er es am liebsten hätte, »wenn die Wehrverbände überhaupt nicht existierten«,165 sondern auch ein halbes Jahr vorher öffentlich erklärt, dass für Österreich eine faschistische Diktatur, wie sie die Heimwehr anstrebe, nicht infrage käme.166 Danach zog sich Ramek vollständig aus der Politik zurück und übte wieder seinen Beruf als Rechtsanwalt aus. In der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft war Ramek als juristischer Berater verschiedener kirchlicher Einrichtungen, wie etwa das bischöfliche Ordinariat in Linz, tätig.167 Rudolf Ramek starb am 24. Juli 1941 in Wien.
Zwischenbeurteilung Die etwas genauere Betrachtung ausgewählter Stationen im Leben von Rudolf Ramek konnte in einigen Bereichen durchaus klarere Sichtweisen bringen, in anderen entstanden wohl mehr oder neue Fragen. Tatsache ist, dass Ramek sowohl im Land Salzburg als auch auf Bundesebene immer im Schatten starker, egozentrischer, ehrgeiziger, machtbewusster und eitler Personen, Rehrl und Seipel, stand und so seine eigenen Fähigkeiten nicht deutlicher entwickeln konnte. Tatsache ist auch, dass Ramek mit seinen besonderen Stärken der Konsens- und Kompromissfähigkeit, des Ausgleichs, der Konzilianz, der Besonnenheit und Ruhe,
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der Unaufgeregtheit, der Geduld und der Beharrlichkeit in der politisch aufgeheizten Atmosphäre der Ersten Republik in der Lage war, konsensorientierte, ruhige und arbeitsorientierte Phasen zu schaffen, in denen nicht unbedeutende parlamentarische Erfolge und Regierungserfolge erzielt werden konnten. Natürlich legen diese Eigenschaften auch die negative Interpretation nahe : initiativlos, ideen- und phantasielos, fehlendes Selbstbewusstsein, mangelnder Ehrgeiz, zusammengefasst »schwach«. Immerhin schaffte Ramek einiges, was wohl Seipel, dessen Art zu reden, dessen politische Argumentation und Handeln ihm den Hass der sozialdemokratischen Opposition einbrachte, nicht zustande gebracht hätte : Die Verfassungsreform 1925, die Einigung mit den Ländern über die Verwaltungsreform, die Novelle zum Arbeitslosenversicherungsgesetz, die Währungsreform, die Reform des Mietengesetzes, also all jener Gesetze, die zur Erfüllung der Genfer Vereinbarungen noch notwendig waren, die Beendigung der Kontrolle durch den Völkerbund etc. F. L. Carsten bezeichnete die mittleren Zwanzigerjahre – also vor allem die Zeit der Regierung Ramek – als »Jahre des Fortschritts«, die »für Österreich nicht nur Jahre einer neuen und stabilen Währung (waren), sondern auch eine Zeit langsamer und partieller wirtschaftlicher Erholung und größerer politischer Stabilität«.168 Ramek stand in der Mitte so vieler Konfliktpole, dass wohl auch dominantere politische Persönlichkeiten als er daran gescheitert wären. Trotzdem schaffte er es, die Regierung zwei Jahre lang zu führen, was für die Erste Republik mit ihren schnell wechselnden Regierungen eine lange Zeit bedeutete. Immerhin war er nach Seipel der Bundeskanzler mit der zweitlängsten Amtszeit. Einige der Konfliktpole, zwischen denen Ramek als Bundeskanzler stand : Seipel Seipel Seipel Wiener Christlichsoziale Christlichsoziale Gesamtpartei Wiener Christlichsoziale Zentralisten Radikale Antisemiten Klerikale Anschlussbefürworter Interessen einzelner Gruppen
Christlichsoziale in den Ländern Sozialdemokratische Opposition Rintelen Bundesländer-Christlichsoziale Steirische Christlichsoziale Schober Föderalisten Gemäßigte Liberale Völkerbund Maßnahmen zur Genfer Sanierung
Als Vertreter aus einem Bundesland hatte Ramek auf Wiener Boden von vornherein keinen leichten Stand. Die Wiener Christlichsozialen sahen den durch die Bundesländer verursachten Rücktritt »ihres« Seipels als eine Niederlage an und traten dem
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sogenannten »Länderkabinett« mit großen Vorbehalten entgegen. Vor allem war es die Reichspost unter ihrem Chefredakteur Friedrich Funder, die ein Blatt Seipels war, die der neuen Regierung Ramek mit großer Skepsis gegenüber stand. Es zeigte sich, »dass Funder vorbehaltslos dem Kurs Seipels folgte, dass er aber sofort auf Distanz ging, wenn andere Richtungen innerhalb der Partei an Einfluss gewannen«.169 Während also die Reichspost unter Bundeskanzler Seipel als loyale Regierungspresse vor dem Hintergrund der Wiener Christlichsozialen bezeichnet werden könnte, wahrte sie unter Ramek eine durchaus kritische Distanz, was diesem natürlich das Regieren nicht gerade erleichterte. Schließlich war es auch die Reichspost, die sich frühzeitig wünschte, »dass Seipel wieder aktiv die Führung übernehme«.170 Ramek hatte praktisch keine Chance, auf die Zusammensetzung seiner Regierung Einfluss zu nehmen. Zufriedengestellt werden mussten die eigenwilligen Christlichsozialen der Steiermark, deren Landeshauptmann Rintelen seinen Stellvertreter Jacob Ahrer als Finanzminister in die Regierung schickte. Dieser entwickelte sich zu einer äußerst umstrittenen Persönlichkeit, deren unsaubere Finanzpolitik und dunkle Geschäfte im Zuge der Bankskandale der Regierung großen Schaden zufügten. Schließlich setzte sich Ahrer auf spektakuläre Weise direkt aus dem Ministeramt nach Kuba ab. Aber auch die Wiener Christlichsozialen forderten ihre personelle Vertretung. Deshalb musste Carl Vaugoin das Verteidigungsressort übertragen bekommen und einer der engsten Vertrauten Seipels, der denkbar undiplomatische Heinrich Mataja, Außenminister werden. Letzterer schied anlässlich der Regierungsumbildung Anfang 1926 aus, Ramek übernahm das Außenressort selbst und konnte bald das Vertrauen des Völkerbundes und der wichtigsten europäischen Staaten gewinnen. Der schwache Unterrichtsminister Schneider ließ sich vom sozialdemokratischen Bildungspolitiker Glöckel in einen Kompromiss drängen, der vor allem von den klerikalen Wiener Christlichsozialen zuerst heftig bekämpft wurde. Ramek machte die Vereinbarung rückgängig, entließ Schneider. Als sich herausstellte, dass auch der Parteiobmann der Wiener Christlichsozialen, Leopold Kunschak, an diesem Kompromiss mitgewirkt und ihm zugestimmt hatte, trat dieser zurück. Die Folge war, dass sich seine Wiener Christlichsozialen mit ihm solidarisierten und Ramek – von allen kritisiert – übrig blieb. Seipel, Bundesparteiobmann der Christlichsozialen Partei, war zum Zeitpunkt dieser »Schulkrise«, die eine der ernstesten Regierungskrisen darstellte, wieder einmal auf einer wochenlangen Auslandsreise und nicht greifbar. In der Zeit der Bankskandale hielt sich Seipel – persönlich absolut integer – zurück, bemäntelte die fragwürdigen Machenschaften seiner Vertrauten durch »betonte Passivität« und kann daher auch nicht von jeder Verantwortung freigesprochen werden.171 In der Öffentlichkeit blieb allerdings alles an Ramek hängen. Gerade in solchen Situationen hätte Ramek natürlich den starken Parteiobmann an seiner Seite gebraucht. Die oftmalige mehrwöchige Abwesenheit Seipels und seine offenkundige Inaktivität bei schweren
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Krisen der Regierung (obwohl Parteiobmann) gibt Anlass, auch die Bezeichnung des Kabinetts Ramek durch den Sozialdemokraten Seitz als »Telefonregierung«, die unablässig von Seipel ihre Weisungen empfange172, stark zu hinterfragen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage der Loyalität zwischen dem christlichsozialen Bundeskanzler und dem christlichsozialen Parteiobmann. Was bisher wohl noch zu wenig berücksichtigt wurde, ist die Tatsache, dass Seipel und Ramek schon Jahre vor Beginn der Ersten Republik in Salzburg in verschiedenen Organisationen zusammengearbeitet hatten und dort eine gegenseitige Vertrauensbasis aufbauten. Sicher war der fünf Jahre jüngere Rechtsanwaltsanwärter Ramek dem angesehenen Universitätsprofessor seit damals loyal ergeben. Diese Loyalität Rameks gegenüber Seipel blieb auch in der Folge aufrecht. Dies war wohl auch der Grund dafür, dass Seipel nach seinem Rücktritt Ramek als seinen Nachfolger vorschlug, die Partei folgte. Bei verschiedenen Anlässen verteidigte Seipel die Regierung Ramek. Während der Krise im Zusammenhang mit den nicht genehmigten Demonstrationen gegen den zionistischen Weltkongress in Wien agierte Seipel an der Seite der Wiener Christlichsozialen gegen Ramek, in der Schul-Regierungskrise war von Seipel überhaupt nichts zu hören. Es scheint sich also zu zeigen, dass die Loyalität zwischen Seipel und Ramek eine ziemlich einseitige Angelegenheit war. Es würde von wenig Loyalität zeugen, wenn stimmen würde, was der Korrespondent der Times privat schrieb : Dass nämlich Seipel Ramek für den Bundeskanzler vorgeschlagen hätte, weil er »in seiner Eitelkeit« hoffte, dass »dieser kleine Landgeistliche aus Salzburg einen schweren Sturz erleben würde, sodass man den allmächtigen Seipel zurückrufen müsste«.173 Die Schwächen Rameks sollen in keiner Weise kleingeredet werden. Auch Klemperers prägnanter Bezeichnung Rameks als »Interimskanzler von Seipels Gnaden«174 ist bei Berücksichtigung des herrschenden Machtgefüges zuzustimmen. Allerdings kann man ohne Zweifel feststellen, dass Ramek die Politik der zwei Jahre seiner Kanzlerschaft tiefer geprägt hat, als man ihm dies zu Beginn zugetraut hatte. Insgesamt zählte Ramek wohl zu einem Typus von Politikern, mit denen – hätten sie mehr Chancen gehabt, ihre Politik umzusetzen – die Erste Republik Österreichs möglicherweise einen anderen Weg gegangen wäre. Er war – wie Isabella Ackerl resümiert – »liberaler und weltoffener als sein Vorgänger und Nachfolger Seipel.«175 Während die Konsenspolitiker der Sozialdemokraten immer wieder als positive Beispiele dargestellt werden, hängt den christlichsozialen Konsenspolitikern (Ramek, Ender, Buresch etc.) der Nimbus der Schwäche an. Wie auch immer : Die Beurteilung des Seipel-Biografen Klemens von Klemperer, Ramek sei politisch eine »Null«176 gewesen, kann m. E. keinesfalls aufrecht erhalten werden. So könnte man ohne Weiteres auch resumieren : Obwohl Ramek anfangs belächelt wurde, hatte er in vielen Bereichen Erfolg, wo Seipel bis dahin gescheitert war.
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Anmerkungen 11 Vgl. Ernst Hanisch : Die Christlich-soziale Partei für das Land Salzburg 1918–1934. – In : Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde. 124. Vereinsjahr. 1984. Salzburg 1984. S. 477–496. 12 Ebd., S. 481f. 13 Isabella Ackerl : Rudolf Ramek. – In : Friedrich Weissensteiner, Erika Weinzierl (Hg.) : Die österreichischen Bundeskanzler. Wien 1983. S. 118–130, hier : S. 129. 14 Vgl. Beatrix Borchard : Lücken schreiben. Oder : Montage als biographisches Verfahren. In : Hans Erich Bödeker (Hg.) : Biographie schreiben. Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft. Band 18. Göttingen 2003. S. 211–241, hier : S. 240 f. 15 Vgl. Walter Goldinger : Ramek Rudolf. – In : Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950. Band 8. Wien 1983. 16 Vgl. Isabella Ackerl : Rudolf Ramek. S. 118–130. 17 Vgl. Hans Erich Bödeker : Biographie. Annäherungen an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand. In : Ders. (Hg.) : Biographie schreiben. S. 11–63, hier : S. 53. 18 Vgl. Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie. 13. Auflage. 15. Band. Leipzig 1886. S. 576. 19 Vgl. Julius Mattern : Gewerbe, Industrie, Handel und Verkehr. – In : Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Band 13. Mähren und Schlesien. Wien 1897. S. 711–730, hier : S. 729. 10 Vgl. Anton Peter : Das Volksleben der Deutschen. – In : Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Band 13. Mähren und Schlesien. Wien 1897. S. 550–578, hier. S. 550 f. 11 Anton Rintelen : Erinnerungen an Österreichs Weg. München 1940. S. 193. 12 Gustav Waniek : Dialekt der Deutschen. – In : Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Band 13. Mähren und Schlesien. Wien 1897. S. 578–583, hier : S. 579. 13 Fritz Fellner : Johannes Schober und Josef Redlich. Aus den Tagebüchern und Korrespondenzen I. – In : Zeitgeschichte. Juni/Juli 1977. Heft 9/10. S. 313. Brief Schobers an Prof. Josef Redlich vom 16. 10. 1926. 14 Michael Hainisch : 75 Jahre aus bewegter Zeit. Lebenserinnerungen eines österreichischen Staatsmannes. Wien, Köln, Graz 1978. S. 317. 15 Vgl. Isabella Ackerl : Rudolf Ramek. S. 118. Ebenso Reichspost. 18. 10. 1919. S. 5. 16 Rupert Klieber : Politischer Katholizismus in der Provinz. Salzburgs Christlichsoziale in der Parteienlandschaft Alt-Österreichs. Salzburg 1994. S. 128. 17 Vgl. Rupert Klieber : Politischer Katholizismus. S. 70. 18 Gespräch mit Frau Dr. Margarethe Ramek, Witwe nach Prof. Friedrich Ramek (Sohn von Rudolf Ramek) am 28. 1. 2009. Ich danke Frau Dr. Ramek für einige wichtige Hinweise. 19 Isabella Ackerl : Rudolf Ramek. S. 120. 20 Rudolf Ramek war von 1929 bis 1933 Präsident der Internationalen Stiftung Mozarteum. Vgl. Karl Wagner : Das Mozarteum. Geschichte und Entwicklung einer kulturellen Institution. Innsbruck 1993. S. 211 ff. 21 Vgl. etwa Stephen Gallup : Die Geschichte der Salzburger Festspiele. Wien 1989. S. 52. 22 Heinrich Obermüller : Aufbruch und Untergang. Katholische Verbindungen an mittleren und höheren Schulen in Österreich und den Nachfolgestaaten der Monarchie. Band 2 – Teil 1. Von 1918 bis 1945. Wien. 2000. S. 292. 23 Vgl. Salzburger Chronik. 24. 12. 1918. S. 5. 24 Vgl. Dietrich Herzog : Politische Führungsgruppen. Probleme und Ergebnisse der modernen Elitenforschung. Darmstadt 1982. S. 78f. 25 Vgl. Hans Karl : 100 Jahre. Der Salzburger Bauernbund. Eine Chronik von 1906–2006. Salzburg 2006. S. 7.
Rudolf Ramek – Notizen zu einer politischen Biografie 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45
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Vgl. Rupert Klieber : Politischer Katholizismus. S. 185. Vgl. Hans Karl : 100 Jahre. S. 8. Vgl. Rupert Klieber : Politischer Katholizismus. S. 154f. Vgl. Rupert Klieber : Politischer Katholizismus. S. 163. Vgl. Klemens von Klemperer : Ignaz Seipel. Staatsmann einer Krisenzeit. Graz, Wien, Köln 1976. S. 47. Friedrich Rennhofer : Ignaz Seipel. Mensch und Staatsmann. Eine biographische Dokumentation. Wien, Köln, Weimar 1978. S. 40. Vgl. Rupert Klieber : Politischer Katholizismus. S. 131. Vgl. Salzburger Chronik. 10. 12. 1918. S. 2. Vgl. Salzburger Chronik. 17. 12. 1918. S. 3. Vgl. Franz Schausberger : Eine Stadt lernt Demokratie. Bürgermeister Josef Preis und die Salzburger Kommunalpolitik 1919–1927. Salzburg 1988. S. 41. Vgl. Salzburger Chronik. 17. 12. 1918. S. 3. Vgl. Salzburger Chronik. 12. 7. 1919. S. 1. Salzburger Chronik. 10. 7. 1919. S. 2. Vgl. Salzburger Chronik. 1. 8. 1919. S. 3. Vgl. Franz Schausberger : Eine Stadt lernt Demokratie. S. 130 und S. 132. Vgl. Franz Schausberger : Eine Stadt lernt Demokratie. S. 76. Vgl. Salzburger Chronik. 19./20. 1. 1919. S. 1. Vgl. Salzburger Chronik. 16. 3. 1919. S. 4. Vgl. Salzburger Chronik. 7. 12. 1918. S. 1 und 2. Vgl. Franz Schausberger : »Obstinate Provinzcäsaren« gegen »Wiener Zentralbürokratie und Judenpresse«. In : Franz Schausberger (Hg.) : Geschichte und Identität. Festschrift für Robert Kriechbaumer zum 60. Geburtstag. Schriftenreihe des Forschungsinstituts für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek. Band 35. Wien, Köln, Weimar 2008. S. 101–137. Hier : S. 107 f. Vgl. Franz Schausberger : »Obstinate Provinzcäsaren« gegen »Wiener Zentralbürokratie und Judenpresse«. S. 111 f. Reichspost. 18. 10. 1919. S. 3. Neue Freie Presse. 18. 10. 1919. S. 1. Reichspost. 25. 6. 1920. S. 1. Vgl. Reichspost. 3. 7. 1920. S. 2. Die Neue Zeitung. 3. 7. 1920. S. 1. Reichspost. 4. 7. 1920. S. 2. Vgl. etwa Albert Sever : Ein Mann aus dem Volk. Selbstbiographie. Wien 1956. S. 34–44. Vgl. Reichspost. 5. 4. 1921. S. 2, und Reichspost. 6. 4. 1921. S. 3. Friedrich Rennhofer : Ignaz Seipel. S. 247. Wiener Zeitung. 29. 4. 1921. S. 3. Neue Freie Presse. 29. 4. 1921. S. 6. Vgl. Neue Freie Presse. 29. 4. 1921. S. 5. Reichspost. 29. 4. 1921. S. 3. Vgl. Ludger Rape : Die österreichischen Heimwehren und die bayerische Rechte 1920–1923. Wien 1977. S. 109 f. Vgl. Isabella Ackerl : Rudolf Ramek. S. 119. Vgl. Reichspost. 15. 5. 1921. S. 3. Vgl. Reichspost. 19. 5. 1921. S. 2. Vgl. Friedrich Weissensteiner : Der ungeliebte Staat. Österreich zwischen 1918 und 1938. Wien 1990. S. 88 f. Vgl. Rainer Hubert : Schober. »Arbeitermörder« und »Hort der Republik«. Biographie eines Gestrigen. Wien, Köln 1990. S. 100.
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Vgl. Neue Freie Presse. 18. 6. 1921. S. 1. Vgl. Neues 8 Uhr Blatt. 20. 6. 1921. S. 1. Montags-Zeitung. 20. 6. 1921. S. 1. Vgl. Stanley L. Paulson, Michael Stolleis (Hg.) : Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Tübingen 2005. S. 360. Vgl. Neue Freie Presse ; 18. 11. 1924. S. 2. Vgl. Salzburger Landesarchiv (Weiter : SLA). Rehrl-Briefe 1924/ 0877 Karton III. Vgl. Reichspost, 11. 10. 1924. S. 3. Vgl. Reichspost, 8. 11. 1924. S. 1. Reichspost, 10. 11. 1924. S. 1. Vgl. Reichspost, 12. 11. 1924. S. 1. Reichspost, 13. 11. 1924. S. 2. Vgl. Reichspost, 15. 11. 1924. S. 1f. Vgl. Neue Freie Presse. 18. 11. 1924. S. 1. Neue Freie Presse. 18. 11. 1924. S. 2. Neue Freie Presse. 17. 11. 1924. S. 1. Reichspost. 19. 11. 1924. S. 2. Vgl. Neue Freie Presse. 19. 11. 1924. S. 3. Vorarlberger Volksblatt. 18. 11. 1924. S. 1. Vgl. Reichspost. 18. 11. 1924. S. 1. Die Neue Zeitung. 18. 11. 1924. S. 1. Vorarlberger Volksblatt. 18. 11. 1924. S. 1. Vgl. Herbert Dachs : Franz Rehrl und die Bundesländer. In : Wolfgang Huber (Hg.) : Franz Rehrl. Landeshauptmann von Salzburg 1922–1938. Salzburg 1975. S. 215–268. Hier S. 223 f. Rehrl dürfte in der gesamten Phase des Regierungswechsels im Hintergrund ziemlich stark die Fäden gezogen haben. Neue Freie Presse. 18. 11. 1924. S. 1. SLA, Rehrl-Briefe 1924/ 1002 Karton III. Neue Freie Presse. 19. 11. 1924. S. 1. Neue Freie Presse. 21. 11. 1923. S. 2. Neue Freie Presse. 18. 11. 1924. S. 1. Vgl. Friedrich Rennhofer : Ignaz Seipel. S. 419. Vgl. Walter Goldinger : Der geschichtliche Ablauf der Ereignisse in Österreich von 1918 bis 1945. In : Heinrich Benedikt (Hg.) : Geschichte der Republik Österreich. München 1977. S. 15–288. Hier : S. 135. Jakob Ahrer : Erlebte Zeitgeschichte. Wien, Leipzig 1930. S. 116. Ramek hatte den Ministerrat schon in der Sitzung vom 20. August 1925 von den Reform- und Einsparungsplänen bei Polizei und Gendarmerie informiert. Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik Abteilung IV, 20. Nov. 1924 bis 20. Okt. 1926, Band 2. Kabinett Dr. Rudolf Ramek, 15. Mai 1925 bis 1. Nov. 1925, Wien 1997. Sitzung vom 20.8.1925, S. 285. Vgl. Reichspost. 11. 9. 1925. S. 1. Schreiben des Vorarlberger Landeshauptmannes Ender vom 15. September 1925 an die Landeshauptmänner von Tirol, Salzburg, Oberösterreich, Steiermark, Kärnten ; Schreiben des Landeshauptmannes Stumpf von Tirol vom 16. September 1925 an die anderen Landeshauptmänner ; Brief von Landeshauptmann Stumpf vom 16. September 1925 an Bundeskanzler Ramek. SLA. Rehrl-Briefe 1925/1128/Karton VIII. Robert Kriechbaumer (Hg.) : »Dieses Österreich retten …« Die Protokolle der Parteitage der Christlichsozialen Partei in der Ersten Republik. Wien, Köln, Weimar 2006. S. 224. Robert Kriechbaumer (Hg.) : »Dieses Österreich retten …« S. 226. Vgl. Robert Kriechbaumer (Hg.) : »Dieses Österreich retten …« S. 256.
Rudolf Ramek – Notizen zu einer politischen Biografie
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100 Vgl. Neue Freie Presse. 31. 7. 1925. S. 1f. 101 Jacques Hannak : Im Sturm eines Jahrhunderts. Eine volkstümliche Geschichte der Sozialistischen Partei Österreichs. Wien 1952. S. 320. 102 Oskar Helmer : 50 Jahre erlebte Geschichte. Wien 1957. S. 109. 103 Neue Freie Presse. 31. 7. 1925. S. 1. 104 Vgl. Reichspost. 31. 7. 1925. S. 1. 105 Vgl. Walter Goldinger : Verwaltung und Bürokratie. In : Erika Weinzierl, Kurt Skalnik (Hg.) : Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik. Bd. 1. Graz, Wien, Köln 1983. S. 195–207, hier : S. 202. 106 Reichpost. 2. 8. 1925. S. 1. 107 Vgl. Die Neue Zeitung. 3. 8. 1925. S. 1. 108 Reichspost. 4. 8. 1925. S. 2. 109 Vgl. Neue Freie Presse. 20. 5. 1926. S. 1 und 2. Die Neue Zeitung.23. 5. 1926. S. 1. 110 Die Frontkämpfervereinigung Deutsch-Österreichs wurde 1920 gegründet als relativ kleiner paramilitärischer Verband der Rechten, dem ehemalige Frontsoldaten der k. u. k. Armee, vor allem viele hohe Offiziere angehörten. Ihre Anhänger kamen aus der christlichsozialen, großdeutschen und nationalsozialistischen Richtung, sie war allerdings keine Parteiorganisation und war zum Zeitpunkt ihrer Gründung eher legitimistisch. Historisch bedeutsam wurde die Organisation durch den Zusammenstoß von Schattendorf, bei dem 1927 zwei Menschen von Frontkämpfern getötet wurden. Der Prozess gegen die Täter endete mit Freispruch, was wiederum die große Demonstration vom 15. 7. 1927 und den Justizpalastbrand auslöste. Die Frontkämpfervereinigung wurde später von den Nationalsozialisten unterwandert und am 21. Juni 1935 wegen staatsfeindlicher Betätigung aufgelöst. Ein Teil der Mitglieder ging in das Lager der illegalen Nationalsozialisten über. Vgl. Walter Wiltschegg : Die Heimwehr. Eine unwiderstehliche Volksbewegung ? Wien 1985. S. 332. 111 Der frühere Großadmiral Anton Haus war 1917 gestorben und in Pola begraben worden. Seine sterblichen Überreste wurden repatriiert und am 23. Mai 1925 am Hütteldorfer Friedhof zur letzten Ruhe gebettet. Vgl. Paul G. Halpern : Anton Haus. Österreich-Ungarns Großadmiral. Graz, Wien, Köln 1998. S. 331. 112 Vgl. Reichspost, 20. 6. 1925. S. 7. 113 Reichspost. 20. 6. 1925. S. 6. 114 Reichspost. 20. 6. 1925. S. 7. Ebenso Friedrich Rennhofer : Ignaz Seipel. S. 440. 115 Die Nationalsozialisten hatten am 15. und 16. August 1925 ihren Bundesparteitag durchgeführt und in einer Resolution festgehalten : »Der Parteitag der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei erblickt in dem Umstande, dass trotz des Einspruches weiter Kreise der Bevölkerung die Regierungsmänner christlichsozialer und großdeutscher Richtung in schöner Eintracht mit der sozialdemokratischen Opposition die ungestörte Abhaltung des Zionistenkongresses gewährleistet haben, den Beweis der vollständigen Versklavung unter das Weltjudentum.« Vgl. Die Neue Zeitung. 18. 8. 1925. S. 2. 116 Neue Freie Presse. 18. 8. 1925. S. 1. 117 Reichspost. 18. 8. 1925. S. 1. 118 Neues 8 Uhr Blatt. 18. 8. 1925. S. 2. 119 Reichspost. 18. 8. 1925. S. 4. 120 Vgl. Rainer Hubert : Schober. »Arbeitermörder« und »Hort der Republik«. Biographie eines Gestrigen. Wien, Köln 1990. S. 176. 121 Vgl. Reichspost. 19. 8. 1925. S. 2. Die Neue Zeitung. 19. 8. 1925. S. 2. 122 Reichspost. 19. 8. 1925. S. 2. 123 Reichspost. 19. 8. 1925. S. 1. 124 Zitiert in : Neues 8 Uhr Blatt. 20. 8. 1925. S. 1. 125 Reichspost. 20. 8. 1925. S. 1.
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Grazer Volksblatt. 19. 8. 1925. S. 1. Die Neue Zeitung. 23. 8. 1925. S. 1. Vgl. Reichspost. 23. 8. 1925. S. 1. Vgl. Herbert Dachs : Schule und Politik. Die politische Erziehung an den österreichischen Schulen 1918 bis 1938. Wien, München 1982. S. 50 f. Vgl. Klaus Plitzner, Wolfgang Scheffknecht (Hg.) : Dr. Emil Schneider. Ein Unterrichtsminister aus dem »schwärzesten Österreich« ! 1883–1961 (Schriften des Vorarlberger Landesarchivs 7). Schwarzach 2001. Vgl. Reichspost. 23. 5. 1926. S. 1. Ebenso Neue Freie Presse. 25. 5. 1926. S. 2. Vgl. Reichspost. 28. 5. 1926. S. 2f. Vgl. Reichspost. 1. 6. 1926. S. 2, ebenso Wiener Zeitung. 2. Juni 1926. S. 4. Vgl. Reichspost. 2. 6. 1926. S. 1. Reichspost. 2. 6. 1926. S. 2. Die Rolle Rameks im Zusammenhang mit der Vollendung der Genfer Sanierung wird in diesem Beitrag nicht behandelt. Tatsache aber ist, dass in seiner Regierungszeit die noch fehlenden Voraussetzungen für die Beseitigung der Finanzkontrolle geschaffen wurden. Heinrich Güttenberger (1886–1946). Absolvent der Lehrerbildungsanstalt. Studium der Geschichte und Geographie an der Universität Wien. Professor an der Lehrerbildungsanstalt in Wiener Neustadt. 1922– 1938 Landesschulinspektor für die Pflichtschulen und Lehrerbildungsanstalten in Niederösterreich. Arbeitete vor allem an der Reform der Lehrerbildung und der Volksschulen. Zahlreiche Publikationen. Vgl. Reichspost. 6. 6. 1926. S. 3. Vgl. Reichspost. 11. 6. 1926. S. 6. Viktor Fadrus (1884–1968). Pädagoge und Schulreformer. Von Glöckel 1919 mit der Leitung der Schulreformabteilung im Staatsamt für Unterricht betraut. Setzte sich intensiv für die Verwirklichung der von ihm stark beeinflussten sozialdemokratischen Schulreformpläne ein. 1923 bis 1930 Direktor des Pädagogischen Instituts in Wien. 1933/34 Landesschulinspektor von Wien, 1934 zwangsweise in den Ruhestand versetzt. 1945–1949 mit dem Wiederaufbau des österreichischen Schulwesens betraut. Zahlreiche Veröffentlichungen. Reichspost. 12. 6. 1926. S. 1. Vgl. Reichspost. 17. 6. 1926. S. 1. Vgl. Die Neue Zeitung. 17. 6. 1926. S. 1. Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik. Abteilung IV, Band 4. Kabinett Dr. Rudolf Ramek. 14. Mai 1926 bis 15. Oktober 1926. Wien 2005. S. 99 f. Vgl. Friedrich Rennhofer : Ignaz Seipel. S. 469. Waffe der Hottentotten, Kaffern und Betschuanen. Reichspost. 18. 6. 1926. S. 1. Vgl. Die Neue Zeitung. 18. 6. 1926. S. 1. Vgl. Neue Freie Presse. 17. 6. 1926. S. 4. Reichspost, 19. 6. 1926. S. 2. Die Neue Zeitung. 18. 6. 1926. S. 1 f. Vgl. Friedrich Rennhofer : Ignaz Seipel. S. 468f. Neue Freie Presse. 18. 6. 1926. S. 2. Neue Freie Presse. 19. 6. 1926. S. 2. Vgl. Reichspost. 22. 6. 1926. S. 2. Vgl. Reichspost. 30. 7. 1926. S. 1, und Reichspost. 31. 7. 1926. S. 1. Vgl. Friedrich Rennhofer : Ignaz Seipel. S. 469. Friedrich Rennhofer : Ignaz Seipel. S. 470.
Rudolf Ramek – Notizen zu einer politischen Biografie
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159 Jacques Hannak : Im Sturm eines Jahrhunderts. S. 331. 160 Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik. Abteilung IV, Band 4. Kabinett Dr. Rudolf Ramek. 14. Mai 1926 bis 15. Oktober 1926. Wien 2005. S. 420 ff. 161 Vgl. Friedrich Rennhofer : Ignaz Seipel. S. 470. 162 Die Neue Zeitung. 5. 12. 1930. S. 1. 163 Wiener Zeitung, 5. 12. 1930. S. 2. Reichspost, 5. 12. 1930. S. 1. 164 Neue Freie Presse, 5. 12. 1930. S. 1. 165 F. L. Carsten : Die Erste Österreichische Republik. S. 93. 166 Vgl. Ernst Hanisch : Die Christlich-soziale Partei für das Land Salzburg 1918–1934. S. 496. (Salzburger Chronik. 13. 10. 1933.) 167 Vgl. Walter Goldinger : Ramek Rudolf. In : Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950. Band 8. Wien 1983. S. 407. Vgl. ebenso Kriemhild Pangerl : Josef Lugstein als Administrator der Dotationsgüter des Bischofs von Linz. In : Oberösterreichische Heimatblätter. Heft 4/1992. S. 427–441, hier S. 433. 168 F. L. Carsten : Die Erste Österreichische Republik im Spiegel zeitgenössischer Quellen. Wien, Köln, Graz 1988. S. 83. 169 Hedwig Pfarrhofer : Friedrich Funder. Ein Mann zwischen Gestern und Morgen. Graz, Wien, Köln 1978. S. 133. 170 Hedwig Pfarrhofer : Friedrich Funder. S. 134 f. 171 Klemens von Klemperer : Ignaz Seipel. S. 206. 172 Vgl. Klemens von Klemperer : Ignaz Seipel. S. 205. 173 F. L. Carsten : Die Erste Österreichische Republik. S. 90. 174 Klemens von Klemperer : Ignaz Seipel. S. 253. 175 Isabella Ackerl : Rudolf Ramek. S. 130. 176 Klemens von Klemperer : Ignaz Seipel. S. 205.
Helmut Rumpler
Der Ständestaat ohne Stände Johannes Messner als »Programmator« der berufsständischen Idee in der Verfassung des Jahres 1934
Als 1980 das 1964 in erster Auflage von den Verlagen Tyrolia und Styria verlegte Katholische Soziallexikon in zweiter Auflage erschien, rechtfertigten die Herausgeber Alfred Klose, Wolfgang Mantl und Valentin Zsifkovitz die Überarbeitung und Erweiterung mit dem »neuen Gefragtsein« der »Katholischen Soziallehre«, als deren Gesamtdarstellung sich das Lexikon verstanden wissen wollte. Als »gefragt« galt die Erwartung, dass eine Soziallehre »ideologisch nicht verkürzt«, »wertorientiert«, »sachgerecht« und »geschichtsbewusst« im krisenschwangeren Zenit der Geschichte des Industriezeitalters sein müsse.1 Damit sind genau jene Grundsätze formuliert, die dem lebenslangen wissenschaftlichen Bemühen des bedeutendsten Sozialethikers des österreichischen Katholizismus die Richtung gaben. Von seiner Münchner Habilitationsschrift 1927 bis zu seinem Hauptwerk über das Naturrecht 1950 hat er um das Verhältnis zwischen Sozialökonomik und Sozialethik gerungen und sich als Pionier des Gedankens der »sozialen Gerechtigkeit« profiliert.2 Johannes Messner verdankte für die Entwicklung seiner wissenschaftlichen Position Entscheidendes der Begegnung mit den angelsächsischen Sozialwissenschaften, die im Gegensatz zum deutschen Idealismus am Postulat der Erfahrung als Weg zur Erkenntnis festhielt. Das Naturrecht schrieb Messner im englischen Exil als freier Forscher am Oratorium Kardinal Newmans in Birmingham. Die erste Fassung erschien noch vor seiner Rückkehr nach Wien 1949 in England und den USA.3 Angelsächsischem Rechtsverständnis entstammt das Ziel Messners, das »überzeitliche Wesen« des Naturrechts als erfahrungsbezogenes »angewandtes Naturrecht« darzustellen. Der angelsächsischen Tradition entstammt auch das Ringen um Kriterien zur Beurteilung der »Gerechtigkeit«, schon unter seinen Frühschriften findet sich eine Abhandlung über den »Begriff der sozialen Gerechtigkeit«.4 Als John Rawls 19515 unmittelbar nach dem Erscheinen von Messners Naturrecht und 1971 in seinem Hauptwerk über die Theorie der Gerechtigkeit6 die Frage nach einem Entscheidungsverfahren für die normative Ethik als Problem der von ihm vertretenen liberalen Gesellschaftsordnung aufgriff, hat er eine breite Diskussion ausgelöst. Aus der Kritik am liberalen Konzept des Utilitarismus mit seiner Zielvorgabe des »größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl« entstand der Gegenentwurf des Kommunitarismus. Auch Messner ging von einer Kritik des Liberalismus aus, kam aber
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Helmut Rumpler
zu einem anderen Ergebnis. Gemeinsame Grundlage war die Überzeugung von der normativen Kraft der Vernunft. In der Dankansprache für die Verleihung des Augustin-Bea-Preises der Stiftung Humanum 1980 brachte Messner seine Lebensaufgabe der Rückgewinnung des Naturrechtes für eine am Kriterium der »Sittlichkeit« geordnete Sozialordnung auf den Punkt : »Denn das Naturrecht [ist] das der Vernunft des Menschen eigene Wissen von Recht und Gerechtigkeit.«7 Dass der Mensch dieses Wissen auch in die Praxis umsetzen könne, das hat Messner im Gegensatz zur liberalistischen Gesellschaftstheorie nicht geglaubt. Seine Naturrechtsethik war keine Darstellung eines konkreten Sozialsystems im Sinne einer Sozialverfassung, noch weniger jene eines politischen Systems im Sinne einer Staatsverfassung, er entwickelte aus dem Naturrecht nur »Rechtsprinzipien« und »Grundordnungen« als Orientierungspunkte für die »Sittlichkeit« als allgemeines Grundprinzip einer »gerechten« Ordnung. Damit blieb sein Naturrecht als universalistisches Grundsatzkonzept für die gesellschaftspolitische Praxis zwar hinter der konkreten Programmatik des Liberalismus und Kommunitarismus mit den Grundwerten Freiheit und Gleichheit zurück, bewahrte aber sowohl die Distanz zu jeder Form von Ideologie einschließlich der Religion als auch zu jedem konkreten politischen System. Wie auch immer die Bewertung dieser Position ausfallen mag, sie war als theoretische Anstrengung eine große Leistung : »Was die Naturrechtslehre Messners auszeichnet, ist der Umstand, dass sie im Unterschied zur religiösen Überzeugung von allen Menschen und Völkern mit dem Licht der natürlichen Vernunft eingesehen werden kann. Dieses universale Bewusstsein, das auch das weltweite Interesse an den Schriften Messners belegt, ist auch notwendig, weil die Menschen und Völker im Zeichen der Globalisierung zusammenwachsen und damit auch die Frage nach den Fundamenten der sozialen Ordnung immer stärker wird.«8 Obwohl das wissenschaftliche Lebenswerk Messners einen weltweit geachteten Beitrag zu einer Fundamentalethik lieferte, hat er in der österreichischen Philosophie, Politologie und Soziologie jenseits des engeren Kreises katholischer Sozialwissenschafter nicht jene Anerkennung gefunden, die dem entspräche, was der weltweiten, von Südamerika bis Japan reichenden Verbreitung seiner Werke und den acht Auflagen seines Naturrechts angemessen erschiene.9 Freund und Feind meiden in auffallender Weise den Namen Messner wie der Teufel das Weihwasser. Das erklärt sich nicht daraus, dass sich Messner auch als Wissenschafter uneingeschränkt immer als prononciert katholischer Denker in der thomistischen Tradition bekannte. Auch die schwer zugängliche Breite der philosophisch-soziologischen Argumentation ist nicht das primäre Rezeptionshindernis. Der wirkliche Grund dafür ist seine Komplizenschaft mit dem österreichischen »Ständestaat«. Geradezu grotesk ist es daher, wenn in einem ausführlichen Beitrag über den »Christlichen Ständestaat« der Name Messner nicht einmal erwähnt wird.10 Nur Ernst Hanisch hat Messner mit seinem »theoretisch fundierten Entwurf der berufsständischen Ordnung« als wissenschaftlichen Exponenten
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der Lehre vom »Naturrecht und Vertreter des ›politischen Katholizismus‹« eine zentrale Rolle zuerkannt.11 Was Hanisch nicht oder zu wenig beachtet hat, ist der Umstand, dass Messners Entwurf eines unter vielen Konkurrenzprojekten war12, er hat es auch verabsäumt nachzufragen, was es bedeutete, dass Messner seine Programm 1936 nachträglich formulierte, obwohl er angeblich der führende Autor der Idee war und seine Richtlinien die Grundlage für die Ständeverfassung vom 1. Mai 1934 bildeten. Die ideologische Verortung, die Hanisch unter Hinweis auf die »Weiterentwicklung zur ›Sozialpartnerschaft‹, [und] die Neokorporatismusdiskussion der Gegenwart« vornimmt, mündet immerhin nicht in der Frage, sondern in der Feststellung, »dass der katholische Traum nicht gänzlich an der Wirklichkeit vorbeiträumte«.13 Das ist ein dezenter Hinweis darauf, dass die Marginalisierung Messners in der Konsensdemokratie der Zweiten Republik mit einer nicht unumstrittenen, aber doch erfolgreich praktizierten Sozialpartnerschaft an Heuchelei grenzt. Man muss den »dritten Weg« zwischen den Ideologien des Liberalismus und Sozialismus, den Messner als Theoretiker suchte und aus einer naturrechtlichen Ethik zu konstruieren sich mühte, nicht akzeptieren, aber man kann ihn nicht ignorieren und sollte sich für ein Urteil über das Ausmaß und den Inhalt seiner Mitwirkung am »Ständestaat« an dem orientieren, was er dazu authentisch gesagt hat, nicht so pointiert und kämpferisch wie andere Exponenten dieser Idee, aber wissenschaftlich argumentiert und doch klar genug auch für die Tagespraxis und an prominenter politischer Adresse sicher rezipierbar, wenn man es beachten wollte. Messner gilt in der Literatur als der offizielle Chefideologe des Ständestaates, von ihm stammen tatsächlich wesentliche Beiträge zur Idee der ständischen Gesellschaftsordnung, er schrieb 1935 die offiziöse Dollfuß-Biografie14 und 1936 die Programmschrift über Die berufsständische Ordnung15. Dass Messner zu den Theoretikern des Ständestaatsgedankens gehörte, steht außer Zweifel. Ob, in welchem Maß und in welcher Form, als führender Programmatiker oder bloß als einer unter vielen Mitwirkenden an der Vorbereitung dessen, was als österreichischer Ständestaat propagiert und verwirklicht wurde, ob Dollfuß Messners Prinzipien ernsthaft zu verwirklichen gedachte oder sich der moralischen und akademischen Autorität des Priesters und Professors nur bediente, das ist eher unklar. Die sach- und quellenorientierten Arbeiten von Peter Eppel16 und Helmut Wohnout17, die Protokolle des Klubvorstandes der Christlichsozialen Partei18 und die Ministerratsprotokolle der Regierung Dollfuß19 bestärken eher die Zweifel an der führenden Rolle Messners. Einen theoretischen Beitrag zur Idee des Ständestaates hat er wohl geleistet, aber weder die Verfassung von 1934 noch die politische Realität des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes entsprachen dem, was er sich unter einer »ständisch geordneten Gesellschaft« in einem »autoritären Staat« vorstellte. Eine Teilantwort auf die im Zusammenhang mit der nach wie vor umstrittenen politisch-ideologischen Einordnung des »Austrofaschismus«20 begrenzte Frage nach
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dem Konzept von Ständestaat und berufsständischer Ordnung im Sinne Messners, gibt die von ihm 1936 begründete und bis Anfang 1938 als alleiniger Herausgeber und Redakteur gestaltete Monatsschrift für Kultur und Politik. Eppel hat die Zeitschriftengründung genau recherchiert. Als Joseph Eberle 1925 das von ihm mit der Verlagsanstalt Tyrolia seit 1918 herausgegebene Neue Reich verließ und die Schönere Zukunft gründete, übertrug der Verlag die Redaktion des Neuen Reichs an Ämilian Schöpfer und Johannes Messner. Beide kamen aus der katholischen Hauslehranstalt Brixen. Schöpfer war ein altgedienter Landespolitiker, kam von den Katholisch-Konservativen, gründete 1898 den Christlichsozialen Verein für Tirol und war ein bekannter Vertreter der Ideen der christlichen Sozialreform21. Messner hatte eben 1924 nach dem Jusdoktorat in Innsbruck 1922 in München mit der Arbeit W. Hohoffs Marxismus. Eine Studie zur Erkenntnislehre zur nationalökonomischen Theorie sein zweites Doktorat in Wirtschaftswissenschaften erworben. Er war, von seinem Bischof und ehemaligen Brixner Lehrer gefördert, eine Hoffnung für die Zukunft, sein Einfluss auf die Linie des Neuen Reichs wird nicht zu groß gewesen sein. Umgekehrt wurde seine wissenschaftliche und politische Linie von dem beeinflusst, was im Neuen Reich vertreten wurde und wovon sich Eberle mit seiner Trennung absetzte. Auch wenn juristische und finanzielle Gründe bei der Trennung eine Rolle gespielt haben sollten und beide Seiten versicherten, »neue Weichenstellungen« vermeiden zu wollen22, war der Unterschied beträchtlich. Das Neue Reich war in der Eigentumsund Judenfrage »weniger radikal und ganz allgemein sachbezogener«, es stand »der parlamentarischen Demokratie und dem Völkerbund positiver, dem Nationalsozialismus hingegen ablehnender« gegenüber als die Schönere Zukunft.23 Trotzdem zogen die beiden Zeitschriften am gemeinsamen Strang der Vertretung »katholischer Ideen und Grundsätze für alle Gebiete des privaten und öffentlichen Lebens«24 in Anwendung des Gedankengutes von Karl von Vogelsang und seiner Nachfolger und der päpstlichen Sozialenzyklika Rerum Novarum (1891). Es war daher nicht selbstverständlich, aber doch naheliegend, dass die beiden Zeitschriften, als das Neue Reich in der Wirtschaftskrise seit 1929 Abonnenten verlor, die nach Regensburg transferierte Schönere Zukunft hingegen prosperierte, 1932 fusionierten. Die Schönere Zukunft erschien seither mit dem Zusatz »Zugleich Ausgabe von ›Das Neue Reich‹«, Eberle firmierte als Herausgeber und Hauptschriftleiter, Messner als »Führender Mitarbeiter für das Neue Reich und die Verlagsgesellschaft Schönere Zukunft«. Das hatte aber keine praktische Bedeutung, Schöpfer hat zwei Beiträge für die Schönere Zukunft geschrieben, Messner nahm nur gelegentlich an den Redaktionssitzungen teil und hat es später bedauert, nicht ganz ausgeschieden zu sein. Offenkundig war sich Messner noch nicht sicher, ob, wie und wohin er sich entscheiden sollte. Er gehörte zur großen Schar der Unsicheren und Orientierung suchenden, die im Gestrüpp der nationalen, sozialen und politischen Gruppen und Grüppchen der katholischen Aktivisten sich zurechtzufinden suchten. Sie waren da-
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her bei Veranstaltungen und Aktivitäten aller Gruppen des katholischen Lagers anzutreffen, ohne dass man sagen könnte, dass sie zu dieser oder jener Gruppe gehörten. Messner war nicht einmal ein Katholisch-Konservativer, geschweige denn ein »Brückenbauer« zum Nationalsozialismus, derer es im Spektrum des katholischen Lagers nicht wenige gab. Ob man alle, die der Überzeugung waren, dass »die Österreicher zum deutschen Volk gehörten«, oder jene, »die für den Anschluss an das Deutsche Reich« eintraten, als Sympathisanten des Nationalsozialismus einstufen darf, ob man zwischen jenen unterscheidet, »die sich einer aktiven nationalen Richtung anschloss[en] oder nicht«25, all das ist eine unzulässige Vereinfachung, weil zwischen tagespolitischer Praxis und ideeller Grundsatzorientierung nicht unterschieden wird. Außer Acht bleibt auch, dass manche der traditionell Nationalen über die Begriffe Volk und Nation nachzudenken begannen und sich von dem distanzierten, was in der neueren Entwicklung unter »deutschem Volk« verstanden wurde. Messner hat sich in diesen Kreisen bewegt, ohne dass man ihn irgendeiner Gruppe zurechnen könnte oder dürfte. Nimmt man nicht nur die Teilnahme an Veranstaltungen, sondern auch die Texte als Grundlage für ein Urteil, ist erkennbar, dass er sich meist von dem abgrenzte, was auf einer Tagung oder einem Sammelband als Generalmotto verkündet wurde. Messner nahm, man kann sagen selbstverständlich, an den Jahrestagungen der 1930 unter der Führung Theodor Veiters gegründeten »Katholisch-Deutschen Hochschülerschaft« teil. Ob die »Männer vom Format eines Seipel, Schuschnigg, Eibl, Hugelmann, Hollnsteiner, Degenfeld, Lorenz, Verdroß, Wolf und Böhm« und Messner allerdings wirklich Sympathisanten der Katholisch-Nationalen waren, sogar »Brückenbauer« zum Nationalsozialismus26, oder gar dem Nationalsozialismus »ideologisch nahestanden«27, lässt sich aus ihrem Auftreten als Referenten nicht ableiten. Das »Programm« mit dem Bekenntnis »zum deutschen Volk und zu einem gesamtdeutschen Reich« des radikaleren »Volksdeutschen Arbeitskreises Österreichischer Katholiken«, wo »Borodajkewycz, Peßl, Lehrl, Klebel, Lagler, Lechner, Ernst Marboe, Flor, Barth, Laus, Starkl, Reder, Richter, Graff und Kogon treibende Kräfte waren«28, hat Messner sicher nicht akzeptiert, ebenso wenig der Historiker Hugo Hantsch als Referent für volksdeutsche Auslandsarbeit im Sekretariat der Vaterländischen Front, im Gegensatz zu Heinrich von Srbik, der seine »gesamtdeutsche« Geschichtskonstruktion sehr wohl als Grundlage für eine »Heim-ins-Reich«Politik verstanden wissen wollte.29 Nach der Machtergreifung Hitlers beteiligte sich Messner, wie das gesamte katholische Lager bis hinauf zum neuen Erzbischof von Wien, Theodor Innitzer, und dem österreichischen Katholikentag vom September 1933, an den krampfhaften Versuchen, mit den neuen Machthabern in Deutschland und mit der erstarkenden nationalsozialistischen Opposition in Österreich zu einem Modus vivendi zu kommen. Auch Messner hat sich in fatale Nähe zu nationalsozialistischen Positionen begeben und die Linie der katholischen Kirchenführung, die glaubte, sich mit dem Nationalsozialismus politisch und ideologisch arrangieren zu
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können, gutgeheißen. Zwar war er kein Antisemit, grenzte sich von den geschichtsund rassenpolitischen Auffassungen der Nationalsozialisten sogar ausdrücklich ab30, aber er warnte vor dem »nachteiligen Einfluss des Judentums und der jüdischen Religion«, teilte z. T. die erbbiologischen Thesen des nationalsozialistischen Programms, kam sogar zu dem Schluss, dass in sozialen und wirtschaftlichen Fragen wenig Gegensätze zwischen Nationalsozialismus und Katholizismus bestünden, so dass beide »eine große Strecke Weges in der unmittelbaren Wirtschafts- und Sozialreform gemeinsam« gehen könnten.31 Aber bei der »Katholisch-sozialen Tagung der Zentralstelle des Volksbundes der Katholiken Österreichs« Ende April 1934 erfolgten erste, wenn auch behutsame Abgrenzungen. Hantsch erinnerte daran, dass es sich bei der Berufung auf das gemeinsame Deutsche Reich um die »wahre Reichsidee« und das »wahre Reich« handelte, Alfred Verdross relativierte die Besinnung auf den deutschen Staat durch den Hinweis auf die für Österreich im Sinne Seipels wesentliche Solidaritätsidee zwischen »Staat und übernationale[r] Gemeinschaft«. Messner wurde von Dollfuß beauftragt, »die Interpretation seiner Gedanken zu übernehmen« und als Schlussrede den »Staatswillen des katholischen Österreich« zu erläutern.32 So wie die Gruppe der Katholisch-Nationalen ein bunter Reigen von Radikalen bis Gemäßigten, Irrenden und Suchenden war, »deren Einordnung z.T. umstritten ist«33, so gilt auch für Messner, dass er bis 1934 eine politische Positionierung vermied bzw. sich als Wissenschafter dazu gar nicht verpflichtet sah. Er war weder ein Links- noch ein Rechtskatholik. Dass der unerbittliche Scharfrichter über alle katholischen Irrläufer, Friedrich Heer, ihn und Schöpfer zu jenen zählt, die sich zur Demokratie bekannt haben34, ist erstaunlich, trifft aber wahrscheinlich richtig die Distanz, die Messner trotz intensiver und vielfältiger Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen der praktischen Politik gegenüber wahrte. Erst 1936 hat sich Messner entschieden. Mit der Gründung seiner eigenen Zeitschrift Monatsschrift für Politik und Kultur distanzierte er sich nicht nur, aber vor allem von der Schöneren Zukunft und deren schwankender Position zwischen den sozialen und politischen Fronten, er bekannte sich demonstrativ zum österreichischen Staat. Persönlich wohl auch zu dessen beiden politischen Exponenten Dollfuß und Schuschnigg, ob auch zu deren Regime und zur Verfassung von 1934, ist nicht ganz klar. Der Titel der Zeitschrift war keine Kampfansage, aber ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Schönere Zukunft seit der Nummer vom 5. November 1933 nicht mehr den Untertitel »Wochenschrift für Kultur und Politik, Volkswirtschaft und soziale Frage« führen durfte, sondern sich aus der Politik heraus zu halten hatte und nur mehr als »Wochenschrift für Religion und Kultur, Soziologie und Volkswirtschaft« erscheinen durfte. Es hatte lange gedauert, aber Messner hatte seine Lektion gelernt und seine Position gefunden. Die Anregung zur Gründung der neuen Zeitschrift stammte zwar von Schuschnigg. Er hatte mit Rücksicht auf die Konfrontation mit dem NS-Regime in Deutsch-
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land dem Christlichen Ständestaat die offizielle Unterstützung der österreichischen Regierung entzogen. Wieso aber Messner die Einladung Schuschniggs annahm, lässt sich primär mit der Distanzierung zur Schöneren Zukunft erklären.35 Warum er eine Neugründung für angebracht hielt und warum er keinerlei Verbindung zu einer der vielen Gruppen des Politischen Katholizismus suchte, bleibt erklärungsbedürftig. Immerhin gab es neben dem Christlichen Ständestaat von Dietrich Hildebrand die Wiener Politischen Blätter Ernst Karl Winters, das Vaterland. Blätter für das katholische Österreichertum u.a. Messner vermied auch irgendwelche Beziehungen zu führenden Theoretikern der »Österreichidee«, zu Friedrich Schreyvogel und Ernst Theodor Czokor mit ihrer Vision vom Habsburgischen Europäertum, zur Österreichideologie von Leopold Andrian, ebenso zum geistigen Vater des kulturpolitischen Konzeptes von Österreich als »zweitem deutschen Staat«, Wilhelm Wolf, auch zu führenden Exponenten der Christlichen Soziallehre aus der Nachfolge von Vogelsang wie August Maria Knoll. Niemand aus dem weiten Kreis des Politischen Katholizismus hat dann auch in der Monatsschrift publiziert. Sie war ein isoliertes Einzelunternehmen, ausschließlich von Messner persönlich nicht nur redigiert, sondern auch in den tagesaktuellen Teilen gestaltet. Persönlicher journalistischer Ehrgeiz ist in Anbetracht der Persönlichkeit des Priestergelehrten auszuschließen, auch finanzielle Ansprüche waren für den außerordentlichen Professor auf der 1936 gegründeten Lehrkanzel für Ethik und christliche Sozialwissenschaft kein Motiv. Es bleibt nur die Erklärung, dass keine der politischen Gruppierungen von der Christlichsozialen Partei bis zur Heimwehr und keine von den ideologischen Richtungen von den Katholisch-Konservativen bis zu den Katholisch-Nationalen sich ohne Einschränkungen zum Dollfuß-Schuschnigg-Staat bekannte und dass keine eine nur annähernd klare Position in der nationalen Frage zugunsten der österreichischen Eigenstaatlichkeit zu finden imstande war. Messner hatte sich, was angesichts seiner politisch suchenden Unsicherheit und wissenschaftlichen Differenziertheit mehr als erstaunlich ist, zunächst offenbar ohne Einschränkungen und mit offenem Visier zu einem aktiven Bekenntnis zum Ständestaat durchgerungen. Dass Bundeskanzler Schuschnigg das programmatische Geleitwort, Vizekanzler Starhemberg als Bundesführer der Vaterländischen Front eine wenige Sätze umfassende Widmung für die erste Nummer beisteuerten, bedeutet allerdings nicht viel. Denn Messner knüpfte seine Bereitschaft zur Herausgabe der Zeitschrift an die Bedingung, dass ihm »keinerlei Beschränkung« auferlegt würde, dass er nicht gezwungen werde, »Artikel von Regierungsmitgliedern abzudrucken« und dass die Regierung die Finanzierung sicherstellte.36 Tatsächlich war die Zeitschrift nur bedingt – und begrenzt auf das Bekenntnis zur österreichischen Eigenstaatlichkeit – das »kulturpolitische Sprachrohr der Regierung«, wie Schuschnigg nachträglich behauptete.37 Das Spektrum der Beiträge ist breit, es entsprach dem Schuschnigg’schen Programm einer »eigenen kulturellen politischen Sendung Österreichs in Europa«.38 Eine genauere Prüfung des
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Inhaltes der Artikel verschiedener Autoren in der Zeitschrift und der Messner’schen Programmschrift von 1936 führt zu der Frage, ob es sich um eine Bestätigung oder eine Klarstellung, vielleicht sogar einen Protest gegenüber der ständestaatlichen Wirklichkeit handelte. Den Befund, dass Messner der »›eigentliche Programmator‹ der berufsständischen Idee in der Verfassung des Jahres 1934« 39 und der »engste Berater [von] Dollfuß« und der von der österreichischen Bischofskonferenz »autorisierte Interpret der katholischen Soziallehre« war, stellte Heinrich Bußhoff in seiner theoretisch tiefschürfenden und aus den publizistischen Quellen wohl dokumentierten Studie über das Dollfuß-Regime.40 Die Quellen, auf die er dieses Urteil stützt41, vor allem aber die keineswegs führende Rolle, die Messner im Konzert der Ständestaatstheoretiker im Rahmen der Vorgeschichte der Mai-Verfassung tatsächlich spielte, sind allerdings nicht geeignet, diese dezidierte Rollenzuordnung gelten zu lassen. Wenn Dollfuß Messner in der Öffentlichkeit demonstrativ sein besonderes Vertrauen aussprach und ihn in Sachen der ständestaatlichen Neuordnung gleichsam als seinen Stellvertreter an die publizistische Front schickte, dann ist das am sichersten damit zu erklären, dass der Universitätsprofessor und Priester keiner der politischen Gruppierungen des christlich-österreichischen Parteienspektrums angehörte, das nur mit Mühe in einem Regierungsbündnis zusammenzuhalten war. Und wenn Dollfuß Messners Schrift über die Soziale Frage von 1933 besonders schätzte und ihm dafür persönlich Dank und Anerkennung aussprach42, dann ist dagegen zu bedenken, dass Dollfuß eher der Auffassung Othmar Spanns43 und Walter Heinrichs44 aus der altösterreichischen Tradition Adam Müllers und Karls von Vogelsang zuneigte, die aber Messner entschieden als romantische Utopien ohne praktisch-politische Bedeutung bekämpfte. Messner hat sich, als er sein Konzept 1936 zu formulieren begann, auf Seipel berufen, der »mit dem Aufwand seiner letzten Kräfte in Wien und in den einzelnen Bundesländern nach Erscheinen der Quadragesimo anno [1931] für die Idee der berufsständischen Ordnung warb«.45 So wie Messner die Enzyklika als lediglich moralische Wegweisung einstufte, so schloss er sich vorsichtig jenen an, die erwartet hatten, Seipel werde »einen bis ins einzelne gehenden Entwurf des organisatorischen Aufbaues der ständisch geordneten Gesellschaft bieten«.46 Er lobte das »bleibende Verdienst derjenigen«, »die bisher für die berufsständische Aufbauarbeit die Verantwortung trugen [und] die organisatorischen Maßnahmen mit Mut und Tatkraft in Angriff genommen […] haben«.47 Er selbst hat weder in der Frühschrift über die Soziale Frage von 1931, noch in den Beiträgen der Monatsschrift von 1936–1938, auch nicht in der systematischen Darstellung der Berufständischen Ordnung von 1936 die Fragen der politischen und legistischen Praxis angemessen behandelt. Es schien daher fast selbstverständlich, dass Messner bei der Vorbereitung der Ständestaatsverfassung keine führende Rolle spielte. Gerade deshalb stellt sich aber verschärft die
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Frage, warum er es für angebracht erachtete, sein Konzept, oder besser gesagt, seine Grundsätze 1936 darzulegen oder in Erinnerung zu rufen. Als Dollfuß aus der Krise des Frühjahres 193348 daranging, eine Verfassungsreform in Angriff zu nehmen, wurden ihm auf seine Einladung mehrere Konzepte vorgelegt. Messner war an dieser ersten Aktion nicht beteiligt, und keiner der Vorschläge konnte »den Gang der Dinge nachhaltig beeinflussen«.49 Nur die Aktion, die namens der christlichsozialen Parteiführung Richard Schmitz »mit Wissen und Billigung seitens Dollfuß« einleitete, führte zur Formulierung jener Grundsätze, die Schmitz schon Mitte Februar 1934 formulierte und die dann in der Ständestaatsverfassung verwirklicht wurden : »Umbau des Bundesrates in einen Länder- und Ständerat im Sinne der berufsständischen Idee, die Ausgestaltung des Notverordnungsrechtes des Bundespräsidenten und die Stärkung der Stellung der Regierung gegenüber dem Parlament.«50 Zu dem auserwählten Kreis katholischer Sozialphilosophen und Intellektuellen, die Schmitz zur Beratung dieser Grundsätze zusammenrief, gehörte auch Messner, neben Joseph Eberle, Ferdinand Graf Degenfeld-Schönburg, Hans Schmitz, August Maria Knoll, Friedrich Funder, Berta Pichl, Karl Braunias, Eugen Kogon, Karl Lugmayer, später Kurt von Schuschnigg, Alfred Verdross und andere. Messners Beitrag zur Diskussion bezog sich auf die Verankerung der berufsständischen Ordnung in der Verfassung. Als Grundprinzipien forderte er die Parität zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die Subsidiarität und die Selbstverwaltung der Stände.51 Der Spannschüler und Autor mehrere Schriften zum Ständestaat Philipp Bugelnig hielt dem von Messner vertretenen Prinzip der Parität jenes der Hierarchie entgegen, wie es von der katholischen Kirche praktiziert wurde. In welche Richtung Dollfuß zu steuern beabsichtigte, zeigte die Berufung Otto Enders zum Verfassungsminister. Auch Ender hatte einen Entwurf vorgelegt, darin forderte er wie Schmitz eine Geschäftsordnungsreform, die die Stellung der Regierung gegenüber dem Parlament stärkte, und er schloss eine Ausweitung des Ständeprinzips vom Länder- und Ständerat auf die erste Parlamentskammer nicht aus. Aber auch das schien Dollfuß noch zu moderat. Im Mai 1933 berief er Odo Neustädter-Stürmer als Staatssekretär, später als Minister für Soziale Verwaltung in die Regierung. Im Sinne Othmar Spanns, Walter Heinrichs und Hans Riehls hatte der oberösterreichische Heimwehraktivist 1930 sein Ständestaatskonzept vorgelegt52, 1936 hat er es als theoretisch erweitertes Buch herausgebracht53, im selben Jahr, als Messner seine Berufsständische Ordnung publizierte. Und was man von Messners Programmschriften nicht sagen kann, trifft für Neustädter-Stürmers Ideen zu : sie fanden ihren Niederschlag in der Ständestaatsverfassung von 1934 – die »Parallelen zwischen der Schrift Neustädter-Stürmers und der Konstruktion der Gesetzgebung und Verfassung 1934 [waren] frappierend«.54 Mit der legistischen und logistischen Vorarbeit für den Verfassungsputsch betraute Dollfuß einen anderen Scharfmacher, seinen »Kronjuristen«, Sektionschef Robert Hecht55. Er war es, von dem sich Doll-
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fuß die neu in Auftrag gegeben Reformvorschläge erläutern ließ und der die Parteienbesprechungen im März 1933 dirigierte. Messner war zu diesem Zeitpunkt, als sich Dollfuß vom »Parlamentarismus westeuropäischer Prägung« abzuwenden begann56, an keiner der Kanzlerberatungen mehr beteiligt. Auch in das taktische Experiment der Berufung Enders zum Verfassungsminister war Messner in keiner Weise eingebunden. Die berufsständische Neuordnung im Sinne Messners und der Enzyklika Quadragesimo anno war für die Regierung unter dem wachsenden Einfluss der Heimwehr keine Thema, bestenfalls ein Schlagwort, das »näher zu präzisieren oder gar inhaltlich zu interpretieren« keiner der führenden Regierungspolitiker mehr für wert befand, »um so mehr als dann wohl sofort die tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Fraktionen des Regierungslagers zutage getreten wären«.57 Die öffentliche Agitation von Spann und die Vertretung von dessen Idee vom »universalistischen Ständestaat« in der Regierung durch Neustädter-Stürmer und die Wende in Italien zum Korporationsstaat, in dem die Stände zu Staatsorganen degradiert wurden (November 1933), bestimmten die Entwicklung. Die Diskussion um die Verfassungsreform reduzierte sich auf den kleinen Personenkreis Schuschnigg, Schmitz, Neustädter-Stürmer und Ender, sie waren die »Väter« dessen, was nach zwei Lesungen als »Maiverfassung« proklamiert wurde.58 Es war angesichts des Diskussionsstandes nicht verwunderlich, dass darin der Ständegedanke keine zentrale Rolle spielte, obwohl sich die Verfassung in der Präambel (»christlich[er], deutsch[er] Bundesstaat auf ständischer Grundlage«) und im Art. 2 (»der Bundesstaat ist ständisch geordnet«) als »ständisch« definierte. Nur in vier Bestimmungen der gesamten Verfassung nahmen auf die Stände Bezug, nur zwei davon substanziell (Art. 32, Abs. 2 und Art. 48, Abs. 4). Die im Art. 48,2 aufgezählten berufsständischen Hauptgruppen sollten zwar das »Fundament« der neuen Verfassung bilden. Das kam aber nur in einer »grundsätzlichen Entscheidung« zum Ausdruck, »nicht nur die Organisation, auch die Frage, auf welchem Wege die Stände errichtet werden sollten, wurde nicht geklärt«.59 In der im Eilverfahren als Kompromiss gegensätzlicher Positionen in der Regierung zustande gekommene Verfassungstext vom 1. Mai 1934 enthielt die an die Stelle der Parteiendemokratie zu stellende ständische Neuordnung nur mehr als unsystematische allgemeine Deklaration. Die »ständischen Elemente« als »missing link« zwischen »ständischer Gesellschaft« und »Ständestaat« waren als kläglicher Rest eines ursprünglich zentralen Anliegens »weitgehend in den Hintergrund« getreten bzw. »auf unbestimmte Zeit verschoben«.60 Die Verfassung war nicht nur ein im Schnellverfahren durchgepeitschter eklatanter Rechtsbruch, sondern auch ein Debakel hinsichtlich des Zieles einer Bewältigung der Krise der Demokratie und der außen- und innenpolitischen Bedrohung der österreichischen Eigenstaatlichkeit. Sie war auch eine Desavouierung all jener, die sich, wie Messner, Dollfuß und Schuschnigg zur Verfügung gestellt hatten. Als »Sicherheitsdiktatur« oder »staatsbürokratische Expertokratie«61
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entsprach sie weder dem, was im Umfeld von Messner als »autoritärer Staat« vertreten wurde, noch dem, was Messner unter »berufsständischer Ordnung der Gesellschaft« verstand. Es war nahezu selbstverständlich, dass sich die Öffentlichkeit erstaunt darüber zeigte, dass von einer Idee, die in der katholischen Publizistik und von der Regierung so hoch gespielt worden war, in der Verfassung so wenig an Substanz übrig geblieben war. Adolf Merkl schrieb in einem ersten Kommentar : »[…] auf den ersten Blick macht der Beobachter die Feststellung, dass den Ständen nicht wie den Ländern ein eigenes Hauptstück in der Verfassung zugewiesen ist, sondern dass die auf sie bezüglichen Bestimmungen in den verschiedenen Hauptstücken verstreut sind.«62 Gewichtiger war die wachsende Distanzierung Enders von dem, was er im Sinne einer Stärkung der Autorität der Regierung gegenüber dem Parlament mitgetragen und mitgestaltet hatte. Dollfuß hatte ihn im Juli 1933 mit dem Argument in die Regierung geholt, ihn als Gegengewicht gegen andere Kabinettsmitglieder zu brauchen. Als Ender aber gewahr wurde, dass die Verfassungsdiskussion in eine Richtung lief, die der Regierung alle legislativen Kompetenzen einräumte, ging er auf Distanz. Wenige Tage nach der Proklamation der Verfassung publizierte er den Verfassungstext mit einem Kommentar.63 Es war kein Protest, das wäre angesichts der Mitwirkung Enders unglaubwürdig gewesen, aber doch eine Distanzierung von dem, was im Vergleich zu den Absichten und Ankündigungen aus der Verfassungsreform Wirklichkeit geworden war. Der enttäuschte und missbrauchte Mittäter nahm bei der Hilfskonstruktion Zuflucht, dass er die Maiverfassung als Provisorium erklärte : »Nachdem mit der Ausschaltung der Heimwehr jene Gruppe, die 1934 der Verfassung nachhaltig ihren Stempel aufgedrückt hatte, als Machtfaktor weggefallen war, konnte [er] daran gehen, die Konstitution selbst als unverrückbare Gründungsurkunde des ständestaatlichen Österreich in Frage zu stellen. Dabei betonte er den Charakter der Verfassung als eines Dokumentes, das, aus der damals aktuellen Umbruchssituation entstanden, nun der fortschreitenden Entwicklung angepaßt werden müsse.«64 Am konkretesten formulierte Ender seine Abänderungsvorschläge 1937 in Messners Monatsschrift.65 Dass Messner seine Zeitschrift Ender zur Verfügung stellte, zeigt, dass auch er auf der Seite der Kritiker stand. Auch er sah sich missverstanden oder missbraucht. Er hat aber nicht an einzelnen Bestimmungen der Verfassung herumgedoktert, sondern seine grundsätzlich andere Position dargelegt und indirekt die Verfassung als eine Missachtung dessen dekouvriert, was er als ins Abseits geschobener »Berater« vorgeschlagen hatte. Dass er Dollfuss, die Maiverfassung und Schuschnigg nicht frontal angriff, erklärt sich leicht daraus, dass er nicht leugnen konnte und wollte, dass er als einer der Vordenker an der als Reform begonnenen und begründeten Entwicklung beteiligt war, wenn auch nicht mehr an der Formulierung der Verfassung. Ein stärkeres Motiv für seine offizielle Loyalität war, dass er sich nicht an der unheilvollen Zersplitterung und Schwächung des Regierungslagers beteiligen wollte. Aber sein Veto
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gegen das, was als Reformunternehmen begonnen hatte und in einem politischen und legistischen Fiasko endete, formulierte er massiv. Jedenfalls ist es unzulässig oder zu vereinfachend, Messners Konzept einer »berufständischen Ordnung« mit dem gleichzusetzen, was als Ständeverfassung und als Ständestaat halbe und kurzfristige Wirklichkeit geworden ist. Um das klarzustellen, erinnerte 1936 Messner in seinen eigenen und von ihm ausgewählten Beiträgen in der Monatsschrift und in deren systematischer Zusammenfassung in der Berufsständischen Ordnung. Mit Bedacht hat Messner nicht vom »Ständestaat«, sondern von der »berufsständischen Gesellschaftsordnung« gesprochen. Daher hat er seit 1931 wiederholt betont, dass die neue Ordnung zwar in der Verfassung zu berücksichtigen sei, nicht aber Gegenstand der Staatsverfassung sein sollte. Ein Rest dieser Gedankenführung findet sich noch in der Präambel der Maiverfassung : Nicht der »Ständestaat«, sondern der »ständisch geordnete Bundesstaat«, wurde als Ziel formuliert. Nach Messner war damit der Bundesstaat »auf berufsständischer Grundlage« gemeint. Der Staat war nicht nur »Erststand« in der Ständepyramide, wie bei Spann, sondern behielt seinen Eigenwert. Zwischen Staat und Ständen sollte es nur zu einer neuen »Aufgabenteilung« kommen.66 Weder sollte die Gesellschaft, wie nach der Doktrin des Liberalismus, den Staat, noch, wie im Sozialismus, der Staat die Gesellschaft dominieren.67 Als Heilmittel gegen das die moderne Staatsentwicklung bestimmende »Freund-Feind-Verhältnis« propagierte Messner den »autoritären Ständestaat«. Zu definieren, was er und seine Mitstreiter unter »autoritärem Staat« verstanden, überließ er Johannes Hollnsteiner. Der »Sinn des autoritären Staates«, »wie ihn Dollfuß durch seine Verfassung vom Jahre 1934 schaffen wollte«, war danach »nicht der Gegensatz zum demokratischen Staat«68. Er war einerseits die Abgrenzung zum Parteienstaat, andererseits zum »totalitären Führerstaat«. Der »autoritäre Staat« anerkennt »gewisse Normen« : »Er darf die Rechte des Einzelnen nicht willkürlich einschränken ; er muß die Rechte der Familie als der von der Natur gegebenen Keimzelle respektieren und schützen ; er muß anerkennen, daß zwischen Individuum und Staat naturgegebene Zwischenglieder existieren, die sich aufgrund der menschlichen Veranlagung organisch ausgliedern. Hierher gehören die Leistungsorganismen, die sich aus der Ergänzungsbedürftigkeit der Menschen, die nicht nur in biologischer, sondern auch in wirtschaftlicher und kultureller Beziehung besteht, bilden.«69 Die »berufsständische Ordnung« war Messners zentrales Anliegen. Er hatte sein Konzept in der allgemeinen und konkreten Form nicht als politische Antwort auf die Krise des Parteienstaates entwickelt, sondern als unmittelbare Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise, d.h. als allgemeine Strategie gegen eine ökonomische, nicht einmal gesellschaftliche Fehlentwicklung. In diesem Sinn ist seine Kritik am Kapitalismus und Sozialismus zu verstehen. Wissend, dass eine ungeklärte Terminologie im politischen Tageskampf unweigerlich zu Missdeutungen führen konnte, bemühte er sich,
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Grundsätzliches klarzustellen : »Der Ausdruck Ständestaat oder Korporativstaat darf nicht ohne Vorbehalt gebraucht werden. Denn er kann eine dreifache Bedeutung haben, deren jede grundsätzlich andere Folgen einschließt.«70 Dreierlei meinte er : »Erstens, dass Staat und Gesellschaft, Staat und Individuum identifiziert werden und die Stände nur Organe des Staates sind zur völligen Beherrschung der Gesellschaft ; zweitens, dass die Gesellschaft die alleinige Trägerin von Rechten ist und der Staat ganz nur in ihrem [soll richtig wohl heißen seinem] ständischen, korporativen Leistungsverbänden wurzelt ; und drittens, dass zwar die Eigenbereiche von staatlicher und gesellschaftlicher (berufsständischer) Ordnung auseinander gehalten, aber die wesenhaften Beziehungen beider durch das Zusammenwirken staatlicher und ständischer Einrichtungen zur Geltung gebracht werden.«71 Es hatte im Hinblick auf den drohenden Einfluss des italienischen Faschismus auf die österreichische Entwicklung einen sehr konkreten Sinn, wenn Messner mit besonderem Nachdruck betonte, dass die »ideellen Grundlagen, welche für die staatliche und ständische Neuordnung in Österreich maßgebend sind«, mit dem »reinen Korporatismus« Mussolinis nichts zu tun hatten – »hat doch das christliche Staatsdenken dem Staate immer den alle übrigen Gemeinschaftsordnungen überhöhenden Platz eingeräumt, womit eine Begründung des Staates auf die Stände unvereinbar ist. […] Keinesfalls sind aber die Berufsstände als staatsbildende und staatstragende Verbände gedacht«.72 So sehr Messner die parlamentarische Parteiendemokratie, in der »die Parteien das Volk im Namen der Demokratie entrechten«, für eine Fehlentwicklung der liberalistischen Staatsdoktrin hielt, so entschieden stellte er klar, dass es ihm nicht um die Abschaffung der Parteien und ihre Ablösung durch die Berufsstände ging : »Strikte abzulehnen ist der Gedanke, die jetzigen Parteien durch ›berufsständische‹ Parteien oder das politische Parlament durch ein ›berufsständisches‹ Parlament zu ersetzen. Für die politischen Aufgaben sind die ›berufsständischen‹ Parteien zweifellos noch viel ungeeigneter als die bestehenden Parteien, die doch wenigstens einen mehr oder weniger starken Einschlag rein politischer Kräfte enthalten. Eine ständische Vertretung hat ihre Aufgabe in der Vertretung der ständischen Rechte, sie kann nicht die Aufgabe haben und ist für sie ganz ungeeignet, den Staatswillen zu bilden.«73 Solche extremen Klarstellungen hätte Messner nicht vorgenommen, wenn es nicht die Maiverfassung gegeben hätte, die all das enthielt, was Messner kritisierte. Es ist ziemlich offenkundig, dass Messners Berufsständische Ordnung von 1936 wohl ein Programm für eine berufsständische Neuordnung war, aber nicht als Bestätigung, sondern als eine verhältnismäßig radikale Kritik dessen, was Dollfuß aus der Idee des »christlichen Ständestaates« im Sinne von Quadragesimo anno in der Verfassung von 1934 gemacht hatte. Es ist verständlich, dass sich Messner nie eingehender mit dem in seiner Biografie so zentralen Kapitel seines Engagements für den Ständestaat auseinandergesetzt hat.74 Er konnte und wollte ja nicht leugnen, dass er ein exponierter Parteigänger des »vaterländischen« Lagers um Dollfuß und Schuschnigg gewesen war, dass er einen
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wesentlichen theoretischen Beitrag zur Neugestaltung der Republik im Sinne eines »christlichen Ständestaates« zu leisten beabsichtigt hatte. Er musste sich aber auch schmerzhaft daran erinnern, dass seine Ideen eines »dritten Weges«, wie ihn auch Seipel zu gehen versuchte, im Taumel der rigiden Machtpolitik und der theoretischen Ziellosigkeit auf der Strecke geblieben waren. Auch sein Zögern, nach elf Jahren Emigration 1950 wieder nach Österreich zurückzukehren, lag wohl nicht nur darin begründet, dass »sein Naturrecht ihm von links verhängnisvoll übel genommen werden könnte«75, sondern ebenso an seinem Misstrauen gegenüber seinen christlichsozialen Freunden, die ihn für eine Rückkehr gewinnen wollten. Theoretisch hat Messner nach Abschluss seines Naturrechts (1950) an der Idee einer berufsständischen Staatsund Gesellschaftsreform festgehalten. In der Rede anlässlich des Erscheinens des 1. Bandes der Reihe Sozialethik und Gesellschaftspolitik, am 12.2.1971 im Wiener Palais Pálffy, bekannte er sich zur »Wiener Schule der christlichen Gesellschaftslehre«, wie sie von Franz Martin Schindler begründet, von Ignaz Seipel fortgeführt und von ihm auf deren Linie als »Sozialrealismus« weiter entwickelt worden war. Die von ihm vertretene weltanschauliche Kritik am Individualismus-Liberalismus und am Kollektivismus-Sozialismus als den großen sozialen Ideologien des 19. Jahrhunderts als einer Kritik an einer Welt und Gesellschaft ohne Transzendenz und ohne Gott, war der Versuch, aus der Sackgasse der »Brüchigkeit des sozialen Lebens«, der »bloßen Legalität und Systematik sozialer Strukturen« und dem »Verfall sozialer Werte und Wertorientierungen«76 herauszuführen. Sein Weg der Erneuerung der »Wertorientierung und der Erneuerung der Fundamente eines wertorientierten wissenschaftlichen Vorgehens« sicherte ihm die Möglichkeit, »ideologisches und rein analytisches Denken in den Sozialwissenschaften zu trennen«.77 Der Kern seiner sozialethischen Position blieb die Orientierung an den Werten der sozialen »Gerechtigkeit« und des »Gemeinwohls«, am »Naturrecht als Wesensrecht« und »an der Sachrichtigkeit in der Ordnung der irdischen Wirklichkeiten«.78 Was einzusehen ihm dabei verwehrt blieb, war die Differenz zwischen »Wahrheit« und »Wirklichkeit«, und darauf folgend die Erkenntnis, dass seine Position für die Verwirklichung einer Ordnung der »irdischen Wirklichkeiten« nicht untauglich, aber schwer umsetzbar bleiben musste.
Anmerkungen 1 Vorwort. – In : Alfred Klose/ Wolfgang Mantl/ Valentin Zsifkovits (Hg.). Katholisches Soziallexikon. Innsbruck – Wien – München/Graz – Wien – Köln 21980. 2 Vgl. Anton Rauscher : Einführung. – In : Johannes Messner. Ausgewählte Werke 2. Frühschriften. Wien 2002. S. XV–XXVI. 3 Johannes Messner : Social Ethics. Natural Law in the Modern World. St. Louis – London 1949/ 31965. 4 Johannes Messner : Zum Begriff der sozialen Gerechtigkeit. – In : Die soziale Frage und der Katholizismus. Festschrift zum 40jährigen Jubiläum der Enzyklika »Rerum Novarum«. Paderborn 1931. S. 416–435.
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15 John Rawls : Outline of a Procedure in Ethics. Cambridge Mass. 1951. 16 John Rawls : A Theory of Justice. Cambridge Mass. u.a. 1971. 17 Zit. Anton Rauscher und Rudolf Weiler in Verbindung mit Alfred Klose und Wolfgang Schmitz, Geleitwort zu Johannes Messner, Frühschriften S. X. 18 Ebd., S. XIII. 19 Das Katholische Soziallexikon enthält keinen biographischen Artikel ; sehr wohl die Neue Deutsche Biographie : Art. Rudolf Weiler : Johannes Messner. – In : Neue Deutsche Biographie 17/1994. S. 224 f. 10 Dieter A. Binder : Der »Christliche Ständestaat Österreich« 1934–1938. – In : Rolf Steiniger/ Michael Gehler (Hg.) : Österreich im 20. Jahrhundert. Von der Monarchie bis zur Zweiten Republik. Ein Studienbuch in zwei Bänden, 1 (= Böhlau Studienbücher). Wien – Köln – Weimar 1997. S. 203–243. 11 Ernst Hanisch, Der Politische Katholizismus als ideologischer Träger des »Austrofaschismus«. – In : Emmerich Tálos/ Wolfgang Neugebauer (Hg.) : »Austrofaschismus«. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938. Wien 41988. S. 53–73, hier 68. 12 Darunter das Konzept von Philipp Bugelnig : Philipp Bugelnig : Der Ständestaat. Ein Organisationsplan. Klagenfurt o.J. – Philipp Bugelnig : Der Ständestaat. Dessen Voraussetzung und Verwirklichung. Klagenfurt-Rosenheim 1935. 13 Ebd., S. 69. 14 Johannes Messner : Dollfuß. London und Innsbruck – Wien – München 1935. 15 Johannes Messner : Die Berufsständische Ordnung. Innsbruck – Wien – München 1936/ 21937. 16 Peter Eppel : Zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Die Haltung der Zeitschrift »Schönere Zukunft« zum Nationalsozialismus in Deutschland 1934–1938, stützt sein Kapitel über Messner, S. 62–72, zum Großteil auf persönliche Gespräche mit Messner und Anfragen an Schuschnigg. 17 Helmut Wohnout: Regierungsdiktatur oder Ständeparlament ? Gesetzgebung im autoritären Österreich (= Studien zu Politik und Verwaltung 43). Wien – Köln – Graz 1993. – besitzt den Vorteil, dass er sich weniger auf die tagespolitische Vieldeutigkeit und Inkongruenz – auch bei Messner selbst – der Publizistik und der theoretischen Werke stützt, sondern auf die breite und sicherere Basis des amtlichen Aktenmaterials. 18 Protokolle des Klubvorstandes der Christlichsozialen Partei 1932–1934, hg. Walter Goldinger (= Quellen und Studien zur österreichischen Zeitgeschichte 2). Wien 1980. 19 Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik 1918–1938, hg. Rudolf Neck, Adam Wandruszka, Isabella Akerl, Abteilung VIII, 1–7 : Kabinett Dr. Engelbert Dollfuß : 20. Mai 1932 bis 25. Juli 1934, bearb. Gertrude Enderle-Burcel. Wien 1980–1986. 20 Vgl. Emmerich Tálos : Das Herrschaftssystem 1934–1938. Erklärungen und begriffliche Bestimmungen. – In : Emmerich Tálos/ Wolfgang Neugebauer (Hg.) : »Austrofaschismus«. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938. Wien 41988. S. 345–370. – Gerhard Botz : Der »4. März 1933« als Konsequenz ständischer Strukturen, ökonomischer Krisen und autoritärer Tendenzen. – In : Erich Fröschl/ Helge Zoitl (Hg.) : Der 4. März 1933. Vom Verfassungsbruch zur Diktatur. Beiträge zum wissenschaftlichen Symposion des Dr.-Karl-Renner-Instituts, abgehalten am 28. Februar und 1. März 1983 in Wien. Wien 1983. S. 13–35. 21 Gerhard Hartmann : Art. Schoepfer. – In : Katholisches Soziallexikon. Innsbruck – Wien – München/ Graz – Wien – Köln 21980. S. 2487. 22 Eppel, Zwischen Kreuz und Hakenkreuz, S. 19. 23 Ebd. 24 Zit. ebd., S. 20, nach Schönere Zukunft 1 (1925/1926) S. 1. 25 Walter Wiltschegg : Österreich – der »Zweite deutsche Staat« ? : der nationale Gedanke in der Ersten Republik. Graz – Stuttgart 1992. S. 163. 26 Ebd., S. 163 f.
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27 Stefan Moritz, Grüß Gott und Heil Hitler : katholische Kirche und Nationalsozialismus in Österreich. Wien 2 2002. S. 219. 28 Wiltschegg, Österreich, S. 164. 29 Sein Werk : Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Römischen Reich bis Königgrätz, 4 Bde., erschien 1935–1942. 30 Eppel, Kreuz und Hakenkreuz, S. 181, mit Verweis auf den Artikel Messners »Nationalität und Katholizität« in Schönere Zukunft 2 (1934). 31 Das diesbezügliche vollständige Zitat bei : Johannes Messner, Die soziale Frage der Gegenwart. Der Weg zum wirtschaftlichen, sozialen, staatlichen, nationalen, kulturellen Wiederaufbau. Innsbruck 1933/ 4. Auflage 1934/ 8. Aufl. 1964. S. 422 : »Ist das wissenschaftliche Ordnungsbild des Nationalsozialismus auch nur in Umrissen erkennbar, so ist doch deutlich eine weitgehende Übereinstimmung mit grundlegenden Prinzipien der christlichen Sozialreform sichtbar : Die Auffassung der Volkswirtschaft als einer Gemeinschaft, die wirksame Durchsetzung der Norm des Gemeinwohles, die Hervorhebung der sittlichen Kräfte, die Anerkennung des Privateigentums, die Einschätzung der Privatinitiative, die Forderung der Einschaltung der naturgemäßen gesellschaftlichen Ordnungskräfte von Staat und Berufsgemeinschaft […]. Sucht der Nationalsozialismus noch mehr sein wirtschaftliches Ordnungsbild auf die wahre berufständische Idee zu begründen und in den heute zu sehr in den staatlichen Machtbereich hineingezogenen Wirtschaft die berufsständische Selbstverwaltung zur Entfaltung zu bringen, dann können Katholizismus und Nationalsozialismus eine große Strecke Weges in der unmittelbaren Wirtschafts- und Sozialreform gemeinsam gehen.« Die Schlussfolgerung einer Komplizenschaft mit dem Nationalsozialismus bei Moritz, Grüß Gott 219, ist zwar angesichts der zahlreichen Distanzierungen im Neuen Reich falsch, das Zitat belegt aber doch die bei den Zeitgenossen weit verbreitete Blindheit gegenüber der taktischen Raffinesse der nationalsozialistischen Programmatik, was für einen scharfsichtigen Gelehrten wie Messner mehr als befremdlich ist. 32 Der Katholische Staatsgedanke. Bericht über die katholisch-soziale Tagung der Zentralstelle des Volksbundes der Katholiken Österreichs am 29. und 30. April 1934 in Wien. Wien 1934. 33 Wiltschegg, Österreich, S. 165. 34 Friedrich Heer : Der Kampf um die österreichische Identität. Wien – Köln – Graz 1981. S. 387. 35 Ausführlich Eppl, Zwischen Kreuz und Hakenkreuz, S. 66 f 36 Epple, Zwischen Kreuz und Hakenkreuz, S. 69. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 68 f. 39 Heinrich Bußhoff : Das Dollfuß-Regime in Österreich in gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive unter besonderer Berücksichtigung der »Schöneren Zukunft« und »Reichspost«. Berlin 1968. S. 14. 40 Ebd., S. 57. 41 Alexander Novotny : Der berufsständische Gedanke in der Bundesverfassung von 1934. In : Österreich in Geschichte und Literatur 5 (1961) S. 212, S. 216 ; und Friedrich Funder : Als Österreich den Sturm bestand. Aus der Ersten in die Zweite Republik. Wien – München 1957. S. 182 f. 42 Bußhoff, Das Dollfuß-Regime. S. 14, nach Rosa Mauser, Die Genesis des politisch-sozialen Ideengutes des Bundeskanzlers Dr. Engelbert Dollfuß. Diss. Wien 1959. S. 123, Anm.3. 43 Othmar Spann : Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft. Jena 1921. 44 Walter Heinrich : Das Ständewesen mit besonderer Berücksichtigung der Selbstverwaltung der Wirtschaft. Jena 1932. 45 Johannes Messner : Volk, Staat und berufsständische Ordnung. – In : Monatsschrift Jänner 1936. S. 7. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Zum ersten Mal stand die Verfassungsreform im Ministerrat vom 12.3. 1934 auf der Tagesordnung ; Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik VIII/6, S. 124–139.
Der Ständestaat ohne Stände
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49 Wohnout, Regierungsdiktatur oder Ständeparlament, S. 82 ; ausführlicher Helmut Wohnout : Verfassungstheorie und Herrschaftspraxis im autoritären Österreich. Zu Entstehung und Rolle der legislativen Organe 1933/1934. Diss. Wien 1990. S. 93–115. 50 Ebd. 51 Wohnout, Regierungsdiktatur oder Ständeparlament, S. 84. 52 Odo Neustädter-Stürmer : Der Ständestaat Österreich. Dem jungen Österreich gewidmet. Graz 1930. 53 Odo Neustädter-Stürmer : Die berufsständische Gesetzgebung in Österreich (= Der neue Staat 3). Wien 1936. 54 Wohnout, Regierungsdiktatur oder Ständeparlament, S. 39. 55 Über die Rolle Hechts in der Entstehungsgeschichte der Maiverfassung Peter Huemer, Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich. Eine historisch-politische Studie. Wien 1975. 56 Wohnout, Regierungsdiktatur oder Ständeparlament, S. 77 ff. 57 Ebd., S. 62. 58 Ebd., S. 145. 59 Wolfgang Butschek : Ständische Verfassung und autoritäre Verfassungspraxis in Österreich 1933–1938. Mit Dokumentenanhang (= Rechtshistorische Reihe 109). Frankfurt/Main – Berlin – Bern – New York – Paris – Wien 1993. S. 14. 60 Gertrude Enderle-Burcel, Protokolle des Ministerrates VIII/7, Historische Einleitung. S. XV. 61 Ebd. XV f., nach Ulrich Kluge, Der österreichische Ständestaat 1934–1938. Entstehung und Scheitern. Wien 1984. S. 52 f. 62 Adolf Merkl : Das berufsständische Prinzip in der neuen österreichischen Verfassung. Vortrag in der Wiener Juristischen Gesellschaft vom 30. Jänner 1935. – In : Amtliche Wiener Zeitung 1935, Nr.4, S. 68 ; Adolf Merkl : Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs. Ein kritisch-systematischer Grundriß. Wien 1935. 63 Die neue österreichische Verfassung mit dem Text des Konkordates. Eingeleitet und erläutert von Bundesminister Dr. O. Ender (= Der neue Staat 1). Wien – Leipzig 1934. 64 Wohnout, Regierungsdiktatur oder Ständeparlament, S. 365. 65 Otto Ender, Gedanken zur Vollendung der Verfassung. – In : Monatschrift, November 1937, 965–968. 66 Messner, Volk, Staat und berufsständische Ordnung. – In : Monatsschrift, Jänner 1936. S. 13. 67 D. Anton J. Walter, Angelpunkte der Staatskultur. – In : Monatsschrift, Jänner 1936. S. 1. 68 Johannes Hollnsteiner, Der Sinn des autoritären Staates. In : Monatsschrift, Juni 1936. S. 485 und S. 488. 69 Ebd., S. 493. 70 Messner, Zur österreichischen Staatsideologie. – In : Monatsschrift Oktober 1936. S. 869. Der Beitrag ist ausdrücklich als Vorabdruck eines Teils des »demnächst erscheinenden Buches »Die berufsständische Ordnung« bezeichnet. 71 Ebd. 72 Ebd., S. 875. 73 Ebd., S. 877, als Zitat nach Heinz Brauweiler, Berufsstand und Staat. Betrachtungen über eine neuständische Verfassung des deutschen Staates. Berlin 1925, S. 242. 74 In der Werkausgabe sind im Rahmen der »Frühschriften die Soziale Frage« (1934) und die »Berufsständische Ordnung« (1936) nicht berücksichtigt. 75 Richard Schmitz an Felix Hurdes, 24. Febr. 1949 ; Personalakt Messner, Universitätsarchiv Wien. 76 Anton Rauscher und Rudolf Weiler in Verbindung mit Alfred Klose und Wolfgang Schmitz, Geleitwort zu den Ausgewählten Werken, Bd. 2. Wien 2002. S. VIII. 77 Ebd., S. IX. 78 Ebd.
Roman Sandgruber
Dr. Walter Schieber Eine nationalsozialistische Karriere zwischen Wirtschaft, Bürokratie und SS
Am 31. Mai 1938, wenige Monate nach dem Anschluss, wurde von deutschen und österreichischen Gesellschaftern, angeführt von der Thüringischen Zellwolle AG, die zu diesem Zeitpunkt 50 Prozent der Namensaktien zeichnete, gemeinsam mit der Hirtenberger Munitionsfabrik, die 18 Prozent übernahm, und einer Reihe österreichischer Spinnereiunternehmen (Pottendorfer, Kleinmünchner, Rhomberg, Ganahl, Schindler etc.), die die restlichen 32 Prozent zeichneten, die »Zellwolle Lenzing Aktiengesellschaft« mit einem Aktienkapital von RM 1.000.000 gegründet. Dr. Walter Schieber wurde neben zahllosen weiteren Funktionen von der Gründung an Betriebsleiter in Lenzing und fungierte von 1939 bis 1945 nach der Fusion mit der »arisierten« Lenzinger Zellstoff und Papierfabrik AG als Vorsitzender des Vorstands der nunmehrigen Lenzinger Zellwolle und Papierfabrik AG.1 Von den nationalsozialistischen Wirtschaftsführern, die in der österreichischen Industrie nach dem Anschluss an das Deutsche Reich zentrale Positionen einnahmen, ist Walter Schieber bislang kaum beachtet worden. Das ist umso merkwürdiger, als Schieber durch seine Mehrfachrolle in der Industrie, im Rüstungsministerium und in der SS sich ein dichtes Netzwerk aufbaute und dabei nicht nur für den Aufbau der Zellwollindustrie, sondern auch für ihre Expansion in die besetzten Gebiete und für den Einsatz von Konzentrationslagerhäftlingen in der Wirtschaft eine wichtige Position einnahm. Dass Schieber nach Kriegsende nahezu straffrei ausging und die Aufmerksamkeit völlig von sich ablenken konnte, hatte wohl zwei wesentliche Gründe : erstens war es der massive Konflikt, in den er seit dem Jahr 1944 mit Himmler und Kaltenbrunner geriet und der ihn nach Kriegsende eher als Opfer denn als Täter erscheinen ließ, und zweitens seine erfolgreiche Stilisierung als Experte und Technokrat, die nicht nur dazu führte, dass er im Nürnberger Prozess nur als Zeuge fungierte, sondern dass er auch von den Amerikanern als Experte für ihr Giftgasprogramm angeworben und eingesetzt wurde. Während sich in der nationalsozialistischen Parteielite Oberösterreichs im Unterschied zur gesamtösterreichischen Entwicklung die regionalen Kräfte um August Eigruber, Oskar Hinterleitner etc. durchsetzen konnten, brachten die Industriegründungen und Betriebsübernahmen in Oberösterreich zahlreiche deutsche Führungskräfte ins Land. Diese Führungspersönlichkeiten in den staatlichen und
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halbstaatlichen Gründungen, den Reichswerken Hermann Göring und auch in den Zellwollewerken, waren im Unterschied zur privaten Großindustrie, etwa im Deutschen Stahlverein, in den IG Farben etc., aufgrund ihrer Parteikarrieren an die Spitze katapultiert worden und konnten sich auf entsprechende Netzwerke stützen. Die enge Verflechtung von Bürokratie, Partei und Management war für das nationalsozialistische Wirtschaftssystem charakteristisch. Der unternehmerische Wettbewerb erfolgte weniger über Preise oder Produktivität als über Beziehungen und Interventionen. Charakteristisch für die Funktionsweise des nationalsozialistischen Herrschaftssystems war ein Netzwerk von persönlichen Beziehungen und Freundschaften, aber auch von institutionellen Gegnerschaften und tief gehenden internen Feindschaften, die bei verschiedenen Anlässen und Entscheidungen deutlich zutage traten. Für Oberösterreich wichtig wurde das Netzwerk der »jungen« Technokraten um Wilhelm Keppler : Präsident Hans Kehrl, bekannt als »Zellwollpapst« und mächtigster Mann im Rüstungsministerium, Generaldirektor Paul Pleiger, der Chef der Reichswerke AG für Erzbau und Eisenhütten »Hermann Göring«, und Walther Schieber, der Generaldirektor der Lenzinger Zellwolle AG und einer der Stellvertreter Speers im Rüstungsministerium, bildeten eine Trias mächtiger Wirtschaftsführer im Reich und im Gau Oberdonau.2 Wilhelm Keppler hatte 1934 Hans Kehrl mit der Entwicklung des Faserprogramms und Paul Pleiger mit dem Programm für Eisenerze und Metalle betraut. Kehrl holte sich recht bald Walther Schieber. Alle drei waren sie freundschaftlich verbunden, standen in Verbindung zu den Industriegründungen in Oberösterreich und übten später auch im Ministerium Speer einen wichtigen Einfluss aus. Alle drei kamen sie aus dem mittelständischen Unternehmertum der Textil- und Maschinenindustrie und waren einer aufsteigenden Technokraten- und Managerelite zuzurechnen. Das Netzwerk reichte in die Dresdner Bank und ihren österreichischen Arm, die Länderbank. Es handelte sich um ein Netzwerk kleinbürgerlich sozialisierter Antikapitalisten und Antisozialisten, die antiliberal und staatswirtschaftlich dachten, auf hohem technischem Niveau und mit organisatorischem Großeinsatz agierten, sich aber mit der Macht des Staates im Rücken um die wirtschaftliche Rentabilität und marktwirtschaftliche Konformität wenig kümmerten und sich immer mehr zu Befürwortern der Großkonzerne gemacht hatten. Kehrl, Schieber und Pleiger interpretierten ihre Rolle nachträglich als »Workaholics« und Experten, deren Anliegen es primär gewesen sei, die Auslandsabhängigkeit des Reiches bei Rohstoffimporten zu vermindern. Tatsächlich agierten sie bis zum bitteren Ende als Erfüllungsgehilfen des Systems. Zum härtesten Gegenspieler Walther Schiebers auf Reichsebene und auch in Oberösterreich wurde Ernst Kaltenbrunner. Als Gegenpol zu den deutschen Managern in den Reichswerken in Oberösterreich fungierten Hans Malzacher, Generaldirektor der Alpine-Montan und nach der Fusion mit den Reichswerken Her-
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mann Göring Stellvertreter Paul Pleigers und gleichzeitig dessen Intimfeind. Die schwerwiegenden Differenzen zwischen Pleiger und Malzacher resultierten aus persönlichen Animositäten und fachlichen Motiven und führten im Jahre 1941 zum Ausscheiden Malzachers aus den Reichswerken.3 Auch in Steyr wurde der im März 1938 neu eingesetzte Vorstand ausschließlich aus Österreichern gebildet. Neuer Generaldirektor war Dr. Georg Meindl geworden (1899–1945). Meindl unterhielt nicht nur enge Kontakte zu Göring, sondern auch zu Kaltenbrunner und Eigruber. Gegen Speer und deutsche Wirtschaftsinteressen suchte er beim von den DaimlerBenz-Managern nicht bewältigten Aufbau der Flugmotorenwerke Ostmark um die SDPAG herum einen riesigen Luftfahrtkonzern aufzubauen und einen »ostmärkischen Industrieblock« zu gestalten.4
Walter Schieber, der politische Technokrat und Generaldirektor Dr. Walter Schieber, von der Gründung 1938 bis zum Kriegsende 1945 Generaldirektor der Zellwolle Lenzing, 1,90 groß und 120 kg schwer, einem Kollegenurteil zufolge ein »Bulle an Arbeitskraft und Energie«5, war eine charakterlich umstrittene Persönlichkeit, nicht frei von Korruption und vor allem anfällig gegen dubiose Personen in seiner Umgebung, einerseits gegenüber seinen »wirtschaftskriminellen« Brüdern, andererseits auch gegenüber diversen untergeordneten Mitarbeitern, insbesondere seinem Chauffeur, Leibwächter und Sekretär Siegfrid Polack. Schiebers Vorstandskollege in Lenzing Heinz Zak beschreibt ihn in seinen Erinnerungen als Mann von »unglaublicher Arbeitskraft … der trotz seiner hohen Parteiränge seinen kometenhaften Aufstieg keineswegs nur der Politik verdankte«.6 Hans Kehrl beurteilte Schieber als »einmalige Figur«, was »Durchschlagskraft und Tempo« betreffe ; er schrieb ihm Erfindergabe, Ideenreichtum und eine bewundernswerte Arbeitskraft zu.7 Speer, der Schieber zu seinem Stellvertreter gemacht hatte, kritisierte ihn im Nachhinein sehr herablassend : »Zweifellos handelte es sich bei Walter Schieber um einen labil veranlagten Menschen, äußerst arbeitsam und, wie er später bewies, ein ergebener, treuer Amtschef. Groß gewachsen, neigte er zur Korpulenz. Er wirkte scheu und wie geschlagen durch ein hartes Schicksal, denn zwei seiner Brüder waren in der Tat Taugenichtse.«8 Großsprecherisch und titelsüchtig, weckte Schieber insbesondere in Oberösterreich zahlreiche antideutsche Ressentiments. Zwischen Walter Schieber und Ernst Kaltenbrunner entstand eine tief gehende Feindschaft. Hitler habe einem Brief Bormanns vom 7. März 1944 an Himmler zufolge über Schieber gemeint, dass er »ihm von jeher sehr wenig sympathisch gewesen sei«.9 Auch Gauleiter Fritz Sauckel, der zu Schiebers frühen Förderern zu rechnen ist, habe auf dessen charakterliche
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Mängel hingewiesen.10 Albert Speer hingegen, der Schieber in seinem »Sklavenstaat« außerordentlich viel Raum widmete, charakterisierte ihn sehr widersprüchlich : In seinen Erinnerungen stellte Speer Schieber als den Typ des »in der SS und in der Partei fachlich tätigen alten Parteigenossen« dar.11 Später versuchte Speer sein Urteil über Schieber zu revidieren, wobei die widersprüchlichen Charakterisierungen das Bedürfnis nach eigener Rechtfertigung erkennen lassen. Im Sklavenstaat charakterisierte er Schieber als schwach und labil : »Schieber war, trotz aller nicht zu leugnenden Erfolge, als Amtschef eine schwache Persönlichkeit, neigte zu einer euphorischen Betrachtung der Lage …«12 Walther Schieber wurde am 13. September 1896 in Beimerstetten/Württemberg als Sohn eines Schreiners geboren, der es später bis zum Bahnmeister, Leimfabrikanten und Eigentümer eines kleinen Spinnereiunternehmens in Bopfingen/Württemberg gebracht hatte. Schieber gehörte der »Frontgeneration« des Ersten Weltkrieges an (Leutnant d.R. a.D). Nach dem Abitur im Juni 1914, dem Kriegsdienst ab dem 2. 8. 1914 und nach russischer Gefangenschaft bis zum 30. 4. 1919 schloss er 1922 ein Chemiestudium in Jena und Stuttgart mit dem Doktorat der Ingenieurwissenschaften ab (Dissertationsthema »Zur Kenntnis des kolloidalen Quecksilbers«). Seine berufliche Karriere begann bei der IG Farben, zuerst als Betriebsleiter der Kunstseidebetriebe Wolfen, dann als Betriebsführer bei IG Farben in DormagenLeverkusen.13 1935 wurde er von Hans Kehrl engagiert, das Zellwollwerk Schwarza aufzubauen. Nach der Machtübernahme und seiner Übersiedlung nach Thüringen engagierte er sich als Hauptsachbearbeiter Otto Eberhardts in der Dienststelle des Gauwirtschaftsberaters der NSDAP Thüringen, ab 1937 als Referent für Textilindustrie beim Gauwirtschaftsberater Thüringen und als Textilreferent im Wirtschaftsministerium. Als Otto Eberhardt 1939 an den Folgen eines Verkehrsunfalls verstorben war, beerbte ihn Walther Schieber in praktisch allen seinen wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Funktionen, in der des Thüringischen Gauwirtschaftsberaters (6. 4. 1939 bis Amtsenthebung 2. 9. 1944) ebenso wie in der des Leiters der Gauwirtschaftskammer Thüringen und in der Position eines Thüringischen Staatsrats (bis 12. 4. 1945) und als Leiter der Vertretung Thüringens in Berlin (»Thüringenhaus«) bis zu deren kriegsbedingter Auflösung am 31. 3. 1944. In Nachfolge Eberhardts übernahm er 1939 auch den Vorsitz des Verwaltungsrats und der Betriebsführung der Wilhelm-Gustloff-Stiftung in Weimar, die auch die Hirtenberger Patronenfabrik »arisiert« und übernommen hatte. Ab 1. 2. 1939 avancierte Schieber in Nachfolge Otto Eberhardts zum Vorsitzenden des Vorstandes der Thüringischen Zellwolle AG. in Schwarza. Von Anfang weg war er Vorstandsvorsitzender in Lenzing und bis 21. April 1944 auch Vorstandsvorsitzender der Westfälischen Zellstoff AG Alphalint in Wildshausen. Dass er von der Gründung im Jahr 1938 an auch Vorsitzender des Deutschen Zellwolleringes e.V.
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in Berlin und ab 10. Februar 1941 Hauptgeschäftsführer der in eine GesmbH umgewandelten Nachfolgeorganisation war, führte ihn auch in die besetzten Gebiete : Ab 1. Juli 1941 war er Vorsitzender der Zellgarn-Aktiengesellschaft Litzmannstadt/ Łódź und von 1940 an auch Aufbauleiter der Zellwollwerke in Roanne (Frankreich) und in Swynarde (Zwijnaarde/Belgien).14 Im Vergleich zu Otto Eberhardt verkörperte Walter Schieber einen neuen, »dynamischeren« Typus eines nationalsozialistischen Wirtschaftsmanagers. Er setzte sich energisch für die Verknüpfung der betrieblichen Großtechnologien mit der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung ein und kämpfte für eine zentralistische Lenkung der chemischen und biologischen Industrieforschung in diesen »neuen« Fertigungszweigen.15 Walter Schieber war offenbar schon auf der Universität mit nationalen Kreisen in enge Berührung gekommen. 1922 war er aus der Kirche ausgetreten. Er galt als »Alter Kämpfer« der NSDAP, der er allerdings erst seit dem 1. Juni 1931 angehörte (mit der NSDAP-Nr. : 548.839). 1931 wurde er mit dem Amt eines Chemiereferenten beim NSDAP-Gauwirtschaftsberater Dessau-Anhalt betraut, das er allerdings wegen seiner Versetzung nach Rottweil nicht ausüben konnte. Am 1. 6. 1933 war er der SS beigetreten (SS-Nr. : 161.947, höchster Rang SS-Brigadeführer : 21. 6. 1942). 1935 wurde er auch Mitglied der DAF und des NSBDT. Schiebers SS-Karriere war steil : Am 13. 9. 1936 SS-Untersturmführer, bis 15. 2. 1937 Gas- und Luftschutzreferent im SS-Abschnitt XVIII, am 20. 4. 1937 SS-Obersturmführer, 10. 3. 1937 bis 1. 4. 1942 Gas- und Luftschutzreferent im SS-Abschnitt XXVII ; am 29. 5. 1937 Hauptsturmführer, am 12. 9. 1937 Sturmbannführer. 1938 wurde ihm als SS-Sturmbannführer der SS-Ehrendegen verliehen.16 Im Februar 1939 wurde er zum SS-Obersturmbannführer befördert, bald darauf am 20. 4. 1940 zum SS-Standartenführer. Am 9. Oktober 1941 wurde er mit Wirkung 30. Jänner 1942 zum SS-Oberführer ernannt und am 29. April 1942 in den Persönlichen Stab des Reichsführers SS aufgenommen. Schieber nahm 1942 mehrfach an Abendessen im Führerhauptquartier teil.17 Am 21. Juni 1942 erreichte er den Rang eines SS-Brigadeführers.18 Am 20. September 1943 bereits mit dem Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz ohne Schwerter ausgezeichnet, verlieh Hitler ihm am 29. Oktober 1944 die höchste Stufe der Auszeichnung für Verdienste im zivilen Sektor, das Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz mit Schwertern.19 Eine Merkwürdigkeit insofern, als er bereits etwa zwei Monate vorher, am 2. September 1944, aus der NSDAP ausgeschlossen worden war, er sukzessive aus allen Ämtern entfernt wurde und ein Verfahren wegen Korruption gegen ihn eröffnet worden war. Er war Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP und des Ehrendegens und des Totenkopfrings der SS. Eines der informellen Netzwerke, die für Kehrl und Schiebers Karriere wichtig wurden, war der sogenannte »Freundeskreis Reichsführer SS«, auch »Freundeskreis (Heinrich) Himmler« oder einfach »Kepplerkreis« genannt, der im Jahre 1932 von
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Wilhelm Keppler als Freundeskreis der Wirtschaft gegründet worden war. Unter dessen etwa 40 Mitgliedern aus dem Bereich der Wirtschaft, hohen Beamtenschaft und SS-Führung finden sich auch die Namen Hans Kehrl und Walther Schieber. Die Mitglieder dieses Zirkels spendeten von 1935 bis 1944 jährlich ungefähr 1 Million Reichsmark an Heinrich Himmler. Bereits 1939–1941 leitete Schieber zusätzlich zu seinen Partei- und Wirtschaftsfunktionen das Chemiereferat im Reichsministerium für Bewaffnung und Munition. Im Feber 1942 stand Schieber mit der Ernennung zum Chef des Rüstungslieferamts im Reichsministerium für Bewaffnung und Munition und damit zu einem der insgesamt neun Amtschefs in diesem Ministerium und Stellvertreter Speers auf dem Höhepunkt seiner Macht. Albert Speer schreibt über Schieber : »Dr. Walther Schieber, von Beginn an einer der neun Amtschefs im Rüstungsministerium, war der Vertrauensmann Himmlers im Ministerium.« Erst nach seiner Entlassung aus 20 Jahren Haft habe er davon erfahren.20 Das trifft in dieser Weise wohl nur für eine Einschätzung zu, die für den Beginn der Karriere Schiebers im Rüstungsministerium getätigt wurde : Am 8. Oktober 1941 habe sich Oswald Pohl, einer der ranghöchsten SSFührer (Chef des Beschaffungsamtes der SS), für eine Beförderung Schiebers in der SS mit der Bemerkung eingesetzt : »Ich selbst schätze Schieber sehr. Er steht wohl auch beim Reichsführer SS in gutem Ansehen.«21 Bald verschlechterte sich allerdings Schiebers Verhältnis zu Himmler deutlich. Zu Kaltenbrunner war es offenbar von Anfang weg äußerst gespannt. Schieber wurde zum Multifunktionär. Die Liste der offiziellen Ämter Walther Schiebers umfasste seinem Kaderakt zufolge mehr als 40 Positionen, darunter eine ganze Reihe, von denen jede für sich eine Vollbeschäftigung darstellte : vom Stellvertreter des Reichsministers für Rüstung und Kriegsproduktion und Chef des Rüstungslieferungsamtes im Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion (Februar 1942 bis Oktober 1944) über den thüringischen Staatsrat und Gauwirtschaftsberater der NSDAP Gau Thüringen und zahlreiche regionalpolitisch bedeutsame Ämter in Thüringen und in Oberdonau bis zu der Vielzahl von Vorsitzpositionen in Vorständen und Aufsichtsräten, bei der »Wilhelm-Gustloff-Stiftung-Nationalsozialistische Industriestiftung« und als Betriebsführer der Wilhelm-Gustloff-Werke« in Weimar, ebenso als Betriebsführer bei der Thüringischen Zellwolle AG in Schwarza, bei der Zellwolle Lenzing AG, bei der Westfälischen Zellstoff AG in Wildshausen, als Aufbauleiter der Zellwollewerke in Roanne und Swynarde (Zwijnaarde) und der Erntebindegarnfabrik in Litzmannstadt/Łódź, als Betriebsführer beim Deutschen Zellwoll-Ring e. V. in Berlin, im Aufsichtsrat der Dresdner Bank (1943–1945) und in einer großen Zahl kleinerer Forschungs-, Produktions-, Versorgungs- und Wohnungsgesellschaften, daneben auch als Leiter der Reichsfachgruppe Chemie im Hauptamt für Technik und dem Engagement in zahlreichen kultur- und wissenschaftspolitischen Ehrenämtern.22
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Als Fachspartenleiter Chemie im Nationalsozialistischen Bund Deutscher Technik kam er mit Fritz Todt in Kontakt, dem er seit Anfang 1940 bis zu dessen Tod als Berater für die chemischen Vorprodukte von Sprengstoff zur Seite stand.23 Bedeutsam ist Schiebers Einfluss in der Dresdner Bank : 1943 erfolgte im Aufsichtsrat der Dresdner Bank auf Drängen Bormanns eine Verstärkung der nationalsozialistischen Ausrichtung und des SS-Flügels : die Gauwirtschaftsberater Wilhelm Avieny und Walter Schieber wurden, ebenso wie der stellvertretende Gauwirtschaftsberater Karl Heinz Heuser und der Parteibuchmanager Wilhelm Marotzke, in den Aufsichtsrat berufen.24 Schieber gehörte auch dem zehnköpfigen Arbeitsausschuss der Dresdner Bank an. Enge Beziehungen zu Schieber wurden dem Aufsichtratsvorsitzenden Carl Goetz zugeschrieben. Im Netzwerk, das sich im Aufsichtsrat der Dresdner Bank bildete, spielte der Freundeskreis Heinrich Himmler eine besondere Rolle. Bei den Herrenabenden dieses etwa 40köpfigen Kreises im Berliner »Haus des Fliegers« trafen sich allein aus dem Aufsichtsrat der Dresdner Bank sechs Mitglieder. Fritz Kranefuß, der Organisator des »Freundeskreises Reichsführer SS«, war hoher Beamter im Rüstungsministerium und saß 1938–1945 als einflussreicher Meinungsmacher im Aufsichtsrat der Dresdner Bank. Auch in Oberösterreich übernahm Schieber politische Funktionen : 1941–1945 war er Beiratsmitglied der Wirtschaftskammer Oberdonau. Mit 11. Februar 1940 wurde er zum Bürgermeister der aus der Gemeinde Oberachmann und angrenzenden Ortschaften neu errichteten Gemeinde Agerzell bestellt, die 1948 dann in Lenzing umbenannt wurde. Geschäftsführender Bürgermeister blieb allerdings der bisherige kommissarische Leiter Franz Aigner, der von der Zellwolle Lenzing dafür mit einer ansehnlichen, für Bürgermeister an sich nicht vorgesehenen Besoldung von angeblich 400 RM im Monat bedacht wurde.25 Auffällig ist Schiebers Interesse für alternative Techniken, für die Gewinnung von Eiweiß aus Zelluloseablauge (Biosyn-Wurst), mit der in Mauthausen umfangreiche »Fütterungsversuche« durchgeführt wurden, für die Zellulosegewinnung aus rasch wachsenden exotischen Gräsern, um den »deutschen Wald« zu schonen, für die Nutzung der Windkraft in den geplanten Ostsiedlungen und selbst für die Entwicklung einer deutschen Atombombe. Schieber war als Chemiker auch mit der Giftgasfrage beschäftigt, was nach Kriegsende zu einem Engagement durch die USA führte. Durch seine Funktion in der Wilhelm-Gustloff-Stiftung und deren »Ventimotor GmbH« kam er mit Windkraft als Energiequelle in Kontakt, die er als Lösung für die Ostsiedlungsprojekte der SS darstellte. Allem Anschein nach war Schieber, wie neueste Forschungen belegen, auch in mehr oder weniger realistische Bemühungen um den Bau einer deutschen Atombombe involviert. Der Physiker Ronald Richter, der Schieber schon aus seiner Tätigkeit in Thüringen in den 30er-Jahren kannte und der nach dem Krieg in Argentinien an dubiosen Kernforschungsprojekten arbeitete, berichtete, dass er von Schieber im Herbst 1943 in sein Haus in Berlin-Dahlem zu
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einem Gespräch eingeladen worden sei. Schieber wollte von ihm alles über Kernspaltung wissen. Schieber wollte ihm auch einen Termin mit Hitler arrangieren und habe ihn mit verschiedenen Industriellen bekannt gemacht. Zuletzt habe Schieber ihn mit dem Bau eines Graphitreaktors beauftragt. 26 Die Einkünfte, die Schieber aus seinen verschiedenen Funktionen und Ämtern bezog, müssen sich zu einer beträchtlichen Summe aufaddiert haben. In Lenzing standen Schieber dem Dienstvertrag zufolge monatlich 3.000 RM plus Tantiemen zu, in Schwarza laut Dienstvertrag 3.500 monatlich plus jährlich 4.000 Tantieme auf jedes Dividende-Prozent, beim ZKR eine Anerkennungsgebühr von 1.000 RM jährlich. Dazu kamen aber auch noch Wildshausen, Łódź, Roanne und mehrere kleinere Gesellschaften. Laut Geschäftsbericht bezog Schieber in Lenzing im Jahre 1940 48.000 RM, im Jahr 1941 insgesamt 51.000 RM und zusätzlich hohe Reisespesen. Bereits das erschien der Deutschen Revision und Treuhand in ihrem Revisionsbericht im Vergleich zu ähnlichen Unternehmen hoch, vor allem im Hinblick auf anderwärtige zusätzliche Einkommen. In Schwarza verdiente Schieber mehr als in Lenzing. Was er aus seinen übrigen Vorstandsposten und als Chef des Rüstungslieferungsamtes im Ministerium für Rüstung und Kriegsproduktion und aus seinen sonstigen Ämtern an Einkommen noch zusätzlich bezog, lässt sich nur schätzen. Insgesamt muss sich daraus ein Jahreseinkommen von deutlich mehr als 200.000 RM im Jahr ergeben haben. 1944 geriet Schieber in einen immer größer werdenden Gegensatz zu maßgeblichen Kreisen der NSDAP und der SS, insbesondere zu Ernst Kaltenbrunner. Ein Ehrengerichtsverfahren wegen Korruption wurde eröffnet. Am 2. 9. 1944 erfolgte sein Ausschluss aus der NSDAP.27 Am 31. 10. 1944 folgte nach Auseinandersetzungen mit der Parteiführung sein Rücktritt als Amtschef im Rüstungsministerium. Am 14. 11. 1944 wurde er von Speer von seinem Amt als Chef des Rüstungslieferungsamtes entbunden.28 Er sollte für Sonderagenden Verwendung finden. In der Folge musste er aus allen seinen Ämtern mit Ausnahme des Vorstandsvorsitzes in Lenzing ausscheiden, sodass er nach Kriegsende sich vor den Gerichten und in der Öffentlichkeit weniger als Täter, sondern mehr als Verfolgter stilisieren konnte.
Dr. Schieber, die Lenzinger Lebensmittelschiebungsaffäre und österreichisch-deutsche Gegensätze Ende Mai 1942 waren in Lenzing erhebliche Lebensmittelunterschlagungen durch einzelne Mitglieder der Werksleitung aufgeflogen. Die Gestapo, Staatspolizeistelle Linz, ermittelte wegen kriegswirtschaftlicher Verstöße bei der Zellwolle Lenzing AG gegen das Ehepaar Erich und Karoline F., das die Küchenbetriebe der Zellwolle leitete, gegen den Leiter des Gefolgschaftsamtes Johannes Arnoldt, gegen den
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Leiter des Wohnungsamtes und Zuständigen für sogenannte kriegswirtschaftliche Unabkömmlichkeits-(uk-)Stellungen Wilhelm Böninger und gegen die leitenden Persönlichkeiten der ZAG, die stellvertretenden Generaldirektoren Werner Schlie und Richard Bickelhaupt und gegen Generaldirektor Walter Schieber und seine zwei Brüder Reinhold und Werner Schieber ebenso wie gegen den Seewalchener Kaufmann Walter S. Die Anklage beinhaltete zahlreiche Punkte, dass sämtliche Angestellten, nicht kasernierten Arbeiter und Direktoren sowie Besucher immer wieder ohne Abgabe von Lebensmittelmarken im Küchenbetrieb des Werkes verpflegt wurden, dass vom Werk Lebensmittel an Gastwirtschaften außerhalb des Werkes abgegeben wurden, um dort leitende Angestellte ohne Lebensmittelmarken zu verköstigen, dass größere Lebensmittelmengen an einzelne Werksmitarbeiter und leitende Angestellte und deren Angehörige abgegeben bzw. von diesen aus dem Werk mitgenommen wurden und dass schließlich Lebensmittel zur Fütterung in der werkseigenen Schweinemästerei verwendet wurden und immer wieder Tiere »schwarz« geschlachtet wurden. Insgesamt sollen damit bis September 1941 zwangsbewirtschaftete Lebensmittel in einer sehr beträchtlichen Menge in der Werkskantine ohne Lebensmittelmarken zur Ausgabe gelangt sein. Die Anklage bezifferte sie mit mindestens 230.000 kg Brot, 48.000 kg Mehl, 14.000 kg Fleisch, 15.000 kg Margarine, 2.200 kg Öl, 8.000 kg Butter, 7.000 kg Teigwaren, 8.000 kg Nährmittel, 40.000 kg Zucker, 8.000 kg Kaffeeersatz, 100.000 Stück Eier und über 6.000 kg Käse. Zusätzlich seien direkt an Angestellte und Direktoren weitere 52.930 kg Mehl, 2.444 kg Margarine, 460 kg Öl, 5.322 kg Zucker, 1.456 kg Butter, 1.579 Stück Eier, 1.187 kg Käse, 924 kg Teigwaren, 1.516 kg Nährmittel, 1.536 kg Kaffeeersatz und 9.619 kg Fleisch aus dem Magazin der Werksküche ohne Lebensmittelmarken abgegeben worden.29 Neben der Lebensmittelschiebung bzw. Unterschlagung bezogen sich die Vorwürfe der Anklage auf Durchführung von Schwarzschlachtungen, Verschiebung von Bohnenkaffee (es sollen etwa 600 kg Bohnenkaffee im Werk unterschlagen worden sein), Verschiebung von Benzin, Ausgabe von Spinnstoffen ohne Bezugsscheine, unrechtmäßigen Bezug von Wein und Spirituosen, Durchführung von Bilanzverschleierungen und Verderbenlassen von Rohstoffen, Beiseiteschaffen von Metallen etc.30 Am 29. Juni 1942 sagte die Bedienerin Helene Fruhstock u.a. aus : »Weiters ist mir erinnerlich, dass im Sitzungssaale der Direktoren fast alle drei Wochen schwere Zechgelage abgehalten wurden, wo schwer gegessen wurde … diese Gelage dauerten bis vier Uhr früh. Bei diesen Gelagen waren Böninger, Bickelhaupt, Schlie und Reinhold Schieber sowie Gäste aus dem Altreich anwesend …« Die Abortanlagen seien regelmäßig von Erbrochenem schwer verschmutzt gewesen.31 Eine andere Bedienerin habe gesagt : »Da kann man leicht einen Herrn spielen, wenn man die Striezel Butter in der Kanzlei liegen hat.« In der Kanzlei seien immer Bohnenkaffee, Scho-
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kolade, Schnäpse und Backwaren, Wurst und Käse und Körbe voll Obst vorrätig gewesen. »In der Kanzlei des Dr. Schlie haben wir fast täglich 15 bis 20 Teller mit Käse-, Wurst- und Butterresten wegräumen müssen. Es wurde ständig Bohnenkaffee gekocht …«32 Die Vorkommnisse sind nicht nur als Ausdruck einer weitgehenden Korrumpierung des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems von Interesse, denn in dieser Form waren solche Vorkommnisse relativ häufig.33 Es wurde diese Affäre auch zu einer der deutlichsten Manifestationen einer sich steigernden Ablehnung deutschen Einflusses auf die österreichische Wirtschaft und Ausdruck antideutscher Gefühle in der regionalen Bevölkerung, etwa in dem Verfahren gegen die Lehrerswitwe Antonia D., die wegen abfälliger Schreibweise in einem Brief an einen Herrn Josef E. vom 26. Juli 1942 angeklagt wurde, in welchem sie sich über die Wirtschaftslage im Allgemeinen, vor allem aber über die damals »in Vöcklabruck von der Bevölkerung sehr stark besprochenen Missstände in der Lenzinger Zellwollfabrik« abfällig geäußert habe, nämlich, dass »nun die Wölfe im Schafpelz bei uns Einkehr gehalten haben«. Sie habe dies getan, führte sie in ihrer Verteidigung aus, weil sie erbittert gewesen sei, dass, wie sie ausführte, »die Stenotypistin der Lenzinger Zellstoffwerke, die in meinem Hause wohnt, mit dem Auto täglich abgeholt wurde«. Außerdem sei in Vöcklabruck über die großen Lebensmittelschiebereien und Essgelage der führenden Persönlichkeiten der Lenzinger Fabrik allgemein und ganz offen abfällig gesprochen worden. Sie habe daher ihre im Brief gemachten Äußerungen wie ›dass nun die Wölfe im Schafpelz bei uns Einkehr gehalten haben‹, lediglich auf die Zustände in Vöcklabruck bzw. die Zellwollfabrik Lenzing bezogen. Sie habe damit nicht am NS-Staat als solchem Kritik üben wollen.34 Auch die Lenzinger Laborantin Hildegard L., die wegen Abhörung von Feindsendern zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, äußerte sich ähnlich : Sie sei so erzürnt gewesen, weil einige Angestellte und Beamte des Betriebs am Tage des Falls von Stalingrad »gesoffen« hätten, weshalb sie sagte : »Hoffentlich ist mein Bruder nicht so dumm, sich wegen dieser Leute hier zu opfern.«35 Gen.-Dir. Schieber erhielt nach eigener Aussage Flugblätter zugeschickt, dass die »Altreichsdeutschen« hier verschwinden sollten. Der gesamte Vorstand der Lenzinger, nämlich Schieber, Schlie, Bickelhaupt, setzte sich zu dem Zeitpunkt aus Deutschen aus dem »Altreich« zusammen. Alle hatten sie in beschlagnahmten Villen des Salzkammerguts Quartier genommen, im Schloss Kammer, in der Gmundner Villa Tastelberg oder in verschiedenen Seewalchener Attersee-Villen. Das nährte antideutsche Stimmen, die auch Ernst Kaltenbrunner selbst aufgriff. Dieser, damals noch Höherer SS- und Polizeiführer für den Wehrkreis XVII/Donau (HSSPF), richtete am 16. September 1942 in Zusammenhang mit der in Lenzing aufgeflogenen riesigen Unterschlagungsaffäre von Lebensmitteln einen Brief an den Chef des Hauptamtes Persönlicher Stab RFSS, General der Waffen-SS Karl Wolff : »Wie ich Ihnen
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schon bei Ihrem letzten Besuch in Wien kurz mündlich vortragen konnte, erscheint der Staatsrat und SS-Brigadeführer Schieber in eine arge Lebensmittelschiebungsaffäre der Lenzinger Zellwolle AG, Oberdonau verwickelt und stark belastet. Einer seiner Brüder sieht im Zustand der Haft seiner Aburteilung entgegen, ein zweiter Bruder, den er in das Direktorium zu schieben versuchte, musste wegen mehrfacher Vorstrafen das Feld auf meine Intervention wiederum räumen. Nun haben die verschiedensten Kräfte, an der Spitze Reichsminister Speer, den Gauleiter und Reichsstatthalter Eigruber so weit gebracht, dass er einer neuerlichen Funktionsaufnahme des Staatsrates Schieber in Lenzing, Oberdonau, zugestimmt hat. Dieser«, so Kaltenbrunner, »in meinen Augen völlig fehl am Platze stehende Mann versucht nun, sein Ansehen dadurch wieder zu heben, dass er in Oberdonau in SS-BrigadeführerUniform herumläuft, was einer argen Ansehensschädigung der SS gleichkommt …« Kaltenbrunner räumte ein, dass Speer und Hitler auf Schieber wegen seiner Arbeitskraft nicht verzichten könnten, ersuchte aber, Schieber von höchster Stelle nahezulegen, in Oberdonau nicht in SS-Uniform aufzutreten.36 In einer am 31. Juli 1942 von Schieber in Lenzing einberufenen Krisensitzung mit jenen Herren, die nicht in Haft waren (es fehlten sowohl Schlie und Bickelhaupt wie auch seine beiden Brüder), suchte Schieber einerseits zu beruhigen, andererseits die Kompetenzen neu zu ordnen. »Die augenblickliche Situation schmerze alle persönlich«, meinte Schieber. Die Gründe für seine seltene Anwesenheit – besonders nach den Geschehnissen im Werk in der letzten Zeit – seien nicht Feigheit oder Flucht vor der Verantwortung, sondern die überaus starke Inanspruchnahme durch die Aufgaben im Munitionsministerium und im Führerhauptquartier.37 Die Anklagen gegen Wilhelm Böninger (Wohnungsreferent und Referent für uk-Stellungen), Erich Füssler (Leiter der Küchenbetriebe), dessen Frau Karoline Füssler, Reinhold Schieber, den Abteilungsleiter Johannes Arnoldt, Ing. Richard Bickelhaupt, Dr. Werner Schlie und Gen.-Dir. Walter Schieber mündeten in zahlreiche Prozesse, die bei niederrangigen Werksangehörigen zu Verurteilungen vor dem Sondergericht Linz führten, bei den höherrangigen, insbesondere Dr. Schieber, sich vor SS-Ehrengerichten und ordentlichen Gerichten bis Kriegsende hinzogen. Darauf bezieht sich auch der Hinweis auf die stark erschütterte Lenzinger Betriebsgemeinschaft, von der im Jahresbericht 1944 gesprochen wird.38 Im ganzen Bezirk Vöcklabruck schien sich damals ein riesiges Netzwerk von Lebensmittelschwindeleien und kriegswirtschaftlicher Korruption entwickelt zu haben, das mit Lenzing in Verbindung stand. Am 22. 4. 1942 berichtete der Generalstaatsanwalt beim OLG Linz dem Reichsjustizminister von einem sehr auffälligen Anstieg der Sondergerichts-Sachen wegen Vergehens gegen die KWVO : in den Monaten Februar und März 1942 seien 208 Sachen angefallen (gegen 27 im Dezember 1941 und Jänner 1942), die meisten davon im Kreis Vöcklabruck mit 130 (gegenüber 10 in der Vorperiode), hauptsächlich Schwarzschlachtungen.39
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Mehrere Bauern und Fleischhauer wurden wegen der Schwarzschlachtungen zum Tode verurteilt, andere, etwa die Pächterin der Lenzinger Werkskantine Theresia K., zu mehrjährigen Gefängnisstrafen. »Sie sei zu bedauern, weil sie lediglich die leitenden Herren des Betriebes gedeckt habe. Sie sei bestraft worden, während die Nutznießer, die leitenden Herren, bei ihr jahraus und jahrein gegessen hätten, ohne Marken dafür abzugeben«, sagte der Vöcklabrucker Kreisbauernführer Ludwig Frickh am 27. 6. 1942 aus.40 Das Verfahren gegen Vorstandsdirektor Werner Schlie wurde aus dem Sondergerichtsverfahren ausgeschieden und dem ordentlichen Landgericht Wels zugewiesen. Schlie wurde 1942 für fünf Monate in Untersuchungshaft genommen. Im Jänner 1944 wurde von der Oberstaatsanwaltschaft die Anklage gegen ihn zurückgezogen.41 Dennoch war ein Verbleiben Schlies im Vorstand nicht weiter angebracht. Für ihn war schon am 8. 12. 1942 Dr. Franz Wegener in den Vorstand aufgenommen worden. Mit 30. September 1944 musste Schlie aus dem Lenzinger Vorstand definitiv ausscheiden. Er erhielt eine Position als Geschäftsführer im ZKR.42 Das ermöglichte ihm nach Kriegsende eine relativ komfortable Position, in der er auch kurzzeitig wieder in den Lenzing-Vorstand zurückkehren konnte. Was aus der Anklage gegen Bickelhaupt wurde, konnte nicht geklärt werden. Jedenfalls schied er am 23. 11. 1943 aus dem Vorstand aus und wurde durch Dr. Heinz Zak, einen Österreicher, ersetzt. Auch gegen zwei Brüder von Dr. Schieber, Reinhold und Werner Schieber, wurden Sondergerichtsverfahren eröffnet, die nach Meinung Ernst Kaltenbrunners angeblich nur aus Rücksicht auf Walter Schieber und seine hohe Position im Ministerium nicht zu Todesstrafen geführt hätten.43 Reinhold Schieber sei wegen Schieberei und Schwarzhandel vernommen worden, und auch Werner Schieber, der wegen Kuppelei und Erpressung vorbestraft sei, habe große Mengen Bohnenkaffee und eine Unzahl Benzinmarken vom Betrieb erhalten.44 Auch Walter Schieber selbst wurde von Lenzinger Zeugen bezichtigt, verschiedentlich Lebensmittel ohne Marken bezogen und solche in größeren Mengen mit dem Kraftwagen weggeschafft zu haben. Aber erst am 4. Oktober 1944 wurde Dr. Walter Schieber beim Sondergericht Weimar wegen schwerer kriegswirtschaftlicher Vergehen angezeigt.45 Schieber habe als Betriebsführer der Thüringischen Zellwolle AG innerhalb der Werksgruppe zwei seiner Brüder als leitende Angestellte bzw. Werksdirektoren eingesetzt, und zwar Herrn Reinhold Schieber in Lenzing/Oberdonau und Herrn Werner Schieber (der bereits zwölfmal einschlägig vorbestraft gewesen sei, u.a. wegen Diebstahl, Wechselfälschung etc.) als Betriebsführer und Direktor in Wildshausen/Westfalen. Von der Staatsanwaltschaft Dortmund wurde gegen Werner Schieber ermittelt. Walter Schieber hingegen war schon Ende April 1944 aus dem Wildshausener Vorstand ausgeschieden und nicht, wie sonst üblich, in den Aufsichtsrat aufgerückt. Beide Brüder seien inzwischen vom Sondergericht als Kriegsverbrecher verurteilt worden, und zwar der eine zu zwei Jahren und der
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andere zu fünf Jahren Zuchthaus, hieß es in der Begründung der Vorwürfe gegen Dr. Schieber. In einer Aktennotiz vom 27. Juli 1944 wurde festgehalten, dass sich das Reichsjusitzsministerium inzwischen für die gesamte Familie Schieber interessiere. Schieber habe noch zwei weitere Brüder. Einer davon soll noch weit stärker kriminell belastet sein als Werner und Reinhold.46 Der wesentlichste Vorwurf betraf die Benzin-Unterschlagungen der beiden Brüder, wobei Benzin, das aus Schwarza stammte, waggonweise verschoben worden sei, so dass davon ausgegangen wurde, dass auch Dr. Walter Schieber in Wirklichkeit involviert sein musste. Daneben wurden in großem Umfang Schwarzkonten geführt, um bewirtschaftete Güter (Benzin, Lebensmittel, Holz, vor allem für Privatzwecke) auf dem Schwarzmarkt zu kaufen, vor allem auch über den achtmal vorbestraften Sekretär von Dr. Walther Schieber, Herrn Siegfrid Polack. Schon 1942 sei der Thüringischen Zellwolle deswegen von der Treuhandgesellschaft beinahe der Prüfbericht verweigert worden.47 Zudem habe sich Dr. Walther Schieber vom dritten bis zum fünften Kriegsjahr in der Nähe von Schwarza einen Bauernhof mit Wirtschaftsgebäuden errichten lassen, mit Materialien und Arbeitskräften der Thüringischen Zellwolle. Schieber soll auch, hieß es in der Aktennotiz, eine übel beleumdete Person, die bereits 19-mal vorbestraft sei, beauftragt haben, im Linzer Gebiet für ihn Grundstückskäufe zu tätigen. Es handle sich um den Pinsdorfer Gastwirt G., der zuletzt vom Landgericht Linz zu 16 Monaten Zuchthaus wegen Schwarzschlachtungen bestraft worden sei.48 Das Korruptionsverfahren gegen Schieber wurde vor Kriegsende nicht abgeschlossen. Vom nationalsozialistischen System angeklagt gewesen zu sein, konnte aber in weiterer Folge recht nützlich sein : Dr. Schieber und auch Dr. Schlie konnten damit nach dem Krieg Anklagen entgehen oder diese weitgehend abschmettern. 1945 wurde Schlie kurzzeitig als Direktor in Lenzing wieder eingestellt. Und Schieber blieb im Unterschied etwa zu Pleiger oder Kehrl nach dem Krieg nur zwei Jahre interniert. Eine Haftstrafe verbüßte er nicht.
SS-Brigadeführer Schieber und SS-Obergruppenführer Kaltenbrunner: eine Todfeindschaft Schiebers Sturz wurde von langer Hand vorbereitet. Führend beteiligt waren der Chef des Amtes SD-Inlandsdienst, SS-Brigadeführer Otto Ohlendorf,49 und SSObergruppenführer Ernst Kaltenbrunner. Es ging nur vordergründig um Korruption. Dass Kaltenbrunner in der Bekämpfung von Korruption nicht immer so rigide argumentierte wie bei Schieber, ist aus einer anderen oberösterreichischen Lebensmittelaffäre bekannt, wo er seine schützende Hand über den SS-Sturmbannführer und abgesetzten Oberbürgermeister von Linz Josef Wolkerstorfer hielt, der in den
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Skandal bei den Hermann-Göring-Werken verwickelt war. Sicherlich war Kaltenbrunner dafür bekannt, dass er Oberösterreicher eher schützte als Reichsdeutsche. Aber es ging in der Affäre Schieber um viel tiefer gehende SS-interne Konflikte.50 Schieber wurde seit Langem überwacht. Am 6. Juli 1944 schrieb er diesbezüglich an den Reichsführer SS persönlich und vertraulich : »Reichsführer ! Seit Monaten weiß ich, dass meine industrielle Tätigkeit, die nur noch einen ganz geringen Teil meiner Arbeitskraft in Anspruch nimmt, sowie mein persönliches Leben vom Reichssicherheitshauptamt scharf überwacht und überprüft werden.« Bei einem Zusammentreffen Hitlers mit Speer Ende April 1944 soll Hitler Speer nach eigener Aussage eröffnet haben, dass Schieber unter dem Verdacht stehe, seine Flucht ins Ausland vorzubereiten.51 SS-Untersturmführer Polack wurde von der Geheimen Staatspolizei festgenommen, eine Haussuchung bei Polack durchgeführt, Vermerke über Schiebers vier Brüder und über seine Kontakte zu einem angeblich wegen Schwarzschlachtung zu 16 Monaten Gefängnis verurteilten Gastwirt aus Pinsdorf/ OÖ wurden angelegt und weitere Verdächtigungen registriert.52 Es würden Hausdurchsuchungen vorgenommen und Zweifel an seiner wissenschaftlichen Arbeit geäußert, beschwerte sich Schieber. Er ersuchte Himmler daher, ein Ehrengerichtsverfahren gegen ihn einzuleiten. Am 31. Oktober 1944 wurde Schieber auf Anordnung Hitlers als Chef des Rüstungslieferungsamtes im Rüstungsministerium abgesetzt. Speer schreibt : »Am 31. Oktober musste ich Schieber unterrichten, dass der Druck einzelner Gauleiter auf Reichsleiter Bormann so stark geworden sei, dass ich ihn nicht mehr halten könne.«53 Schieber schrieb darauf am 31. Oktober an Speer : »In der heutigen Besprechung haben Sie mich davon unterrichtet, dass von mehreren politischen Stellen in zunehmendem Maße gegen meine Person Bedenken und gegen meine Arbeit Einwendungen erhoben werden und dass ich nicht mehr das volle Vertrauen unserer Führung habe …« Schieber legte die Entscheidung in Speers Hände, betonte aber, dass er ein solches Ausscheiden als unverdiente Kränkung empfinde, zumal die Untersuchungen durch den Reichsführer SS gegen ihn nichts ergeben hätten.54 Minister Speer sprach beim Mitarbeiterappell und Stehempfang am 15. November 1944, in welchem das Ausscheiden von Staatsrat Dr. Schieber mitgeteilt wurde, von einer künftigen Beauftragung mit wichtigen Sonderaufgaben. Gleichzeitig erfolgte durch den Minister die Aushändigung der vom Führer verliehenen Schwerter zum Ritterkreuz.55 Drei der Speer’schen Amtschefs wurden damals zur gleichen Zeit abberufen, Walther Schieber als Chef des Rüstungslieferungsamtes, General Waeger als Leiter des Rüstungsamtes und Willy Liebel vom Zentralamt.56 Speer scheint Schieber, obwohl er dies in seinen Erinnerungen zu bestreiten suchte, immer wieder und bis zuletzt protegiert zu haben. Um den Angriffen gegen Schieber und dessen Vertrauten Polack entgegenzuwirken, erreichte Speer seiner eigenen Darstellung zufolge Anfang Februar 1943 das Einverständnis Hitlers »ent-
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gegen seiner anfänglichen Ablehnung, dass der Prokurist Pollack (sic !) das Kriegsverdienstkreuz I. Klasse erhielt«. »Schließlich«, so schreibt Speer, »waren, im Vergleich zu den geduldeten Korruptionsfällen von den Gauleitern bis zu Göring, die von Himmler gegen Schieber erhobenen Vorwürfe vollkommen unerheblich.«57 Am 5. Dezember 1944 intervenierte er bei der Thüringischen Zellwolle zugunsten von Walter Schieber. Er schrieb in diesem Brief : »Das Ergebnis des Verfahrens wird dem Führer gemeldet werden, der dann eine Entscheidung treffen wird, bei der auch die außerordentlichen Verdienste, die sich Herr Dr. Schieber um die deutsche Rüstung erworben hat, entsprechend gewürdigt werden. Ich bitte Sie deshalb, von der obenerwähnten Beschlussfassung (Abberufung von allen Ämtern in der Thüringischen Zellwolle) abzusehen. Ich werde Sie seinerzeit über die vom Führer getroffene Entscheidung unterrichten.«58 Der amtierende Vorsitzende des Aufsichtsrats der Thüringischen Zellwolle, Harnack, erwiderte am 15. Dezember 1944 sehr höflich, wobei er auf die Schieber zur Last gelegten Verfehlungen und Unterschlagungen verwies und Speer über die in der Aufsichtsratssitzung am 5. Dezember 1944 gefasste Entscheidung informierte, Schieber von den Hauptversammlungen in Ehingen am 11. Dezember und in Schwarza am 15. Dezember als Aufsichtsratsmitglied abberufen zu lassen. Auf die Intervention Speers hin sei Schieber in Ehingen nicht abberufen worden und sei die Hauptversammlung in Schwarza vertagt worden. Die am 5. Dezember ausgesprochene Abberufung als Vorstandsvorsitzender der Thüringischen könne aber nicht mehr rückgängig gemacht werden, nachdem vorher bereits vier mit Nachdruck durchgeführte Versuche der Thüringischen Zellwolle, Dr. Schieber zu einem freiwilligen Ausscheiden und einer freundschaftlichen Regelung zu bewegen, gescheitert seien.59 Harnack erläuterte Speer, dass das Vertrauensverhältnis zu Schieber unabhängig vom Ausgang eines Sondergerichtsverfahrens nicht mehr gegeben sei, und ersuchte Speer, auf Schieber einzuwirken und ihn auch zum sofortigen Ausscheiden aus der Schwäbischen Zellstoff AG, der BiosynGmbH und der Bionahr zu bewegen. Am 26. Jänner 1945 fanden sich in diesem Zusammenhang Vertreter des Aufsichtsrats der Thüringischen Zellwolle (Harnack, Stöhr, Sudeck) auch bei SS-Obergruppenführer Dr. Kaltenbrunner ein. Der von Harnack und Präsident Stöhr über dieses Gespräch angefertigten Aktennotiz sind interessante Aufschlüsse zu entnehmen. Kaltenbrunner sagte in diesem Zusammenhang, schon in seiner Zeit als Polizeichef von Wien habe er dem Reichsführer SS den Vorschlag gemacht, Dr. Schieber aus der SS hinauszuwerfen. Da in der damaligen Zeit Dr. Schieber aber gerade notwendige Edelmetalle aus Spanien besorgt habe (in der Aktennotiz der Zellwolle findet sich dabei ein Fragezeichen), habe der Führer ihm wieder verziehen. Bei den späteren weiteren Aufdeckungen habe man nicht mehr frei handeln können, um nicht den Führer in seinen Entscheidungen zu desavouieren. Ihm, Kaltenbrunner, seien dann
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die Dinge über den Sandhof, über die Führertäuschung und über die schwarzen Kassen berichtet worden. Auch sei er zu der Angelegenheit Werner Schieber gehört worden, bei der der Reichsjustizminister eine Umwandlung des Urteils von Haft in Todesstrafe gewünscht habe. Diesen Wunsch habe man aus politischen Rücksichten zurückgestellt, solange Dr. Schieber im Ministerium die beherrschende Stellung innehatte. Er selbst habe Reichsminister Speer mehrere Male auf dessen Wunsch hin die neuerlichen Ermittlungen über den Fall Schieber vorgetragen und der Reichsminister habe seinerseits die Akten mit der Mitteilung an sich genommen, dass er dem Führer gelegentlich den Fall unterbreiten und zu einer Entscheidung vorlegen werde. Dies sei bislang noch nicht geschehen. Er, Kaltenbrunner, und seine Organisation hätten sich immer schroff gegen Schieber gestellt : »Das können Sie hier von mir verbindlich entgegennehmen, dass wir uns in keiner Weise hinter Dr. Schieber stellen werden oder irgendetwas für ihn unternehmen werden. Sie müssen nach dem Gesetz handeln, und da hilft Ihnen kein Speer und kein Kehrl …«60 Die SS befand sich im Dilemma. Denn die Vorgangsweise glich, wie Kaltenbrunner zugab, einem Zickzackkurs : »Rauswerfen aus dem Parteiamt ohne Uniform – Beibehaltung als SS-Brigadeführer mit Uniform – Verleihung der Schwerter zum Ritterkreuz durch den einen Minister – Eröffnung des Sondergerichtsverfahrens durch den anderen Minister …«61 Kaltenbrunner erhielt bei der erwähnten Vorsprache in einem in Anwesenheit der Vertreter der Thüringischen Zellwolle geführten Telefonanruf von Staatssekretär Pfundtner vom Reichsjustizministerium die Auskunft, aus dem jetzigen Material ergäbe sich ganz klar Untreue und kriegswirtschaftliches Verbrechen. Kaltenbrunner empfahl daher Harnack, an Speer folgenden Brief zu schreiben : »Die Verhandlungen über das freiwillige Ausscheiden Schiebers seien zum Scheitern gekommen, indem am selben Tage mit der Verleihung der Schwerter das Sondergerichtsverfahren eröffnet wurde, an welchem der Gauleiter inzwischen Dr. Schieber unter entehrenden Bedingungen seines Parteiamtes habe entheben lassen. Da aber andererseits weitere Ermittlungen zusätzliche Verfehlungen ergeben hätten … etc.«62 Zuletzt teilte Kaltenbrunner mit, dass er ein Naheverhältnis zu Gauleiter Eigruber habe. Diesem habe er gesagt, er sei damit einverstanden, wenn Dr. Schieber sich in Lenzing ansiedle und hier als Betriebsführer bleibe. Stöhr bekräftigte dies mit der kryptischen Bemerkung, »dass das Projekt schon einer großen Arbeit wert sei und auf diesem Gebiet die besten Gaben von Dr. Schieber liegen«.63 Auch LänderbankDirektor Leonhard Wolzt drückte Anfang 1945 die Hoffnung aus, dass Generaldirektor Schieber sich ausschließlich mit Lenzing befasse und die Dinge dort in die Hand nehmen möge.64 Es wurde ein Vertragswerk ausgearbeitet, das das Ausscheiden Schiebers aus den wesentlichen Funktionen der Zellwollwirtschaft regeln sollte. Die erste Fassung dieser sogenannten »Saalfelder Formel« beinhaltete nicht nur das Ausscheiden aus
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allen Funktionen in Schwarza, sondern stellte auch den Verbleib in Lenzing der Zustimmung aller Mitglieder des Zellwolle- und Kunstseideringes anheim. Seine Sonderfonds (Verfügungsfonds Dr. Schieber) und sein Arbeitsstab sollten aufgelöst werden. Bei einer ehrengerichtlichen Verurteilung behielt sich Schwarza alle weiteren Schritte vor. In der letzten Version der »Saalfelder Formel« erklärte sich Schieber schließlich bereit, bis 20. Februar 1945 sämtliche Ämter im Interessenkreis der Thüringischen Zellwolle niederzulegen (Thüringische Zellwolle, Schwäbische Zellstoff, Biosyn, Bionahr). Sein Verbleiben als Aufsichtsratsvorsitzender des ZKR, des sichtbarsten und repräsentativsten Postens der ganzen Zellwoll-Industrie, und sein Verbleiben als Vorstandsmitglied der Lenzing stellte er aber zur Bedingung.65 Schwarza bestand aber auch auf dem Ausscheiden Dr. Schiebers aus dem ZKR. In einer Aufsichtsratsbesprechung der Thüringischen Zellwolle vom 23. Februar 1945 wurde folgendes Szenario entwickelt : Der ZKR bleibt erhalten, aber Lenzing und Litzmannstadt mit Dr. Schieber scheiden aus. Diese Lösung würde für Schwarza die beste sein, weil die beiden kränksten Glieder und Dr. Schieber dann wegfallen. Allerdings wäre dazu niemals die Genehmigung von Herrn Kehrl zu erhalten. Bei dieser Lösung würden nämlich die Werke Lenzing und Litzmannstadt in ganz kurzer Zeit in eine unrettbare Situation hineingleiten. Die andere Lösung : Schwarza tritt aus dem ZKR aus und würde gleich nach dem Austritt einen neuen ZKR ohne Lenzing und Litzmannstadt gründen. Ebenfalls unmöglich. Daher wird eine Lösung unter Beibehaltung der gegenwärtigen Konstruktion, aber unter Reduzierung der Sonderrechte von Dr. Schieber angestrebt. Die Herren von Schwarza würden dann aber aus dem Aufsichtsrat von Lenzing ausscheiden. »Beide Herren (Stöhr und Harnack) sind sich aber darüber einig, dass sie um eine deutliche Darlegung ihrer Gründe nicht herumkönnen, weil sonst der Eindruck entstehen würde, dass sie Lenzing der schlechten wirtschaftlichen Lage wegen ›wie die Ratten das sinkende Schiff‹ verlassen, während sie ja in Wahrheit Lenzing nur deswegen verlassen, weil sie mit Dr. Schieber keine Verbindung mehr wünschen, andererseits aber Dr. Schieber nicht die Möglichkeit nehmen wollen, in Lenzing Vorstand zu bleiben.«66 Berichtet wurde auch, dass Lenzing ganz stillliegt und Zehlendorf unmittelbar vor der Stilllegung ist, so dass fast die ganze Last im ZKR auf Schwarza liegt. Die Herren stimmten auch dem Vorschlag des Vorstands zu, die Beteiligung an Lenzing in Höhe von einer Million RM alsbald zu verkaufen.67 Schwarza war daran interessiert, mit der Ablöse Schiebers sich aus dem staatlichen und parteipolitischen Einflussbereich lösen zu können, zumal mit der 1944 erfolgten Tilgung der Schwarza gewährten reichsverbürgten Kredite das staatliche Mitspracherecht im Aufsichtsrat weggefallen war. Schieber kam der Abberufung zuvor. Mit Wirkung 17. März 1945 hatte er sein Mandat als Aufsichtsrat, ebenso in allen anderen Gremien, die der Thüringischen Zellwolle nahestehen, freiwillig niedergelegt und seine vertraglichen und pensionsrechtlichen Ansprüche zu einem Teil der NSDAP Thüringen übertragen. Mit die-
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sem Schritt wollte er sich offensichtlich seine Abfertigungs- und Pensionsansprüche sichern. Mit Genehmigung des Aufsichtsrats hatte der Vorstand bereits zum 31. Dezember 1944 die Zurverfügungstellung eines Vorsitzerbüros, der Automobile, der Flugzeuge usw. gekündigt und den Arbeitsstab Dr. Schieber, soweit er aktienrechtlich eine Betriebsstätte der Thüringischen Zellwolle war, aufgelöst.68 Schieber war zur Untätigkeit verurteilt. Bereits am 6. Dezember 1944 schrieb Dr. Werner Schlie an seine Frau Liselotte : Schieber sitze zu Hause, in SS-Uniform mit Ritterkreuz und Schwertern, und seine Frau putze. Er beklage sich darüber, dass er nichts zu tun habe, was für ihn sehr ungewohnt sei. »In die Ferien fährt er per Eisenbahn, also steht ihm ein Auto wohl nicht mehr zur Verfügung … Dr. Schieber will übrigens im Januar vier Wochen nach Lenzing gehen, da er die dortige missliche Lage nicht auf Fehlplanung zurückführt, sondern lediglich auf schlechtes Management.«69 Am 3. Jänner 1945 teilte Rechtsanwalt Dr. Ludwig Langoth Herrn Dr. Werner Schlie brieflich mit, dass Gauleiter Eigruber Dr. Schieber weiter zu halten gedenke. Sein Gewährsmann aus der Umgebung des Gauleiters sei mit zwei anderen Herren persönlich beim Chef (d.h. Eigruber) gewesen, um ihm diese Absicht auszureden, jedoch vergeblich. Eigruber erklärte ausdrücklich, er habe dermalen keinen Anlass, seine Absichten aufzugeben.70 In Lenzing waren die wirtschaftlichen Probleme inzwischen existenzbedrohend geworden. Länderbankdirektor Leonhard Woltz, der im Aufsichtsrat von Lenzing saß, drückte die Hoffnung aus, dass Generaldirektor Schieber sich nunmehr ausschließlich mit Lenzing befassen und die Dinge dort in die Hand nehmen möge.71 Er lehnte aber Lenzings Ersuchen nach weiteren Krediten rundweg ab.
Dr. Schieber, die Zwangsarbeit und die Konzentrationslager Die Gegnerschaft zwischen Kaltenbrunner und Schieber, die spätestens 1942 begonnen hatte, im Jahr 1944 ihren Höhepunkt erreichte und 1945 Hitler zur persönlichen Entscheidung überlassen worden war, hatte zweifellos tiefer gehende Ursachen, als es die persönlichen Antipathien, aufgestauten Rachegefühle oder Korruptionsvorwürfe waren. Es wäre zu kurzsichtig, darin bloß die Empörung Kaltenbrunners über korrupte Strukturen oder über arrogantes Auftreten deutscher Nationalsozialisten in Österreich zu sehen. Hinter dem massiven Konflikt, der 1944 zwischen dem Rüstungsministerium und der SS aufbrach und der schlussendlich zur weitgehenden Entmachtung Walter Schiebers führte, verbirgt sich ein tief gehender Streit zwischen der SS und ihrem Konzentrationslagerkomplex einerseits und der Industrie und ihrem Bedarf an Arbeitskräften andererseits. Die Industrieführer verlangten den Einsatz der Häft-
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linge direkt in den Industriebetrieben und außerhalb der Konzentrationslager, während maßgebliche SS-Exponenten einen gesonderten SS-Rüstungskomplex innerhalb der Lager und auf Rechnung der SS aufbauen wollten.72 Dr. Schieber geriet ins Schussfeld der SS, weil er sich gegen deren Politik der wirtschaftlichen Ausweitung und Aufblähung der Konzentrationslager wendete und diese zunehmend heftiger kritisierte. Es hatte sich ein genereller Gegensatz zwischen Industrie und SS aufgebaut, was die Behandlung der ausländischen Arbeitskräfte, aber auch den Einsatz der Konzentrationslagerinsassen für die Industrieproduktion betraf. Walter Schieber und der Gauleiter von Oberdonau, August Eigruber, traten für einen rationelleren Umgang mit den ausländischen Arbeitskräften ein, wogegen für Himmler und das Reichssicherheitshauptamt hauptsächlich die Sicherheitsaspekte im Vordergrund standen, aber auch die Machtvergrößerung der SS und die Absicherung ihres Waffen- und Ausrüstungsbedarfs durch SS-eigene Produktionen in den Konzentrationslagern.73 Das bedeutet aber nicht, dass Schieber für eine humane Behandlung der Zwangsarbeiter eingetreten wäre. Seine zutiefst rassistische Sicht wird aus zahlreichen Quellen deutlich.74 Walter Schieber war am Anfang maßgeblich am Aufbau der Industriefertigungen in den Konzentrationslagern beteiligt. Er hatte in seiner Funktion im Rüstungsministerium die Kontakte zu den Konzentrationslagern übernommen. Nachdem Anfang März 1942 in einer Besprechung mit Hitler der Einsatz von KZ-Häftlingen in der Rüstungsproduktion vereinbart worden war, folgte am 16. März 1942 eine Besprechung zwischen den Amtschefs im Rüstungsministerium Karl-Otto Saur und Walter Schieber und Vertretern der SS (SS-Brigadeführer Glücks) über diese Rüstungsfertigungen in Konzentrationslagern : »Die Gesamtaufgabe des Einsatzes von Konzentrationslagern für die Rüstung hat Herr Staatsrat Dr. Schieber übernommen. Er wird so rasch wie möglich zwei Beispiele durchexerzieren, und zwar zunächst mit den Lagern Buchenwald bei Weimar und Neuengamme bei Hamburg«, heißt es im Protokoll, das Saur anfertigte.75 Da Dr. Walter Schieber neben seinen Funktionen in den Zellwollunternehmen und im Rüstungsministerium auch Vorsitzender des Aufsichtsrates und Betriebsführer der Weimarer »Wilhelm Gustloff Werke, Nationalsozialistische Industriestiftung« war, ergriff er die Gelegenheit, mit den Gustloff-Werken im KZ Buchenwald ein großes Rüstungswerk zu errichten, in welchem bis zu 4.500 Häftlinge arbeiten sollten. Schieber veranlasste umgehend die Verlagerung einer Karabiner-Fertigung der von ihm geführten Wilhelm-GustloffWerke ins Konzentrationslager Buchenwald.76 Bei wem die verantwortliche Leitung liegen sollte, ob bei der SS oder bei der Industrie, darüber herrschte keine volle Übereinstimmung. Beide Seiten reklamierten sie für sich. Die Industrie wollte und konnte sie keinesfalls der SS überlassen, zumal die praktische Umsetzung durch die Wilhelm-Gustloff-Werke in Buchenwald und die Firma Carl Walther GmbH, Zella-
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Mehlis in Neuengamme die Probleme und Risken von Produktionsverlagerungen in die KZ-Lager deutlich erkennen ließ.77 Himmler entwickelte Traumvorstellungen von den Erfolgen der in Konzentrationslager verlagerten Waffenproduktionen, die unter Leitung und Regie der SS stehen sollten.78 Die Projekte scheiterten aber nicht nur an der technischen Inkompetenz der SS, sondern auch am Widerstand der privaten Industrie. Die Gustloff-Werke befürchteten, die SS wolle in Buchenwald ein Konkurrenzunternehmen aufbauen.79 Am 15. September 1942 kam es daher in einer Besprechung führender Repräsentanten des SS-WVHA und des Munitionsministeriums zu einer Kurskorrektur. Speer stimmte der Forderung Pohls zu, »die in den Konzentrationslagern vorhandene Arbeitskraft nunmehr für Rüstungsaufgaben von Großformat« einzusetzen, knüpfte aber daran die Bedingung, diese Fertigung aus den Lagern herauszuverlegen. Das war eindeutig als grundlegende politische Weichenstellung gegen eine autonome Rüstungsproduktion der SS zu verstehen.80 Himmler beschwerte sich daher am 25. März 1943 über die Wilhelm-Gustloff-Stiftung, die den Betrieb in Buchenwald eher als Konkurrenz statt als Ergänzung betrachte, und knüpfte daran die Forderung, nochmals zu überlegen und zu prüfen, »ob es nicht doch besser wäre, wenn die Firmen an uns die Fachkräfte abstellen und wir in dem Tempo, das wir gewöhnt sind, als selbstverantwortliche Leute arbeiten können«.81 Die Konzepte für den Arbeitskräfteeinsatz, die von Schieber und der Rüstungswirtschaft entwickelt wurden, deckten sich nicht mit den Vorstellungen der SS, die ein eigenständiges, von ihr dominiertes Wirtschaftsimperium aufbauen wollte. Nachdem das Rüstungsministerium und die Industrie sich erfolgreich gegen Betriebsverlegungen direkt in die Lager und in die Selbstverantwortung der SS zur Wehr setzten, machte die SS den Häftlingsverleih an die Betriebe zum großen Geschäft, ohne dass daraus wirklich ein Geschäft wurde. Denn das vereinnahmte Geld war von der SS an das Reich weiterzuleiten.82 Seit 1943 dehnte die SS die Häftlingszahlen in den Konzentrationslagern massiv aus, um sie verleihen zu können.83 Schieber und das Rüstungsministerium aber wollten über die Arbeitskräfte lieber direkt verfügen statt auf dem Umweg über die SS. Im März 1944 brachte die SS ihren Unmut über die ihren Absichten zuwiderlaufenden Vorstellungen des RMRK verstärkt zum Ausdruck. In scharf formulierten Protestschreiben forderten sowohl Pohl als auch Himmler den Chef des Rüstungslieferungsamtes des RMRK, Schieber, nachdrücklich zu einer kooperativen Haltung der SS gegenüber auf.84 Am 7. Mai 1944 schrieb Schieber vertraulich und persönlich an Speer und äußerte seine Kritik an der Konzentrationslagerpolitik der SS sehr offen : »Ich bin verpflichtet, Ihnen einmal zusammengefasst über eine sehr ernste Gefährdung der Produktion zu berichten : Von dem hohen Prozentsatz ausländischer, insbesondere russischer Arbeiter in unseren Rüstungsbetrieben geht allmählich ein nicht mehr zu vernachlässigender Anteil in die Wirtschaftsbetriebe der SS über und damit uns
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verloren. Sie wissen, dass wir – mit den russischen Arbeitskräften, insbesondere mit den Frauen – bei vernünftiger Behandlung zufrieden sind. Viele von ihnen, die aus verständlichen Gründen einer starken Fluktuation zuneigen, werden jetzt von den Polizeiorganen bei irgendwelchen Verstößen den SS-Betrieben zugewiesen und kehren zur alten Arbeitsstätte nicht mehr zurück. Dieser Entzug wird verursacht durch die immer weitere Ausdehnung des großen Wirtschaftskonzerns der SS, die insbesondere von Obergruppenführer Pohl konsequent weiterverfolgt wird. Nach den vielen Betrieben ziviler Fertigung kommen jetzt immer mehr bekannte und auch geheim gehaltene Waffenfertigungs- und allgemeine Rüstungsbetriebe dazu.« Der Reichsführer SS baue sich einen immer größer werdenden Konzern als finanzielle Grundlage für die verschiedensten Aufgaben der SS auf, meinte Schieber : »Dabei spielt auch die ausgeprägte Stellungnahme der SS gegen den Gedanken der Selbstverantwortung der Wirtschaft eine nicht unwesentliche Rolle. Durch das nahezu unbeschränkte Verfügen über Arbeitskräfte – auch bester Fachausbildung – im Anschluss an die KZ-Lager wird diese Expansion wesentlich erleichtert.« 85 Schieber führt in dem Schreiben dann zahlreiche Beispiele an, die sich auf den Bereich der Waffenproduktion, der Fahrzeugproduktion, der chemischen Industrie etc. bezogen. Er verwies auf eine Vereinbarung des Rüstungsministers mit dem Reichsführer SS, von den Arbeitskräften aus den SS-Lagern einen gewissen Anteil der Wirtschaft zur Verfügung zu stellen : »Wir hatten dafür allerdings den Aufbau der viele Reibungen verursachenden KZ-Abteilungen in unseren Rüstungsbetrieben auf uns zu nehmen. … Durch die jetzige Tendenz bei der SS wird der erreichte Anfangserfolg nicht nur zunichte gemacht, sondern darüber hinaus eine große Zahl ausländischer Arbeitskräfte uns entzogen, weil mit allen Mitteln die Zahl der KZLagerinsassen vermehrt werden soll, und zwar indem bei triftigen oder unwichtigen Verfehlungen der Ausländer diese von den Ausländerlagern in die KZ-Lager überführt werden. Dazu kommt weiter die Forderung der SS auf Abgabe der vielen jüdischen, insbesondere weiblichen Arbeitskräfte, die in der Zulieferindustrie – wie ich behaupte gern und mit besonderem Fleiß arbeiten. Mit der Verpflegung, wie sie von unseren Betriebsführern für die bei ihnen tätigen Lagerarbeitskräfte, trotz aller Erschwerungen, immer wieder beigeschafft wird und bei der allgemeinen anständigen und menschlichen Behandlung, auch der ausländischen und der KZ-Arbeitskräfte, arbeiten sowohl die Jüdinnen wie die KZler gut und tun alles, um nicht wieder ins KZ zurückgeschickt zu werden. Die Tatsachen fordern eigentlich, dass wir noch mehr KZ-Insassen in die Rüstungswirtschaft überführen.«86 Dieser wertvolle Arbeiterstand solle nicht an die unkontrollierten SS-Betriebe nahezu verloren gehen, forderte Schieber. »Ich habe die ganze Frage eingehend mit dem Beauftragten von Obergruppenführer Pohl, Sturmbannführer Maurer, durchgesprochen und ihn vor allem darauf hingewiesen, dass doch bei einer dezentralen Aufteilung der KZ-Arbeitskräfte eine fachlich zweckmäßigere Ausnutzung ihrer
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Arbeitskraft bei besserer Verpflegung und vernünftigerer Unterbringung möglich sei. Dem hält Maurer entgegen, dass die SS nicht genügend Wachmannschaften bei einer großen Verzettelung in viele kleine Arbeitsabteilungen bereitstellen könne, dass von uns nicht genügend Stacheldraht geliefert würde, um ein Fabriklager umzäunen zu können, und dass die Gefahr der geheimen Sabotage in Nicht-KZ-Betrieben bei der dort nicht so gewährleisteten strengen Beaufsichtigung und Disziplin nicht unterschätzt werden dürfe.«87 Speer machte sich zwar die Ausführungen Schiebers zu eigen und trug sie im Juni 1944 mit der Forderung nach Kontrolle über sämtliche in Lagern befindliche Häftlinge Hitler vor.88 Schieber hatte mit seinen Vorwürfen durchaus recht : denn die SS stellte der Industrie immer größere Mengen von Häftlingen zur Verfügung, nicht als Zivilarbeiter, sondern als KZ-Häftlinge. Allerdings wurde die SS bei der Verteilung immer mehr vom Rüstungsministerium ausgeschaltet, was die SS Schieber zum Vorwurf machte und zu seiner Kaltstellung führte, wobei die mehr oder weniger begründeten Korruptionsanschuldigungen, die von der Gestapo und SS schon seit Längerem gegen ihn gesammelt wurden, den Vorwand boten.89 Schieber konnte offensichtlich noch erreichen, dass am 9. Oktober 1944 das Speer-Ministerium die Verteilung der KZ-Häftlinge auf die Rüstungsbetriebe übernahm und das Wirtschaftsverwaltungshauptamt der SS völlig ausgeschaltet wurde.90 Als eine seiner letzten Akte im Ministerium konnte er wohl auch noch durchsetzen, dass sowohl in der Hirtenberger Munitionsfabrik, einer Tochtergesellschaft der Gustloff-Werke, wie auch in Lenzing im Spätherbst 1944 KZ-Außenlager von Mauthausen eingerichtet wurden und diesen beiden in Schiebers Einflussbereich stehenden Industrieunternehmen fast 1.000 vorwiegend jüdische Frauen aus dem Konzentrationslager Auschwitz als Außenlager des KZ Mauthausen zur Verfügung gestellt wurden.
Walter Schiebers Nachkriegskarriere Über Walter Schiebers Biografie nach dem Zweiten Weltkrieg ist wenig bekannt.91 Am 13. 5. 1945 war er durch US-Besatzungstruppen bei München verhaftet worden ; es folgten Internierungen in Garmisch, Augsburg, Wiesbaden, Kransberg und im Militärgefängnis Nürnberg. Beim Nürnberger Prozess trat er als Zeuge auf.92 Vom 4. 9. 1947 bis 21. 6. 1948 war er in Neustadt (Hessen) interniert und fertigte hier angeblich Berichte über die deutsche Kriegswirtschaft für die Historical Division der US-Armee an.93 In Wahrheit dürfte er für die amerikanischen Streitkräfte an der Entwicklung des Nervengases Sarin gearbeitet haben, wozu 1948 ca. 30 deutsche Chemiker als Spezialisten rekrutiert worden waren. Denn in der Liste dieser deutschen Wissenschafter taucht auch der Name Dr. Walter Schieber auf.94 Der Schluss, dass Schieber angesichts seiner Funktionen als langjähriger Gas- und Chemiekriegs-
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beauftragter der SS, als Leiter der Reichsfachgruppe Chemie im Hauptamt für Technik, als Leiter des Rüstungslieferungsamtes, dem auch der Sektor Giftgas mit der Erzeugung von Tabun und Sarin unterstand, so interessant war, liegt nahe. Nach Kriegsende blieb von Schieber das Bild des Technokraten, der sich wegen der schweren SS-internen Auseinandersetzungen eher als Opfer denn als Täter zu präsentieren vermochte. Sein Wirken in den besetzten Gebieten, in Łódź ebenso wie in Roanne oder Swynarde blieb ebenso unhinterfragt wie seine Beziehungen zu den Konzentrationslagern und zur Zwangsarbeit. Dokumente, die neben einem technokratischen Pragmatismus auch die Verantwortlichkeit für schwere rassistische Diskriminierung belegen, sind erst sehr viel später bekannt geworden oder blieben unbeachtet. Ob Schieber wegen seiner engen Beziehungen zu den Konzentrationslagern und im Lichte seiner chemischen Kenntnisse vielleicht nicht auch in die Einrichtung der Gaskammern in Konzentrationslagern involviert war, wurde nie nachgefragt.95 Am 11. 3. 1948 wurde Schieber durch die Lagerspruchkammer Neustadt in die Gruppe II (Belastete) eingestuft und zu zwei Jahren Arbeitslager (unter Anrechnung der Internierungszeit) verurteilt. Bereits am 21. 6. 1948 wurde er aus der Internierungshaft entlassen. Nach der endgültigen Einstellung des auf sein eigenes Betreiben wieder eröffneten Spruchkammerverfahrens bei der Zentralspruchkammer Hessen Nord in Kassel wurde durch die Zentralspruchkammer Hessen in Frankfurt am 13. 11. 1950 die Einstufung in Gruppe II aufgehoben. Schieber blieb als Mitbegründer und -inhaber eines Chemielabors zur Herstellung von synthetischen Fasern in seinem Heimatort Bopfingen tätig. 1958, als Folge des Österreichischen Staatsvertrags und des mit der BRD am 15. 6. 1957 geschlossenen Deutsch-Österreichischen Vermögensvertrags,96 betreffend das sogenannte »Kleine« Deutsche Eigentum bis zu einer Wertgrenze von 260.000 öS, kam es zu einem kleinen, aber symbolträchtigen Transfer, der als eher merkwürdiger Abschluss einer Epoche erscheinen mag : Mit Bescheid der oberösterreichischen Landesregierung vom 12. September 1958 wurde die öffentliche Verwaltung über das der Republik Österreich gehörende Sondervermögen »Liegenschaft Paul Hermann Schieber und Dr. Ing. Walter Schieber, EZ. 302 und 366 mit Badehütte, KG Litzlberg, GB Vöcklabruck« aufgehoben. Die Liegenschaft wurde an die ehemaligen deutschen Eigentümer Paul Hermann Schieber, Bankbeamter in Iserlohn/ Westf. und Dr. Walter Schieber, Sinsheim/Elsenz, Baden, Karlsplatz 9/I rückübergeben. Es handelte sich um ein Wiesengrundstück im Ausmaß von 2.633 m2 + 2.633 m2, insgesamt 5.266 m2, und eine auf Piloten stehende Badehütte am Attersee, die ca. 10 bis 15 m im See gelegen war. Dieses Grundstück war am 16. Juli 1946 vom Hauptquartier der Streitkräfte der USA in Österreich der Österreichischen Bundesregierung zur treuhändigen Verwaltung übergeben worden und war von dieser an zwei Linzer Privatpersonen verpachtet worden.97
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Dr. Walter Schieber ist am 29. 6. 1960 in Würzburg verstorben.98 Er hatte »Glück«. Im Unterschied zu vielen Opfern der nationalsozialistischen Politik erlebte er noch eine »Rückstellung« seines Besitzes.
Anmerkungen 11 Der Autor bereitet eine ausführliche Darstellung der Zellwolle Lenzing von 1938 bis 1949 vor, in der sämtliche Aspekte von der Arisierung der Bunzl’schen Papierfabrik über Finanzierung und Betriebsergebnisse bis zu Zwangsarbeit und Konzentrationaußenlager, Ernährungsversuche und Übernahme durch österreichische Banken nach dem Krieg behandelt werden. 12 Oliver Rathkolb : Am Beispiel Paul Pleigers und seiner Manager in Linz – Eliten zwischen Wirtschaftsträumen, NS-Eroberungs- und Rüstungspolitik, Zwangsarbeit und Nachkriegsjustiz. – In : Oliver Rathkolb (Hg.) : NS-Zwangsarbeit : Der Standort Linz der Reichswerke Hermann Göring AG Berlin 1938–1945, Bd. 1. Wien 2001. S. 286 ff. ; Kurt Tweraser : Die Linzer Wirtschaft im Nationalsozialismus. Anmerkungen zur strukturellen Transformation (»Modernisierung«) und zum NS-Krisenmanagement – in : Fritz Mayrhofer, Walter Schuster (Hg.), Nationalsozialismus in Linz. Linz 2001. Bd. 1. S. 524 f. ; Matthias Riedel : Eisen und Kohle für das Dritte Reich. Paul Pleigers Stellung in der NS-Wirtschaft. Göttingen 1973 : Paul Pleiger (1899 –1985), Sohn eines Bergmanns, Ingenieurstudium, mittelständischer Unternehmer und Besitzer einer Maschinenfabrik in Witten. Seit 1932 NSDAP-Mitglied, seit 1933 Mitglied der SA und SS, bis 1934 Gauwirtschaftsberater des Gaues Westfalen-Süd, 1934 von Wilhelm Keppler in das Rohstoffamt nach Berlin berufen, für Autarkiefragen zuständig, dabei vor allem für die Verwertung der eisenarmen Erze in Salzgitter. 1937 Führung der Reichswerke AG für Erzbau und Eisenhütten »Hermann Göring«. 1941 wurde Pleiger Treuhänder für das Erzgebiet Lothringen und Luxemburg sowie Leiter der Berg- u. Hüttenwerksgesellschaft Ost mbH, er war somit Reichsbeauftragter für die Kohlenversorgung und ab 1943 im Rang eines Preußischen Staatsrates Reichsbeauftragter für die gesamte Wirtschaft des Ostens. Im Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess wurde Pleiger 1949 zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, die er bis 1951 verbüßte. Nach Ende seiner Haftstrafe kehrte er in den Vorstand seines Betriebes in Witten zurück. 13 Tweraser, Linzer Wirtschaft im Nationalsozialismus, 417 f ; Hans Malzacher : Begegnungen auf meinem Lebensweg, Bd. 1, Villach 1967, Bd. 2, Villach 1971, Bd. 2, 52 ff. ; Feldman, Gerald D.; Rathkolb, Oliver; Venus, Theodor ; Zimmerl, Ulrike, Österreichische Banken und Sparkassen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, 2 Bde., München 2006, 1, 595 ; Malzacher, Begegnungen, Bd.1, 60 ff, 82 ff. 14 Bertrand Perz : Politisches Management im Wirtschaftskonzern. Georg Meindl und die Rolle des Staatskonzern Steyr-Daimler-Puch bei der Verwirklichung der NS-Wirtschaftsziele in Österreich. – In : Hermann Kaienburg (Hg.) : Konzentrationslager und die deutsche Wirtschaft 1939–1945. Opladen 1996. S. 95 ff. 15 Hans Kehrl : Krisenmanager im Dritten Reich : 6 Jahre Frieden – 6 Jahre Krieg ; Erinnerungen. Mit kritischen Anm. und einem Nachw. von Erwin Viefhaus, 2. korr. Aufl., Düsseldorf 1993, 244 ; Joachim Fest : Speer. Eine Biographie, Berlin 1999, S. 194. 16 Heinz Zak : Erlebtes und Erlauschtes. Hallein o.J., S. 47. 17 Kehrl, Krisenmanager, S. 89, S. 200. 18 Albert Speer : Der Sklavenstaat. Meine Auseinandersetzung mit der SS, Stuttgart 1981, S. 82. 19 Berlin, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, NS 19 Persönlicher Stab Reichsführer SS, 2058 Bormann über Schieber 7.3.1944. 10 Speer, Sklavenstaat, S. 84. 11 Speer, Albert, Erinnerungen, 7. Aufl., Berlin 1970, S. 543.
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12 Speer, Sklavenstaat, 33, S. 37. 13 Thüringisches Staatsarchiv (Rudolstadt), Bestand CFK Schwarza, 1084, Kaderakte von Dr. Walter Schieber : Lebenslauf, Dienstverträge, Bankvollmachten. 14 Bernhard Post u. Volker Wahl (Hg.) : Thüringen-Handbuch. Territorium, Verfassung, Parlament, Regierung und Verwaltung in Thüringen 1920 bis 1995 (Veröffentlichungen aus Thüringischen Staatsarchiven). Weimar 1999. S. 625f. Swynarde hatte im Februar 1943 die Produktion aufgenommen. Die belgische Zellwollproduktion stieg von 700 t 1938 auf 6.667 t im Jahr 1943. Patrick Nefors : La collaboration industrielle en Belgique 1940–1945, 2006, S. 88 ff., S. 265 ff. 15 Rüdiger Stutz : »Welche Entwicklungsprojekte und Unternehmenskulturen förderten die Wirtschaftsberater der NS-Gauleitung Thüringen zwischen 1936 und 1945 ?«, Vortrag in der Kleinen Synagoge, Erfurt, 20. Juni 2000, http ://topf-holocaust.de/texte/texte_look.php ?load=1023600003 16 Berlin, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, NS 19 Persönlicher Stab Reichsführer SS, 755, Verleihung des Ehrendegens an Schieber 14.11.1938. 17 Henry Picker : Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–1942, Stuttgart 1963, S. 354 und S. 421. 18 Berlin, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, NS 19 Persönlicher Stab Reichsführer SS, 755, Ernennung Schiebers zum SS-Standartenführer 8.4.1940, Schieber wird SS- Oberführer März 1942, Ernennung Schiebers zum SS-Brigadeführer 2.7.1942. 19 Berlin, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 3 Reichsministerium für Rüstungs- und Kriegsproduktion, 1555, Stehkonvent und Ritterkreuzverleihung an Schieber durch Speer 15.11.1944 ; 1583, Brief Speers an Himmler : Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes an Schieber 10.11.1944 ; im Thüringen-Handbuch, S. 625 f, wird der Zeitpunkt des Ausscheidens Schiebers aus diversen Ämtern mit 1943 zu früh angesetzt, sowohl für Schwarza, nicht 1943 sondern Herbst 1944 bzw. erst Februar 1945, Wildshausen (1945), wie für die Gustloff-Stiftung (1944), den Zellwollering (März 1945). Auch in Roanne, Swynarde und Litzmanstadt (Łódź) erst 1944/45. Das Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz wurde ihm erst im September 1944, nicht schon 1943 (was zweifellos wegen seines Parteiausschlusses am 2. September 1944 logischer aussehen würde) verliehen. 20 Speer, Sklavenstaat, S. 81–101. 21 Speer, Sklavenstaat, 81–101. 22 Schiebers diverse Ämter nach Thüringen-Handbuch, S. 625 f, ferner Axis-Forum (Internet) und Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, CFK Schwarza 58, 1–3 : Neben den oben angeführten Ämtern noch : stellvertr. Vorsitzender des Aufsichtsrates der Thüringer Rohstoff AG in Weimar, Leiter der Industrieabteilung der Wirtschaftskammer Thüringen, Weimar, Zweiter Stellvertreter des Leiters der Reichsgruppe Industrie, Leiter der Wirtschaftskammer Thüringen, Weimar, Mitglied des Beirats der Wirtschaftskammer Thüringen, Weimar, Mitglied der Landesplanungsgemeinschaft Thüringen, Weimar, Mitglied des Beirats der Südthüringischen Industrie- und Handelskammer, Sonneberg, Mitglied des Beirats der Stadt Rudolstadt, Geschäftsführer des Zweckverbands der Bauten am Platz Adolf Hitlers, Weimar, Mitglied des Wirtschaftsrates der Deutschen Akademie, Berlin, Mitglied des Verwaltungsrats der Freunde der Friedrich-Schiller-Universität, Jena, Mitglied des Vorstands der Nordischen Gesellschaft, Weimar, stellv. Leiter des Fachamts Chemie, Berlin, Mitglied des technischen Beirats der Fachgruppe chemische Herstellung von Fasern, Berlin, Mitglied des Unterausschusses Wolle des Zellwoll-Ausschusses der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie, Berlin, Mitglied im Arbeitsausschuss der DAF, Weimar, Vorsitzender des Vorstands der Polana, Tomaschow, Vorsitzender des Aufsichtsrates der Kammgarnspinnerei Łódź, stellv. Vorsitzender des Aufsichtsrates der Thüringischen Rohstoff AG, Weimar, Mitglied des Aufsichtsrats der SpinnstoffFabrik Zehlendorf AG, Zehlendorf, Mitglied des Aufsichtsrats der Thüringischen Porzellanmanufaktur, Rudolstadt-Volkstedt, Vorsitzender des Verwaltungsrats der Gustloff-Werke Weimar mit Zweigniederlassungen in Hirtenberg, Berlin, Suhl und Meuselwitz/Thüringen, Vorsitzender des Beirats der Alphalint,
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Peschelmühle, Vorsitzender des Beirats der Spinnstoff G.m.b.H. Schwarza/S, Mitglied des Beirats der Solanum GmbH, Peschelmühle, Vorsitzender des Arbeitsausschusses des Aufsichtsrates der Lenzinger Zellstoff- und Papierfabrik AG, Lenzing, Vorsitzender des Vorstandes des DZR e.V., Berlin, Vorsitzender des Thüringischen Vereins für Dampfkesselbetriebe, Weimar, Leiter des Ausschusses für Patentangelegenheiten im DZR e.V., Berlin, Verantwortlicher für die Fabrikationsüberwachung zum Zwecke der Entwicklung eines einheitlichen Qualitäts-Niveaus im DZR e.V., Vorsitzender des Aufsichtsrates der Altersversorgungskasse der Stiftungsbetriebe der Gustloff-Werke, Weimar, Vorsitzender der Vertreterversammlung der Altersversorgungskasse der Thüringischen Zellwolle AG, Weimar, Vorsitzender des Aufsichtsrates der Gemeinnützigen Bau- und Siedlungsgesellschaft mbH. für den Kreis Vöcklabruck, Mitglied des Aufsichtsrats der Oepa, Österreichische Papierverkaufsges.m.b.H., Wien, Mitglied des Geschäftsführungsausschusses der DZR-Verkaufsgemeinschaft GmbH, Berlin, Mitglied der Textilforschungsanstalt Krefeld ; 1943–1944 war er auch Leiter der Zentralstelle für Generatoren beim Generalbevollmächtigten für Rüstung und Bewaffnung, Mitwirkung bei der Entwicklung von Windkraftanlagen. Rüdiger Stutz : »Saubere Ingenieurarbeit« : Moderne Technik für Himmlers SS – drei Thüringer Unternehmen im Bannkreis von Vernichtung und Vertreibung (1940–1945). – In : Assmann, Hiddemann, Schwarzenberger (Hg.) : Firma Topf & Söhne – Hersteller der Öfen für Auschwitz, S. 57. Johannes Bähr : Die Dresdner Bank in der Wirtschaft des Dritten Reichs. München 2006 (Die Dresdner Bank im Dritten Reich 1), S. 117. Marktgemeinde Lenzing, Festschrift, S. 55 ff. Paul J. Hahn und Rainer Karlsch : Scharlatan oder Visionär. Ronald Richter und die Anfänge der Fusionsforschung. – In : Rainer Karlsch und Haiko Petermann (Hg.) : Für und Wider »Hitlers Bombe«. Studien zur Atomforschung in Deutschland. S. 181 ff ; S. 187. Thüringen-Handbuch, S. 625 f. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, CFK Schwarza, S. 58, 1–3. OÖ Landesarchiv, LG Linz, Sondergerichte, Kls-Akten 1943, Sch. 732 ; KLs-Akten, Js 4/43 ; Sch. 813, Kls 4/43 : Berlin, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, BA Lichterfelde, NS–19 (Pers. Stab Reichsführer SS) Nr. 755, SS-Brigadeführer Schieber, Lenzinger Lebensmittelschieberei ; ebda, R 8135 Deutsche Revisions- und Treuhand AG, 17, Bericht Nr.VII 8722a der Deutschen Revisions- und Treuhand AG Berlin über die bei der Lenzinger Zellwolle- und Papierfabrik AG vorgenommene Sonderprüfung (Stellungnahme zu den Vorwürfen und Beanstandungen im Rahmen einer Untersuchung der Gestapo) 12.9.1942. OÖ Landesarchiv, LG Linz, Sondergerichte, Kls-Akten 1943, Sch. 732 ; KLs-Akten, Js 4/43. OÖ Landesarchiv, LG Linz, Sondergerichte, Kls-Akten 1943, Sch. 732 ; KLs-Akten, Js 4/43. Ein ähnliches Verfahren wegen Lebensmittelschiebereien und Unterdrückung der Arbeiterschaft wurde 1942 in den Steyr-Werken abgeführt, dort auf Weisung des Reichsjustizministers abgetan. OÖLA, Sch. 867, LG Linz, Sondergerichte, Js 867/42 ; vgl. auch die Lebensmittelkorruption in den Hermann-GöringWerken : John, Zwangsarbeit und NS-Industriepolitik, 92 ff, betreffend den Leiter der Versorgungsbetriebe Dkfm. Rolf Mayer und den ehemaligen Linzer Oberbürgermeister Sepp Wolkerstorfer. Vgl. auch Winfried R. Garscha und Franz Scharf : Justiz in Oberdonau. Linz 2007 (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 7). S. 361 f. OÖLA, Sch. 867, LG Linz, Sondergerichte, Js 946/42. Brigitte Galanda : Widerstand und Verfolgung in Oberösterreich 1934–1945 : eine Dokumentation, 2 Bde. Wien 1982. 1. S. 502 f. Berlin, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, NS 19 Persönlicher Stab Reichsführer SS, 755, Kaltenbrunner über Schieber 16.9.1942. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, Arbeitsstab Dr. Schieber, Protokoll, 31. Juli 1942. OÖ Landesarchiv, LG Linz, Sondergerichte, Kls-Akten 1943, Sch. 732 ; KLs-Akten, Js 4/43 ; Sch. 813, Kls
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4/43 : Wilhelm Böninger, geb. 18.8.1898 Düsseldorf, angeklagt wegen kriegswirtschaftlicher Verstöße im Juli 42, in der Zellwolle AG, Lenzing ; Sch. 732, KLs 5/43 ist 1947 bei Staatsanwaltschaft Linz in Verlust geraten. Sch. 867, Js (Sta) 1942, Js 937/42, N. Arnold u.a. bezieht sich auf Steyr-Werke. Alois Zellinger, Vöcklabruck in den Jahren 1933 bis 1955. Linz 2006. S. 230. OÖ Landesarchiv, LG Linz, Sondergerichte, Kls-Akten 1943, Sch. 732 ; KLs-Akten, Js 4/43. OÖLA, BG/LG Linz 3 St 1947 E, Zl. 2166/47. Der zugehörige Akt ist am OÖLA nicht mehr vorhanden. Er wurde am 16.4.47 der STA Wels abgetreten (Tatort Lenzing) und offenbar später skartiert. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, S. 935. OÖ. Landesarchiv, LG Linz, Sondergerichte, Kls-Akten 1943, Sch. 732 ; KLs-Akten, Js 4/43 ; Vernehmung Böninger. Aussage von Heinrich Pennerstorfer, Leiter der Rechtsabteilung, Lenzing, 24.6.1942, LG Linz, Sondergerichte Nr. 732, KLs-Akten 1943, 4/43. Thüringisches Staatsarchiv (Rudolstadt), Bestand CFK Schwarza, 58, Anzeige gegen Dr. Schieber wegen schwerer kriegswirtschaftlicher Vergehen und Verhandlungen über das Ausscheiden Dr. Schiebers aus dem Aufsichtsrat der Thüringischen Zellwolle AG ; Ämter Schiebers ; Ritterkreuzverleihung 21.9.1943 ; Anzeige Schiebers 4.10.1944 ; Brief von Speer 5.12.1944 ; Brief an Speer 15.12.1944 ; Thüringische Zellwolle : Abschrift über den Verbleib Schiebers ; Besuch bei Kaltenbrunner 26.1.1945 ; Der Fall Schieber 5.2.1945 ; Der Fall Rinderknecht 12.2.1945 ; Aufsichtsratsbesprechung 23.2.1945 ; Brief des ZKR an Thüringische Zellwolle 3.4.1945 ; ebda, 133, Aufsichtsratssitzung 24.3.1945. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, Aktennotiz vom 17. Juli 1944, betr. Staatsrat Dr. Schieber. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, 58, 4.10.1944 ; Berlin, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, NS 19 Persönlicher Stab Reichsführer SS, 2039, Schieber muss Verwandte aus seinem Arbeitsbereich entfernen 8.3.1943. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, Aktennotiz vom 17. Juli 1944, betr. Staatsrat Dr. Schieber ; Kaltenbrunners Informationen waren allerdings nur teilweise richtig, wie aus dem Strafakt im Oberösterreichischen Landesarchiv hervorgeht : OÖLA, LG Linz, Sondergerichte, KLS-Akten, 1942, 192 (Nr. 728) : Max G., Gastwirt und Viehhändler in Pinsdorf, mit 13 Vorstrafen, war angeklagt, zwischen Herbst 1940 und Jänner 1942 aus Schwarzschlachtungen etwa 2000 kg Fleisch an verschiedene Wirte und Fleischhauer weitergegeben zu haben. Er wurde am 29.10.1942 zu 1 Jahr Zuchthaus, 200 RM Geldstrafe und 260 RM Wertersatz verurteilt und war von Mitte 1942 bis Mitte 1943 in Haft. Er hat seine Strafe am 29.10.1942 angetreten. Unter Anrechnung der Vorhaft vom 4.6. bis 25.7. und vom 30.7. bis 29.10. 1942 sollte er am 10.7.1943 aus der Haft entlassen werden. Es wurde ihm aber zu Weihnachten vom 12.11.1942 bis 15.1.1943 eine Strafunterbrechung gewährt. Vom 5.5. bis 1.12.43 verbüßte er den restlichen Teil der Strafe ; Knapp vor Haftende am 21.Nov.1943 wurde angeordnet, ihn nach der Strafverbüßung am 1.12.1943 zur Verfügung der Gestapo Linz zu überstellen.Vom Amtsgericht Gmunden wurde G. am 15.6.1943 zu weiteren zwei Monaten Gefängnis und 1000 RM Geldstrafe verurteilt. Inzwischen war 1944 G. zur Wehrmacht eingezogen worden. Zu Ohlendorf vgl. Black, Peter, Ernst Kaltenbrunner : Vasall Himmlers ; eine SS-Karriere, Paderborn 1991, 222. Black, Kaltenbrunner, S. 140 und an mehreren Stellen. Speer, Sklavenstaat, S. 85. Gisela Kahl : Die Rolle des »NS-Musterbetriebes Thüringische Zellwolle AG, Schwarza« bei der Vorbereitung und Durchführung des Zweiten Weltkrieges. Diss. Jena 1963. Speer, Sklavenstaat, S. 97. Schreiben Schiebers an Speer, 31.10.1944. Berlin, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 3 Reichsministerium für Rüstungs- und Kriegsproduktion, 1555, Stehkonvent und Ritterkreuzverleihung an Schieber durch Speer.
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Fest, Speer, S. 311. Speer, Sklavenstaat, S. 82. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, 58, Brief von Speer 5.12.1944. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, 58, Brief an Speer 15.12.1944. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, 58, 26.1.1945, Besuch bei Kaltenbrunner. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, 58, 26.1.1945, Besuch bei Kaltenbrunner. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, 58, 26.1.1945, Besuch bei Kaltenbrunner. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, 58, 26.1.1945. Feldman, Rathkolb, Venus, Österreichische Banken, 2, 468. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, 58. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, 58, 23.2.1945, Aufsichtsratsbesprechung Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, 58, 23.2.1945, Aufsichtsratsbesprechung Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, 133, Aufsichtsratssitzung 24.3.1945. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, 935, Briefe privaten Inhalts, Brief vom 6.12.1944. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Schwarza, 935, Brief vom 3.1.1945. Feldman, Banken, 2, S. 468. Im Frühjahr 1944 war es auch zwischen Kehrl und Himmler zu einer schweren Auseinandersetzung gekommen. Himmler erinnerte Kehrl daran, dass er, Himmler, es sei, der die Arbeitskräfte, insbesondere für Buna, bereitstelle. Heim, Susanne, Kalorien, Kautschuk, Karrieren. Pflanzenzüchtung und landwirtschaftliche Forschung im Kaiser Wilhelm-Institut 1933–1945, S. 166. 73 August Eigruber hatte schon 1942 von Himmler einen rationelleren Umgang mit den ausländischen Arbeitskräften gefordert. In einer Rede vor der gesamten SS-Prominenz hatte er am 25. November 1942 verlangt, den ausländischen Arbeitseinsatz nicht nur aus polizeilicher und rassischer Sicht, sondern auch aus betreuender und erzieherischer zu sehen. Tweraser, Linzer Wirtschaft im Nationalsozialismus, 449. 74 Dass er die schweren rassistischen Diskriminierungen in seinem Wirkungskreis nicht nur nicht abstellte, sondern aktiv förderte, wird aus einem entlarvenden Schreiben Schiebers an eine Frau deutlich, die ihm Übergriffe gegen polnische Arbeitskräfte in Schwarza zur Kenntnis gebracht hatte : Am 28. Oktober 1941 hatte eine Anwohnerin des Polenlagers in Rudolstadt an Staatsrat Dr. Schieber eine Beschwerde über Misshandlungen von Lagerinsassen in Schwarza/Saale gerichtet : dass dort immer wieder Personen mit einer Hundepeitsche oder einem Gummiknüppel geschlagen würden und dass die Schläge und das Schreien zwei Treppen hoch zu hören seien. »Dass sich hier das Lager befindet, stört mich nicht und ergreife auch keine Partei für die Polen und Franzosen, nur deswegen schreibe ich, dass hier im Hause die Leute nicht unmenschlich geschlagen werden«, argumentierte sie mit viel Zivilcourage. Staatsrat Schieber antwortete am 29. November 1941 persönlich, dass er sich nicht vorstellen könne, »dass trotz aller Aufklärungsarbeit des nationalsozialistischen Deutschlands eine deutsche Frau … sich zur Sprecherin für die Vertreter einer derartig minderwertigen Menschenschicht machen kann, als die sich das polnische Untermenschentum in den letzten Jahren erwiesen hat.« Schieber schreibt von nur langsam erziehbaren Ausländern und »polnischen Bestien« und dass die körperliche Maßregelung von Polen nur dann angewandt werde, wenn eine andere Möglichkeit nicht bestehe, die notwendige Ordnung im Interesse der in der Nähe wohnenden deutschen Volksgenossen zu erhalten. Grundsätzlich würden gegen deutsche Volksgenossen keine Tätlichkeiten geduldet. »Aber bei dem Widerwillen, den die Polen gegen die für uns selbstverständlichen Gebote der Sauberkeit haben, wären ansteckende Krankheiten schon längst verbreitet, wenn nicht strengste Aufsicht die Lagerordnung erzwingen würde. Mit gutem Zureden und Anschlägen ist leider bei diesen fremdstämmigen Menschen nicht zu erreichen, dass sie beispielsweise die Wascheinrichtungen nicht als Latrine benutzen oder dass sie ihre Unterkunft nicht wie die Schweineställe zurichten. Sie müssen auch nicht annehmen, dass bei jedem Geschrei, das Sie hören, es sich um Züchtigungen durch die Hausmeister handelt. Sehr häufig handelt es sich dabei um Erziehungsmaßnahmen, die
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innerhalb der Wohngemeinschaft angewandt werden, wenn ein Pole oder ein anderer Ausländer seine eigenen Kameraden bestohlen hat und dabei erwischt wurde. Schließlich darf ich noch auf eines hinweisen : Ich hoffe, dass in absehbarer Zeit der mit dem höchsten Prädikat ausgezeichnete Film »Heimkehr« nach Rudolstadt zur Aufführung kommt. Ich werde veranlassen, dass Sie zu diesem Film besonders eingeladen werden und dass Ihnen ermöglicht wird, dieses eindringliche Kunstwerk unserer Zeit zu sehen. Ich hoffe, dass Sie danach das Geschrei eines entweder von seinen eigenen Landsleuten oder von den dazu berufenen Aufsichtsorganen gezüchtigten polnischen Verbrechers nicht mehr aufregen wird.« Schieber fügte auch hinzu, dass von jeder notwendig gewordenen Maßregelung die Betriebsführung unterrichtet werde, sodass Züchtigungen ohne zwingende Gründe ausgeschlossen seien. ThHStAW, Thüringisches Ministerium des Innern P 102,Bl. S. 196–198 ; Quellen zur Geschichte Thüringen, S. 73 ff. Speer, Sklavenstaat, 34 ; BArch NS 19/755, Bericht über die am 16.3.1942 in den Diensträumen von Saur geführte Besprechung, an der Glück, Schieber, Saur u.a. teilnahmen. Jan-Erik Schulte : Zwangsarbeit und Vernichtung : Das Wirtschaftsimperium der SS : Oswald Pohl und das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt 1933–1945. Paderborn 2001. S. 214. Walter Naasner : Neue Machtzentren in der deutschen Kriegswirtschaft 1942–1945. Die Wirtschaftsorganisation der SS, das Amt des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und das Reichsministerium für Bewaffnung und Munition/Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. Boppard 1994. 301 ; ebenso Schulte, Zwangsarbeit S. 216 ff. Schulte, Zwangsarbeit, S. 215. Naasner, Neue Machtzentren, S. 302. Naasner, Neue Machtzentren, S. 305. Zit. n. Hermann Kaienburg : »Vernichtung durch Arbeit« : der Fall Neuengamme. Die Wirtschaftsbestrebungen der SS und ihre Auswirkungen auf die Existenzbedingungen der KZ-Gefangenen. Bonn 1990. S. 238. Kaienburg, Vernichtung durch Arbeit, S. 287 f. Schulte, Zwangsarbeit, S. 397 ff. Schreiben Pohls an Schieber, 26.2.1944, und Schreiben RFSS an Schieber vom 21.3.1944, BArch NS 19/3547. Berlin, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Reichsministerium für Rüstungs- und Kriegsproduktion, R 3/1631, 9 ff., Dr. Walter Schieber an Speer. Auch Speer, Sklavenstaat, S. 46 f., zitiert dieses Schreiben. Berlin, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Reichsministerium für Rüstungs- und Kriegsproduktion, R 3/1631, 9 ff., Dr. Walter Schieber an Speer. Auch Speer, Sklavenstaat, S. 46 f., zitiert dieses Schreiben. Berlin, BArch R 3/1631, S. 9 ff, Dr. Walther Schieber an Speer. Im Juni 1944 teilte Speer Hitler mit, »dass aus der Gesamtwirtschaft jeden Monat 30.000 bis 40.000 entlaufene Arbeiter oder Kriegsgefangene von der Polizei eingefangen werden, die dann als KZ-Sträflinge bei den Vorhaben der SS eingesetzt werden«. Naasner, Neue Machtzentren, S. 44, ebenso Speer, Sklavenstaat, 79 ; ebenso Schulte, Zwangsarbeit, S. 400. Berlin, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, NS 19 Persönlicher Stab Reichsführer SS, 2058, Speer über Schieber 3.10.1944, Brief von Kranefuss über Schieber 16.10.1944, Fernschreiben über Schieber, Speer an Himmler 10.11.1944, Brief Speers an Schieber 10.11.1944. Schulte, Zwangsarbeit, S. 221, S. 403. In den National Archives, Bestand Records of the United States Nuernberg War Crimes Trials Interrogations 1946–1949 (Mikrofilmpublikation M 1019) sind eine Reihe von Vernehmungen mit Walter Schieber verzeichnet (17., 19., 23., 27. Dezember 1946, 21. Jan 47, 8. und 10. Feb 47, 15. März 47, 5. und 23. April 47, 1., 21. und 26. Mai 47, 4., 18. Juni 47., 17. und 30. Juli 47, 8. August 47 sowie 13. und 14. Jän. 1948. Nürnberger Prozessakten, Stadtarchiv Nürnberg : Schieber, Walther, Vern. v. 26.1.1946=1/J–568 ; Att. Requ. V. 14.12.46, 1Bl ; IS Nr. 518 v. 27.12.46, 2 Bl ; Vern./Myers v. 27.12.46, 13 Bl ; IS Nr. 1508 v. 14.3.47,
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2 Bl ; IS Nr. 2027 v. 5.4.47, 2 Bl. ; Att. Requ. v. 23.4.47, 1 Bl ; IS Nr. 1925 v. 23.4.47, 3 Bl ; Vern.Nr. 1163/ Kater, 23.4.47, 4 Bl. ; Dass. Engl. 4 Bl ; Vern. Nr. 1163a/Koch, 1.5.47, 5 Bl. ; Dass. Engl. 5 Bl ; Lebenslauf Schiebers, 6 Bl ; Fragen an Schieber, 2 Bl. Thüringen-Handbuch, S. 626. Linda Hunt : Secret Agenda : The United States Government, Nazi Scientists, and Project Paperclip, 1945 to 1990, New York 1991, 168 ff (über Walther Schieber) ; Tucker, Jonathan B., War of Nerves : Chemical Warfare From World War I to al Qaeda. New York 2006 : Gen. Charles E. Loucks vom U.S. Army Chemical Corps, der 1948–49 als Aufklärungsoffizier für das U.S. European Command in Heidelberg arbeitete, erwähnt in seinen Tagebüchern die Anwerbung Walter Schiebers, der »directed production of war gases for the Nazis’ Armaments Ministry«, schreibt Loucks. Loucks bat Schieber um Hilfe bei der Sarinproduktion. Schieber antwortete enthusiastisch und rekrutierte ein halbes Dutzend deutscher Experten, die umfangreiches Datenmaterial über den Sarinproduktionsprozess anboten. Das Reichspatentamt für Zyklon B war am 27. Dezember 1926 an die »Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung mbH« (kurz Degesch) erteilt worden. Es wurde von den »Dessauer Werken für Zucker-Raffinerie GmbH«, Dessau hergesellt und über die Handelsfirmen Tesch & Stabenow (»Testa«) und Heerdt Lingler (»HeLi«) vertrieben. In seiner Funktion als führender Chemievertreter und Gaskriegsbeauftragter der SS muss Schieber darüber gut informiert gewesen sein. Auch die Erfurter Firma J. A. Topf und Söhne, die die Krematorien in den Konzentrationslagern von Dachau, Buchenwald und Auschwitz und die Entlüftungsanlagen in den Gaskammern baute, wird Schieber als Gauwirtschaftsberater gut bekannt gewesen sein. Ewald Röder, Der Deutsch-Österreichische Vermögensvertrag von 1957 (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 106). Stuttgart 2006. ÖStA, AdR, BMF, Abt. 15, GZ 453/767, Schieber Walter und Hermann : Liegenschaft Seewalchen KG Litzlberg Thüringen-Handbuch, 625f ; Stutz, Entwicklungsprojekte und Unternehmenskulturen, Internet. Auch Bähr, Dresdner Bank, 546. und Schulte, Zwangsarbeit 214 und 400, betonen die enge Beziehung Schiebers zu den Konzentrationslagern. Ganz besonderer Art war das Engagement der Dresdner Bank, in deren Aufsichtsrat Schieber seit 1943 vertreten war, bei der Huta, die in Auschwitz-Birkenau 1942/43 die Tiefbau-, bzw. Betonbauarbeiten für die Vergasungsanlagen erledigte.
Gerhard Botz
»Rechts stehen und links denken ?« Zur nonkonformistischen Geschichtsauffassung Friedrich Heers
»Beachten Sie, ehe Sie sich dem Historiker zuwenden, sein geschichtliches und soziales Umfeld.« (E. H. Carr)1
Heers Geschichtstheorie und Methode Der große französische Historiker Marc Bloch hat 1943/44 die Voraussetzung historischen Erklärens folgendermaßen beschrieben : »Gegenwart und Vergangenheit durchdringen einander. Dies so sehr, dass sie, was die Arbeit des Historikers betrifft, in beide Richtungen verbunden sind.« Das heißt, die Gegenwart zu verstehen, setzt voraus, die Vergangenheit zu kennen ; und umgekehrt, die Erforschung der Vergangenheit muss vergeblich bleiben, »wenn man von der Gegenwart nichts weiß«.2 Diese Geschichtsauffassung entspricht in etwa auch jener Heers3, der 1948 betont : »Geschichtsforschung, die diesen hohen Namen verdient, ist immer Erhellung der Gegenwart aus einer Beleuchtung (und wenn möglich Durchleuchtung) der Vergangenheit. Geschichte ist nun wesenhaft Geschichte des Menschen. Sehr sonderbar und erwägenswert ist die Tatsache, dass es fast völlig fehlt an einer historischen Anthropologie – an einer Entwicklungsgeschichte des inneren Menschen, seiner Leiden und Leidenschaften, wie er im Konflikt zwischen ich, Über- und Unter-Ich, Ich, Du und Es sich entfaltet.«4
Heer skizziert hier – wohl inspiriert von der Lektüre Freuds – so etwas wie eine frühe Geschichte der Mentalitäten, die in der Mediävistik der Universität seiner Zeit durchaus hervorragende Vertreter hatte, und spricht die erst entstehende moderne »historische Anthropologie« an.5 Er vertritt hier allerdings auch die Konzeption einer Geschichte, die ständig die eigene Subjektivität reflektierend und erhellend das Ich in die wissenschaftliche Arbeit mit einbezieht.6 Seit der »poststrukturalen Wende«,7 in der Alltagsgeschichte und Erfahrungsgeschichte, ist ein geschichtstheoretisches Vorgehen analog dem, das Friedrich Heer anwandte und das damals als skandalös empfundenen wurde, wissenschaftlich einigermaßen akzeptabel geworden.8 Jede »objektive« geschichtswissenschaftliche Tätigkeit ist auch, wie heute der deutsche Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen sagt,
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eine »subjektive Geschichte« ; denn »im denkenden Rückgriff auf die erfahrene Vergangenheit« bestimmen zukunftsgerichtete normative und werthafte Einstellungen, Ängste, Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen den Blick auf die Erfahrung der Vergangenheit […]«.9 So formieren sich Perspektiven auf das Vergangene und ermöglichen damit erst historische Erkenntnis. Ebenso wichtig für ein Verständnis der historischen Theorie und der geschichtspolitischen Thesen Heers ist sein offenes Bekenntnis zu einem dem herkömmlichen Wissenschaftsverständnis diametral widersprechenden Prinzip : Geschichte erforsche und schreibe er nicht »sine«, sondern »cum ira et studio«.10 Dieses geschichtstheoretische Vorgehen hat paradoxerweise strukturell – keinesfalls inhaltlich – in jener »kämpfenden Wissenschaft« 11, die von Anhängern des universalistischen Philosophen und Heimwehr-Ideologen Othmar Spann und von den jungen Nationalsozialisten, die in den 30er-Jahren zur selben Zeit wie Heer in Wien studierten und zu denen dieser in einem vehementen Gegensatz stand, vertreten wurde, eine Entsprechung.12 Dies war eine radikale Negation des (bürgerlichen) akademischen Selbstverständnisses von Wissenschaft, das auf »sine ira et studio«, Voraussetzungslosigkeit, Unparteilichkeit, Objektivität,13 bürgerliche Distanziertheit etc. pochte14 und trotzdem viele »traditionelle« Wissenschaftler nicht vor einer verhängnisvollen Kooperation mit dem Nationalsozialismus (etwa in den Konzentrationslagern, in der »Volkstumspolitik« und in der Rüstungsforschung) bewahrt hatte.15 Merkwürdig ist, dass sich hier Parallelen einer solchen von der faschistischen Rechten vorgetragenen Geschichtsauffassung auch zu (orthodox-)marxistischen Geschichtstheorien, zeigen. Kann man diesen Gleichklang noch totalitarismustheoretisch erklären (oder einfach abtun), so ist es denkwürdiger, dass sich aber auch – bei allen inhaltlichen und politischen Gegensätzen – wissenschaftsstrukturelle Gemeinsamkeiten mit der aufklärerischen Geschichtswissenschaft (vor allem in den 1970er-Jahren) und der österreichischen Zeitgeschichte16 feststellen lassen. Entsprechungen dieser »kämpfenden Wissenschaft« finden sich also auch im Geschichtsdenken Heers. Dies festzustellen bedeutet nicht die geschichtsaufklärerische Geschichtstheorie (zu der ich mich auch bekenne) pauschal und jene Friedrich Heers speziell abzuwerten, sondern es soll nur der historische Kontext deutlich gemacht werden, in dem dieser wie jeder Historiker – oft unwissentlich – steht. Umso mehr wird hieraus auch Heers Originalität und politische Integrität verstehbar : In einem gewissen Sinne eingebettet in den »Zeitgeist« stand er als Querdenker dennoch zu einigen der mächtigsten politisch-kulturellen Strömungen seiner Zeit in einem dauerhaften Gegensatz. In den ersten Jahrzehnten nach 1945 wollte man in der akademischen Welt Österreichs (und Deutschlands) nichts mehr von der seit den 30er-Jahren eingetretenen Kontaminierung durch den Nationalsozialismus und einer derartigen politisch instrumentalisierten (Geschichts-)Wissenschaft wissen, als sich viele Fachvertreter, die
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im Dienste des Dritten Reiches gestanden waren oder mit ihm kooperiert hatten, als »unpolitisch« deklarierten und so manche sowohl personelle als auch strukturelle Kontinuitäten kaschieren konnten.17 Dazu kam, dass sie sich zunächst mit der sowjetmarxistischen Geschichtstheorie konfrontiert (und exkulpiert) sahen. So musste Heers mit »heiligem Zorn« vorgetragene Geschichte in den 50er- und 60er-Jahren auf seine Fachöffentlichkeit ungemein provokant wirken. Seine Geschichtsauffassung stand damit in schärfstem Gegensatz zu den restaurierten konservativen althistoristischen, vielfach nicht einmal (im Sinne der westlich-demokratischen Wissenschaftskulturen) liberal-positivistischen Wissenschaftstheorien seiner eigenen Zunft.18 Umso bedrohlicher wirkte damals auch, dass sie mit der dogmatischen »proletarischen Parteilichkeit« der DDR-Historiographie gleichgesetzt werden konnte, obwohl Heers Bekenntnis zu einer »politischen« Geschichtswissenschaft von einem Historiker kam, der mit gutem Grund nicht der marxistischen Linken zuzurechnen war. Erst in den späten 60er-Jahren fand Heer im akademischen Milieu in der Vorund Frühphase der »neomarxistischen« Studentenbewegung breitere Resonanz. Doch erst mit der Durchsetzung eines demokratischen Verständnisses von »politischer« Zeitgeschichte in den 70er-Jahren und noch später mit dem Einsickern von Ansätzen »teilnehmender Beobachtung« auch in der Geschichtswissenschaft und in der aufkommenden »Oral History« sowie in Zeiten der »cultural studies« wirkt Heers bekenntnishafte und engagierte Geschichtstheorie weniger anstößig. Heer hat im Jahre 1970 einen faszinierenden, etwas narzisstischen »eigenen Nachruf« bei Lebzeiten veröffentlicht. Darin hat er, sich auch selbstkritisch hinterfragend, offengelegt, um was es ihm immer im Wesentlichsten ging. Er wollte – völlig zu Recht – den deutschsprachigen Wissenschaftlern, nach dem, was sie zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts beigetragen hatten, vor Augen halten : der nüchternste Naturwissenschafter, »[…] auch der objektivste Historiker […] sei faktisch ein Diener einer Ideologie«. Auf die feindlichen Reaktionen vieler seiner Historikerkollegen reagierend, schrieb er hier auch von sich selbst und ironisierte damit zugleich die immer wieder gegen ihn vorgebrachte Kritik ; denn, »daß die von ihm [d.h. von F. Heer] behandelten heißen Fragen und Themen angesichts der Drohung eines Dritten Weltkrieges […], bereits heute, in breiter Öffentlichkeit, zur Verhandlung, zur Aussprache, zur Diskussion gestellt werden müssten, ist wissenschaftlich unhaltbar und nur historisch, autobiographisch aus der langjährigen journalistischen Berufstätigkeit Heers, die sein wissenschaftliches Schrifttum überschattet, erklärbar.«19
Dieses direkte Bekenntnis zum politisch-gesellschaftlichen Engagement als geschichtswissenschaftliches Erkenntnisprinzip20 blieb zu Lebzeiten Heers ein Skandalon innerhalb und außerhalb der Historikerzunft. Manche zeitgenössische Historiker,
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denen die »Wirklichkeit des Vergangenen […] zu einem klappernden Knochengerüst purer Faktizität« erstarrt ist, wie der deutsche Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen schreibt,21 konnten und können Heer das nicht nachsehen. Überdies gestand Heer ganz offen ein, eine Abneigung gegen Archivarbeit zu haben, was er darauf zurückführte, dass sein schon bis 1939 zusammengetragenes umfangreiches wissenschaftliches Forschungsmaterial in Wien im Krieg verloren gegangen war. Heer repräsentierte eine Arbeitsweise, die unter Historikern üblicherweise als »journalistisch« bezeichnet und selbst bei größtem Gedankenreichtum abgewertet wird. Tatsächlich liegt hier auch ein Schlüssel für den essayistischen Stil der historischen Arbeiten Heers, der sich noch mit dem Auftreten größter Hindernisse für eine angestrebte universitäre Karriere, verstärkt hat. Denn die Notwendigkeit, ständig neue publikumswirksame Bücher zu seinen »Leibthemen« zu veröffentlichen, auch um davon sich und seine Familie zu ernähren, musste Rückwirkungen auf seine Arbeits- und Publikationsweise haben ; sie wurde rascher, flüchtiger, assoziativer, aber auch repetitiver, eben »journalistischer«. Heer hat zweifelsohne die fachwissenschaftliche Geringschätzung bis in seine letzten Lebensjahre schwer belastet. Er bezeichnete sich als »eine unglückliche Nullpunktexistenz« und meinte : »Wenn ich das Material [das 1945 verloren gegangen war (G.B.)] gehabt hätte, hätte ich ganz anders anfangen können, ich hätte ja aus dem vollen schöpfen können.«22 So beklagte er auch einmal in einem persönlichen Gespräch, als ich ihn um 1963 wegen eines Dissertationsthemas kontaktierte, dass er – dem damaligen Professoren-Verständnis entsprechend – keinerlei assistentische Hilfe habe, um die vielen Zitate und Literaturverweise nachprüfen zu lassen. Aber schon früher, während seines Habilitationsverfahrens an der Universität Wien hatte er große Schwierigkeiten bekommen, die mit seinem (nicht immer präzisen und quellenmäßig verlässlichen) Arbeitsstil und mit seinem oben skizzierten Wissenschaftsverständnis zusammenhingen. Manche universitäre Widerstände gegen Heer lassen sich daher nicht ausschließlich aus den postnazistischen Ressentiments vieler seiner Professoren-Kollegen ableiten. Selbst ein Förderer Heers wie der katholischkonservative Wiener Neuzeithistoriker Hugo Hantsch, der die Verleihung des Titels eines außerordentlichen Professors an Heer 1960 unterstützte und diesen als einen »der angesehensten Repräsentanten österreichischen Geisteslebens« pries, kritisierte zugleich auch, dass in Heers Werken »die historisch-wissenschaftliche exakte Forschung und Problematik oft genug vernachlässigt wird«.23 Das kreiden ihm einige traditionalistische Historiker, neben mancher durchaus berechtigter fachlicher Kritik, heute noch an.24 Die Grundhaltung Heers zu Geschichte und Historiografie war in seinen wissenschaftlichen Werken immer auch eine dialogische, vorläufige, ein work in progress. Auch sind manche seiner historiographischen Thesen eher als zeitgenössische, gesellschaftspolitische Programme und essayistische Zuspitzungen, wenngleich oft auf
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einer stupenden Literaturkenntnis beruhend, zu werten. Dennoch sind Wirken und viele Werke25 dieses großen österreichischen »Publizisten und Historikers«, wie er sich selbst bezeichnete, von bleibender Bedeutung für die österreichische (und europäische) Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik.26
Zwischen Nationalsozialismus und katholisch-konservativer Restauration Friedrich Heer (1915 in Wien geboren, 1983 in Wien gestorben)27 studierte in Wien in den 30er-Jahren mittelalterliche Geschichte in einem universitären Klima von zunehmend großdeutscher Orientierung, Anschlussfreundlichkeit, antisemitischer Agitation und allgemeiner Demokratieskepsis.28 Seine Professoren waren in ein Nahverhältnis zum Nationalsozialismus kommende oder NSDAP-Mitglieder werdende, fachlich durchaus bedeutende Historiker wie Hans Hirsch29, Heinrich Ritter von Srbik30 und Otto Brunner ;31 weniger wichtig für ihn war der Germanist Josef Nadler.32 Bei allen intellektuellen Differenzen war ihr gemeinsamer ideologischer Schirm die Suche nach Österreichs »Erbe und Sendung im deutschen Raum«.33 Sie artikulierten damit eine außerhalb der politischen Linken – aber auch in diese ausstrahlend – eine schon vor 1933 weit verbreitete Befindlichkeit in Österreich und prägten ganze Generationen von Universitätsstudenten, die zum Großteil schon vor 1938 zu wilden Nationalsozialisten wurden.34 Auch als Vertreter einer »reinen (Hilfs-)Wissenschaft« stellten sie sich zunehmend in den Dienst der »Volksforschung«35 und bereiteten ganz entscheidend den geistigen Nährboden für den Nationalsozialismus in Österreich vor.36 Trotz mancher Versuche, jüdischen Kollegen zu helfen, betrieben viele von ihnen so etwas wie antijüdische »Grundlagenforschung« und legitimierten den »Anschluss«, auch wenn sie zum Teil nach 1938, vor allem gegen 1945 hin wieder auf Distanz zur Politik des »realen« Nationalsozialismus gingen.37 Es ist erstaunlich, dass Heer durch das Studium bei diesen »großen Lehrern« der Geschichtswissenschaft, wie er sie noch 40 Jahre später nannte,38 und durch den engen Kontakt mit deren nationalsozialistischen Studenten weder direkt weltanschaulich angesteckt noch zu einer gleitenden Anpassung an die politischen Verhältnisse nach 193839 verleitet werden konnte. Am Institut für österreichische Geschichtsforschung40 bestand wohl ein richtiger Korpsgeist, der dazu führte, dass über alle politischen Gegensätze hinweg – zwischen radikalen Nazis, allen Spielarten des Sympathisierens mit dem Nationalsozialismus und den wenigen katholisch-konservativen Nicht-Nationalsozialisten – eine gewisse Loyalität erhalten blieb, die vor Denunziationen schützte.41 So wurde der bekennende Anti-Nazi Heer zwar räumlich an den Rand der Institutsgemeinschaft gesetzt, konnte jedoch – als »outcast« – auf dem Gang des Instituts bis 1939 weiterarbeiten.
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So blieb über alle Zeitbrüche hinweg auch der Kontakt mit weltanschaulich und geschichtstheoretisch ganz unterschiedlichen Kollegen wichtig ;42 das gilt nicht nur für den Mediävisten Heinrich Fichtenau, den Österreich-Historiker Erich Zöllner und den Publizisten und Bibliothekar Albert Massiczek, der anfangs Gefolgsmann der SS gewesen war, sondern auch für den als NS-Studentenführer an der Universität tätigen Neuzeithistoriker Adam Wandruszka. Ausgenommen Massiczek, wurden diese anerkannten Historiker in den Nachkriegsjahren zu Ordinarien an der Universität Wien berufen ; sie gehörten zum normalwissenschaftlichen Umfeld, von dem sich an der Universität (Wien) der »Exot« Heer noch in den 50er- und 60er-Jahren markant unterschied. Dennoch legten für ihn vor allem die Professoren Hirsch, Srbik und Brunner ein fachwissenschaftliches Fundament, auf dem er selbst zunächst mit all seiner Eigenwilligkeit aufbauen konnte. Noch in seinem letzten Buch über die »österreichische Identität« ist die Konzeption der österreichischen Sonderform des letztlich (katholisch-deutschen, nicht preußischen) Reichs- und Geschichtsdenkens, wie sie in Srbiks Hauptwerken über die Verschränkung von österreichischer und Reichs-, dann nationalstaatlich-deutscher Geschichte bis ins 19. und 20. Jahrhundert am prägnantesten herausgearbeitet wurde,43 auch bei Heer enthalten ;44 das im Wesentlichen formal ähnliche Denkmuster ist beibehalten, nur durch eine altösterreichisch-universalistische bzw. österreichisch-nationale Lesart ersetzt. Was für die meisten (deutsch-)nationalkonservativen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit für den »Anschluss« an Deutschland selbst unter Hitler gesprochen hatte, konnte fast unverändert umgedreht und in ein Argument für eine österreichische Nation verwendet werden, wie es ja tatsächlich auch nach 1945 häufig geschah.45 Heer folgte dieser Argumentationslinie offensichtlich schon seit den 30er-Jahren und hielt daran bis zu seinem Lebensende fest. Konsequenterweise war und blieb für Heer das deutsch- und »Reichs«-orientierte Geschichtsdenken österreichischer Intellektueller und Politiker immer ein österreichisches Phänomen, das nicht einfach externalisiert und auf Deutsche abgeschoben wurde, ob es sich dabei um demokratisch-großdeutsche, »gesamtdeutsche«, »austronazistische« oder radikal kleindeutsch-preußisch orientierte (»alldeutsche«) Konzeptionen handelte. Heer, der dem österreichischen deutschorientierten Denken in welcher Form und Camouflage auch immer eine verhängnisvolle historische Wirkung zuschrieb, schloss diese Auffassungen von unterschiedlichen deutschen nationalen Identitäten, mochten sie noch so antiösterreichisch sein, nicht aus dem österreichischen geistesgeschichtlichen »Syndrom« aus ; dies wurde nach 1945 staats-, bildungs- und wissenschaftspolitisches Dogma und zugleich Konstituens einer neuen österreichischen Identität und bildete eine Grundlage für die lange Zeit anhaltende Tabuisierung und Nicht-»Aufarbeitung« all jener historischen Erscheinungen von »Anschluss« bis österreichischem Nationalsozialismus und Hitler, denen sich Heer mit offenem Blick zuwenden konnte.46 (Bezeichnenderweise hat auch die umfas-
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sende wissenschaftliche Literatur zur Schaffung einer neuen österreichischen nationalen Identität47 diesen Schritt bis heute nur ausnahmsweise nachvollzogen ; selbst die jüngste Publikation hiezu, William Johnstons »Der österreichische Mensch«, die auch Heer einen eigenen Abschnitt widmet, bleibt in dieser Hinsicht blind.48) Weltanschaulich formierend wurden (und blieben) für Heer die kritischen Jahre, in denen der autoritäre »Christliche Ständestaat« Kurt Schuschniggs dem wachsenden Druck des Nationalsozialismus und Deutschlands hinhaltend Widerstand zu leisten suchte. Heer, schon damals zutiefst geprägt von einer eigenwilligen mystischen Religiosität, stand dem sozial-monarchistischen politischen Katholizismus eines Ernst Karl Winter sehr nahe. Winter, den Heer als den »ersten innerkatholischen Kritiker von Rang« bezeichnete,49 bemühte sich 1933 bis 1936 ernsthaft, aber vergeblich durch seine »Aktion Winter« um eine Versöhnung der besiegten linken Arbeiterschaft mit dem korporatistisch-autoritären Regime.50 Wie E. K. Winter war Heer ein glühender Österreich-Patriot und Bewunderer Dollfuß’ und trat – trotz wachsender kritischer Distanz – für einen »Christlichen Ständestaat« ein, den er grundsätzlich positiv wertete und der lediglich bis 1938 nicht verwirklicht worden sei. Heer hielt an dieser politischen Vorliebe nicht nur bis 1938, sondern auch darüber hinaus fest.51 Noch in den 60er-Jahren sprach er mit einem eigentümlichen Wohlwollen von dem »berufsständischen Experiment«.52 Damit billigte er (teilweise) auch die von Dollfuß intendierte antidemokratische Zwangs-Stabilisierung von Gesellschaft und Staat nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung 1918, nach den latenten und offenen Bürgerkriegen der 30er-Jahre und in der Phase des aufsteigenden Nationalsozialismus ; er unterbelichtete damit den diktatorischen Charakter dieses autoritären Systems, so wie es auch in den öffentlichen Geschichtsbildern der Zweiten Republik lange noch der Fall war.53 Grundsätzlich schätzte er die (erst allmählich als problematisch erkannte) katholisch-ständische Österreichideologie des »kleinen Kanzlers«, während er Dollfuß’ Nachfolger, Kurt Schuschnigg, und dessen verhängnisvoll werdende gesamtdeutsche Inklination scharf ablehnte.54 Heers Vordenker, E. K. Winter, hatte schon 1927 eine Zeitschrift namens »Österreichische Aktion« gegründet. Darin ging es darum, den klein- oder »gesamtdeutschen« Geschichtsbildern in Österreich eine Neuinterpretation entgegenzustellen, die Österreich zum Zentrum des Reichsgedankens machte. 55 Diesem katholischen Reichsmythos zufolge sollten die angestrebten kulturellen und politischen Dominanzverhältnisse gerade umgekehrt zu den Vorstellungen der österreichischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten ausgerichtet sein : statt Berlin über Österreich und Wien sollte Österreich über dem »Reich« stehen.56 Dieser konservativ-österreichische Reichsmythos blieb, wie schon gesagt, jedoch weiterhin in seiner negativen Fixierung noch an Deutschland verhaftet und gerade darin war auch eine Schwächung seiner Widerstandskraft gegen den dynamischeren des Nationalsozialismus und eine Bereitschaft bei Schuschnigg zum appeasement mit Hitler angelegt.57
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In der Selbstdarstellung hieß es in der »Österreichischen Aktion«, die sich auch nicht scheute, sich auf die protofaschistische »Action française«58 zu beziehen, programmatisch : »Der europäische Gedanke ist der Bewahrer des österreichischen.«59 Und die Protagonisten verstiegen sich, ganz ohne Ironie, in polemischer Auseinandersetzung mit den Alldeutschen Schönerers60 – noch vor Hitler – zu der Feststellung : »Dieses Europa- und Österreichbekenntnis besagt zuerst einmal, dass nicht am ›deutschen Wesen‹ die Welt genesen soll, sondern am katholischen Wunder, denn eine ›Wunder‹ ist es, wenn eine Kultur, die einen natürlichen Kreislauf vollendet hat, sich erneuert.«61
Besonders bemerkenswert daran ist nicht nur der Anklang an Spenglers Kulturpessimismus, sondern auch – wie bei Heer – die heilsgeschichtliche Engführung von Österreich- und Europaideologie. Derartig absurde konservative »Reichs«- bzw. Europaideen, die im Gegensatz zu der etwa gleichzeitig entstehenden liberal-konservativen Paneuropa-Bewegung Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergis62 standen, sind jedoch für das Zeitkolorit der 30er-Jahre nicht untypisch. In diesem »ständischen« politischen Katholizismus liegt auch die für Heer lebenslang prägend werdende weltanschauliche und nationale Grundkonstellation, die immer noch dem alten Reichsmythos verhaftet blieb. Das machte ihn für Liberale und »Austromarxisten«, die lange Zeit der deutschen Nationalstaatsidee zugewandt blieben, in Österreich selbst noch nach 1945 schwer akzeptabel. Daraus ergab sich für Heer auch sein militanter österreichischer Patriotismus und das machte ihn zum unnachgiebigen und dauernden Gegner des Nationalsozialismus sowie von jeder Form des Deutschnationalismus ; das begründete aber auch Heers allmählich wachsende Skepsis gegen die zwiespältige Österreich-Ideologie des »Ständestaates«.63 Damit war er für Kommunisten, die in den späten 30er-Jahren Österreich-national zu werden begannen,64 dauerhaft gesprächs- und im Antinazismus kooperationsbereit. Besonders eng waren schon 1938 seine Kontakte zu seinem Jugendfreund, dem späteren sozialdemokratischen Justizminister Christian Broda, und zu den Brüdern Alfred und Eduard Rabofsky. Heer nahm, wie der von ihm geschätzte E. K. Winter, eine Position ein, die er als eine des »rechts stehens und links denkens« beschrieb.65 So betätigte sich Heer nach dem »Anschluss« – eher mit den Mitteln des Sondierens nach Gleichgesinnten und durch »Mundpropaganda« denn durch organisierte Widerstandsarbeit im Stil etwa der Kommunisten – gegen das NS-Regime und stand im Kontakt mit der (vor allem aus Kommunisten bestehenden) kleinen pro-österreichischen Widerstandsgruppe »Soldatenrat«.66 Von den wenig professionellen Konspirationsversuchen der 1940 auffliegenden katholischen Widerstandorganisation um Karl Roman Scholz hielt er sich fern.67 Trotz mehrmaliger Verhaftungen durch die
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Gestapo konnte er – möglicherweise auch dank persönlicher Beziehungen – in der Wehrmacht, in die er Anfang 1940 eingezogen wurde, überdauern.68 Die Universität Wien hatte ihn, wie schon gesagt, 1950 nur gegen größte Widerstände habilitiert und auf die venia docendi »Geistesgeschichte des Abendlandes« festgelegt, obwohl Heer ursprünglich das Fach »Allgemeine Geschichte des Mittelalters mit besonderer Berücksichtigung der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte« beantragt hatte. Diese Modifikation entsprach durchaus dem Geist der 50er-Jahre, in denen viele österreichische Wissenschafter, Intellektuelle und Journalisten an oberflächlich entnazifizierten Forschungsinstitutionen und Zeitungsredaktionen – so in führenden Tageszeitungen wie »Die Presse« und »Salzburger Nachrichten« – ihr come back erlebten. An der Universität Wien69 und an den anderen österreichischen Universitäten war es statt zu einer grundlegenden Erneuerung des österreichischen Wissenschaftssystems zwar zu einer anfangs (und partiell) einschneidenden personellen Entnazifizierung gekommen ; diese »Säuberung« war jedoch eher eine »ReAustrifizierung« und perpetuierte die unter dem Nationalsozialismus eingetretene wissenschaftliche und intellektuelle Erosion. Sie wurde von einer vom CV und von der ÖVP durchgesetzten Restauration des katholisch-konservativen (limitiert-demokratischen) Politikmodells der 30er-Jahre überlagert. »An die Stelle der möglichen re-education trat eine zweite Gegenreformation.«70 Viele der postnazistischen Akademiker, ihrer Herkunft nach Anhänger der untergegangenen »pangermanischen« Europa-Hegemonie des Nationalsozialismus, schlüpften einfach in den Mantel einer antikommunistischen christlichen Abendland-Ideologie und blieben an den Universitäten oder kehrten bald wieder. In ein solches Muster und in das neue Kreuzzug-Denken des »Kalten Kriegs« passte Friedrich Heer71 absolut nicht. Überdies hatte er 1947 Unterrichtsminister Felix Hurdes, der dem »linken«, demokratischen Flügel der ÖVP angehörte, vor einer akademischen Rehabilitierung ehemaliger Nationalsozialisten gewarnt,72 was nicht verborgen blieb. Selbst der ihm wohlgesonnene, höchst einflussreiche Wiener Kulturphilosoph und Pädagogikprofessor Richard Meister, der vor der Spannweite von Heers Arbeit Respekt zeigte, meinte laut Habilitationsprotokoll, es sei »gefährlich, wenn solche Leute unterrichten«. Aber Heer sei ein »ehrlicher Charakter«, wenngleich »eine Reformer-Natur. Zwischen Wissenschaft und Journalisten«. Sein »Grunderlebnis ist praktizierender Katholizismus«, sagte Meister in einer Habilitationssitzung. Ebenso charakterisiere ihn »scharfe Gegnerschaft gegen den totalitären Staat« ; das spreche für Heer, da er damit auch gegen den Kommunismus eingestellt sei. Dennoch teilte Richard Meister Heers Auffassung, die er in seiner Habilitationsschrift73 vertrat, absolut nicht, dass Kaiser Friedrich I. zuerst die »Idee des totalen Staates« entwickelt habe und von hier eine »Linie bis Adolf Hitler« zu ziehen sei. Auch mit seiner Einschätzung des Ottonischen Kaiserreiches als totalitär widersprach Heer der Geschichtskonzeption etwa Leo Santifallers, der von Otto I.
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einen Bogen zu den Nachkriegsprogrammen von einer europäischen Einigung schlug und diesen Kaiser »in einem gewissen Sinne« als »Begründer Österreichs« ansah.74 Meister sprach auch einen andern Verdacht gegen Heer aus und begab sich damit als Heer-Förderer selbst in eine »schwierige Lage«, wie das Protokoll vermerkte : »Sozialistische Ansichten fast bis zum Kommunismus. Eingriffe der Sowjets in die Kirche kennt er nicht.«75 Welche Debatte sich in der Kommission daraus ergab, ist im Protokoll nicht festgehalten, aber wohl leicht vorstellbar. Unterstellungen bzw. Übertreibungen, wie sie Heer hier zugeschrieben wurden, mussten im »Kalten Krieg« für eine Universitätskarriere überall verhängnisvoll sein, hätte nicht Unterrichtsminister Felix Hurdes eingegriffen und ein chaotisches und widersprüchliches Abstimmungsergebnis im Wiener Fakultätskollegium76 zugunsten Heers ausgelegt. So wurde Heer schließlich dennoch habilitiert. Niemals wurde Heer jedoch ordentlicher Professor, obwohl er bald international bekannt und fachlich anerkannt wurde, zu groß waren gegen ihn die geschichtswissenschaftlichen und politischen Vorbehalte der etablierten Professoren und des rechten Flügels der bis 1970 die Wissenschaftspolitik bestimmenden ÖVP. Zudem leitete der unerbittliche Heer-Feind Heinrich Drimmel ab 1954 zehn Jahre lang das Unterrichtsressort. Als Drimmels Nachfolger, Theodor Piffl-Perčević, Heer eine Professur an der neu gegründeten Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Linz anbot, lehnte Heer ab, weil er von Wien nicht mehr weg wollte.77 Die Widerstände gegen einen Querdenker wie Friedrich Heer, der politisch überall aneckte und gegen die Normen des herrschenden Wissenschaftsverständnisses verstieß, waren und blieben groß. Auch bei vielen Sozialdemokraten, selbst in den Reformjahren der Ära Kreisky, der er mit wachsender Sympathie gegenüberstand, galt er ob seiner die politischen Lager übergreifenden Offenheit als eine mit Skepsis betrachtete katholische Randfigur, die mit der Sozialdemokratie nur »ein Stück Weges gemeinsam«78 ging. Auch in seinem eigenen politisch-mentalen »Lager« eckte er ständig an, seit er 1945 begonnen hatte, als Journalist bei Zeitschriften wie der »Furche«, deren Redakteur er von 1948 bis 1961 war, mitzuarbeiten. Schließlich wurde er jedoch wegen seiner unorthodoxen Ansichten aus diesem Leitorgan des österreichischen Katholizismus fast putschartig hinausgeworfen.79 Danach bekam er, wie damals in Wien gemunkelt wurde, durch eine Rettungsaktion von Linkskatholiken, einigen ÖVP-Politikern und Sozialdemokraten einen Brotberuf als Chefdramaturg im Burgtheater,80 um ab 1972 nur noch als freier Schriftsteller zu leben und zu schreiben.
Vom »Reich« über Europa zu Österreich In einem Großteil des Lebenswerkes, das Heer nach 1945 verfasste und veröffentlichte, und in seinen Büchern, zahllosen Artikeln und Aufsätzen ging es zunächst
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um Themen der deutschen und europäischen Geistesgeschichte, um die Geschichte der politischen und religiösen Ideen, Mentalitäten und Rechtsvorstellungen, die im Laufe von Jahrhunderten, ja Jahrtausenden sich wandelnd dennoch gleich blieben und bis in die Gegenwart wirkten. Fast immer kreisten seine Arbeiten um das zentrale Thema des »Reiches«, hinter dem sich, anders als bei manchen heutigen kulturgeschichtlichen Untersuchungen zum Europa-Begriff und zur heute sogenannten Europäisierung,81 Heers Beschreibungen und Konstruktionsversuche einer offenen, vielschichtigen, nicht unifizierenden europäischen Identität verbarg. Damit verweist er noch nach 1945, ja bis an sein Lebensende, auf seinen und zugleich einen spezifisch allgemein österreichischen Initial-Schock des historisch-politischen Denkens : den Zusammenbruch der habsburgischen Doppelmonarchie und der alten sozialen und politischen Ordnung ; dann auch auf die Bürgerkriege von 1934, die Machtübernahme des Nationalsozialismus (auch in Österreich) und den Zweiten Weltkrieg. (Nicht nur böswillige Kritiker meinten darin so etwas wie eine persönliche »Nachkriegspsychose« zu erkennen.82) Diese Erschütterungen, die nicht nur auf das Gebiet des alten Österreich beschränkt blieben, waren in »Ost-Mitteleuropa«, »Südosteuropa«, im »Donauraum« oder, wie immer man diese Region nennen und »eingrenzen« mag,83 besonders nachhaltig und folgenreich, vor allem wenn man sie auch, wie Heer es tut, als ko-kausal für den Aufstieg des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg sieht. Allein die Buchtitel wichtiger Bücher Heers demonstrieren dies. Ich erblicke daher in dem gigantischen intellektuellen Projekt Heers zunächst den politisch-identitätsbildenden Versuch, die katastrophalen Deformationen des Reichsgedankens in Deutschland und Österreich seit dem 19. Jahrhundert, seit den überhitzten Nationalismen und dem Nationalsozialismus wieder hinzulenken auf den größeren europäischen Zusammenhang und so die Gesellschaften mit diktatorischen Vergangenheiten zu demokratisieren. Konservativ war Heers Konzept insofern, als es nach der »Stunde null« – eine Denkfigur, die Heer nicht nur für Österreich, sondern auch für das neue Europa grundsätzlich ablehnte – auf Tradition setzte, obwohl diese (gleich welcher Art) als legitimierende Kraft nach 1945 stark diskreditiert war.84 Auch kann seine »europäische Geistesgeschichte« in das Umfeld jener alternativen »Reichsgeschichte« gestellt werden, die im konservativen österreichischen Katholizismus, in Heers intellektuellem Herkunftsmilieu, in den Jahren vor dem »Anschluss« kursierte, jedoch nie verwirklicht worden war. Zu nennen sind hier der schon erwähnte E. K. Winter und der weitgehend vergessene österreichische Historiker Konrad Josef Heilig.85 Heilig86 vertrat eine krude politisch-religiöse Heilsgeschichte, die zwar übernational, antideutschnational und antinazistisch, aber Habsburg-nostalgisch, antidemokratisch und den »Ständestaat«-rechtfertigend war. Österreichs welthistorische Aufgabe liege Heilig zufolge auch nicht im Osten bzw. Südosten der Reiches, wie die meisten deutsch-orientierten Historiker Österreichs
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imaginierten, sondern in einer Erneuerung des »Orbis Europaeus Christianus« aus der »Idee« des »Heiligen Römischen Reiches« und des alten Österreich-Ungarn.87 Damit stand diese »reaktionäre« österreichische Reichsgeschichte, zu der im weiteren Zusammenhang auch der Heer-Förderer Hugo Hantsch zu rechnen ist, in einem klaren Gegensatz zu der »gesamtdeutschen Geschichtsauffassung«. Allerdings waren die Konzepte einer österreichischen (und deutschen) Geschichte und einer entsprechenden Politik in der Zwischenkriegszeit ungemein vielfältig und ineinander übergehend. Adam Wandruszka hat diese österreichisch-deutschen Übergänge als Erster aus einer subtilen Innensicht präzise beschrieben.88 Das österreichisch-konservativ-katholische »Reichs«-Denken war und blieb die geistesgeschichtliche Hintergrundfolie der europäischen Geschichtskonzeption von Friedrich Heer ; an dessen Weiterentwicklung und Überwindung arbeitete er zeitlebens, doch schimmerte immer wieder die ursprüngliche Denkfigur von einer katholischen, tausendjährigen Kontinuität durch. Dennoch gelangte Heer allmählich zu einer immer klareren Sicht auf die negativen Seiten dieser christlichen Prägungen der europäischen und deutschen wie österreichischen Geschichte und Gegenwart. Erst später wagte er es daher, eine These auszusprechen, die ihm selbst als Katholiken schwerfiel und bei vielen seiner wissenschaftlichen und religiösen Kollegen und in der politischen Öffentlichkeit auf extreme Ablehnung stieß : die ganz konkret historische, nicht bloß metaphorische Verantwortung des Katholizismus am Judenmord der Nationalsozialisten und die kulturelle Prägung Hitlers seien schon im sich zersetzenden katholischen Milieu Österreichs der Jahrhundertwende angelegt gewesen. Heer beschrieb in seinem Hitler-Buch,89 wie er sich zunehmend kritisch Österreich als zentralem Thema, das er bisher oft nur als Nebenprodukt seiner »Reichs«Vorstellungen behandelt hatte,90 zuzuwenden begann. Allerdings sollte es noch fast eineinhalb Jahrzehnte dauern, bis er es wagte, zu diesem Thema ein großes Buch zu schreiben bzw. aus früheren Ansätzen zusammenzustellen. Es sollte sein letztes werden und trägt den Titel : »Der Kampf um die österreichische Identität«.91 In einem gewissen Sinn kann es als die Summe jahrzehntelangen geistesgeschichtlichen und geschichtspolitischen Arbeitens angesehen werden. Es geht ihm dabei nicht um eine nationalstaatliche Verengung oder eine Verengung im Sinne des Denkens in Begriffen einer einzigen »Identität«, die immer gleich bleibe, wie heutige psychologische, nationalistische oder europapolitische Identitätsdiskurse manchmal insinuieren. Statt einer Definition des (für ihn relativ neuen) Zentralbegriffs umschreibt er »Identität« folgendermaßen : »Identität : Verlust von Identität, Wiedergewinnung von Identität, als ein Erringen, Erkämpfen von Personalität, dem permanenten Bürgerkrieg im ›Ich‹ entronnen.«92
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Heer elaborierte hier noch einmal breit jenes Österreich-Bild, das propagandistisch im Ersten Weltkrieg und in den 30er-Jahren von seinen rechtsmonarchistischen (später, nach 1945 »linkskatholischen«) »geistigen Vätern« (E. K. Winter, Alfred Missong usw.) verbreitet worden war. Er reiht sich damit in eine lange Kette von Schriftstellern und Intellektuellen ein, die sich in der Ersten Republik und im Exil um die Schaffung eines »österreichischen Menschen« bemüht haben und so zur Entwicklung eines österreichischen Nationsbewusstseins beigetragen haben.93 Frappierend ähnlich argumentierte Heer auch wie der führende kommunistische Intellektuelle der österreichischen Nachkriegszeit Ernst Fischer, der Otto Bauers Nationstheorie folgend »Die Entstehung des österreichischen Volkscharakters«94 weit zurückgreifend zu (re-)konstruieren suchte. Dem hier breit dargelegten und anregenden Modell von der zweigeteilten österreichischen Kultur – das im Grunde genommen bedeutete, die Träger einer deutschen Identität in Österreich nicht zu entaustrifizieren – folgten seither auch neuere Historiker mehr oder weniger kritisch bzw. distanziert, so Ernst Hanisch95, der amerikanische Kulturhistoriker William M. Johnston96 oder der Wiener Sozialhistoriker Ernst Bruckmüller.97 Die These Heers von der langen Dauer eines dumpf-reaktionären »katholischen Österreich«, das er dem aufklärerischen, linken oder auch (deutsch-)liberalen und -nationalistischen Österreich gegenüberstellt, ist auch heute noch anregend, aber auch provokant. Sie wurde von katholisch-konservativer Seite als gegnerisch »links« eingeordnet und noch nach seinem Tod dafür mitverantwortlich gemacht, dass in den 80er- und 90er-Jahren inner- und außerhalb des Landes eine österreichkritische »schwarze Legende« entstehen konnte.98
Resümee Meine abschließende These dagegen ist : So schwer Friedrich Heer in das traditionelle politische Spektrum eingeordnet werden kann, so ist dieser bedeutende und einflussreiche österreichische Intellektuelle seiner Denkstruktur nach immer eher konservativ geprägt geblieben, trotz seiner langfristigen geistig-politischen Entwicklung, die ihn von rechtskatholischen »ständestaatlichen« Wurzeln über linkskatholische ÖVP-nahe Positionen in die Nähe von allgemeinen, nicht parteipolitisch linken, über die Sozialdemokratie hinausgehenden Ansichten brachte. Daraus erklärt sich auch seine (oft von seinen Verehrern übersehene) Skepsis gegenüber Liberalismus und Aufklärung. Im Laufe seines Lebens und der sich ändernden Zeiten durchlief er eine historiografisch-politische Denkbewegung von »Reich« und »Abendland« zu Europa und Österreich, vom Universellen zum Nationalen, das er in seiner nicht-österreichischen, deutschen Version lange abgelehnt hatte. Während sich seine stets betonte katholische Religiosität von mystisch-spirituellen zu fast atheistischen Formen ge-
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wandelt zu haben scheint, blieb er letztlich immer noch der katholischen Kirche, so wie er sie im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils verstand, verbunden. Heer ist geistig entscheidend von den 30er-Jahren geprägt gewesen. Damals schon sind die geschichtsphilosophischen Grundlagen und Strukturen seiner politischen Person gebildet worden, von denen aus er seine Ideen und Werke entwickeln konnte. Sie sind im Großen und Ganzen bis in die frühen 80er Jahre unverändert geblieben. Selbst sein Bekenntnis zum politischen Engagement, das einer der Kerne seiner Geschichtstheorie ist, lässt sich von der »kämpfenden Wissenschaft« seiner Jugendzeit herleiten, auch wenn es bei ihm in der politischen Stoßrichtung schon früh gerade umgekehrt wurde – von »links« gegen die Versionen der politischen Rechten und gegen die »bürgerliche Mitte«. Sie war immer auch scharfe Kritik wie auch schmerzende Selbstkritik. Parallel zu dieser individuellen Konstanz bei Heer blieben auch die weltpolitischen, »geistesgeschichtlichen« und vergangenheitspolitischen Strukturen über 40 Jahre hindurch von denselben großen Problemen und deren latenten Nachwirkungen geprägt, zunächst von den politischen Realitäten der faschistischen (nationalsozialistischen) und kommunistischen Diktaturen, sodann vom »heißen« und nach 1945 vom »Kalten Krieg« in Europa. Diese »kollektiven« Grundkonstellationen begannen sich erst in den 80er-Jahren zu ändern.99 Damit verloren Heers Ideen auch viel von ihrer ursprünglichen Brisanz und zugleich konnte (und wollte) er – so möchte ich vermuten – sich nicht an die neue, erst sechs Jahre nach seinem Tod voll zum Durchbruch kommende »Nachkriegszeit« anpassen. Das Denken und Schreiben Friedrich Heers sind letztlich nur, wie es E. H. Carr vorgeschlagen hat, von den makropolitischen und kulturellen Konstellationen von etwa 1933/38 bis 1989/90 her zu verstehen, als eine Erscheinung der fast 50 Jahre lang andauernden Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts in Europa.
Anmerkungen 1 Edward Hallett Carr : Was ist Geschichte ?, [1961] Stuttgart 1963, S. 44. 2 Marc Bloch : Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers. Nach der von Étienne Bloch edierten französischen Ausgabe hg. v. Peter Schöttler, Stuttgart 1997, S. 50, Anm. a (Ich folge der hier zitierten kürzeren Erstfassung von 1949 bzw. 1974, S. 54–61). Ähnlich auch : Carr : Geschichte ?, S. 66. 3 Der folgende Abschnitt erscheint in einer früheren und kürzeren Fassung auch unter dem Titel »Das Skandalon von Heers Geschichtsauffassung : ›Cum ira et studio‹« in der Zeitschrift »Spurensuche«, Wien 2009. 4 Rezension von Heinrich Fichtenaus Buch »Laster und Askese« (Wien 1948) durch Friedrich Heer in der »Furche« vom 27.11. 1948, zit. nach : Evelyn Adunka : Friedrich Heer (1916–1983). Eine intellektuelle Biographie, Innsbruck 1995, S. 429. (Der spätere Mittelalter-Ordinarius Fichtenau war ein etwa zehn Jahre älterer Kollege an der Wiener Universität, siehe unten.) 5 Unter Bezugnahme vor allem auf Heinrich Fichtenaus »Askese und Laster in der Anschauung des Mittel-
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alters (Wien 1948) siehe : Gernot Heiss : Von der gesamtdeutschen zur europäischen Perspektive ? Die mittlere, neuere und österreichische Geschichte, sowie die Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien 1945–1955. In : Margarete Grandner, Gernot Heiss u. Oliver Rathkolb (Hg.) : Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955, Innsbruck 2005, S. 189–210, hier S. 204 f. Vgl. auch für die Naturwissenschaften heute : Lorraine Daston u. Peter Galison : Objektivität, Frankfurt am Main 2007, S. 208 ff. Siehe auch Ernst Hanisch : Die linguistische Wende. Geschichtswissenschaft und Literatur. – In : Wolfgang Hardtwig (Hg.) : Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 212–230 ; Georg G. Iggers : Zur »Linguistischen Wende« im Geschichtsdenken und in der Geschichtsschreibung. – In : Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 557–570. Vgl. Peter Novick : That Noble Dream. The »Objectivity Question« and the American Historical Profession, Cambridge 1998. Jörn Rüsen : Faktizität und Fiktionalität der Geschichte – Was ist Wirklichkeit im historischen Denken ? – In : Jens Schrötter mit Antje Eddelbüttel (Hg.) : Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive, Berlin 2004, S. 19–32, hier S. 30 ; vgl. differenziert auch : Siegfried Kracauer : Schriften 4. Geschichte – Vor den letzten Dingen, Frankfurt a. Main 1971, S. 66–81. Friedrich Heer in seinem »eigenen Nachruf« von 1970, in : Karl Heinz Kramberg (Hg.) : Schriftsteller schreiben ihren eigenen Nachruf, Frankfurt a. Main 1970, zit. nach Adunka : Heer, S. 105. Othmar Spann : Kämpfende Wissenschaft : Gesammelte Abhandlungen zur Volkswirtschaftslehre, Gesellschaftslehre und Philosophie, Jena 1934 ; Walter Frank : Kämpfende Wissenschaft, Hamburg 1934 ; siehe. auch : Harold Steinacker : Volk und Geschichte. Ausgewählte Reden und Aufsätze, Brünn 1943, S. 149 ff. Winfried Schulze u. Gerhard Oexle (Hg.) : Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. Main 1999 ; Ingo Haar : Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der »Volkstumskampf« im Osten, Göttingen 2000, S. 223–236 ; Dirk Rupnow : ›Judenforschung‹ im ›Dritten Reich‹. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, (ungedruckte) historisch-kulturwissenschaftliche Habilitationsschrift, Univ. Wien 2008, S. 164–172. Daston u. Galison : Objektivität, S. 401 ff. Nach 1945 haben auch etwa Jean Amery, Hannah Arendt und Theodor W. Adorno dem sine ira-Axiom, das bei einem objektiv-distanzierten Schreiben über »Auschwitz« NS-entschuldigend wirken müsse, widersprochen, siehe etwa : Nicolas Berg : Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Berlin 2003, S. 619 ff. Siehe Mitchell Ash : Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander. – In : Rüdiger vom Bruch, Brigitte Kaderas (Hg.) : Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51, hier vor allem S. 32 ff. Vgl. Ernst Hanisch : Zeitgeschichte als politischer Auftrag. – In : Zeitgeschichte 13 (1985), S. 81–91, und Gerhard Botz : Zeitgeschichte in einer politisierten Geschichtskultur. Historiographie zum 20. Jahrhundert in Österreich. – In : Konrad H. Jarausch, Jörn Rüsen u. Hans Schleier (Hg.) : Geschichtswissenschaft vor 2000. Perspektiven der Historiographiegeschichte, Geschichtstheorie, Sozial- und Kulturgeschichte. Festschrift für Georg G. Iggers zum 65. Geburtstag, Hagen 1991, S. 299–328. Exemplarisch hierzu Rupnow ; ›Judenforschung‹, S. 167 ff. ; hier auch Beispiele aus dem Umfeld der NS»Judenforschung« und dem »Reichsinstitut für Geschichte des Neuen Deutschlands« ; allg. : Friedrich Stadler (Hg.) : Kontinuität und Bruch 1938 – 1945–1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Neuaufl., Münster 2004. Gernot Heiss : Wendepunkt und Wiederaufbau : Die Arbeit des Senats der Universität Wien in den Jahren nach der Befreiung. In : Grandner, Heiss u. Rathkolb : Zukunft, S. 9–37, hier S. 28.
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19 Friedrich Heer in seinem »eigenen Nachruf«. – In : Kramberg 1985, S. 95–104, zit. nach Adunka : Heer, S. 104 f. 20 Vgl. auch Norbert Elias : Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I, Frankfurt a. Main 1987, S. 7–72. 21 Rüsen : Faktizität, S. 23. 22 Zit. nach : Adunka : Heer, S. 42. 23 Referat Hantschs beim Ernennungsverfahren für die Philosophische Fakultät der Univ. Wien vom 5.11.1961, Österreichisches Staatsarchiv, AdR, BMU GZ 107.729–2/60 ; nicht ganz verlässlich ist die Darstellung bei : Viktor Matejka : Das Buch Nr. 3, hg. von Peter Huemer, Wien 1993, S. 165 ff. 24 Siehe dazu noch (oder : wieder) in einigen Artikeln eines teils interessanten, teils polemischen Sammelbandes : Richard Faber u. Sigurd Paul Scheichl (Hg.) : Die geistige Welt des Friedrich Heer, Wien 2008. 25 Vor allem Friedrich Heer : Europäische Geistesgeschichte, Stuttgart 1953 (Nachdruck in : Ausgewählte Werke in Einzelbänden, hg. von Konrad Paul Liessmann, Bd. 3, Wien 2004) ; ders. : Mittelalter, Zürich 1961 ; ders. : Gottes erste Liebe. 2000 Jahre Judentum und Christentum. Genesis des österreichischen Katholiken Adolf Hitler, München 1967 ; ders. : Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität, München 1968 ; ders. : Der Kampf um die österreichische Identität (1981), 3. Aufl. Wien 2001. 26 Dieser Abschnitt ist auch Teil eines in Vorbereitung befindlichen umfangreicheren Beitrags über Friedrich Heers europäische und österreichische Identitäten, der in einem von Angelo M. Vitale u. a. hg. Band (Neapel) bzw. in dem von Clemes Stepina vorbereiteten Sammelband »Ohne Wissensbildung keine Gewissensbildung« (Wien) erscheinen wird. Vgl. auch Gerhard Botz : Friedrich Heer aus zeitgeschichtlicher Sicht. – In : Gerhard Botz, Johanna Heer, Frederic Morton u. Gertrude Schneider : Zur Aktualität des Denkers Friedrich Heer. Mit einer Einleitung von Erika Weinzierl, Wien 1997, S. 29–47. 27 Siehe auch Fritz Fellner u. Doris A. Corradini : Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon, Wien 2006, S. 174. 28 Gernot Heiss : Von Österreichs deutscher Vergangenheit und Aufgabe. Die Wiener Schule der Geschichtswissenschaft und der Nationalsozialismus. – In : Gernot Heiss u.a. (Hg.) : Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 bis 1945, Wien 1989, S. 39–76, hier vor allem S. 45–58 ; vgl. auch. Friedrich Stadler : Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, Frankfurt am Main 1997, S. 920 ff. 29 Andreas Zajic : Hans Hirsch. – In : Ingo Haar u. Michael Fahlbusch (Hg.) : Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008, S. 244–246. Hiezu und zu den anderen genannten Historikern : Manfred Stoy : Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929–1945, München 2007, S. 45–241. 30 Karen Schönwalder : Heinrich von Srbik : »Gesamtdeutscher« Historiker und »Vertrauensmann« des nationalsozialistischen Deutschland. – In : Doris Kaufmann (Hg.) : Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahmen und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2000, S. 528–544 ; vgl. auch : Fritz Fellner : Heinrich Ritter von Srbik (1878–1951). – In : Hartmut Lehmann u. James Van Horn Melton (Hg.) : Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s to the 1950s, Cambridge 1994, S. 171–186, und : Adam Wandruszka : Heinrich Ritter von Srbik – Leben und Werk, und Günther Hamann : Kriegs- und Nachkriegserinnerungen eines Studenten an Heinrich Ritter von Srbik (Sonderabdruck aus dem Anzeiger der phil.-hist. Klasse der Österr. Ak. d. Wiss., Bd.115 [1978]), S. 352–365 und 366–395. 31 James Van Horn Melton : From Folk History to Structural History : Otto Brunner (1889–1982) and the Radical-Conservative Roots of German Social History, in : Lehmann u. Van Horn Melton : Paths, S. 263– 292. 32 Sebastian Meisel : Nadler, Josef. – In : Neue deutsche Biographie, hg. v. d. Historischen Kommission
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bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 18, Berlin 1997, S. 690–692, sowie : Wendelin Schmidt-Dengler : Germanistik in Wien 1945 bis 1960. – In : Grandner, Heiss u. Rathkolb (Hg.) : Zukunft, S. 211–221 ; vgl. auch : Wolfgang Müller-Funk : Josef Nadler : Kulturwissenschaft in nationalsozialistischen Zeiten ?. – In : Ilja Dürhammer u. Pia Janke (Hg.) : Die »österreichische« nationalsozialistische Ästhetik, Wien 2003, S. 93–110 ; siehe vor allem Nadlers Hauptwerk : Josef Nadler : Literaturgeschichte des deutschen Volkes, 4 Bde., 4. Aufl., Berlin 1936–1941. Josef Nadler u. Heinrich Ritter v. Srbik (Hg.) : Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum, 3. Aufl., Salzburg 1936. Ein plastischer Erinnerungsbericht : Albert Massiczek : Ich habe nur meine Pflicht erfüllt. Von der SS in den Widerstand, Wien 1989, S. 28 ff. ; umfassend : Gernot Heiß : Von Österreichs deutscher Vergangenheit und Aufgabe. Die Wiener Schule der Geschichtswissenschaft und der Nationalsozialismus. – In : Gernot Heiß u.a. (Hg.) : Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938–1945, Wien 1989, S. 39–76 ; zu den Übergangsphänomenen vom Katholisch-Konservativen zum Nationalsozialistischen immer noch am besten : Peter Eppel : Zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Die Haltung der Zeitschrift »Schönere Zukunft« zum Nationalsozialismus in Deutschland 1934–1938, Wien 1980, vor allem S. 324 ff. Das ganze Spektrum dieser Wiener Historiker der Zwischenkriegszeit ist versammelt in : Gesamtdeutsche Vergangenheit. Festgabe für Heinrich Ritter von Srbik zum 60. Geburtstag am 10. November 1938, München 1938. Karel Hruza (Hg.) : Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien 2008. Christian Gerbel : Zur »gesamtdeutschen« Geschichtsauffassung, der akademischen Vergangenheitspolitik der Zweiten Republik und dem politischen Ethos der Zeitgeschichte. – In : Christian Gerbel u. a. (Hg.) : Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur »Gedächtnisgeschichte« der Zweiten Republik, Wien 2005, S. 86–130, hier 88 ff. Heer : Kampf, S. 379 f. Albert Müller : Dynamische Adaptierung und »Selbstbehauptung«. Die Universität Wien in der NS-Zeit. – In : Geschichte und Gesellschaft, 23 (1997), S. 592–617. Siehe Stoy : Institut, Eintrag unter »491. Institutsmitglied : Friedrich Heer« ; vgl. auch Albert Massiczek : Ich war Nazi. Faszination, Ernüchterung, Bruch (1916–1938), Wien 1988. Vgl. Viktor Reimann : Fünf ungewöhnliche Gespräche, Wien 1991, S. 170. Allgemein gesehen kam dies manchmal unter Historiker-Kollegen 1938, noch mehr jedoch 1945 zu Geltung : siehe Heiss : Perspektive, S. 190 ff. Heinrich Ritter von Srbik : Deutsche Einheit, 4 Bde., Müchen 1935–1942 ; allg. siehe : Heinrich Lutz u. Helmut Rumpler (Hg.) : Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Probleme der politisch-staatlichen und soziokulturellen Differenzierung im deutschen Mitteleuropa, Wien 1982. Heer : Kampf, vor allem S. 115–210. Siehe : Fritz Fellner : Das Problem der österreichischen Nation nach 1945. – In : Gerhard Botz u. Gerald Sprengnagel (Hg.) : Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, ÖsterreichIdentität, Waldheim und die Historiker, 2., erw. Aufl., Frankfurt a. Main 2008, S. 216–240. Heer : Kampf, vor allem S. 370–405. Etwa William M. Johnston : The Austrian Mind. An Intellectual and Social History. 1848–1938, Berkeley, Calif. 1972 ; Felix Kreissler : Der Österreicher und seine Nation. Ein Lernprozeß mit Hindernissen, Wien 1984 ; Erika Weinzierl : Österreichische Nation und österreichisches Nationalbewusstsein. – In : Zeitgeschichte 17. 1 (1989), S. 44–62 ; kaum jedoch : Ernst Bruckmüller : Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, 2. erweiterte Aufl., Wien 1996. William M. Johnston : Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs, Wien 2009, S. 243 ff.
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49 Heer, Kampf. S. 398 ; zu seiner wissenschaftlichen Anerkennung in der amerikanischen Emigration siehe : Johannes Feichtinger : Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933–1945, Frankfurt/Main 2001, S.316–323. 50 Robert Holzbauer : Ernst Karl Winter (1895–1959). Materialien zu seiner Biographie und zum konservativ-katholischen politischen Denken in Österreich 1918–1938, ungedruckte geisteswissenschaftliche Diss., Wien 1992, S. 187–332. 51 Siehe den nicht wörtlich zit. Brief Heers vom 17.7.52 an Alexander von Spitzmüller bei : Adolf Gaisbauer : Von europäischen »Wanderungen«, deutschen Verhaftungen, russischen Kriegswintern und anderen Erinnerungen. Recherchen zu Friedrich Heers Biographie und »Autobiographie« der Jahre 1916 bis 1946, (ungedrucktes Typoskript ca. 2002, das mir der Autor dankenswerterweise übergab, ohne Seitenangabe), Teil I, bei Anm. 110 ; ebenso Heer in der Kleinen Zeitung, 9.2.1974, zit. bei Adunka : Heer, S. 23. 52 Ich beziehe mich auch auf meine Mitschriften der Vorlesungen Heers über »Europäische Geistsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert« 1963/64 ; vgl. auch Ernst Karl Winter : Christentum und Zivilisation, Wien 1956, S. 388–401 (Das Experiment des christlichen Staates). 53 Vgl. Botz u. Sprengnagel : Kontroversen, vor allem Teil V und mein Nachwort hier, S. 574–634 ; auch : Georg Christoph Berger Waldenegg : Das große Tabu. Historiker-Kontroversen in Österreich nach 1945 über die Nationale Vergangenheit. – In : Jürgen Elvert und Susanne Krauss (Hg.) : Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, S. 143–174. 54 Vgl. auch Adunka : Heer, S. 22 f. 55 Alfred Diamant : Austrian Catholics and the First Republic. Democracy, Capitalism and the Social Order, 1918–1934, Princeton, NJ 1960, S. 124–130. 56 Ein ähnliches österreichpatriotisches Identitäts-Konzept war schon während des Ersten Weltkriegs von konservativen österreichischen Publizisten und Schriftstellern wie Hugo von Hofmannsthal zum Ideal des »österreichischen Menschen« zugespitzt worden (Ernst Bruckmüller : Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, 2. Aufl., Wien 1996, S. 117, 129). 57 Vgl. Friedrich Heer : Österreich in Europa. – In : derselbe : Land im Strom der Zeit. Österreich gestern, heute, morgen, Wien 1958, S. 374–380. 58 Ernst Nolte : Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action française, der italienische Faschismus, der Nationalsozialismus, 2. Aufl., München 1965, S. 61 ff. 59 August M. Knoll, Alfred Missong, Wilhelm Schmid, Ernst Karl Winter und H. K. Zeßner-Sitzenberg : Die österreichische Aktion. Programmatische Studien, Wien 1927, S. 6. 60 Siehe : Andrew G. Whiteside : Georg Ritter von Schönerer. Alldeutschland und sein Prophet, Graz 1981. 61 Knoll u.a., Aktion, S. 6. 62 Richard Nicolaus von Coudenhove-Kalergi : Europa erwacht !, Zürich 1934 ; vgl. auch : Ulrich Wyrwa : Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi (1894–1972) und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger Jahren, in : Historische Zeitschrift 283. 1 (2006), S. 103–122. 63 Heer : Kampf, S. 303 f. ; allg. siehe : Anton Staudinger : Zur »Österreich«-Ideologie des Ständestaates. –In : Das Juliabkommen von 1936. Protokoll des Symposions in Wien am 10. u.11. Juni 1976, hg. v. Ludwig Jedlicka u. Rudolf Neck, Wien 1977, S. 198–240 ; auch : Richard Kromar : Der »Österreich-Mythos«. Die Funktion der Presse im »Ständestaat«, ungedruckte Diss., Grund- und Integrationswissenschatfliche Fakultät, Univ. Wien 2000, S. 124 ff. 64 Siehe die Artikel von Alfred Klahr aus 1937–1944 in : Alfred Klahr : Zur österreichischen Nation, Wien 1994, vor allem S. 11–27 und 132–143 ; allg. Thomas Kroll : Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich (1945–1956), Köln 2007, S. 266–279, und Felix Kreissler : Der Österreicher, S. 174 ff. 65 Holzbauer : Winter, S. 94 ff. Neben E.K. Winter, Alfred Missong und August Maria Knoll, siehe Heer : Kampf, S. 397 f. In manchem war dieses Selbstverständnis dem eines damaligen, nach 1945 nach links
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gehenden Nonkonformist Viktor Matejka, ähnlich, siehe : »Ich bin a Politiker. Ein Politiker hat immer die Absicht, das, was nicht funktioniert oder schlecht ist, zu verbessern.« Viktor Matejka im Interview mit Peter Huemer, in der Ö1-Sendereihe »Im Gespräch«, in : Spurensuche, Neue Folge 16. 1–4 (2005), S. 125– 142, vor allem S. 130 f. ; explizit aber auch beim »ständestaatlichen« und späteren ÖVP-Politiker : Alfred Maleta : Der Sozialist im Dollfuß-Österreich. Eine Untersuchung der Arbeiterfrage, 2. Aufl., Linz 1936. Ob und welche Beziehungen zu der vor allem in Deutschland verbreiteten Idee von einer »Konservativen Revolution« bestehen, lässt sich derzeit nicht abschätzen, vgl. : Armin Mohler u. Karlheinz Weissmann : Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, 6., völlig überarb. u. erw. Aufl., Graz 2005, vor allem S. 87–97. Nach mehrfachen mündlichen Erzählungen von Karl R. Stadler, Christian Broda und Eduard Rabovsky in den 70er-Jahren dem Verfasser gegenüber ; siehe auch : Adunka : Heer, S. 31 f. ; Gerhard Oberkofler : Eduard Rabofsky. Jurist der Arbeiterklasse. Eine Biografie, Wien 1997, S. 50 ff. ; damit auch im Kontakt stehend : Massiczek : Pflicht, S. 45 ff. ; dagegen skeptisch : Wolfgang Neugebauer u. Peter Schwarz : Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten, Wien 2005, S. 119 ff. Wolfgang Neugebauer : Der österreichische Widerstand 1938–1945, Wien 2008, S. 133–136. Antrag auf Ausstellung einer Dienstzeitbestätigung vom 1.10.1962, ÖStA, Kriegsarchiv ; siehe auch : Adolf Gaisbauer : »Heer-Bilder« oder : Ein »Widerruf« mit Folg(erung)en. In : Faber u. Scheichl (Hg.) : Welt, S. 272 ff. Heiss, Von Österreichs…, S. 58 ff. Christian Fleck : Autochthone Provinzialisierung. Universität und Wissenschaftspolitik nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich. In : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7.1 (1996), S. 67–92, hier 75 : Vgl. Friedrich Heer : Kreuzzüge – gestern, heute, morgen ?, Luzern 1969. Gerbel, Geschichtsauffassung, S. 103 f. Friedrich Heer : Aufgang Europas. Eine Studie zu den Zusammenhängen zwischen politischer Religiosität, Frömmigkeitsstil und dem Werden Europas im 12. Jahrhundert, Wien 1949. Heiss : Perspektive, S. 204. Archiv der Universität Wien, Habilitationsakt Friedrich Heer, Protokoll vom 17.5.1950, Bl. 21 f. Die Habilitationskommission hatte Heers Antrag mehrheitlich angenommen, das gesamte Fakultätskollegium lehnte ihn jedoch mit 18 gegen 15 Stimmen bei 9 Stimmenthaltungen ab, worauf wiederum 22 der insgesamt 42 Professoren ein »Minoritätsvotum« pro Heer abgaben (Österreichisches Staatsarchiv, AdR, BMU GZ 25296-I/2/50). Mündliche Mitteilung Heers an den Verfasser 1971. Zu dieser SPÖ-Linie der 70er-Jahre siehe : Beppo Mauhart : Ein Stück des Weges gemeinsam. Die Ära Kreisky-Androsch, das »Goldene Jahrzehnt«, Wien 2006. Trautl Brandstaller : Die zugepflügte Furche. Geschichte und Schicksal eines katholischen Blattes, Wien 1969. Vgl. Adunka : Heer, S. 72 ff. Vgl. : Wolfgang Schmale : Geschichte Europas, Wien 2000, S. 15, allg. : Gerald Stourzh mit Barbara Haider u. Ulrike Harmat (Hg.) : Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, Wien 2002, vor allem die Beiträge von Wlodzimierez Borodziej (S. 105–118) und Wolfgang Schmale (S. 119–140). So Rolf Schneider am 2.10.81, zit. nach Adunka : Heer, S. 610 ; weitere Zitate ebenda, S. 426 f. Frithjof Benjamin Schenk : Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung. – In : Geschichte und Gesellschaft, Bd. 28.3 (2002), S. 493–514, vor allem S. 500 ff. und 510 ff. ; Hans-Dietrich Schultz : Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie des 19./20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit, ebenda, S. 343–377, hier 365–274. Siehe auch : Maria Todo-
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rova : Der Balkan as Category of Analysis : Border, Space, Time. – In : Stourzh : Annäherungen, S. 57–84 ; Richard G. Plaschka, Horst Haselsteiner u. Arnold Suppan (Hg.) : Mitteleuropa-Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 1995. Vgl. Kevin Wilson u. Jan von der Dussen (Hg.) : The History of the Idea of Europe, London 1995S, S. 151 ff. Gernot Heiss : Pan-Germans, Better Germans, Austrians : Austrian Historians on National Identity from the First to the Second Republic. – In : German Studies Review, 16 (1993), S. 411–433 ; siehe auch : Fritz Fellner : Die Historiographie zur österreichisch-deutschen Problematik als Spiegel der nationalpolitischen Diskussion. – In : Heinrich Lutz und Helmut Rumpler (Hg.) : Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Probleme der politisch-staatlichen und soziokulturellen Differenzierung im deutschen Mitteleuropa, Wien 1982, S. 33–59, hier S. 54 f. Konrad Josef Heilig : Die Reichsidee und österreichische Idee von den Anfängen bis 1806. – In : Julius Wolf, Konrad J. Heilig u. Hermann M. Görgen : Österreich und die Reichsidee, Wien [1936], S. 35–170. Heilig : Reichsidee, S.169 f. Adam Wandruszka : Österreichs politische Struktur. – In : Heinrich Benedikt (Hg.) : Geschichte der Republik Österreich, Wien 1954, S. 369–421. Heer : Glaube des Adolf Hitler ; ähnlich auch derselbe : Gottes erste Liebe. Siehe jedoch : Friedrich Heer : Land im Strom der Zeit. Österreich gestern, heute, morgen, Wien 1958. 1. Aufl., Wien 1981, nach der ich hier zitiere ; 2. und 3. Aufl. erschienen 1996 bzw. 2001. Ebenda, S. 9. Kreissler : Der Österreicher, S. 316–371 ; vgl. Friedrich Stadler (Hg.) : Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Wien 1987. Wien 1945 ; ähnlich auch : Albert Fuchs : Geistige Strömungen in Österreich, 1967–1918, Wien 1949. Ernst Hanisch : Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, S. 24–29. Johnston : Austrian Mind ; auch Johnston : Der österreichische Mensch. Bruckmüller : Nation Österreich, 2. Aufl. Ebenda, S. 132–135 ; siehe auch Gerald Stourzh : Vom Reich zur Republik. Studien zum Österreichbewußtsein im 20. Jahrhundert, Wien 1990. Vgl. Tony Judt : Postwar. A History of Europe Since 1945, London 2005 ; dagegen Eric Hobsbawm : Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914–1991, London 1994.
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Hinschauen, hinhören, lesen, schreiben Über die Journalbücher von Karl-Markus Gauß
I. Im Jahre 1957 war Elias Canetti 52 Jahre alt, lebte und schrieb in London, sein Roman »Die Blendung« war 1946 auf Englisch erschienen, hatte ihn bekannt gemacht, aber nicht gesichert, und so notierte er sich, in der dritten Person, eine Wunschvorstellung, die später in den Aufzeichnungsband »Die Provinz des Menschen« einging : »Seine Vorstellung von Glück : ein ganzes Leben lang ruhig zu lesen und zu schreiben, ohne je ein Wort davon zu veröffentlichen.«1 In seinem dritten Journalbuch »Zu früh, zu spät« (2007) berichtet Karl-Markus Gauß, wie er in den 1970er-Jahren, nach dem Lehramtsstudium der Germanistik und Geschichte an der Universität Salzburg, die Möglichkeit, eine Stelle an einem Gymnasium anzutreten, ausgeschlagen habe. Er habe es für angemessen gehalten, »mir meine Tage mit nichts zu vertreiben als damit, was ich am liebsten tat : zu lesen und an meinen Aufzeichnungen zu schreiben, die keiner zu lesen bekam (…)«.2 Und das sei, schreibt er, durch nichts gesichert als durch die Berufstätigkeit seiner Freundin, »eine glückliche Zeit« gewesen. In beiden Fällen Lesen und Schreiben als Glücklichmacher : eine starke Gemeinsamkeit, bei sonstigen Unterschieden. Vom französischen Schriftsteller Émile Chartier (1868–1951), der unter dem Namen »Alain« eine eigene Feuilletonform entwickelte, die er »propos« nannte, ist die Aussage überliefert : »Das Bedürfnis zu schreiben ist eine Neugier, die wissen möchte, was man finden wird.«3 In seinem ersten Journalbuch, »Mit mir, ohne mich«, schreibt Gauß : »Wohin mich das Schreiben führt, weiß ich (…) nicht, darum schreibt man ja, um es zu erfahren.«4 Ebenfalls in beiden Fällen eine starke Gemeinsamkeit, bei sonstigen Unterschieden. Mit dem amerikanischen Lyriker Theodore Roethke für beide gesprochen : »I learn by going where I have to go.« »Ein Hinschauer sein, kein Zuschauer !«, hat sich Gauß eingeschärft.5 Diese Selbstmahnung hat ihm den Titel einer umsichtig-treffenden Rezension von Daniela Strigl eingebracht, dazu auch gleich die Zusatzbezeichnung »manischer Leser und Aufleser«.6 Gauß ist ein Hinschauer, nicht nur wenn eine Reise zu diesem Zweck unternommen wird und dann in einem Buch ihren Niederschlag findet, sondern er ist es auch als Fernseher. Dass er auch ein Hinhörer ist und nicht nur ein Hörer, ist
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dann nur konsequent. Das Credo, in dem Gauß sagt, warum er schreibt, enthält per se genaue Wahrnehmung, reflektierende Beobachtung und erinnerndes Verstehen.7 Als Schriftsteller, Essayist, Reiseschilderer, Erinnerer hat sich Karl-Markus Gauß eine öffentliche Position erschrieben. Geschieht etwas Ungewöhnliches – nah, fern –, kann es schon vorkommen, dass treue LeserInnen sich fragen : Was wird Gauß dazu sagen ? Das rührt vielleicht daher, dass er in seinen bisherigen Arbeiten »Empfindsamkeit für das Pulsieren der Welt« 8 bewiesen hat und man mehr darüber lesen möchte. Gauß schreibt aber nicht nur über Ungewöhnliches, sondern auch über Alltäglichkeiten, aber von jener Art, über die der Alltag leicht hinwegzugehen pflegt. Man kann verfolgen, wie sie unter seiner Tastatur reflektiert und zugespitzt werden. »Im Vergessen das Gedächtnis sein« ist denn auch der Titel der ersten Dissertation über ihn.9 Ryszard Kapuscinski, der bedeutende, vor zwei Jahren verstorbene polnische Reiseschriftsteller, Kolumnist und Weltbetrachter, dem Gauß sich näher fühlt als dem – ebenfalls bedeutenden – Bruce Chatwin, hat einmal geschrieben : »Die Welt besitzt die Struktur einer Drehbühne. Jedes Ereignis, auch das größte (das nächste Ereignis ist die folgende Szene), verschwindet gleich wieder aus unserem Blick und macht einem neuen szenischen Ereignis Platz.«10 Die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach hat zahlreiche einprägsame Aphorismen hinterlassen. Einer passt besonders gut auf Gauß’ Schreiben : »Erinnere dich der Vergessenen – eine Welt geht dir auf.«11 Zwei Schlaglichter : Weiß jemand noch, was im Juli 2001 in Salzburg geschah, als die Stadt Austragungsstätte des Weltwirtschaftsgipfels war ? Was sich niemand vorstellen konnte, begab sich im Namen von »Security«, nachzulesen in »Mit mir, ohne mich« : Eine lukrative Beherbergung verwandelte sich in eine Okkupation, Salzburg wurde zur Probebühne für eine Besetzung/Besatzung. Viele Einwohner mussten zur Kenntnis nehmen, dass ihre Wohnstraßen zu No-go-Areas geworden waren, damit Politiker und Finanzfachleute aus den wirtschaftspotenten Ländern die »Probleme« der globalen Ökonomie in Ruhe besprechen konnten – und dabei nicht im Entferntesten eine Zähmung des GlobalKapitals ins Auge fassten, das schon lange drauf und dran war, die Welt an einen Abgrund zu steuern. Gauß erinnert an das massive Großaufgebot an Polizeischutz für die Akteure, an die stundenlange Einkesselung Hunderter Demonstranten in der Wolf-Dietrich-Straße. Das mag lange her sein, aber Gauß bewirkt, dass es nicht Schnee von gestern wird, sondern der Schärfung des Sensoriums für jene Gewalt dient, die hinter jeder Gier lauert.12 (»Greed« wurde übrigens in den USA schon zu Zeiten Ronald Reagans zum Losungswort, nur waren es damals die noch nicht wirklich gefährlichen Yuppies.) Nicht nur des vergessenen Geschehens, sondern auch der Vergessenen sich erinnern : Denkt jemand noch an den Mord, den Jugendliche im Jänner 2001 auf dem Mönchsberg an einem Unterstandslosen begingen, mit einem asiatischen Schlaginstrument ? (Wer besorgt und verkauft eigentlich solche Tötungswerkzeuge ?) Der
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»Professor«, wie er genannt wurde, war ein harmloser Mann, der auf seinem Berg für sich bleiben wollte, um dort den ganzen Tag Ansprachen an die Bäume zu richten. (Gauß schnappte im Vorbeigehen einmal eine Rede an Stalin auf, ich eine an das österreichische Parlament.) Mit der Bluttat war es dann aber offenbar nicht getan. Jemand errichtete am Tatort eine kleine Gedenkstätte mit Kerzen und Blumen, die immer wieder vandalisiert wurde. Hat sich damals nicht eine neue Qualität von Gewalt im öffentlichen Raum gezeigt ?13 Bei Gauß erhalten nicht nur vergessene Einzelne, sondern auch vergessene Gemeinschaften eine Würdigung, seien es Reste von Sprachgruppen in Europa, vom Aussterben bedroht, oder Einzelne wie der Lyriker, Essayist und Dramatiker Carl Dallago, der wohl nur mehr im Umkreis des BrennerForschungsarchivs in Innsbruck präsent ist. Ohne Gauß wäre er dort, wo er eigentlich immer war, nur dass jetzt seine »lebenslängliche Randständigkeit« etwas weniger randständig ist.14 Und wie war das mit dem russischen U-Boot »Kursk« im August 2000 ? Es sank im hohen Norden, nach einer Explosion an Bord, auf eine Tiefe von 108 Metern. 118 Matrosen starben. Im Internet erfährt man Daten und Fakten :15 Mindestens 23 Besatzungsmitglieder überlebten zunächst im Inneren des Bootes. Sie erstickten dann an einem Folgebrand nach der Explosion. Angehende Journalisten lernen, dass in aktueller Berichterstattung Daten und Deuten getrennt sein müssen. Das Recht eines nicht der unmittelbaren Aktualität verpflichteten Journalschreibers ist es, Daten und Deuten zu vermischen. Gauß frischt für die Leser die allernötigsten Fakten auf,16 versetzt sie dann aber mit empathischer Imagination : das kalte, dunkle Gefängnis in der Tiefe, die Verlassenheit, in der die Matrosen um Luft gekämpft haben müssen, die Todesangst. Und weil es auch Geheimhaltung und Politik im Spiel waren, ist auch Kritik hineingemischt : Sehr spät kam der russische Präsident zu einer Trauerfeier daher. Mag schon sein, dass im Allgemeinen – aber seltener als man glauben möchte – ein Bild mehr sagt als tausend Worte, doch manchmal sagen Worte mehr als tausend Bilder.
II. Ein Beitrag über Karl-Markus Gauß fügt sich gut in eine Festschrift für Ernst Hanisch. In seiner Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert verweist Hanisch auf die »fulminante Polemik«, die Karl-Markus Gauß der österreichischen Kulturpolitik der 1970er-Jahre gewidmet hat.17 Gemeint ist Gauß’ 1989 veröffentlichtes Buch »Der wohlwollende Despot«, dessen Untertitel, »Über die Staats-Schattengewächse«, auf die Tatsache zielt, dass eine Reihe von Schriftstellern der österreichischen Gegenwart (z. B. Peter Turrini, Gerhard Roth) sich in der subventionierenden Kulturpolitik der Kreisky-Jahre gut und lohnend eingerichtet hatten, näher an die Macht herangerückt waren und diese Nähe zwar mit gewisser Gesellschaftskritik, aber in
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durchaus kalkulierter Dosierung zu vergelten wussten. Der Historiker Hanisch, der auch Germanistik studiert hat, zitiert den Essayisten Gauß, der Germanistik und Geschichte studiert hat und seinerseits nicht verhehlt, was er der in Salzburg betriebenen Geschichtsforschung verdankt, und der auch weiß, dass das den professionellen Historikern Geläufige von Zeit zu Zeit so artikuliert werden muss, dass es auch die Nicht-Fachleute erreicht. Diese Beiderseitigkeit ist z. B. Gauß’ Buch »Ins unentdeckte Österreich« mit seinen mentalitätskritischen Ausführungen über die vielfältigen und bereits den Charakter einer »longue durée« annehmenden Wirkungen der Gegenreformation anzumerken.18
III. Von dem vor zwei Jahren verstorbenen Literaturwissenschaftler Wolfgang Preisendanz stammt die wegweisende Abhandlung »Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik«, in der er analysiert, welche neuartigen und die damaligen Leser und Leserinnen irritierenden Schreibweisen Heinrich Heine in seinen »Reisebildern« vorgelegt hat.19 Preisendanz verzeichnete eine Vielfalt von Denkbahnen und Ausdrucksbewegungen, mit denen Heine die damalige Poetik der literarischen Gattungen überschritt. Und so, schreibt Preisendanz, erziele Heine seine Unverwechselbarkeit : »(…) alles Wahrgenommene, Imaginierte, Erinnerte, Empfundene, Vernommene oder Gedachte gibt Anlaß auf anderes zu geraten, (…) provoziert das Prinzip vermittelnder Unterbrechung.« Die vorherrschende Bewegung sei die »Interferenz von Progression und Digression«, sie ermögliche das Ineinander von »Beobachtung, Analyse, Imagination, Reminiszenz, Traum, Stimmung, Affekt, Meditation, Reflexion, Dialog, Lektüre«. Diese Faktoren seien »Einfallstore, Gleise, Kanäle für den Kommerz zwischen Bewußtsein und Realität«.20 Heines »Reisebilder«, obwohl bekämpft, z. B. noch von Karl Kraus in dem Großessay »Heine und die Folgen«, wirkten gleichsam als Pioniere für eine Reihe von Gattungen, Genres und Traditionen, denen sich Gauß’ Schreibweisen, ohne dass sie dadurch an Eigenart verlieren, einfügen. Auch die Freiheit, Genres zu mischen, hat Preisendanz bereits bei Heine vorgefunden. Gerade in seinen Journalbüchern ist Karl-Markus Gauß ein Textsortenüberschreiter und Verknüpfer von Gattungen und Genres. (Den Ausdruck »Hybride«, den manche nach Begriffsinnovation dürstenden Literaturmenschen einbürgern wollen und dem Gauß mit Skepsis begegnet,21 sollte man der Autoindustrie überlassen.) Man muss auch nicht gleich mit der Bezeichnung Flaneur (nach Walter Benjamin) aufwarten, wenn man Gauß als Kolumnisten, Glossator, Kommentator begegnet, in der »Furche«, in den »Salzburger Nachrichten«, in der »Presse« und in Zeitschriften von jenseits der österreichischen Grenzen. In eine Gegend passt er nicht, weil er, wie er selbst sagt, dazu nicht taugt : in den Bereich
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der Reportage, wo sich der Berichterstatter umtut, »der überall schon weg ist, bevor er noch richtig dagewesen ist.2.2 Daher gilt für ihn eine – in der Gegenwart ohnehin bereits durchlöcherte – Grundregel der Publizistik nicht : die Trennung von Daten und Deuten, die Darlegung von Fakten einerseits und ihrer Interpretation andererseits (s. o. »Kursk«). Ein Kernstück des Buchs »Mit mir, ohne mich« ist einer slowenischen Übersetzung von Schriften Karl Kraus’ gewidmet, für die Gauß die Auswahl getroffen und ein Nachwort verfasst hat.23 Neben einem Kurzporträt des Übersetzers Janez Gradisnik enthält dieser Abschnitt auch eines über Karl Kraus. Darin schildert Gauß, wie er, an seinem Dissertationsprojekt über die Ästhetik Ernst Fischers arbeitend, die zwölf Bände der erschwinglichen Dünndruck-Ausgabe der Zeitschrift »Die Fackel«24 ins Haus geliefert bekam. In die Lektüre dieser Bände sei, so Gauß, die Arbeit an seiner Dissertation versunken. (Im Jahre 2007 verlieh die Kultur- und Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Salzburg dem Mag. Karl-Markus Gauß ein Ehrendoktorat.) Ein Vergleich aus der Literaturgeschichte : Dem jungen Titelhelden in Gottfried Kellers Roman »Der grüne Heinrich« bringt ein Buchhändler eine Goethe-Ausgabe in vierzig Bänden ins Haus. Der Jüngling, unersättlich, liest sie schlankweg, aber als er sie nicht erwerben kann, packt der Buchhändler sie wieder ein. Den jungen Gauß zogen die Fackel-Bände auf ähnliche Weise in ihren Bann. Er hatte sie – wie viele, denen der 2001-Verlag ein Begriff geworden war –, rechtmäßig erworben und kein Buchhändler konnte sie ihm wieder wegnehmen. Aus diesen Bänden war fürwahr zu lernen und dies führte später zu einem Vergleich mit Karl Kraus bzw. dessen Figur des Nörglers im Drama »Die letzten Tage der Menschheit« : Gauß als »Satiriker von Kraus’scher Facon«.25 Gauß beherrscht die gepflegte Ätze und die Methode, ein Wort oder einen Satz zu dekuvrieren, durch bloßes Zitieren aufzuspießen, damit man den Inhalt von allen Seiten betrachten kann. So z. B. nachzulesen in »Zu früh, zu spät«, wo Gauß den Begriff »Reform«, der in der Regierungserklärung vom 28. 2. 2003 des damaligen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel 29-mal vorkommt, als »Re-Form«, die den Sozialstaat demoliert, entlarvt.26 Bei Karl Kraus finden sich auch modellhaft Beispiele für die Gattung Essay, die Gauß leichthändig zu beherrschen gelernt hat. Aber er hat sich, das merkt man seiner Gattungsreflexion »Eine Form der Unruhe« an, nicht etwa nur von Kraus, sondern auch von seinem generellem Gespür für Textsorten, dazu wohl auch von Georg Lukács, Theodor Adorno und Max Bense ( ?) Einsichten in die Form des Essays geholt. Der Titel verrät es : Gauß definiert den Essay als eine »Tat der Unruhe«,27 der bewegliches Denken in Gang bringt, andererseits aber auch ein Quantum beweglichen Denkens vorab verlangt. Es kommt der Gattung zu, »am Vertrauten unversehens überraschende Züge« zu entdecken. »Das Wohlbekannte wird fremd.«28 Der Essay ist eine Schreibweise der »tastenden Intention«,29 aber er verdeutlicht seine Intention entlang von Daten oder Fakten oder Annahmen. Insofern gibt es, und Gauß
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weiß das, keinen Essayismus im datenfreien Raum, so wie es generell »keine Diskussion im datenfreien Raum« (W. Singer) gibt. Der Essay ist auch, wie Robert Musil betont hat, »nicht bloß Wissenschaft in Pantoffeln«,30 trotzdem leiht er sich, was im Allgemeinen wissenschaftlichen Schreibweisen nicht zukommt, auch der moralischen Empörung. Diese Lizenz nimmt sich Gauß des Öfteren, wobei er seine Kritik, in den Worten Christian Tanzers, »keiner akademischen Zensur zu unterziehen bereit ist«.31 Das spielt auf die Tatsache an, dass Rezensenten in Gauß’ Schreibweise schon auch einmal Quellenangaben für Argumentationsstützen vermisst haben (die man sich das eine oder andere Mal doch wünscht). Auf den Bestenlisten schienen Gauß’ Journalbücher nach ihrem Erscheinen auf, konnten aber, als Nachdenkbücher, deren Kern eine intellektuelle Autobiografie genannt worden ist,32 dort nicht dauergeparkt sein, nicht unter den derzeitigen Bedingungen des Literaturbetriebs. Wie bei anderen Gattungen, die er verwendet (aber nicht in der »klassischen« Form), reflektiert Gauß über das Tagebuch. Die Tagebücher Hebbels, Musils, Gides, Jüngers, Doderers und Canettis Aufzeichnungsbücher sind durch seine Hände gegangen, aber einen unmittelbaren Einfluss gesteht er nur den Tagebüchern des 2000 verstorbenen Polen Gustaw Herling zu,33 mit ihrem welthaltigeren Charakter, der sich mit der Gattung als Versuchsstation späterer Werke verbindet. (Deshalb mag man an dieser Stelle vielleicht Max Frisch vermissen.) Persönliches hält Gauß hintan, deshalb fällt im dritten Band, »Zu früh, zu spät«, auf, dass es stärker präsent ist.
IV. Noch einmal Preisendanz : Als eine der Schreibweisen Heinrich Heines hat er festgemacht, dass bei ihm alles Wahrgenommene, Erinnerte, Vernommene Anlass gibt, auf anderes zu geraten. Am Anfang von »Von nah, von fern« erzählt Gauß von seinem donauschwäbischen Großvater in der Wojwodina und seinem Koffer. Es geht um ein Stück Familiengeschichte, das in das Schicksal dieser von Kriegsläuften leidvoll geprägten Balkan-Region eingebettet ist : Zugehörigkeit zur k. und k. Monarchie, dann zum SHS-Staat, dem Staat der Slowenen, Kroaten und Serben, dann zu Ungarn, dann die Vertreibung der Donauschwaben. Und die ganze Zeit über wechseln die Währungen, Kronen und Kreuzer weichen dem Dinar, und zum Zeitpunkt der Vertreibung befinden sich in Großvaters Koffer Pengö. Wer sagt denn, dass das sogenannte Dingsymbol der Gattungslehre der Novelle vorbehalten sein muss ? Ungarn wechselt zum Forint, in Deutschland gibt es statt Reichsmark D-Mark, in Österreich wieder den Schilling und Jugoslawien hat inzwischen den neuen Dinar. In diesen historischen Bericht schneidet Gauß den Übergang zum Euro hinein, dann erfolgt eine Rückblende in die Kindheit, als die Kaufleute als kleines Wechselgeld auch ein Wi-
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ckelbonbon, das Stollwerck, herausgaben. Dann folgt wieder eine Reflexion auf die EU, dann eine Rückblende auf die vom Adria-Urlaub übrig gebliebenen Lire. Mit einem ähnlichen Verfahren nimmt sich Gauß gesellschaftliche Vorurteile vor, und er beginnt bei sich selbst und einem in einer Mönchsberg-Passage musizierenden Rom : Wenn Zigeuner betteln, haben sie musikalisch zu sein. Im Zeitsprung zurück dann der Bezug auf ein groß dimensioniertes, verheerendes Vorurteil : Im späten 17. Jahrhundert folgten in Salzburg Scharen von pauperisierten Jugendlichen dem Zauberer Jackl, einem Sozialrebellen. Er entkam zwar den Bütteln des Erzbischofs, aber seine bettelnde Gefolgschaft, 133 an der Zahl, wurde, nach einem der letzten Hexenprozesse in Europa, hingerichtet. Das alles ist nicht unbekannt, doch neu und einprägsam wird es durch die Verbindung mit dem mühsam musizierenden BettelRom und die Aufdeckung der Struktur des Vorurteils. In »Mit mir, ohne mich« kommt Gauß nach der Ankündigungszeile »Die Schule des Totalitarismus«34 auf jene TV-Reihe »Taxi Orange« zu sprechen, mit der im Österreichischen Fernsehen eine deutsche Serie nachgeahmt wurde. (Eine zweite Staffel blieb unter der erwarteten Quote, und dann entschlief das Format.) Eine gemischte Gruppe junger Menschen war permanent einer laufenden Kamera ausgesetzt, sollte so tun, als ob es sie nicht gäbe, sollte es sich möglichst angenehm machen. Jeweils ein(e) Teilnehmer(in) wurde am Ende hinausgewählt, und wer übrig blieb, war Sieger. Dass »Observation als Genuss« erlebt werden kann, bewiesen die Tränen der Ausgeschiedenen. Allein das zu schildern wäre den Aufwand nicht wert gewesen. Doch geht Gauß von hier aus zur Bespitzelung im Metternich-Staat vor 1848, und sofort ist »Taxi-Orange« beleuchtet als Klein-Modell für den Überwachungsstaat, ob mit sich freiwillig exponierenden Menschen oder direktiv beobachteten, ist sekundär. Dass man dann als Leser, wenn man nicht zu vergesslich ist, eine notorische Spitzelaffäre in Österreich (FPÖ, Kleindienst) hinzuassoziieren kann, sorgt für politischen Realitätsbezug in die Gegenwart. Dieses Verfahren, vom einen zum anderen zu kommen, erfährt bei Gauß eine strukturelle Variante in dem, was man »Clip-Technik« nennen könnte. Nicht alles, was zu einem Thema gesagt werden kann, muss auf einen Sitz zu Papier gebracht werden, sondern kann in Portionen verteilt werden. Ein Beispiel dafür in »Zu früh, zu spät« sind die Ausführungen über den Genfer Professor für Ästhetik Henri-Frédéric Amiel (1821–1881), der sein eigentliches Leben in das nächtliche Führen eines Tagebuchs verlegt und auf diese Weise 17.000 Seiten gefüllt hat.35 In diese Ausführungen mit der zutreffende These, Amiel habe über seinem Tagebuch sein Real-Leben verschlafen (Bindungsscheu, Einsamkeit, geringer Erfolg bei den Studierenden der Genfer Akademie), schneidet Gauß, in der Er-Form zwar, Persönliches über Nicht-Schlafen : Einschlafen, Hochschrecken, Lagewechsel, Wasser trinken, Todesgedanken, Finanzenbilanzen ziehen, den ersten Bus wahrnehmen (den Vierer wohl), schließlich Einschlafen. Ein Satz von Amiel über »die Mütter, den Grund der We-
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sen« (ohne den erwartbaren Bezug zu Faust II) führt Gauß hin zur eigenen Mutter, die, in terminaler Krankheit, ihre Erinnerungen niederschreibt. Ein anderes Kapitel, »Unorte, Örtlichkeiten«, verfährt ähnlich.36 Ein erzählender Essay über Jean Améry, dessen Schicksal als österreichischer Jude und KZ-Häftling ihn zum Opfer von Folter gemacht hat (»Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert«), führt an den Hotel-Unort »Österreichischer Hof« in Salzburg, in dem Améry im Oktober 1978 Selbstmord verübt hat. Hier hinein setzt Gauß einen Abschnitt über die Folterungen, die im irakischen Gefängnis von Abu Ghraib von amerikanischem Wachpersonal verübt und 2006 medial dokumentiert wurden. Als man diese Bilder mit Entsetzen zur Kenntnis nahm, hat da, wer Amérys Schilderung von Folter einmal gelesen hat, sofort an sie gedacht ? Drängte sich diese Verbindung selbstverständlich auf ? Tat sie nicht. Gauß vollzieht sie jedoch, und sie lehrt uns, wie spur- und nutzlos bloße Empörung sein kann, wenn nur genügend Zeit vergeht.
V. Eine besondere Vorliebe Gauß’ gilt in den Journalbüchern (wenn auch nicht nur dort) der rhetorischen Gattung Personenporträt, wobei im Besonderen die Befähigung, sie kurz und doch eindringlich zu gestalten, hervorzuheben ist. Es sind gleichsam feinmechanisch geprägte, deshalb einprägsame Zeichnungen von Gestalten, deren nach Gauß’ Meinung zu wenig gedacht wird oder denen zu wenig Fairness zugekommen ist. Das ist in »Von nah, von fern« ein Erinnerungsbild an den Salzburger Schriftsteller Franz Innerhofer, der sich am 22. Jänner 2002 in Graz das Leben genommen hat. Gauß verschweigt nicht, dass Innerhofer nach seinem Erstlingsroman »Schöne Tage« von 1974 nicht mehr an diese Qualität anschließen konnte, aber er weist nachdrücklich auf die leichtfertig verabreichte Kälte hin, mit der die Rezensenten das Nicht-so-Gelungene an den späteren Büchern Innerhofers heruntergemacht und ihn als erledigt betrachtet haben.37 Dem Bemühen, die Literatur der Nachbarländer uns Österreichern nahezubringen, dem ein beträchtlicher Teil des literarisch-publizistischen Schaffens Gauß’ gewidmet ist, ist das Porträt zuzuordnen, das Gauß France Preseren zur Wiederkehr des 200. Geburtstags gewidmet hat. Es ist ein Personenbild, das mit damaliger Zeitgeschichte verwoben wird, für einen Mann, der der Nationaldichter der Slowenen geworden ist.38 Das Kabinettstück, das dem Salzburger Walter Kappacher gewidmet ist, sei hier durch zwei Hinweise ergänzt: Im Jahre 2008 wurde diesem sich wenig präsent machenden Schriftsteller ein Ehrendoktorat der Universität Salzburg verliehen, und Ende Mai 2009 wurde ihm der Büchnerpreis zugesprochen.39 In die Reihe der Porträtierten gehört auch Elias Canetti, aus Anlass von dessen Buch »Party im Blitz«, in dem seinerseits einige Personenporträts, z. B. über seine zeitweise Geliebte Iris Murdoch, enthalten sind. So
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bilanziert Gauß : »Ein Großer der Literatur, mit Missgunst und Neid geschlagen«, ein »widerwärtiges Buch« (das, so ist zu vermerken, der Nachlassverwalter herausgegeben hat). Eine gleichsam logische Folge von Gauß’ Eintreten für Vergessene bzw. Benachteiligte der Literaturgeschichte ist, dass er sich die Schatten genau ansieht, die die Großen auf sie werfen : »Das ausgespieene Selbstporträt : in mitleidsloser Scharfsicht analysiert Canetti an den anderen, was er von sich in ihnen entdeckt ; auf diese Weise reinigt er sich.«40 Damit weist Gauß auf das Schmutzwasser nach solcher Reinigung hin. Gehörte auch das, so fragt man, zu Canettis eingangs erwähntem Glück des ruhigen Lesens und Schreibens ?
VI. Dass Gauß’ Ereignis-, Medien- und Lektüre-Analyse ein subjektiver Faktor zugrunde liegt, ist betont worden41 und liegt durchaus auf der Linie der von Wolfgang Preisendanz gelieferten Analyse literarisch-publizistischer Schreibweisen. Im Besonderen gilt dies vom Hinseher und Hinhörer Gauß, der in seinen Journalbüchern immer wieder Beispiele kritischer Beschreibung von Kulturindustrie gibt, auch wenn die Namen Adorno und Horkheimer nicht explizit erwähnt werden. Günther Stocker, wie Gauß Absolvent der Salzburger Germanistik, hat über Gauß’ Kulturkritik, wie sie dem Band »Mit mir, ohne mich« zu entnehmen ist, in der »Neuen Zürcher Zeitung« geschrieben, sie bewähre sich »als Gegengift gegen den fortlaufenden Schwachsinn, der uns täglich in Form von Talkshows und Meinungsumfragen, Politikerstatements und Leitartikeln entgegenschwappt,«, und das Buch sei deshalb »ein Trostbuch für denkende Zeitgenossen.42 Gauß macht deutlich, wie sehr Televisionsbilder der sprachlichen Kommentierung bedürfen, ganz im Sinne Ryszard Kapuscinskis : »Das Fernsehen vermittelt ständig neue Bilder der Welt, ist jedoch nicht in der Lage, diese um Reflexionen zu bereichern.« Bilder verlangen sprachliche Reflexion.43 Dabei erzeugt das Eingängige an Gauß’ pointiertem Stil neue Vorstellungen vom Inhalt, auch wenn man diesen im Kern bereits kennt : So mindert sich die Ohnmacht, mit der man die Bilder aus dem Irak-Krieg des George W. Bush, aus den Kameras der vom Militär fürsorglich gesteuerten »embedded journalists«, verfolgt hat, vorübergehend ein wenig, wenn Gauß den Krieg sieht als etwas, »von dem im Fernsehen gerade eine spannende Direktübertragung läuft«.44 Gauß hat Gespür für das kritikwürdige Kurzlebige, das mit medialem Getöse auftritt, z. B. beim Moderator und sogenannten Pop-Literaten Benjamin von Stuckrad-Barre, gepusht, zu beider Nutzen, vom deutschen Tele-Talkmaster Harald Schmidt. (Wo ist, so darf man heute fragen, der mediale Selbstdarsteller St.-B., Produkt der Kulturindustrie und zugleich einer ihrer Zuträger, denn geblieben ?) Am Beispiel einer Nachmittags-Talkshow des ORF schreibt Gauß über das Phänomen, dass sich einerseits immer wieder viele Menschen
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finden, die, angestachelt von der Talkmasterin, vor der Kamera ihr Innenleben offenlegen und dabei immer wieder viele lustvoll Zuschauende und Zuhörende finden, im Studio dortselbst und in den Wohnzimmern. Unvermeidlich, dass dem Blick Gauß’ auch ein anderes Phänomen der Kulturindustrie, in diesem Falle ein vom Fernsehen erzeugtes politisches, aufgefallen ist : »Kaum ein Parteisprecher antwortet mehr auf die Fragen, die ihm gestellt werden, vielmehr verlautbart er unverdrossen, was zu verlautbaren er sich vorgenommen hat«45 und, so darf man hinzu fügen, was ihm Spindoktoren eingesagt haben. (Nicht nur Parteisprecher reden so abspulend, sondern vormals auch eine Ministerin, die auf nachbohrende Fragen von Interviewern nicht nur unverdrossen ihre Antworten wiederholte, sondern die auch dahingehend durchgecoacht worden war, nur ja ihren vorarlbergisch-tirolischen Akzent hervorzukehren.) Es ist wohltuend, dass jemand eine Kritik der Kultur- und Bewusstseinsindustrie wachhält, die heute von vormaligen Schülern Theodor W. Adornos, z. B. von Norbert Bolz, beschossen wird, ohne eine Alternative anzubieten.
VII. Ein Publizist sucht Öffentlichkeit. Daran hängt ein besonderer Umstand. Marie von Ebner-Eschenbach : »Wer in die Öffentlichkeit tritt, hat keine Nachsicht zu erwarten und keine zu fordern.« 46 Die österreichische Schriftstellerin, die über geringe Lust und Kapazität an Streitbarkeit verfügte, rationalisierte in diesem Aphorismus die Kränkungen, die ihr die Theaterkritiker antaten. Karl-Markus Gauß gibt ihr wahrscheinlich mit dem Zusatz recht, dass seine Lust an Streitbarkeit vielleicht nicht größer, sein Potenzial an Polemik aber doch reichhaltiger ist. Gauß ist in Fehden geraten, die er nicht wollte, z. B. mit Elfriede Jelinek, oder es ist ihm, seit der Regierungsbildung ÖVP-FPÖ,47 vorgehalten worden, er desavouiere antifaschistische Protestbewegungen.48 Das war so nicht differenziert genug gesagt. Bei genauerer Betrachtung entspringt ein guter Teil von Gauß’ öffentlich-politischer Kritik seiner Empfindlichkeit gegenüber jener Empörung, die immer dann sich äußert, wenn ein Missstand in Österreich gleich Anlass zu pauschaler Diffamierung der Republik gibt. Der »Sprachabsolutismus der österreichischen Empörungsrhetorik«, der sich seit der Affäre um Kurt Waldheims NS-Vergangenheit – darin war sich Gauß mit seinem 2003 verstorbenen Freund Egon Matzner, einem Wirtschaftswissenschaftler und Gesellschaftskritiker, einig –, in »routinierten Etüden der Österreich-Beschimpfung« ergeht,49 habe bereits den Charakter einer reflexartigen Konditionierung angenommen. Dies wiederum ist ein Punkt, an dem sich Karl-Markus Gauß und Ernst Hanisch treffen. Hanisch hat des Öfteren, zuletzt in dem Aufsatz »›Selbsthaß‹ als Teil der österreichischen Identität«, Stellung bezogen gegen jene Intellektuellen, die jederzeit das »Sündenregister der Gesellschaft« parat haben und »dem Volk«, das
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verbockt faschistoid sei, » die Leviten lesen«. Hanisch nennt z. B. Josef Haslinger, Ruth Beckermann, Robert Fleck, Gerhard Roth, deren »erschreckende historische Halbbildung« sie für differenzierende Sehweisen disqualifiziere und die in Österreich nur mehr ein Land von Tätern sehen wollen.50 Vormals habe ein Selbsthass österreichisch-deutschnationaler Intellektueller der »deutschen Sehnsucht« zugearbeitet, heute könnte Selbsthass die Grundlagen der Zweiten Republik – demokratischer Grundkonsens als Widerstand gegen plebiszitäre Führerdemokratie – unterhöhlen. In »Mit mir, ohne mich« erzählt Gauß eine Episode, die auf die Widersprüchlichkeit der Empörungsautomatik und ihrer Wortführer abzielt. Zuvor ein Einschub : »Ein Intellektueller, der sich an die Herrenkaste heranmacht, begeht Verrat am Geist«, schrieb Heinrich Mann in einem viel zitierten Abschnitt seines Essays »Geist und Tat«.51 In eine historische Reflexion über das Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich verwebt Gauß einen Bericht über den Österreich-Besuch im Mai 2001 des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und veranschaulicht darin, was Heinrich Mann gemeint haben könnte. Gauß wittert im damaligen Österreich, das noch dabei war, sich von den Sanktionen zu erholen, die von 14 Staaten der EU wegen Bildung einer Koalitionsregierung zwischen ÖVP und FPÖ verhängt worden waren, Bedarf nach »Erlösung« aus Deutschland. »Darum gab es großes Gedränge, als er in Wien erschien, und die kritischen Köpfe, statt zu tun, was von ihnen verlangt werden darf, nämlich peinlich Distanz zu halten zu jedweder Macht, drängelten sich, ihn zu sehen und mit ihm gesehen zu werden.«52
VIII. Mit dem Gewicht, das hinter Gauß’ zahlreichen Büchern als Autor, Co-Autor, Herausgeber und Co-Herausgeber, Textbeiträger zu Bildbänden (Inge Morath, Kurt Kaindl) und ihren Übersetzungen in 15 Sprachen steht, den literarischen und publizistischen Preisen, die sich bei ihm angesammelt haben – mit dem Manès-SperberPreis 2005 befindet er sich z.B. in Gesellschaft von Siegfried Lenz, Claudio Magris, Ilse Aichinger –, kommt ihm Gewicht auch als politischer Kommentator zu, der die Fähigkeit zum Faschismus-Warner entwickelt hat. Dabei geht Gauß, für Österreich nicht ganz überraschend, von dem sowohl künstlerischen als auch politisch sich deklarierenden Wiener Aktionismus aus. Was Gauß am Aktionismus und deren Höhepunkt in der Wiener Uni-Ferkelei im Juni 1968 kritikwürdig findet, ist nicht deren fäkalisch-schockierender Charakter, sondern deren Sprachlosigkeit. »Mit den Aktionisten wurde die Revolte« – die im Pariser Mai 1968 durchaus eloquent war – »sprachlos, anti-intellektuell und auf überspannte Weise katholisch.« Dann der Sprung in den Verdacht, das könnte so weit von faschistischem Denken nun auch wieder nicht entfernt sein : »Wie ist das nun ? Verhalten sich die theatralischen Selbstverstümme-
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lungen, Geißelungen, Ritzungen und Blutverschüttungen, die das Markenzeichen des Aktionismus wurden, zum Faschismus tatsächlich so konträr ? Oder herrscht zwischen dem faschistischen Menschenbild und jenem, mit dem der Wiener Aktionismus reüssierte, nicht vielleicht doch eher eine verschwiegene Verwandtschaft ?53 Von Karl Markus Gauß geäußert, ist eine solche Vermutung bedenkenswert. Er gehört nicht zu denen, die das Wort »faschistisch« leichtfertig gebrauchten, bis es nach 1968 inflationär wurde und es schließlich aufs ganz gewöhnliche Niveau der AlltagsFäkal-Flüche schaffte. Da Gauß bei der Kulturkritik der Frankfurter Schule nicht einfach stehen geblieben ist, sondern sie fortschreibt, ist es nicht verwunderlich, dass er seinen Blick auch auf Silvio Berlusconi richtet, den Steh-auf-Ministerpräsidenten Italiens. An dem in freien Wahlen wiedergewählten, unter Betrugsverdacht stehenden Milliardär – »freie Bahn dem Betrüger«54 – bewährt sich Gauß’ Selbstmahnung »Ein Hinschauer sein, kein Zuschauer !« In »Zu früh, zu spät« beobachtet Gauß, der schon zuvor scharfe »Hinschauer« auf die EU, das halbe Jahr der EU-Ratspräsidentschaft Italiens unter Berlusconi. Seine Medienmacht Berlusconis sollte für die EU Grund sein, sich Sorgen wegen Unterhöhlung der italienischen Gesellschaft zu machen. Mit seinen Versuchen, Italien als seine gesellschaftliche Domäne zu betrachten, wird er für Gauß zu einer »europäischen Fratze«.55 An anderer Stelle von Gauß erwähnt, ist hier einzubringen, auf welch weitere Weise der Medienmogul eine »Selbstzerstörung der Demokratie« herbeiführen könnte : Menschen zu Gaffern zu machen, deren einzige Aktivität im Zuschauen besteht. Die italienischen Fernsehstationen, die er besitzt und beeinflusst, sind heute in ihrer permanent Gelächter einblendenden Dümmlichkeit gleichzeitig ein Spiegel der Verdümmlichung der Zuschauer durch eben sie. Vor wenigen Jahrzehnten warnte ein Italiener, der Schriftsteller und Filmregisseur Pier Paolo Pasolini, davor, dass die Zerstörung der ländlich-bäuerlichen Struktur Italiens und der Übergang zur totalen Konsumgesellschaft ein Einfallstor für einen neuen Faschismus öffnen könnte. Die wuchernde Telekratie des Silvio Berlusconi mit ihren entdemokratisierenden, die Menschen entmündigenden Tendenzen könnten ein weiteres solches Faschismus-Einfallstor darstellen.56 Per Synergie-Effekt taucht die Möglichkeit eines zuerst Konsum-, dann Zuschau-, dann (jederzeit anzustachelnden ?) Zugreif-Faschismus auf. Die Bezeichnung Silvio Berlusconis als »Teufelseintreiber Europas« ist, bedenkt man, dass Gauß im Allgemeinen Wortspiele nur sparsam verwendet, eine erhellende Metapher.57 Zuschauen, Gaffen : Im Sommer 2003 brauste eine Hubschrauberflotte Marke Black Hawk in einem vom Red-Bull-Produzenten gesponserten Rotor-Happening über Salzburg, dazu jede Menge anderes Fluggerät, als donnerndes Kunstereignis. Gauß hat es mit Schärfe wahrgenommen. Erst soll das Wort nicht fallen, dann fällt es aber doch : »Nein, ich sage es nicht, aber wenn ich es sagte, dann schiene mir für das, was ich sagen wollte, das Wort vom Amüsierfaschismus nicht unangebracht.«58 Hat nicht auch bei uns das Fernsehen dem Gaffen und Beeindrucktsein vorgebaut ? Der
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Satzbau des Sarkasmus bei Gauß legt den Zynismus der Veranstalter bloß. Exekutiert durch das Bundesheer, durch Red-Bull-Geld bezahlt, dröhnte der Mega-Event den Salzburgern die Ohren voll und riss ihnen die Köpfe hoch. Aus Zuschauern wurden gleichzeitig Hinaufschauer, in jenem Modus, in dem man zu Götzen oder Führern hinaufschaut. Dass in jenem Sommer auch noch die Künstlergruppe Gelatine ein »Brunzmandl« aufstellen durfte (Gymnastikfigur Brücke plus Urin aus einem erigierten Penis direkt in den eigenen Mund), fügte sich dem Zuschauen gut an (dann aber, das bleibe nicht unerwähnt, auch dem Protestieren). Dass in jenem Sommer im Landestheater, wie Gauß schreibt, eine Inszenierung von Georg Büchners »Woyzeck« gezeigt wurde, die »reaktionärste«, weil einer aus der Regietheater-Garde aus Deutschland aus dem geschundenen Woyzeck einen Serienmörder machte, fügt sich ebenfalls gut an.59 Überhaupt ist erquickend zu lesen, was Gauß zum Regietheater zu sagen hat. Man erfährt z. B., dass die Erbengemeinschaft nach Tennessee Williams gerichtlich durchgesetzt hat, »dass Frank Castorf seine Inszenierung von ›Endstation Sehnsucht‹ nicht mit diesem Titel benennen darf. Gauß : »Bravo, Erbengemeinschaft !«60 Schade, dass Gauß nicht auch über Johann Kresnik geschrieben hat, einen in Deutschland wild gewordenen Kärntner, der als KP-Mitglied das Tanztheater in Deutschland aufmischt und im selben Jahr 2003 für die Salzburger Festspiele Henrik Ibsens »Peer Gynt« inszenierte, das heißt, auf ein Drittel des Textes heruntermetzelte, dafür Dinge hineintat – z. B. Inzest auf offener Bühne –, die bei Ibsen nicht zu lesen sind. Wünscht man sich nicht auch, dass die Erbengemeinschaft Henrik Ibsens Ähnliches durchgesetzt hätte ? Und, wenn wir schon dabei sind : Auf welche Weise lässt sich, so fragt man als harmloser Kartenkäufer und Besucher von Schillers Drama »Die Räuber« bei den Salzburger Festspielen 2008, diese vom Hamburger Thalia-Theater eingekaufte Aufführung rechtfertigen, die mit einem Franz Moor nicht auskommt, sondern vier Fränze auf der Bühne benötigte ? Die »Salzburger Nachrichten« haben übrigens für solche und ähnliche Inszenierungen einen Bejubler namens Bernhard Flieher unter Rezensions-Vertrag. Dagegen hilft, wenn überhaupt, nur scharfes Hinschauen und eindringliches Räsonnieren, wie Gauß es tut. Vielleicht ließe sich einmal – ein Wunsch an das angekündigte vierte Journalbuch – der Gedanke verfolgen, inwiefern Auswüchse des Regietheaters in den vergangenen Jahren, die Beliebigkeit, mit der es mit der Unwissenheit der Zuschauer über die so willkürlich traktierten Originale spekuliert, ein Analogon darstellt zu den Auswüchsen und Auswucherungen jenes Bank- und Börsengehabes, die eine Blase erst aufgebläht und dann weltweit zum Platzen gebracht hat. Der Eindruck ist kaum abweisbar, dass den Manipulateuren auf dem Theater und jenen auf den Finanzmärkten das Wissen darüber entschwindet, was sie da inszenieren und verkaufen. Der in und mit Büchners »Woyzeck« Amok laufende Regisseur Michael Thalheimer und die durch die Geldmärkte taumelnden Verkäufer von Derivaten – ähneln sie sich nicht im Punkt der entweder unverstandenen oder zynischen Beliebigkeit ?
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»Von nah, von fern«, 2003 erschienen, enthält auf den Seiten 22–23 einige Ausführungen über den Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider, denen nach seinem Unfalltod im Oktober 2008 neue, prophetisch zu nennende Bedeutungsfacetten zugewachsen sind. Unter dem Stichwort »Beschleunigung« liefert Gauß ein KurzPsychogramm : Der Landeshauptmann jettet in den Irak zu Saddam Hussein (es ist nie die Vermutung entkräftet worden, er habe dort nur eines der Doubles Saddams getroffen) ; dann stellt er sich in Österreich vor die Mikrofone, auf dass es die Welt erfahre, dann geht es per Helikopter zur Aschermittwoch-Rede in Ried im Innkreis, dann nach Klagenfurt, dann Abschlaffe, am nächsten Tag, von Kritikern getadelt, Rücktrittserklärung, am Tag danach Rücktritt vom Rücktritt. Zu den Fakten die Deutungen : Haider, so Gauß, sei immer dabei, »mitten aus dem Grinsen in die Depression gerissen zu werden«, verbunden mit der wachsenden Abhängigkeit von Beschleunigung einerseits und Selbstentblößung andererseits, in immer kürzeren Intervallen. »Die Beschleunigung zielt am Ende stets auf den Kollaps, den Zusammenbruch, sie schafft Typen, die immer erfolgreicher werden, bis sie« – hier setzt Gauß prophetisch mehrere destruktive Möglichkeiten an, aber eben auch die folgende – »mit dem Porsche gegen eine Betonwand rasen (…)«. Nun, am 11. Oktober 2008 war es kein Porsche, es saß auch nicht, wie zuvor einmal publicityträchtig als Bundeskanzler, Dr. Wolfgang Schüssel mit drin, sondern es war die Karosse Phaeton von VW. Der Alkoholspiegel war außerordentlich, die Beschleunigung ebenfalls, und dann – braucht man nur Gauß zu wiederholen : »Die Beschleunigung zielt am Ende stets auf den Kollaps.« Es dauerte ziemlich lange, bis einer Journalistin dämmerte, dass Phaeton in der griechischen Mythologie der Sohn des Sonnengottes Helios ist, der mit dem Sonnenwagen in einen Crash fährt. Ob Haiders Stellvertreter als Landeshauptmann, hernach selbst Landeshauptmann, daran gedacht hat, als er den Kärntnern verkündete, mit Haiders Tod sei die Sonne vom Himmel gefallen, ist nicht wahrscheinlich.
IX. Der Philosoph Odo Marquard vertritt die These, dass der moderne Gesellschaftsprozess nach Kompensationen verlangt : »Je schneller – durch Innovationen – in unserer Welt aus Gegenwart Vergangenheit wird, umso stärker wird das Interesse an Vergangenheit. So entsteht – gerade in der modernen Fortschrittswelt – der konservative und historische Sinn mitsamt der wissenschaftlichen Erinnerung durch die Geisteswissenschaften (…). Das Zeitalter der Entsorgungsdeponien ist zugleich das Zeitalter der Bewahrungsdeponien, der Museen.«61 Und der Bewahrungsbücher, wie Gauß sie schreibt. Sein Kommentar zu Odo Marquard könnte sein : »Die eigene Vergangenheit wächst. Aber wir leben in einer Gesellschaft, in der alles Vergangene
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schrumpft.«62 Das will Gauß verhindern. Der Abschnitt »Als meine Mutter starb« gegen Ende des Bandes »Zu früh, zu spät« macht glaubhaft, was auf Seite 399 zu lesen ist : dass es kein viertes Buch dieser Art geben werde. Inzwischen hat Gauß eines für Herbst 2010 angekündigt, sein »Opus magnum«. Es wird, so ist anzunehmen, einen anderen Grundduktus haben, aber es wird für vieles Platz haben müssen : von der Mythenbildung nach dem Tod eines Politikers über die Art und Weise, wie die österreichischen Trompeter des »Mehr privat, weniger Staat !« sich in einer windstillen Ecke des Druck- und ORF-Journalismus wohlfühlen dürfen und dort auf das Ende der globalen Krise warten möchten, über die Schäden, die den nicht öffentlichkeitsmächtigen Vielen angetan worden sind und werden und die bereits jetzt ins Vergessen sinken, bis hin zum Schicksal der Europäischen Union, an deren jetzigem Zustand Gauß seit langem Kritik übt und die neu definiert werden muss. Und, und, und …
Anmerkungen 11 Elias Canetti : Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942–1972. Frankfurt/Main 1976. S. 189. 12 Karl-Markus Gauß : Zu früh, zu spät. Wien 2007. S. 51f. 13 Alain (= Émile Chartier) : Die Kunst, sich und andere zu erkennen. Fünfundfünfzig Propos und ein Essay. Auswahl, Übersetzung und ein Nachwort von Franz Joseph Krebs. (insel taschenbuch 2103). – Frankfurt/ M. und Leipzig 1991. S. 112. 14 Karl-Markus Gauß : Mit mir, ohne mich. Ein Journal. Wien 2002. S. 312. Das zwischen den beiden bereits zitierten Journalbüchern erschienene »Von nah, von fern« trägt den Untertitel »Ein Jahresbuch« und ist 2003, wie die beiden anderen auch, im Wiener Verlag Zsolnay erschienen. Es sind nicht, wie die Untertitel nahelegen, Tagebücher mit Tages-, sondern mit Monatsangaben. 15 Gauß : Zu früh, zu spät. S. 140. 16 Daniela Strigl : Ein Hinschauer, kein Zuschauer. Karl-Markus Gauß’ neues Journal »Zu früh, zu spät«. In : Die Furche Nr. 12. 22. März 2007. S. 18. 17 Gauß : Zu früh, zu spät. S. 160. 18 Ryszard Kapuscinski über Ksawery Pruszynski. In : Ryszard Kapuscinsky : Die Welt im Notizbuch. Aus dem Polnischen von Martin Pollack. ( = serie piper 3645). – München, Zürich 2003, S. 15f. Der Übersetzer Martin Pollack ist ein wichtiger Publikations- und Editionspartner Gauß’. 19 Christian Tanzer : Im Vergessen das Gedächtnis sein. Der Essayist Karl-Markus Gauß. Stuttgart 2007. 10 Kapuscinski : Die Welt im Notizbuch. S. 18. 11 Marie von Ebner-Eschenbach : Aphorismen. Nachwort von Ingrid Cella. (= RUB 8455). Stuttgart 1988. S. 33. 12 Gauß : Mit mir, ohne mich. S. 331ff. 13 Gauß : ebd., S. 162. 14 Gauß : ebd., S. 30. 15 http ://de.wikipedia.org./wiki/kursk , Stand vom 26.9.2008. 16 Gauß : Mit mir, ohne mich, S. 27f. 17 Ernst Hanisch : Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994. S. 475.
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18 Karl-Markus Gauß : Ins unentdeckte Österreich. Nachrufe und Attacken. München 1998. 19 Wolfgang Preisendanz : Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik. In : W. P. : Heinrich Heine. Werkstruktur und Epochenbezüge (1975). (= UTB 206). Zweite, vermehrte Auflage München 1983. S. 21–68. 20 Preisendanz : Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik. S. 31. 21 Gauß : Zu früh, zu spät. S. 396f. 22 Gauß : Zu früh, zu spät. S. 367. 23 Gauß : Mit mir, ohne mich. S. 267–279. 24 Die Fackel. Frankfurt/M. Verlag 2001. 1977 ff. 25 Strigl : Ein Hinschauer, kein Zuschauer. S. 18. 26 Gauß : Zu früh, zu spät. S. 19. 27 Karl-Markus Gauß : Eine Form der Unruhe. Gerhard Amanshauser als Essayist. – In : Josef Donnenberg (Hg.) : Gegen-Sätze. Salzburg 1993, S. 184–188. Hier S. 185. 28 Gauß : ebd., S. 186. 29 Theodor W. Adorno : Der Essay als Form. – In : Th. W. A. : Noten zur Literatur I. Frankfurt 1958. S. 9– 49. Hier S. 36. 30 Robert Musil : Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu (September 1931). – In : R. M. : Gesammelte Werke 8 : Essays und Reden. Reinbek bei Hamburg 1978. S. 1203–1225. Hier S. 1223. 31 Tanzer : Im Vergessen das Gedächtnis sein. S. 43. 32 Anton Thuswaldner : In den Händen von Toren. Karl-Markus Gauß und sein Journal »Zu früh, zu spät«. – In : Salzburger Nachrichten. 6.3.2007. S. 11. 33 Gauß : Mit mir, ohne mich. S. 156. 34 Gauß : Mit mir, ohne mich. S. 84ff. 35 Gauß : Zu früh, zu spät. S. 107–122. Gauß bezeichnet das Tagebuch als »grandios im Scheitern«, was allerdings die Frage nach sich zieht, wie bei dieser Textmenge ein Nicht-Scheitern hätte aussehen sollen. Der junge Hugo von Hofmannsthal schrieb 1891 über die französische Teil-Veröffentlichung einen rezensierenden Essay, »Das Tagebuch eines Willenskranken«, in dem er dessen Antennen-Qualitäten betont hat. Amiels Gedanke, dass jede Landschaft ein Seelenzustand sei (»Tout paysage est un état de l’âme«), ist in der Folge viel zitiert worden und ist ein Schlüssel für Aspekte der Literatur des Symbolismus. 36 Gauß : Zu früh, zu spät. S. 277ff. 37 Gauß : Von nah, von fern. S. 17ff. 38 Gauß : Mit mir, ohne mich. S. 135. 39 Gauß : Zu früh, zu spät. S. 208–210. 40 Gauß : ebd., S. 186. 41 Thuswaldner : In den Händen von Toren. S. 11. 42 Stocker, zit. im Nachspann von »Zu früh, zu spät«. 43 Kapuscinski : Die Welt im Notizbuch. S. 37. 44 Gauß : Zu früh, zu spät. S. 69. 45 Gauß : Mit mir, ohne mich. S. 47f. 46 Ebner-Eschenbach : Aphorismen. S. 19. 47 Gauß : Mit mir, ohne mich. 160f. 48 Vgl. dazu Tanzer : Im Vergessen das Gedächtnis sein. S. 153ff. 49 Gauß : Zu früh, zu spät. S. 163. 50 Ernst Hanisch : »Selbsthaß« als Teil der österreichischen Identität. In : Zeitgeschichte, 23. Jg. (Mai/Juni 1996). Heft 5/6. S. 136–145. Hier S. 141 und 143. 51 Heinrich Mann : Geist und Tat. Essays. Hamburg 1960. S. 14. 52 Gauß : Mit mir, ohne mich. S. 294.
Hinschauen, hinhören, lesen, schreiben 53 54 55 56 57 58 59 60 61
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Gauß : Mit mir, ohne mich. S. 201, 202. Gauß : Zu früh, zu spät. S. 124. Gauß : ebd., S. 126. Gauß : Mit mir, ohne mich. S. 41, 49. Gauß : Zu früh, zu spät. S. 25. Gauß : ebd., S. 156. Gauß : Zu früh, zu spät. S. 142f. Gauß : Mit mir, ohne mich. S. 58. Odo Marquard : Das Zeitalter des Ausrangierens und die Kultur des Erinnerns. In : O. M. : Philosophie des Stattdessen. Stuttgart 2000. S. 52f. 62 Gauß : Zu früh, zu spät. S. 276. Eine kleine Liste von Errata bzw. Fragen (nützlich vielleicht für zweite Auflagen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit) : »Mit mir, ohne mich« : Tennessee Williams’ Drama »Endstation Sehnsucht« spielt nicht in New York, sondern in New Orleans ; es wurde 1947 in New York uraufgeführt. In den Fünfzigerjahren gab es in New Orleans noch eine Straßenbahnlinie, deren Endstation »Desire« hieß. S. 111 : Sendemasten des ORF auf dem Untersberg oder auf dem Gaisberg ? S. 145 : Der Rupertikirtag fällt auf den 24. September. S. 148 : Mozart erhielt den notorischen Fußtritt nicht vom Erzbischof Colloredo, sondern von dessen Oberküchenmeister Graf Arco. »Zu früh, zu spät« : S. 8 : Lumumbas Gegenspieler war Kasavubu. S. 81 und auch 324 : Allen Ginsberg, nicht Ginsburg.)
Michael Gehler
Im langen Schatten eines Buchs Reaktionen auf eine österreichische Gesellschaftsgeschichte
Vorbemerkung Kaum ein anderes Buch hat so im Zentrum akademischer und intellektueller Debatten in Österreich Mitte der 1990er Jahre gestanden wie das Werk von Ernst Hanisch »Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert«,1 das im Rahmen der von Herwig Wolfram herausgegebenen zehnbändigen Reihe zur österreichischen Geschichte erschienen war. Jahrzehntelang hatten sich Studierende an Universitäten mit den Klassikern, beispielsweise von Hugo Hantsch,2 Therese Schüssel3 oder Erich Zöllner4 – allesamt (aus heutiger Sicht) konventionelle und grundsolide Überblicksdarstellungen –, auf Prüfungen vorzubereiten. Ein neue moderne Gesamtdarstellung zur Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert schien überfällig und Hanisch hatte diesen Wunsch zu erfüllen. In diesem Beitrag sollen die wichtigsten Reaktionen auf dieses Buch erfasst sowie die Pro- und Kontra-Argumente herausgearbeitet werden. Aufgrund der Fülle der Besprechungen ist es unmöglich, alle darin enthaltenen Aspekte anzuführen. Es geht v. a. darum, zentrale Punkte zu benennen, um in einer zusammenfassenden Analyse zu einer Bewertung zu gelangen.
I. Erste Reaktionen in Qualitätsblättern Otto Schulmeister meldete sich als einer der ersten renommierten Publizisten in einer Besprechung im Rahmen des »Spectrum« der Tageszeitung Die Presse zu Wort. Er rezensierte die beiden zuerst in der Reihe erschienenen Bände von Ernst Hanisch und Karl Brunner. Schulmeister sah das Gesamtprojekt kritisch und v. a. dem »Modewort« Identität geschuldet : Apodiktisch konstatierte er, dass diesem Verlangen, welches auch Völker, Staaten und Religionen teilten, »Fundamentalismus« folge.5 Er verwies weiters warnend auf das viel ältere fünfbändige Unternehmen über die Monarchie von Alphons Huber,6 das in den Anfängen stecken geblieben sei. Seither habe ein vergleichbares Unternehmen auf der Wunschliste gestanden. Schulmeister erblickte das neue Großunternehmen im bevorstehenden österreichischen »Grenz-
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übertritt zur Europäischen Union« (1994/95) und der Annäherung an das »Ostarrichi«-Jubiläum »1000 Jahre Österreich« (1996). Die Autoren der neuen Reihe gehörten der mittleren Generation an. Niemand sei – so wie namhafte Vorgänger – in der belasteten Zeitgeschichte verstrickt. Schulmeister nannte zuvor bedenkenlos »einst führende Köpfe« wie die umstrittenen Historiker Heinrich von Srbik und Otto Brunner, den Kunsthistoriker Hans Sedlmayr oder den Germanisten Josef Nadler. Wolframs Projekt sei, so Schulmeister, pluralistisch angelegt und keiner der Autoren zu einem gemeinsamen Geschichtsverständnis verpflichtet. Der Zugang auf das kleinräumige Österreich als Fluchtpunkt habe, so Schulmeister nun zu Hanischs Werk kommend, durchaus Sinn, nachdem der Rezensent zuvor gefragt hatte, ob der Fokus dieses Vorhabens »Schritt um Schritt auf die Gegenwart« zulaufe. Schulmeister verwies auf die Vieldeutigkeit dessen, was Österreich im 20. Jahrhundert darstellte. Dagegen habe der Autor (nur) zwei Grundmodelle, das gegenreformatorisch-autoritäre und ein aufklärerisch-demokratisches : »Diese nicht gerade neue Entgegensetzung verwandelt aber, durchgehalten, die schöpferische Kreativität in der Spannung von ›territorial‹ zu ›universal‹ zum Prokrustes-Bett, auf das Österreich im 20. Jahrhundert wie angeschnallt wirkt.« Schulmeister verstand »den Moralismus des Autors angesichts der Neigung vieler Landsleute, sich nur als Opfer, nicht auch als Täter zu sehen«. Der Leser meine beim Autor sogar »einen Ton von Ratlosigkeit oder Schwermut mitzuhören«. Hanischs Position zwischen Struktur- und Alltagsgeschichte »bei konsequentem Perspektivenwechsel« stehe dem Autor »in der Durchführung gelegentlich selbst im Wege«. Zu viel des »Zeitgeistes« und der »68erPhrase« nähere sich »dem Grant eines Glossators«. Sätze wie »Waldheim, Haider und Krenn illustrieren in persona den Bruch, den die österreichische Geschichte Mitte der 1980er-Jahre erlebte«, störten Schulmeister, vor allem als Begründung dafür, warum für Hanisch mit den Bundeskanzlern Josef Klaus und Bruno Kreisky eine Ära endete. Dafür hätte es, so Schulmeister, eine bessere Begründung gegeben. Angesichts von Zerstörung und Wiedererwachen Mitteleuropas (1945–1989/90) fragte der Kritiker, ob sich der Autor in dieser Gesellschaftsgeschichte »seinen eigenen Zeitschock vom Leib« geschrieben habe. Schulmeister hielt fest, wie schwierig es sei, »ein Österreicher zu sein, nicht mißverstanden zu werden und mit moralischer Attitüde ungewollt zur medialen ›Einbräunung‹ Österreichs beizutragen«.7 Im Unterschied zu Schulmeisters ironisierend-kritischer Besprechung erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bald darauf eine durchweg anerkennende Rezension von Ulrich Weinzierl. Disziplin und Ausdauer seien vonnöten, wenn es sich »um Historiographie im umfassenden Sinn« handle. Hanisch habe »eine ordentliche These«, die sich im Titel drohend anhöre. Weinzierl teilte die »besonders starke staatlich-bürokratische Tradition«, die jene »verbreitete (Untertanen-)Mentalität der Bevölkerung« geprägt habe. Aufklärung und Reform von oben hätten bereits unter Joseph II. eingesetzt. Dieser Diagnose lasse sich kaum widersprechen, zumal
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die Auffassung »nicht ganz neu« sei und »man der Praxis auf Schritt und Tritt begegnet«. Erfreulicherweise zwänge Hanisch seine Arbeit jedoch »nicht ins Korsett des ›quod est demonstrandum‹«. Viel mehr falle »die vorzüglich gebändigte Fülle der Information« ins Gewicht, aus der sich gleichsam nebenbei ein präzises, anschauliches und facettenreiches Bild ergebe. Hanisch sei »ein kluger, ein gewandter Erzähler und Essayist, eher ein Ideensucher als ein Faktensammler«. Theoretische Reflexion verstehe sich bei ihm von selbst, »er belästigt uns damit nur im äußersten Notfall, also in der für die Zunft bestimmten Einleitung«. Weinzierl registrierte »Beschlagenheit in Sachen Belletristik und Dichtung«, was ein Vorzug »des monumentalen Bandes« sei. Ein anderer erwachse aus »seiner Unaufgeregtheit«, denn »Polemik und eifernde Parteinahme liegen ihm fern«. Das »Streben nach Nüchternheit und Gerechtigkeit« zeichne Hanisch »in hohem Maße« aus. Gerade in Österreich sei das unter Historikern nicht selbstverständlich : Einem Franz Joseph ebenso gerecht zu werden wie dem Austrofaschisten, »Arbeitermörder« und patriotischen »Märtyrer« Dollfuß gelinge nicht jedem. Hanisch sei ein Fachmann mit Sprachverstand, der die Kunst des Zitierens und der aussagekräftigen Verknappung8 beherrsche. Weinzierl benannte wie Schulmeister den aktuellen Hintergrund, vor dem dieses Buch geschrieben worden war : »›Der lange Schatten des Staates‹ reicht bis ins Jahr 1990, da die Fundamente des sozialpartnerschaftlichen Erfolgsunternehmens ›Zweite Republik‹ ins Wanken gerieten. Mit nie erlahmender Hingabe versucht sie der demagogisch ungemein begabte Rechtspopulist Jörg Haider zu demontieren. In Ernst Hanischs Sicht bekommt selbst diese dramatische Umbruchszeit Züge von zumindest logisch beruhigender Folgerichtigkeit : Sie wirkt wie die Bewährungsprobe einer mittlerweile gefestigten Demokratie im Herzen Europas, die Ballast abladen, sich von liebgewonnenen Gewohnheiten und Unsitten verabschieden muss.«9
So weit zwei federführende und meinungsbildende Besprechungen in zwei Qualitätsblättern. Während Schulmeisters Einschätzung bereits manche kommende Kritik vorwegnahm, urteilte Weinzierl durchweg anerkennend.
II. Eine Kollektivbesprechung als Novum Ein außergewöhnliches Besprechungsszenario folgte im Jahr nach Erscheinen des Buches im Sinne eines großangelegten Gesprächs von Redaktionsmitgliedern der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG), und zwar in einer Nummer, die unter dem Motto »Österreich im Kopf« erschien. Franz Eder, Peter Eigner, Erich Landsteiner, Siegfried Mattl, Wolfgang Meixner, Alexander Mejstrik, Albert
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Müller, Gerhard Scheit, Reinhard Sieder, Gerald Sprengnagel, Karl Stocker und Ulrike Döcker (als einzige Frau sozusagen stellvertretend für die Gender-Perspektive) äußerten sich auf über 40 Seiten – tendenziell distanziert-kritisch bis ablehnend über die Neuerscheinung. Unter den genannten »Rezensenten« befanden sich vor allem zeitgeschichtlich arbeitende Sozial- und Wirtschaftshistoriker, Kunst- und Kulturhistoriker sowie Stadt-, Medien- und Literaturhistoriker und (Stadt- und Regional-) Soziologen. Selten wurde dem Werk eines österreichischen Historikers auf eine solche Weise derart Aufmerksamkeit und Prominenz zuteil. Dabei fällt auf, dass Mattl, Mejstrik, Müller, Sprengnagel und Sieder – ausgehend von der gedruckten Version – die Debatte phasenweise stark dominierten, während andere sich eher zurückhielten oder kaum zu Wort meldeten, Eigner und Meixner nur mit wenigen Sätzen. Begründet wurde die Kollektivbesprechung damit, dass die Zeitschriftenredaktion vor dem Problem stand, »den [Herv. i. O.] Rezensenten oder die [Herv. i. O.] Rezensentin für dieses Werk, das unter breitem Medienecho präsentiert wurde und weit über die engere Fachöffentlichkeit hinaus Interesse findet, auszuwählen«. Die als »unorthodox« bezeichnete Entscheidung bestand in einer zweitägigen Diskussion über das Buch und letztlich aus »stark gekürzten« Teilen der Debatte. Der Abschnitt von Döcker, die am Gespräch verhindert war, wurde als schriftlicher Beitrag nachgereicht. Die Diskussion war, wie die Redaktion wissen ließ, über den »unmittelbaren Anlaß« hinausgegangen und behandelte allgemeinere Probleme der Historiografie.10 Unter dem ersten Motto »Das Buch im System der Wissenschaften und in der Öffentlichkeit«11 führte Mattl die erstmalige »Generalidee« für eine Geschichte Österreichs des 20. Jahrhunderts positiv ins Feld : »Wir haben einen Rahmen, gegen den wir polemisieren, den wir aber auch aufgreifen können.« Sprengnagel wandte ein, dass es sich um »ein unmögliches Buch« handle : »›Unmöglich‹, weil ich glaube, daß jener Rahmen, den Mattl meint, nicht mehr durch solch synthetisierende Darstellungen erarbeitet werden kann.« Eigner meinte hingegen, »das Wagnis« zu befürworten, »eine solche Geschichte des 20. Jahrhunderts zu versuchen«. Mejstrik ergänzte zunächst zustimmend, mit dem Buch »eine gute Synthese« vorliegen zu haben, um dann jedoch einzuschränken, dass dies gerade heiße, es könne »nicht innovativ« sein. Landsteiner fügte differenzierend hinzu, dass »solche Bücher deshalb so ungeheuer schwierig« seien, »weil sie für zwei Öffentlichkeiten geschrieben werden, einerseits für eine sehr breite Öffentlichkeit, und hier hat es eine wichtige Funktion«. Das Buch stelle sich aber auch einer akademischen Diskussion und in »unserem Zirkel« befriedige es nicht. Müller holte länger aus und griff weiter zurück : Hanischs Verdienst liege in der »Innovierung regionalgeschichtlicher Ansätze in Österreich«. Hier sei er »der wichtigste Vorreiter« gewesen. Die für Salzburg gewonnenen und überprüften Modelle dehne er nun auf den gesamten Staat aus. Dabei gehe der gesicherte Blick für das Regionale verloren, was, so der Kritiker zutreffend, »eine paradoxe Situation« sei. Ein weiteres Paradoxon bestehe im zu frühen wie zu
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späten Erscheinen des Werks : Zu früh, so Müller, weil für eine Reihe von Themen noch keine Arbeiten vorlägen, zu spät, weil Hanischs Fragen und Probleme durch eine verspätete Nationalgeschichte »keine aktuellen Fragen und Probleme der Disziplin« berührten.12 Demnach, so könnte man kritisch folgern, wäre das Buch am besten gar nicht erschienen, wobei Müller im letzten Punkt entschieden zu widersprechen wäre : Gerade im Zeichen mit der durch das Vertragswerk von Maastricht (1993) forcierten europäischen Integration stellte sich die Frage nationalstaatlicher Geschichte und Politik wieder neu, ja sie spitzte sich durch die supranationale Herausforderung der Europäischen Union weiter zu. Sieder warf die Frage auf, ob Hanisch recht habe, wenn er meine, dass sich die Geschichte (damit war wohl die Geschichtsschreibung gemeint, MG) ohne Synthesen atomisiere und die Kirche der Historie (wohl auch die der Historiografie, MG) zerfalle. Mattl ergänzte, indem er fragte, ob Geschichtsschreibung nicht immer der Versuch sei, »das Inkompatible zu vereinen«. Sieder verdeutlichte seine Auffassung, »daß der ganze Habitus des Buches an die Dignität des Gestus des großen Historikers gebunden« sei. Dessen Würde sei an Mächtigkeit, Fähigkeit und Potenz zur Geschichtsschreibung gebunden. Nur böse Experten, die sich in ihrer Fachlichkeit verzetteln und draufkommen würden, wie schwierig es sei, ein Experiment durchzuführen oder etwas stringent zu beweisen, würden nach Fehlern in der Synthese suchen und den falschen Gebrauch von Begriffen reklamieren. Hanischs Gesellschaftsgeschichte sei »die Nachstellung eines als realgeschichtlich gedachten Prozesses« : »Die Mimesis des Werdens erzwingt geradezu die Abstraktion von den diversen Forschungsprozessen, die das hier ›kompilierte‹ Wissen hervorgebracht haben. Die Verschleifungen zwischen Fachsprache und Alltagssprache, die Ent-Schärfung von Begriffen, die Einebnung von epistemologischen Differenzen und die Privilegierung der Metapher – all diese ›Unsauberkeiten‹ sind unvermeidlich, ja erforderlich, wenn eine Mimesis des Werdens entstehen soll. So will das Buch das Recht der Geschichtsschreibung vor aller Geschichtsforschung noch einmal einlösen. Angesichts dieser Kosten ist zu fragen : Wieso unterzieht sich ein Historiker den Mühen einer solchen Geschichtsschreibung ?«13
Sieder sah den Professor der »Großgeschichte« vor sich, der Assistenten, Dozenten und beste Doktoranden benötige, um sein Kompilationswerk zustande zu bringen. Müller warf ein, dass Hanisch »keine Primärforschungen« angestellt habe, und sah darin, »einen Kompilationsakt auf der Grundlage vorausgehender Selektionen, allerdings in mitunter relativ schlampiger Weise«. Die gesammelten Daten würden den gesamten Zeitraum nicht abdecken. Sprengnagel schlug in die selbe Kerbe wie Sieder : Hanisch verkörpere »das Konzept einer hierarchisch strukturierten Wissenschaft mit dem synthetisierenden Professor an der Spitze, der die Einzelarbeiten nolens volens zu »Spielmaterial« degradiere. Landsteiner teilte dieses Urteil und
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prophezeite, dass Hanischs Buch »für die Verhältnisse des Genres« ein Bestseller werde, weil außerhalb des Wissenschaftsbetriebs »ein immenses Bedürfnis« nach Legitimation einerseits und nach Sinngebung oder Sinnstiftung andererseits herrsche, »angesichts des Trümmerhaufens, den viele Österreicher hinter sich sehen«. Der nicht-akademischen Öffentlichkeit könne man ein wissenschaftliches Buch, das breit und zwangsläufig umständlich seine Konstruktionsprinzipien freilege, nicht anbieten. Hanisch sei hier einen Schritt weiter gegangen. Mattl pflichtete seinen Vorrednern bei, dass die große Monografie »der Standard« sei, weshalb »das Gefühl der Entthronung« bestehe, weil sich andere – etwa Journalisten – in die Kommentierung einschalten würden und Geschichte im Feld der politischen Bildung durch andere Sozialwissenschaften konkurrenziert werde. Seit den 1960er-Jahren hätten Historiker, die an diesem Aufklärungs- oder wenigstens Interpretationsanspruch festgehalten haben, eine »Legitimationskrise«. Sie hätten das Gefühl, »zu versagen und den eigenen Beruf/die Berufung nicht auszufüllen«. Hanisch versuche beides zugleich, Wissenschaft und öffentlichkeitsmächtige Produktion von Geschichtsbildern, was »das Interessante« seines Buchs sei,14 ein Befund, dem zuzustimmen ist. Müller führte an, nur wenige Historiker würden sich durch den TV-Historiker Hugo Portisch konkurrenziert und in ihrer professionellen Identität bedroht fühlen. Hanisch sei davon ein Beispiel. Er vertrete nach wie vor Argumente »der alten Relevanzdebatte« um die Krise des Historismus, in der zur Frage »Wozu Geschichte ?« behauptet würde, Geschichte müsse »gesellschaftlich relevant« sein, was oft damit verwechselt werde, den Historiker und seine Texte unmittelbar für die Gesellschaft »haftbar zu machen«. Sprengnagel ergänzte scharfsinnig weiterdenkend, »zentraler Irrtum des Relevanzansatzes« sei es zu meinen, »man müsse diese Bilder nicht zum Objekt einer wissenschaftlichen Analyse machen, sondern zu ihnen in Konkurrenz treten«.15 Unter der Rubrik der ÖZG-Besprechung »Zur Struktur des Textes und zur Sprache des Buches«16 stand ein Zitat aus der »Die Fackel« von Karl Kraus zum Thema »Vorsicht mit Metaphern«, gemünzt auf Hanisch : »Immer wieder passiert es, daß bei unvorsichtigem Hantieren mit Metaphern Unheil angerichtet wird, ganz wie mit dem Revolver. […] Wer so reich an Einfällen ist, daß er sich ihres Zustroms nicht erwehren kann, und zu Metaphern inkliniert, irrt manchmal in deren Gebrauch.«17 Mattl führte wieder als Erster aus, dass Hanisch thematisch mit Wien um 1900 beginne und damit einen Anfang setze, was die klassische Form von Geschichtsschreibung sei. In den weiteren Kapiteln sei das Buch »traditionell lehrbuchartig und folgt einer anti-gesellschaftsgeschichtlichen Linie«, da es vom »Primat der Politik« ausgehe. Geschichte werde bei Hanisch über das politische System bestimmt, ohne dass das politische System definiert worden sei. Mattl störte sich an der Auffassung, dass Politik Geschichte mache und Geschichte sei. Daher folge bei Hanisch auch eine Darstellung entlang der herkömmlichen Periodisierung : Monarchie, Erste Re-
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publik, Ständestaat, NS-Zeit, Zweite Republik, »eine Periodisierung, die dem Historiografen von der politischen Journalistik vorgegeben wird, aber nicht Ausdruck eines Forschungsprogramms sein kann«. Damit ruiniere Hanisch »seine produktive Idee einer Irritation, die vorkonstruierten politischen Strukturen und Etappen aufzusprengen«. Eine Frage, so Mattl, ob man nicht die Zeit von 1930 bis 1960 entgegen herkömmlichen Periodisierungen zusammendenken müsse, komme dadurch erst gar nicht auf. Mejstrik anerkannte die »ungeheure Spannung«, die das Buch bewältigen müsse, weil es »widersprüchlichsten Anforderungen« gerecht werden wollte. Er nannte die problematische Lösung »die Intention der Vermittlung«. Disparateste Vorgehensweisen, chronologische Geschichte und Gesellschaftsgeschichte großer Schneisen, einander ausschließende theoretische Zugänge und inkompatible Resultate würden zusammengefasst, sodass sie Seite auf Seite aufeinanderfolgten. An Beispielen machte Mejstrik ferner die Problematik der Verwendung von bildhaften Vergleichen deutlich : Die Metaphorik diene nicht dem Ziel, dem Leser möglichst viele Inhalte einfach zu vermitteln, sondern sie sei »das Prinzip der Gegenstandskonstruktion«. Da kein durchkonzipierter und durchexperimentierter Gegenstand gegeben sei, spreche Hanisch »in verschiedenen Sprachen, die alles offen lassen und für vieles offen sind«. Landsteiner ergänzte, Hanisch habe nicht nur eine Vorliebe für literarisierende und metaphernreiche Sprache, sondern auch eine Abneigung gegen die Wissenschaftssprache. Er machte dies an der Kritik am Soziologenjargon von Max Haller deutlich. Die brüske Ablehnung einer Fachsprache durch Hanisch war für Landsteiner schwer zu erklären, wobei er nach dem Preis für diese Verweigerung fragte. Sieder griff diesen Punkt umgehend auf : Die Zurückweisung der Wissenschaftssprache sei aus demWunsch erklärbar, »große Geschichte für alle zu schreiben […] für alle verstehbar zu sein – wie ein Prediger«. Hanisch wolle »ein imaginiertes durchschnittliches Publikum erreichen«. Zugleich müsse er sich um eine Sprache bemühen, »die Würde signalisiert, und diese Würde wird sehr oft durch starke Bilder hergestellt«. Mattl fügte hinzu, Hanisch bemerke selbst nicht, welchen Gebrauch er von Metaphern mache : Sie dienten lediglich »als Verdichtung und Abkürzung des argumentativen Verfahrens«. Über Interpretationsleistungen der Rezipienten habe er keine Kontrolle mehr. Sprengnagel setzte nach : Die Rhetorik Hanischs bilde »den Kitt zwischen eigentlich Inkompatiblem«. Metaphern würden immer dann eingesetzt, wenn es kein argumentatives Verfahren gebe, wenn die Konzepte und die Begriffe fehlten. Die Metapher bezeichne hier »das Ende der wissenschaftlichen Rede«. Müller ergänzte bald darauf zur Deutungshoheit, die Beschäftigung mit früheren Epochen erfordere einen erhöhten Erklärungsaufwand. Hanisch schiebe einen wesentlichen Teil der Interpretation den Lesern zu. Zur Metaphorik merkte Sieder an, dass der Begriff von Nobert Elias »Prozeß der Zivilisation« in eine alltagssprachliche Metapher zurückverwandelt werde.18 Die Kritik der ÖZG-Redaktion an der Sprache Hanischs war nachvollziehbar.
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Unter dem Kapitel »Die Theorie des Historischen und die Theorie des Sozialen«19 thematisierte Mejstrik die Problematik der Trennung einer Theorie oder Methode von den konkreten Erklärungen, wodurch sich Widersprüche fänden. Hanischs erklärte Anleihe bei Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler, der »Großen Theorie«, werde im Hauptteil in den Gegenstandskonstruktionen kaum umgesetzt : »Statt dessen geht Unterschiedlichstes durcheinander.« Moniert wurde ein Gegensatz zwischen »Plakatieren der Konzepte in der Einleitung« und »tatsächlichem Gebrauch im Hauptteil«, was auseinandergehalten werden müsse. Mattl ergänzte moderierend, Hanisch habe eine starke, aber nicht explizierte Theorie, die das gesamte Buch durchziehe, nämlich »jene der civil society«. Entlang dieser Vorstellung sei das Buch verfasst, auch wenn diese später nicht mehr explizit betont werde. »Insofern hat das Buch ein Programm, das Hanisch relativ konsequent erfüllt, etwas, das die Zuweisungen für ihn dann logisch sinnvoll und schreibbar machen.« Laut Landsteiner, für den »civil society« ein »ungeheuer verwaschen[er]« und Modernisierung »ein vollkommen leerer Begriff« waren, sei die einzige Definition, die Hanisch dafür biete, eine »allgemeine« Modernisierungstheorie, für die er keinen »intellektuell adäquaten Ersatz« sehe, zumal der Anstieg der materiellen Lebenschancen im Westen des 20. Jahrhunderts unbestreitbar sei. »Klasse« und »Stand« würden »etwas oberflächlich« in Kombination von Karl Marx und Max Weber definiert. Dann sei sehr schnell von Schichten die Rede, »die nur mehr rein quantitative Unterteilungen in Arm und Reich darstellen«, und dann komme »immer wieder dieser eigenartig besetzte Standesbegriff«. Landsteiner kritisierte die vereinfachte Gegenüberstellung, zumal der Standesbegriff von Hanisch »höchst ideologisch« besetzt sei : »Alles, was traditionell oder auch konservativ oder reaktionär ist, ist ständisch, alles, was mit Klasse zu tun hat, ist modern oder auch fortschrittlich.« Dabei schwindle sich Hanisch um eine Definition, die Begriffe erst analytisch fruchtbar machen würde. Mejstrik erschien es zudem problematisch, Hanischs Modernisierungs- oder Gesellschaftstheorie als Theorie zu bezeichnen. Er wolle nicht nur sagen, wie die Welt sei, sondern auch sagen, wie sie sein solle. Hanisch gehe dabei grundsätzlich davon aus, dass »man real und gleichzeitig richtig über die historische Welt sprechen« könne. Das trage die Modernisierungstheorie und sein Konzept der Lebenschancen. Diese »gerechtere Verteilung« sollte empirisch-objektiv gemessen werden. Wie aber solle das gelingen, außer wenn man dabei vollständig übersehe, dass es je nach Standpunkt unterschiedliche Gerechtigkeiten gebe. Derartige Messung setze den eigenen ethischen Standpunkt als objektiv-empirischen Maßstab voraus. Dementsprechend beschränkten sich empirische Nachweise eines Zuwachses oder eines Verlusts von Lebenschancen zumeist »auf rhetorische Behauptungen«. Sieder sah darüber hinaus eine prekäre Grenze zwischen Gesellschaft und Staat sowie eine zwischen Gesellschaft und Individuum. Insofern säßen das Vorbild Kocka als auch Hanisch selbst »einem hegemonialen beziehungsweise lange Zeit hegemonial gewesenen soziologi-
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schen Gesellschaftsbegriff auf, der genau zwischen Subjekt und Staat situiert ist als die Summe von Prozessen, Konflikten, Kooperationen, Gruppen, Klassen, Ständen etc.« Wesentlich dabei sei, dass einerseits das Verhältnis zum Staat per definitionem nicht näher beschrieben werden könne, denn Gesellschaft sei nicht Staat. Gesellschaft stehe dem Staat gegenüber. Damit würden gesellschaftliche Kräfte in ihrer Gestaltungsfähigkeit gegenüber dem Staat nicht transparent. Andererseits sei das Subjekt nicht Gesellschaft. Alles das, was Gesellschaft sei, wirke selbsttätig, selbstläufig und pralle auf das Subjekt. Das Subjekt sei in diesem Denken streng genommen nicht gesellschaftlich. Daraus resultiere, dass »in diesem heimlichen Verständnis von Gesellschaft die Frage, wie Subjekte als Akteure die Gesellschaft konstituieren, keine strategische Bedeutung« habe. Die Gesellschaft sei immer schon, »aber immer nur hinter dem Rücken der Subjekte«, konstituiert. Stocker pflichtete bei, Hanisch vermenschliche Strukturen, die handeln würden. Er sah in seinem Buch ein »ganz starres Oben-Unten-Schema«, eine »sehr historistische Sichtweise« : »Die unten handeln nicht, sondern werden bloß von den Strukturen betroffen, die ›Betroffenen‹ nennt er sie auch. Und dann gibt es einige, die handeln, sie sind ›Akteure‹ : die Politiker oder die großen Persönlichkeiten.« Sprengnagel bekräftigte später, Hanisch ignoriere »alle Bemühungen der letzten zehn Jahre zu verstehen, wie die Akteure durch ihr Handeln die Strukturen konstituieren, ihre Welt strukturieren [Herv. i. O.], »um mit Giddens zu sprechen«. Eder ergänzte, Hanisch sehe Strukturen »ausschließlich diachron«. Dabei postuliere er Traditionen und Antriebskräfte, Josephinismus und Barock – Barock das veränderungsfeindliche, Josephinismus das veränderungsfreundliche Element. Für »leidende Individuen« sei damit eine historische Tradition gegeben, die in den Strukturen wirke. Damit biete Hanisch ein wenngleich verstecktes Element an, welches den Eingriff von bestimmten Individuen in die Strukturen bedinge. Eder befand daher, dass man sich ausgehend davon »diesem homo austriacus endlich nähern« solle.20 Damit war für die ÖZG-Redaktion das nächste Motto gegeben. Unter der Rubrik »Die Konstruktion der Österreichischen Geschichte aus dem Gegensatz von Barock und Josephinismus«21 führte u. a. Sprengnagel aus, Hanisch mißverstehe die Komplexität, in der die Phänomene Barock und Josephinismus gedacht werden könnten und schon beschrieben worden seien : »Wenn der Josephinismus das Nüchterne, die Bürokratien, Institutionen und ihre Verfahrensweisen repräsentieren soll, so steht das Barock – im Gegensatz zu den kalten Strukturen – für das Fleisch, die Lust, die Beichte, das Hochamt und das pralle Leben. Es zeigt sich darin eine eigenartige, ständig wiederkehrende Dichotomisierung von Begriffen als Leitlinie der Beschreibung.« Mattl führte weiter aus : »Nach der dramatischen Konfrontation mit den Figuren ›Gesellschaft‹ und ›Staat‹ kommt es zu einer glücklichen Umkehrung der Situation : Zuletzt hat der ›gute‹ Aufgeklärte – egal ob Supersubjekt oder Individuum – doch die Chance, über das Repressive, das Böse zu siegen.«
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Landsteiner ergänzte, dass das Gegensatzpaar Barock–Josephinismus die gesamte Erzählung organisiere und ihre Spannung aufbaue. Angesichts der Forschungslage sei er jedoch »total frappiert« über Hanischs Versuch gewesen, Gegenreformation als Gegenpart von Josephinismus zu postulieren. Hanisch übersehe dabei, dass von zwei unterschiedlichen Phasen in der Schaffung von Territorialstaaten gesprochen werde. Die Diskussion über Gegenreformation habe sich längst von der Vorstellung gelöst, Reformation sei progressiv und »gut«, Gegenreformation hingegen reaktionär und »schlecht« gewesen. Man spreche vielmehr von »Konfessionalisierung als einem Prozeß, der sich über 200 Jahre zieht und eher als ein Herauskristallisieren von Konfessionen zu verstehen ist«. Gleichzeitig existierten auch Forschungen, die die Gegenreformation als Modernisierung interpretierten : »Die Jesuiten, die ja im Zentrum der Vorstellung von Gegenreformation als purer Reaktion stehen, kann man im Kontext der Zeit auch als ziemlich progressiven Orden sehen. Dagegen bleibt Barock/Gegenreformation bei Hanisch die alte Metapher, die er immer dann, wenn er etwas als rückschrittlich, ständisch oder reaktionär charakterisieren will, einsetzt. Und analog spielt er den Josephinismus aus : Dieser ist für ihn, wenngleich auch ambivalent, die Metapher für Fortschritt oder Aufklärung – ambivalent, weil er ihn auch als Bürokratisierungsschub, als Prozeß der Territorialisierung und als Genese von infrastruktureller oder administrativer Macht versteht.«22
Nach diesem fundamentalen Einwand hielt Landsteiner an späterer Stelle, auf eine Frage Müllers, ob Hanisch »ein weiterer Österreicher-Macher« sei, fest, dass dieser Autor »den habsburgisch-österreichischen Mythos« fortschreibe, was auch mit der Konstruktion seines Untersuchungszeitraumes 1890–1990 zusammenhänge. Eder sah nicht nur Traditionen der Strukturen, sondern auch unreflektierte Traditionen der Psyche : Hanisch sehe im österreichischen Menschen gleichsam auch eine »lange Seele«. Mejstrik erblickte weiters eine Vermischung eines »gelehrten Vorgegenstands« mit »alltäglichen Vorgegenständen«. Es handle sich immer um den gleichen Gegensatz Aufklärung versus Barock : »Hanisch versucht nicht, die verschiedenen Phänomene als Fälle von Realität zu begreifen, zusammenzufassen, voneinander abzusetzen und gegeneinander zu gewichten.« Er nehme einen Fall (Aufklärung/Barock) und erkläre ihn zur Wahrheit aller anderen, was »das genaue Gegenteil von einer Systematisierung« sei. Lediglich durch »den permanenten Antagonismus sich selbst treu bleibender Entitäten« könne er sich mit den rhetorischen Gegenüberstellungen begnügen. Dabei könne sich Hanisch nicht entscheiden, welche Seite des Paares die schlechte oder die gute sein solle. Das sei »die Besonderheit seiner mythischen Konstruktion«, die er verteidige : Es sei eine Lösung des »Sowohl-als-auch«, die für Hanisch »die beanspruchte historiographische Gerechtigkeit« darstelle. Sieder unterstrich, Hanisch benötige »ein Instrument der Kohärenzkonstruktion«, um
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eine Geschichte Österreichs von einer langen Dauer schreiben zu können. Die postmoderne Theorie lehne eine Metaerzählung ab. Durch sie fühle sich Hanisch provoziert, worauf er »brüsk reagieren« müsse. Landsteiner argumentierte, die größte Individualität, die Hanisch unterstelle, sei »Österreich«. Dieses Etikett suggeriere Einheit und unterstelle, dass eine kontinuierliche Traditionslinie gegeben sein würde. Es handle sich um »ein sehr altes historiographisches Konstrukt, nämlich das der Nationalgeschichtsschreibung«. Die Reihe Wolframs sei als ein klassisches Beispiel für diese Geschichtsschreibung angelegt. Ausgehend vom Hochmittelalter bis ins 20. Jahrhundert würde man jedoch »viele Brüche« finden, die diese Kontinuität infrage stellen. Landsteiner meinte auch damit, das »alte unüberlegte Vorgehen, Gesellschaftsgrenzen mit Staatsgrenzen zusammenfallen zu lassen«, und brachte seine Kritik treffend auf den Punkt : »Man kann doch nicht nur die Alpenländer auswählen, weil es bei ihnen eine geographische Kontinuität zur Ersten Republik gibt, und den Kontext der Monarchie ignorieren.«23 Das war eine durchaus berechtigte Kritik, auf die später noch Ruth Beckermann und Wolfgang Reiter zurückkommen sollten. Unter der Rubrik »Kultur – Moral – Ideologie«24 merkte Mejstrik an, dass Hanischs Bewertungen von Kirche und Dorf schwankten, einerseits positiv besetzt sein würden mit Aufgehobensein und Heimat, andererseits negativ mit Enge, Isolation und Vereinsamung. Ethische Unentschiedenheit zwischen den Gegensätzen sei das Spezifikum von »Hanischs gelehrter Mythologie, wie sich auch Barock und Aufklärung, beide unbestimmt zwischen Gut und Böse, durch die Zeiten wälzen«. Ausgehend von dem Verweis Mejstriks auf die Erfahrungen von Hanisch als Ministrant ( !), meinte Sieder, die Biographie sei als persönliches Modell des erzählten Modernisierungsprozesses zu sehen. Eder argumentierte, dass die Frage nach dem Körper zu einer nach Religion, Sexualität und der Frau werde. Nachdem Religion als sinnstiftendes Medium ausgefallen sei, verbleibe für Hanisch »primär der Körper als Möglichkeit einer Wahrheitsfindung im Sinne Foucaults«. Mattl verwies auf den Wechsel der Begriffe und Instrumentarien, während Müller einen gewichtigen Grund für das Fehlen der jüngeren und jüngsten Geschichte benannte : »Über die jüngste Gegenwart kann Hanisch nur mehr in der Sprache eines philisterhaften Kulturpessimisten sprechen. Die Diskurse der Gegenwart, die in einem erheblichen Maß die Diskurse der ›Postmoderne‹ sind, kann, ja darf er überhaupt nicht mehr rezipieren. Aus grundsätzlichen Überlegungen muß er sie abwerten und verwerfen : Sie stellen ja sein Gesamtprojekt in Frage.«25
Müller konzedierte jedoch, dass »die Passagen« in Hanischs Buch über die Erste Republik »besser gelungen« seien, nicht nur weil der Autor selbst darüber geforscht habe, sondern die Ansprüche des Buchs hier besser einzulösen seien. Sonst sei es »gegenwartsgeschichtlich nicht sehr versiert« – ein zutreffendes Urteil. Es gebe, so
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Müller weiter, keine Vorarbeiten, auf die sich das Buch für die beabsichtigte Synthese stützen könnte, weshalb sich über die jüngste Vergangenheit »zunehmend moralisierende Äußerungen« fänden.26 So gewinnend und erkenntnisfördernd einzelne Einschätzungen der ÖZG-Redaktion waren, so überzeugte der letzte Teil aufgrund mitunter persönlich gehaltener und psychologisierender Einlassungen weniger. Unter dem Zwischentitel »Der lange Schatten des Patriarchats«,27 der mit einem weiteren Zitat von Karl Kraus (»Weiber sind Grenzfälle«) begann, äußerte sich Ulrike Döcker dezidiert gegen das Denken von Hanisch und sein Buch. Komme Kritik von einer Gruppe, die in der Wissenschaft über Jahrhunderte als »nicht satisfaktionsfähig« angesehen worden sei, nämlich von Wissenschaftlerinnen, so sei auch Hanisch »wirklich beunruhigt«. Zwar finde er Anliegen des Feminismus grundsätzlich berechtigt und bekräftige die Perspektive »radikal verändert«, doch bleibe es bei »bloßer Emphase«. Themen und Fragestellungen feministischer Wissenschaftsund Patriarchatskritik hätte sein Buch nicht ernst genommen. Hanisch habe weder die Publikationen zur österreichischen Frauengeschichte, noch theoretisch wie methodisch interessante Veröffentlichungen von Frauen aus dem In- und Ausland berücksichtigt. Frauen würden nur an wenigen, aber »bezeichnenden Stellen« vorkommen, und zwar vertreten in Statistiken, in bloß illustrativen Passagen zum bürgerlichen oder bäuerlichen Alltag, in Absätzen über die Anhängerschaft von Parteien und Kirche und in pathetischen Bildern über die schlechte Versorgungslage von Rand- und Unterschichten. Neben zahlreichen »heldischen Männerfiguren« erwähne Hanisch nur wenige Frauen mit Namen. Wenige Verweise auf die katholische Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts und den »aggressiven Feminismus« der ausgehenden 1960er-Jahre seien zwar vorhanden, über Motive und Ambitionen erfahre »die interessierte Leserin jedoch nichts«. Das einzige Kapitel in seiner Gesellschaftsgeschichte Österreichs, welches vorgebe, sich mit Frauen unter dem Titel »Rätsel Weib« zu beschäftigen, sei männlich perspektiviert, was durch Übernahme des »voyeuristischen Blicks der Maler und Schriftsteller des Fin de Siècle auf das ›Weib‹« und die Verlängerung der Kontextualisierung »von Weib, Körper und Sexualität« zum Ausdruck komme. Die Kategorie Geschlecht sei für Hanisch »nicht relevant genug«. Er habe verabsäumt, sie als Prinzip historischer Erfahrung und gesellschaftlicher Differenzierung sowie als wissenschaftlichen Deutungskontext mitzudenken. Er werde sich deshalb von feministischen Historikerinnen herbe Kritik gefallen lassen müssen. Die »große Erzählung« des »großen Historikers« befriedige »nur mehr die Gesinnungsgenossen«. Ein letztes Kapitel der Großrezension der ÖZG-Redaktion stand unter dem Motto »Möglichkeit und Unmöglichkeit einer historiographischen Synthese«,28 in dem einleitend Sieder nochmals den Grundtenor bekräftigte, der Gestus der Hanisch’schen Gesellschaftsgeschichte sei »tatsächlich der Gestus der alten Nationalgeschichte – wenn auch seine Mittel moderner sind«, was immerhin ein kleines Zu-
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geständnis war. Das Bildungsbürgertum habe sich sein nationalstaatliches Bekenntnis mit einer Rhetorik der Selbstfindung der Nation in Erzählungen und Geschichten herbeischreiben und im Detail erläutern lassen. Die Popularität der Nationalgeschichte und ihre öffentlich-politische Wirksamkeit wolle in diesem verspäteten Projekt einer Nationalgeschichte noch einmal errungen werden, lautet einer der Kernsätze Sieders. Hanischs Synthese wolle ebenfalls »eine populäre und verbindliche Darstellung einer Geschichte Österreichs als Nationalgeschichte« liefern, wobei er mit der kritischen Nachfrage endete : »Kann es also eine Synthese geben, die nicht hinter einen bereits gegebenen Wissenschaftsstandard zurückfällt ?« Müller sah die Frage dieser Art von Synthese im Problem noch bestehender Möglichkeiten einer »Meistererzählung« unter Berufung auf Siegfried J. Schmidt, der vom »Auslaufen des Reputationsbonus von ›Meistererzählungen‹ jeder Art« gesprochen hatte, wobei Müller darauf hinwies, dass es »auch gelungene Synthesen im engeren Sinn« gebe, indem er auf Klaus Tenfeldes Band zur Arbeiterklasse29 aufmerksam machte. Solche Synthesen beurteilte Müller als »akzeptabel und konsensfähig, denn sie sind problemorientiert« (wobei sich hier die Frage stellt, ob Hanischs Werk nicht auch und zwar durch seinen gemischten Methoden- und Theorie- sowie seinen inhaltlichen Ansatz problemorientiert war, MG). Müller fragte weiter, wenn Hanischs Synthese die Antwort sei, ob dann nicht die Frage ein ›Scheinproblem‹ wäre. Die klassische Staats- und Nationsgeschichte sei für die Geschichtswissenschaft der Neunzigerjahre ja »kein ausgesprochen aktuelles Problem [sic !] mehr«, weshalb Hanischs Arbeit so sehr irritiere. Staats- und Nationalgeschichte schienen Müller »kaum mehr paradigmatisierbar« zu sein. Eder widersprach, denn Hanisch stelle explizite wie implizite Fragen und biete explizite wie implizite Antworten. Sehe man von der Problematik der ›Meistererzählung‹ ab, offeriere er punktuell immer wieder Theorien und empirische Materialien, die konsistent seien. Sprengnagel wollte das nicht gelten lassen : Hanisch habe seine früheren Standards verletzt. Weniger der Rezipientenkreis sei das Problem, sondern die ›Größe‹ des konstruierten Gegenstands, wogegen die poststrukturalistische Kritik in den Geschichtswissenschaften große Gegenstände und deren Einheitlichkeit zu destruieren versuche. Deshalb sei Hanisch »so sehr bemüht, sein eigenes Projekt gegen neuere Ansätze zu retten«. Müller unternahm als erster ÖZG-Kritiker in weiterer Folge einen über das eigene Land hinausgehenden, allerdings nur sehr kurzen Vergleich und verwies auf die unterschiedlichen Ausgangslagen Österreichs und Deutschlands, wobei im letzteren Fall seit Jahrzehnten die Sonderwegsdebatte geführt werde und »eine mehr oder weniger konsensfähige und akzeptierte Problembeschreibung liefere«, auf die bei Bemühungen um eine Nationalgeschichte immer wieder rückverwiesen werden könne. Für Österreich bestehe nicht in der Zunft, vielleicht aber beim Feuilleton, Konsens darüber, dass die österreichische Geschichte nach bipolaren Strukturprinzipien wie Barock und Aufklärung strukturiert werden könne. Mattl wollte diese Auffassung nicht so stehen
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lassen und betonte verständnisvoll für den Kritisierten, dass Hanischs Buch bei all seinen Problemen, »immer noch ein Qualitätssprung gegenüber dem Mainstream in Österreich« sei. Zöllner habe die Frage der Relation von Kultur und Gesellschaft gänzlich umgangen. Für Eder stellte sich die Frage, ob eine Gesellschaftsgeschichte überhaupt noch »machbar« sei. Historiker/-innen stünden einem derart großen Überhang an theoretischen Positionen gegenüber, dass ein konzises, stringentes Instrumentarium für die Geschichtswissenschaften nur schwer zu finden sei. Landsteiner ergänzte, das Buch versuche »die Quadratur des Kreises«. Einerseits bemühe sich Hanisch, die Forderung von Wissenschaftsminister Erhard Busek einzulösen und eine »fühlbare Lücke« zu schließen, andererseits wolle er im akademischen Milieu eine anschlussfähige Debatte etablieren. An diesem doppelten Versuch scheitere das Buch. Sieder schlug nochmals in die selbe Kerbe, indem er betonte, der Status der Geschichtsschreibung, »letzte und einzige Disziplin zu sein«, gehe verloren. Der Historiker werde seinen »Hohepriester-Status verlieren und einer unter vielen anderen Sozialwissenschaftern werden«. In einer weiteren Stellungnahme finalisierte der Hanisch-Kritiker mit der eigentlichen Aufgabe der Historiografie : »Die Geschichtswissenschafter wären Dekonstrukteure der Geschichtsschreibung und verzichten auf eine neue alte Geschichtsschreibung, um das Bewußtsein über die Konstruktionsakte zu erhöhen.«30 Damit endete eine äußerst anregende, sehr inhaltsreiche und vielschichtige Sammlung von strukturierten Einzeleinschätzungen. Gleichwohl stark von postmodernen, kulturalistischen und poststrukturalistischen Standpunkten geprägt, war sie vom Zugang dadurch schon ›einseitig‹ und damit auch nur scheinbar geschichtswissenschaftliche Pluralität im Rezensentenkreis gegeben. Ausgesprochene »Politikhistoriker« gehörten der ÖZG-Rezensionsgruppe nicht an. Gewinnend und vorteilhaft erwies sich hingegen die interdisziplinäre Zusammensetzung, da ihr nicht nur ›reine Historiker‹, sondern auch Psychologen, Soziologen und Literaturgeschichtler angehörten, wodurch auf andere wissenschaftliche Weise wieder Multiperspektivität hergestellt wurde.
III. Der ›Großmeister‹ schlägt zurück : die Replik von Hanisch Die Antwort des Vielgescholtenen ließ nicht lange auf sich warten. Unter dem Titel »Anklagesache : Österreichische Gesellschaftsgeschichte«31 verteidigte sich der durch Art und Weise der Rezension angesprochene Salzburger Historiker einleitend anerkennend mit einem alten Bienensprichwort : »Lob macht dumm. Kritik stärkt die Sinne und den Verstand«, und der Anrede : »Hohes Gericht !«, das zwar sein Urteil gesprochen habe, aber gnädig genug sei, »von einer Strafe abzusehen«. Als »bußfertiger Sünder« schlug Hanisch für sich selbst aber eine Strafe vor : »Rück-
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versetzung in die Kurie der Assistenten. Dort habe ich dann Gelegenheit, mir die Prinzipien der wahren, sprich : postmodernen Geschichtswissenschaft anzueignen, und ich kann lernen, möglichst unverständlich zu schreiben.« Ein Gegensatz von Orthodoxie und Avantgarde durchziehe die Kritik »der Jungwölfe«, wobei er selbst lediglich außerordentlicher Professor sei. Zum Großprofessor fehlten ihm Talente und Ressourcen, er habe auch keine Assistenten und sonstigen Hilfskräfte. Hanisch konzedierte, dass es das »letzte Aufbäumen der alten Schule« sein mag, wobei er vom »Aufbäumen der neuen Schule« in Österreich noch wenig gemerkt habe. Damit war die »Beurteilungsgrundlage des hohen Gerichts« angesprochen, das gar nicht mehr so jung sei, aber seine Jugend »unverschämt« ausspiele : Sein Buch werde nicht an bisherigen österreichischen Gesamtdarstellungen gemessen (Erich Zöllner, Walter Goldinger,32 Manfried Rauchensteiner,33 Erika Weinzierl und Kurt Skalnik34), auch nicht an den Gesellschaftsgeschichten (Eric Hobsbawm,35 Hans-Ulrich Wehler,36 Thomas Nipperdey37), worin sich Vor- und Nachteile hätten aufzeigen lassen, sondern »an den sicher genialen, sicher innovativen, aber leider ungeschriebenen Werken der werten Richter«. Unter »Anklagepunkte : Synthese – Nationalgeschichte«38 konzedierte Hanisch, dass die Kritiker tatsächlich Probleme angesprochen hätten, die ernsthaft diskutiert werden müssten. Schwächen seien aufgedeckt worden, aber die Kritiker seien auch Missverständnissen erlegen. Das Projekt Gesellschaftsgeschichte sei nicht so dominant wie auch die Punzierung als quasi offizielle Darstellung ein Missverständnis sei. Versuche einer Einflussnahme habe es nicht gegeben. Hanisch verteidigte sein Buch als offenen Text, »der zum Weiterdenken, Querdenken, zum Einspruch und zu Kontroversen« einladen sollte. Freilich befinde sich, so der Kritisierte weiter, hinter dem Gesamtprojekt die »Konsolidierung der österreichischen Willensnation«. Der Nationalstaat möge veraltet sein, aber er existiere. Österreich sei eine verspätete Nation. Sich kritisch die eigene Geschichte anzueignen, sei nach wie vor eine Aufgabe. Hanisch plädierte dafür, »diese lächerlichen Positionskämpfe« aufzugeben und bekräftigte die Notwendigkeit von Synthesen als Universal-, National- und Regionalgeschichten als »vorläufige Entwürfe«. Der Gescholtene brachte sein Misstrauen gegenüber »der Unfehlbarkeit der neuen Päpste« zum Ausdruck. Synthesen könne ein Assistent genau so schreiben wie ein Professor. Die »postmodernen Sprachakrobaten« sägten »fröhlich an dem Ast, auf dem sie sitzen«, und zwar nach dem Motto : »Gesamtdarstellungen – das mögen die Journalisten machen, wir spielen unser Spiel nach unseren Regeln.« Hanisch wählte harte Worte, wenn er feststellte, er weigere sich, »diese sanfte Euthanasie der Geschichtswissenschaft mitzumachen«. Aufgabe der Gesellschaftsgeschichte sei die Verkreuzung der Diskurse und möglichst viele Spezialgebiete zusammenzudenken. Der Spott sei zu ertragen, er sehe aber gerade in dieser Vermittlung »eine große Herausforderung für die Gesellschaftsgeschichte«. Es gebe keine große Theorie, um das Ganze, die Totalität zu erklären. Die »große
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Erzählung« sei tatsächlich zerbrochen, aber man müsse zuerst an eine solche geglaubt haben, »um dann pathetisch ihr Ende zu verkünden, was das Problem der Postmarxisten« sei. Eine historische Darstellung brauche Leitperspektiven, »um plausible Erklärungshypothesen zu entwickeln« und »das Chaos der Wirklichkeit zu entlüften«. Sie lösten zwar die Widersprüchlichkeit, die Gemengelage vergangener Wirklichkeiten nicht auf, aber die historische Erklärung müsse als Wissenschaft in einem logischen Zusammenhang stehen. Als Leitperspektive diente ihm das Konzept der »Lebenschancen«, was von den Kritikern so gut wie nicht diskutiert werde. Den Vorwurf der ethischen Unentschiedenheit bezeichnete Hanisch als Vorteil. Im Unterschied zu seinen Kritikern sah er den Historiker nicht in der Position des Richters, der bestimme, was gut und böse sei, eher in Person des Untersuchungsrichters, wie es Marc Bloch genannt habe. Mattls Kritik an der herkömmlichen Periodisierung, die angeblich von der politischen Journalistik vorgegeben werde, hielt Hanisch nur für eine »mäßig lustige Geschichte, wenn die Journalisten den Bruch des Jahres 1938 zum Beispiel erfunden haben sollen«. Mattl übersehe, dass in den Entwicklungssträngen im Buch diese Zäsuren teilweise aufgesprengt würden, so im Kapitel Strukturbrüche eine andere, mögliche Periodisierung diskutiert werde. In der Analyse der Nach-45-Periode weise er auf die Kontinuitäten von den 1930er zu den 1960er-Jahren hin. Was gegen eine solche Periodisierung spreche, sei »die damit verbundene Einplanierung des nationalsozialistischen Zivilisationsbruches in eine Normalgeschichte«. Gegen Mattls Vorschlag stünden die Ermordeten, ein starkes und kaum widerlegbares Argument von Hanisch. Unter »Anklagepunkt : Sprache«39 räumte Hanisch ein, dass Metaphern oft dazu dienten, fehlende Argumente zu ersetzen, aber auch vorhandene »Argumente zuzuspitzen, sinnlich aufzuladen und eine offene Textstruktur herzustellen«. Die Kritiker würden verkennen, dass zwischen Bildern und Fotografien ein selbstständiger Dialog stattfinden würde, die deshalb überlegt ausgewählt seien und über der Textschicht eine weitere, eigenständige Interpretationssicht liege. Auf die Kritik Sprengnagels, der »als forscher Oberlehrer« agiere, erwiderte Hanisch, das Strukturen zwar vorgegeben seien, aber durch die Praktiken der Menschen aktualisiert würden. Zum »Anklagepunkt : Barock – Aufklärung«40 hielt Hanisch fest (der zugab, kein Experte für das 17. und frühe 18. Jahrhundert zu sein), die Kritiker hätten den Stellenwert dieser Bipolarität »maßlos überzeichnet«. Das Problem bestehe darin, wie man »den stark autoritären Zug der politischen Kultur und gleichzeitig das Vertrauen in den Staat« erklären könne. Ihm sei es darauf angekommen, das Wechselspiel von autoritären und demokratischen Phasen in der österreichischen Geschichte modellhaft festzuhalten. Diese Bipolarität sei sicherlich nicht neu. Hanisch hatte sie bei Friedrich Heer und Carl Schorske gefunden.41 Bei der Konzeption des Buches habe Bipolarität noch keine Rolle gespielt, erst im Laufe des Schreibens sei sie stärker geworden. Recht hätten die Kritiker, wenn sie die Frage der Vermittlung von Tra-
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ditionen aufwerfen und einmahnen würden, wozu das Buch »fast nur Leerstellen« aufweise. Hanisch sah eine Lösung in der beobachtbaren »langen Dauer der politischen Mentalität«, wonach der Katholizismus bis weit ins 20. Jahrhundert barocke Elemente transportiert habe, während Liberalismus und Sozialdemokratie als Vermittler der Aufklärung fungierten. Hanisch schloss diesen Teil mit der Feststellung, dass der österreichischen Geschichtsforschung die Kontroversen um große Themen fehlen würden. Im Streit um sein Buch sah er einen möglichen Ansatz dazu. Im eigenen mit »Liebe Ulrike !«42 überschriebenen Abschnitt wandte sich Hanisch auch seiner Kritikerin Döcker zu, deren Voreingenommenheit er beklagte, wobei er grundsätzlich einbekannte, dass die Einbeziehung der Gender-Dimension nicht geglückt sei, während der Bildteil von 57 doch 42 Abbildungen mit Frauen zeige ! In einem Postskriptum bekannte Hanisch, ein Freund offener Kritik zu sein, der die Form kollektiver Kritik originell fände wie auch den Zeitaufwand respektiere, doch in dieser Gruppe scheine sich eine Verwandlung der Rezensenten in eine »Hetzmeute« vollzogen zu haben, die »plötzlich als Masse mit Schaum vor dem Mund zu reden« beginne. Hanisch sah in der Kontroverse zwei Generationen mit zwei unterschiedlichen Geschichtskonzeptionen am Werke wie auch »Macht- und Positionskämpfe«. Es gebe keine sakrosankte Geschichtstheorie, die nicht kritikbedürftig sei. Der schwer unter Beschuß Genommene räumte bereitwillig Defizite und Versäumnisse seines Werks ein, wehrte sich aber in einer Reihe von Punkten, um versöhnlich zu enden und die Differenzen zu relativieren, da man doch letzlich gar nicht so weit auseinander sei, als er fragte, ob es in Österreich nicht eine wirklich dominante »dritte Position« gebe, nämlich die »eines nur wenig veränderten Historismus«.
IV. Von den Schwierigkeiten einer Gesellschaftsgeschichtsschreibung Mit der Problematik der Konzeption von »Gesellschaftsgeschichte« und ihrer Umsetzung in der Historiografie beschäftigten sich Dieter Groh und Martin Zürn in einer ausführlichen aufsatzartigen Reaktion, die sowohl über Hanischs Buch als auch über die einzelnen Stellungnahmen der ÖZG-Kollektivrezension deutlich hinausging.43 Die vom Verfasser dieses Beitrags bereits im Vorfeld des Erscheinens des »langen Schattens« geäußerte Kritik an der »heiligen Dreifaltigkeit« der Kategorien »Arbeit (= Wirtschaft) – Herrschaft (= Macht/Politik) – Sprache (= Kultur)«,44 die Hanisch als Verspottung in der Einleitung seines Buchs gebrandmarkt hatte, wollten Groh und Zürn mit einem solchen Urteil nicht abgetan wissen. Die tiefere Problematik dieses Ansatzes bestand für sie in einer Reihe von Punkten : Reduktion eines Arbeitsbegriffs marxistischer Provenienz, Degradierung der Natur zu einer (von vielen) Variablen menschlicher Kulturleistungen, Fehlen von Kategorien kultu-
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rell wirksamer, objektiv messbarer wie subjektiv erfahrbarer Räumlichkeit sowie die Notwendigkeit der Betonung des engsten Zusammenhangs zwischen Natur, Raumstruktur, historisch wirksamer Zeit und sozialen Lebens. Indem Groh und Zürn Hanisch’ Studie – viel eingehender als bisher geschehen – mit Wehlers Deutscher Gesellschaftsgeschichte45 verglichen, orteten sie u. a. die Vagheit des Kulturbegriffs und die ungelöste Periodisierung als Probleme.46 Sie monierten ferner, dass Hanisch eine kritischere Haltung gegenüber den benutzten Modellen einnehmen und mehr Mut zur eigenen Theoriebildung aufbringen hätte müssen.47 Eine eklektizistische Theorieauswahl würde das Theorieproblem nicht lösen. Die Verknüpfung von Struktur und Ereignis sei nicht geglückt, wie auch die Generalthese vom »langen Schatten des Staates« Grenzen aufweisen würde und auf diese Weise infrage gestellt wurde.48 Wie bei Wehler würden Natur, Raum und Zeiterfahrung als Kategorien fehlen. Die Kritiker räumten aber zugunsten Hanischs ein, dass bisher keine Theorie formuliert worden sei, wie unterschiedliche Theoreme anthropologischer, ethnologischer, ökologischer usw. Herkunft zu organisieren seien.49 Groh und Zürn, die die Frage der weiteren Gedeihlichkeit und Tragfähigkeit einer zukünftigen Gesellschaftsgeschichte offen ließen, äußerten sich im Unterschied zur ÖZG-Redaktion ausgewogener und durchgehend sachlich. Ihre Außenperspektive war dabei hilfreich. Es folgten eine Reihe von kurzen Einzelrezensionen in diversen österreichischen Organen. Martin Moll, ein fleißiger Rezensent, verfasste in dem von Maximilian Pammer verdienstvoll herausgegebenen historicum eine ausgewogene und faire Kritik. Er verortete das Buch von Hanisch am gegebenen Forschungs- und Literaturstand, wie es sich für eine angemessene Herangehensweise geziemt. Wirtschaft, Politik und Kultur und ihre wechselseitigen Abhängigkeiten würden »in der Regel überzeugend aufgezeigt«. Beharrlich, mitunter mit sanftem Zwang füge Hanisch seinen Stoff in das Schema Barock–Aufkärung zweier gegensätzlicher Pole ein. Dass sich in Österreich seit Jahrhunderten eine besonders ausgeprägte staatlich-bürokratische Tradition entfaltet habe, würde kaum auf Widerspruch stoßen, aber nicht so recht deutlich werden, »ob hier etwa analog zu der seit langem schwelenden deutschen Debatte ein österreichischer ›Sonderweg‹ konstruiert werden« solle. Hanisch berücksichtige zu wenig »den im Prinzip banalen Umstand, daß sich auf dem Weg in die Moderne in jeder Gesellschaft vorwärtstreibende und retardierende Kräfte mit- und gegeneinander entfaltet« hätten.50 Dieser fundamentale Einwand Molls war schwerlich von der Hand zu weisen und wurde vom Rezensenten weiter ausgeführt : Hanisch erkenne zwar »vollkommen zutreffend«, dass die Eigentümlichkeiten einer gesellschaftlichen Entwicklung nur mittels des Vergleiches bestimmt werden könnten. Er setze seine Erkenntnis aber »nur in einem sehr bescheidenen Rahmen« in die Wirklichkeit um, denn seine gelegentlichen Vergleiche mit Deutschland und der Schweiz belegten zwar »die sattsam bekannte, bis in die 1970er-Jahre bemerkbare Rückständigkeit der österreichischen Wirtschaft«, doch werde damit an keiner Stelle bestritten, »daß
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sich gerade auch in diesen beiden Staaten konservativ-reaktionäre Kräfte dem gesellschaftlich-sozialen Umbruch bremsend in den Weg gestellt« hätten. Nebulös war für Moll, was Hanisch unter dem »österreichischen Mythos« verstehe, ein Begriff, den er durchaus als ernsthafte Analysekategorie verstehe. Wenn der Kern dieses Mythos ausgerechnet in der Musik geortet werde, bleibe der Rezensent »ein wenig ratlos zurück«. Der heiklen Frage nach dem »deutschen Charakter Österreichs« stelle sich Hanisch ohne Vorbehalte und werde seinem Thema durchaus gerecht, was Moll anerkannte, doch wäre seines Erachtens auf die Einbeziehung der genannten unscharfen Begriffe zu verzichten gewesen. Moll lobte »ein wohl konzipiertes, übersichtlich gegliedertes und flüssiges Buch [sic !]«. Die ÖZG-Besprechung bezeichnete er als Ausdruck »einer beispiellosen Hinrichtung nicht durch einen Rezensenten, sondern durch die gesamte Redaktion«, die mit rationalen Motiven allein kaum erklärlich sei. Hinsichtlich einer historisch interessierten, aber gerade nicht aus Fachhistorikern bestehenden Leserschaft habe der Autor »die schwierige Gratwanderung hervorragend bewältigt und es geschafft, Verständlichkeit einerseits und hohes fachliches Niveau, gepaart mit dichter Information und der angemessenen Erwähnung divergierender Interpretationen durch die Wissenschaft, andererseits miteinander in Einklang zu bringen.«51 Der Südtiroler Historiker Hans Heiss besprach den »langen Schatten« nicht nur ausführlich im Südtiroler landesgeschichtlichen Organ Der Schlern,52 sondern auch nuancierter und variierter im deutschen Archiv für Sozialgeschichte (AfS). Er lobte Hanisch für die sich ausdrücklich auf die Vorgaben der historischen Sozialwissenschaft (u. a. der Bielefelder Schule) beziehende Einführung von Forschungskonzepten und -modellen, die für jüngere Historiker/-innen neue Perspektiven eröffnen würden. Hanisch verfolge drei Ziele : die Kluft zwischen Struktur und Subjekten, wenn nicht schließen, so doch drastisch zu verengen ; eine Synthese aus politischer Zeit- und Sozialgeschichte sowie eine weit ausholende Darstellung, um die Brüche und Kontinuitätslinien zwischen Monarchie und dem zeitgenössischen Österreich herauszuarbeiten. Insgesamt handle es sich um einen »enormen Anspruch«, für den in Österreich auf keine Vorbilder zurückzugreifen gewesen wäre, sehe man von Erich Zöllners »grundsolidem, aber in der Konzeption veraltetem Standardwerk« oder von Ernst Bruckmüllers »Sozialgeschichte«53 ab, die jedoch die jüngste Geschichte kursorisch und unter Ausblendung politikhistorischer Schwerpunkte behandle. In der weiteren Analyse verwies Heiss auf »die Eigenart von Hanischs Sprache«, »ins Zentrum zielende Formulierung«, »plastische Bildung von Kontrastebenen«, »Verknappung von Zusammenhängen zur Pointe« sowie »die merkwürdige Differenz zwischen wissenschaftlicher Abstraktion und dem Einschub von Metaphern«,54 eine Sprache also, die das Gleichgewicht mitunter verliere. Der emphatische Wunsch von Hanisch bestehe darin, »Geschichte narrativ zu vergegenwärtigen«. Er lege seiner Darstellung die Ebene der Mentalitätsgeschichte zugrunde, wobei diese nach Rolf
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Reichardt von einer Langzeitwirkung »kollektiver Verhaltensdispositionen« zu erfassen sei. Österreichs Gesellschaft sei im Vergleich zu Deutschland oder der Schweiz von einer »Untertanenkultur« geprägt, starkem Glauben an politische Führung und geringem Vertrauen in die eigene Fähigkeit, politische Verhältnisse verändern zu können. Gegen die Annahme von einer anhaltend wirksamen Untertanen-Mentalität in Österreich sprachen laut Heiss zahlreiche Elemente, vor allem aber Hanischs Befund selbst, wenn er in den 1980er-Jahren den Aufbruch einer »Kultur des Unbehagens« und bürgerlicher Partizipation ausmache, Einschätzungen, die seine Ausgangshypothese »eigentlich demontieren«. Dennoch, so konstatierte Heiss, sei bei Hanisch »die These eines österreichischen Sonderwegs« noch nie so prominent entfaltet worden und werde »als anregender Impuls in nächster Zukunft gewiss verstärkt eine Rolle spielen«. Das Fehlen einer politisch, wirtschaftlich und kulturell »bürgerlichen Gesellschaft« sei Hanisch zufolge eines der schwerwiegendsten Defizite Österreichs, in dessen Leerräume der »lange Schatten des Staates« eingefallen sei. Wie Moll widmete sich Heiss auch dem Thema der österreichischen Nation. Die Entstehung nationaler Identität sehe Hanisch in Österreich seit ca. 1895 vor allem unter dem Einfluss eines österreichischen Reichs- und Republikpatriotismus (Dynastie und Konfession), der sich in Konkurrenz und Konflikt zur »großdeutschen« Identität (Wunsch zur Anteilhabe an der Kulturgemeinschaft und am Aufstieg des Deutschen Reiches zur Abgrenzung von den übrigen Nationalitäten) bewegte. Die Durchsetzung der österreichischen Identität lege Hanisch in die 1950er-Jahre mit Unterzeichnung des Staatsvertrags 1955. Trotzdem sei sie gebrochen und weiter durch Überlagerungen gekennzeichnet. So bleibe »ein Rest an Unsicherheit« : »Die Präsenz des deutschen Nachbarn als Währungsvormacht, als Kapitalgeber oder als Urlauber wirkt nachhaltig massiv auf das Österreichbewußtsein ein. Hanischs Buch mit seinen vielfachen Abgrenzungstendenzen gegenüber den ›tüchtigen‹ Deutschen ist hierfür ein erhellender Beleg. Ist die Frage der ›österreichischen Nation‹ nicht vielleicht doch virulenter, als er selbst zugeben möchte ?«,55
fragte Heiss nicht zu Unrecht nach. Der Rezensent sah einen Vorzug des Buchs in der Bündelung der Vielzahl von Einzelstudien, die über die österreichische Geschichtsforschung hinaus noch kaum in eine größere Öffentlichkeit gedrungen seien, »zu einer zumeist dichten, mitunter hervorragenden Synthese«. Das Buch sei auf dem »aktuellen Forschungsstand zur Ersten Republik«, der Leser werde zur NS-Herrschaft in Österreich »souverän versorgt« und »bestechend« sei Hanischs Analyse der Unterschiede zwischen »Austrofaschismus« und Nationalsozialismus, »schlackenlos-konzise seine Beschreibung der verschiedenen Ebenen des Anschlusses 1938« und »erhellend seine Überlegungen zum Zusammenhang von Nationalsozialismus und Moderne am Beispiel Öster-
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reichs«. Dagegen falle das vorangegangene Kapitel zur Monarchie deutlich ab, in dem Hanisch seine These von der lastenden Rolle des dynastisch bürokratischen Obrigkeitsstaates, der »die Gesellschaft« im Verein mit einem »organisierten Kapitalismus« durchgreifend geprägt habe, überdehne. Gewiss sei der »Schatten« des Staates in der Monarchie allgegenwärtig gewesen, »was jedoch nicht heißen kann, daß der staatliche Zugriff omnipotent oder universal wirksam war, wie Hanisch zu unterstellen scheint«. Die Staatsgewalt habe sich, so Heiss, »vielfach an den Partikularismen der Kronländer, an den nationalen Unterschieden oder schlichtweg an der schieren Größe des österreichischen ›Subkontinents‹ gebrochen. Für den Kritiker blieb merkwürdig, dass Hanisch versäumt habe, das »erhebliche politisch-föderative Gewicht der Länder und deren sozialräumliche Differenzierung eingehender zu erfassen : »Es ist erstaunlich, daß einer der wichtigsten Regionalhistoriker Österreichs die Länderebene weitgehend unterschlägt und statt dessen für die Zeit der Monarchie ein ›Konstrukt‹ Österreich voraussetzt, das es so noch nicht gab.« Heiss ging mit seiner Kritik noch weiter : »Am schwächsten ist schließlich Hanischs Darstellung der dreißig Jahre seit 1955 : Seine Analyse bleibt hier zumeist dünn, inkonsistent und scheint bei der Beschreibung der jüngsten Situation von einem resignativen Kulturpessimismus durchtränkt.« Zur Sprache merkte Heiss ergänzend an, dass Hanisch einerseits im Jargon der Zunft argumentiere, andererseits einer feuilletonistischen Diktion verhaftet sei, »von der er vermutet ; daß sie seinem imaginären Leser-Publikum entgegenkäme«, wobei diese Anbiederung »bisweilen peinlich« wirke. Mit seinem Anspruch einer narrativen Gesellschaftsgeschichte habe Hanisch »jedoch bewußt eine Provokation gesucht, die sowohl Zustimmung als auch Widerspruch gefunden« habe. Heiss schloss, wenngleich unter Bezugnahme auf ein Diktum Mattls, mit einer indirekten Absage an den Generalbefund der ÖZG-Besprechung mit einem positiven Fazit über Hanischs Werk : Die »enorme Anstrengung« habe »trotz vieler Schwächen ein großes Verdienst« : »Sie hat die überbordende Fülle der jüngeren Zeitgeschichtsforschung Österreichs auf eine ›Generalidee‹ (Siegfried Mattl) bezogen, die Forschung und Darstellung nachhaltig anregen wird. Und seine große Gesellschaftsgeschichte ist auch ein Signal dafür, daß in der jüngsten Geschichte Österreichs offenbar eine Zäsur eingetreten ist, in der Bedarf nach solchen Bilanzen besteht.«56 Die Besprechung von Heiss war zweifelsohne eine der markantesten und substanziellsten, die in landeskundlichen und regionalhistorischen Periodika erschienen war.57 Die Rezension von Heiss im AfSG beinhaltete ähnliche Beurteilungen, wenngleich einige Punkte ergänzt und zugespitzt wurden.58 Die Frage, weshalb die Darstellung um 1895 einsetze und warum Hanisch dieses Jahr anstatt der gängigeren Zäsuren von 1918 oder 1938 gewählt habe, veranlasste den Rezensenten zu folgender Kritik : Die Konstruktion einer »Stunde null« um 1895–1896 wirke auf den ersten Blick zwar plausibel, berge aber die Gefahr neuer Mythenbildungen in sich : Hanisch
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kopple das moderne Österreich dadurch an die Dignität der Habsburgermonarchie und versenke »das historische Wurzelgeflecht«, einer der Lieblingsbegriffe von Hanisch, der Republik »in nahezu mythische Urgründe, die rationaler Analyse letztlich entzogen bleiben«. Hanisch beschreite nicht nur mit Blick auf die Gesellschaftsgeschichte, sondern auch hinsichtlich der Sonderwegsdiskussion gleichsam deutsche Wege, die er auf österreichische Verhältnisse übertrage bzw. ummünze. Heiss fragte hier zu Recht : »Ein österreichischer Sonderweg also, der sich unter den Auspizien der Konfessionalisierung hin zu einer ›katholischen Ethik‹ der Unterwürfigkeit vollzogen hat ? Hanisch bietet hier – gleichsam spiegelverkehrt – ein nachholendes Vexierbild der deutschen Debatte und zur Weber-These des Zusammenhangs von Kapitalismus und protestantischer Ethik.«59
So leidenschaftlich Hanisch in der Nachfolge von Friedrich Heer für seine Auffassung werbe und so attraktiv er sie auch präsentiere, so bleibe ihre Fundierung doch schwach und (vorerst) von geringer Konsistenz. Noch sei keine ausreichende empirische Basis gegeben, die diese Position, die ohne chronologische, soziale und regionale Differenzierung erfolge, untermauern könnte. Überzeugend werde zwar der Nachweis erbracht, dass der relativ schwache Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozess Österreich zu einer stark mittelständisch geprägten Formierung der Gesellschaft geführt habe. Diese habe sich deswegen, aber auch aufgrund staatlicher Förderung bereits um die Jahrhundertwende konsolidiert. Im Detail bleibe jedoch die Analyse der Mittelschichten Österreichs blass. Die zerklüfteten Formationen des Bürgertums seien nur unzureichend beschrieben. Inakzeptabel sei, dass Hanisch ältere Formen »universaler Massenkultur« wie die nachhaltig wirksame katholische Volksreligiosität nur am Rande berühre, die »formierende Macht der Presse« ausklammere und regionale Elemente vollständig ausblende. Dass »vormoderne« Formen von Massenkultur wirkungsmächtig bleiben, werde schlichtweg ausgeklammert.60 Zur Sprache merkte Heiss kritisch an, dass der erzählerischen Verve auch sein Hang zur »Dichotomisierung« von Geschichte entspringe : Hanisch reduziere historische Prozesse mit Vorliebe auf Gegensatzpaare und setze die Kontrastierung zweier Positionen als rhetorische Figur ein, z. B. »Barock versus Aufklärung«, »Katholizismus versus Säkularisierung«, »Moderne und Traditionslastigkeit«, »Ignaz Seipel versus Otto Bauer« usw. Die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« und die Komplexität historischer Prozesse würden so in ein »dramaturgisches Prokrustesbett« gezwungen. Hinter dieser Erzählhaltung stehe »ein romantischer Wunsch«, und zwar jener nach »Versöhnung von Geschichtsschreibung und Literatur«, an die Hanisch unter Rückverweis auf literarische Vorbilder häufig appelliere. Sein Text
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strebe nach einer Fusion, die letztendlich nicht gelungen sei – nach einer Synthese von Musil und Wehler.61 Die abermalige und verfeinerte Besprechung von Heiss knüpfte an die kundigen und fundierten Ausführungen von Groh und Zürn an. Sie war eine der gewichtigsten Kritiken im Kontext der Debatte um Gesellschaftsgeschichte und den »langen Schatten«. Eine ebenfalls treffende und weiterführende Beurteilung stammte aus der Feder der Salzburger Zeitgeschichtlerin Ingrid Bauer,62 die einleitend bekannte, zur Historiker/-innen-Generation zu gehören, »der es in den letzten Jahren unter dem Stichwort ›Dekonstruktion‹ um eine Infragestellung gerade der großen Meistererzählungen ging«, denn die Definitionsmacht eines wissenschaftlichen Denkens sei fragwürdig geworden, das die gesellschaftliche Wirklichkeit ordne und strukturiere, indem »es eine – scheinbare zentrale – Norm« setze, der »alles untergeordnet« werde. Das »angeblich Abweichende, Ungleichzeitige und Widersprüchliche« bleibe dabei ausgeblendet. Der Paradigmenwechsel der Forschung bezüglich Alltag, Frauen, Erfahrung und Region sei »so etwas wie ein Aufstand unterdrückten Wissens« gewesen. Bauer artikulierte nach ihrer Positionierung ihre »widersprüchlichen Leseerfahrungen«, wozu auch die Kritik an einem Buch gehörte, welches den »latenten Anspruch« erhebe, »wenn schon nicht die gültige Gesamtdeutung österreichischer Zeitgeschichte« zu sein, so doch zumindest ein »So war es …« provoziere. Bauer konzentrierte ihr Prüfverfahren auf drei Schwerpunkte : die Leitperspektive »Lebenschancen«, das Interpretations- und Darstellungsmodell einer »doppelt konstituierten Wirklichkeit« sowie die Einbindung der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Sie bezweifelte ausgehend davon, dass es sich bei Hanisch und seinen »Lebenschancen« um »strukturelle und damit objektiv meßbare Optionen« handeln würde : Diese Kategorie habe eine »stark subjektive und emotionale Schlagseite«, wofür Bauer Beispiele anführte. Dem »voyeuristisch-männlichen Blick« einer »Oben-ohne-Bademode« als Chiffre für Modernisierung weiblicher Lebenszusammenhänge lasse sich das Alltagssymbol »Waschmaschine« entgegensetzen, die für einen zentralen qualitativen Wandel der zeitlichen Freisetzung an den Haushalt gebundener weiblicher Arbeitskraft stehe. Die Bemühungen um Aufweichung der »Frontlinie zwischen der ›kalten‹ Strukturgeschichte und der ›heißen‹ Historischen Anthropologie«63 seien nicht durchgängig lebendig. Des Autors Verständnis einer aus objektiver Struktur und subjektiven Erfahrungen »doppelt konstituierten Wirklichkeit« bleibe hierarchisch. Die »Betroffenen«, wie die Akteure der Erfahrungsebene bei Hanisch genannt würden, wirkten eher wie »Puppen an meisterlichen Erzählfäden« denn »Subjekte der Lebenswelt«. Ihr Alltag sei so eindeutig der Strukturebene untergeordnet, dass er oft »nur illustrativen Charakter« habe. In Hanischs Modell von Gesellschaftsgeschichte habe »Geschlecht« als Kategorie und »zentrale Ordnungs- und Orientierungsmatrix von Geschichte und Gesellschaft«, als »Prinzip historischer Erfahrung und gesellschaftlicher Differenzierung« keinen Platz. Die
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Begriffe »weiblich« und »männlich« würden aus einem Alltagsverständnis heraus verwendet ; nicht selten eingeschlossen Klischees. Das einzige Darstellungssegment, in dem Frauen verstärkt auftauchen würden, sei jenes der »Lebenswelt« : Dort werde aus Tagebüchern, Briefen von Frauen und aus alltagsgeschichtlichen Interviews von und mit Frauen zitiert, ohne jedoch deren Erfahrungen auf frauenspezifische Realitäten hin auszuwerten. Die Frau finde sich nur als Garantin für jene »Lebendigkeit«, die das Buch unbedingt einlösen wolle. Damit bleibe sie im klassischen Kontext der geschlechtsspezifischen Trennung von Kultur und Natur, von Struktur und Emotion, von Politik und Lebenswelt angesiedelt.64 Bauers Ausführungen gingen weit über die Kritik von Döcker hinaus und zeigten die von Hanisch zugegebenen Lücken und Schwachpunkte seiner Gesellschaftsgeschichte klar auf.
V. Fundamentalkritik aus altösterreichischer, jüdischer, kosmopolitischer und wissenschaftssoziologischer Perspektive Eine der schonungslosesten, wenngleich salopp und umgangssprachlich verfassten, so doch sehr ernst zu nehmenden Kritiken stammte von Buchautorin und Filmemacherin Ruth Beckermann und dem Dramaturgen und Theaterleiter Wolfgang Reiter,65 die das Buch von Hanisch einer scharfen Kritik unterzogen, wenngleich offenbar selbst nicht frei von Ressentiments gegenüber dem Autor. Hanischs Kritikern von der ÖZG zugewandt, die argumentierten, man könne heute keine »Großgeschichte« mehr schreiben, entgegneten sie gleich zu Beginn : Man könne sehr wohl, wenn man eben könne. Es gehöre, so Beckermann und Reiter weiter, aber mehr dazu, als in stetem Perspektivenwechsel zu montieren. Hanischs Geschichte triefe vor Moral. Der Blick sei einer »von draußen« auf die ferne Metropole aus der Perspektive des Dorfs. Für beide Rezensenten stellte das Buch »eine Provokation« dar und zwar aus mehrfacher Perspektive : »als Frau, Jüdin, Wiener, Österreicher und interessierter Leser«. Problematisch sei, dass sich diese Gesellschaftsgeschichte im Wesentlichen auf das Land in seinen heutigen Grenzen reduziere. So hätten nicht nur Wien, sondern auch Budapest, Prag und Czernowitz mehr zu europäischer Wissenschaft und Kultur als die Alpenländer zusammengenommen beigesteuert. Adel, Industrialisierung, jüdisches Bürgertum und geistige Strömungen der Zeit von 1890 und 1990 blieben aufgrund der territorialen Begrenzung »völlig unvermittelt«. Enge Grenzen einer Welt aus der Perspektive von Salzburg und Umgebung vermittelten einen »ungelüfteten Eindruck«. Der Stil setze die »wiederholte Rache des katholischen Landes an der Stadt und dem Herrschaftszentrum Wien und den ›rastlosen‹ Juden« um. Der Zionismus von Theodor Herzl, die Psychoanalyse von Sigmund Freud oder der Austromarxismus des roten Wiens von Otto Bauer würden nicht angemessen nachvollzogen. Man lerne und verstehe nichts. Schicksalhaft breche der Erste Weltkrieg
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über das Volk herein. Man erfahre nichts von den Machtverhältnissen in Europa und den eigentlichen Ursachen des Krieges. Das Buch verharre in einer Nabelschau. Die Welt bleibe draußen. »Ein muffiger und dörflicher Katholizismus durchzieht die vielen Seiten.« Ärgerlich empfanden die Kritiker darüber hinaus, dass die wissenschaftlichen und technischen Leistungen in Österreich nicht adäquat dargestellt worden seien. Der Zusammenhang zwischen Wissenschaft, Technik und Gesellschaft sei bei Hanisch nicht von gesellschaftsgeschichtlicher Relevanz. Äußerlich sei das Buch mit Blick auf den Nationalsozialismus »politisch korrekt«. Ein kritischer Teil der Leser scheine »beruhigt zu sein und für so manche Grob- und Feinheiten des Werkes taub zu bleiben«. Dabei stecke es »voller unreflektierter Vorurteile, Ressentiments gegen Frauen, Juden und Reiche«, die den Ton des Buches bestimmten. Damit mache sich Hanisch zum Anwalt weiter Teile der Bevölkerung und insofern sei dieses Geschichtswerk »wahrlich eine Heimat-Fibel«. Frauen würden meistens als Sexualobjekte dargestellt und über ihren Körper definiert. Die österreichisch-jüdische Modernisierungswelle interessiere Hanisch nicht, dafür übertreibe er den Modernisierungsschub durch den Nationalsozialismus. Positive Leistungen von Juden würden »nur allzu gerne« aus der Perspektive von Antisemiten dargestellt. Selten finde sich, so Beckermann und Reiter, in solcher Reinkultur »die alte Mischung aus Antifeminismus, Antisemitismus und Antiurbanismus«. Die Aufzählung von dominanten Vaterfiguren von Joseph II. bis Kreisky, in der auch Hitler genannt wurde, brachte für Beckermann und Reiter das Fass zum Überlaufen : »Welche Perversion ! Wurde dieser Hanisch-Satz von der Rezeption seines Werkes bisher nicht wahrgenommen, wurde er überlesen, wurde er ausgeschwiegen ? Oder kann es sein, daß dieses Buch wirklich dem alpenländischen Geschichtskanon entspricht ?«66 Diese Besprechung war zwar im Stil nicht minder provokant und polemisch, zielte aber in Bereiche, die von der bisherigen Kritik unbeachtet bzw. unberücksichtigt geblieben waren. Der Grazer Soziologe Christian Fleck hakte dort ein, wo Beckermann und Reiter stehen geblieben waren, wenn er die faktische Ignoranz von Hanisch gegenüber der Geschichte der Wissenschaften kritisierte.67 Über die Bäuerin erfahre der Leser weit mehr als über die Bedingungen, unter denen das »technische Wissen« entstanden sei und an den Hochschulen vermittelt wurde. Das soziale Subsystem von Wissenschaft sei »systematisch ignoriert« worden. Wenn Hanisch über Wissenschaft schreibe, dann werde sie als Teil des breiteren Kulturdiskurses thematisiert. Fleck machte auf etwas aufmerksam, was auch Beckermann und Reiter konstatierten : Der Ökonom Joseph Alois Schumpeter war von Hanisch irrigerweise als Jude bezeichnet worden. Fleck meinte dazu auf Hanischs Text Bezug nehmend : »Schumpeter war aber weder nach Religion noch nach den Vorfahren und nicht einmal nach den Nürnberger Rassegesetzen Jude – aber es paßt so gut ins Vorurteil, das nur bei anderen wahrgenommen wird : ›Der Greißler fühlte sich … bedroht. Er reagierte mit … Antisemitismus. Überall sah er im Hintergrund ›den Juden‹ […].« Fleck setzte seine Kritik fort :
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Nobelpreisträger würden dem Leser vorenthalten, wie Hanisch die Naturwissenschaften (Wissenschaftler, Entdeckungen, Institutionen) nicht der Behandlung wert fände. Das Rätsel der Veränderung der kulturellen Sphäre durch die Elektrizität, dessen Lösung der Klappentext versprochen habe, bleibe so leider ungelöst. Mit der berechtigten Kritik Flecks sollen die Besprechungen im österreichischen bzw. nationalen Rahmen abgeschlossen werden, um auf jene in außerösterreichischen und internationalen Zeitschriften zu sprechen zu kommen.
VI. Besprechungen in außerösterreichischen und internationalen Periodika Obwohl sich Hanisch einem strukturgeschichtlichen Ansatz verpflichtet fühle, komme die Alltagsgeschichte nicht zu kurz, insbesondere wenn es darum gehe, spröde Zahlen und Fakten »zu konkretisieren und über das Medium einer wirklichkeitsnahen Sprache zu beleben«, meinte der Innsbrucker Wirtschaftshistoriker Franz Mathis in der deutschen Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Er attestierte dem Autor eine »überaus dichte und informationsreiche Gesamtschau der jüngsten österreichischen Geschichte, wie sie bislang in der österreichischen Historiographie weder versucht noch realisiert wurde«. Schwachstellen ortete der Rezensent beim Unterkapitel über die politische Kultur und ihre historische Tradition, das im Unterschied zu fast allen anderen Abschnitten auf einer zu schmalen empirischen Basis beruhe, den Vergleich mit anderen Ländern zu wenig suche und daher zu Verallgemeinerungen etwa über das »Österreichische« führe, »die teilweise sehr klischeehaft anmuten«. Anders als Beckermann und Reiter sah es Mathis : Ein grundsätzliches Problem stelle der Unterschied zwischen Wien und der Provinz dar, da wegen des überproportionalen Gewichts der ehemaligen Kaiserstadt manche Erscheinungen als österreichisch angesehen würden, obwohl sie vielleicht eher als wienerisch zu bezeichnen wären. Die damit eingemahnte, regionale Differenzierung hätte den Rahmen der vorliegenden Monografie jedoch weit gesprengt und müsse künftigen Studien vorbehalten bleiben. Mathis Fazit lautete insgesamt positiv : Hanisch habe mit seiner Gesellschaftsgeschichte nicht nur die österreichische Geschichtsschreibung um ein grundlegendes und vor allem auch angenehm zu lesendes Werk bereichert, sondern gleichzeitig auch einen Maßstab gesetzt, an dem künftige Arbeiten zu messen sein würden.68 Der an der University of Loughborough/UK lehrende Robert Knight machte in einer ausgewogenen, kritischen aber fairen Besprechung im Times Literary Supplement den Einfluss der Bielefelder Schule von Wehler aus. Hanischs Zugang sei gleichwohl »eclectic, perhaps excessively so«. Das Konzept der Lebenschancen von Dahrendorf 69 überzeuge nicht völlig. Der methodologische Pluralismus behindere
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manchmal die Klarheit seiner Ausführungen. Knight fand aber auch positive Seiten am Buch und seinem Autor : »He is particularly good on the social and political life of the Church and its twin, anticlericalism.« Die Behandlung der Anschluss-Phase 1938 sei vielleicht »the most illuminating part of the book«.70 William E. Wright von der University of Minnesota gelangte in der German Studies Review nach einigen geringfügigen Anmerkungen – sowohl hinsichtlich Inhalt als auch Rezeption – zu einem positiven Urteil : »This is a well-conceived, handsomely designed, engaging presentation of Austrian history of the last century which will be useful both to scholars and to the informed general reader.«71 Harry Ritter von der Western Washington University war in einer Besprechung für Central European History72 voll des Lobes : »If the other contributions equal this work in quality, the series will be a brilliant success. Hanisch’s book will be a touchstone for all future efforts to synthesize and extract meaning from Austria’s turbulent twentieth-century experience.« Ritter verortete das Hanisch-Buch auch ausgehend von seiner eigenen weltanschaulichen Position : »The author, an avowed product of contemporary Austria’s Catholic as opposed to Social Democratic or German National ideological traditions, affirms the progressive nature of this development, including the church’s own retreat from high-profile politics in the post-1945 period. Yet his voice is modulated by a distinctly ironic tone relating to these liberalizing and emancipatory processess – one alert to the unheroic side of human behavior and mindful of the losses and future uncertainties as well as the gains produced by ›modernization.‹«73
Ritter sprach eine klare Empfehlung aus : »In sum, anyone seeking a concise map of the contours and Landmarks of contemporary Austrian history and a penetrating appraisal of its vital issues will be well advised to begin with this volume.«74 Gary B. Cohen von der University of Oklahoma, nun schon seit Jahren am Center for Austrian Studies an der University of Minnesota in Minneapolis tätig, urteilte im Journal of Modern History75 und würdigte die Leistung : »This wide-ranging survey of Austrian society in the twentieth century is part of an ambitious ten-volume history of Austria since late antiquity. Handsomely printed with notes to sources, a fifty-page bibliography, and some well-chosen illustrations, the volume is apparently intended for an educated readership in Austria, along with those abroad who have more than a casual interest in the country. This book and the whole series merit serious attention among scholars, however, because the volumes sum up an important process of transformation that has taken place among Austrian historians since the late 1960s and early 1970s.«76
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Abgesehen von wenigen kritischen Einwänden gelangte Cohen in der abschließenden Beurteilung zu einem sehr positiven Fazit : »Ernst Hanisch has written a rich and thought-provoking synthesis that will be of great value for historians as well as more general readers. He depicts a complex array of structures and dynamic forces in wonderfully lucid prose. It will take a considerable feat to produce any better survey than this of twentieth-century Austrian society, popular culture, and political life.«77
In den von Günter Bischof verdienstvoll herausgegebenen Contemporary Austrian Studies verfasste Peter Berger eine Besprechung über Hanischs Buch, in der er auch auf Roman Sandgrubers Österreichische Wirtschaftsgeschichte »Ökonomie und Politik« einging.78 Sie fiel insgesamt ausgewogen und fair aus. »Der lange Schatten des Staates« sei »an extremely self-confident way«, wobei Berger auch die Grenzen und Möglichkeiten der Methodik aufzeigte : »The technique of systematic change of perspective between quantitative data and oral history, which Hanisch consciously uses as a stylistic device, gives his text a special flavor. In any case, his particular style prevents the book from being a rigorous work of scholarship. This must have been the intention of both publisher and author. Nevertheless, the fact that some tables (if only a few) are inadequately explained, is annoying.«79
Wie Wehler vor ihm, habe Hanisch keinen Erfolg gehabt »in finding an alternative to a critical modernization theory«. Berger war wie auch Fleck enttäuscht, »to see the history of science treated so sparingly in his book«. Warum Hanisch eine seiner Referenzpersonen, den Ökonomen Rudolf Hilferding, als »son of a Galician cashier« präsentiere, war für Berger unklar. Er führte neben Ralf Dahrendorf noch Stein Rokkan und Arend Lijphart an, auf die sich Hanisch gleichsam als »arguments of authorities« bezog. An dieser Stelle könnte man noch hinzufügen, dass sich Hanischs »langer Schatten« auch im Schatten vieler Autoritäten bewegte. Auffallend war für Berger, dass Hanisch für Friedrich Heer keine gleiche Anerkennung und Wertschätzung fand. Er sei auf 500 Seiten nur dreimal erwähnt, wobei Berger – zutreffend – in diesem österreichischen Kulturhistoriker so etwas wie einen Parallelfall erblickte : »Like Hanisch, Heer was a Catholic who struggled with the authoritarian tendencies of the Church. It is not only the language of Der lange Schatten des Staates [Herv. i. O.] which is inspired by Heer. The idea that the Austrian identity goes back to the age of the Baroque, which according to Hanisch is one of the two formative phases of the Austrian national character, certainly comes from Heer.«80
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Als vertane Chance in Hanischs Werk qualifizierte Berger das Fehlen von österreichischen Bildhauern, Musikern, Malern und Schriftstellern während der NS-Zeit : »That may be well-intentioned, but, bearing in mind what Hanisch said about the power of art to explain reality, it is a missed opportunity for his critical method.« Berger kam dann auch auf die inzwischen bereits benannten Kritikpunkte anderer Rezensenten zurück. Hanisch habe es mit der »frank admission, given in his introduction, that he has an emotional attachment to his rural and Catholic Background«, seinen Kritikern leicht gemacht. Berger schloss sich ihnen an, indem er einige Beispiele zitierte und dabei die missverständliche Wortwahl oder fallweise problematische Formulierungen kritisierte, die er bei einer Neuauflage zu beseitigen empfahl. Die Liste dieser Fehlgriffe sei noch länger als die von ihm zitierten Beispiele. Es sei »difficult to say whether one should be grateful to the lectors for leaving them in or whether a few touch-ups by the author would be desirable for the next edition of Der lange Schatten des Staates [Herv. i. O.]. Probably the latter.« Dieser Kritikpunkt hielt Berger – im Unterschied zu Hanischs ÖZG-Kritiker – nicht davon ab, seine Gesamtleistung auch anzuerkennen : »For, on the whole, Hanisch is a scholar who aims at balance and objectivity, and it is not only his chapter on Austria in the Nazi period which attests to this. He has taken on a difficult task and produced respectable results. It would be a pity to let a valuable contribution to Austrian social history remain tarnished with occasional poor judgment. The more so, as this would be in contradiction with the author’s belief, stated explicitly in his introduction, in the enlightening effects of scholarship.«81
L. J. Herbst von der University of Teesside/UK meldete sich in der English Historical Review zu Wort.82 Gleich zu Beginn war von einem »brilliant text of exceptional quality« die Rede. Er sei »remarkably free from polemic« und seine Struktur »distinctly innovative«, wobei unklar war inwiefern. Während Herbst den chronologischen Teil »more conventional« empfand, beurteilte er – ganz im Unterschied zu »some Zeitgeschichtler [Herv. i. O.]« – Darstellung und Sprache von Hanisch ausgehend von einer angelsächsischen Tradition sehr positiv : »The narrative is consistently detailed and shows a remarkable depth of penetration. Hanisch displays an exceptionally high literarcy quality with a clear, lucid style, spiced with wit and humour and making the text attractive not only to professional historians but also to lay readers. […] Hanisch has established himself in the front rank historians and embodies all that is best in Austrian post-Waldheim historiography. His detailed and wide-ranging understanding of the Austrian scene has yielded a contemporary social history without equal.«83
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Wie die Einschätzungen von Cohen, Berger, Herbst, Ritter und Wright verdeutlichen, war das internationale Rezensionsecho – trotz aller Einwände – in der Kritik angemessen, im Herangehen respektvoll und im Urteil sehr anerkennend.
VII. Fazit Kein Geschichtswerk hat in den letzten Jahrzehnten in Österreich so viel mediales Aufsehen und intensive Diskussion in Fachkreisen wie in der Öffentlichkeit ausgelöst wie das Buch von Hanisch. Das war auch Ergebnis einer gekonnten und – mit Blick auf das offizielle Jubiläum »1000 Jahre urkundliche Ersterwähnung Ostarrichi 996–1996« – marktstrategisch und wissenschaftspolitisch erfolgreichen Ankündigungs- und Vermarktungspolitik vom Autor wie vom Verlag, die damit große Erwartungen weckten und potenzielle Kritiker auf den Plan riefen. Viele Einschätzungen wurden geäußert, verschiedenartige Kritik kundgetan und zahlreiche Urteile gefällt. Die zahlreichen Rezensionen spiegelten ein facettenreiches, fachwissenschaftliches, aber auch geschichts- und wissenschaftspolitisches Szenario wider. Die Besprechungen gaben auch über Eigenheiten, Vorlieben und Widersprüchlichkeiten einer mitunter selbstbezogenen Zunft Aufschluss. Im Rahmen der ÖZG-Besprechung ließen Vertreter der jüngeren bzw. mittleren Generation fallweise Angemessenheit und Ausgewogenheit sowie kritische Reflexion des eigenen Schaffens vermissen. Die Auseinandersetzung mit Hanisch wurde teils heftig, teils zugespitzt geführt, so dass sich die Frage stellt, ob hier nur ein x-beliebiges Buch besprochen worden ist. Wie deutlich wurde, war dies nicht der Fall. Der Autor stellte sich freilich durch Vorankündigungen selbst in den Vordergrund und wurde sodann auch als Person mit seiner Biografie und Weltanschauung Teil der Debatte. Dabei traf er in Österreich auf weit weniger erklärte Anhänger und entschiedene Befürworter als im Ausland, ja mehr oder minder auf Kritiker. Der Prophet galt nichts im eigenen Lande. Bemerkenswert ist, was gegen Hanisch und sein Buch vorgebracht wurde und gegen was alles sich Verfasser/-innen der Besprechungen stellten : Es ging gegen die Art des (populär-wissenschaftlichen) Schreibens von Geschichte (die weder als notwendig noch als zwingend empfunden wurde), gegen den »Großprofessor« (der er gar nicht war), gegen einen vermeintlichen »Hohepriester« der Geschichtsschreibung bzw. der Zeitgeschichte Österreichs (der er ebenfalls nicht sein will, zumal er nur einen Text vorlegen wollte), gegen ein (tatsächlich oder scheinbar staatlicherseits erwünschtes oder vom Autor gedachtes, aber bestrittenes) Monopol für eine Nationalgeschichte Österreichs im 20. Jahrhundert sowie gegen die Auffassung von der Möglichkeit und Machbarkeit größerer Werke, sprich umfassender Gesamtdarstellungen monografischer Art, verbunden mit dem Anspruch, die Geschichte schlecht-
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hin bzw. eine identitätsstiftende und staatstragende Darstellung zu verfassen. Interessanterweise war erklärtermaßen die Berücksichtigung der Frauenperspektive und die Einbeziehung der Geschlechtergeschichte nur Frauen ein explizites und ausführlich begründetes Anliegen : Bauer und Döcker wandten sich gegen eine männerdominierte Zeithistoriografie und beklagten das Fehlen der gender dimension, was Hanisch auch als Versäumnis einsah (wobei ungeklärt blieb, warum Geschlechtergeschichte nicht auch Politikgeschichte ist und sein kann). Den Männern fiel zu diesem fundamentalen Defizit jedenfalls nicht viel ein. Sie beließen es bei der Kritik der Frauen. Grundsätzlich wandten sich die Kritiker vor allem gegen eine aus ihrer Sicht aus der Mode gekommene und ausgehend von den »Vorbildern« à la Wehler scheinbar veraltete Gesellschaftsgeschichtsschreibung bzw. betonten die Schwierigkeit oder Unzulänglichkeit ihrer Einlösung, während dieser munter und zielstrebig weiter an ihr arbeitete und sein Großwerk vollendete. Die Kritiker zeigten damit auch die ihrer Ansicht nach gebotene Notwendigkeit einer modernen Kulturgeschichte auf. Schwerlich kam man sich des Eindrucks entziehen, dass es sich, wie Hanisch vermutete, bei der ÖZG-Besprechung auch um das Aufbegehren einer jüngeren und mittleren Historikerzunft handelte. Diese trat schon beim ersten Österreichischen Zeitgeschichtetag in Innsbruck 1993 im Rahmen der Abschlussdiskussion kritisch und vehement gegen die Dominanz der Großordinarien auf, was sich am folgenden Zeitgeschichtetag 1995 in Linz u. a. in einem eigenen öffentlichen Panel zum Hanisch-Werk z. T. fortsetzte, der allerdings nicht schriftlich dokumentiert wurde. So sehr die Position von Rudolf G. Ardelt und Christian Gerbel zu begrüßen war und ist, dass mit dieser Diskussion auf einem Österreichischen Zeitgeschichtetag »eine Neuerung in der leider viel zu konfliktscheuen Landschaft der österreichischen Geschichtswissenschaft«84 erfolgte, so korrespondierten damit wohl auch nicht inhaltsbezogene Tendenzen : Es handelte sich um einen Teil-Aufstand eines universitären Mittelbaus, der im Kontext der Kritik am Hanisch-Werk die Chance zur eigenen Positionierung erblickte und die Möglichkeit zur Profilierung wahrnahm (wobei auch Selbstbespiegelung mit im Spiel war). Das Vorgehen der ÖZG-Redaktion ist dafür ein gutes Beispiel. Sie hatte ein elfköpfiges Besprechungsteam plus eine Rezensentin eingesetzt, die nach dem Muster »let’s give him a fair trial and then hang him« eine Rezension in eine Art Prozess umwandelte und nach zweitägigem Verfahren einen interessanten zu einem der Texte schlechthin umfunktionierte. Die geharnischte Replik des Autors folgte auf den Fuß und endete nach Reaktion auf die Kritik mit einem syntheseartigen Wunsch : Wenn schon historiografisch getrennt marschiert werde, dann doch den ›ewig-dominanten Feind‹ gemeinsam schlagen : den in Österreich »nur wenig veränderten Historismus«. Dabei ließ Hanisch offen, was dieser in den 1990er-Jahren eigentlich noch besagte und wer diesen tatsächlich repräsentierte. An anderer Stelle wies der viel geziehene Autor seine ÖZG-Kritiker, jene »postmodernen Sprachakrobaten«, auf die Gefahr hin, »fröhlich« an dem Ast
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zu sägen, auf dem sie säßen.85 Damit war wohl auch ihr Verhältnis zur langen Tradition der Geschichtsschreibung angesprochen. Der Bezug lag auf der Hand und der Interpret dieser Kontroverse fühlt sich durch das von Hanisch gewählte Bild an ein Gleichnis erinnert : Französische Philosophen der Postmoderne zu lesen und deren Jargon zu übernehmen fiel den auf Schultern von Riesen sitzenden Zwergen offensichtlich relativ leicht.86 In den letzten Jahren wurde einmal mehr deutlich, dass es nicht die, d. h. nur die eine (richtige) (Zeit-)Geschichtsschreibung geben kann (und keine andere mehr daneben existieren dürfe), sondern viele Zeitgeschichten. Sie haben sich in Österreich bei allen Hindernissen und Schwierigkeiten weiterentwickelt, mehr internationalisiert und sind bunter denn je.87 Bei Verfolgung der Hanisch-Debatte fällt auch auf, dass Urteile von außen und in internationalen Fachorganen mit der gegebenen Distanz zur Thematik in der Regel weit (aus)gewogener und würdigender ausfielen als in der heimischen Zunft. Insgesamt frappiert, dass in den Besprechungen kaum komparativ-europäische Perspektiven zum Tragen kamen – sowohl in der vergleichenden Werkbeurteilung als auch hinsichtlich der diskutierten Inhalte. Nur Beckermann und Reiter monierten an einer Stelle kurz, dass die europäische Mächtekonstellation im Kontext des Ersten Weltkriegs nicht präsent sei. Der Status quo der weitgehend Außenpolitik-losen Geschichtsschreibung zur Zweiten Republik blieb insgesamt gewahrt. Ein Bezug zu »Europa« und seiner Geschichte, also dem größeren Kontext der Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, war so gut wie nicht gegeben. Die deutsche Sonderwegsdebatte als Vergleichsfolie wurde nur kurz von Heiss, Moll und Müller angesprochen. Ein Tiefpunkt der Debatte, die sich von Eitelkeit, Selbstverliebtheit und Peinlichkeit nicht gänzlich freimachen konnte, war erreicht, als das Werk des Salzburger Extraordinarius von Beckermann und Reiter in ihrer sonst äußerst griffigen und sehr treffsicheren Besprechung des »provinziellen katholischen Antisemitismus« bezichtigt wurde, was den Autor wiederum dazu bewegte, in sich zu gehen, Gewissenserforschung zu betreiben und sich einem öffentlich gemachten Leuterungsprozess zu unterwerfen, der unter dem Titel (mit der rhetorischen Frage) »Bin ich ein Antisemit ?« in den Salzburger Nachrichten und der ÖZG nachzulesen ist.88 Spätestens hier wurde es sehr persönlich. Getreu der Erkenntnis, dass in Besprechungen und Reaktionen auf Bücher mitunter mehr über Profile, Vorlieben und Wesenszüge der Rezensenten zu erfahren ist als über die Inhalte und Kernaussagen der besprochenen Bücher, verhielt es sich fallweise auch bei den Reaktionen auf Hanischs Buch. Die Kritiken bewegten sich insgesamt im »langen Schatten« dieses Werks, das im Vergleich zum Mitte der 1990er-Jahren gegebenen Forschungsstand und der verfügbaren Überblicksliteratur zweifellos einen beachtlichen Fortschritt darstellte, was entweder
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nur wenige sagen oder manche erst gar nicht zugeben wollten. Der Fortschritt bestand in einer zäsurenübergreifenden, verschiedene »Epochen« einbeziehenden Gesamtdarstellung, die mit einer indirekten Kritik an der »Kurzzeitperspektive der Zeitgeschichtsforschung«89 verknüpft war. Damit verbunden war allerdings auch eine Absage an eine Zeitgeschichte als »Gegenwartsgeschichte«, denn der jüngsten Entwicklung von 1985/86 bis 1994 widmete sich Hanisch überhaupt nicht, was verwunderte, denn gerade mit diesem Jahrzehnt (Waldheim-Debatte und bevorstehender EU-Beitritt) hätte sich die Brechung des »langen Schattens« und damit die Wirksamkeit der General-These von der Mächtigkeit des ›Obrigkeitsstaates‹ hinterfragen lassen.90 Die meisten Kritiker an Gesamtdarstellungen und größeren Werken blieben konsequent und sich damit auch selbst treu. Nur ein kleiner Teil der ÖZG-Besprechungsgruppe legte in der nachfolgenden Zeit eigenständig verfasste gedruckte Monographien vor, eine umfassende österreichische Gesamtgeschichte von ihnen schon aus Prinzip niemand. Die meisten hielten es bei kürzeren Aufsätzen und überschaubaren Beiträgen, die einige Aspekte eines Themas aufgriffen, während die selbstständige ›große‹ Buchpublikation gemieden wurde. So gesehen bewegten sich diese Kritiker auch weiter im »langen Schatten« des »langen Schattens« von Hanisch. Erfreulich war und ist hingegen, dass andere Historiker sich weiterhin nicht scheuten, Gesamtdarstellungen und Überblickswerke zur Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert vorzulegen und damit den Nachweis erbrachten, das solche Werke nicht nur aus fachlichen Gründen notwendig, sondern auch in der Öffentlichkeit gefragt sind.91 15 Jahre nach Hanisch fehlt aber nach wie vor eine substanziell weiter gehende, neueste, all den von seinen Kritiken benannten Anforderungen gerechtwerdende gesamtgesellschaftliche Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert – auch unter Einschluss der Geschlechter- und Gegenwartsgeschichte. Vielleicht kann sie ausgehend von den geforderten Ansprüchen gar nicht geschrieben werden wie auch eine Neue Kulturgeschichte Österreichs im 20. Jahrhundert ?92 Träfe diese Einschätzung zu, dann würde nicht nur die Schwierigkeit des Unterfangens von Hanisch noch einmal im Nachhinein, sondern auch die bleibende Diskrepanz zwischen methodologisch-wissenschaftstheoretischen Ansprüchen einerseits und realexistierender Praxis verbleibender kleinteiliger, überschaubarer Einzelstudien der österreichischen (Zeit)Geschichtsschreibung andererseits schmerzlich deutlich. Anmerkungen 1 Ernst Hanisch : Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (Österreichische Geschichte 1890–1990, hrsg. von Herwig Wolfram). Wien 1994 (599 S.). 2 Hugo Hantsch : Die Geschichte Österreichs, 2 Bde. Innsbruck – Wien – München 1937–1947, 5. erg. Auflage 1994 ; ders., Geschichte Österreichs. Graz 1957.
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Michael Gehler
13 Therese Schüssel/Erich Zöllner : Das Werden Österreichs. Ein Arbeitsbuch für österreichische Geschichte auf der Grundlage von Erich Zöllners Geschichte Österreichs. Wien 1968, 7. Auflage. Wien 1990. 14 Erich Zöllner : Geschichte Österreichs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wien 1961, 8. erw. Aufl., Wien 1990. 15 Alle folgenden Zitate aus Otto Schulmeister : Das Ganze und der »Rest«. Zuletzt gelang so etwas während der Monarchie : eine Gesamtschau der österreichischen Vergangenheit. Nun präsentiert Ueberreuter die ersten beiden Bände einer zehnteiligen Geschichte Österreichs. Ein Vorgeschmack. – In : Spectrum/Die Presse, 22. 10. 1994, S. VIII (Karl Brunner : Herzogtümer und Marken. Vom Ungarnsturm bis ins 12. Jahrhundert. Wien 1994 ; Hanisch, Der lange Schatten des Staates). 16 Alphons Huber : Geschichte Österreichs, Bd. 1–5. Gotha 1885–1896. 17 Schulmeister : »Das Ganze und der »Rest«, S. VIII. 18 Ulrich Weinzierl : Unaufgeregt durchs Jahrhundert der Wölfe. Ernst Hanisch blickt klaren Auges auf Österreichs Gesellschaftsgeschichte von 1890 bis 1990 zurück. – In : Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. 11. 1994, Nr. 267, S. 39. 19 Ebd. 10 ÖZG-Redaktion : Der lange Schatten der Historiographie oder : Barocke Aufklärung. Ernst Hanischs »Der lange Schatten des Staates«. Eine Kritik. – In : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 6 (1995), Heft 1, S. 85–118. 11 Siehe die folgenden Zitate alle aus dem Abschnitt der ÖZG-Redaktion : Der lange Schatten. S. 86–93. 12 Ebd., S. 87. 13 Ebd., S. 88 f. 14 Alle Zitate aus ebd., S. 91. 15 Ebd., S. 91 f. 16 Siehe die folgenden Zitate alle aus dem Abschnitt der ÖZG-Redaktion : Der lange Schatten. S. 93–99. 17 Karl Kraus : Vorsicht mit Metpahern ! – In : Die Fackel 28 (1926), Nr. 743–750, S. 30, zit. n. ebd., S. 93. 18 Ebd., S. 94–99. 19 Siehe die folgenden Zitate alle aus dem Abschnitt der ÖZG-Redaktion : Der lange Schatten. S. 99–103. 20 Ebd., S. 103. 21 Siehe die folgenden Zitate alle aus dem Abschnitt, ebd., S. 103–108. 22 Ebd., S. 105. 23 Ebd., S. 107–108. 24 Siehe die folgenden Zitate alle aus dem Abschnitt, ebd., S. 108–112. 25 Ebd., S. 111. 26 Ebd., S. 110–112. 27 Siehe die folgenden Zitate alle aus dem Abschnitt, ebd., S. 112–114. 28 Ebd., S. 115–118. 29 Vermutlich meint Müller Klaus Tenfelde : Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert. Bonn – Bad Godesberg 1977, 2. Aufl. als Studienausgabe. Bonn 1981 oder ders./Gerhard A. Ritter : Arbeiter im Deutschen Kaiserreich. Bonn 1992. 30 Ebd., S. 118. 31 Ernst Hanisch : Anklagesache : Österreichische Gesellschaftsgeschichte. – In : ÖZG 6 (1995), Heft 3, S. 457–466. 32 Walter Goldinger : Geschichte der Republik Österreich. Wien 1962 ; Walter Goldinger/Dieter Binder, Geschichte der Republik Österreich 1918–1938. Wien 1992. 33 Manfried Rauchensteiner : Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945–1955. Graz – Wien – Köln 1979 ; Ders. : Die Zwei. Die Große Koalition in Österreich 1945–1966. Wien – Köln – Graz 1987. 34 Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hg.) : Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik. Graz – Wien
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– Köln 1983 ; Dies. (Hg.), Das neue Österreich. Geschichte der Zweiten Republik. Graz – Wien – Köln 1975. Eric Hobsbawm : Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 1995. Bis 1995 waren die ersten beiden Bände der Gesellschaftsgeschichte Wehlers erschienen : Hans-Ulrich Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1 : Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815. München 1987 ; Bd. 2 : Von der Reformära bis zur industriellen und politischen »Deutschen Doppelrevolution« 1815–1845/49. München 1987 ; Bd. 3 : Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914. München 1995. Thomas Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983 ; ders., Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1 : Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1990 ; Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2 : Machtstaat vor der Demokratie. München 1992. Alle folgenden Zitate stammen aus diesem Abschnitt der ÖZG-Besprechung, S. 458–461. Alle folgenden Zitate stammen aus diesem Abschnitt, ebd., S. 461–463. Alle folgenden Zitate stammen aus diesem Abschnitt, ebd., S. 463–465. Siehe auch Friedrich Heer : Der Kampf um die österreichische Identität. Wien 1981 ; Carl E. Schorske : Fin de Siècle Vienna, Politics and Culture. New York 1980 ; siehe auch William M. Johnston, The Austrian Mind : An Intellectual and Social History, 1848–1938. Berkeley 1972 ; Allan Janik/Stephen Toulmin, Wittgenstein’s Vienna. New York 1973. Siehe für das Folgende Hanisch : Anklagesache, S. 464–465. Vgl. für die folgenden Ausführungen Dieter Groh/Martin Zürn : Der lange Schatten der ›Gesellschaftsgeschichte‹. Zur Problematik einer Konzeption. – In : ÖZG 6 (1995), Heft 4, S. 569–596. Michael Gehler : »Regionale« Zeitgeschichte als »Geschichte überschaubarer Räume«. Von Grenzen, Möglichkeiten, Aufgaben und Fragen einer Forschungsrichtung. – In : Geschichte und Region. Storia e Regione 1 (1992), Heft 2, S. 85–120. Inzwischen ist das Gesamtwerk Wehlers komplettiert, siehe Hans-Ulrich Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte , Bd. 4 : Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949. München 2003 ; Bd. 5 : Bundesrepublik und DDR 1949–1990. München 2008. Groh/Zürn : Der lange Schatten der Gesellschaftsgeschichte. S. 573–576. Ebd., S. 578. Ebd., S. 582–583. Ebd., S. 586–589 ; 591. Martin Moll. – In : historicum (Frühling 95), S. 37. Ebd. Für die folgende Zitate siehe Hans Heiss. – In : Der Schlern 69 (1995), Heft 7, S. 430–434. Ernst Bruckmüller : Sozialgeschichte Österreichs. Wien – München 1985, 22001. Heiss. – In : Der Schlern, S. 431. Ebd., S. 433. Ebd., S. 434. Vgl. dazu auch Michael Gehler. – In : Tiroler Heimat (1998), S. 224–226 ; Peter Csendes. – In : Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 106 (1998), S. 230–231. Für die folgenden Zitate siehe Hans Heiss. – In : Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 821–827. Ebd., S. 823. Ebd., S. 825. Ebd., S. 826–827. Für die folgenden Zitate siehe Ingrid Bauer : Von den Autobahnen der Erkenntnis – und versäumten Ausfahrten. – In : L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 7 (1996), Heft 1, S. 206–211. Zit. n. ebd., S. 209.
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Michael Gehler
64 Ebd. 65 Für die folgenden Zitate siehe Ruth Beckermann/Wolfgang Reiter : Heimat-Fibel des kleinen Mannes. Da Hanischs Buch jedoch politisch korrekt ist, wenn es um den Nationalsozialismus geht, scheint ein kritischer Teil der Leserschaft beruhigt zu sein und für so manche Grob- und Feinheiten des Werkes taub zu bleiben. – In : Die Zukunft (Mai 1996), S. 16–22. 66 Ebd., S. 22 ; Ruth Beckermann/Wolfgang Reiter : Heimatfibel : Der lange Schatten der Provinz. – In : ÖZG 7 (1996), Heft 1, S. 135–143. 67 Für die folgenden Zitate siehe Christian Fleck. – In : Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich. Newsletter (Juni 1996), Nr. 13, S. 32–35. 68 Franz Mathis. – In : Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 83 Bd. (1996), Heft 2, S. 253– 254. 69 Ralf Dahrendorf : Lebenschancen : Anläufe zur sozialen und politischen Theorie. Frankfurt/Main 1979. 70 Robert Knight : Homo Austriacus. – In : Time Literary Supplement, October 6, 1995, S. 33. 71 William E. Wright. – In : German Studies Review Vol. XIX (February 1996), Nr. 1, S. 188–189. 72 Für die folgenden Zitate siehe Harry Ritter. – In : Central European History Vol. 29 (1996), Nr. 3, S. 436– 437. 73 Ebd., S. 436. 74 Ebd., S. 437. 75 Gary B. Cohen. – In : Journal of Modern History Vol. 69 (September 1997), Nr. 3, S. 633–635. 76 Ebd., S. 633. 77 Ebd., S. 634. 78 Für die folgenden Zitate siehe Peter Berger. – In : Contemporary Austrian Studies 6 Vol. (1998), S. 242–253. 79 Ebd., S. 243. 80 Ebd., S. 244. 81 Ebd., S. 247. 82 Für die folgenden Zitate siehe auch L. J. Herbst. – In : English Historical Review (November 2000), S. 1351– 1352. 83 Ebd., S. 1352. 84 Siehe das Vorwort von Rudolf G. Ardelt/Christian Gerbel, in : ders. (Hg.) : Österreichischer Zeitgeschichtetag 1995. Österreich – 50 Jahre Zweite Republik. Innsbruck – Wien 1997. S. 13–16, hier S. 14. 85 Hanisch : Anklagesache. S. 459. 86 Walter Haug : Die Zwerge auf den Schultern von Riesen. Epochales und typologisches Geschichtsdenken und das Problem der Interferenzen. – In : Ders. : Strukturen als Schlüssel zur Welt. Tübingen 1989. S. 86–109. 87 Siehe das Sonderheft Zeitgeschichte(n) in Österreich. HistorikerInnen aus vier Generationen anlässlich »30 Jahre Zeitgeschichte«. – In : zeitgeschichte 30 (November/Dezember 2003), Heft 6. 88 Siehe die Stellungnahmen von Ernst Hanisch : »Bin ich ein Antisemit ?« Der Dank für die Verleihung des Vogelsang-Preises. – In : Salzburger Nachrichten vom 7.12.1996, S. V ; Ders. : Bin ich ein Antisemit ? Dankesrede für die Verleihung des Karl von Vogelsang-Staatspreises für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften, 20. November 1996. – In : ÖZG 8 (1997), Heft 1, S. 144–146. 89 Hanisch : Der lange Schatten. S. 310. 90 Darauf hatte der Verfasser bereits in seiner Besprechung. – In : Tiroler Heimat (1998), S. 225, hingewiesen. 91 Karl Vocelka : Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik – München, 2. Auflage, 2002 ; ders. : Österreichische Geschichte (Becksche Reihe 2369), München 2005 ; Peter Berger : Kurze Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, Wien 2007 ; Steven Beller : Geschichte Österreichs, Wien u. a. 2007. 92 Besondere Relevanz für diese Richtung reklamierend : Johann Gehmacher : Am Rand der Geschichte.
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Zeitgeschichte und ihre Marginalisierungen – Anmerkungen aus österreichischer Perspektive. – In : zeitgeschichte 32 (SeptemberOktober 2005), Heft 5, S. 301–322. Hier S. 306–309, 313–317. Die Verfasserin lässt gleichwohl unerwähnt, dass ich den Ansatz von Hanisch »Arbeit (=Wirtschaft) – Herrschaft (=Macht/ Politik) – Sprache (=Kultur)« selbst einer Kritik unterzogen hatte, worauf Hanisch auch in der Einleitung seines Buchs Bezug genommen hatte, siehe Hanisch, Der lange Schatten, S. 10, und Michael Gehler, Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem. Zwischen Regionalisierung, Nationalstaat, Europäisierung, internationaler Arena und Globalisierung (Herausforderungen. Historisch-politische Analysen Bd. 12), Bochum 2001. S. 39–45.
Sigrid Vandersitt
Ernst Hanisch und Gerhard Botz Der ›Anschluss‹ – ein Vergleich
»Jedes historische Erzählen geht … auf Gegenwartsinteressen zurück.«1 Ausgangspunkt von Geschichtsschreibung ist stets die Gegenwart, nicht nur was die Erkenntnisinteressen an der Vergangenheit betrifft. Die Strukturierung eines Textes wird einerseits von seinem kommunikativen Zweck (für wen ist der Text geschrieben ?) beeinflusst, andererseits wird die Konstruktion der inneren Zusammenhänge eines historischen Geschehens von der Art der Darstellung (z. B. Aufsatz, »große Erzählung«) und nicht zuletzt von geschichtstheoretischen Interessen der AutorInnen bestimmt. Jede Geschichtsdarstellung baut auf einzelnen Faktoren auf : Strukturen, Prozesse, Ereignisse, Handlungen etc. bilden das Fundament und Gerüst von Geschichtsdarstellungen. Um daraus ein ›historisches Geschehen‹ zu generieren, bedarf es vielfältiger Verknüpfungen, deren Erklärungskraft historische Darstellungen für ein gegenwärtiges Publikum plausibel machen. Diese Verknüpfungen werden meist von der Frage nach den Ursachen eines bestimmten historischen Geschehens sowie von den (erzählerischen) Intentionen der VerfasserInnen geleitet. Der vorliegende Beitrag ist ein Versuch, zwei unterschiedliche Darstellungen des »Anschlusses« einander gegenüberzustellen, so man will, sie zu vergleichen. Dazu wird eine Theorie der Metaerzählung herangezogen, die von Jörn Rüsen in den frühen 1980er-Jahren entwickelt wurde. Weiters soll die Bedeutung von Ursachen, ihr Festmachen, ihre Verknüpfung und ihre Erklärungskraft in historiografischen Darstellungen ins vergleichende Blickfeld gerückt werden. Diese beiden Elemente, Erzähltypus und Ursachen, sind die Leitgedanken des folgenden Versuchs einer Gegenüberstellung.
Metageschichtliches und Ursächliches Jörn Rüsen macht vier Typen des historischen Erzählens fest : traditionales, exemplarisches, kritisches und genetisches Erzählen.2 ›Traditionales Erzählen‹ ist eng mit der Legitimation gegenwärtiger Zu- und Umstände verbunden und versteht das historische Geschehen als sinnstiftendes Kontinuum in Form reproduzierender Prozesse. Das Herausarbeiten und Betrachten von
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›Kontinuität‹ (der Tradition) dient in erster Linie der Legitimation gegenwärtiger Sicht- und Handlungsweisen. Veränderung und Wandel erscheinen in dieser Form der Historiografie eher als Beiwerk der Geschichte und tragen häufig die Zeichen des Verfalls. ›ExemplarischesErzählen‹ reduziert historisches Geschehen auf wenige Exempla, die stellvertretend »zeitliche Veränderungen der Vergangenheit auf regelhafte Vorgänge hin durchsichtig machen«.3 Ziel dieser Form des Erzählens ist es, gegenwärtige Erfahrungen und Vorgänge vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen und Vorgänge verständlich und verstehbar zu machen, denn Vergangenheit zeichnet sich ja dadurch aus, dass sie in ihrer Komplexität niemals rekonstruiert werden kann und daher der Zugriff auf ein historisches Geschehen lediglich unter der Prämisse der Reduktion möglich ist.4 ›Kritisches‹ Erzählen »dominiert in den Geschichten, die von der Frage geleitet werden, ob es wirklich so war, wie bisher behauptet wurde, oder auch von der Frage, ob man bestimmte Tatsachen der Vergangenheit wirklich so deuten kann, wie es bisher versucht wurde«.5 ›Kritisches‹ Erzählen ist daher gegen die Legitimationsansprüche einer traditionalen Erzählweise gerichtet. Es geht in erster Linie darum, Ideologien, gesellschaftliche Konzepte, aber auch innerwissenschaftliche Vormachtstellungen auf Basis wissenschaftlich-historischen Argumentierens aufzubrechen. ›Genetisches Erzählen‹ im Sinne Rüsens macht Strukturveränderungen eines Systems als notwendige Bedingung dafür fest, dass dieses System von Dauer ist. Veränderungen führen nicht zum Zusammenbruch eines Systems, sondern sind Grundlage dafür, dass dieses System weiter bestehen kann. Veränderungen werden als Chance, als Möglichkeit der Kontinuierung verstanden und »Zukunft wird als Überbietung von Herkunft erwartbar«.6 Jedoch nicht allein der positiv bewertete Fortschritt, der die Gegenwart als Überbietung der Vergangenheit kennzeichnet, auch der negative Fortschritt, der in der zeitlichen Entwicklung von der Vergangenheit bis zur Gegenwart einen Verfall des betrachteten Systems festmacht, ist in diesem Konzept mitgedacht.7 Die Gegenwart als historisch geworden, aber auch die Zukunft als potenziell veränderbar zu denken und darin eine Entwicklungschance zu erkennen – das ist die Interessenlage dieses Ansatzes. Hinter diesen vier Typen stehen verschiedene Sichtweisen auf Geschichte und damit verbunden unterschiedliche Interessen. Geschichtsschreibung ist nicht ohne Ursachenschau zu denken. Selbstverständlich ist das Studium der Geschichte nicht ausschließlich ein Studium der Ursachen, die Ursachenforschung nimmt allerdings doch einen beachtlichen Raum ein.8 Im Bemühen, Geschichte zu verstehen, ist der Mensch auf Erklärungen angewiesen und oft halten wir für erklärt, »was als Wirkung einer Ursache bestimmt worden ist«.9 Die Frage nach den Ursachen ist aber gewiss nicht unproblematisch. Sie verweist auf die Vorstellung eines zweckgerichteten, notwendigen historischen Geschehens, das
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zielstrebig auf einen Kulminationspunkt hinauszulaufen scheint, für den es Ursachen bzw. Ursachenbündel zu ermitteln gilt. Nicht selten scheinen Ursachenschauen die Zwanghaftigkeit historischer Prozesse oder Ereignisse zu untermauern und die Vorstellung eines zusammenhängenden Ganzen, eines Kontinuums, zu fördern. Richard Evans trifft in Bezug auf historische Ursachen folgende Unterscheidung : Er spricht von notwendigen ›absoluten‹ Ursachen (wenn A nicht gewesen wäre, hätte B definitiv nicht geschehen können), von notwendigen ›relativen‹ Ursachen (wenn A nicht geschehen wäre, dann hätte B wahrscheinlich nicht geschehen können) und von ›hinreichenden‹ Ursachen, die er nicht näher erläutert.10 »Historiker bemühen sich meist darum, monokausale Erklärungen zu vermeiden … Zumeist sehen sie es als ihre Aufgabe an, eine Hierarchie der Ursachen zu erstellen und, falls nötig, die Beziehungen unter den verschiedenen Ursachen zu klären«.11 Dietmar Rothermunds Zugang hingegen ist ein anderer : Er spricht von einer ›konvergenten Verursachung‹. »Die konvergente Verursachung unterscheidet sich von der linearen dadurch, dass mehrere Kausalfaktoren in eine Beziehung zueinander geraten, die einen oder mehrere dieser Faktoren abschwächt oder verstärkt.«12 Einzelne Faktoren sind in diesem Modell zunächst voneinander unabhängig und entfalten ihre kausale Wirkung für bestimmte Ereignisse oder Prozesse erst durch ihr Zusammenwirken, wobei die Elemente des Kausalprozesses nicht unbedingt eine endogene Verbindung zum Verursachten aufweisen müssen.13 Umgekehrt sind auch die Folgen konvergent verursachter Ereignisse und Prozesse unabsehbar in ihrem ›disparaten‹ Fortwirken. ›Disparates‹ Fortwirken meint jenen Umstand, dass zum Zeitpunkt von Ereignissen oder Prozessschritten nicht wirklich auszumachen ist, welche Folgen diese zeitigen werden und wann. Für HistorikerInnen ist das Fortwirken historischer Ursachen naturgemäß weniger disparat. Was Rothermund mit dem Konzept der konvergenten Verursachung versucht, ist das Zwanghafte oder Zielgerichtete, das der Ursachenforschung anhaftet, zu umgehen und dennoch ein Modell anzubieten, das der Bedeutung und Erklärungskraft von Ursachen in der Geschichtswissenschaft Rechnung trägt. Die nun folgende vergleichende Analyse wird die vorgestellten unterschiedlichen Ursachenkonzepte berücksichtigen und begibt sich auf die Suche nach den Typen von Geschichtsdarstellung. Für den Vergleich wurden zwei Texte herangezogen, die zwar denselben Abschnitt österreichischer Geschichte zum Thema haben, den sogenannten ›Anschluss‹, jedoch jeweils in einem anderen Gesamtkontext stehen. Gerhard Botz verfasste 1978 einen Ursachenkatalog zu diesem Thema14, Ernst Hanisch gibt dem ›Anschluss‹ in seiner Gesellschaftsgeschichte ebenfalls gemäß der historischen Bedeutung dieses ›Ereignisses‹ Raum. Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Erzählabsichten der Autoren könnte man nun dem Vorwurf ausgesetzt sein, gewissermaßen Äpfel mit Birnen vergleichen zu wollen, doch letztlich geht es darum, exemplarisch zwei verschiedene Zugänge zu einem historischen
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Ereignis einander gegenüberzustellen und schließlich auch zu fragen : Was leistet die jeweilige Darstellungsweise, was kann sie leisten, was nicht und warum ?
Der »Anschluss« – Gerhard Botz und Ernst Hanisch Am 12. März 1938 marschierten deutsche Wehrmachtstruppen über die österreichische Staatsgrenze. Dieser Einmarsch ist das Resultat verschiedener vorangegangener Entwicklungen, sein Datum fixiert den ›Anschluss‹ als historisches Ereignis. Doch der ›Anschluss‹ kann nicht in dieser verkürzten, auf wenige Tage Bezug nehmenden Sichtweise gesehen werden. Es bedarf der Erklärungen, unter welchen Bedingungen dieses historische Ereignis möglich war, welche Strukturen es begünstigten, welche Prozesse es begleiteten. Die Texte, die hier in der Folge verglichen werden, entstammen sehr unterschiedlichen Werken über österreichische Geschichte. Die Gesellschaftsgeschichte Ernst Hanischs beschreibt den ›Anschluss‹ im Fluss der Ereignisse und Entwicklungen der österreichischen Geschichte im 20. Jahrhundert, während der Aufsatz Gerhard Botz’ spezifische, den ›Anschluss‹ prägende Entwicklungen und Ereignisse aufgreift und in erster Linie unter dem strukturgeschichtlichen Blickwinkel analysiert. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Darstellungen des ›Anschlusses‹ von Botz und Hanisch liegt darin, dass es bei Ernst Hanisch durch die Einbettung des ›Anschlusses‹ in eine größere Erzählung nicht nur ein Davor, sondern auch ein Danach gibt, wohingegen die Analyse von Gerhard Botz beim ›Anschluss‹ endet. Von daher gestaltet sich sowohl der Zugang zu diesem Ereignis als auch seine Bedeutung im Text durchaus unterschiedlich, wenn auch nicht völlig verschieden. Gerhard Botz versucht auf etwa zehn Seiten einen Ursachenkatalog herauszuarbeiten, der im Ereignis ›Anschluss‹ gipfelt. Zu diesem Zweck ist er genötigt, auf verschiedenen Ebenen einzelne Entwicklungsstränge seit dem Zerfall der Monarchie aus dem historischen Geflecht herauszufiltern, sie zu isolieren und schließlich im ›Anschluss‹ wieder zusammenzuführen. Ernst Hanisch hingegen beschreibt auf zehn Seiten vor allem die Ereignisse rund um den 12. März, er versucht ein Stimmungsbild zu zeichnen, eine Befindlichkeitsanalyse der österreichischen Bevölkerung zu geben. Dabei steht neben einem umfassenden Blick auf Entwicklungen, Ereignisse etc. auch der historische Mensch im Blickpunkt des Interesses. Natürlich spielt in der jeweiligen Darstellungsweise auch eine wesentliche Rolle, wann und für wen der Text verfasst wurde. Ernst Hanisch bemüht sich mit seiner Gesellschaftsgeschichte, der das Konzept der Lebenschancen zugrunde liegt, um eine Gesamtdarstellung, die ein breiteres, historisch interessiertes Publikum auch jenseits der Fachwissenschaft erreichen soll. Gerhard Botz’ Text erschien erstmals fünfzehn
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Jahre vor Hanischs Gesellschaftsgeschichte in einer Zeitschrift, deren Schwerpunkt auf außerschulischer Bildungsarbeit lag.15
Gerhard Botz »Wie es zum ›Anschluss‹ kam … Gerhard Botz leitet seinen Ursachenkatalog mit einem kurzen Abriss darüber ein, unter welchen Aspekten sich die Wissenschaft dem ›Anschluss‹ nähern kann und soll und welche Faktoren in eine Analyse dieses Ereignisses einbezogen werden müssen. Das Anliegen des Autors ist es, unter Berücksichtigung dieser von ihm einleitend genannten Punkte (z. B. historische Innenperspektive versus Außenperspektive, ›Anschluss‹ von unten und oben) Strukturen und Prozesse festzumachen, die zum ›Anschluss‹ führten, ergo ihn damit zu begründen. Der Ursachenkatalog, den Botz hier auflistet, ist allerdings zutreffender als Bedingungskatalog zu verstehen, da vor allem auf struktureller Ebene mit Richard Evans kaum von ›absoluten‹ Ursachen zu sprechen ist, vielmehr von ›relativen‹. Keine der von Botz angeführten Ursachen ziehen für sich gesehen zwingend den ›Anschluss‹ nach sich, sondern sie bilden die Voraussetzungen, den Rahmen, innerhalb dessen der ›Anschluss‹ möglich wurde. Mit Dietmar Rothermund gesprochen handelt es sich beim ›Anschluss‹ um das Resultat einer ›konvergenten Verursachung‹, um das Zusammentreffen unterschiedlicher Ursachenbündel, die zueinander allerdings nicht in Beziehung ›geraten‹, sondern aus ihrer Entwicklung heraus schon miteinander in Beziehung stehen und die Anschlussdynamik zuletzt massiv beschleunigten und verstärkten. Ursachen oder Bedingungen sind selbstredend immer erst im Nachhinein als solche erkennbar. Auf diesen Umstand und auf die sich daraus ergebende Ambivalenz in der Betrachtung vergangener Ereignisse weist Botz dezidiert hin : Es macht einen Unterschied, ob man den ›Anschluss‹ allein aus gegenwärtiger Perspektive betrachtet, wenn sämtliche Folgen ausgebreitet auf den Schreibtischen der HistorikerInnen liegen, oder ob man versucht, dieselben Vorgänge mit den Augen von Zeitgenossen, gleichsam von innen, zu sehen. Indem Botz diese Ambivalenz und seine Präferenz der Innenperspektive deutlich macht – mit der Begründung auf diese Weise den Antworten auf die Fragen nach dem Wie und Warum einen Schritt näher zu kommen – tritt auch die Intention des Autors klarer zutage : Botz will mit seiner Analyse Vergangenheit ›erklären‹. Sein Weg dahin führt über das »analytische Herauspräparieren«16 der strukturellen Faktoren, die er um die lang-, mittel- und kurzfristig verursachenden Faktoren ergänzt. Zunächst werden von Botz die »strukturellen Faktoren«17 aufgelistet, die großen Strukturen wie geografische Gegebenheiten und die »kapitalistische Wirtschaftsund Gesellschaftsstruktur«, mit der wiederum die »Idee des modernen Nationalstaates«18 (239) verbunden ist. Diese Faktoren sind keineswegs solche, die man ursäch-
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lich mit dem ›Anschluss‹ in Zusammenhang bringen kann, sie stecken höchstens den Handlungsrahmen für das Ende der Donaumonarchie ab, das Botz als langfristige Ursache des ›Anschlusses‹ festmacht. Das Ende der Donaumonarchie schuf völlig neue Bedingungen, wobei Botz das nationalstaatliche Identitätsproblem als gewichtige Größe herausstreicht, das zu verschiedensten ›Anschluss‹-Sehnsüchten führte, die ihrerseits wiederum aufgrund des Anschluss-Verbots unerfüllt blieben. Die Anschluss-Sehnsucht, die anfänglich in dieser Beschreibung eher statische Züge trägt, wird jedoch unter den »langfristigen Ursachen«19 als dynamischer Prozess beschrieben (»Wellenbewegungen«20), getragen von einer Identitätssuche und eingebettet in ökonomische Strukturveränderungen. Der ökonomische Strukturbruch mit dem Ende der Donaumonarchie wird als wesentlicher (langfristig) verursachender Faktor mit weitreichenden, volkswirtschaftlich in erster Linie negativen Folgen für die Erste Republik herausgestrichen. Diese strukturellen Veränderungen waren von den historischen Individuen nicht nur wahrnehmbar, ihre Konsequenzen waren auch unmittelbar erlebbar (z. B. Arbeitslosigkeit). Mit dem ökonomischen Strukturbruch geschieht auch eine erste Annäherung an den historischen Menschen – jedoch immer noch in der distanzierten Haltung des Beobachters von außen. Eine Arbeitslosenrate von 10 % erzählt uns nichts über die Befindlichkeit der Betroffenen, nichts darüber, was es bedeutete, in jener Zeit arbeitslos zu sein. Als weitere ›langfristige Ursachen‹ werden »imperialistische Bestrebungen«21 Italiens und des Deutschen Reichs genannt. Im Gegensatz zum ›ökonomischen Strukturbruch am Ende der Donaumonarchie‹ macht Botz auf dieser Ursachenebene einen politischen Willen (imperialistische Bestrebungen) fest, der letztlich Prozesse in Gang setzte (»geriet Österreich in den Sog deutscher Wirtschaftsinteressen«22), in die Österreich, folgt man dieser Darstellung, nicht eingreifen konnte, sondern passiv über sich ergehen lassen musste. (»Österreich … wurde von Mussolini der sich herausbildenden ›Achse Rom-Berlin‹ geopfert.«23) Als »mittelfristige« Faktoren führt Botz das Ereignis Weltwirtschaftskrise und den Durchbruch »faschistischer oder faschismusähnlicher Kräfte in vielen Staaten Europas«24 an. Bezogen auf Österreich bedeutet dies das Entstehen des autoritären ›Ständestaates‹. Die Veränderungen europäischer Beziehungen sind als Prozesse zu verstehen, häufig von punktuellen Ereignissen in Gang gesetzt. Gleichzeitig weist Botz darauf hin, dass die Veränderung sowohl politischer als auch wirtschaftlicher Strukturen sich seit der Weltwirtschaftskrise und der Machtergreifung der Nationalsozialisten beschleunigte. Konkrete Handlungen von historischen Personen sind überwiegend in den »kurzfristigen verursachenden Faktoren«25 nachzulesen, die Botz auch ›Ereigniskette‹ nennt. Struktur und Prozess spielen hier eine untergeordnete Rolle, seine Darstellung erhält zunehmend narrative Züge. Auf dieser Ebene des Ursachenkatalogs wird Geschichte konkret und anschaulich, es ›passiert‹ etwas. Insbesondere inner-
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halb der ›kurzfristigen Faktoren‹ sind eine Reihe kausaler Verknüpfungen zu finden. Ein Beispiel dafür ist die gescheiterte Volksbefragung Schuschniggs. Drei Gründe werden für das Scheitern verantwortlich gemacht : weil Deutschland einen Ausgang, der nicht in seinem Sinne gewesen wäre, befürchtet, weil die Abstimmung vorzeitig verraten wurde und weil Schuschnigg nicht mit den Westmächten und der linken illegalen Opposition verhandelte. Ob Botz diese Kausalerklärungen als ›absolute‹ oder ›relative‹ Ursachen oder im Sinne Rothermunds als ›konvergente‹ Ursachen verstanden wissen will, geht aus dieser Auflistung nicht hervor, da die Ursachen lediglich aufgezählt werden. Die Entscheidung darüber obliegt den LeserInnen. Und mit diesen kurzfristigen verursachenden Faktoren endet auch seine Darstellung.
Ernst Hanisch – »Der Anschluss« Die Darstellung des ›Anschlusses‹ von Ernst Hanisch unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von der Ursachenschau Gerhard Botz’. Zum einen liegt hier eine ›narrative Erzählung‹ vor, die dem Autor nicht nur formal, sondern auch sprachlich eine andere Vorgangsweise ermöglicht, als dies ein strukturgeschichtlicher Ursachenkatalog tut. Zum anderen ist Ernst Hanisch auch wesentlich daran gelegen, die Befindlichkeit der Bevölkerung wiederzugeben, die anhand von zeitgenössischen Zitaten belegartig und exemplarisch festgemacht wird. Hanisch will den LeserInnen den vergangenen Menschen näherbringen – »dem ›Skelett‹ der Struktur das ›Fleisch‹ des Lebens«26 beigeben. Eine Verknüpfung zwischen Struktur, Prozess, Mentalität und Alltag an der Achse ›Mensch‹, das ist es, worauf Hanisch mit seiner Gesellschaftsgeschichte abzielt, immer die Lebenschancen der Protagonisten vor Augen. Seine Absicht im ausgewählten Kapitel ist also nicht ausschließlich zu zeigen, welche Bedingungen zum ›Anschluss‹ führten. Es geht ihm u. a. darum, die »wichtige Bedeutung der affektiven, emotionalen und psychologischen Variablen«27 hervorzuheben. Es geht ihm darum, Gefühle als Handlungsmotoren sichtbar zu machen. Hanisch bietet (nicht nur) im ›Anschluss‹-Kapitel einen Gegenentwurf zu einer entemotionalisierten Geschichtsdarstellung und verweist in seiner Darstellung erneut auch auf die Unhaltbarkeit des Opfermythos. Diese beiden Interessen, das Sichtbarmachen des historischen Menschen und die Demaskierung der Opferthese als verkürzte Geschichtsdarstellung, gestalten, neben der chronologischen Abfolge der Ereignisse, den Text wesentlich. Bereits zu Beginn des Kapitels verweist Hanisch auf die Prämisse, unter der die kommenden Seiten stehen : Er betrachtet die NS-Herrschaft als Teil der österreichischen Geschichte und versucht somit die Verantwortung für diesen Abschnitt der Geschichte zum Teil wieder auf jenen österreichischen Boden zurückzuholen, den sie bis in die 1980er-Jahre verlassen hat. Bevor Hanisch jedoch zur chronologischen Abfolge der Ereignisse übergeht, fasst er die
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Befindlichkeit eines Teils der österreichischen Bevölkerung nach dem Einmarsch mit Ernst Jandls ›heldenplatz‹ zusammen. Damit gibt er bereits einleitend einen Hinweis darauf, welche psychologische und emotionale Wirkung auf die zeitgenössische Bevölkerung er dem ›Anschluss‹ zuschreibt. Stimmen aus der Vergangenheit in Form von Zeitzeugenzitaten dienen ihm dabei exemplarisch zur Untermauerung dieser literarischen Bestandsaufnahme, Stimmen aus unterschiedlichen Perspektiven, Stimmen von Anschluss-Befürwortern und Anschluss-Gegnern. Nach dieser ersten Innenschau wendet sich Hanisch den historischen Prozessen und Strukturen zu : der Machtergreifung auf drei Ebenen (oben, unten, außen) – hierin findet sich eine Parallele zu Botz. Er beginnt seine Darstellung des ›Anschlusses‹ mit dem Prozess ›von unten‹ (z.B. Etablierung einer Doppelherrschaft), den er allerdings im Unterschied zu Botz mit Ereignissen und Handlungen (z.B. Demonstrationen, Kundgebungsaufruf) belegt und mit weiteren Zeitzeugenzitaten auch anschaulich macht. Auf Ereignisebene wird in Zusammenhang mit dem ›Anschluss von unten‹ die geplante Volksbefragung Schuschniggs angeführt, deren Scheitern er, ebenso wie Botz, kausal begründet : weil ein für Österreich erfolgreicher Ausgang der Wahl erwartet wurde und weil keine korrekte Abwicklung der Wahl aufgrund der »überhitzten Atmosphäre« zu erwarten war, kam es zu den Ereignissen des 11. März. Andere Faktoren, wie etwa ein mögliches Fehlverhalten der Regierung Schuschniggs (siehe Botz), bleiben unerwähnt. Was Hanisch zeigt, ist eben keine Ursachenschau, es ist eine Zusammenschau auf Basis verschiedenster historiografischer Bausteine, die in ihrem Zusammenwirken ›historisches Geschehen‹ ausmachen, das hier erzählt, geschildert und mit Beispielen belegt wird. Dass im gesamten Kapitel das kausale Modell eine untergeordnete Rolle spielt, ergibt sich aus dem Texttyp, allerdings kann auch Ernst Hanisch nicht darauf verzichten – schließlich sind ursächliche Zusammenhänge Teil der historischen Realität. Doch Hanisch muss ob des großen Raums, den Stimmungsschilderungen bei ihm einnehmen, in anderen Bereichen, wie z. B. bei der Auflistung von Ursachen, reduzieren. Ob diese Stimmungsberichte für ein weniger fachkundiges Publikum dem Verständnis der historischen Vorgänge wiederum dienlich sind, muss dahingestellt bleiben, denn diese Art der Erzählung birgt auch einen Nachteil : einzelne Handlungsstränge oder Erklärungen des historischen Geschehens lassen sich bisweilen nur schwer aus den Stimmungsbildern extrahieren. Im Textteil über den »Anschluß von unten«28 werden nun die Vorgänge des 11. und 12. März geschildert, zunächst als Aufzählung der Ereignisabfolge durch den Autor, dann vertieft anhand von Zeitzeugenzitaten. Diese ZeitzeugInnen, sowohl BefürworterInnen als auch GegnerInnen des »Anschlusses«, schildern die Ereignisse jenes Tages entsprechend ihrer politischen Haltung und geben einen Stimmungsbericht dieser Tage. In der Darstellung dieses Geschehens wird auch Hanischs kritische Position gegenüber dem Opfermythos deutlich.29 Seine kritische Haltung gegenüber
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dem Opfermythos lässt sich auch daran festmachen, dass die Zeitzeugenzitate beinahe ausschließlich begeisterte Reaktionen der Bevölkerung zum Inhalt haben und zeitgenössische KritikerInnen an dieser Stelle kaum zu Wort kommen (Ausnahme bildet das Zitat des Wiener Oberrabbiners). Natürlich versucht Hanisch auch, die entfesselten Emotionen, die Massenbegeisterung jener Tage zu begründen. Er beschreibt sie als Reaktion auf die lang aufgestauten Frustrationen durch die Weltwirtschaftskrise und als Reaktion auf den ›Ständestaat‹, begründet sie also mit den von Gerhard Botz als mittelfristige Faktoren festgemachten strukturverändernden Ursachen. Im Anschluss ›von außen‹ überwiegt eindeutig die Darstellung der Ereignisabfolge des 11. März mit einzelnen Verweisen auf strukturelle Rahmenbedingungen (z. B. Rolle des Telefons bei der Machtübernahme). Hanisch versucht auf dieser Betrachtungsebene (›von außen‹) – im Gegensatz zu Botz – zu begründen, weshalb »der Westen« in die Vorgänge rund um den ›Anschluss‹ nicht eingriff : »Hätte der Westen einen Krieg riskieren sollen, wenn die Bilder doch zeigten, wie sehr ein großer Teil der Bevölkerung zum ›Anschluss‹ drängte ?«30 Damit überträgt Hanisch die Verantwortung erneut der österreichischen Bevölkerung und arbeitet auf diese Weise weiter an der Demontage der Opferthese. Im Anschluss »von oben« verweist Hanisch zunächst auf vorangegangene Prozesse, wie etwa »getarnte Nationalsozialisten«31 in der Bürokratie, die bestehende Strukturen gewissermaßen ›unterwandert‹ haben und zum Zeitpunkt der Machtübernahme an den Schaltstellen dieser Strukturen zu finden sind. In weiterer Folge schildert er dann den Ereignisverlauf, aber auch die sich entwickelnde Dynamik (»Hitler dachte noch keineswegs an den vollen ›Anschluss‹ …«32). Im letzten Teil des ›Anschluss‹-Kapitels analysiert Hanisch zunächst die politische Zusammensetzung (Struktur) der BefürworterInnen und GegnerInnen, bevor er auf die Aktivitäten der Nationalsozialisten im Hinblick auf die Abstimmung des 10. April eingeht. Die folgende Auflistung von Ereignissen, die sich überwiegend aus Handlungen der Nationalsozialisten (Propaganda) und deren Folgen (immer breitere Zustimmung unter der Bevölkerung) zusammensetzt, erfolgt in einer Weise, die die positive Akzeptanz der Zeitgenossen gegenüber dem Nationalsozialismus nachvollziehbar macht und Österreich in dieser Phase schließlich auch als Opfer der Propaganda und populistischen Maßnahmen präsentiert.
Fazit Gerhard Botz versucht mit seinem Aufsatz einerseits den LeserInnen jene Bedingungen näherzubringen, die den ›Anschluss‹ ermöglichten, und andererseits den Rahmen zu zeigen, innerhalb dessen die Handelnden agierten. Ökonomischer Struktur-
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bruch 1918, Schwierigkeiten beim Aufbau neuer Wirtschaftsstrukturen, mangelndes Vertrauen der Bevölkerung in den neuen Staat ›Österreich‹ auf allen Ebenen, mangelnde Übung in demokratischen Handlungsweisen und außenpolitische Faktoren, wie z. B. eine allgemeine Faschisierung weiter Teile Europas, das Zusammenrücken Italiens und Deutschlands, imperialistische Bestrebungen und der sichtbare Wirtschaftsaufschwung Deutschlands – das sind auf inhaltlicher Ebene diejenigen Faktoren, die im Hinblick auf den ›Anschluss‹ höchst komplex und (bei Botz) auch ursächlich zusammenwirken. Dabei geht es ihm nicht darum, die Handlungen, die Ereignisse oder das historische Geschehen selbst darzustellen. Vielmehr geht er in seiner Dokumentation des ›Anschlusses‹ von Strukturen und Prozessen aus und reiht diese dergestalt aneinander, dass darin oder daraus Ursachen respektive Bedingungen für den ›Anschluss‹ deutlich werden. Schicht für Schicht legt er die Ursachen frei, wobei er sich dem Ereignis ›Anschluss‹ zeitlich sukzessive nähert, und je näher dieser Quasi-Endpunkt, dieses Ziel rückt, desto dichter wird die Beschreibung, desto mehr greifen Strukturen, Prozesse und Handlungen ineinander, desto greifbarer wird das historische Subjekt ›Mensch‹ und desto mehr nimmt die Darstellung auch die Form einer Erzählung an. Botz gibt keine Wege vor, wie mit seinem Ursachenkatalog weiter zu verfahren sei, enthält sich weitgehend der Wertungen oder Wertungen produzierender Formulierungen und bezieht auch kaum Stellung. Vordergründig geht es ihm um eine wissenschaftliche Erklärung des ›Anschlusses‹, nicht mehr und nicht weniger. Es geht dem Historiker (Botz) nicht darum, Entschuldigungen für eine aus heutiger Sicht fatale Entwicklung zu geben, doch er kann versuchen, das Knäuel der Verstrickungen auf verschiedensten Ebenen zu entwirren, um seine Komplexität zu zeigen. Dazu muss er die Stränge erst isolieren, bevor er sie wieder zusammenführt. Das gelingt in seiner Darstellung denkbar gut, da die LeserInnen nicht von zahlreichen Begleitinformationen ›abgelenkt‹ werden und somit die Fragestellung nicht aus dem Auge verlieren – allerdings : Kenntnis der historischen Ereignisse wird vorausgesetzt. Trotz der betonten Objektivität und obgleich hier über weite Strecken keine historische Erzählung (im narrativen Sinn) vorliegt, kann auf Metaebene diese Darstellung mit den vier von Jörn Rüsen entwickelten Erzähltypen erfasst werden. Hierzu ist es sicherlich notwendig, die Entstehungszeit dieses Ursachenkatalogs mitzudenken. Gerhard Botz versucht mit seiner Auflistung von Ursachen möglichst weit auszuholen und breitet einen Ursachenteppich vor den LeserInnen aus, in dem der ›Opfermythos‹ nicht mehr den gesamten Raum für sich beanspruchen kann. Im Hinblick darauf, dass in den späten 1970er-Jahren keine kritische öffentliche Diskussion um Österreichs nationalsozialistische Vergangenheit und ihre Wegbereitung stattfand, und im Hinblick darauf, dass sich dieser Aufsatz in erster Linie an interessierte (junge) Erwachsene außerhalb der fachwissenschaftlichen ›Gemeinschaft‹ richtet, ist diese umfassende Ursachenauflistung zweifellos ein Beitrag zum ›kritischen Erzäh-
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len‹ von Vergangenheit und scheint von der Intention geleitet, bestimmte Tatsachen der Vergangenheit in ein anderes Erklärungsmuster zu stellen, als es bis weit in die 1970er-Jahre versucht wurde. Was diese Ursachenauflistung gewiss leistet, ist die Befriedigung des menschlichen Bedürfnisses nach ursächlichen Erklärungen, das vor allem bei einem heiklen Kapitel der österreichischen Geschichte, wie es der ›Anschluss‹ und die nachfolgende nationalsozialistische Ära darstellen, vorhanden ist. Eine Beschreibung der Ursachen wie die vorliegende stellt sich nicht in den Dienst der einen oder anderen Beurteilung dieses Ereignisses – im Gegenteil : in möglichst sachlichem Sprachduktus versucht sie zu deemotionalisieren. Was ein Ursachenkatalog aber nicht leisten kann, ist das Bedürfnis nach Erzählungen zu stillen, deren wesentlicher Bestandteil der Mensch, das handelnde Subjekt ist. Das denkende, fühlende und handelnde Individuum bleibt weitgehend ausgeblendet. Die verschiedenen Stimmungslagen der Bevölkerungssegmente, emotionale Handlungsmotive oder Entscheidungsbedingungen sind lediglich von untergeordneter Bedeutung und können in der analytisch beschreibenden Darstellungsweise nur angedeutet sein (z. B. im »mangelnden Nationalbewusstsein«). Daher bietet eine Dokumentation dieser Art auch keinerlei Identifikationsmöglichkeit für die LeserInnen, die stets in angemessener Distanz zum historischen Geschehen gehalten werden. Eine Darstellung, die ausschließlich nach verursachenden oder bedingenden Faktoren fragt, wird vordergründig nur erklären und nicht zum Verstehen beitragen können. Um aber zu ›verstehen‹, muss der Mensch in die Darstellung miteinbezogen werden. Dieser konkret agierende historische Mensch ist bei Ernst Hanisch als Protagonist einer ›großen Erzählung‹ zu finden. Insofern nähert sich Hanisch auf andere Weise dem »Anschluss«. Strukturen als Erklärungen für die Vorgänge rund um den 12. März werden bei Hanisch nur angedeutet und haben keine textkonstituierende Funktion. Sie wurden an anderen Stellen in den Text gewoben, insgesamt aber nicht mit jenem Stellenwert versehen, der ihnen bei Botz zukommt. Zentrales Element im Anschluss-Kapitel sind nicht die langfristigen historischen Prozesse wie etwa das Herausbilden neuer ökonomischer Strukturen, sondern die vom Individuum noch wahrnehmbaren Prozesse, die von Botz zum Teil als ›Ereignisketten‹ bezeichnet werden. Innerhalb dieser Prozesse spielen nicht nur einzelne Ereignisse eine Rolle, sondern auch die Handelnden, speziell deren emotionale Befindlichkeit. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen Gerhard Botz und Ernst Hanisch : Bei Hanisch gibt es auf allen Ebenen (oben, unten, außen) handelnde Personen. Dass der Text Hanischs dergestalt strukturiert ist, liegt zum einen an den inhaltlichen Anforderungen einer Gesellschaftsgeschichte (eine Gesellschaftsgeschichte muss vielschichtiger sein als ein Ursachenkatalog), zum anderen liegt es aber auch am zweckgerichteten Autoreninteresse, das Geschichte einem breiten Publikum zugänglich machen möchte und sich in diesem Kapitel eindeutig auch dem ›kritischen‹
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Erzählen verpflichtet. Zumindest hinsichtlich des ›kritischen Erzählens‹ findet sich eine Parallele zwischen Hanisch und Botz. »Ob man bestimmte Tatsachen der Vergangenheit wirklich so deuten kann, wie es bisher versucht wurde«33, diese Frage liegt dem beschriebenen historischen Abschnitt im Hinblick auf den Opfermythos zugrunde. Neben der ›kritischen Erzählweise‹ ist es aber auch das Konzept der Lebenschancen, das sich in diesem Kapitel niederschlägt. Der Jubel beim Einmarsch deutscher Wehrmachtstruppen wird u. a. mit den Hoffnungen der Menschen auf eine bessere Zeit begründet, mit der Hoffnung auf neue Lebenschancen. Während sich die einen diesen Zukunftsträumen hingeben, sinken die Lebenschancen der anderen, der als ›anders‹ gedachten Menschen, gegen null. Diese Orientierung an den Lebenschancen liest sich auf Metaebene durchaus als ›genetisches Erzählen‹. Im Kontext des gesamten Buchs entpuppt sich auch das ›Anschluss‹-Kapitel als Teil der großen ›genetischen‹ Erzählung, in der den Lebenschancen trotz einiger mehr oder minder großer Brüche letztlich doch ein positiver Fortschritt attestiert wird. Man könnte den gesamten Text mit Jörn Rüsen demnach wie folgt lesen : langfristig führen die Strukturveränderungen eines Systems (in diesem Fall Österreichs) und die damit verbundenen Ereignisse nicht zum Zusammenbruch desselben, sondern bilden die Grundlage für Veränderungen, die in erster Linie als Chancen verstanden werden. Dieses Kapitel ist daher nicht nur eine Schilderung der historischen Ereignisse rund um den ›Anschluss‹, es bietet den LeserInnen, im Unterschied zum Ursachenkatalog von Gerhard Botz, auch gleichzeitig Interpretation und Sinn dieser Ereignisse an. Die zahlreichen Zeitzeugenzitate im Text bringen den LeserInnen nicht nur den historischen Menschen näher, sie erfüllen zudem eine argumentative Funktion. Sie sind nicht in der einschränkenden Definition Rüsens zu verstehen, wonach Exempla »regelhafte Vorgänge«34 durchsichtig machen sollen, sie wollen aber auch keine gegenwärtigen Vorgänge verstehbar machen. Im vorliegenden Kapitel sollen sie auch keine Prozesse oder Strukturen relativieren oder gar konterkarieren. Das mag an anderen Stellen des Buches der Fall sein, nicht aber hier. In diesem Textabschnitt herrscht eindeutig ein Übergewicht in Richtung bestätigendes Exemplum vor, bestätigend im Sinne von : die Anschluss-Begeisterung bestätigen und somit die Opferthese als unzulässig reduzierte Geschichtsdarstellung demaskieren. Die in den Zeitzeugenzitaten (Exempla) deutlich werdenden Emotionen sollen aber auch zeigen, dass auch in der Geschichte »Gefühle in der Regel unmittelbar handlungsrelevant«35 sind. Schließlich unterscheidet sich der Text Hanischs auch auf linguistischer Ebene grundlegend von der Darstellung Botz’. Hanisch gibt einer durch zahlreiche Attribute angereicherten, anschaulichen Erzählweise eindeutig den Vorzug. Ihr gegenüber steht die nüchterne, ›nackte‹ Auflistung der Ursachen bei Botz, der äußerst sparsam mit Attributierungen umgeht und dadurch weder Wertungen noch Inter-
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pretationen hervorruft. Eine anschauliche Darstellung historischen Geschehens, die in der Lage ist, bei LeserInnen Bilder hervorzurufen (Hanisch), kommt dem öffentlichen Interesse an Geschichtsdarstellung zwar entgegen, lenkt die Vorstellungen der LeserInnen und bietet auf mehr oder weniger eindringliche Art an, Geschichte mit den Augen des Autors zu sehen. Sie hat die Tendenz, historisches Geschehen oder handelnde Personen zu (be)werten, da manche Charakterzüge, die den historischen Personen zugeschrieben werden, durchaus unterschiedliche Konnotationen hervorrufen können. Wenn etwa an anderer Stelle Leopold Figl als »fromm und bauernschlau«36 beschrieben wird, lässt ihn das zwar ein ganzes Stück menschlicher erscheinen, kann aber bei den LeserInnen über Sympathie oder Antipathie entscheiden. Vielleicht liegt das aber auch in der Absicht des Autors.
Resümee Was nun eine Gesellschaftsgeschichte im Unterschied zu einem strukturellen Ursachenkatalog leisten kann, ist ein weitläufigeres Bild des historischen Geschehens, der historischen Gesellschaft zu zeichnen, als es eine reine Ursachenschau vermag – wenn auch dieses Bild letztlich unvollständig bleiben muss. Kann ein Ursachenkatalog für sich in Anspruch nehmen, gemäß des jeweiligen Forschungsstandes ursächliche Faktoren annähernd vollständig aufzulisten, wird gerade hierin eine Gesellschaftsgeschichte im Umfang Hanischs Abstriche machen müssen. Eine Gesellschaftsgeschichte wie die vorliegende kann auch nicht mit letzter Klarheit Strukturen und Prozesse auf einen bestimmten Punkt hin darstellen, da sich stets der historische Mensch dazwischendrängt und seinen Platz als Gesellschafts- und Kulturträger beansprucht. Eine Gesellschaftsgeschichte in der Art Hanischs kann aber Vergangenheit lebendig darstellen, immer den Menschen mit all seinen Stärken und Schwächen vor Augen, und kann vergangene Ereignisse und Handlungen als von Individuen motiviert und intendiert und vor allem an Strukturen und Prozesse rückgebunden darstellen. Sie evoziert Bilder der Vergangenheit und bietet eine Identifikationsmöglichkeit. Der gegenwärtige Mensch erkennt im historischen Menschen einen ›Artgenossen‹, vielleicht auch einen Leidensgenossen. In einer Strukturgeschichte hingegen ist eine affektive, emotionale oder psychologische Ebene nicht explizit aufgeführt, muss aber von den LeserInnen als Folge, Bedingung und Reaktion auf die Strukturen mitgedacht werden. Ein struktureller Ursachenkatalog bietet keine Identifikationsmöglichkeit – dadurch wird ihm letztlich auch fraglos Objektivität zugesprochen – und lässt auch zahlreiche Leerstellen offen, die von den LeserInnen auf vielerlei Weisen aufgefüllt werden können. Im Bemühen um das Erklären historischer Sachverhalte ist im Aufsatz von Gerhard Botz kaum Platz für das historische Subjekt, für Betroffenheit und Identifikation. Die Gesellschaftsgeschichte
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Hanischs hingegen will ›verstanden‹ sein im Sinne eines aktiven Nachvollziehens, Identifizierens und Imaginierens, daher immer wieder Zeitzeugenzitate, daher immer wieder Gefühlslagen und Schlaglichter auf Stimmungen, aber auch auf die diese Stimmungen begleitenden Bedingungen. Doch in Hanischs Beschreibung des Anschlusses und seiner Vorgeschichte geht dieses ›Verstehen‹ wiederum ein wenig zulasten des Erklärens und hinterlässt somit, wie jegliche Geschichtsdarstellung, ihre spezifischen Leerstellen. Beide Formen von Geschichtsschreibung weisen, wie gezeigt werden konnte, jeweils eigene Qualitäten auf, haben aber auch ihre Grenzen. Wer ein möglichst umfassendes Bild eines historischen Abschnitts gewinnen will, wird gewiss beide Arten von Historiografie – Erzählung und Analyse – zum Erkenntnisgewinn heranziehen müssen und diese im Hinblick auf die Fragestellung, die an den jeweiligen Text herangetragen wird, vielleicht auch wechselweise kritisch betrachten.
Literatur Gerhard Botz : Wie es zum Anschluß kam. Ein strukturgeschichtlicher Ursachenkatalog für das Jahr 1938, in : G. Botz : Krisenzonen einer Demokratie. Frankfurt/ Main 1987. S. 237–248 Ute Daniel : Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt/Main 2001. Richard J. Evans : Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis. Frankfurt/Main 1999. Ute Frevert : Angst vor Gefühlen ? Die Geschichtsmächtigkeit von Emotionen im 20. Jahrhundert. In : P. Nolte/M. Hettling/F.-M. Kuhlemann/H.-W. Schmuhl (Hg.) : Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. München. 2000. S. 95–111. Ernst Hanisch : Der lange Schatten des Staats. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994. Peter Loewenberg : Emotion und Subjektivität. Desiderata der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft aus psychoanalytischer Perspektive. In : P. Nolte/M. Hettling/F.-M. Kuhlemann/H.-W. Schmuhl (Hg.) : Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. München 2000. Jörn Rüsen : Die vier Typen des historischen Erzählens. In : R. Koselleck (Hg.) : Theorie der Geschichte. Formen der Geschichtsschreibung. Beiträge zur Historik. Bd. 4. München 1982. Dietmar Rothermund : Geschichte als Prozeß und Aussage. Eine Einführung in Theorien des historischen Wandels und der Geschichtsschreibung. München 1994.
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Anmerkungen 11 Jörn Rüsen : Die vier Typen des historischen Erzählens. In : Reinhard Koselleck (Hg.), Theorie der Geschichte. Formen der Geschichtsschreibung. Beiträge zur Historik. Bd. 4. München 1982. S. 528. 12 Ebd., S. 514 ff. 13 Ebd., S. 547. 14 Rüsens Ansatz geht dahin, dass sich das Allgemeine im Besonderen repräsentiert. Das greift sicherlich etwas zu kurz, denn Exempla können unterschiedliche Funktionen im Text einnehmen, ein Exemplum ist auf seine argumentative Funktion im Text zu prüfen : begründend, erklärend, bestätigend, relativierend oder konterkarierend. Letztere Funktion des Exemplums bleibt von Rüsen unberücksichtigt. Seine Funktion liegt darin zu zeigen, dass sich das Allgemeine n i c h t immer im Besonderen widerspiegeln muss. 15 Rüsen 1982. S. 553. 16 Ebd., S. 555. 17 Diesem Ansatz liegt die Annahme eines übergeordneten Kontinuums (z.B. die Nation Österreich) als Konstante zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugrunde ; historische, systemverändernde Brüche werden in das Kontinuum integriert. 18 Weshalb dem so ist, könnte mit den Forschungsergebnissen der evolutionären Erkenntnistheorie erklärt werden, die plausibel machen konnte, »dass der Mensch auf lineare Kausalitätsvermutungen vorprogrammiert ist und solche Kausalität auch dort noch erwartet, wo er dem Zufall begegnet.« Dietmar Rothermund : : Geschichte als Prozeß und Aussage. Eine Einführung in Theorien des historischen Wandels und der Geschichtsschreibung. – München 1994. S. 44. 19 Ute Daniel : Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt/Main 2001. S. 405. 10 Richard J. Evans : Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis. Frankfurt/Main 1999. S.153. 11 Ebd., S. 154. 12 Rothermund 1994, S. 45. 13 Als Beispiel einer ›konvergenten Verursachung‹ führt D. Rothermund den Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum, Urbanisierung, Ausweitung der Macht der Städte und dem Einschnitt dieser Entwicklung durch die Pestepidemien des 14. Jahrhunderts an, was in weiterer Folge bei günstiger personeller Konstellation zu einem Erstarken des nationalen Königtums führte. Ebd., S. 49 ff. 14 Die diesem Vergleich zugrunde liegende Publikation ist »Krisenzonen einer Demokratie« aus dem Jahr 1987, in die der 1978 erstmals veröffentlichte Beitrag von Gerhard Botz neuerlich Eingang fand. 15 Der Aufsatz von Gerhard Botz erschien erstmals 1978 in : Die Jugend. Beiträge zur außerschulischen Bildungsarbeit in Österreich. Jg. 20. Heft 11. 16 Ernst Hanisch : Der lange Schatten des Staats. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994. S 239. 17 Botz 1987. S. 239 18 Ebd. 19 Ebd., S. 240. 20 Ebd., S. 241. 21 Ebd., S. 243. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 245. 24 Ebd., S. 244. 25 Ebd., S. 246.
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26 Hanisch 1994. S. 11. 27 Peter Loewenberg : Emotion und Subjektivität. Desiderata der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft aus psychoanalytischer Perspektive. In : P. Nolte/M. Hettling/F.-M. Kuhlemann/H.-W. Schmuhl (Hg.) : Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. München. 2000. S. 61. 28 Hanisch 1994. S. 340. 29 »Um 21.00 Uhr [des 11. März, A.d.V.] … hatten die Nationalsozialisten den regionalen Machtapparat in allen Bundesländern in ihren Händen. Diese Tatsache widerspricht einer simplen Opferthese«. Ebd., S. 340. 30 Hanisch 1994. S. 343. 31 Ebd., S. 344. 32 Ebd. 33 Rüsen 1982. S. 55. 34 Ebd., S. 547. 35 Ute Frevert : Angst vor Gefühlen ? Die Geschichtsmächtigkeit von Emotionen im 20. Jahrhundert. In : P. Nolte/M. Hettling/F.-M. Kuhlemann/H.-W. Schmuhl (Hg.) : Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte München 2000. S. 95–111. S. 95. 36 Hanisch 1994. S. 415.
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Vom Elend der österreichischen Geschichtsschreibung zum Kalten Krieg
I. Es ist mein Eindruck, dass die Geschichtsschreibung, die sich mit dem Kalten Krieg auseinandersetzt, in Österreich in einer Phase der Stagnation steht. Es scheint mir nicht einmal besonders übertrieben zu sein, vom Elend des österreichischen Beitrags zu dieser Ära der Zeitgeschichte zu sprechen. Wenn es heimisches Forscherinteresse am Kalten Krieg gibt, dann meist nur am Thema »Österreich und der Kalte Krieg«. Nicht von ungefähr kommt der einzige dürftige Überblick zum Thema »Der Kalte Krieg in Österreich« von einem Journalisten, und das auf der Grundlage von oral histories.2 Dazu kommt ein äußerst kurz gehaltener Text – eine Art einführender »Cold War for dummies«-Text – von einem Fachhistoriker.3 Lediglich das Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung in Graz hält regelmäßig Tagungen zu neuen Ergebnissen der internationalen Forschung zum Kalten Krieg ab und hat sich somit als einzig seriöses und systematisches Forschungszentrum zum internationalen Kalten Krieg in Österreich auch im Ausland einen Namen geschaffen.4 Dagegen kommen von der deutschen Forschung immer wieder wichtige Beiträge zum Thema, auch im Rahmen von Überblickstexten.5 Meist übersehen wird die größere Perspektive des globalen Kalten Krieges, der bipolare Rüstungswettlauf und die Strategien der feindlichen Blöcke, das nukleare Zeitalter und der Kampf gegen Kernwaffen und -energie, die Auswirkungen auf die Dritte Welt, der Konflikt der Kulturen, der Schattenkampf der Geheimdienste, Aufstieg und Fall der Supermächte etc. Meist ignoriert werden auch die spannenden Diskurse in der angloamerikanischen Geschichtsschreibung, betreffend den Kalten Krieg, über den relativen Status von Diplomatiegeschichtsschreibung bzw. zur »internationalen« und »transnationalen« Geschichte und die neuen Zugänge auf dem Gebiet der Forschung zur Außenpolitik.6 Ich behaupte einmal, diese Diskurse der letzten 30 Jahre gehören zu den interessantesten in der Geschichts- und Politikwissenschaft. Das weite Feld »Kalter Krieg« scheint nicht einmal regelmäßig an allen Zeitgeschichte-Instituten in Österreich auf dem Lehrplan zu stehen.7 Wenn es um das beinahe halbe Jahrhundert Kalter Krieg (1943/45–1989/91) geht, hat sich die österreichische Geschichts-/Zeitgeschichtsforschung vor allem mit dem Jahrzehnt der Viermächtebesatzung Österreichs (1945–1955) auseinandergesetzt,
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vielleicht noch mit den Krisen in Ungarn (1956) und der Tschechoslowakei (1968) und deren Auswirkungen auf Österreich, eventuell mit dem »Thema Deutschland und der Kalte Krieg«, sonst aber mit wenig mehr (von löblichen Ausnahmen einmal abgesehen, vgl. unten).
II. Wie ist der Stand dieser angloamerikanischen Diskurse über den Beitrag von Diplomatiegeschichte (die altmodische Bezeichnung) bzw. der »internationalen- bzw. transnationalen Geschichte« (die zeitgenössischen Termini) ? Die große Debatte wurde im Grunde genommen vor 30 Jahren durch einen historiografischen Aufsatz zum Status der amerikanischen Diplomatiegeschichtsschreibung von Charles S. Maier losgetreten. Maier, dessen Stärke in der vergleichenden Wirtschafts- und Sozialgeschichte Europas lag, meinte damals, dass der Stallgeruch der Diplomatiegeschichtsschreibung, die seit Ranke ein führender Zweig der Geschichtswissenschaften war, im Grunde genommen ein miefiger sei. Die Geschichte der internationalen Beziehungen sei ein »Stiefkind« der historischen Wissenschaften geworden und sei nicht mehr »at the cutting edge of scholarship«. Während vor allem das Gebiet der Sozialgeschichte mit neuen Methoden, gestützt auf statistische Computeranalysen, und spannenden neuen Forschungsfragen (Arbeiterklasse, Frauen, Sklaven, Minderheiten etc.) die Geschichtswissenschaften seit den 1960er-Jahren immer wieder neu belebt habe, passiere in der Diplomatiegeschichte wenig und man kapriziere sich immer noch auf die Rankesche Exegese. Im Vergleich zur Sozialgeschichte sei die Geschichte der internationalen Beziehungen methodologisch fad, abgestanden und unkreativ. Sie müsse sich mit neuen Forschungszugängen und einer Internationalisierung des Blicks nach außen neu konstituieren, um in der Geschichtswissenschaft relevant zu bleiben.8 Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. In einem »Forum« der damals noch jungen, aber sich rasch als führende Fachzeitschrift positionierenden Diplomatic History [DH], wurden Maiers Thesen von der Fachzunft beantwortet, verinnerlicht, und nur z. T. zurückgewiesen.9 Als »graduate students« habe wir Maiers Thesen während der 1980er-Jahre an den führenden Forschungsuniversitäten und in Seminaren in den USA leidenschaftlich diskutiert. Wollten wir einen Job auf einer amerikanischen Uni bekommen, mussten wir unseren Blick als Diplomatiegeschichtler über die unmittelbare Geopolitik ausweiten, mit neuen Methoden anreichern sowie mit dem Gang an ausländische Archive ausweiten. Vor allem debattierten wir die damals immer noch heißen Diskurse über den Ausdruck des Kalten Krieges und wem die Schuld dafür zuzuschieben war (traditionalistischer, revisionistischer und postrevisionistischer Ansatz10), was in den damaligen österreichischen Zeitgeschichte-Instituten in Salzburg und Wien in den 1970er-Jahren auch noch ein Thema war.11 Der
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Diskurs über Maiers Thesen wurde vor allem in den programmatischen Beiträgen in Diplomatic History in die 1990er Jahre fortgesetzt – kaum ein gewichtiger Aufsatz, der nicht darauf als Startpunkt Bezug nahm.12 Die Folge war in der Tat, dass sich die Diplomatiegeschichtsschreibung auf viele neue Ansätze stürzte, pluralistischer wurde, und sich vor allem internationalisierte. Die postmodernen, postkolonialen linguistic und cultural turns wurden voll in der angloamerikanischen Diplomatiegeschichtsschreibung absorbiert und machten die Diskurse auf diesem Feld viel spannender und komplexer.13 Trotzdem kam die Geopolitik, nämlich die Vertiefung der Forschung zum amerikanischen »national security state« und dem amerikanischen Wertesystem (»core values«) im Kalten Krieg nicht zu kurz.14 Der Vorwurf, dass amerikanische diplomatic historians keine Fremdsprachen beherrschen und nicht an ausländischen Archiven forschen, trifft längst nicht mehr zu. Das hat auch damit zu tun, dass viele talentierte Historiker aus der ganzen Welt mittels großzügigen Stipendien an amerikanischen Top-Unis ihre »graduate«Ausbildung machten, ihre enormen Sprachkenntnisse mitbrachten und dann auch an amerikanischen oder englischen Unis Rufe erhielten. Die besten Beispiele sind der Norweger Odd Arne Westad, der Russe Vladislav Zubok und der Chinese Chen Jian, die heute zu den führenden Kalter-Kriegs-Forschern zählen.15 Darunter waren auch Deutsche ; die Österreicher hingegen waren rar, fühlten sich offensichtlich auf ihrem neutralen Archipel »der Seligen« – und unter sich – pudelwohl. Selten kamen von österreichischen Universitäten Interventionen zu wichtigen internationalen diplomatiegeschichtlichen Diskursen und Debatten über den Kalten Krieg.16 Dann kam gänzlich überraschend das Ende des Kalten Krieges durch den dramatischen Kollaps des sowjetischen Weltreiches und der Sowjetunion selbst (1989– 1991). Das friedliche Ende der Supermacht UdSSR brachte das Ende des bipolaren internationalen Systems des Kalten Krieges, das eigentlich seit dem Bruch Maos mit der Sowjetunion in den 1960er-Jahren zum multipolaren internationalen System mutiert war. Diese Epochenzäsur machte den Kalten Krieg zu einer abgeschlossenen Ära. Zudem wurde nun die Forschungslandschaft mit der Öffnung der russischen, mittel- und osteuropäischen und chinesischen Archive enorm belebt. Die neue Bedeutung der Cold War Studies in der Zeitgeschichteforschung ist daraus zu ersehen, dass gleich zwei neue Fachzeitschriften zum Thema Kalter Krieg gestartet wurden – in den USA das Journal of Cold War Studies und in London Cold War History. Zudem machten das verdienstvolle »Cold War International History Network« am Woodrow Wilson Center in Washington17 und das an der Universität Zürich lozierte »Parallel History Projekt« eine Unzahl von Quellenübersetzungen aus den osteuropäischen und ostasiatischen Archiven digital zugänglich.18 Plötzlich rückte die tiefe Bedeutung der ideologischen Auseinandersetzungen zwischen dem dogmatisch-marxistischen und staatszentrierten Sicherheitsdenken des Kremls und dem liberal-kapitalistischen, freiheits- und demokratisch motivierten Hegemoniestreben
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Washingtons wieder in den Mittelpunkt des Interesses.19 Die Hegemonie der USA wurde als ein neuartiges und benevolentes »empire by invitation« bezeichnet, machten doch die Westeuropäer und Japaner in den 1940er- und 1950er-Jahren Druck auf Washington, sich in der Eindämmung der Sowjetunion militärisch, wirtschaftlich und politisch auf dem europäischen Kontinent und in Ostasien zu engagieren.20 Die NATO- und SEATO-Blöcke waren eine Folge davon. Das große Interesse an den Biografien der »Kalten Krieger« ist von Anfang an im Mittelpunkt der Forschung gestanden. Das hat der Diplomatie- und Politikgeschichte den Ruf eingebracht, sich nur für die »großen Männer« zu interessieren. Diese Biografien beschäftigen sich aber längst nicht mehr nur mit Präsidenten und Außenministern, sondern auch mit Diplomaten, Wissenschaftlern, Denkern und Frauen.21 Gerade die wissenschaftliche Biografieforschung ist eines der großen Mankos der österreichischen Zeitgeschichteforschung.22 Die Diplomatiegeschichte und Politikwissenschaft schärfte auch den »perizentrischen Blick« auf die jeweiligen Blocksysteme.23 Man forschte über die »Macht der Schwachen« in Allianzsystemen und begann Allianzen als komplexe internationale Systeme zu begreifen, in denen es viel mehr an Führungsanstrengungen in den Zentren der Macht bedurfte, als man bislang geglaubt hatte. Die Standpunkte und Wünsche der Allianzpartner mussten ernst genommen werden, sie wollten nicht gegängelt werden.24 Der Schwanz des Hundes hatte viel mehr Einfluss auf das Verhalten des Hundes, als man bislang dachte. Was ich in meiner Dissertation als die »Macht der Impotenten« bzw. dann in meinem Buch als »den Einfluss der Schwachen« bezeichnete, wurde zu einem wichtigen Thema in der Forschung zum Kalten Krieg.25 Walter Ulbricht zwang Chruschtschow zum Bau der Berliner Mauer 1962, um den Flüchtlingsstrom aus der DDR zu beenden.26 Die Warschauer-Pakt-Verbündeten machten Druck auf den Kreml, 1968 den für die kommunistischen Regimes in den Nachbarstaaten gefährlichen Reformkurs des »Prager Frühlings« mit einer Intervention zu beenden.27 Um die Kommunisten in Afghanistan an der Macht zu halten, sah sich ein Teil der Kremlführung 1979 gezwungen zu intervenieren. Die jungen Staaten der sich entkolonialisierenden sogenannten »Dritten Welt« spielten die Supermächte in der Bemühung um Entwicklungshilfe zur Modernisierung ihrer neuen Staaten gegeneinander aus.28 Die Regierungen der BRD und DDR ließen auch Milliarden an Entwicklungshilfe springen im Kampf um die (Nicht-)Anerkennung der DDR bzw. für den Alleinvertretungsanspruch Bonns (der Aufstieg und Fall der »Hallstein Doktrin«).29 Die USA entwickelten eine zynische Politik gegenüber den »freundlichen Tyranneien« in der Dritten Welt. Der Schah des Iran, der Somoza-Clan in Nicaragua, Ferdinand Marcos auf den Philippinen und Ngo Dinh Diem in Südvietnam erhielten enorme wirtschaftliche Unterstützung von Washington, solange auf sie im Kampf gegen den Kommunismus Verlass war – auf eine Demokratisierung ihrer autoritären Regime kam es nicht an.30
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Gleichzeitig fand die Kategorie »gender« viel Aufmerksamkeit unter jungen ForscherInnen.31 Die »nukleare Familie« im Kalten Krieg wurde unter dem Gesichtspunkt der Angst vor der Atombombe neu definiert. Im frühen Kalten Krieg mussten Frauen wie die Sowjetunion »eingedämmt« werden.32 »Foreign relations« erhielt eine neue Bedeutung in amerikanischen und sowjetischen Besatzungsregimen in Deutschland, Österreich, aber auch Korea und Japan. Zehntausende von amerikanischen Besatzungssoldaten heirateten ihre »sweethearts« und brachten sie zurück in die USA. In Deutschland trugen diese Beziehungen bedeutend zur Moderierung des »Feindbildes« »Deutsche = Nazis« bei. Diese persönlichen und emotionalen »internationalen Beziehungen« machten die Bundesrepublik zehn Jahre nach Kollaps des Hitler-Regimes zum engsten Verbündeten der USA auf dem Kontinent.33 Auf der anderen Seite wurde gezeigt, wie die Massenvergewaltigungen der Roten Armee in Budapest, Wien und Berlin das Bild der russischen »Befreier« rasch ins Gegenteil verkehrte.34 Zudem wurden die Sprachdiskurse in der internationalen Diplomatie auf »gender«-Codes untersucht und damit eine tiefere Bedeutung von Sprache in den internationalen Beziehungen eröffnet.35 Die Forschung richtete eigentlich bereits vor der Ankunft der »cultural turns« in der Geschichtswissenschaft36 ihr Interesse auf Kultur und auf Kulturtransfer im internationalen System. Die »Amerikanisierung« bzw. »Sowjetisierung« der beiden deutschen Staaten boten ein ideales Vergleichsfeld für den Erfolg bzw. Misserfolg des Exports von Kultur in besetzte Gesellschaften.37 Reinhold Wagnleitners bahnbrechende Salzburger Habilitationsschrift zur »Coca-Colonisation« Österreichs durch die amerikanische Populärkultur während und nach der Besatzungszeit, die dann auch ins Englische übersetzt wurde und einen bedeutenden amerikanischen Preis erhielt, ist eigentlich der einzige Beitrag eines heimischen Forschers zum Kalten Krieg, der in die mainstream-Diskurse der angloamerikanischen »international history« Eingang gefunden hat und als Schlüsseltext in den Diskursen über »cultural transfer« gilt.38 Der US-Export von Jazz als der »klassischen Musik der Globalisierung« (Wagnleitner) stand dabei oft im Mittelpunkt des Forscherinteresses.39 Die »Amerikanisierungs«-Literatur ist inzwischen unübersehbar geworden, geht es doch um die »imperiale« Präsenz von Hollywood und McDonalds in der Welt und somit um zentrale Themen der amerikanischen Ausübung von Hegemonie im Kalten Krieg und danach.40 Die Debatte um das Thema, ob die amerikanische Hegemonie während des Kalten Krieges und danach eigentlich eine Art von »empire« konstituierte, schwelt schon länger in der angloamerikanischen Geschichtswissenschaft, ist aber in den letzten Jahren auf die Ebene eines Schlüsseldiskurses gehoben worden, zu dem sich zahlreiche »Großmeister« zu Wort gemeldet haben. Dabei werden zentrale Fragen über die Rolle der USA im internationalen System des 20. Jahrhunderts (»das amerikanische Jahrhundert«) bzw. die Ausübung von Macht von Superpowers im Kalten-Kriegs-Sys-
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tem im Besonderen angeschnitten. Wurde die Ausübung von Washingtons politischer, wirtschaftlicher und militärischer Macht von den darniederliegenden Westeuropäern nach dem Krieg herbeigesehnt und gewünscht ? Wird diese Macht »informell« ausgeübt bzw. formell über ein quasi-»koloniales« System ? Haben die Amerikaner über ihre Populärkultur und Vorherrschaft bei modernen Kommunikationssystemen (Film, Radio, Fernsehen, Internet) ihr System der Welt imperial aufgezwungen, also eine moderne Variante des altmodischen Imperialismus ausgeübt ?41 Diese wichtigen »Empire«-Diskurse haben in der österreichischen Zeithistorikerzunft wenig Interesse gefunden.42 Am ehesten noch, dass man sich mit amerikanischem »Imperialismus« vor allem auf der linken Seite des politischen Spektrums (Anti-Vietnam-Linke bzw. Anti-Bush-Grüne) polemisch auseinandersetzt.43
III. Es können hier natürlich nur einige Diskurse der angloamerikanischen Forschung zur Diplomatiegeschichte bzw. »international history« angeschnitten werden, um dem Leser einen Eindruck von der Vitalität dieses Forschungsfeldes an amerikanischen Universitäten zu vermitteln. Die österreichische Zeitgeschichteforschung hingegen fühlt sich in ihrer postmodernen Verstrickung in »gender« und »cultural studies« wohl und jagt jedem kurzlebigen Modetrend und »turn« in der internationalen Geschichtsforschung nach, um »in« und »up to date« zu sein.44 Man scheint dabei nicht zu merken, dass mit solchen Ansätzen gerade auch alte Felder revitalisiert werden können, wie es die amerikanische Diplomatiegeschichte in den letzten 20 Jahren vorexerziert hat. Im heimischen Betrieb ist die Diplomatie- und auch Militärgeschichte seit Langem »out« und siecht dahin. Gerade dieser Wandel durch methodologische Erneuerung hat die angloamerikanische Diplomatiegeschichte und Forschung zum Themenkomplex des Kalten Krieges in der historischen Wissenschaft wieder relevant gemacht. Die Österreichischen Zeitgeschichtetage (ZG-Tage), die seit 1995 abwechselnd alle zwei Jahre von den Zeitgeschichte-Instituten organisiert werden, haben sich zu einer sehr verdienstvollen Plattform für Historiker, die sich mit dem 20. Jahrhundert auseinandersetzen, gemausert. Sie sind zu einer Leistungsschau der heimischen Zeitgeschichteforschung geworden und spiegeln die Faszination gerade der jungen ZeitgeschichtlerInnen mit bestimmten Themen und Forschungsperspektiven wider. Die wichtige Beschäftigung mit der autoritären/nationalsozialistischen Epoche der österreichischen Geschichte, vor allem mit der Tätergeschichte (»Opfer- und Täterdiskurse«), war von Anfang an ein zentrales Thema bei den ZG-Tagen. Ähnlich breites Interesse haben in den letzten Jahren die Erinnerungsdiskurse über die NS-Zeit erregt – die Faszination der »historical memory« hält
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nach wie vor an. Die neuen Medien und die Zeitgeschichte sind ein ebenso immer wiederkehrendes Thema (visuelle, erzählte Geschichte bzw. Internet) wie die Geschlechtergeschichte. Der Kalte Krieg als historische Epoche scheint nur einmal ein Hauptthemenkomplex bei den ZG-Tagen gewesen zu sein, und zwar auf dem Wiener ZG (1997).45 Im Rahmen des ersten ZG in Innsbruck wurde der Themenkomplex »Österreichs Gesellschaft und Außenpolitik im frühen Kalten Krieg« interdisziplinär erörtert. 46Auf dem zweiten ZG-Tag in Linz (1995) wurden zumindest die für die Forschung zum Kalten Krieg relevanten Themenkomplexe »Westernisierung« bzw. »Westorientierung« Österreichs und »Stalinismusforschung« angerissen.47 Diese magere und anämische Auseinandersetzung mit Fragen der Forschung sagt eigentlich schon alles über die geringe Priorität aus, die diese Epoche in der heimischen Zeitgeschichteforschung einnimmt. Natürlich ist die Innenpolitik der Nachkriegsjahre ein wichtiges Thema, wird aber meist nabelbeschaulich und ohne vergleichenden Blick über die Grenzen abgehandelt. Das weite Feld der internationalen Politik wird der Politikwissenschaft überlassen. Hier wird das ganze Elend sichtbar. Dabei kommt dem Wiener ZG-Tag der Verdienst zu, zwei der prominentesten Vertreter der internationalen Geschichtsschreibung zum Kalten Krieg eingeladen zu haben, um über das »Ende der Bipolarität« nach dem Kalten Krieg zu referieren. Beide legten damals die Hauptthemen der internationalen Forschungslandschaft zum Kalten Krieg vor und boten damit eigentlich einen Leitfaden zur Beschäftigung mit diesen Themen an. Der brillante britische Historiker David Reynolds – einer der Giganten der internationalen Diplomatiegeschichtsschreibung – monierte eine Beschäftigung mit der Geschichte der Geheimdienste als Fenster zur Feindbildrezeption auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges. Er schlug vor, die beiden Blocksysteme zu studieren sowie der Thematik der europäischen Integration mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Er schlug vor, sich auf die »empire«-Diskurse zu konzentrieren, gerade auch aus der Perspektive der österreichischen Kenntnisse des Untergangs des Habsburgerreiches. Reynolds monierte, die Forschung zur »Informationsrevolution« und der damit einhergehenden Technikgeschichte sei ein bedeutendes Thema, gerade auch, da deutsches und österreichisches Radio und Fernsehen zur Durchdringung des Eisernen Vorhanges und damit auch zum Fall geführt hätten. Auch die Forschung zu den »neuen sozialen Bewegungen« sei zu forcieren, wozu auch die »Befreiung der Frauen« gehöre. Auch das Ende des Kalten Krieges und der Bipolarität sei ein wichtiges Thema ; er warnte aber davor, einem westlichen »Triumphalismus« und »Sieg« über den Sowjetkommunismus das Wort zu reden, wie das in rechten Kreisen in den USA bereits der Fall war.48 Vladislav Zubok, der kluge russische Forscher zur Epoche des Kalten Krieges, der seit 20 Jahren in den USA lebt, hielt das zweite Impulsreferat. Sein Themenkatalog für zukünftige Forschung zum Kalten Krieg war ebenso beeindruckend : Biografie-
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forschung, der Kampf der Ideologien, die Beziehungen der beiden Supermächte zu Alliierten und »Klienten« (gerade den Klientelstaaten in der Dritten Welt), der Einfluss sozialer und kultureller Ereignisse auf die »longue duree« des Kalten Krieges.49 Ernst Hanisch schlug damals vor, sich intensiver mit der Geschichte des Kommunismus und des Antikommunismus in Österreich zu beschäftigen. »Die ›große Angst‹ vor dem Osten sei ein Grundelement der politischen Mentalitätsgeschichte gewesen«, meinte Hanisch. Er mahnte im Grunde genommen einen österreichischen Beitrag zur internationalen Totalitarismus-Forschung ein.50 Hier also wurde der heimischen Zeitgeschichteforschung ein Prioritätenkatalog für zukünftige Forschung zum Thema vorgelegt, der die historischen Seminare auf Jahre hätte beleben können. Faktum ist : Der beeindruckende Themenkatalog dieser prominenten Forscher wurde schlichtweg ignoriert.
IV. Welche Themen zum Bereich des Kalten Krieges wurden von der österreichischen Zeitgeschichte erforscht ? Die wichtigsten Beiträge wurden zweifelsohne auf dem Gebiet der Viermächteokkupation Österreichs infolge des Zweiten Weltkrieges verfasst. Die Forschungsleistung von Gerald Stourzh, der genau genommen kein Zeithistoriker ist, repräsentiert zweifelsohne das Meisterstück österreichischer Forschung zum Kalten Krieg.51 Leider ist Stourzh’s gewichtiges Œuvre im angloamerikanischen Raum nicht so gut rezipiert wie z. B. Wagnleitners magnum opus, da seine »Geschichte des Staatsvertrages« nie übersetzt wurde. Stourzh hat nicht nur enorm fleißig über 30 Jahre hinweg die meisten Quellen zur Staatsvertragsgeschichte zusammengetragen und immer wieder neu geschrieben. Er hat auch regelmäßig die internationale Literatur rezipiert und sich tiefe Gedanken über die internationalen Beziehungen in dieser Frühphase des Kalten Krieges gemacht. Das Pendant zu Stourzh’s Politikgeschichte ist der große Wurf von Hans Seidels Monografie zur Wirtschaftspolitik des Besatzungsjahrzehnts.52 Dazu kommen in jüngster Zeit die beeindruckenden Forschungen von Stefan Karner, Barbara Stelzl-Marx und Peter Ruggenthaler vom Grazer Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungspolitik in Österreich.53 Diese Arbeit ist zu ergänzen durch Wolfgang Muellers Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungspolitik und den Dokumentenband der österreichischen Akademie der Wissenschaften zu diesem Thema.54 Mueller und Ruggenthaler gehören zu den großen Nachwuchshoffnungen der Forschung zum Themenkomplex des Kalten Krieges in Österreich. Den Höhepunkt und die Summa der österreichischen und internationalen Forschung zum Staatsvertrag bilden die Tagung und der Band zum Staatsvertrag im Jubiläumsjahr 2005.55 Auch
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dieser Band würde mehr Interesse seitens der angloamerikanischen Diplomatiegeschichtsforschung verdienen. Auf der Ebene der etablierten Forschung befinden sich, wie bereits erwähnt, Wagnleitners Beiträge zur »Amerikanisierung«. Auch Siegfried Beers und Oliver Rathkolbs Beiträge zur internationalen Geheimdienstforschung im Kalten Krieg sind international positioniert.56 Erwin Schmidl ist allein auf weiter Flur, wenn es um seriöse militärische und strategische Fragestellungen im Kalten Krieg geht.57 Zudem sind hier Michael Gehlers zahlreiche Arbeiten zur europäischen Integration zu erwähnen – Gehler ist zweifelsohne der führende österreichische Integrationsforscher, ist aber inzwischen nach Deutschland abgewandert.58 Seine selbst proklamierte »große« Geschichte zur österreichischen Außenpolitik der Nachkriegszeit im Doppelschuber ist zu verliebt ins Detail der heimischen Politik und berücksichtigt das internationale System zu wenig.59 Auch die bereits erwähnten Arbeiten des in Innsbruck tätigen gebürtigen Deutschen Rolf Steininger zur westdeutschen Geschichte des Kalten Krieges gehören zur obersten Güteklasse der österreichischen und internationalen Forschung. Dabei fällt auf, dass es sich bei diesen Historikern meist um Angehörige der von Ernst Hanisch so bezeichneten ersten beiden Nachkriegsgenerationen der »Konsens«- und »68er«-Historiker handelt (lediglich Gehler gehört zur dritten, Ruggenthaler und Mueller zur vierten Generation). Da fragt man sich – wo bleibt der Nachwuchs in der österreichischen Forschung ? Institutionell beschäftigt sich lediglich Karners Grazer Boltzmann-Institut regelmäßig mit großen Themen des Kalten Krieges. Über das Boltzmann-Institut wurde jüngst ein Top-Team von Forschern organisiert, um eine internationale Geschichte des »Prager Frühlings« und des Einmarsches von Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 in der Tschechoslowakei zu erarbeiten. Ein gewichtiger Dokumentenband ergänzt einen sehr ausführlichen Aufsatzband.60 Wenn diese Forschungsergebnisse in Übersetzungen in englischer61, russischer, italienischer und dänischer Sprache vorliegen werden, wird diese kooperative Forschungsarbeit neben Stourzh und Wagnleitner zu den wichtigsten österreichischen Beiträgen zur internationalen Forschung zählen. Das Grazer Team demonstriert zudem, dass gerade über ambitionierte und breit angelegte Forschungskooperationen auch das kleine Österreich wichtige Beiträge zur internationalen Geschichte des Kalten Krieges liefern kann. Das Grazer Institut hat glänzende Kontakte zu russischen und osteuropäischen Archivaren und Historikerkreisen sowie deutschen Netzwerken. In einem weiteren internationalen Forschungsprojekt erforscht dieses Grazer Netzwerk im Moment den Wiener OstWest-Gipfel von 1961. Wien war der Austragungsort dieses »summit« – im Mittelpunkt des Interesses steht eine Momentaufnahme der Auseinandersetzungen in den frühen 1960er-Jahren von Kuba, Laos und Vietnam bis Berlin. Am Verhandlungsort Wien – einer klassischen europäischen Metropole der großen Diplomatie – trafen
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sich ein junger amerikanischer Präsident und ein bauernschlauer Sowjetdiktator und machten Geschichte.62 Die Ergebnisse werden 2011 vorgelegt werden.
V. Jüngst geisterten zwei »Spionagefälle« durch die österreichischen Medien und erregten viel Aufsehen. Auf der einen Seiten erregte die bezahlte Zusammenarbeit des früheren ORF-Mannes und prominenten Wiener Bürgermeisters Helmut Zilk mit dem tschechoslowakischen Geheimdienst die Gemüter. Auf der anderen Seite wurde bekannt, dass Otto Schulmeister, der langzeitige Chefredakteur des Wiener Traditionsblattes »Die Presse«, mehr als zehn Jahre mit dem amerikanischen Geheimdienst CIA »kooperierte« und sich z.T. in seiner Meinung von den Interessen der Amerikaner beeinflussen ließ. Hier fiel zuerst einmal auf, dass sich nur vier österreichische Historiker seriös mit den Geheimdienstaktivitäten im Kalten Krieg beschäftigt hatten und Expertisen beisteuern konnten, und zwar Siegfried Beer, Gerald Steinacker, Oliver Rathkolb zu westlichen Geheimdiensten und Stefan Karner zum KGB.63 Beer veranstaltet seit Jahren über seine Grazer Studiengesellschaft »Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies« regelmäßig Tagungen zur Geheimdienstgeschichte und gibt seit zwei Jahren auch die neue Zeitschrift Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies heraus, die sich regelmäßig mit »intelligence« im Kalten Krieg auseinandersetzt und in Fachkreisen großes Interesse erweckt.64 Diese Historiker versuchten dann auch, die »Fälle« Zilk und Schulmeister zu kontextualisieren. Wien und Salzburg waren Drehscheiben ausländischer Geheimdienste im Kalten Krieg. Von ihrer geopolitischen Lage her eigneten sie sich als Fenster mit Blick hinter den Eisernen Vorhang für westliche Geheimdienste und als »Abhörstationen« im Ätherkrieg. Wer diesen Teil der Geschichte kennt, war wenig überrascht, dass es auch unter den Angehörigen der Eliten Österreichs viele gegeben hat, die mit dem Westen zusammenarbeiteten, hielten sie es doch für ihre patriotische Pflicht, das geopolitisch so exponierte Land vor einer Übernahme durch den Kommunismus zu bewahren.65 Solche »Kooperation« mit dem Westen lief meist ohne Bezahlung ab (Ausnahmen bestätigen immer die Regel), wogegen man sich Informationen für den Osten abkaufen ließ.66 Offene und verdeckte nachrichtendienstliche Tätigkeiten waren zentraler Bereich der Führung beider Blöcke und hier so zu tun, als hätte Österreich davon verschont bleiben sollen, ist bestenfalls naiv. Die fehlende Auseinandersetzung der einheimischen Zeithistoriker mit solchen Themenkomplexen realistischer Machtpolitik demonstriert eigentlich die ganze Misere in der Zunft. Ähnlich verhält es sich mit der Distanzierung der Zeithistoriker von wichtigen Fragen der Militär- und Strategiegeschichte, die im Kalten Krieg vor allem die Ge-
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schichte des nuklearen Wettrüstens und der Abschreckungsstrategie ist. Im neutralen Österreich tut man sich schwer, ernsthaft über »MAD« (»Mutual Assured Destruction«) nachzudenken und sich mit der Apokalypse, der Zerstörung des Planeten, intellektuell auseinanderzusetzen. Es ist aber gerade die Existenz von Kernwaffen und die Demonstration ihrer Zerstörungskraft in Hiroshima und Nagasaki, die den Kalten Krieg definieren.67 Die tägliche Beschäftigung mit der Apokalypse und der »nationalen Unsicherheit« im nuklearen Zeitalter in den täglichen Entscheidungsprozessen Washingtons ist auch Gegenstand der diskursanalytischen Forschung geworden.68 Es sollte eigentlich kein ausgebildeter österreichischer Zeithistoriker eine Universität mit Diplom verlassen können, der sich nicht intensiv mit Fragen des nuklearen Wettrüstens, der Diplomatie der Abrüstung, den Repräsentationen der »atomaren Kultur« (von »Dr. Strangelove« bis zu »The Day After«) sowie den sozialen Bewegungen des Kampfes gegen das atomare Wettrüsten auseinandergesetzt hat.69 Es wird die Aufgabe zukünftiger heimischer Historikergenerationen sein, die Geschichte der österreichischen Neutralität und ihrer Reibungen zwischen den Militärblöcken zu erforschen. Weitere Forschungsdesiderata sind die enge Zusammenarbeit der österreichischen militärischen Eliten mit der NATO in der Verteidigungskonzeption des Landes sowie die Auswirkungen der Warschauer-Pakt-Pläne für einen nuklearen Angriff auf Westeuropa und auch auf Österreich. Die Neutralität Österreichs war für Militärplaner auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges doch nur ein Stück Papier.70 Die »Geschichte der Emotionen« einer tief sitzenden Angst vor dem Atomkrieg wird zunehmend zu einem Forschungsthema71, gerade in der Bundesrepublik Deutschland, wo die Angst vor der Apokalypse groß war – eine Angst, die auch von den Bemühungen um den Schutz der Zivilbevölkerung getrieben wurde.72 Im Vergleich mit der Traumatisierung, die Soldaten von Kriegseinsätzen mit nach Hause bringen (»post-traumatic stress syndrome«), könnte man diese Traumatisierung beinahe ein »pre-traumatic stress syndrome« nennen. Österreich wäre von einem Nuklearkrieg in Mitteleuropa nicht verschont geblieben. Der Krieg, der nicht stattfand, und die Gründe dafür, dass er nie ausgelöst wurde, sind ein wichtiges Forschungsdesiderat der heimischen Zeitgeschichteforschung.73
VI. Warum interessieren sich (junge) ZeithistorikerInnen so wenig für »hard power«Themen des Kalten Krieges ? Selbst wenn Interesse am Kalten Krieg besteht, dann vornehmlich an »soft power«. Wie bereits vermerkt, scheint erstens der Kalte Krieg nicht unbedingt im Vordergrund der universitären Lehrveranstaltungen zu stehen. Zweitens hat wohl die Nachkriegsneutralität, die bekanntlich auch Bestandteil der österreichischen Identität geworden ist, die mentalen Spuren eines tief sitzenden Neu-
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tralismus und Pazifismus in den Köpfen der jungen Leute hinterlassen. Wen sollte da der Atomkrieg interessieren ? Nach den Traumata der Väter/Großväter-Generationen, die sie von Hitlers Vernichtungskrieg von der Ostfront zurückgebracht haben, ist die Friedfertigkeit der jungen Österreicher natürlich auch ein positives »Lernenaus-der-Geschichte«-Phänomen. Andererseits sollte es zum Instrumentarium eines jeden (Zeit-)Historikers gehören, sich mit Fragen der Machtpolitik (hard power) und des Machiavellismus in der Weltpolitik auseinanderzusetzen. Gerade die Frage, was »nationale Sicherheit« konstituiert, ist eine zentrale Thematik der Forschung zum Themenkomplex Kalter Krieg74 und wird eine solche im Zeitalter des Terrorismus bleiben. Drittens scheint die den Forschungsdiskurs oft bestimmende »1968er«-Generation der österreichischen Zeithistoriker,75 die seit 20 Jahren fest auf ihren Lehrstühlen sitzt, ihre antifaschistischen Reflexe auch auf die militaristische USA des Vietnamkriegs ausgedehnt zu haben. Wenn es um die Supermächte im Kalten Krieg ging, lehnte man beide mit Argumenten der »moralischen Äquivalenz« ab. Die 1968er haben selten über ihren Antiamerikanismus reflektiert bzw. sich nie für ihre Verniedlichung des Stalinismus entschuldigt. Um mit Ernst Hanisch zu sprechen : »Die 68er-Generation (…) scheute vor dem Blick in die Finsternis des Kommunismus zurück. Das hing mit der überwiegend linken oder zumindest linksliberalen Einstellung dieser Generation zusammen, mit ihren Hoffnungen auf den ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹.«76 Statt die »große Politik« der Supermächte zu analysieren, stürzte man sich auf die Sozialgeschichte der Zwischenkriegszeit und den Aufstieg des »Austrofaschismus« und erforschte die Arbeiter- und Frauengeschichte. Wie Maier 1980 monierte (vgl. oben), war auch die historische Sozialwissenschaft der heißeste neue Trend unter den Historikern. Das Besatzungsjahrzehnt überließ man den Seminaren der Neuzeit-Historiker Stourzh und Fritz Fellner, und von dort kamen auch die wichtigsten Beiträge zur Erforschung des Kalten Krieges in Österreich. Die Auseinandersetzung mit den Diskursen der 1968er steht in der Nachkriegs-Geistesgeschichte Österreichs noch aus, ein Umstand, auf den auch Ernst Hanisch schon seit Längerem hinweist. Viertens konzentrierten sich die beiden letzten Generationen der ZeitgeschichteForschung vornehmlich auf die Beliebigkeit postmoderner »Dekonstruktion« und kultureller Fragestellungen.77 Man schenkte Film- und Literaturanalysen und »visueller Geschichte«, dem Boom der Erinnerungsgeschichte sowie der Machtausübung im Geschlechterverhältnis mehr Aufmerksamkeit als Fragen der Machtpräsenz und deren Ausübung seitens der nuklearen Großmächte mit ihren phallischen Raketenarsenalen. Fünftens scheint auch die internationale Mobilität der österreichischen Zeithistoriker nicht sehr groß zu sein. Fritz Fellners und Doris Corradinis faszinierende Sammlung von Historikerbiografien zeigt u. a., dass vor und nach dem Ersten Weltkrieg österreichische Historiker eher Auslandssemester einlegten, als es die jungen
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Historiker heute tun.78 Man studiert an einer heimischen Universität und wird auch dort pragmatisierter Historiker, falls man das Glück hat, einen Job als Historiker zu erhalten. Die Befruchtung der historischen Wissenschaft durch neue Fragestellungen wird meist nicht über Kontakte und Aufenthalte im Ausland erarbeitet, sondern über die Literatur, die man in den Seminaren erhält. Es fällt auch auf, dass junge Historiker trotz ausgezeichneter Fremdensprachenkenntnisse nicht unbedingt die Fachliteratur in fremden Sprachen rezipieren, und sei es nur die relativ leicht zugängliche englischsprachige Literatur. Gerald Stourzh hat jüngst bei einer Würdigung seiner Aufsatzsammlung From Chicago to Vienna im Rahmen der »German Studies Association« in St. Paul, Minnesota, angedeutet, wie anstrengend (strenuous work) es war, sich in der bei ihm so beeindruckenden bunten Vielfalt von Forschungsgebieten auf dem Laufenden der gängigen historiografischen Diskurse zu halten. In seinem Fall waren das Themen der politischen Philosophie der amerikanischen Gründerväter, des Minderheitenschutzes in den Verfassungen der späten Habsburgermonarchie, der Menschenrechte und eben der internationalen Geschichte des österreichischen Staatsvertrages.79 Der klassische Anspruch des Fachhistorikers, auf seinem Forschungsgebiet zu versuchen, einen guten Überblick der gesamten Forschungsliteratur zum Thema zu erarbeiten, scheint ein Ideal zu sein, das in der schnelllebigen Generation postmoderner Beliebigkeiten weiter in die Ferne rückt. Solche grundlegenden Fragen einer professionellen Arbeitsethik sollten auch in der heimischen Zeitgeschichteforschung relevant bleiben. Ernst Hanisch hat schon länger als ein Mahner in der Zunft der Historiker gewirkt und scheute sich auch nicht, als Reibebaum zu wirken. Er hat nie mit konstruktiver Kritik an der heimischen Praxis der Zeitgeschichteforschung gespart. Michael Gehler sekundiert Hanisch in seiner bemerkenswerten Analyse der österreichischen Zeitgeschichte-Forschung und stellt ein Modell auf, mit dem man die lokale und regionale, nationale, europäische und globale Ebene verschmelzen könne. Auch ihm kam es auf den Blick über die Schrebergärtnerei des nationalen Tellerrands hinaus an.80 Die Reaktion der postmodernen Generation ist es meist, solche Kritik zu ignorieren. Hanisch war oft der Mahner in der Wüste, etwa was die fehlende Kritikfähigkeit österreichischer (Zeit-)Historiker und ihre Weigerung, sich großen Debatten zu stellen, betraf. Er beklagt auch die fehlende Kritikbereitschaft im österreichischen Rezensionswesen, die doch Ausdruck lebhafter intellektueller Diskurse sein sollte.81 Ich antizipiere also, dass mein Versuch, die angloamerikanische Forschung zum Kalten Krieg als vitales und methodisch höchst integratives Feld der Diplomatiegeschichte und der Forschung zur internationalen Geschichte kurz vorzustellen, auch den in Österreich üblichen Tod durch Nichtbeachtung finden wird. Damit würde einer Kontinuität der Misere in der heimischen Forschung durch eine jüngere Generation von Zeithistorikern weiterhin nichts im Weg stehen.
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Anmerkungen 11 Ich danke Reinhold Wagnleitner und Siegfried Beer für ihr Feedback zu diesem Aufsatz. Für die Thesen bin natürlich allein ich verantwortlich. 12 Otto Klambauer : Der Kalte Krieg in Österreich. Vom Dritten Mann zum Fall des Eisernen Vorhangs. Wien 2000. 13 Rolf Steininger : Der Kalte Krieg. 6 Aufl. Frankfurt a.M. 2006. Steininger hat sich als internationaler Kalter-Kriegs-Forscher auch in anderen kurzen Überblicken ausgewiesen, vgl. Der Vergessene Krieg. Korea 1950–1953. 2. Aufl. München 2006 ; Der Vietnamkrieg. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2006 ; vgl. auch die neue Audio-CD Entscheidungen im Kalten Krieg. Von der Konferenz im Potsdam bis zum Krieg in Vietnam. Innsbruck 2009. Die deutsche Frage stand bis zum Ende des Kalten Krieges im Mittelpunkt der internationalen Politik, vgl. Marc Trachtenberg : A Constructed Peace. The Making of the European Settlement 1945–1963. Princeton 1999 ; Melvyn P. Leffler, For the Soul of Mankind : The United States, the Soviet Union, and the Cold War (vgl. auch meine Rezension in : sehepunkte 8 (2008), Nr. 12 [15.12.2008] http ://www.sehe punkte.de/2008/12/15256.html). 14 Stefan Karner/Erich Reiter/Gerald Schöpfer (Hg.) : Kalter Krieg. Beiträge zur Ost-West-Konfrontation 1945 bis 1950. Graz 2002. Zur Arbeit vom BIK, vgl. http ://www.bik.ac.at/. 15 Bernd Stövver : Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947–1991. München 2007 (vgl. auch mein Rezension in : http ://www.h-net.org/reviews/showpdf.php ?id=23940 [April 2009]). 16 Die vielleicht beste Meistererzählung zum Kalten Krieg ist in das große Werk von George C. Herring eigebettet : From Colony to Superpower : U.S. Foreign Relations since 1776 (= Oxford History of the United States). New York 2008, S. 595–916. Herrings Werk in der jüngste Band, der in der großen »Oxford History of the United States« erschienen ist, und beweist, dass Diplomatiegeschichte wieder zum Mainstream der amerikanischen Geschichtswissenschaften zählt. Zur Einführung in die Historiographie nützlich auch Michael Kort : The Columbia Guide to the Cold War. New York 1998. 17 Leider kann ich vom entfernten New Orleans aus nicht alle Vorlesungsverzeichnisse österreichischer Zeitgeschichte-Institute der letzten 20 Jahre durchstöbern. Im Sommersemester 2009 hielten Rolf Steininger am Institut für Zeitgeschichte in Innsbruck und Reinhold Wagnleitner am Institut für Geschichte in Salzburg Vorlesungen zum Kalten Krieg ab. Wagnleitner versichert mir gegenüber auch, dass er in den letzten 20 Jahren beinahe 20 Lehrveranstaltungen zur Internationalen Geschichte des Kalten Krieges abgehalten habe (persönliche E-Mail vom 12. 5. 2009). Das würde bestätigen, dass Wagnleitner und Steininger in der Lehre die Hauptproponenten der österreichischen Kalten-Kriegs-Forschung sind. Ein solche empirische Untersuchung der Vorlesungsverzeichnisse wäre ein Forschungsdesiderat. 18 Charles S. Maier : Marking Time. The Historiography of International Relations. – In : Michael Kammen (Hg.). The Past Before Us. Contemporary Historical Writing in the United States. Ithaca 1980. S. 355– 87. 19 Michael H. Hunt, Akira Iriye, Walter F. LaFeber, Melvyn P. Leffler, Robert D. Schulzinger, Joan HoffWilson, »Responses to Charles S. Maier, »Marking Tim : The Historiography of International Relations«. – In : DH, 5/4 (1981), S. 353–82. 10 Günter Bischof : Eine Historiographische Einführung : Die Ära des Kalten Krieges in Österreich. – In : Erwin A.Schmidl (Hg.), Österreich im frühen Kalten Krieg. Wien 2000, S. 19–53. 11 Rudolf G. Ardelt/Hanns Haas : Die Westingeration Österreichs nach 1945. – In : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 4/3 (1975), S. 379–99 ; Willibald I. Holzer : Der Kalte Krieg und Österreich. – In Jahrbuch für Zeitgeschichte 1982/83, (1983), S. 133–209 ; Reinhold Wagnleitner : Großbritannien und die Wiedererrichtung der Republik Österreich. Dissertation Universität Salzburg 1975. 12 Vgl. etwa Michael H. Hunt : The Long Crisis of U.S. Diplomatic History. – In : DH, 16/1 (1992), S. 115– 40 ; John Lewis Gaddis : New Conceptual Approaches to the Study of American Foreign Relations. – In :
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DH, 14/3 (1990), S. 405–24 ; Melvyn P. Leffler : New Approaches, Old Interpretations, and Prospective Reconfigurations. – In : DH, 19/2 (1995), S. 173–96. Die beste Leistungsschau der »puristischen Vision« in den Ansätzen und Methodologien der amerikanischen Diplomatie-/Internationalen Geschichte-Historiographie ist der Band von Michael J. Hogan/Thomas G. Paterson (Hg.) : Explaining American Foreign Relations. 2. Aufl. Cambridge 2004, vgl. vor allem den Aufsatz von Robert McMahon : Towards a Pluralist Vision. The Study of American Foreign Relations as International History and National History, S. 35–50. Im Vergleich zur 1. Auflage (1991) fällt auf, dass gerade Kultur, Rasse und Geschlecht als die neue »heilige Triade« in der Geschichtsforschung sich auch voll in der Diplomatiegeschichte etabliert haben. Neu sind auch Aufsätze zur Geschichte von Grenzen (»frontier-borderlands«), Modernisierungstheorie, Kulturtransfer, Erinnerung, und zum linguistischen Ansatz. Vgl. auch die Rezension von Thomas A. Schwartz : Explaining the Cultural Turn – Or Detour ?. – In : DH 31/1 (2007), S. 143–47. Diese bunte Vielfalt der Ansätze beweist, dass internationale Geschichte wieder »cutting edge« geworden, und die von Maier 1980 beklagte methodische Rückständigkeit überwunden ist. Diplomatiegeschichte ist wieder »in«. Vgl. vor allem den traditionalistischeren Ansatz von Melvyn Leffler : National Security. – In : Hogan/ Paterson (Hg.). S. 123–36, sowie ähnliche geopolitischen und z.T. politik- bzw sozialwissenschaftlichen Ansätze von Ole R. Holsti : Theories of International Realtions, J. Garry Clifford : Bureaucratic Politics ; Thomas J. McCormick : World Systems ; Louis A. Pérez, Jr. : Dependency. – In : ebda, S. 51–102, 149–75. In diesen Bereich fallen auch die Arbeiten eines der »Großmeister« der Kalten-Kriegs-Forschung, John Lewis Gaddis : We Now Know. Rethinking Cold War History. Oxford 1997. Gaddis : The Cold War : A New History. New York 2006. Odd Arne Westad : Cold War and revolution : Soviet-American rivalry and the origins of the Chinese Civil War, 1944–1946. New York 1993 ; Valdislav Zubok : A Failed Empire. The Soviet Union from Stalin to Gorbachev. Chapel Hill 2007 (vgl. auch meine Rezension in : sehepunkte 8 (2008), Nr. 4 [15.04.2008], http :// www.sehepunkte.de/2008/04/13992.html) ; Chen Jian : Mao’s China & the Cold War. Chapel Hill 2001. Am ehesten von Rolf Steininger, etwa sein wichtiges Buch : Die Stalin-Note vom 10. März 1952 und die Wiedervereinigung, Bonn 1985, 3. Aufl. 1990. Auf der Basis von russischen Quellen eine wichtige Korrektur der Steininger’schen Perspektive ist Peter Ruggenthaler (Hg.) : Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung. (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Bd. 95). München 2007. Zur Berlinkrise, wichtig auch Steininger : Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958–1963, Olzog Verlag, München 2001. http ://www.wilsoncenter.org http ://www.php.isn.ethz.ch Zwei wichtige Arbeiten betonen die zentrale Bedeutung der Ideologie, die zum Verständnis der sowjetischen Außenpolitik nötig ist, vgl. Vojtech Mastny : The Cold War and Soviet Insecurity. The Stalin Years. New York 1998 ; Vladislav Zubok/Constantine Pleashakov : Inside the Kremlin’s Cold War. From Stalin to Khrushchev. Cambridge, MA 1996. Geir Lundestad : Empire by Invitation ? The United States and Western Europe, 1945–1952 – in : Journal of Peace Research 23 (1986), S. 263–77 ; Lundestad : The American »Empire« and other Studies of US Foreign Policy in a Comparative Perspective . Oslo 1990. Zu den jüngsten biografischen Meistererzählungen gehören Jeremy Suri : Henry Kissinger and the American Century. Cambridge. MA 2007. Robert Beisner : Dean Acheson. A Life in the Cold War. New York 2006. Kai Bird/Martin J. Sherwin : American Prometheus. The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppenheimer. New York 2005. Vgl. auch Anders Stephanson : Kennan and the Art of Foreign Policy. Cambridge, MA 1992. Jean M. Wilkowski : Abroad for Her Country. Tales of a Pioneer Woman Ambassador in the U.S. Foreign Service. Notre Dame, IN 2007. Vgl. auch das Forum »Biography after the Cultural Turn«. – In : DH, 32/5 (2008), S. 677–778.
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22 Die große Chance und das gewaltige Erklärungspotenzial, das Biografieforschung als Fenster in die österreichische Zeitgeschichte bietet, hat jüngst eine junge deutsche Kreisky-Biographin gezeigt, in der Kreisky auch als klassischer Kalter Krieger vorgestellt wird, vgl. Elisabeth Röhrlich : Kreiskys Außenpolitik. Zwischen österreichischer Identität und internationalem Programm. Dissertation Universität Tübingen 2008. Botschafterin Eva Nowotny zeigt mit einem z.T. autobiografischen Text, welche Einsichten in einer Beschäftigung mit Diplomaten/-innen zur Analyse der Praxis und Ausrichtung der österreichischen Außenpolitik nach dem 2. Weltkrieg auf Historiker warten, vgl. Diplomats. Symbols of Sovereignty Become Managers of Interdependence : The Transformation of the Austrian Diplomatic Service. – In : Günter Bischof/Anton Pelinka/Michael Gehler (Hg.) : Austrian Foreign Policy in Historical Context (Contemporary Austrian Studies XIV). New Brunswick 2006, S. 25–38. 23 Tony Smith : New Bottles for New Wine. A Pericentric Framework for the Study of the Cold War. – In DH 24/4 (2000), S. 567–91. 24 Thomas Alan Schwartz : »The United States and Germany after 1945 : Alliances, Transnational Relations, and the Legacy of the Cold War. – In DH, 19/4 (1995), S. 549–568. 25 Günter Bischof : From Responsibility to Rehabilitation. Austria in International Politics 1940–1950. PhD Dissertation Harvard University 1989, S. xviii, xxiv, Bischof : Austria in the First Cold War. The Leverage of the Weak. Basingstoke 1999. 26 Hope M. Harrison : Driving the Soviets Up the Wall. Soviet – East German Relations, 1953–1961. Princeton 2003. 27 Vgl. die Aufsätze Michail Prozumenščikov zu den Politbüro Entscheidungen, Manfred Wilke zur DDR, und Pawel Piotrowski zu Polen, in Stefan Karner et al. : Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968. Bd. 1 : Beiträge. Wien 2008, S. 205–42, 421–480. Vgl. auch Odd Arne Wstad/Sven G. Holtsmark/ Iver B. Neumann (Hg.) : The Soviet Union in Eastern Europe, 1945–89. Basingstoke 1994. 28 Odd Arne Westad : The Global Cold War. Cambridge 2005. 29 William Glenn Gray, Germany’s Cold War. The Global Campaign to Isolate East Germany, 1949–1969. Chapel Hill 2003 (vgl. auch meine Rezension in [email protected]). 30 Adam Garfinkle et al. : The Devil and Uncle Sam. A User’s Guide to the Friendly Tyrants Dilemma. New Brunswick 1992 ; David F. Schmitz : Thanks God They’re on Our Side. The United States & Right –Wing Dictatorships, 1921–1965. Chapel Hill 1999. 31 Kristin Hoganson : What’s Gender Got to Do with It ? Gender History as Foreign Relations History. – In : Hogan/Paterson (Hg.) : Explaining. S. 304–22. Vgl. Culture, Gender, and Foreign Policy : A Symposium. – In : DH 18/1 (1994), S. 47–124. 32 Elaine Tyler May : Homeward Bound. American Families in the Cold War Era. New York 1988, rev. 20th anniversary ed. 2008. 33 Petra Goedde : GIs and Germans : Culture, Gender, and Foreign Relations, 1945–1949. New Haven 2003. 34 Zu den Besatzungs-Geschlechterbeziehungen und dem Problem der Vergewaltigung in Deutschland, vgl. Norman Naimark : The Russians in Germany. A History of the Soviet Zone of Occupation, 1945–1949. Cambridge, MA 1995, S. 69–140. Diese Diskurse haben österreichische Forscherinnen rezipiert und sind auf dem Stand der internationalen Forschung, vgl. Barbara Stelzl-Marx : Freier und Befreite. Zum Beziehungsgeflecht zwischen sowjetischen Besatzungsoldaten und österreichischen Frauen. – In Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg) : Die Rote Armee in Österreich. Bd. 1 : Beiträge. Graz 2005, S. 421–48. Zur amerikanischen Zone vgl. Ingrid Bauer : »Austria’s Prestige Dragged in the Dirt« ?. The »GI-Brides« and Postwar Austrian Society (1945–1955). – In Günter Bischof/Anton Pelinka/Erika Thruner (Hg.) : Women in Austria (= Contemporary Austrian Studies VI). New Brunswick 1998, S. 41–55. Einen einzigartigen Zonenvergleich dieser »foreign affairs« bieten Ingrid Bauer/Renate Huber : Sexual Encounters across (Former) Enemy Lines. – In Günter Bischof/Anton Pelinka/Dagmar Herzog (Hg) : Sexuality in Austria (= Contemporary Austrian Studies XV). New Brunswick 2007, S.65–101.
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35 Führend in der Anwendung der Diskursanalyse und des »linguistic turn« auf die Sprache der amerikanischen Außenpolitik ist Frank Costigliola, vgl. Reading for Meaning. Theory, Language, and Metaphor. – In Hogan/Paterson (Hg.) : Explaining, S. 279–303, sowie seinen trendsettenden Aufsatz »Unceasing Pressure for Penetration«. Gender, Pathology, and Emotion in Geoerge F. Kennan’s Formation of the Cold War. – In Journal of American History 83 (1997), S. 1309–39. 36 Jessica C.E. Gienow-Hecht : Cultural Transfer. – In Hogan/Paterson (Hg.) : Explaining. S. 257–78. Vgl. auch das Symposium Cultural Transfer or Cultural Imperialism ?. – In : DH 24/3 (2000), S. 465–528. 37 Alexander Stephan (Hg.) : Americanization and Anti-Americanism : The German Encounter with American Culture after 1945. New York 2005. Anselm Doering-Manteuffel startet ein großes und sehr produktives Forschungsprojekt zur Amerikanisierung Nachkriegs-Deutschlands, vgl. Wie westlich sind die Deutschen ? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999. 38 Reinhold Wagnleitner : Coca-Colonisation und Kalter Krieg. Die Kulturmission der USA in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Wien 1991. Wagnleitner/Elaine Tyler May (Hg.) : »Here, There and Everywhere«. The Foreign Politics of American Popular Culture (= Salzburg Seminar Publications). Hannover, NH 2000. Wagnleitner : The Empire of the Fun, or Talkin’ Soviet Union Blues : The Sound of Freedom and American Cultural Hegemony in Europe. In Michael J. Hogan (Hg.), »The Ambiguous Legacy« : U.S. Foreign Policy in the American Century. Cambridge, 1999, S. 463–499 (die Aufsätze im Hogan-Band wurden zuerst publiziert im zweiteiligen Roundtable »The American Century« in DH 23/2 und 23/3 (1999), S.157–370, 391–538. Zu diesem Thema vgl. auch Günter Bischof : Two Sides of the Coin. The Americanization of Austria and Austrian Anti-Americanism. – In Alexander Stephan (Hg.) : The Americanization of Europe. Culture, Diplomacy, and Anti-Americanism after 1945. New York 2006, S. 147–81. Günter Bischof/Anton Pelinka (Hg) : The Americanization/Westernization of Austria (= Contemporary Austrian Studies XII). New Brunswick 2004. 39 Zu »Jazz – die klassische Musik der Globalisierung« vgl. Reinhold Wagnleitners Vortrag mit Musikbegleitung http ://www.unitv.org/beitrag.asp ?ID=54&Kat=1. Vgl. auch Wagnleitner (Hg.) : Satchmo Meets Amadeus. (= TRANSATLANTICA 2). Innsbruck 2006. Uta Poiger : Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany. Berkeley 2000. Penny M. Von Eschen : Satchmo blows Up the World. Jazz Ambassadors Play the Cold War. Cambridge, MA 2004. 40 Vgl. Richard Pells : Not Like US. How Europeans have Loved, Hated, and Transformed American Culture Since World War II. New York 1997. Wegweisend auch der Vergleich der Amerikanisierung verschiedener Länder Europas in Stephan (Hg.) : The Americanization of Europe. 41 Paul Kennedy : The Rise and Fall of the Great Powers. New York 1987. Charles S. Maier : Among Empires. America’s Ascendancy and Its Predecessors. Cambridge, MA 2006. Victoria De Grazia : Irresistible Empire. America’s Advance through 20th-Century Europe. Cambridge, MA 2005.Niall Ferguson : Colossus. The Price of America’s Empire. New York 2004. Herfried Münkler : Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin 2005. Bernard Porter : Empire and Superempire. Britain, America and the World. New Haven, CT 2006. Andrew Bacevich : American Empire. The Realities & Consequences of U.S. Diplomacy. Harvard, MA 2002. Dana Priest : The Mission. Waging War and Keeping Peace with America’s Military. New York 2003. Robert Kaplan : Imperial Grunts. The American Military on the Ground. New York 2005. 42 Günter Bischof : Das amerikanische Jahrhundert. Europas Niedergang – Amerikas Aufstieg. – In Zeitgeschichte 28 (2001), S. 75–95. Bischof : American Empire and its Discontents. The United States and Europe Today. – In Michael Gehler/Günter Bischof/Ludger Kühnhardt/Rolf Steininger (Hg.). Towards a European Constitution. A Historical and Political Comparison with the United States. Wien 2005, S 185– 207. Bischof : Empire Discourses : The »American Empire« in Decline ?, In : Kurswechsel [im Druck]. 43 Vgl. die primitive Polemik von Peter Pilz : Mit Gott Gegen Alle. Amerikas Kampf um die Weltherrschaft. Stuttgart 2003.
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44 Zu grundlegenden Kritiken vgl. Ernst Hanisch : Die Dominanz des Staates. Österreichische Zeitgeschichte im Drehkreuz von Politik und Wissenschaft. – In Alexander Nützenadel/Wolfgang Schieder (Hg.) : Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa. Göttingen 2004, S. 54–77. Michael Gehler : Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem. Zwischen Regionalisierung, Nationalstaat, Europäisierung, internationaler Arena und Globalisieung. Bochum 2001. 45 Gertraud Diendorfer/Gerhard Jagschitz/Oliver Rathkolb (Hg.) : Zeitgeschichte im Wandel. 3. Österreichische Zeitgeschichtetage 1997. Innsbruck 1998. 46 Und zwar im Rahmen des jährlichen Symposiums der Universität Innsbruck und University of New Orleans, das in den 1. ZG-Tag eingebettet wurde, vgl. Thomas Albrich et al. (Hg.) : Österreich in den Fünfzigern (= Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 11). Innsbruck 1995 ; bzw. mit einer z.T. anderen Aufsatzauswahl Günter Bischof/Anton Pelinka/Rolf Steininger (Hg): Austrian in the Nineteen Fifties (= Contemporary Austrian Studies III). New Brunswick 1995. 47 Rudolf G. Ardelt/Christian Gerbel (Hg.) : Österreichischer Zeitgeschichtetag 1995. Österreich – 50 Jahre Zweite Republik. Innsbruck 1996, S.123–44 ; 403–26. 48 David Reynolds : The End of Bipolarity and the Rewriting of History Western Perspectives. – In : Diendorfer et al. (Hg) : Zeitgeschichte im Wandel, S. 18–26. 49 Vladislav Zubok : The End of Bipolarity and the Rewriting of History. Eastern Perspectives. – In : ebenda, S. 27–36. 50 Ernst Hanisch : Überlegungen zum Funktionswandel des Antikommunismus. Eine österreichische Perspektive. – In ebenda, S. 37–45. Vgl. die zu diesem Thema grundlegende empirische Untersuchung von Dieter Stiefel/Ingrid Fraberger : Enemy Images. The Meaning of »Anti-Communism« and Its Importance for the Political and Economic Reconstruction in Austria after 1945. – In Günter Bischof/Anton Pelinka/Dieter Stiefel (Hg.) : The Marshall Plan in Austria (= Contemporary Austrian Studies VIII). New Brunswick 2000. 51 Gerald Stourzh : Um Einheit und Freiheit. Der Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955 (= Studien zu Politik und Verwaltung 62). 5. Aufl. Wien 2005. 52 Hans Seidel : Österreichs Wirtschaft und Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Wien 2005. Vgl. dazu auch Günter Bischof/Hans Jürgen Schröder : ›Nation Building‹ in vergleichender Perspektive : Die USA als Besatzungsmacht in Österreich und Westdeutschland 1945–1955. – In Michael Gehler/ Ingrid Böhler (Hg.) : Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis zur Gegenwart. Festschrift für Rolf Steininger zum 65. Geburtstag. Innsbruck 2007, S. 155–176. 53 Karner/Stelzl-Marx : Rote Armee in Österreich, 2 Bde. Das Grazer Team ist durch drei Nachkriegsgenerationen österreichischer Zeitgeschichteforschung repräsentiert. Vom Alter her wäre Karner ein »1968er«, vom Forschungsinteresse und seiner ideologischen Ausrichtung ist er ein »Anti-1968er«. Ernst Hanisch hat eine grundlegende Analyse der österreichischen Historikergenerationen und ihrer generationsspezifischen Forschungsinteressen nach dem Zweiten Weltkrieg vorgelegt, vgl. Der forschende Blick. Österreich im 20. Jahrhundert : Interpretationen und Kontroversen. – In Carinthia I/189 (1999), S. 579ff. 54 Wolfgang Mueller : Die sowjetische Besatzung in Österreich 1945–1955 und ihre politische Mission. Wien 2005. Mueller/Arnold Suppan/Norman M. Naimark/ Gennadij Bordjugov (Hg.) : Sowjetische Politik in Österreich 1945–1955. Dokumente aus russischen Archiven. (= Fontes Rerum Austriacarum. Zweite Abt. Diplomararia et Acta Bd. 93). Wien 2005. 55 Arnold Suppan/Gerald Stourzh/Wolfgang Mueller (Hg.) : Der Österreichische Staatsvertrag. Internationale Strategie, rechtliche Relevanz, nationale Identität (= Archiv für österreichische Geschichte Bd. 140). Wien 2005. 56 Siegfried Beer : Early CIA Reports on Austria, 1947–1949. – In Günter Bischof/Anton Pelinka (Hg.) : Austrian Historical Memory & National Identity (= Contemporary Austrian Studies V). New Brunswick
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1997, S. 247–88. Beer : The CIA in Austria in the Marshall Plan Era, 1947–1953. – In Bischof/Pelinka/ Stiefel (Hg.) : Marshall Plan in Austria, S. 185–211. Oliver Rathkolb : Washington Ruft Wien. US-Großmachtpolitik und Österreich 1953–1963 : Mit Exkursen zu CIA-Waffenlagern, NATO-Connection, Neutralitätsdebatte. Wien 1997. Erwin A. Schmidl : Österreich im frühen Kalten Krieg ; Schmidl : Die Ungarnkrise 1956 und Österreich. Wien 2003. Walter Blasi/Erwin A. Schmidl/Felix Schneider (Hg.) : B-Gendarmerie, Waffenlager und Nachrichtendienste. Der militärische Weg zum Staatsvertrag. Wien 2005. Michael Gehler : Der lange Weg nach Europa. Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU, 2 Bde. Innsbruck 2002.Vgl. auch die von ihm und dem Innsbrucker Arbeitskreis Europäische Integration herausgegebenen Bände »Historische Forschungen«. Michael Gehler : Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik, 2 Bde. Innsbruck 2006 (vgl. meine Rezension in Historische Zeitschrift, 284 (Juni 2007]). Karner et al. (Hg.) : Prager Frühling, 2 Bde. Günter Bischof/Stefan Karner/Peter Ruggenthaler (Hg.) : The Prague Spring and the Warsaw Pact Invasion of Czechoslovakia (= The Harvard Cold War Studies Book Series). Lanham, Md 2008 [im Druck]. David Reynolds : Summits. Six Meetings that Shaped the Twentieth Century. New York 2007, S. 163–222 (Wien 1961). Stefan Karner (Hg.) : Geheime Akten des KGB. »Margarita Ottilinger«.Graz 1992. Gerald Steinacher : Südtirol und die Geheimdienste 1943–1945 (= Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte Bd. 15). Innsbruck 2000. Bisher sind 2 Jahrgänge erschienen (2007/2008). Dazu Frances Stonor Saudners : The Cultural Cold War. The CIA and the World of Arts and Letters. New York 1999. Hugh Wilford : The Mighty Wurlitzer. How the CIA Played America. Cambridge, MA 2008. Vgl. auch Radomir Luža : Research Note, My Files at the Czech Ministry of the Itnerior Archives, Prague, May 1995. – In Bischof/Pelinka (Hg.) : Austrian Historical Memory & National Identity, S. 289–292. Tsuyoshi Hasegawa : Racing the Enemy. Stalin, Truman , and the Surrender of Japan. Cambridge, MA 2005. McGeorge Bundy : Danger and Survival. Choices about the Bomb in the First Fifty Years. New York 1988. Lawrence Freedman : The Evolution of Nuclear Strategy. New York 1981. David Holloway : The Soviet Union and the Nuclear Arms Race. New Haven 1983. Ronald Powaski : March to Armageddon. The United States and the Nuclear Arms Race. New York 1987. Michael Sherry : The Rise of American Air Power. The Creation Armageddon. New Haven 1987. Ira Chernus : Apocalypse Management. Eisenhower and the Discourse of National Insecurity. Stanford 2008. Margot A. Henriksen : Dr. Strangelove’s America. Society and Culture in the Atomic Age. Berkeley 1997. Lawrence S. Wittner : The Struggle against the Bomb. Bd. 1 : One World or None : A History of the Nuclear Disarmament Movement Through 1953 ; Bd. 2 : Resisting the Bomb : A history of Nuclear Disarmament Movement 1954–1970 ; Bd. 3 : Toward Nuclear Abolition : A History of the World Nuclear Disarmament Movement 1971 to the Present. Stanford 1992–2003. Erwin A. Schmidl : Österreich und die ČSR-Krise 1968. Unveröffentlichtes Paper, vorgetragen auf der Jahrestagung der German Studies Association, St. Paul, MN 2008. Spencer Weart : Nuclear Fear. A History of Images. Cambridge, MA 1988. Die nukleare Angst der Deutschen war der Gegenstand von zwei Sektionen bei der Jahrestagung der German Studies Association 2008 in St. Paul, MN. Das Polittheater und die beinahe ins Hysterische überschwappenden Emotionen der Westberliner Bevölkerung beim Besuch von Präsident John F. Kennedy am 26. Juni 1963 (»Ich bin ein Berliner«-Rede) ist das Thema von Andreas W. Daum : Kennedy in Berlin. New York 2008. Es ist wohl symptomatisch, dass sich junge Zeitgeschichtler mit Film und der Diskursanalyse zur Atomarkultur beschäftigen, wenn sie sich in Österreich mit dem Atom beschäftigen, vgl. Ina Heumann/Julia B. Köhne : Imagination einer Freundschaft – Disneys Our Friend the Atom. Bomben, Geister und Atome im
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Jahre 1957. – In Zeitgeschichte 35/6 (2008), S. 372–95. Es muss hier auch explizit festgestellt werden, dass die Fachzeitschrift Zeitgeschichte immer wieder Aufsätze publiziert, die sich mit dem Zeitalter des Kalten Krieges beschäftigen. Melvyn Leffler : National Security. – In Hogan/Paterson (Hg) : Explaining, S. 123–36. Vgl. auch das bemerkenswerte Buch von Michael S. Hogan, in dem die permanente Furcht vor dem Abgleiten in einen militarisierten »garrison state« der Truman- und frühen Eisenhower-Administrationen im Mittelpunkt steht, A Cross of Iron. Harry S. Truman and the Origins of the National Security State 1945–1954. Cambridge 1998. Ernst Hanisch gehört (wie Stefan Karner) auch zur 1968er-Generation, und hat sich auch der Sozialgeschichte verschrieben, ist intellektuell aber anders sozialisiert worden als die meisten 68er, die ins linke Fahrwasser gerieten ; gerade die geschichtsmächtige »Linzer Schule«, die sich um den zurückgekehrten Emigranten Karl Stadler scharte (Gerhard Botz, Rudolf Ardelt, Helmut Konrad, Josef Weidenholzer), wäre hier zu analysieren. Die Geistesgeschichte dieser intellektuellen Lagerbildungen muss noch geschrieben werden. Hanisch hat selbst einen Anfang geschaffen, vgl. Die Dominanz des Staates. Hanisch : Die Dominanz des Staates, S. 63–66 (Zitat S. 65). Hanisch : Überlegungen zum Funktionswandel des Antikommunismus, 39–41. Vgl. auch Hanisch : Neuere Klagen über die österreichische Zeitgeschichteforschung in der alten Weise der österreichischen Jammerkultur. – In Böhler/Steininger (Hg.) : Österreichischer Zeitgeschichtetag 1993. S. 34–36. Auch Wolfgang Krieger beklagt die »Beliebigkeit« und den geistgeschichtlichen »Relativismus« der 1968er-Generation in Deutschland in ihren Interpretationen des Stalinismus und der DDR und moniert, es sei höchste Zeit, sich über Tabus und historische Fehlinterpretationen Gedanken zu machen, vgl. Der Kalte Krieg in der Geschichte der internationalen Beziehungen. Tatsachen, Tabus und unbequeme Fragen. – In Wolf-Dieter Gruner/Paul Hoser (Hg.) : Wissenschaft – Bildung – Politik. Von Bayern nach Europa : Festschrift für Ludwig Hammermayer zum 80. Geburtstag. Hamburg 2008. Zum Anti-Amerikanismus der »1968er«, vgl. auch Günter Bischof : Austrian Anti-Americanism after World War II. – In Thomas Michael Draxlbauer/Astrid M. Fellner/Thomas Froeschl (Hg.) : (Anti)-Americanisms. Wien 2004, S. 140–71. Hanisch : Die Dominanz des Staates, S. 66–75 ; Gehler : Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem, S. 189ff. Fritz Fellner/Doris A. Corradini (Hg.) : Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert : Ein biographisch-bibliographisches Lexikon. Wien 2007) (vgl. auch meine ausführliche Rezension in Contemporary Austrian Studies XVI [2008] : 318–327). Man wünschte sich, dass Stourzhs intellektuelle Wanderungen und geistige Mobilität zwischen Nachkriegsösterreich und den USA eine Vorbildwirkung auf junge Historikergenerationen haben mögen. Seine rege intellektuelle Neugier und Brillanz tritt bereits in seinen frühen Essays zu Tage, das war auch der Konsens der Würdigung auf der GSA in St. Paul. Gerald Stourzh : From Vienna to Chicago and Back : Essays on Intellectual History and Political Thought in Europe and America. Chicago 2007. Gehler, Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem. »Hinzu kam ein unterentwickeltes Rezensionswesen, die Konzentration der Forscher auf den eigenen Schrebergarten, wodurch kaum wissenschaftliche Debatten entstanden. Das ist wahrscheinlich das größte Manko in der österreichischen Zeitgeschichte.« Vgl. Hanisch : Die Dominanz des Staates, S. 60. Ich habe in den letzten Jahren zweimal von der fehlenden Kritikfähigkeit heimischer Zeithistoriker schmerzhafte Erfahrungen gemacht. Nach zwei kritischen Rezensionen von Büchern von Kollegen, wurde mir in einem Falle hochoffiziell die Freundschaft gekündigt, in einem anderem Fall bei jeder Gelegenheit die kalte Schulter gezeigt. Kollegen erwarten sich offensichtlich vom Rezensenten Schulterklopfen und Lob, jedoch keine Kritik.
Michael Mitterauer
Europaname Mohammed ? Interkulturalität und Namengebung
Kulturen der Namengebung stellen ein wesentliches Element historisch gewachsener Kulturräume dar. Namen stiften Identität. Sie machen »Eigenes« und »Fremdes« besonders deutlich erkennbar. Als sinnfällige Ausdrucksform kultureller Unterschiede bieten sie vielfältige Anknüpfungspunkte für die Austragung von Kulturkonflikten, ebenso aber auch für das Bemühen um interkulturelle Gemeinsamkeit.1 Der europäische und der islamische Kulturraum haben in ihrem Namengut wie insgesamt in ihrem System der Namengebung traditionell wenige Übereinstimmungen.2 Die Unterschiede reichen historisch weit zurück – in den Grundprinzipien bis ins Frühmittelalter. Sicher hat es in beiden Kulturräumen Tendenzen des Wandels und der Differenzierung gegeben. Aber Prinzipien der Namengebung sind in ihrer geschichtlichen Entwicklung stark beharrend. Trotz beschleunigten gesellschaftlichen Wandels in der Moderne wirken grundsätzliche Unterschiede bis heute nach. Die Zuwanderung von Arbeitsmigranten islamischen Glaubens nach Europa in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat in vielfältiger Weise Kulturunterschiede bewusst gemacht – nicht zuletzt in der Kultur der Namengebung.3 In welchem Maße Namen zum Kristallisationspunkt allgemeiner Kulturkonflikte werden können, zeigen Debatten in den Medien über Veränderungen in der Häufigkeit vergebener Vornamen. Am Beispiel der Verbreitung des Namens Mohammed in Europa soll diesem Problem nachgegangen werden.
Eine Verschwörung gegen »Mohammed«? Am 6. Jänner 2005 veröffentlichte die Londoner »Times« unter dem Titel »Mohamed the lad leaps up league of names« einen Beitrag über die Entwicklung der Namenshäufigkeit in England im vorangegangenen Jahr :4 »Mohamed was the fifth most popular boy’s name in England and Wales in 2004, according to new government data that illustrates the cultural diversity of England and Wales. The official annual survey of all 620,000 births registered in 2004 reveals that Jack and Emily were the most popular names given to babies in 2004. Jack has now been the top boy’s name for ten years while Emily has been most popular for two years. This year’s chart shows a
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number of new developments, including a big rise in popularity of the Muslim name Mohammed for boys and the first appearance in the girls’ list of the American name Madison. Mohammed made it into the top 20 for the first time in 2004, up two places from 2003. But when all 17 spellings (including Muhammad and Mohammad) are added up, it moves to fifth place in the chart, close behind Jack, Joshua, Thomas and James. In 2004 5,358 babies were named Mohammed (or another spelling of it). Fifty years ago there were 604.« Die Zusammenfassung der verschiedenen sprachlichen Varianten von Mohammed ist aus der Sicht einer Bedeutungsgeschichte des analysierten Namenguts sicher berechtigt. Alle Namensformen beziehen sich zweifellos auf den Propheten Mohammed, die primäre Identifikationsfigur der Glaubensgemeinschaft. Bei Jack, der Kurzform zu John, liegen die Dinge wohl anders. Nur wenige Eltern werden sich bei der Vergabe des Namens an Johannes dem Täufer orientiert haben. Ein Addieren der Nennungen von Jack und John macht so kaum Sinn. Hinter der zunehmenden Tendenz der Namengebung nach dem Propheten Mohammed hingegen steht sicher eine religiöse Entwicklungstendenz. Die »Times« setzte die Berichterstattung über den rasanten Aufstieg des Namens Mohammed in England fort. Am 6. Juni 2007 erschien ein Artikel unter der Schlagzeile : »Muhammad is No 2 in boy’s names.«5 Die Zeitung berichtete : »Muhammad is now second only to Jack as the most popular name for baby boys in Britain and is likely to rise up to No 1 by next year, a study by The Times has found. The name, if all 14 different spellings are included, was shared by 5,991 newborn boys last year, beating Thomas into third place, followed by Joshua and Oliver. Scholars said that the name’s rise up the league table was driven partly by the growing number of young Muslims having families, coupled with the desire to name the child in honour to the Prophet. Muhammad Anwar, Professor of Ethnic Relations at Warwick University, said : ›Muslim parents like to have something that shows a link with their religion or with the Prophet.‹ Allthough the official names register places the spelling Mohammed at No 23, an analysis of the top 3,000 names provided by the Office for National Statistics (ONS) puts Muhammad at No 2 once the 14 spellings are taken into account. If its popularity continues – it rose by 12 per cent last year – the name will take the top by the end of this year. It first entered the top 30 in 2000. The spelling Muhammad, like all transliterations, comes from replacing the Arabic script with what is deemed its closest Latin equivalent. There are many versions in Britain, depending on where the family are from and variations in pronounciation. Muhammad, which means ›one who is praisworthy‹ is often given to boys as honorary prefix and is followed by the name by which they are commonly known. It is regularly cited as as the most common name in the world, though there is no concrete evidence. Mufti Abdul Barkatullah, a former imam at the Finchley mosque in northwest London, said : ›Parents who name their son Muhammad believe that the name has an effect on their personality and future characteristics. They are saying that this
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boy will have a good character. Some people may not really understand the history of the Prophet Muhammad and the name but they will still want the association so they can be recognised as one of his followers.« Der Artikel bietet zusätzliche Erklärungen für die berechtigte Zusammenfassung der verschiedenen Namensvarianten. Vor allem gibt er plausible Erklärungen für die Häufigkeitszunahme in den letzten Jahren. Die Statements der befragten Gelehrten enthalten diesbezüglich weiterführende Ansätze : Sichtbarmachen der Religionszugehörigkeit, Ehrung des Propheten, Programm für die Persönlichkeitsbildung des Sohnes durch die Nachbenennung. So seriös alle diese Interpretationen erscheinen – was in der Öffentlichkeit aufgegriffen wurde, war die Prognose der Times-Studie : Mohammed wird im Vereinigten Königreich zur Nr. 1 ! Ein Rauschen ging durch den englischen Blätterwald und auch europäische Zeitungen griffen das Thema auf. Vielen Autoren diente die Studie als Beleg für eine zunehmende Islamisierung Europas. Nach den Prognosen von 2007 überrascht der Bericht über »Britain’s most popular baby names of 2008«. Er wurde am 29. Dezember 2008 in der »Times« veröffentlicht :6 »Britain’s most popular baby names of 2008 were Olivia for a girl and, once again, Jack for a boy, according to the annual survey by the Bounty parenting club«. Es folgen lange Abhandlungen über den Einfluss von Film- und Fußball-Stars auf die englische Namengebung. Islamische Gelehrte brauchen nicht mehr gefragt zu werden, da der Name Mohammed nicht vorkommt. Ähnliche Berichte finden sich in anderen großen englischen Zeitungen, die den Namen Mohammed als Nr. 1 für 2008 prognostiziert hatten, etwa in »The Guardian« und »The Daily Telgraph«. Auch gleichzeitig veröffentlichte Namensstatistiken zeigen, dass der Name plötzlich fehlt.7 Der Sachverhalt erregt Aufsehen. Kritische Stimmen finden sich im Internet : »Why is the name Mohamed (and its variants) missing from the top names of 2008 ?«, »Is there a conspiracy to keep ›Mohammed‹ out of the most popular name list ?«8 Was war geschehen ? Das »Office of National Statistics« hatte sich aus Gründen der Kostenersparnis entschieden, keine Namensstatistik mehr zu veröffentlichen. Die privaten Institutionen, die diese Aufgabe übernahmen – unter ihnen auch Bounty – zählten den Namen Mohammed nicht mehr. »Lies, damned lies and statistics all seem to have conspired to keep ›Mohammed‹ from the Number One slot of the UK’s most-popular names«, meint der zuletzt genannte Kommentator. Es muss sich schon um ein sehr heißes Thema handeln, wenn solche Kommentare in einer seriösen Publikation formuliert werden. An der Jahreswende 2008/09 – beim Vorliegen der statistischen Ergebnisse des abgelaufenen Jahres – sind die Internet-Seiten über Namengebung voll von Berichten über das Vorrücken des Namens Mohammed in Europa. Unter dem Titel »Les nouveaux prénoms européens« etwa werden zunächst typische herkömmliche Namen einzelner europäischer Regionen aufgezählt wie Nicolas oder Sebastien für Frankreich, Jack und James für England oder Stefan und Andreas für Deutschland. Dann
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heißt es :9 »L’immigration de masse a bien entendu bouleversé ce paysage traditionnel. Depuis au moins 7 ans, le prénom le plus donné à Bruxelles est Mohamed. En Angleterre, c’est maintenant Mohamed (Muhammad). En Seine-Saint-Denis, c’est Mohamed. À Marseille c’est Mohamed. À Oslo en Norvège, c’est Mohamed. À Malmö en Suede, c’est Mohamed. À Amsterdam et à Rotterdam, c’est Mohamed. À Milan, c’est Mohamed.« Ein ähnliches Bild der europäischen Namengebung – allerdings mit der Korrektur von Mohammed in England und Malmö auf Platz 2 – findet sich unter dem bezeichnenden Titel »Mohamed, ou la nouvelle démographie eurabienne«.10 Brüssel wird in Hinblick auf die Namengebung im Hauptstadtdistrikt als »Muhammad-City« bezeichnet.11 Dass Mohammed in der »europäischen Hauptstadt« schon seit Jahren der am häufigsten gegebene Vorname von Knaben ist, deutet man als besonders eklatantes Zeugnis für die Islamisierung Europas. »Aus Jan wird Mohammed« heißt es nüchterner für die Entwicklung in Amsterdam :12 »Die Hälfte der Bevölkerung Amsterdams stammt inzwischen aus Migrantenfamilien, und der Vorname Mohammed hat den traditionell niederländischen Jan bei den Neugeborenen schon längst abgelöst.« Stärker kämpferisch ist das Vokabular, wenn es über Mailand heißt : »Muhammad takes Milan by Storm.«13 Der Befund stützt sich auf die Namenvarianten Mahmoud, Ahmed und Hamid, die für die Umwelt weniger deutlich als der Name Mohammed auf den Propheten verweisen. Trotzdem machten sich die Kommunalbehörden – von der Namenstatistik ausgehend – über das Anwachsen der muslimischen Gemeinde Sorgen. Die kulturellen Charakteristika der Stadt könnten sich verändern. Ähnliche Tendenzen der Namenhäufigkeit werden für Rom berichtet.14 In Marseille wurde 2007 Mohammed zum Spitzennamen. Unaufgeregt titelte »France Soir« : »Prénoms Mohamed et Inès en tête à Marseille«.15 Und für das Departement Seine-Saint-Denis hieß es am 23. Jänner 2009 : »Mohamed, toujours premier prénom Seine-SaintDenis.«16 Das Department gehört zur »banlieue« von Paris, die schon seit langem Wohngebiet muslimisch-nordafrikanischer Zuwanderer ist. Der Name Mohammed hatte dort bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren Höhepunkte erreicht, erneut dann nach der Jahrtausendwende. Die Zunahme seiner Häufigkeit kam hier weniger überraschend. Trotzdem wird das Department Seine-Saint-Denis auch immer wieder als Beleg für eine aktuelle Islamisierungswelle angeführt, die im Namen Mohammed ihren Ausdruck findet. Die Provokation, die in der Charakteristik von Mohammed als »nouveau prénom Européen«, als »neuer Europaname« steckt, wirft Probleme auf, denen hier näher nachgegangen werden soll.
Namensränge Plakative Berichte in den Medien, die die zunehmende Häufigkeit des Namens Mohammed als Zeichen einer zunehmenden Islamisierung deuten, sind in verschiede-
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ner Hinsicht kurzschlüssig – sowohl als quantitativer als auch als qualitativer Befund. Wenn etwa aus der Namensstatistik abgeleitet wird, dass der Name des Propheten Mohammed einen traditionsreichen christlichen Namen vom Platz eins »verdränge«, so wird dadurch ein unzutreffender Sachverhalt suggeriert. Es verdrängt hier nicht eine neue, fremde Namenkultur eine alte bodenständige – und schon gar nicht eine religiöse Kultur insgesamt eine andere. Statistisch geht es bei den Rangplatzverschiebungen unter den am häufigsten vergebenen Vornamen um minimale Veränderungen in der Größenordnung von Promillen. In Hinblick auf die enorme Breite des heute in europäischen Ländern vergebenen Namenguts kann aus Verschiebungen unter den Spitzenplätzen keineswegs auf grundsätzliche kulturelle Veränderungsprozesse geschlossen werden. Schon gar nicht sind sie als unmittelbare Entsprechung zum jeweiligen Anteil von Zuwanderern aus islamischen Ländern zu deuten.17 Die Zusammenhänge sind diesbezüglich komplizierter. In Norwegen etwa beträgt der Anteil der muslimischen Bevölkerung nur 1–2 %. Auch in der Hauptstadt Oslo, wo der Name Mohammed den Platz eins einnimmt, liegt er im Vergleich zu anderen europäischen Hauptstädten nicht besonders hoch. Sicher haben die meisten Großstädte, in denen der Name Mohammed in der Namenshäufigkeit weit vorne liegt, auch einen hohen Anteil von Migranten aus islamischen Ländern – Marseille und Malmö etwa 25 %, Amsterdam 24 %, Brüssel 17–20 % oder Rotterdam 13 %. In den jeweiligen Staaten, zu denen diese Städte gehören, ist dieser Bevölkerungsanteil jedoch keineswegs durchgehend hoch – etwa in Schweden 3–4 %, in Belgien 4–5 %, in Frankreich und den Niederlanden 5–10 %. In Hinblick auf solche Werte ist die vielfach polemisch gebrauchte Wortbildung »Eurabien« sicher unzutreffend. Umgekehrt gibt es europäische Staaten mit einem gleich hohen Anteil an muslimischer Bevölkerung, in denen der Name Mohammed weder in den Zentren noch in der Gesellschaft insgesamt ähnlich häufig vergeben wird. Das gilt etwa für Deutschland mit einem Anteil von 3–4 % oder Österreich mit 4–5 %. Offenbar hängt dieses Phänomen – zumindest partiell – mit unterschiedlichen Mustern der Namengebung in den jeweiligen Zuwandererländern zusammen. Die aus Nordafrika stammenden Migranten in Frankreich und den Benelux-Staaten bringen offenbar, obwohl ebenso islamisch, ein anderes Namengut mit als die Türken, Kurden, Kosovaren, Albaner, Bosnier und Mazedonier, aber auch Tschetschenen oder Perser in Deutschland und Österreich. Einen Extremfall stellen wohl die muslimisch-albanischen Arbeitsmigranten in Griechenland dar, bei denen islamisches Namengut schon in ihrem Herkunftsland keine große Rolle spielte und in Hinblick auf die Beschäftigungschancen in ihrem Gastland dann auch häufig gewechselt wurde.18 Die Religionszugehörigkeit erscheint im Namen nicht mehr erkennbar. Solche Phänomene machen darauf aufmerksam, dass sich muslimische Migranten nach ihrer Zuwanderung in die Europäische Union in ihrer Namengebung unterschiedlich verhalten und dieses Verhalten auch wiederum wechseln. Quantitative und qualitative Aspekte solcher Entwicklun-
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gen seien in einer Fallstudie für Österreich mit einer Fokussierung auf Wien skizzenhaft erläutert. Für Wien liegen Vornamenstatistiken aus der Zeit von 1918 bis zur Gegenwart vor. Detaillierte Angaben von Namensvarianten und Häufigkeitsverteilungen stehen ab 1984 für ganz Österreich sowie jedes einzelne Bundesland zur Verfügung – bis 1999 in 5-Jahres-Gruppen zusammengefasst, bis 2007 für den gesamten Zeitraum kumuliert.19 Aus der Gegenüberstellung früherer Erhebungen und nahe an die Gegenwart heranreichender kumulierter Daten ergeben sich klare Tendenzen. Ergänzende qualitative Angaben über Motive der Namengebung, Bewertungen von Namen und andere subjektive Momente können den diversen Diskussionsforen zu den jeweiligen Vornamen im Internet entnommen werden.20 Sie entstammen dem gesamten deutschsprachigen Raum und lassen sich in der Regel nicht lokal zuordnen.
Heilige und Propheten Ein Blick auf die Langzeitentwicklung des Namenguts in Wien bestätigt die eingangs getroffene Feststellung, dass sich europäisch-christliches Namengut sehr deutlich von islamischem unterscheidet. Kaum einer der von muslimischen Migranten mitgebrachten Namen findet in der überkommenen Namengebung der autochthonen Bevölkerung eine unmittelbare Entsprechung. Soweit sich überhaupt Zusammenhänge herstellen lassen, sind sie durch ein Nebeneinander spezifischer Namensvarianten gegeben, die in unterschiedlichem kulturellem Kontext geformt wurden. An zwei Beispielen seien solche Ansätze der Interkulturalität illustriert, nämlich Josef und Michael. Josef war in Wien seit alters ein häufig gegebener Name. Vor 1918 lag er unter den vergebenen Männernamen am zweiten Platz und noch 1946–1949 am fünften. Sein arabisch-türkisches Äquivalent Yusuf/Yusef begegnet schon vor 1989 und seither mit leicht steigender Tendenz. Zum Diskussionsforum des Namens trägt am 3. März 2008 ein Yusuf Y. die Bemerkung bei : »Ich bin stolz auf den Namen, weil es der Name eines Propheten ist, der die Hälfte der Schönheit bekommen hat, was Allah erschuf.« Und eine Rabia fügt etwas später hinzu : »Yusuf ist ein Prophetenname, wie es jedem bekannt ist.« Der Prophet Yusuf wird im Koran 27-mal genannt. Die 12. Sure erzählt seine Geschichte. Er ist nicht der Nährvater Jesu aus dem Neuen Testament, sondern der von seinen Brüdern verkaufte Patriarchensohn aus dem Alten – der »ägyptische Josef« der christlichen Tradition. Die christliche Namengebung nach dem heiligen Josef kam im Spätmittelalter auf und entwickelte sich vor allem in den katholischen Ländern sehr stark. St. Josef wurde als Helfer für eine gute Todesstunde verehrt, weil man glaubte, dass Jesus bei seinem Tod gegen-
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wärtig war.21 Die Begleitung in der Sterbestunde und auf dem Weg ins Jenseits war eine besondere Erwartung an Namenspatrone. Dementsprechend häufig wurden Kinder nach solchen Patronen benannt.22 Die Vorstellung, durch die Namengebung nach Heiligen Fürbitter bei Gott zu gewinnen, führte zu der in katholischen Ländern weitverbreiteten Sitte, Kinder auf mehrere Heiligennamen zu taufen.23 Ohne diesen religiösen Hintergrund spielen Doppelnamen in der europäischen Namengebung heute eine zunehmende Rolle. Auch unter Muslimen gewinnt diese Sitte an Bedeutung.24 Christliche Heilige konnten für Knaben und Mädchen in gleicher Weise Fürbitter sein. So findet sich auch die Femininform zu Josef, nämlich Josefa oder Josefine, relativ häufig. In Wien lag sie vor 1918 in der Rangliste der vergebenen Vornamen an zehnter Stelle. Prophetennamen des Korans hingegen fungierten für die Namengebung nicht wie christliche Heiligennamen. Sie wurden und werden ja nicht mit der Intention der Fürbitte bei Gott vergeben, sondern als persönliches Vorbild. Eine Nachbenennung von Mädchen nach ihnen kommt deshalb nicht in Frage.25 Für diese stehen Namen der Frauen, Mütter und Schwestern der Propheten zur Verfügung. Die Namen der im Koran genannten Propheten werden in der islamischen Tradition gerne vergeben.26 Auch in Österreich treten sie in den letzten Jahren zunehmend häufiger auf, etwa Adam/Adem (Adam), Nu (Noe, Noah), Ibrahim (Abraham), Ishaq (Isaak), Ismail (Ismael), Yaqub (Jakob), Yusuf (Josef), Musa (Moses), Harun (Aaron) Dawud (David), Sulayman (Salomon), Ayyub (Hiob), Ilyas (Elias) und Yunus (Jonas). Gestützt wird diese Nachbenennung nach Propheten des Korans wohl indirekt durch puritanische Namengebungstraditionen nach Gestalten des Alten Testaments, die über die USA nach Europa ausstrahlen. Das Nebeneinander unterschiedlicher Namensvarianten könnte zu einer gegenseitigen Verstärkung geführt haben. Aus der islamischen bzw. der europäischen Tradition stammende Namensvarianten dürften allerdings nicht so ohne Weiteres auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sein. Als es in den frühen Neunzigerjahren um die Namengebung der Tochter eines türkisch-österreichischen Paares ging, meinte die Mutter :27 »Ich wollte meiner Tochter gerne als zweiten Namen ›Maria‹ geben ; so heißt in meiner Familie niemand, aber er ist so klassisch österreichisch, ich wollte einen Ausgleich. Maria ist als Mutter Jesu auch den Muslimen eine verehrungswürdige Person, und mein Mann hatte von daher nichts dagegen. Er meinte aber, dann sollte man doch auf jeden Fall die Originalform des Namens nehmen, Miriam oder Meryem oder Maryam. Dann habe ich es aber doch gelassen, weil es meinen Zweck so nicht erfüllt hätte.« Es gibt wenige koranisch-alttestamentliche Namen, die in ihren jeweiligen Formen keinen Unterschied erkennen lassen. Von den Prophetennamen ist in diesem Zusammenhang vor allem Adam zu nennen. Weiters gehört hierher Sarah/Sara, der Name der Frau Ibrahims/Abrahams, die in einem Hadith namentlich genannt wird, im Koran selbst allerdings nur ohne Namensnennung (Sure 11,74).28 Ihr Name ist heute ein führender Mädchenname – sowohl im islamischen Nord-
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afrika wie in Österreich.29 Bei Yusuf/Josef verhält es sich anders. Der neuerdings gehäuft auftretende Yusuf ist sicher keine Fortsetzung des bodenständigen Josef. Vor allem wird er in einem ganz anderen Verständnis vergeben. Bei Yusuf ist das koranische Namensvorbild bis heute präsent. Bei Josef hingegen wird, soweit der Name in Wien überlebt hat, kaum mehr nach dem einst so wirkkräftig geglaubten christlichen Namenspatron nachbenannt. In den Diskussionsforen findet sich kein Hinweis auf den christlichen Heiligen mehr, hingegen die polemische Eintragung : »So viele schlechte Menschen fallen mir bei keinem anderen Namen ein : Josef Stalin, Josef Goebbels, Josef Mengele, Josef Fritzl.« Neben dem Propheten- bzw. Heiligennamen Yusuf/Josef stellt der Engelsname Mikail/Michael ein Bindeglied zwischen christlicher und islamischer Namengebung dar. Der Name Michael war in Wien vor 1918 eher selten und kam in der ersten Jahrhunderthälfte nicht über den Platz 27 hinaus. Seine große Zeit liegt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Spitzenplätzen über die Jahrtausendwende hinaus. Mit über 36.000 Nennungen zwischen 1984 und 2007 führte er in Österreich die Top-Liste der beliebtesten Namen an. Er wurde in vielen Zusammensetzungen und Varianten vergeben, darunter schon seit 1984 in der Form Mikail, die auf arabisch-islamischen Ursprung verweist. Parallel zur dominanten einheimischen Form stieg auch die islamische deutlich an. Hier ist wahrscheinlich ein Zusammenhang gegeben. Wie die vielen anderen Varianten des führenden Namens – Michél, Michele, Miguel, Mike etc. – wurde auch Mikail offenbar als eine zulässige Verfremdung des führenden Namens der eigenen Kultur gesehen. So war die Namensform für das soziale Umfeld akzeptabel. Die Differenzierung als Ausdruck von Individualisierung – ein allgemeines Charakteristikum der neueren Namenentwicklung – führte ja damals generell in diese Richtung.30 Sucht man Motive der Namengebung zu erfassen, so ergeben sich allerdings Unterschiede : »Hi Leute, mein Name ist auch Mikail. Das ist ein nicht verbreiteter Name und aus diesem Grund was Besonderes. Wisst den Namen zu schätzen und versucht wenigstens annähernd euch wie ein Engel zu benehmen«, schreibt einer der vielen Mikails, die sich bewusst sind, einen Engelsnamen zu tragen. Dass man sich dem Namensvorbild oder der Namensbedeutung entsprechend verhalten soll, ist auch sonst ein vielfach wiederkehrendes Moment muslimischen Namensbewusstseins. Andere Wortmeldungen zu Mikail wie »anstatt immer so die Standardnamen wie Mehmet, Murad und so« oder »Er kann international ausgesprochen werden« deuten in eine ähnliche Richtung innovativer und modernisierter Namengebung. Analysiert man das parallele Diskussionsforum zum Namen Michael, so fehlen religiöse Motive der Namenswahl. Der Namenspatron wird nicht erwähnt. Es fühlt sich niemand verpflichtet, wie ein Engel zu leben. Und auch der theophore Namenssinn erscheint ohne Bedeutung. Hinweise finden sich auf Väter, Brüder, Freunde und Kollegen, die so heißen. Mehr oder minder stark werden also nahestehende Personen mit dem Namen assoziiert. Das Prinzip der
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Nachbenennung begegnet gelegentlich noch. Für die Namengebung wesentlich erscheint aber sein Klang sowie die mögliche Vielfalt abgeleiteter Rufnamen. Übereinstimmung besteht im Verweis auf die Internationalität des Namens, die sich durch den Vergleich von Statistiken beliebter Namen weltweit durchaus verifizieren lässt. Einen wesentlichen Unterschied zwischen Michael und Mikail stellt, wie schon bei Josef und Yusuf erläutert, die Möglichkeit der Feminisierung dar. Michaela steigt in Österreich mit einer gewissen Verzögerung parallel zu Michael an. Hingegen findet sich bis 2007 nur eine einzige Mikaila, bei der es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht um eine Muslima handelt. Der islamischen Namengebung fehlen Femininbildungen zu den traditionellen Namentypen nach Vorbildgestalten der Religionsgemeinschaft – zu den Engelnamen genauso wie zu den Prophetennamen oder den Namen der Gefährten Mohammeds. Dieser Unterschied zur christlichen Namengebung mit seiner Benennung nach Heiligen ist systemisch bedingt. Das islamische Namengut erhält dadurch eine andere Struktur, dem auch die in islamischen Gesellschaften traditionell stark polarisierten Geschlechterrollen entsprechen. Die Namenkultur korrespondiert so mit umfassenden soziokulturellen Strukturen.
Namen, die das Paradies verheißen In diesem gegenüber genuin christlichen Gesellschaften stark kontrastierenden islamischen Namengut dominiert ganz eindeutig der Name des Propheten Mohammed in seinen verschiedenen sprachlichen Varianten bzw. seine verschiedenen Beinamen wie Ahmad oder Mustafa.31 Auch in Österreich und hier wiederum vor allem in Wien ist in den letzten Jahren eine starke Zunahme dieser Namen erkennbar, wobei sich die Entwicklung offenbar seit der Jahrtausendwende beschleunigt. In ganz Österreich wurde der Name Mohammed 1984/9 19-mal, bis 2007 aber dann insgesamt 309-mal vergeben, Mohammad 1984/9 7-mal, bis 2007 48-mal, Mohammed 1984/9 12-mal, bis 2007 76-mal ; Muhammad fehlte 1984/9 gänzlich, bis 2007 stieg er auf 27 Nennungen ; Muhammed begegnet 1984/9 ein einziges -mal, bis 2007 wurde er insgesamt 530-mal vergeben. Besonders beachtenswert erscheint die Steigerung der türkischen Namensform Mehmet von 6 in den Jahren 1984/9 auf 334 bis 2007. Türken stellen in Österreich die stärkste islamische Zuwanderergruppe dar. Ahmed/Ahmet stieg im selben Zeitraum von 27 auf 590, Mustafa von 7 auf 304. Würde man die verschiedenen Namensvarianten von Mohammed addieren, wie das für England gemacht wurde, so ergäbe sich daraus wohl auch in Österreich ein vorderer Rangplatz, allerdings sicher nicht unter den Top Ten. Nach einzelnen Namensvarianten ausgezählt ergab sich in Wien 1995/9 für Mohamed Platz 84, für Muhammed Platz 86 und 2007 für Muhammed unter 60 ausgewiesenen Rängen Platz 35. Ein deutlicher Anstieg ist unverkennbar.
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Dass der Name des Propheten seit den Anfängen der Religionsgemeinschaft in der Namengebung eine privilegierte Stellung einnimmt, steht außer Zweifel.32 Mohammed soll gesagt haben : »Wer immer sein Kind mit meinem Namen nennt oder einem meiner Kinder oder Gefährten, aus Liebe zu mir oder zu ihnen, dem wird Gott im Paradies geben, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat.« Und auch im Diesseits wird der Name des Propheten als besonders wirkmächtig angesehen : »Es gibt keine Beratung von Leuten, von denen einer Muhammad oder Ahmad heißt, ohne dass Gott die ganze Versammlung segnet« – eine Zusage, die Namengebung mit politischer Partizipation in Verbindung bringt. »Nennt eure Kinder nach dem Propheten«, wird empfohlen. »Wenn du hundert Söhne hast, nenne sie alle Mohammed« lautet eine alte islamische Spruchweisheit. Nicht hundert, aber doch mehrere Söhne Mohammed zu nennen und trotzdem im Namen zu differenzieren wird dadurch möglich, dass der Name in verschiedenen Varianten bzw. nach verschiedenen Beinamen des Propheten gegeben werden kann. Anders als das Christentum besitzt der Islam seit seiner Frühzeit klare Regeln der Namengebung. Sie verleihen dem Prophetennamen eine bevorzugte Position. Die häufige Vergabe des Namens Mohammed in Migrantenfamilien steht also in einer sehr alten Tradition. In Hinblick auf den raschen Anstieg des Namens Mohammed und seiner Varianten in den letzten Jahren erscheint es verwunderlich, dass die Diskussion um seine Vergabe durchaus kontrovers verläuft. Dazu einige Stimmen aus der deutschsprachig im Internet geführten Debatte : »Ich bin auch Moslem ; ich persönlich würde mein Kind nicht Muhammed nennen, dieser Name ist einfach zu heilig.« Die besondere Heiligkeit des Namens kann also nicht nur für die Vergabe sprechen, wie man zunächst vermuten würde, sondern auch gegen sie. Eine andere Stellungnahme greift den Gedanken noch anschaulicher auf. Ein Mehmet meint : »Ich bin einfach dagegen ! Ich bin auch Moslem, aber würde mein Kind nicht nach dem Propheten nennen. Ich finde es einfach nicht schön. Selbstverständlich liebe und ehre ich Muhammed, aber ein Kind nach ihm nennen und es mit seinem Namen anschimpfen, das muss nicht sein. Es gibt genug schöne Namen, die nicht eine so große Bedeutung haben. Mehmet z. B. ist eine Alternative für Muhammed.« Sieht man Mehmet bloß als die türkische Form von Mohammed, so bleibt diese Stelle unverständlich. Im Türkischen gibt es bei der Vergabe des Prophetennamens eine wichtige Differenzierung. Mohammet bzw. Muhamet kann nicht wahllos vergeben werden, weil man nicht sicher ist, ob das Kind dem Namen gerecht wird. In der abweichenden Vokalisation Mehmet hingegen konnte er ohne Bedenken übertragen werden.33 In manchen muslimischen Kulturen wird das Problem so gelöst, dass der Sohn ehrenhalber als ersten Namen Mohammed erhält, der aber im Alltag nicht gebraucht wird und gegenüber einem zweiten zurücktritt. Das dem Namen vorangestellte »M.« oder »Md.« deutet auf eine solche Namenspraxis. Die Vorstellung, eine Beschimpfung des nach dem Propheten benannten Kindes könnte auf den Propheten selbst bezogen werden, geht
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von einem sehr magischen Denken über die Wirkkraft von Namen aus, wie sie sich durchaus auch in christlicher Tradition findet.34 Abgewandelt kommt sie in der Idee zum Ausdruck, gleicher Name müsste gleiches Verhalten bewirken : »Muhammed – viele Moslems heißen so, ich auch. Aber viele, die Muhammed heißen, benehmen sich nicht, wie die sich benehmen sollen«. Der Gedanke, dass der religiös so bedeutungsvolle Name eine entsprechende Lebensgestaltung bewirken müsste, wird durch einen Diskutanten vom Konzept des Lebenslaufs als persönlicher Entwicklungsperspektive her in Frage gestellt : »Was ist eigentlich ein ›christliches (respektive ›moslemisches‹) Kind ? ! Religionszugehörigkeit ist genauso wie politische Anschauungen eine Angelegenheit der ganz persönlichen Überzeugung und freien Entscheidung. Wie ein Säugling – ganz gleich welche Abstammung – dazu kommen soll, ist mir schleierhaft … Egal, woher dein Mann stammt : Dadurch ist nicht vorgezeichnet, welchen Weg dein Kind einmal gehen wird, oder ? Mit Muhammad etc. verhält es sich genau wie mit Gotthilf und Traugott : Wenn der Träger später Atheist wird, hat er ein Problem.« Diese Gedanken – an eine in bikultureller Ehe lebende Mutter gerichtet – sprechen sehr grundsätzliche Probleme an, die sich einer traditionell muslimischen Namengebungspraxis in Europa heute stellen. Sehr deutlich kommt in den Namengebungsdiskussionen zum Ausdruck, dass es sich bei Mohammed um einen Namen der Abgrenzung handeln kann : »Mohammed ist wirklich nur ein Name für Moslems. Als Nichtmoslem macht man sich lächerlich, wenn man sein Kind Mohammed nennen würde. Aus gleichem Grund nennen Moslems ihre Kinder auch nicht Christian.«35 Dem wird entgegengehalten : »Es stimmt, wir nennen unsere Kinder nicht Christian, aber wir nennen unsere muslimischen Kinder auch Isa und Isa ist Jesus«. Isa wird im Koran zu den Propheten gerechnet. Die Namengebung ist also real rein islamisch, nicht Religionsgrenzen überschreitend. Ein Isa-Christian, der in den letzten Jahren in Österreich zur Welt kam, bleibt eine schwer einzuordnende Kuriosität. Dass der Name Mohammed von nichtmuslimischer Seite eine gewisse Attraktivität bekommen könnte, wird aus einer Bemerkung ersichtlich, mit der das Diskussionsforum schließt : »Andere Mütter und Väter, die den Jungennamen Mohammed schön fanden, interessierten sich auch für folgende Vornamen : Nikolaus-Jürgen, Per-Henrik, Peter-Hubertus, Philipp-Gerhard, Rainald und Rudolf-Holger.« Über eine Interessenbekundung scheint diese eigenartige Namenmischkultur noch nicht hinausgekommen zu sein. Das hier analysierte Diskussionsforum über die Vergabe des Namens Mohammed bringt überwiegend Stellungnahmen, die den Namen »schön« finden. »Schön« wird dabei nicht mit Ästhetik des Klangs in Zusammenhang gebracht. »Also ich finde den Namen so schön, weil der Prophet so heißt« ist dem Sinn nach eine mehrfach wiederkehrende Formulierung. Vereinzelt wird das anders gesehen : »Ich hab nichts gegen den Namen Muhammed an sich, aber die Muhammeds, die ich bisher kennengelernt habe (fünf im Gesamten) waren alle miteinander verbohrte Idioten, einer
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schlimmer als der andere.« Dem wird entgegengehalten : »Schäm dich ! Nur weil du ein Problem mit den fünf Muhammeds hast ! Was hat der Name mit dem Charakter des Menschen zu tun ? Einfach lächerlich deine Einstellung ! Übrigens : Muhammed ist ein sehr, sehr schöner Name !« Hier wird ein Spannungsfeld sichtbar, das sich bei religiöser Namengebung in der Moderne insgesamt stellt – auch unter Christen. Neben die Bedeutung der religiösen Vorbildgestalt treten Assoziationen an wenig geschätzte Zeitgenossen. Es kann dadurch zu Überlagerungsphänomenen kommen, bei denen die zeitlich nahen Personen die historisch älteren Bedeutungsfelder verdecken. Am Beispiel des Vornamens Josef wurde ein solches Phänomen schon angesprochen. Beim Prophetennamen Mohammed spielen solche Beeinträchtigungen derzeit aber sicher nur eine untergeordnete Rolle. Bezeichnend für die Ambivalenz, die sich bei der Vergabe des Namens Mohammed einstellen kann, ist auch ein anderer Beitrag des Diskussionsforums : »Ich bekomme einen Jungen. Nun weiß ich noch immer nicht, wie ich meinen kleinen Engel nennen soll. Ich bin auch – elhamdulillah – Muslimin. Und ein muslimischer Name wäre wunderschön. Zudem muss ich auch gleichzeitig bedenken, dass mein Baby hier in Deutschland aufwachsen wird. Ich möchte nicht, dass mein Sohn später Probleme im Kindergarten und anschließend in der Schule bekommt. Sprich : gemobbt wird, gehänselt wird … Muhammed ist natürlich ein schöner Name genauso wie Ali, Mehmet, Hasan, Hüseyin. Es sind besondere Namen, die eine wunderschöne Bedeutung haben. Aber sind wir ehrlich : Heißt nicht jeder fünfte Türke oder Muslim so ? ! Wo es so viele schönen Namen gibt. Ich liebe und schätze diese Namen sehr … und ich akzeptiere auch Meinungen anderer, die diese Namen nicht schön finden. Mein Favorit ist zum Beispiel Denniz. Ein schöner Name ! Bei uns Türken hat dieser Name auch eine schöne Bedeutung : das Meer ! Und im Deutschen gibt es diesen Namen auch.« Die Überlegungen der Schreiberin dieser Zeilen treffen wesentliche Probleme der Integration : Bei aller Wertschätzung islamischer Traditionsnamen – wie wird es dem Sohn als Mohammed in Kinder- und Jugendgruppen gehen ? Ist da nicht ein interkulturell besser verträglicher Name eher ratsam ? Denniz ist in beiden Kulturen verankert. Die türkische Bedeutung scheint der Mutter geläufig. Dass die vermeintlich deutsche über Frankreich nach Griechenland führt, wird ihr wohl eher unbekannt sein. Entscheidend erscheint, dass sie Denis der Namenkultur ihres Gastlandes zurechnet. Das Bestreben, sich mit den Namen der Kinder mehr oder minder stark an die Zuwanderungskultur anzupassen, begegnet bei Migranten häufig. Das lässt nach Alternativen zu prononciert religiösen Namen des Herkunftslands suchen. Dem Namen Deniz hat diese vermittelnde Position im deutschsprachigen Raum zu einem beachtlichen Aufschwung verholfen. Mit seiner zunehmenden Häufigkeit wird allerdings das vermeintlich Besondere des neuen Namens vielleicht bald wieder verloren gehen. Ein zusätzliches Spannungsfeld um die Vergabe des Namens Mohammed ergibt sich aus der zunehmenden Brüchigkeit des Prinzips der innerfamilialen Nachbe-
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nennung bei Zuwanderern aus der islamischen Welt. »Mein Vater hieß Mohammed und für mich war er mein Prophet. Deshalb ist der Name für mich heilig und ich respektiere alle, die diesen Namen tragen«, lautet eine Eintragung im Diskussionsforum zum Baby-Namen Mohammed. Die Verbindung, die hier zwischen dem Religionsstifter und dem eigenen Vater hergestellt wird, ist sicher gewagt. Dass für die Schreiberin dieser Zeilen beide Gestalten für die Namenbedeutung wie für die Namengebung zusammenfließen, erscheint offenkundig. »Mein verstorbener Opa hieß Muhamed und ich möchte ihm auf diesem Weg ein kleines Denkmal setzen«, heißt es in einem anderen Beitrag. In Gesellschaften, in denen die Nachbenennung nach Eltern bzw. Großeltern praktiziert wird, führt dieses Prinzip notwendig zu einer gewissen Statik des Namenguts. In der Türkei etwa ist der Name Mehmet in der männlichen Bevölkerung bei Weitem führend und wurde in der Benennung von Söhnen erst nach der Jahrtausendwende vom ersten Platz verdrängt – offenbar als Folge einer Lockerung des Prinzips innerfamilialer Nachbenennung.36 Der Wunsch nach Neuerung kommt in der zuvor referierten Argumentation für Denniz deutlich zum Ausdruck. In den meisten europäischen Ländern ist der Brauch der Nachbenennung nach Verwandten als dominantes Prinzip der Namengebung schon lange abgekommen. Der neue Name für ein neues Wesen gehört zu den grundsätzlichen Konzepten einer individualisierten Gesellschaft.37 Wird dieses Konzept von muslimischen Familien übernommen, so ergeben sich daraus für die weitere Entwicklung der Namengebung mit religiösen Traditionsnamen sicher gravierende Folgen.
Religiös bedeutsame Namen Die Zunahme des islamischen Namenguts in Österreich zu Ende des 20. und vor allem dann zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist ganz stark auf den Namen Mohammed bzw. seine verschiedenen Varianten – vor allem den türkischen Mehmet – konzentriert. Auch bei anderen islamischen, ebenso aber auch türkischen Einzelnamen bzw. Namengruppen zeigt sich die charakteristische Entwicklung eines langsamen Anstiegs auf niedrigem Niveau in den 80er- und 90er-Jahren sowie eines anschließenden raschen Aufschwungs nach der Jahrtausendwende. Das gilt etwa für die besonders traditionsreiche Gruppe der »Diener Gottes«-Namen. Die »99 schönen Namen Allahs« dürfen in islamischen Gesellschaften nicht unmittelbar an Menschen vergeben werden, sondern nur mit dem Zusatz »Abd« d. i. »Diener«.38 Ein uraltes Muster orientalischer Namengebung erfährt in diesen Abd-Namen eine reiche Entfaltung.39 Der unmittelbare Bezug auf Gott macht ihre Vergabe besonders erstrebenswert. Ihr hoher Rang in der islamischen Namengebung erscheint auch durch überlieferte Worte Mohammeds grundgelegt : »Nennt eure Kinder nach dem Propheten, aber die besten Namen in den Augen Gottes sind Abdullah (Diener Gottes) und Abdur-
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Rahman (Diener des Barmherzigen).«40 Zum Aufschwung des islamischen Namenguts in Österreich hat dieser Typus von Namen allerdings zunächst nur wenig beigetragen. In den Jahren 1984–89 findet sich nur jeweils ein einziger Abdallah bzw. Abdelrahman. Bis 1999 ist der Zuwachs gering. Kumuliert bis 2007 hingegen tritt der Namentypus in über 80 Varianten auf, von denen jedoch nur Abdulla über 100 Nennungen erreicht – im Vergleich zu den Mohammed-Varianten kein besonders beeindruckender Wert. Das weibliche Gegenstück zu den Abd-Namen fehlt vollkommen, nämlich mit »Amat« d. i. »Dienerin« zusammengesetzte Namen.41 Das hat in islamischen Gesellschaften Tradition. Theophore Namen sind Männern vorbehalten – ein charakteristischer Zug religiöser Namengebung in dieser Glaubensgemeinschaft.42 Abdullah ist nicht nur ein theophorer Name, wie ihn Mohammed selbst an seinen Begleiter und späteren Nachfolger Abu Bakr vergeben hat43 – er ist auch der Name von Mohammeds Vater und führt damit hinüber zu der für die islamische Namengebung so wichtigen Gruppe der Namen von Familienangehörigen des Propheten. »Wer immer sein Kind mit meinem Namen nennt oder einem meiner Kinder…«, dem hatte Mohammed nach der Überlieferung besondere Freuden im Paradies versprochen.44 Für die Nachbenennung bedeutsam wurden vor allem Mohammeds Frauen Khadidscha, Aischa und Zainab, seine Tochter Fatima, sein Schwiegersohn und Cousin Ali, seine Enkel Hassan und Hussein,45 aber auch seine Eltern Abdullah und Amina. Unter Muslimen in Österreich wurden alle diese Namen nach 2000 sehr zahlreich vergeben. Von 17 Nennungen in den Jahren 1984 bis 89 stieg die Zahl der Fatimas bis 2007 auf über 400. Noch stärker ist der Anstieg bei Ali. Dieser Name verweist allerdings nicht eindeutig auf Migrationshintergrund bzw. islamische Religionszugehörigkeit. Es kann sich auch um eine Kurzform autochthoner Namen handeln, etwa des damals sehr beliebten Alexander. Die Möglichkeit einer Deutung in nichtislamischem Kontext machte Ali wohl auch für Muslime interessant, die kein Religionsbekenntnis im Namen der Kinder anstrebten. Die Stellung des Namens Ali kann so als eine interkulturelle Mittelposition verstanden werden. Für die übrigen Namen aus der Prophetenfamilie gilt das sicher nicht. Auch sie stiegen im Untersuchungszeitraum stark an und erreichten beachtliche Werte. Man wird diese Entwicklung nicht zuletzt mit der Situation im wichtigsten Herkunftsland muslimischer Migranten nach Österreich in Zusammenhang bringen dürfen. In der Türkei führte von 2000 bis 2005 Mehmet gemeinsam mit Zeynep die Namensliste an. An fünfter Stelle lag bei den weiblichen Vornamen Fatma.46 Zum Anstieg islamischer Namen in Österreich haben aber auch Namen beigetragen, deren religiöse Bedeutung sich nicht so unmittelbar erschließt. So erfuhr der Name Yasin einen Anstieg auf etwa 220 Nennungen. Er stammt aus dem Koran und ist eine Zusammensetzung aus den Buchstaben yā und sīn, die am Beginn der Sure 36 stehen. Die einzelnen Buchstaben am Anfang der Suren gehören zu jenen Dingen,
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über deren Bedeutung der Überlieferung nach nur Allah Kenntnis hat. Es gibt ein Hadith, in dem es heißt, dass alles ein Herz hat und das Herz des Korans ist die Sure Yasin.47 Assoziationen zu Herz prägen auch die Vergabe dieses Namens an Söhne. Ein anderer häufig gegebener männlicher Vorname leitet sich von der Sure 26, genannt »Al-Furkan«, d. i. »die Erlösung«, ab. Der Name Furkan lag 2000 bis 2005 in der Türkei an dritter Stelle. In Österreich trat er in den 80er-Jahren noch gar nicht in Erscheinung. Bis 2007 wurde er dann 258-mal vergeben. Aya bedeutet im Arabischen »Zeichen Gottes«. Ein Abschnitt einer Sure des Korans wird »āya« genannt.48 In Österreich begegnen Varianten und Kombinationen dieses Namens mehrfach. Auf den Koran bezogene Namen bzw. aus dem Koran ausgewählte Namen haben in der islamischen Welt eine große Tradition.49 Der Mädchenname Merve stieg in Wien von ersten Nennungen in den 90er-Jahren bis 2007 auf 291. In der Türkei lag er damals auf Platz zwei. Der Name ist von einem Hügel in der Nähe von Mekka abgeleitet, der auch für die große Pilgerfahrt Bedeutung hat.50 Der Überlieferung nach lief Hagar, die zweite Frau des Propheten Ibrahim, zwischen den Hügeln Marva und Sava hin und her. Sie fand schließlich die Quelle Zamzam, bei der Mekka errichtet wurde. Medina, der Name der Stadt des Propheten, wird ebenso als Mädchenname vergeben. Er setzt in Österreich erst in den 90er Jahren ein und stieg auf über 100 Nennungen an. Der männliche Vorname Burak leitet sich vom pferdeähnlichen Reittier des Propheten mit Menschenantlitz und Flügeln ab, mit dem dieser der Überlieferung nach seine Himmelsreise angetreten hat.51 In Österreich wurde er bis 2007 über 200-mal vergeben. Der Mädchenname Imre, die Nr. 4 der türkischen Namensliste 2000–2005, kam in Österreich in diesem Zeitraum auf über 200 Nennungen. Der Name bedeutet »Paradies«. Für das siebente Tor des Paradieses wird der Name al-Rayyan überliefert. Unter westeuropäischen Muslimen begegnet er häufig. Auch in Österreich ist er im Kommen. Gestützt wird er wohl durch den Gleichklang mit dem irisch-englischen Ryan, der Internationalität signalisiert. Der Klang der Namen wird bei vielen der zuletzt Genannten zu ihrer Beliebtheit beigetragen haben. Sie entsprechen mehrheitlich dem Leitbild eines vokalreichen, kurzen Namens, wie es sich auch sonst in der europäischen Namengebung immer mehr durchsetzt. Während die westliche Namenkultur vielfach auf Wohlklang ohne Bedeutung basiert, ist in der islamischen der religiöse Sinn nach wie vor ein wichtiges Kriterium der Namenswahl. Ein gutes Beispiel für ein solches Zusammenwirken von religiöser Bedeutsamkeit und klanglicher Ästhetik bietet der Name Enes (Anas). In Wien lag er 2007 auf Platz 53, unter den islamisch geprägten Namen nur von Mohammed überholt. 1984/9 wurde er in ganz Österreich bloß ein einziges Mal vergeben, bis 2007 dann allerdings 418-mal. In der Diskussion des Namens finden sich sehr unterschiedliche Motive : »(Ich) hab am 11. Oktober meinen Sohn bekommen und ihn Enes genannt, weil der Name einfach und moslimisch ist.« Eignung als Rufname und religiöse Her-
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kunft spielen hier wohl zusammen. »Enis ist ein islamischer Name und bedeutet : Der Freund«, bemerkt ein Träger des Namens im Forum. Über die islamische Bedeutung herrscht offenbar weder Klarheit noch Übereinstimmung. »Habe meinem Sohn diesen wunderschönen Namen gegeben. Er kommt aus dem Arabischen. Enes war ein Begleiter des Propheten haben wir herausgefunden.« Die Zugehörigkeit des Namensvorbilds zu den »sahiba« des Propheten war in diesem Fall scheinbar nicht das primäre Motiv der Namengebung. Anders verhält es sich bei der Eintragung : »Mein Sohn heißt auch Enes. Dieser Name kommt vom Arabischen. Ein sehr geschätzter Diener unseres Propheten Mohammed (s. a. w.) hieß so, deshalb hab ich diesen Namen meinem Sohn gegeben.« Die Namensmotivation ist hier eindeutig : Der Name geht auf Anas ibn Malik zurück, den letzten der Gefährten Mohammeds und einen der wichtigsten Überlieferer.52 168 Hadithe werden auf ihn zurückgeführt. Zu den prominenten »Sahiba« – etwa jenen zehn, denen der Prophet das Paradies versprochen hat wie Abu Bakr oder Omar – gehört er jedoch nicht. Und trotzdem liegt sein Name in der Reihung der Statistik ganz weit vorne. So haben sicher auch andere Motive die hohe Häufigkeit beeinflusst. » Enes … welch schöner Klang !«, bemerkt ein so Benannter und die Mutter eines kleinen Enes meint : »Enes klingt sehr schön … man zieht das erste e nicht lang … und das zweite e wird betont … sehr schöner Klang … und das s wird scharf ausgesprochen … wunderschön.«
Neue Leitbilder Von türkischen Zuwanderern nach Österreich wurden nicht nur islamische Namen, die zugleich als besonders wohlklingend gelten, mit stark ansteigender Häufigkeit gegeben, sondern auch solche ohne religiösen Hintergrund. Unter den männlichen Vornamen seien in diesem Zusammenhang Emre und Arda genannt. Beide entsprechen dem Leitbild der Kürze und des vokalreichen Klangs. Beide sind in ihrer Bedeutung nicht völlig geklärt. Beide habe keinerlei religiöse Sinngebung. Beide sind jedoch eindeutig türkisch. Arda kam in Österreich vor der Jahrtausendwende überhaupt nicht vor. Bis 2007 stieg er auf 270 Nennungen. Im vorangehenden Jahr hatte er in der Türkei Mehmet als häufigst gegebenen Namen abgelöst. Auch hier war ein rascher und steiler Aufstieg vorausgegangen. Sicher ist ein Zusammenhang mit der Beliebtheit des Fußballstars Arda Turan gegeben, der damals zum besten jungen Spieler der türkischen Liga gewählt wurde.53 Im deutschsprachigen Diskussionsforum wird die Benennung nach dem großen sportlichen Vorbild mehrfach erwähnt. Als Geburtsjahrgang 1987 ist Arda Turan aber wohl selbst ein Ausdruck der neuen Beliebtheit dieses Namens, die nicht durch ihn allein begründet worden sein kann. Die Zunahme von Emre setzt in Österreich schon früher ein als die von Arda und sie führt mit 454 Nennungen bis 2007 auch zu noch größerer Häufigkeit. In der Türkei
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lag Emre 2000–2005 auf Platz fünf. Bemerkenswert erscheint, dass beide Namen in den Diskussionsforen für manche Teilnehmer nicht eindeutig männlich klingen. Wo für die Namengebung Momente des Klangs entscheidend sind, dort kann es zur Auflockerung traditioneller geschlechtsspezifischer Zuordnungen kommen. Bei den herkömmlich islamischen bestand und besteht diese Gefahr nicht. Primär nach dem Wohlklang vergebene Namen lassen – neben den traditionell islamischen – neue Namenkulturen entstehen. Es erscheint als ein wesentlicher Faktor der Namengebung von Migrantenfamilien aus der Türkei, aber auch aus anderen Zuwandererländern, dass über islamische Namen hinaus neues Namengut der Herkunftsländer an Bedeutung zunimmt. Säkulare Namen nach nationalen Vorbildgestalten wie Atilla/Attila oder Kemal spielen dabei bloß eine untergeordnete Rolle. Vornamen ohne klare Namensvorbilder, ohne bekannten Namenssinn, ohne bewusste religiöse Bedeutung, aber modernen Momenten der Namensästhetik entsprechend, begegnen unter Zuwanderern aus islamischen Ländern in Österreich bei Töchtern noch häufiger als bei Söhnen. Vom Mädchennamen Elif heißt es, dass er »so viele Bedeutungen habe, dass man zwei Bücher damit füllen könnte«.54 Die Wurzel in der Bezeichnung »Alif« für den ersten Buchstaben des arabischen Alphabets ist klar. Wie es davon abgeleitet zu den Bedeutungen »Freund«, »die/das Gewünschte«, »schlankes großgewachsenes Mädchen«, »Blume in den Bergen der Türkei«, »reif«, »schön«, »seidig«, »gebildet« oder »die Richtige« kommen kann, erscheint weniger nachvollziehbar. Ein religiöser Sinn ist in keiner dieser Bedeutungen erkennbar. Vielleicht hat sich der Name wie »Yasin« durch den Beginn von Suren des Korans verbreitet. Die Sure zwei und einige andere beginnen mit Alif, Lam und Mim.55 Bei den zahlreichen Meldungen im Diskussionsforum zum Namen »Elif« wird aber keinerlei Zusammenhang dieser Art erwähnt. Falls er besteht, ist er bei der Namengebung heute nicht mehr bewusst. Der Tenor des Meinungsaustausches ist : »ein supereinfacher Name«, »Wer Elif heißt ist cool und hübsch«, »Der Name ist einzigartig, aber doch vielfältig«, »Er hört sich auch sehr schön an und alle können ihn aussprechen« etc. Elif war 2000–2005 der dritthäufigste weibliche Vorname in der Türkei und stand 2006 gemeinsam mit Arda an der Spitze der Namensliste. In Österreich stieg der Name bis 2007 auf 255 Nennungen und nahm schließlich in Wien 2007 den 58. Platz unter den vergebenen Mädchennamen ein. Zahlreiche Mädchennamen, die in türkischen Migrantenfamilien beliebt sind, haben weder eine spezifisch islamische noch eine türkisch-nationale Konnotation und können durchaus auch in anderen Milieus ihres Gastlands gegeben werden, etwa Lara, Samira, Selina, Tamara, Aylin oder Leyla.56 Um verstärkt islamisch bewusste oder verstärkt national bewusste Namengebung zu analysieren, eignen sie sich weniger als die männlichen Vornamen. Bei den Mädchennamen, die in der Regel geringer traditionsgebunden sind als die Knabennamen, zeigt sich Interkulturalität schon weiter fortgeschritten.57
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Die hier auf der Basis österreichischer Namensstatistiken und deutschsprachiger Internetforen zur Namengebung durchgeführte Fallstudie bestätigt den Befund der eingangs zitierten Medienberichte, ermöglicht aber auch wesentliche Modifikationen und Differenzierungen. Sie bekräftigt die deutliche Zunahme des Namens Mohammed zu Beginn dieses Jahrhunderts. Sie ergänzt sie um die vermehrte Vergabe von islamischem Namengut insgesamt in diesem Zeitraum – etwa der »Diener Gottes«-Namen, der Namen aus der Familie des Propheten, seiner Gefährten oder der im Koran genannten Propheten und anderer eindeutig religiös geprägter Namen. Parallel dazu nehmen aber unter Migranten aus islamischen Ländern Namen zu, die nicht auf islamisch-arabische Wurzeln zurückgehen. In Österreich stehen diesbezüglich türkische Namen im Vordergrund. Ein genauer Anteil islamischer Namen am österreichischen bzw. Wiener Namengut lässt sich nicht berechnen. Aufgrund des starken Anstiegs in den Jahren nach 2000 könnte man vordere Plätze in den Ranglisten erwarten. Ein solches Bild ergibt sich jedoch aus den Statistiken nicht. Sicher wäre auch für Wien eine Aussage wie »Mohammed vor Christian« rechnerisch erlaubt. Ein solcher Vorrang besteht jedoch hier erst im Bereich zwischen den Plätzen 30 und 40. Weder Mohammed noch ein anderer islamischer Name erreicht in Wien auch nur annähernd Häufigkeitswerte, wie sie Franz mit 13,3 % vor 1918 oder mit 4,8 % noch in der Zeit des Zweiten Weltkriegs besaß, ganz abgesehen vom Anteil des häufigsten Mädchennamens Maria, der vor 1918 18,3 % ausmachte. Und auch die Spitzennamen der frühen 80er-Jahre, Michael mit 5,0 % und Markus mit 4,7 % bzw. Barbara mit 3,7 %, übertrafen die Häufigkeit von Mohammed 2007 um ein Vielfaches. Es ist in den letzten Jahrzehnten des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer enormen Differenzierung des Namenguts gekommen. In dieser Namenvielfalt weckt eine Konzentrationsbewegung auf einen bestimmten, noch dazu seiner Herkunft nach kulturell fremden Namen, wie sie in Wien und vielen anderen europäischen Großstädten begegnet, besondere Aufmerksamkeit.
Religion sichtbar machen Wie ist die starke Zunahme des Namens Mohammed in den letzten Jahren zu interpretieren ? Kann die Demographie eine Erklärung dafür geben ? Der Zuzug türkischer Gastarbeiter nach Österreich, die hier die größte Zuwanderergruppe aus einem islamischen Land ausmachen, setzte schon in den 1960er-Jahren ein. 1974 wurde bei den in Wien polizeilich gemeldeten türkischen Staatsbürgern die 10.000er-Grenze überschritten, 1980 die von 20.000, 1986 die von 30.000.58 Die meisten türkischen Gastarbeiter wollten in die Heimat zurückkehren, sehr viele realisierten aber diese Vorstellung nicht. Sie holten ihre Familie nach oder gründeten eine in Wien. 1981 waren schon 32,5 Prozent der türkischen Staatsbürger in Wien unter 15 Jahre alt.
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Ein Großteil von ihnen wird bereits hier geboren worden sein. Die Namensstatistik der 80er-Jahre lässt allerdings noch kaum islamische Einflüsse erkennen. Solches Namengut erfährt erst in den Familien später zugezogener Migranten bzw. in der dritten Generation der Zuwanderer einen derart starken Aufschwung. Diese Entwicklung lässt sich nicht demografisch aus veränderten Migrationsbewegungen erklären. Sie hat wohl mit verändertem Bewusstsein zu tun. Die hier auszugsweise wiedergegebenen Selbstzeugnisse in den Diskussionsforen um islamische bzw. türkische Vornamen deuten ganz in diese Richtung. Schon die Eröffnung solcher Foren und die starke Beteiligung an ihnen – übrigens in deutscher Sprache – verweisen auf die zunehmende Bedeutung religiöser, aber auch ethnischer Identität durch entsprechende Namengebung. Man könnte überlegen, ob nicht die Vergabe solcher Namen nach einer Ausgangsphase, in der die Zuwanderergruppe in ihrem neuen sozialen Umfeld nicht besonders auffallen will, eine zweite Phase anzeigt, in der sie mehr Selbstbewusstsein demonstriert.59 Wahrscheinlich aber ist eine darüber hinausgehende Erklärung in einem größeren Kontext zu suchen. Die so stark islamisch orientierte Welle der Namengebung in den letzten Jahren hat wohl mit der weltweit veränderten Situation islamischer Gesellschaften zu tun, die auch Europa betrifft. Politische und kulturelle Konflikte haben zu einer verstärkten Besinnung auf eigene Werte und Traditionen geführt. Muslime bekennen sich nachdrücklicher zu ihrer Religionsgemeinschaft. Die Vergabe des Namens Mohammed macht dieses Bekenntnis auch nach außen sichtbar – durchaus analog zum Tragen des Kopftuchs durch muslimische Frauen.60 Mit Islamismus oder islamischem Fundamentalismus hat dieses Phänomen nichts zu tun.61 Die tausendfach ins Internet gestellten Selbstzeugnisse zu Präferenzen für islamische Namen lassen das deutlich erkennen. Die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft soll ausgedrückt werden, nicht ein radikales politisches Programm. Auch mit der paradoxen Formulierung von der »Islamisierung der Muslime«62 wird man diesem Prozess eines verstärkten Bekennens eigener religiöser Werthaltungen nach außen wohl nicht gerecht. Sie enthält eine unzutreffende Bewertung der vorangegangenen Situation. Ähnliches gilt für die Charakteristik als »Re-Islamisierung«. Und wenn neuerdings sogar von einer »Überislamisierung der Muslime«63 durch die Mehrheitsgesellschaften der Aufnahmeländer gesprochen wird, so stellt sich die Frage, welche Normalität hier als überschritten gedacht wird. Auch der Begriff »Hochislamisierung« findet Verwendung.64 Er charakterisiert eine »kognitive Entwicklung von einem volksislamischen, eher mechanisch gelebten hin zu einem ›hochislamischen‹ Islam«. Als Grundlage dieser Entwicklung wird zunehmende Verschriftlichung angenommen, die mehr Beschäftigung mit religiösem Schrifttum ermöglicht. Vor allem bei türkischen Migranten der zweiten Generation werden solche Tendenzen beobachtet. Dass sie auch in der Namengebung Niederschlag finden könnten, erscheint plausibel. Die radikalen Wandlungsprozesse, die islamische Gesellschaften in der jüngsten Vergangenheit – innerhalb wie außerhalb
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Europas – erfasst haben, bedürfen aber wohl eines stärker differenzierten Vokabulars der Beschreibung und der Analyse. Abseits aller Etikettierungsfragen – der Prozess zunehmender Vergabe islamischer Namen repräsentiert eine Besinnung auf religiöse Werte nach innen und deren offenes Bekenntnis nach außen. Kann man einen prononciert islamischen Namen wie Mohammed als »Europanamen« verstehen ? Rein statistisch erscheint der Befund klar : Der Name gehört zu den in Europa besonders häufig vergebenen. Eine andere Frage ist es, inwieweit sich bei jenen Personen, die ihn vergeben bzw. tragen, islamische Identität mit europäischer verbindet. Entscheidende Bedeutung kommt also dem Prozess gelungener Integration zu. Sie hängt sowohl von der Einstellung muslimischer Migranten als auch von der ihrer nichtmuslimischen Mitbürger ab. Beide Gruppen sind an Prozessen des Auf- bzw. Abbaus soziokultureller Distanz beteiligt. Ausgrenzung seitens des Aufnahmelandes ebenso wie Selbstausgrenzung seitens muslimischer Migranten beeinträchtigt europäische Identifikation. Rückzug auf ein bestimmtes Namengut der eigenen Tradition kann Zeichen der Selbstausgrenzung sein. Es ist aber auch durchaus möglich, dass der Name Mohammed zur Ausdrucksform eines Euro-Islam in Sinne Bassam Tibis wird, der eine interkulturelle Verbindung europäischer und islamischer Traditionen postuliert.65 Dann könnte mit gutem Recht von einem »Europanamen« gesprochen werden. Ansätze zu einer Interkulturalität von traditionell islamischem und europäischem Namengut konnten in der hier vorgenommenen Analyse festgestellt werden. Wird die Zunahme des Namens Mohammed bzw. anderer islamischer Namen in Europa weiterhin in diesem Ausmaß anhalten ? Eine Extrapolation des historisch noch so jungen Trends erscheint schwierig. Wichtige Rahmenbedingungen für die weitere Entwicklung sind die Stärke von Migrationsströmen aus islamischen Ländern nach Europa – ihrerseits wieder abhängig von der Migrationspolitik der europäischen Staaten – sowie die zukünftige Entwicklung des generativen Verhaltens von Zuwanderern. Abnehmende Kinderzahlen könnten die Trends der Namenhäufigkeit beeinflussen. Das entscheidende Moment der religiösen Motivation für die Vergabe des Namens Mohammed und anderer islamischer Namen bleibt aber sicher weiterhin aktuell. Das kurzfristige Auf und Ab von Namen, die bloß ihres schönen Klanges wegen gegeben werden, wird in der islamischen Namengebung wohl keine Entsprechung finden. Mohammed entwickelt sich zu einem dauerhaft in Europa vergebenen Namen, der durch seine religiöse Sinngebung Stabilität gewinnt. Mit Mohammed und den anderen islamischen Namen, die in Europa heimisch geworden sind, ist weiterhin religiöses Bekenntnis, religiöse Verpflichtung, religiöses Lebensprogramm verbunden. Für David und Maximilian bzw. Sarah und Anna, die 2007 an der Spitze der in Wien gegebenen Vornamen gestanden sind, gilt das sicher nicht – genauso wenig wie für ihre kurzlebigen Vorgänger. Obwohl weitgehend aus christlichen Wurzeln entstanden, ist dieses Namengut in der Regel nicht mehr religiös motiviert
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und daher beliebig veränderbar. Von den Kriterien der Namenswahl her liegen also prinzipiell verschiedene Motivationsmuster zugrunde. Ob Mohammed und andere islamische Namen in Europa einmal ähnlich säkularisiert verwendet werden können, lässt sich derzeit schwer prognostizieren. Sicherlich findet sich bei Muslimen, die sie vergeben, ein breites Spektrum sehr unterschiedlicher religiöser Überzeugungen.66 Neben der Bezugnahme im Namen auf den Propheten kann auch die auf den Großvater stehen. Auf der Basis der innerfamilialen Nachbenennung wird sich der Name wohl eher rückläufig entwickeln, wie das beim türkischen Mehmet in seinem Herkunftsland schon erkennbar ist. Das Interesse an neuen Namen, vor allem an klangvollen Namen, trat bei der Analyse der Diskussionsforen deutlich in Erscheinung. Ob sich aus solchen Bedürfnissen ein Prozess der Angleichung zwischen den so unterschiedlichen Namenkulturen des Gastlands und seiner islamischen Immigranten ergibt, lässt sich schwer vorhersehen. Ausgeschlossen ist eine solche Entwicklung sicher nicht. Bis zu ihrer Verwirklichung wird es notwendig sein, den schwierigen Umgang mit Fremdem zu leben, der weit über Namenprobleme hinaus mit Migration verbunden ist.
Anmerkungen 1 Ein solches Bemühen um interkulturelle Gemeinsamkeit stellt sich unausweichlich bei der Namengebung von Kindern, deren Eltern aus verschiedenen Namenkulturen stammen. Zu dieser Thematik an österreichischen Beispielen : Viktoria Djafari-Arnold und Michael Mitterauer : Kein Problem für Attila und Leila ? Zur Namengebung in bikulturellen Familien. – In : Historicum 58 (1998), S. 33–39. Zu Interkulturalität allgemein Elsayed Elshahed : Interkulturalität zwischen Konzeption und Realisation. Eine historisch-kritische Betrachtung. In : John D. Patillo-Hess und Maio R. Smole (Hg.) : Islam. Dialog und Kontroverse . – Wien 2007. S. 63–72. 2 Zum islamischen Namengut im Überblick : Leone Caetani und Giuseppe Gabrieli : Onomasticon Arabicum. – Rom 1915 ; Gerhard Endress : Einführung in die islamische Geschichte. – München 1987. S. 175 ; Annemarie Schimmel : Die Zeichen Gottes. Die religiöse Welt des Islam. – München 1995. S. 157–161. Zu europäischer und islamischer Namenkultur im Vergleich : Michael Mitterauer : Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte. – München 1993, vor allem S. 183–193 ; derselbe : Abdallah und Godelive. Zum Status von Frauen und Männern im Spiegel heiliger Namen. – In : Edith Saurer (Hg.) : Die Religion der Geschlechter (L’homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, Beiheft 1). – Wien 1995. S. 47–74. Derselbe : Systeme der Namengebung im Vergleich. – In : Historicum 58 (1998), S. 9–15. Zu Tendenzen der neueren Namengebung vor allem in Österreich : Margareth Lanzinger : »Meine Mutter wollte für ihre Tochter etwas Besonderes, Modernes …«. Namenkulturen im Wandel. – In : Nikola Langreiter und Margareth Lanzinger (Hg.) : Kontinuität im Wandel. Kulturwissenschaftliche Versuche über ein schwieriges Verhältnis. – Wien 2002, S. 84–112. Für den deutschsprachigen Raum : Wilfried Seibicke, Vornamen. – Wiesbaden 1977 ; Michael Wolfsohn und Thomas Brechenmacher : Die Deutschen und ihre Vornamen. 200 Jahre Politik und öffentliche Meinung. – München – Zürich 1999. Bezeichnend erscheint, dass islamisches Namengut in Namenstudien aus dem deutschsprachigen Raum bis ins ausgehende 20. Jahrhundert kaum Behandlung findet.
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13 Jürgen Gerhards und Silke Hans : Zur Erklärung der Assimilation von Migranten an die Einwanderungsgesellschaft am Beispiel der Vergabe von Vornamen (www.diw.de/documents/publikationen/73/44291/ dp583.pdf. – 09.03.2009). 14 Alexandra Frean, Mohammed the lad leaps up league of names. – In : Times Online vom 6. Jänner 2005 (http ://www.timesonline.co.uk/tol/news/uk/article408877.ece – 24.02.2009). 15 Helen Nugent und Nadia Menuhin, Muhammad is No 2 in boy’s names. – In Times Online vom 6. Juni 2007 (http ://www.timesonline.co.uk/tol/news/uk/article18990354.ece, 05.03.2009). 16 Jenny Booth : Britain’s most popular baby names of 2008 (http ://women.timesonline.co.uk/tol/life_and_ style/women/families/articles 541 – 24.02.2009). 17 So etwa : »Popular names in England and Wales« mit den Top 100 im Vergleich von 2006, 2007 und 2008 (http ://www.woodlands-junior.kent.sch.uk/customs/questions/names.htm – 24.02.2009). 18 http ://uk.answers.yahoo.com/question/index ?qid=20090105091422AArgifO – 24.02.2009, http ://archbishop-cranmer.blogspot.com/2009/01/is-there-conspiracy-to-keep-mohammed – 28.02.2009). Die Diskussion wurde hier bis Ende Februar 2009 verfolgt. 19 Les nouveaux prénoms europèens (http ://www.lepost.fr.article/2008/11/09 !1320793 – 24.02.2009. 10 Mohamed, ou la nouvelle démographie eurabienne (http ://www,leblogdrzz.over-blog.com/article– 27279885.html – 02.03.2009. 11 Muhammad City ? (http ://danielpipes.org/commnts/79957 – 20.02.2009). 12 Die Eingewanderten (http ://www.vorwaerts.de/artikel/die-eingewanderten – 28.02.2009. 13 Muhammad takes Milan by Storm (http ://www.yetnews.com/articles/=,7340,L–3550085,00.html – 22.02.2009). 14 Mohamed, premier prénom á Milan. Ahmed, Mahmoud et Hamid á Rome (http ://www.al. kanz. org/2008/0602/mohamed-prenom–2/ – 22.02.2009). 15 Germain Gillet : Prénoms – Mohamed et Inès en tête a Marseille. – In : France Soir, 25 février 2008. 16 Mohamed, toujours premier prénom de Seine-Saint-Denis (http ://www.al.kanz.org/2009/01/23/mohamed-prenom/ -02.03.2009) sowie : Prénom Mohamed, tout sur ce prénom : origines, statistiques, étymologie du prénom (http ://www.aufeminin.com/w/prenom/p13838/mohamed/html – 02.03.2009) mit einem Überblick über die Häufigkeit des Namens Mohammed von 1900 bis 2006 sowie dessen Vergabe nach Departments im Jahr 2006. 17 Die im Folgenden gebotenen Werte sind für europäische Großstädte entnommen : Muslim population in European Cities. – In : Islam in Europe (http ://islamineurope.blogspot.com/2007/11/muslim-populationin-european-cities.html – 09.03.2009) , für einzelne Staaten : Eurabia. From Wikipedia, the free encyclopedia (http ://en.wikipedia.org/wiki/Eurabia – 22.02.2009). 18 Georgia Kretsi : »Shkëlquen« oder »Giannis« ? Namenwechsel und Identitätsstrategien zwischen Heimatkultur und Migration. – In : Karl Kaser, Robert Pichler und Stephanie Schwandner-Sievers (Hg.) : Die weite Welt und das Dorf. Albanische Emigration am Ende des 20. Jahrhunderts . Wien 2002, S. 262– 284. 19 Ludwig Halasz : Vornamen in Wien. – In : Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien, S. 16–20 ; Statistik Austria (Hg.) : Mein Name ist ? Babynamen in Österreich. Wien 2000 ; Statistik Austria, Die natürliche Bevölkerungsbewegung. Vornamen 1984–2007 (http ://www.statistik.at/web_de/static/vornamen_1984_-_2007_023101.pdf – 23.02.2009). Ich danke Frau Anita Höfner von Statistik Austria dafür, mich auf diese Liste aufmerksam gemacht zu haben. 20 Soweit nicht anders ausgewiesen, stammen diese Beiträge aus den Foren von Baby-Vornamen.de unter dem jeweils behandelten männlichen oder weiblichen Vornamen. Sie wurden Ende Februar 2009 abgerufen. 21 Mitterauer : Ahnen und Heilige. S. 358. 22 Ebd., S. 346.
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23 Ebd., S. 397–402. 24 Josef/Joseph begegnet in Österreich 1984–2007 in 24 Kombinationen, Yusuf in 4. 25 Islamische Namen, die sowohl in männlichen als auch in weiblichen Formen vergeben werden, sind von erwünschten Eigenschaften abgeleitet wie Rashid/a (»rechtschaffen«), Latif/a (»gütig«, »sanftmütig«), Munir/a (»leuchtend«) oder Samir/a (»unterhaltsamer Begleiter/in«), nicht aber von religiösen Vorbildgestalten. Zur Unterscheidung von Namengebung nach dem Namenssinn bzw. nach dem Namensvorbild Mitterauer : Ahnen und Heilige, passim. 26 Mitterauer, Ahnen und Heilige. S. 186 ; Schimmel : Die Zeichen Gottes. S. 160. 27 Djafari-Arnold und Mitterauer : »Kein Problem …«. S. 39. 28 Thomas Patrick Hughes : Lexikon des Islam. Wiesbaden 1995. S. 633 ; What ist he position of Abrahams wife Sara in Islam (http ://answers.yahoo.com/question/index ?qid=20081206230025AAHGQrc). 29 Sarah/Sara ist in Ägypten vor allem unter Studentinnen sehr verbreitet. Vgl. dazu : Students of the World. Penpal Statistics : Egypt (http :www.studentsoftheworld.info/penpals/stats.php3 ?Pays=EGY – 28.02.2009). In Libyen lag der Name 2008 an dritter Stelle (http ://en.wikipedia.org/wiki/Most_popular_given_names – 28.02.2009). 30 Mitterauer : Ahnen und Heilige. S. 427. 31 Zu diesen Beinamen und ihrer Bedeutung Schimmel : Die Zeichen Gottes. – S. 160. 32 Hughes : Lexikon des Islam. Wiesbaden 1995. S. 560–2 ; Johann Christoph Bürgel : Allmacht und Mächtigkeit. Religion und Welt im Islam. München 1991. S. 52 ; Schimmel : Zeichen Gottes. S. 159 ; Mitterauer : Ahnen und Heilige. S. 185. 33 Schimmel : Zeichen Gottes. S. 159. 34 Vgl. dazu Mitterauer : Ahnen und Heilige. S. 15 et passim. 35 Eine eigenartige Namengebungsgeschichte, die allerdings kaum als Zeichen von Interkulturalität zu deuten ist, wird aus dem Jahr 2007 berichtet : »Also – ein türkisches Ehepaar bekam in Österreich einen Sohn. Der Vater ging zum Magistrat, um den Jungen eintragen zu lassen … sagte er den gewünschten Namen zum zuständigen Beamten … eben traditionell einen türkischen … meinte der Beamte, das sei nicht erlaubt bzw. stünde im Namenskatalog nicht drinnen, und deshalb auch als Name in Österreich nicht zu genehmigen. O. K. ! denkt sich der Vater, dann eben einen anderen. Sagt wieder einen türkischen Namen, was dem Beamten wieder nicht passt. Er lehnt wieder ab und begründet, dass er den Namen im Katalog nicht finden kann. Nun 3. Versuch : Der Vater schlägt ihm wieder einen Namen vor. Dem Beamten passt es wieder nicht, bis dem Vater der Kragen platzt. In seinem etwas vorschnellen Temperament meint er nun zum Beamten : ›Was nein ? Jetzt reicht’s ! Dann geb ich meinem Sohn den Namen Christian ! Passt es Dir jetzt ?‹« Veröffentlicht unter dem Titel »Ein moslemischer Junge namens Christian ?« (http ://www. dasbiber.at/node/190). 36 Jim Masters und Perihan Masters :The ›Most Popular‹ Baby-names, Personal-names, and Family-names in Turkey (http ://ezinearticles.com/ ?The-Most-Popular-Baby.names… – 25.02.2009) sowie Most popular baby names in Turkey – compiled by BabyNameFacts.com (http ://www.babynamefacts.com/popularnames/countries.php ?country=TKY). 37 Mitterauer : Ahnen und Heilige. S. 405–428 ; Lanzinger : »Meine Mutter wollte für ihre Tochter etwas Besonderes, Modernes …«. S. 84–112. 38 Schimmel : Zeichen Gottes. S. 158. 39 Mitterauer : Ahnen und Helige. S. 184 ; derselbe : Abdallah und Godelive. S. 47–74. 40 Hughes : Lexikon des Islam. S. 561. 41 Schimmel : Zeichen Gottes. S. 159. 42 Mitterauer : Abdallah und Godelive. S. 47–74. 43 Huhges : Lexikon des Islam. S. 13. 44 Bürgel : Allmacht und Mächtigkeit. S. 52.
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45 Schimmel : Zeichen Gottes. S. 160. 46 Most popular baby names in Turkey – compiled BabyNameFacts.com (http ://ww.babynamefacts.com/popularnames/countries.php ?country=TKY&year=20…- 25.02.2009). 47 Zur Hilfe, die diese Sure für den Weg ins Jenseits leistet, bzw. ihrer eigenartigen Personifikation Schimmel : Zeichen Gottes. S. 205–6. 48 Schimmel : Zeichen Gottes. S. 204. 49 Ebd., S. 161. 50 Hughes : Lexikon des Islam. S. 464. 51 Hughes : Lexikon des Islam. S. 93. 52 Ebd., S. 43. Zur Verdienstlichkeit der Nachbenennung nach den Gefährten des Propheten Bürgel : Allmacht und Mächtigkeit. S. 52. Auch sie sichert nach einem Hadith – wie die nach dem Propheten und seinen Kindern – das Paradies. 53 Arda Turan, geb. 1987 (http ://de.wikipedia.org/wiki/Arda_Turan –28.02.2009). 54 Baby-Vornamen.de-weiblicher Vorname Elif – Informationen (http ://www.baby-vornamen.de/Maedchen/E/El/Elif – 22.02.2009). 55 Hughes : Lexikon des Islam. S. 25. 56 Beliebte türkische Mädchennamen (http ://www.baby-vornamen.de/Sprache_ und_ Herkunft/tuerkische_ Vornamen.php – 23.02.2009). Zum Wandel subjektiver Einschätzungen beim Namen Leila : Djafari-Arnold und Mitterauer : Kein Problem für Attila und Leila ? S. 38. 57 Das grundsätzliche Spannungsfeld, in dem islamische Namengebung heute steht, ergibt sich aus Bemerkungen in Listen empfohlener Namen. Auf der einen Seite wird auch von muslimischen Eltern erwartet, dass die Namen, die sie ihren Kindern geben, »unique, nice, popular, and cool« sein sollen (http ://www. names4muslims-com/baby-boys.php – 25.02.2009), auf der anderen sollen sie vom Imam der lokalen Moschee nach ihrer islamischen Bedeutung verifiziert werden (http ://www.muslim-names.co.uk/muslimbaby.boy-names-A–2.html). 58 Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten. Aufsätze, Quellen, Kommentare von Michael John und Albert Lichtblau. Wien 1990. S. 83. 59 Die These der Vermeidung von Namen der eigenen Herkunftskultur vertrat 1977 der bekannte deutsche Namensforscher Wilfried Seibicke, Vornamen. Wiesbaden 1977. S. 120 : »Sozialpsychologische Gründe sprechen auch dagegen, dass gegenwärtig Namen von Gastarbeitern rasch Nachahmung finden ; denn die soziale Stellung dieser Menschen ist zu gering, als daß man sich ihnen irgendwie anzugleichen versuchte. Eher ist zu erwarten, daß Namen, die leicht mit Gastarbeitern in Verbindung gebracht werden könnten, gemieden werden. Man kann hingegen beobachten, daß ausländische Eltern ihren Kindern Namen geben, die bei uns gebräuchlich und zur Zeit beliebt sind – wahrscheinlich ist das ein Anzeichen dafür, daß diese Familien gewillt sind, in der Bundesrepublik zu bleiben, oder daß sie zu übernational verbreiteten Vornamen greifen, mit denen die Kinder weder hier noch in der Heimat auffallen.« Manches an diesen Überlegungen mag für die Entstehungszeit der Publikation zutreffend gewesen sein, die erstellte Prognose ist so nicht eingetreten. 60 Diese auch in der Namengebung zum Ausdruck gebrachte Tendenz, Religion sichtbar zu machen, steht in deutlichem Gegensatz zu Entwicklungstendenzen im sozialen Umfeld von muslimischen Migrantengruppen. Thomas Luckmann hat das Resultat von Modernisierungsprozessen christlicher Religionsgemeinschaften mit dem Schlagwort »unsichtbare Religion« charakterisiert (Die unsichtbare Religion. – Frankfurt 1991). Zur Diskussion um Begrifflichkeit und zugrunde liegende Veränderungsprozesse Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart. Frankfurt – NewYork 2009. S. 161–163. Vornamen nehmen in diesem Spannungsfeld zwischen »sichtbarer« und »unsichtbarer Religion« – je nach Deutung – als Ausdrucksform von Religion eine interessante Zwischenstellung ein. 61 Überraschend erscheint, dass selbst die Zeitung Al-Ahram die Namensliste für Ägypten von 2004 mit
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Mohamed an der Spitze sowie Ahmed, Mahmoud und Mustafa auf vorderen Plätzen als »rise of Islamist ideology« deutet (Gamal Nkrumah : What’s in a name ? – http ://weekly.ahram.org.eg/print/2004/684/li1. htm). Zur Differenzierung einschlägiger Begriffe : Martin von Arndt : Islam-Fundamentalismus, Re-Islamisierung und »Islamismus«. Zur Geschichte islamischer Reformbewegungen (http ://www.vonarndt. de/islamismus.htm). So etwa Ralph Ghadban : Europäisierung des Islam oder Islamisierung Europas ? (Carl Friedrich von Weizsäcker-Gespräche. Minden 2007). S. 10. Deutsche Über-Islamisierung. Der Erfurter Islamwissenschaftler Jamal Malik beklagt eine Über-Islamisierung der Muslime durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft (http ://litart.twoday.net/20090302/ – 07.03.2009). Silvia Kaweh : Integration oder Segregation. Religiöse Werte in muslimischen Printmedien (Bausteine zur Mensching-Forschung 12). Nordhausen 2006. S. 13, nach : Ursula Mihciyazgan : Die religiöse Praxis muslimischer Migranten. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung in Hamburg. – In : Ingrid Lohmann und Wolfram Weiße (Hg.) : Dialog zwischen den Kulturen. Erziehungshistorische und religionspädagogische Gesichtspunkte interkultureller Bildung. Münster – New York 1994. S. 118. Für Österreich : Thomas Tripold und Florian Spendlingwimmer : Die Lebenswelt türkischer Muslime in Graz. Graz 1996. Siehe insbesondere Bassam Tibi : Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels. Frankfurt/Main 1991. Vgl. dazu auch : Aydin Hayrettin, Dirk Halm und Faruk Şen : »Euro-Islam«. Das neue Islamverständnis der Muslime in der Migration, Essen 2003. Hayrettin et al. : »Euro-Islam«. S. 9–13 ; Kaweh : Integration oder Segregation. S. 12.
Christoph Kühberger
Von der Geschwätzigkeit der Worte Ein Essay zur Sprache der Historiker/-innen
Sprachliche Vergegenwärtigung vergangener Realitäten Seit dem »linguistic turn« in der Geschichtswissenschaft gilt es als Binsenweisheit, dass jede Darstellung der Vergangenheit, »selbst wenn sie sich als Tatsachenbericht versteht, verändert, was sie darzustellen meint : Sie identifiziert und differenziert, sie reduziert und generalisiert, sie hebt hervor und läßt verschwinden ; denn sie ist selbst ein Geschehen, ein anderes als das dargestellte.«1 Sprache wird dabei nicht mehr als Instrument zur Beschreibung von Wirklichkeit erachtet, sondern als Instrument zur Konstruktion von Wirklichkeit. Damit kann festgehalten werden, dass jede Analyse von »Wirklichkeit« sprachlich determiniert ist und durch Sprachprioritäten »gefiltert«.2 Die Sprachlichkeit der Historiografie wird dabei im Text der Historiker/ -innen über die Vergangenheit repräsentiert. Es handelt sich daher bei der »linguistischen Wende« eigentlich um eine »narrative Wende« oder um eine »textuelle Wende«, da durch sie die Art und Weise, wie über Vergangenheit geschrieben wird, in den Vordergrund trat.3 Bei einer so gelagerten Betrachtung des »linguistic turns«, welche die Komposition des verschriftlichten oder neuerdings auch oftmals des in (Neuen) Medien verarbeiteten historischen Denkens in den Mittelpunkt stellt, sollte man die linguistische Ebene der Lexik und Semantik nicht übersehen. Gerade linguistische Details determinieren die historische Narration und führen uns auf die Spuren von mitschwingenden Inhalten bzw. können als Wegweiser zur impliziten Narration, die sich zwischen den Zeilen ablagert, verstanden werden.4 Damit fokussiert man zwar auf kleinere Bausteine einer Narration, mit denen jedoch zentrale Momente (un)absichtlich kommuniziert werden können. Sich mit Begriffen und den in ihnen ruhenden Konzepten zu beschäftigen ist »kein eitler Luxus, sondern eine ernste Angelegenheit, denn die Begriffe, die wir verwenden, und die Umgangsformen, die wir pflegen, hängen miteinander zusammen«.5 Die Geschichtswissenschaft als »lebensnahe Wissenschaft« versucht, ihren Gegenstand zum großen Teil über Kategorien der alltäglichen Erfahrung zu fassen, um etwa ihre Reichweite auch außerhalb einer wissenschaftlichen Leserschaft zu erhöhen. Gleichzeitig werden auf diese Weise aber auch Nebenbedeutungen mitgeschleppt und schummeln sich in die Erzählungen hinein. Die Begrifflichkeit der
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Geschichtswissenschaft ist dabei »nur begrenzt fachsprachlich festgelegt. Dagegen werden häufig mit voller Absicht Ausdrücke und Wendungen aus der Gemeinsprache übernommen, um einen höheren Grad an Anschaulichkeit und Angemessenheit zu erreichen.«6 Doch gerade die Ansprüche der modernen Historiografie (Anschaulichkeit, Angemessenheit, Verständlichkeit, Lesbarkeit und daneben Genauigkeit, Eindeutigkeit, begriffliche Präzision etc.)7 verweisen auf ein vielfältiges Repertoire an Sprachregistern, die den Historiker/inne/n zur Verfügung stehen, um ihre wissenschaftlich erarbeiteten Inhalte transportieren zu können. Sprachreflexion sollte daher im wissenschaftlichen Kontext ernst genommen werden, insbesondere in der Geschichtswissenschaft. Sprache als problematisches Medium wahrzunehmen sollte spätestens seit dem »linguistic turn« zum Set des erkenntnis- und gegenstandskritischen Repertoires der Geschichtswissenschaft gehören, ohne das die wissenschaftsorientierte Historiografie in eine Neo-Naivität oder Ignoranz verfallen würde.8 Da Begriffe ihre eigene Vergangenheit und Geschichte besitzen, also diachron mit Bedeutungszuwächsen, -veränderungen und -verlusten konfrontiert sind,9 synchron getränkt sind mit kulturellen Versatzstücken, die sie in manchen Fällen einer Unübersetzbarkeit im internationalen Diskurs frei geben,10 besitzen geschichtswissenschaftliche Sprachhandlungen eine nicht unwesentliche Bedeutung beim Aufbau von historischen Narrationen und den in ihnen konstruierten Welten. Die normative Ebene spielt dabei eine zentrale Rolle. Ein abwägendes, differenziertes Abklopfen von Begriffen und den in ihnen ruhenden Konzepten machen Nuancen und Polysemien sichtbar, die als einflussnehmende Faktoren Geschichte mitbestimmen. So ist es für die Wahrnehmung einer historischen Person entscheidend, mit welcher Kategorie sie in historischen Narrationen gelabelt wird, da dies Einfluss auf das kommunizierte historische Vorstellungsgebäude nimmt. Im Zusammenhang mit dem Spielfilm »Operation Walküre« (Regie : Bryan Singer, USA 2008) war im deutschsprachigen Raum zu beobachten, dass Schenk von Stauffenberg in der öffentlichen Geschichtskultur und in den Aussagen von Historiker/inne/n mit einem vielfältigen Spektrum von Rollen in Verbindung gebracht wurde (u. a. »Attentäter«, »Widerstandskämpfer«, »Verschwörer«, »Held«, »Verräter«, »Patriot«). Es sind je spezifische Aspekte, die dabei mit einem Begriff und seinem semantischen Netz ins Feld geführt werden und damit zur Konstruktion von Stauffenbergs Biografie beitrugen. Es ist dabei wesentlich zu beachten, dass bei derartigen normativen Akten unterschiedliche moralische Bezugsrahmen Anwendung finden, die nicht immer eindeutig kommuniziert wurden. Es besteht schließlich ein Unterschied, ob eine Person anhand von überzeitlichen Wertmaßstäben beurteilt wird oder anhand der in der Vergangenheit geltenden normativen Setzungen. Nicht selten gilt auch unsere Gegenwart als Bezugspunkt, was verdeutlichen soll, dass derartige Perspektivierungen – bereits im Rahmen eines Begriffes – offengelegt werden sollten, um den normativen Rahmen zu klären. Noch schwieriger gestalten sich derartige be-
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griffliche Klärungen im historischen Kontext dort, wo rechtliche Bezugsrahmen und deren Lexik herangezogen werden. Es macht einen Unterschied, ob man den Satz »X wurde hingerichtet« oder »X wurde ermordet« formuliert.11 Ernst Hanisch hat mit Recht darauf verwiesen, dass Historiker/-innen ständig Urteile treffen, ohne jedoch ihre Urteilsgrundlagen kritisch zu reflektieren. Er fragt sich : »Worauf stützen wir uns ? Können wir von einem Kern der Humanität ausgehen, der über die Zeit hinweg gilt ? Gibt es eine moralische Ressource (religiös, oder naturrechtlich oder sonst wie begründet), die wir zeitübergreifend voraussetzen können ?«12 Nach Hanisch bedarf es eines vorsichtigen Urteils, da historische Akteure (Täter/-innen, Opfer, Zuschauer/-innen) in eine offene Zukunft hinein handeln, während Historiker/-innen das Ergebnis und die Folgen dieser Handlungen kennen.13 Die Problematik, die in diesem Zusammenhang auftritt, ist, dass Historiker/-innen oftmals »Gefangene der Sprache« (Alain Corbin) sind. Besonders fällt dies dort ins Auge, wo die Bilder hinter der Sprache weitgehend festgefahren sind und selbst beim Ansinnen einer angemessenen Sachlichkeit und inhaltlichen Ausdifferenzierung bzw. Definition primär Vorurteile und Klischees bedient und transportiert werden (z. B. »Wildheit«, »Barbarei«). Der semantische Gehalt solcher Begriffe verweist dabei auf eine konstruierte sowie ungleiche Hierarchie zwischen Kulturen, die etwa besonders deutlich bei Lexemen zu beobachten ist, die als Teil eines ethno- und eurozentristischen Vokabulars des 19. und 20. Jahrhunderts angesehen werden müssen. »Viele Begriffe, die im Zusammenhang mit der Geschichte außereuropäischer Kulturen noch im alltäglichen und wissenschaftlichen Gebrauch stehen, sind aufgrund ihrer impliziten Asymmetrien einer Sprachkritik zu unterziehen, kurz in ihrer Verwendung ethisch zu reflektieren. Da begegnen Europäer noch wie selbstverständlich den ›Eingeborenen‹ (anstelle von Menschen, Einheimischen, Zugehörigen von Völkern/Ethnien etc.) oder ›Häuptlingen‹ (anstelle von kulturell höher bewerteten Begriffen wie Fürsten, Königen, Oberhäuptern). Bei all diesen Begriffen werden meist unreflektiert pejorisierte Bedeutungsgehalte aus der Kolonialzeit perpetuiert und damit alte Stereotypen verfestigt.«14 Neben der notwendigen Sprachreflexion gab es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Geschichtswissenschaft vor allem über Impulse aus den Sozialwissenschaften Versuche, dem Dilemma der »geschwätzigen Wörter« zu entkommen. Gleich wie die Naturwissenschaft wollte sich auch die Geschichtswissenschaft einer hoch formalisierten Fachsprache bedienen, vor allem dort, wo »zur Erfassung komplexer gesellschaftlicher Phänomene oder Strukturen adäquate wissenschaftliche Ausdrucksformen«15 gesucht wurden. Im Kern wurde damit versucht, eine möglichst präzise wissenschaftliche Lexik aufzubauen, der es gelingt, u. a. Polysemien oder andere den Inhalt verzerrende sprachliche Strukturen zu vermeiden. Über die »Soziologisierung« (W. J. Mommsen) der geschichtswissenschaftlichen Sprache
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wurde vor allem im Umfeld der historischen Sozialwissenschaft versucht, eine rationale Begriffssprache zu etablieren. Im Zuge dessen kam es zu detaillierten Darstellungen von Begriffen und den in ihnen für die jeweilige Arbeit genau definierten Konzepten. Man ignorierte jedoch das, was Mary Fulbrook als »the slipperness of social concepts« bezeichnet : »In the natural sciences, categories of description are of course analytic constructs which serve, with greater or lesser degree of success, to account for observed phenomena : the chemical elements, atoms, neutrons, quarks, and so on, are all constructs imposed on, rather than given in, observed ›reality‹. But, as far as scientists at any given time are aware, these observed realities exists irrespective of our attempts to name them, and act in the same way under the same conditions whatever we choose to call them. […] In the human world, we are dealing with a double set of impositions : not only are there the often highly controversial, mutually conflicting categories imposed by the observer […] ; the observed also have their own views, which they are able to express, articulate, and (with qualifications about the one-way traffic of communication with members of past societies) communicate to the observer, as to the nature of their society. Thus, even when analyzing the same society, there may be a wide range of views among the observed as well as among the observers. This has led to a problem known as ›double hermeneutic‹.«16 Mit dieser Beobachtung von Mary Fulbrook soll eine anzustrebende möglichst präzise begriffliche Sprache der Geschichtswissenschaft nicht in Abrede gestellt werden, jedoch ist diese Beobachtung der Tendenzen aus den 1960er- und 1970er-Jahren, die von den sozialwissenschaftlichen dominiert wurden, eine wichtige Einsicht, die einer naiven Verwendung von Konzepten entgegenwirkt.17 Als Karl-Georg Faber seine »Theorie der Geschichtswissenschaft« inmitten des Paradigmenwechsels hin zur Sozial- und Gesellschaftsgeschichte darlegte, merkte er zu diesem Bereich an : »Die vollkommene Formalisierung der Sprache liefe darauf hinaus, sie auf ihren rein informativen Charakter zu beschränken und alles an ihr, was über die direkte und eindeutige Information hinausgeht, zu eliminieren. Eine solche Sprache würde dem Historiker nur die Wiedergabe beobachtbarer Vorgänge ermöglichen, deren Elemente eindeutig bezeichnet werden können. Daß er auf diesen Informationsgehalt der Sprache nicht verzichten kann, liegt auf der Hand. Um aber historische Vorgänge als intentionales Handeln zu erkennen, ihren ›Sinn‹ verstehen zu können, ist er auf die Flexibilität, die Vieldeutigkeit der Sprache angewiesen.«18 Faber bekräftigte zehn Jahre später, dass »die historische Rhetorik bei all ihrer Ambivalenz nicht nur unentbehrlich für die sprachliche Vergegenwärtigung vergangener Realitäten ist, sondern darüber hinaus in ihren Figuren einen Fundus von Erfahrungen menschlichen Verhaltens im politischen Kontext bereitstellt, der die zustimmende oder kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte erst möglich macht«.19 Eine derartige Perspektive auf das Problem der geschichtswissenschaftlichen Sprachverwendung wirkt überraschend postmodern.
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Auf der begrifflichen Ebene von historischen Rekonstruktionen sind jedoch auch jene Bilder und Symbole zu verorten, die von Historikern/-innen zum Einsatz gebracht werden, um über sprachliche Mittel Sachverhalte, Situationen oder Kontexte zu verdichten. Dabei dienen Metaphern als Figuren der Sprachverwendung sowie als differenzielle und relationale Aussagen, wie dies Andreas Kablitz herausstellt, »bei denen die Konnotation die Oberhand über die Denotation gewinnt. Metaphern setzen einen semantischen Prozess in Gang, innerhalb dessen es zu einer Verknüpfung der Konnotationen von proprium und translatum komme. Sie böten so einen Spielraum für die Kreativität der Rezipienten und transportieren stets Spuren der kulturellen Praxis und ihrer Verwendungspraxis.«20 Dies ist gerade im Bezug auf geschichtswissenschaftliche Abhandlungen ein wichtiger Einblick, da beim Lesen dieser Texte davon ausgegangen wird, »dass Mitbedeutendes auch mitgemeint ist«.21 Nur der Kontext, in dem Metaphern auftauchen, hilft uns, »das Bild in unserer Vorstellung zu konkretisieren«.22 Spricht die Neue Kulturgeschichte in ihren Narrationen über emotionale persönliche oder gesellschaftliche Zustände, dann versucht sie auftretende Gefühlswelten, die zum Begreifen der Vergangenheit als geeignet eingestuft werden, manchmal in Metaphern zu fassen.23 Damit wird jedoch kein erkenntnistheoretischer Rückschritt in eine undifferenzierte Beobachtungssprache gemacht, sondern es wird vielmehr ein zusätzliches Instrumentarium genützt, um etwa Gefühlen mittels sprachlicher Umsetzung wieder ihre eigene spürbare Dynamik zurückzugeben, die ein starrer und »wissenschaftlicher« Sprachduktus zu negieren versucht.24 Bereits Marc Bloch wies darauf hin, dass menschliche Begebenheiten ihrem Wesen nach sehr heikle Phänomene sind, für die man, um sie richtig wiederzugeben, eine große Feinheit der Sprache braucht : »Dort, wo zählen und messen fehl am Platz sind, empfiehlt es sich, Vorstellungen nur anzudeuten. Zwischen der Darstellung physischer Realitäten und jener der Realitäten des menschlichen Geistes besteht derselbe Unterschied wie zwischen der Aufgabe eines Fräsers und der eines Geigenbauers : beide arbeiten auf den Millimeter genau, aber während der Fräser mechanische Präzisionsinstrumente benützt, verläßt sich der Geigenbauer vor allem auf die Empfindsamkeit seines Gehörs und seiner Finger. Weder wäre es gut, wenn sich der Fräser mit der Erfahrungsmethode des Geigenbauers begnügte, noch wäre es richtig, wollte der Geigenbauer den Fräser nachahmen.«25 Abschließend stellt Bloch die für die Historiografie entscheidende Frage, nämlich ob »es nicht nur einen Tastsinn der Hände, sondern auch einen der Wörter gibt«26. Damit soll hier verdeutlicht werden, dass Metaphern, wie sie häufig in der begrifflichen Semantik von geschichtswissenschaftlichen (oder auch anderen historischen) Narrationen auftauchen, auf ein substrukturelles Denken verweisen, durch das Sinnhorizonte aufgebaut werden.27 Auf diese Weise werden über besondere Begriffe (lies : Metaphern) Narrationen (mit)produziert, die dabei stark kulturell verortet sind und ihre Bedeutung erst in ihrer komplexen Verflochtenheit
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von übereinander bzw. ineinander gelagerten Vorstellungsstrukturen erhalten.28 Metaphern gewinnen durch diese Konstellationen ihre Eigenart und ihren Eigenwert, auch für historische Narrationen. Sie markieren damit nicht das »Ende der wissenschaftlichen Rede«29, sondern stellen einen möglichen Zugang dar, der historische Darstellungen vor einer allzu geglätteten Erzählung, die sich selbst als »wahr« immunisiert, bewahrt und die Rezipientinnen und Rezipienten involviert. Man kann anhand solcher Überlegungen Vermutungen darüber anstellen, dass – gleich wie dies Hayden White für die narrativen Strukturen herausgearbeitet hat, nämlich dass diese eine stärkere Wirkung auf das dargestellte Forschungsergebnis haben, als sich dies Historiker/-innen eingestehen würden – Sprache die Darstellung in ähnlicher Weise kontrolliert, wenn nicht sogar steuert.30
Exemplarische sprachliche und narrative Splitter: Zur sprachlichen Bewältigung von »Sexualität« bei Ernst Hanisch Im Folgenden wird versucht, die sprachliche Vergegenwärtigung von Vergangenheit anhand von Textbausteinen aus Ernst Hanischs Werk zu durchleuchten. Hanisch beschäftigte sich in seinen historiografischen Reflexionen und auch in seiner universitären Lehre öfters mit der Sprache als Medium der Geschichtswissenschaft, was eine reizvolle Zusammenschau zulässt. In seiner österreichischen Gesellschaftsgeschichte – »Der lange Schatten des Staates« – rekonstruiert Hanisch auch die bürgerliche Künstlerwelt des Fin de Siècle in Wien. Es ist dort zu beobachten, wie seine Sprache dabei zwischen verschiedenen Empfindungsebenen oszilliert, um die Vergangenheit zu ertasten. Hanisch schreibt : »[…] in der Kunst begannen die Bilder zu gleiten ; im öffentlichen Diskurs tauchte neben der ›sozialen‹ eine ›sexuelle Frage‹ auf. Die Beziehung zwischen Mann und Frau wurde zum ›Kampf der Geschlechter‹ mythologisiert. Das Thema lockte die psychologisch ausgerichtete Wiener Moderne besonders an. Die weibliche Rolle wurde vieldeutiger, spaltete sich auf in : Mutter, Dirne, Hexe, Sirene, Heilige, Jungfrau. Zwei extreme Pole lassen sich ausmachen, die rückhaltlose Verehrung des Weibes (Peter Altenberg) und die ebenso rückhaltlose Verachtung des Weibes (Otto Weininger). Dazwischen tummelte sich jede mögliche Verknüpfung und Kreuzung. In diesem erotisch geladenen Klima der Wiener Moderne entstand der große pornographische Roman ›Josefine Mutzenbacher‹, aber auch die erotisch vibrierende Kunst eines Klimt, Schiele, Kokoschka, Schnitzler. Bleiben wir bei Klimt. […] Klimt war ein Besessener, ein vom Frauenleib Besessener, unentwegt, nie müde werdend umkreiste er ihn : als Typus der ›hohen Frau‹, in den farbigen, ornamentgeschmückten Portraits der Damen der Gesellschaft, […] als nacktes,
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duftendes Wesen. Endlos floß der Strom der Zeichnungen der nackten Frau, in jeder Stellung, in jedem Zustand : dick, schlank, schwanger, masturbierend, lesbisch … Die Zeichnungen weisen in ein ästhetisches Paradies der befreiten Sinne, freilich gesehen mit dem männlich voyeuristischen Blick.«31
Die sprachliche Umsetzung der historischen Darstellung verunmöglicht eine eindeutige Trennung zwischen dem Beschreibenden und dem Beschriebenen. Ruth Beckermann und Wolfgang Reiter erkennen darin eine Identifikation Hanischs mit dem Prestige des Künstlers.32 Die Bewegungsbilder des »Fließens«, des »Gleitens« und des »Strömens« erinnern zudem an die sexualpsychologischen Interpretationen von Klaus Theweleit.33 Durch die sinnlich aufgeladene Sprache, die durch das Verwenden von vielen Adjektiven und sprachlichen Bildern ihre Dynamik entfaltet, vermittelt der Historiker hier seine Perspektive sprachlich gewendet, nahezu pulsierend. Betrachtet man zunächst die Darstellung der Frau im Rahmen der historischen Erzählung über die Sexualität der Zeit anhand des oben präsentierten Abschnittes, wird deutlich, dass der Wissenschaftler eine atmosphärische Assoziationskette aufbaut, in der über ein enges Nebeneinander von sprachlichen Bildern und der Nutzung unterschiedlicher Sprachregister zum Begriff »Frau« besondere Konnotationen hervorgebracht werden, die nicht zuletzt durch beigemengte semantische Hinweise ihre intendierten Schwingungen erhalten (vgl. Abb. 1). Es obliegt den Rezipienten/-innen im Dialog mit dem Text herauszufiltern, was die historische Narration über Sexualität aussagt und was nicht, wie Sexualität bewertet wird und welche (auch heutigen moralischen Vorstellungen) mitverhandelt werden. Es ist aus semantischer Perspektive heraus interessant zu beobachten, wie der Historiker Hanisch auf engem narrativem Raum die »heidnische Geilheit« (Hermann Bahr) von Klimt, um nur einen Künstler, den Hanisch bespricht, herauszugreifen, sprachlich einfängt und umsetzt, die männliche Perspektive fortschreibend.34 Hanisch nähert sich damit ähnlich an den Künstler an wie Reden/Schweickhardt, die zu Klimt festhalten : »Als radikaler Sinnenmensch, der ein ›Lotterleben‹ mit seinen Modellen führte, schöpfte er aus dem vollen. Seine Erotik ist gelebt und erhöht, höchst realistisch und raffiniert gesteigert in einem. […] Klimts Frauen sind – mit Ausnahme von Portraitaufträgen – Mischformen von Hingebung, femme fatale und reinem stilisierten Sex.«35 Ein ähnliches narrativ-sprachliches Phänomen lässt sich für die Darstellung des »Anschlusses« Österreichs an NS-Deutschland im »Langen Schatten des Staates« nachweisen. Darauf hat Michaela Wiesmayr in ihrer Analyse verwiesen. Sie bezeichnet die kumulative Semantik als »Metaphernfeld«. Gemeint sind damit die in einer semantischen Relation zueinander stehenden metaphorischen Ausdrücke, die sich summativ einem Oberbegriff zuordnen lassen. »Beim Lesen ergibt sich eine Bildfolge ; die mit dieser Bildfolge verbundenen Vorstellungen und Assoziationen verfestigen sich und können vordergründige Bedeutungen der Ausdrücke mit Mitzuverste-
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‚Josefine
Dirne
Sirene
Hexe
Heilige
erotisch vibrierend Frauenleib
Mutzenbacher‘
Hohe Frau
dick schlank
nacktes,
Jungfrau
Frau
duftendes Wesen
schwanger masturbierend lesbisch
weibliche Rolle
Weib
Geschlecht
Dame
Mutter
ästhetisches Paradies befreite Sinne männlich voyeuristischer Blick Verehrung Verachtung
Abb. 1 : Semantisches Feld zu »Frau« und flankierende Begriffe (ad Ausschnitt E. Hanisch)
•
die sexuellen Vibrationen einer kollektiven Erregung
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die überhitzte Atmosphäre
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die fiebrige Erregung
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Emotionen wecken
•
Verstand einlullen
•
Steigerungen und Verzögerungen
„Stimmung“ am 12. März 1938 und bis zur „Volksabstimmung“
Abb. 2. Metaphernfeld für die Beschreibung der Stimmung um den Anschluss 1938 in Österreich (M. Wiesmayr)37
hendem ›bereichern‹. Letztlich haben Metaphernfelder die Kraft, das Gesamtbild, das sich LeserInnen von einem Sachverhalt machen, zu verfärben.«36 Wiesmayr vermutet, dass Hanisch über das auf knapp zehn Seiten aufgebaute Metaphernfeld den Moment der irrealen Anziehungskraft, von der viele Menschen erreicht bzw. mitgerissen wurden, als Erklärung positionieren möchte (Abb. 2). Da sich die Ereignisse der Erfahrung des Autors entziehen, greift er nach dem Metapho-
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rischen, womit er vielleicht auch gleichzeitig zum Nachdenken anregen möchte,38 was aber auch ein Hinweis auf eine sprachliche bzw. narrative Leerstelle in der Vermittlungsfähigkeit des Autors sein könnte – eine »logische Verlegenheit«, wie sie von Hans Blumenberg in ähnlichen Problemfällen für die philosophische Sprache ausgemacht wurde.39 Hanisch ist sich dieses sprachlich-narrativen Vermittlungsproblems bewusst, wenn er schreibt : »Ich gebe zu : die Metapher dient oft auch dazu, fehlende Argumente zu ersetzen. Aber sie dient auch dazu, Argumente zuzuspitzen, sinnlich aufzuladen und eine offene Textstruktur herzustellen. Die Metaphorik ist von ihrer inneren Struktur mehrdeutig, sprengt den Text auf, läßt die Gedanken weiterschwingen, ermöglicht Deutungen selbst gegen die Argumente des Schreibers.«40 Eine andere Interpretation der in den Beispielen oben vorgestellten dicht sexualpsychologisch aufgeladenen Metaphorik könnte jedoch auch in einer gewollten Provokation liegen, die Hanisch im wissenschaftlichen Diskurs oftmals als erkenntnisfördernde Strategie zum Einsatz bringt.41 Die sich bei einem derartigen narrativen Weg auftuende Frage nach der Wahrung der Wissenschaftlichkeit, die sich in diesem Ausschnitt offenbar still vor der sprachlichen Formulierung und konnotativen Verzahnung verneigt und nahezu schweigt, ist dennoch zu stellen. Die ästhetische Funktion von Sprache ist bei geschichtswissenschaftlichen Publikationen, die ein breites Publikum erreichen möchten, durchaus zu beachten. »Wenn es richtig ist, daß die wissenschaftliche Sprache der Schönheit nicht tributpflichtig ist, so hat sie sich damit noch lange nicht die Ästhetik vom Hals geschafft.«42 Nach Weinrich kann der Wissenschaftler/die Wissenschaftlerin, »welche Publikationssprache er auch wählt, dem Problem der sprachlichen Form und damit dem Problem einer wissenschaftssprachlichen Ästhetik nicht aus dem Weg gehen, denn er trifft in der Art und Weise, wie er die Gegenstände präsentiert, immer auch eine ästhetische Wahl«.43 In der gewählten ästhetischen Form ist Hanischs Darstellungsversuch zu verorten, den Hans Heiss als den romantischen Wunsch des Historikers entkleidet, die Geschichtswissenschaft und die Literatur miteinander zu versöhnen.44 Wurde Theodor Mommsen 1902 noch für seine »Römische Geschichte« mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, hat sich das geschichtswissenschaftliche Selbstverständnis nahezu 100 Jahre später stark gewandelt. Eigentlich würde man sich seit Ende des 20. Jahrhunderts – nach einem Durchschreiten der »narrativen Wende« – viel stärker den »moderierenden Historiker« (W. Schulze) wünschen, der dazu antritt, die eigene Konstruktion zwischen den Ergebnissen der Detailforschung und den wissenschaftskritischen Elementen (hier besonders der verwendeten Kategorien und Konzepte) zu präsentieren und offen kritisch zu reflektieren.45 Offensichtlich gelingt es jedoch manchen Historikern/-innen, gerade dort die Welt der Vergangenheit plastisch und erfahrbar zu bauen, wo sie sich und ihre Erzählung in ein literarisches Cocoon verstricken und sich zusehends in der Quellensprache versenken. Die literarische und durch die Quellen provozierte Opu-
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lenz verführt dann aber die Leserschaft und macht die Darstellung »glaubhaft«, wie dies weiter unten an einem Beispiel sichtbar wird. Der Vorgang des differenzierten historischen Denkens entlang kühler erkenntnistheoretischer Kategorien und Konzepte wird – wenn überhaupt – später nachgereicht oder muss selbstständig (etwa über Fußnoten) erschlossen werden. Sprachliches Erleben bzw. die Narration steht dann aber meist eindeutig vor einer (selbst-)reflexiven und reflektierten offenen Entzauberung des geschichtswissenschaftlichen Tuns. Der Historiker bleibt so der gelehrte, allwissende Erzähler, dem man glauben muss, der nicht zwischen dem Heute und dem Gestern, zwischen unterschiedlichen Perspektiven und Medien moderiert. Ernst Hanisch macht in einer seiner theoretischen Schriften selbst vor allem dort eine Überwältigungsgefahr aus, wo »eine gewisse Grauzone zwischen nüchterner rationaler Sprache der Wissenschaft und der emotiven Sprache der Rhetorik besteht, zwischen dem Versuch, den Leser zu überzeugen – oder ihn zu überreden. Genau hier liegt auch die Gefahr, dass unter der Hand die eigenen Emotionen eingeschmuggelt werden.«46 Es sollte den Historikern/-innen, die Sprache spielerisch und gekonnt als Reflexions- und Transportmittel ihrer rekonstruierten Welten zum Einsatz bringen, wie dies unverkennbar auch bei einigen Darstellungen von Hanisch zu beobachten ist, jedoch kein pauschales Urteil im Sinn eines »wissenschaftlichen Sündenfalles« (Ute Daniel) zugewiesen werden. Ein solcher Versuch der begrifflichen und narrativen Vermittlung zwischen den Zeitebenen, ist er ausreichend argumentativ aufgebaut, muss nämlich im gleichen Maße kritisch begleitet werden, wie dies auch bei aalglatten und sozialwissenschaftlich verklausulierten Schwesterwerken vonnöten ist. Vielmehr gilt es bei stark sozialwissenschaftlich ausgerichteten Darstellungen jene Kritik ernst zu nehmen, welche die Sozialwissenschaften als »ein soziales Konstrukt, oder einfach eine Serie an linguistischen Konventionen, ein elaboriertes, mathematisch kodiertes Machtspiel, um die westliche Dominanz über die Reichtümer der Welt abzusichern«47, rügt. Die dem sozialwissenschaftlichen Sprachduktus inhärente Abneigung gegenüber emotionalen, allzu subjektiven menschlichen Empfindungen und die daraus erwachsenden und konstruierten sprachbereinigten »Realitäten der Vergangenheit« verkommen im Akt des historischen Darstellens zu einer ebenso schwer zu überprüfenden Erzählung, die mit Blick auf die sprachliche Dimension eben nur auf einer anderen Ebene angesiedelt ist. Kehren wir hier aber wieder zu den Textstellen von Ernst Hanisch zurück. Hanisch, der in seiner anthropologisch aufgeladenen Gesellschaftsgeschichte nur erste Hinweise auf diese Künstlerwelt um die Jahrhundertwende gibt, vertieft seine Sichtweise in seiner österreichischen Männergeschichte – »Männlichkeiten – Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts« – Jahre später. Im Kapitel über den Liebhaber sondiert Hanisch die Struktur dieser Männlichkeitsrolle, offenbar nicht ohne selbst dabei Lust zu empfinden. Sprachlich verschmilzt der historiografische Text nahezu mit der Poesie der Quellen und enttarnt den Donjuanismus des Historikers, begierig
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nach geistiger Erkenntnis und trunken vom Duft einer Epoche. Bis ins Detail jagt Hanisch den Sinneszuckungen der Moderne nach, ohne dabei Pornografisches auszusparen : »Da sie [Alma ; C.K.] jedoch das Flirten nicht lassen kann, bei Bällen von einer Cavalcade aus sieben Herren begleitet wird, beschuldigt sie sich selbst ›das gemeinste, koketteste, kälteste Frauenzimmer‹ zu sein. […] Auf der Italienreise […] in Florenz stieß Gustav Klimt zu der Gesellschaft, von dessen brutaler Sexualität sie ebenso angezogen wie abgestoßen war. Er umkreist sie, wie das Raubtier das Opfer. Doch die Familie wachte. Der Höhepunkt war der Kuss in Genua – der berühmte Klimt-Kuss, ihr erster Kuss überhaupt. Im Tagebuch Almas heißt es : ›Doch wird mir dieser Moment ewig im Gedächtnis bleiben.‹ […] Dem Mitteilungsbedürfnis der Alma Schindler verdanken wir ein seltenes intimes Tagebuch, mit Stellen, die sonst nur in der zeitgenössischen Pornographie zu finden sind, Notate über die Erweckung der Sinnlichkeit. Sonntag, 7. Juli 1901, Alma war bereits über 20 Jahre alt. ›Ich bin heute Morgen im Bett gesessen u. habe mit dem Zeigefinger meiner linken Hand meine Scheide durchwühlt. Ich kam auf eine herrlich linde, weiche Stelle … Mein ganzes Sein verlangte nach Sättigung. Kein Mann hat Ahnung von den Qualen eines ungestillten Verlangens. Der Mann geht hin u. sucht Befriedigung – u. ich …‹ ? Samstag, 26. Oktober 1901 : ›Meine ganzen Sinne sind im Aufruhr. Er schlang die Beine um mich, öffnete dann behutsam mit einem Bein die meinen, und zwang sich leise hinein. – Ich liege willenlos in seinen Armen, sehne mich nach seinem Blut. Seine Hände nahmen Besitz von meinem Leib.‹ Am nächsten Tag : ›Seine heiligen Finger‹. Ihre Gefühle, typisch für ein junges Mädchen, sind voller Labilität. Einerseits die drängende Sexualität : ›Mich dürstet nach Vergewaltigung ! – Wer immer es auch sei !‹ Andererseits die Zielvorgabe einer bürgerlichen Ehe.«48
Alma Schindlers Fantasien und erotische Spielereien mögen in der Quellendichte und Anschaulichkeit erstaunen, jedoch gelingt es dadurch, die historische Atmosphäre in einem bestimmten gesellschaftlichen Milieu entlang eines Ego-Dokuments und dessen subjektiver Anschaulichkeit zu skizzieren.49 Man sollte dabei aber auch bedenken, dass ein derartiges Spiel zwischen sprachlichen Andeutungen, Metaphern und direktem Wechsel in die historische Quelle auch ihre Tücken besitzt. Die Leser/-innen müssen, um zu einem kritischen Textverständnis zu gelangen und den Text sinnvoll erschließen zu können, »zwischen der Welt aus der berichtet wird und der Welt über die berichtet wird« unterscheiden.50 So spricht Hanisch von der über 20 Jahre alten Frau als »Mädchen«, nutzt die zeitgebundene Bewertung oder infantilisiert sie damit, setzt sie jedoch eindeutig in eine Reihe mit Alma als Kind, die auf einer Fotografie der historischen Darstellung zur Seite gestellt ist und dort als »schön, kokett, fröhlich und ja sinnlich« qualifiziert wird.51 Alles fließt ineinander und der Historiker wird mitgerissen. Sein Zugang ist dabei der direkte. Er nimmt
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keine Umwege über die Thematisierung von »moral panics« in der Gesellschaft, sondern versucht konsequent den Weg einzuschlagen, den der Historiker Angus McLaren für sich selbst so beschreibt : »[…] I will […] seek to get not only into people’s minds but under their clothes, to know what they did both in and out of bed.«52 Mit diesem Zugang wird die Geschichte der Sexualität aus dem Zwielicht auf die hell beleuchtete Bühne geholt und ihren Akteuren/-innen wird eine kulturelle Weltkonstruktion zugestanden, die das Sexuelle nicht mit dem Natürlich-Unveränderlichen assoziiert.53 Das historische Individuum und seine Sprache, repräsentiert in der Quelle, sind dabei von besonderem Wert. Peter Gay betont, dass über Porträts einer historischen Person, die ja zwangsläufig einer sozialen Klasse mit gewissen voraussagbaren Denk- und Handlungsweisen angehört, ein neues Licht auch auf die Klasse und die Zeit, der sie angehört und in der sie lebt, gezeichnet werden kann.54 Die Sprache der Person liefert dafür einen besonderen Zugang. Kommentiert der Historiker bzw. die Historikerin jedoch zu wenig, wird dem Geschriebenen – hier Tagebucheintragungen – eine Wahrheit zuteil, die auch einfach nur erotische Fantasie sein könnte. Man sollte den Blick aber auch in ein anderes Kapitel der »Männergeschichte« werfen und danach fragen, inwieweit der Historiker Hanisch die Sexualität der Bürger/-innen Wiens, in ihrer Wahrnehmung durch die Quellen gefiltert, zum Teil – wegen der zum Einsatz gebrachten Sprache in der historischen Narration, die vor allem dem poetischen Hang der bürgerlichen Epoche folgt – idealisiert. Bedient sich der Geschichtswissenschaftler in der Darstellung der Künstler und ihres bürgerlichen Umfeldes vornehmlich eines tiefsinnigen und bedeutungsschwangeren (»bürgerlichen«) Wortschatzes, werden andere (z. B. bäuerliche und proletarische) Schichten in eine brutale, schnörkellose Sexualität gezwungen, da Anthropologisches auch über den die historische Narration bestimmenden Soziolekt sozial gewendet wird. »Die Sexualität der Arbeiter unterschied sich von der Sexualität der Bürger durch ihre größere Unbefangenheit, die Schamgrenze lag tief. Die überbevölkerten Wohnungen erlaubten wenig Intimität, die harte Körperarbeit provozierte den ordinären, zotigen Ton […]. Ein eindrucksvolles Beispiel der sexuellen Egalisierung der Geschlechter lieferte Wenzel Holek in seinen Erinnerungen. Auf der Abraumhalde in Dux, im Staub, Qualm und Schmutz, arbeitete Rosa, eine 40-jährige Frau. Ein ›Abraumbruder‹ mit zerrissenem Hemd, ein alter Sack diente als eine Art Schürze vor der löchrigen Hose, kam vorbei. ›Da nun sprang Rosa vor ihrem Karren weg, zu dem mit der Schürze hin und rief : ›Johann, es muss bald Mittag sein, ich möchte Mittag läuten.‹ Damit schob sie die vordere Schürze schnell auf die Seite und erfasste ihn bei seinem Glied. ›Bim, baum, bim baum, bim baum‹, rief sie immer dazu. Alles blieb stehen, denn niemand konnte vor Lachen weiterfahren.‹«55
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Die Strategie Hanischs auch in diesem Abschnitt die Quellen sprechen zu lassen, kann in die Irre führen. Das historische Beispiel ist eingängig und wird stark bildlich präsentiert, doch gleichzeitig darf man dabei, wenngleich der Historiker zumindest kursorisch im weiteren hier nicht zitierten Text auf Aspekte der romantischen Liebe in der Arbeiterschaft hinweist,56 das heterogene Sexual- und Familienleben der Arbeiterschaft nicht verkennen, das durch Faktoren wie Bildung, Konfession, soziale Herkunft, ländliche Prägung, materielle Bedingungen, Chancen zur Familien- und Haushaltsbildung etc. bestimmt war. Es gab daher unter bestimmten Voraussetzungen und Bindungen auch die sexuell zurückhaltende Arbeiterin, die eher an die von Hanisch entworfene bürgerliche Frau erinnert.57 Zu bedenken gilt es eben, was Peter Gay zum Bürgertum um 1900 anmerkt : »Matrosen, Soldaten, entwurzelte Handlungsreisende waren nicht die einzigen Kunden, auf welche die Prostituierten des 19. Jahrhunderts zählen konnten.«58 Aus diesem Grund sollte die bürgerliche Sexualität nicht auf die Minne in Künstlerkreisen reduziert und damit idealisiert werden. »Nur allzu oft zeigt sich die bürgerliche Liebe im 19. Jahrhundert in vornehmer künstlerischer oder literarischer Verbrämung, in unverständlichen Träumen und ungewollten Geständnissen – was alles nach jener archäologischen Deutung schreit, auf die sich die Psychoanalyse spezialisiert.«59 Hanisch lässt sich auf eine solche Deutung ein. Die von ihm etwa versprachlichte Kunst eines Klimt oder Kokoschka vermischt sich mit der historischen Quelle zu seinem wissenschaftsorientierten Text, wie dies an den Zitaten oben deutlich wird. Es ist das Spiel mit den sprachlichen Möglichkeiten, die durch die Nutzung von Worten aus dem Dialekt, der Standard- oder Fachsprache, des Soziolektes etc. entsteht. Und dennoch stellt sich im hier aufgeworfenen Kontext zwangsläufig die Frage nach der Angemessenheit der sprachlichen Darstellung der Vergangenheit. Will die Sprache der Historiker/-innen mehr sein als reproduktiver Quellenvoyeurismus oder sensitive Garnier, dann sollte im Sinn einer Gefühlsgeschichte danach gefragt werden, ob sich von der Quellensprache die Empfindungen der Vergangenheit hinreichend ableiten lassen oder ob eine schichtspezifische – möglicherweise auch eine geschlechtsspezifische – Semantik nicht das Gleiche (signifiè) mit unterschiedlichen Begriffen (significant) bezeichnet,60 kurz : Wie lautet eine bürgerliche sprachliche Codierung des »bim baum« ? David M. Halperin weist mit Recht darauf hin, dass die Gefahr des Projektes einer »Geschichte der Sexualität« seit dem Ende des 20. Jahrhunderts nicht in einer Version liegt, welche die »Natur« negiert, sondern vor allem in einer erneuten Idealisierung61 – eine Idealisierung der bürgerlichen Koketterie ebenso wie der proletarischen Brutalität mit den an diese Vorstellungswelten geknüpften historisierten sexuellen Fantasien. Man wird tiefer graben müssen, um die Konzepte, die hinter einer derartigen (auch sprachlichen) Konzeption einer historischen Narration stehen, freizulegen. Im Fall des historischen Werkes von Ernst Hanisch bieten sich dazu seine theoretisch gehaltenen Schriften an, in denen er stärker Einblicke in seine Konzepte bietet als in sei-
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nem männlichkeitsgeschichtlichen Plot. Liebe zwischen Menschen wird bei Hanisch primär als eine anthropologische Konstante wahrgenommen, deren Fundierung er auch auf biologische Grundlagen zurückführt.62 Diese These, die er in einem Aufsatz 2005 vertritt, ist nicht neu. Bereits am Zeitgeschichtstag 1999 plädierte Hanisch für ein erneutes Interesse der Geschichtswissenschaft an der Biologie (besonders an der Genforschung). In seiner eigenen Metaphorik gesprochen interessierte sich der Zeithistoriker aus einer unverkennbar männerdominierten Sicht sowohl für den Penis (lies : biologisches Geschlecht) als auch für den Phallus (lies : soziales Geschlecht), was Ende des 20. Jahrhunderts auf der Tagung zu Widerständen einiger Geschlechterforscher/-innen führte.63 »Das subjektive Gefühl der Liebe mag in allen Epochen, in allen historischen Perioden ähnlich sein, wie die Liebe gesellschaftlich erfahren wurde, welchen Normen sie unterlag, wie sie tatsächlich erlebbar war, wie sie sich in den einzelnen sozialen Schichten ausprägte, unterlag dem historischen Wandel.«64 Dabei wird die Sexualität zwar als angeborenes Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramm als Argument eingebracht, jedoch durch die ebenfalls wirksamen kulturell erworbenen Verhaltensweisen relativiert.65 Vor einem derartigen Verständnishintergrund sollten die Textausschnitte von oben auf verschiedenen Reflexionsebenen gelesen werden. Liebe und Sexualität könnten sich demnach – kulturhistorisch gewendet – gerade in der in historischen Quellen auffindbaren Umgangssprache und in den dort verwendeten Begriffen konservieren. Versteht man Sprache und ihre Lexik als Resultat von sozialen und kulturellen Praxen, beeinflusst Sprache also das Denken und Handeln, dann ist sie auch – besonders bei subjektiven Quellen – ein Tor zu vergangenen Bewusstseinsstrukturen.66 Es stellt sich jedoch dennoch die unerlässliche und immer neu zu diskutierende Frage, ob der Historiker/die Historikerin sich entlang dieser Sprache und ihrer Worte ein Stück weit mehr Vergangenheit in seiner/ihrer eigenen Darstellungen einfangen soll oder ob er/sie bewusst verschiedene sprachliche Ebenen nutzen sollte, um sich selbst in der Erzählung sichtbarer zu machen. Dagmar Herzogs Anmerkungen über die Vergangenheit treffen damit auch auf die Historiker/-innen der Gegenwart zu : »Wie die Menschen die Welt verstehen, hat gewaltige Auswirkungen darauf, wie sie sich in der Welt verhalten. Und Auseinandersetzungen über Sexualität sind dafür besonders augenfällige Beispiele.«67
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Sigrid Vandersitt : Die Sprache der Zeitgeschichte – eine linguistische Annäherung. Tempus : Orientierung und Positionierung im historiographischen Text. – In : Zeitgeschichte 1, 2005, 32. S. 19–34. Árpád von Klimo/Malte Rolf : Rausch und Diktatur. – In : ZfG, 10, 2003, 51. S. 877– 895. Harald Weinrich : Sprache und Wissenschaft. – In : Heinz L. Kretzenbacher/Harald Weinrich (Hg.) : Linguistik der Wissenschaftssprache. Berlin – New York 1995. S. 3–13. Ulrich Weinzierl : Unaufgeregt durchs Jahrhundert der Wölfe. – In : FAZ, 17.11.1994. S. 39. Michaela Wiesmayr : ›Zwischen den Zeilen‹. Hintergründige Satzinhalte im historiographischen Text (Diplomarbeit). Salzburg 2003.
Anmerkungen 11 Tilmann Borsche : Die Fakten der Geschichte. Geschichtsphilosophische Überlegungen im Anschluß an Friedrich Nietsche. – In : Jürgen Trabant (Hg.) : Sprache der Geschichte. München 2005. S. 43–53, hier : S. 44. 12 Doris Bachmann-Medick : Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften. Reinbek b. Hamburg 20072. S. 34f. 13 Vgl. Ernst Hanisch : Die linguistische Wende. Geschichtswissenschaft und Literatur. – In : Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hg.) : Kulturgeschichte heute. Göttingen 1996. S. 212–230. – Jürgen Trabant : Zur Einführung. Vom linguistic turn der Geschichte zum historic turn der Sprachwissenschaft. – In : Jürgen Trabant (Hg.) : Sprache der Geschichte. München 2005. S. VII–XXII. 14 Sigrid Vandersitt, Die Sprache der Zeitgeschichte – eine linguistische Annäherung. Tempus. Orientierung und Positionierung im historiographischen Text. – In : Zeitgeschichte 1, 2005, 32. 19–34, hier S. 19. – Vgl. auch Sigrid Vandersitt : Der historische Text. Wie Geschichte geschrieben wird – Der ›Anschluss‹ im Vergleich (Diplomarbeit). Salzburg 2002. – Die hier zitierte Abschlussarbeit wurden von Ernst Hanisch betreut und entstand aus einem Seminar heraus, in dem der Historiker zur Sprachreflexion einlud. 15 Clemens Sedmak, Arbeit an Begriffen. – In : Renate Böhm/Robert Buggler/Josef Mautner (Hg.) : Arbeit am Begriff der Armut (= Working Papers Facing Poverty 3/2003). Salzburg 2003. S. 11–18, hier S. 11. 16 Volker Selin : Einführung in die Geschichtswissenschaft. Göttingen 1995. S. 126. 17 Ebd. 18 Gebhard Rusch : Talking History. Eine Mikro-Zeitgeschichte zum Verhältnis von Kognition, Sprache und Geschichte. – In : ÖZG 4, 1999, 10. S. 539–561, hier S. 542. 19 U.a. Reinhard Koselleck : Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt/Main 2006. – Ernst Müller (Hg.) : Begriffsgeschichte im Umbruch ? Hamburg 2005. – Hans-Ulrich Gumprecht : Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. Paderborn 2006. 10 Vgl. dazu exemplarisch : Árpád von Klimo/Malte Rolf : Rausch und Diktatur. – In : ZfG, 10, 2003, 51. S. 877–895. – Christoph Kühberger : Emotionaler Rausch. Zu den Mechanismen der Gefühlsmobilisierung auf faschistischen und nationalsozialistischen Festen. In : Árpád von Klimo/Malte Rolf (Hg.) : Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen. Frankfurt/Main 2006. S. 177–192.
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11 Christoph Kühberger/Clemens Sedmak : Ethik der Geschichtswissenschaft. Zur Einführung. Wien – Innsbruck 2008. S. 140. 12 Ernst Hanisch : Moral in der Geschichte – Ein grundlegendes Problem. – In : Christoph Kühberger/Christian Lübke/Thomas Terberger (Hg.) : Wahre Geschichte – Geschichte als Ware. Die Verantwortung der historischen Forschung für Gesellschaft und Wissenschaft. Rahden/Westf. 2007. S. 81–88, hier S. 87. 13 Ebda, S. 84. 14 Kühberger/Sedmak, Ethik der Geschichtswissenschaft, S. 144. 15 Wolfgnag J. Mommsen : Die Sprache des Historikers. – In : HZ 238/1984. S. 57–81, hier S. 63. 16 Marry Fulbrook :, Historical Theory. London – New York 2003. S. 75f. 17 Man könne zwar für (sozialwissenschaftliche) Konzepte fachlich akzeptable Deutungen identifizieren, aber es gibt meist mehrere »richtige« Interpretationen von ihnen, da sie »immer schon Gegenstand kontroverser gesellschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher Diskurse« waren. – Wolfgang Sander : Politik entdecken – Freiheit leben. Didaktische Grundlagen politischer Bildung. Schwalbach/Ts. 20072. S. 104. 18 Karl-Georg Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft. München 1971. S. 162. 19 Faber zitiert nach Mommsen, Die Sprache, S. 61. 20 Lutz Danneberg : Bericht zum 60. Wolfenbüttler Symposium »Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte.« (4.9.2006) – http ://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index. asp ?id=1311&view=pdf&pm=tagungsberichte (3.4.2009) – Vgl. dazu auch Ricœurs Reflexion auf die Postulate von Ferdinand de Saussure : Paul Ricœure : Die lebendige Metapher. München 1986. S. 74ff. 21 Michaela Wiesmayr : ›Zwischen den Zeilen‹. Hintergründige Satzinhalte im historiographischen Text. (Diplomarbeit) Salzburg 2003. S. 4. – Auch diese Arbeit entstand im Rahmen der akademischen Lehre von Ernst Hanisch. 22 Ebd., S. 9. 23 Vgl. Otto Ulbricht, Mikrogeschichte. Versuch einer Vorstellung. – In : GWU 45/1994. S. 347–365, hier S. 357. 24 Christoph Kühberger : Sexualisierter Rausch in der Diktatur. Geschlecht und Masse im italienischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus. In : ZfG 10/2003. S. 912–922, hier S. 922. 25 Marc Bloch : Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers. München 1985. S. 26. 26 Ebd. 27 Hans Blumenberg : Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt/Main 1998. S. 13. 28 Christiane Frey : Begriffsgeschichte(n). Zur Karriere und Neuformierung eines neuerdings kulturwissenschaftlichen Ansatzes. – www.iaslonline.de/index.php ?vorgang_id=1840 (3.4.2009). 29 Vgl. Wolfgang Meixner in : ÖZG-Redaktion, Der lange Schatten der Historiographie oder Barocke Aufklärung. Ernst Hanischs ›Der lange Schatten des Staates‹ Eine Kritik, ÖZG 1, 1995, 6, 85–118, hier S. 97. 30 Vgl. Ute Daniel : Kompendium Kulturgeschichte. Theorie, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt/Main 20023. S. 433. 31 Ernst Hanisch : Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994. S. 256f. 32 Ruth Beckermann/Wolfgang Reiter : Heimat-Fibel des kleinen Mannes. Die Zukunft, Mai/1996. S. 16–22, hier S. 17. – Damit werden gleichzeitig die männlichen Perspektiven der Vergangenheit in der Darstellung fortgeschrieben. – Vgl. dazu U. Döcker, in : ÖZG-Redaktion, Der lange Schatten, S. 113. 33 Nach Theweleit beschäftigt sich der (soldatische) Mann mit »Strömen«, »Fluten«, »Schlamm«, »Schleim«, »Brei« etc. , wobei mit diesen Metaphern die Sehnsucht nach Sexualität verbunden wird. – Vgl. Klaus Theweleit : Männerphantasien 1+2. München 2000 [1977, 1978]. – Vgl. zur traditionellen Metaphorik des Strömens in der Geschichtswissenschaft Alexander Demandt : Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Geschehnisse im historisch-politischen Denken. München 1978.
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34 Vgl. Ulrike Döcker, in : ÖZG-Redaktion, der lange Schatten, S. 113. – Vgl. zur geschlechtersensiblen Wahrnehmung auch die Rezension von Ingrid Bauer : Von den Autobahnen der Erkenntnis – und versäumten Ausfahrten. – In : L’Homme Z.F.G. 1, 1996, 7. S. 206–211. 35 Alexander Sixtus von Reden/Josef Schweikhardt : Eros unterm Doppeladler. Eine Sittengeschichte Altösterreichs. Wien 1993. S. 160. 36 Wiesmayr, Zwischen den Zeilen, S. 16f. 37 Die Analyse bezieht sich auf : Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 337, 339 und 346. – Wiesmayr, Zwischen den Zeilen, S. 17. 38 Ebd., S. 18 und S. 28. 39 Blumenberg, Paradigmen, S. 10. 40 Ernst Hanisch, Anklagesache – Österreichische Gesellschaftsgeschichte. – In : ÖZG 3, 1995, 6. S. 457– 465, hier S. 462. 41 Vgl. Ernst Hanisch : Männlichkeiten. Eine Erzählung und eine Provokation. – In : Manfred Lechner/ Dietmar Seiler (Hg.) : zeitgeschichte.at. 4. Österreichischer Zeithistorikertag 1999 (CD-Rom). Innsbruck – Wien 1999. S. 154–156. 42 Harald Weinrich, Sprache und Wissenschaft. – In : Heinz L. Kretzenbacher/Harald Weinrich (Hg.) : Linguistik der Wissenschaftssprache. Berlin – New York 1995. S. 3–13, hier S. 7. 43 Ebd., S. 13. 44 Hans Heiss, Rezension zu Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994. – In : Der Schlern 7,1995, 69. S. 430–434, hier S. 434. – Unterschiedliche Rezensenten/-innen von Hanischs Österreichischer Gesellschaftsgeschichte merkten genau diesen Hang zum Literarischen an. Manche empfanden diese Haltung in den 1990er Jahren, zu einem Zeitpunkt als die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte sich bereits gegen die immer lauter werdende kulturhistorische Kritik zu verteidigen hatte, als Provokation, andere lobten den Stil : Vgl. u.a. ebd., S. 430. – Hans Heiss : Rezension zu Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994. – In : Archiv für Sozialgeschichte 35, 1995. S. 821–827, hier S. 826f. – Peter Csendes, Rezension zu Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994. In : Mitteilungen des Institutes für österreichische Geschichtsforschung 106/1998. S. 230–231, hier S. 231. – Ulrich Weinzierl : Unaufgeregt durchs Jahrhundert der Wölfe. – In : FAZ, 17.11.1994. S. 39. – Beckermann/Reiter, Heimat-Fibel, S. 17. 45 Vgl. Hans-Jürgen Pandel : Was macht ein Schulbuch zu einem Geschichtsbuch ? – In : Saskia Handro/ Bernd Schönemann (Hg.) : Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung. Münster 2006. S. 15–37, hier S. 22. 46 Ernst Hanisch : Zum Stand der Theoriedebatte in der Geschichtswissenschaft. In : Beiträge zur Historischen Sozialkunde. Sondernummer 1997. S. 3–8, hier : S. 7. 47 Joyce Appleby u.a. : Telling the Truth about History. New York 1994. S. 8. – nach Ernst Hanisch : Die linguistische Wende. Geschichtswissenschaft und Literatur. – In : Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hg.) : Kulturgeschichte heute. Göttingen 1996. S. 212–230, hier S. 215. – Übersetzung durch C.K. 48 Ernst Hanisch : Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wien 2005. S. 133ff. 49 Wien galt um die Jahrhundertwende als »city of sex«. Die subjektiven Quellen, die hier in der historischen Darstellung zum Einsatz gebracht werden, ergänzen die literarisch vermittelte Atmosphäre auf einer anderen Ebene. – Vgl. Dagmar Herzog : Sexuality in Twentieth-Century Austria. – In : Günther Bischof/Anton Pelinka/Dagmar Herzog (Hg.) : Sexuality in Austria (= Contemporary Austrian Studies Vol. 15). New Brunswick, New Jersey 2007. 7–20, hier S. 9. – David S. Luft : Thinking about Sexuality and Gender in Vienna. – In : ebd. S. 21–30. 50 Vandersitt, Die Sprache der Zeitgeschichte, S. 31. 51 Hanisch, Männlichkeiten. Eine andere Geschichte, S. 132f.
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52 Angus McLaren : Twentieth-century Sexuality. A History. Malden, Massachusetts 1999. S. 6. 53 Isabel V. Hull : ›Sexualität‹ und bürgerliche Gesellschaft. – In : Ute Frevert (Hg.) : Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Göttingen 1988. S. 49–66, hier S. 49. 54 Peter Gay : Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter. München 1987. S. 10. 55 Hanisch, Männlichkeiten. Eine andere Geschichte, S. 157. 56 Hanisch, Männlichkeiten. Eine andere Geschichte, S. 157. 57 Franz X. Eder : Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität. München 2002. S. 174f. – Vgl. auch Peter Gay : Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter. München 1987. S. 395ff. 58 Peter Gay : Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter. München 1986. S. 15. 59 Peter Gay : Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter. München 1987. S. 10. 60 Vgl. Heidrun Pelz : Linguistik. Eine Einführung. Hamburg 2000. S. 44f. 61 David Halperin : Is there a History of Sexuality ? In : Brian Fay/Philip Pomper/Richard T. Vann (Hg.) : History and Theory. Contemporary Readings. Oxford 1998. S. 253–267, hier S. 262. 62 Ernst Hanisch : Zur Geschichte des Liebhabers im 20. Jahrhundert. In : Ingrid Bauer/Christa Hämmerle/ Gabriella Hauch (Hg) : Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen. Wien 2005. S. 417–427, hier S. 417. 63 Hanisch, Männlichkeiten. Eine Erzählung und eine Provokation. – Vgl. auch Hanisch, Männlichkeiten. Eine andere Geschichte, S. 10. 64 Ernst Hanisch : Als Historiker über Liebe schreiben. – Abstract zur Tagung »Widerstand und Liebe. Edith Saurer zum 60. Geburtstag, Wien 2002. – http ://homepage.univie.ac.at/gender.geschichte/abstracts.html (10.3.2009) 65 Hanisch, Zur Geschichte des Liebhabers, S. 418. – Es handelt sich demnach um einen interaktionstheoretischen Ansatz. Vgl. zum psychologischen Forschungsstand : Doris Köhler-Bischof : Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechterunterschiede. Stuttgart 2002. S. 233ff. – Dorothee Alfermann : Geschlechterrollen und geschlechtertypisches Verhalten. Stuttgart 1996. S. 57ff. 66 Vgl. Ingrid Samel : Einführung in die feministische Sprachwissenschaft. Berlin 1995. S. 47. 67 Vgl. auch Dagmar Herzog : Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. München 2005. S. 313.
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Die Probleme mit dem Geschichtsunterricht und das Schweigen der Historiker
»Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind.«1 (Theodor W. Adorno) »Die Schule hat keine wichtigere Aufgabe, als strenges Denken, vorsichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen zu lehren«2 (Friedrich Nietzsche) »Daher ist nichts so selten, als eine buchstäblich wahre Erzählung, nichts so sehr der Beweis eines gesunden, wohlgeordneten, rein absondernden Kopfes, und einer freien, objectiven Gemüthsstimmung ; daher gleicht die historische Wahrheit gewissermaßen den Wolken, die erst in der Ferne vor den Augen Gestalt erhalten ; und daher sind die Thatsachen der Geschichte in ihren einzelnen verknüpfenden Umständen wenig mehr, als die Resultate der Ueberlieferung und Forschung, die man uebereingekommen ist, für wahr zu nehmen, weil sie am meisten wahrscheinlich in sich, auch am besten in den Zusammenhang des Ganzen passen.«3 (Wilhelm von Humboldt)
Zur Situation des historischen Lernens in Österreich Die Leistungsfähigkeit der österreichischen Schulen wird seit den sogenannten PISAErgebnissen4 nachhaltig in Zweifel gezogen, die Schule steht heute in der öffentlichen Diskussion, sei es, dass die Ausbildung der LehrerInnen wieder zum Gegenstand der Kritik gemacht wird, sei es, dass die Methoden des Lehrens und Lernens von einer – in der Hauptsache journalistischen – Öffentlichkeit5 kritisiert werden.6 Geschichtsunterricht steht dabei noch am Rande des öffentlichen Interesses. Historischem Lernen wird in Österreich traditionell kein allzu hoher Stellenwert beigemessen und da die PISA-Untersuchungen das historisch-politische Wissen der SchülerInnen bisher nicht erhoben haben, besteht offensichtlich auch wenig Veranlassung, das Augenmerk stärker auf den Bereich des historisch- politischen Unterrichts zu lenken.
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Althergebrachte Bildungsinhalte und Lehrtraditionen haben sich schon seit geraumer Zeit als obsolet erwiesen : Wurde historisches Lernen früher im Wesentlichen als Aneignung von Inhalten begriffen, die sich am Kanon bildungsbürgerlichen Wissens orientierten, so stehen heute die Verbesserung der Fähigkeiten und Fertigkeiten und der Verhaltensoptionen der SchülerInnen im Fokus der Bemühung. Es geht heute vielmehr darum, das Geschichtsbewusstsein der Schülerinnen zu fördern, eine Intention, die es notwendig macht, die historischen Kompetenzen der SchülerInnen zu entwickeln und die Bereitschaft zu wecken, diese auch anzuwenden. »Das Streben nach Geschichtsbewusstsein hängt mit dem Wissen zusammen, dass das Gestern im Heute fortwirkt und der gegenwärtige Zustand etwas Gewordenes ist, das ohne seine Vergangenheit nicht verstanden werden kann.«7 Das heißt auch : Geschichte um ihrer selbst willen zu lehren und zu lernen ist heute zu wenig. »Warum sollen Kinder und Jugendliche ein bestimmtes Wissen über die Vergangenheit erwerben ?« und »Inwieweit hilft die Beschäftigung mit Vergangenheit und Geschichte bei der Orientierung in der Gegenwart und bei der zukünftigen Lebensbewältigung« – das sind Fragen, die heute nicht länger unbeantwortet bleiben können.8 Es geht um nichts weniger als um eine Reorganisation der Lernstruktur des Faches und um die Antwort auf die Frage, was denn eigentlich die durch kein anderes Fach zu ersetzende Lernleistung der SchülerInnen im Geschichtsunterricht sei. »Epochenspezifische Veränderungen verlangen entsprechende Veränderungen im Feld des historisch-politischen Lehrens und Lernens. Der Geschichtsunterricht der Zukunft kann nicht mehr unverändert weiterbestehen, weder inhaltlich noch organisatorisch.«9 Das 21. Jahrhundert wird einiges an Problemen aufwerfen, das auch als Herausforderung an das Geschichtslernen herantreten wird : die ständig zunehmende Digitalisierung und Beschleunigung der weltweiten Kommunikation, der Aufstieg neuer (vor allem asiatischer) Staaten zu Weltmächten, eine Verschärfung des Kampfes um Rohstoffe (Wasser, Öl, Nahrungsmittel…), der bedrohlich fortschreitende Klimawandel. Ist der Geschichtsunterricht in Österreich auf diese Herausforderungen vorbereitet ? Aus vielen Gründen sind Zweifel angebracht : Die österreichischen Lehrpläne und stärker noch die Lehrer und Lehrerinnen selbst halten am chronologischen Durchgang durch die Geschichte fest, an einem einmaligen in der Hauptschule bzw. AHS-Unterstufe und an einem doppelten, zählt man die Sekundarstufe 2 dazu. Eine solche Stoffanordnung bereitet nicht unerhebliche Probleme : So erfahren die Jugendlichen im Rahmen des Geschichtsunterrichts erst dann etwas über Nationalsozialismus, wenn sie schon von vielen anderen Seiten darüber in einem Ausmaß informiert wurden, dass es zu einer Verfestigung ihrer Haltungen und Urteile gekommen ist. Internet und Spielfilme, eine »rechte« oder linke Musikszene, Gespräche im Familien- und Freundeskreis und die TV-Dokumentationen Guido Knopps – sie alle haben die SchülerInnen schon lange vor dem Geschichtsunterricht erreicht. Dafür müssen sich die Kinder ganz zu Beginn des historischen
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Lernens mit der attischen Demokratie auseinandersetzen – sehr oft noch mit der verschärften Auflage, sie in einen Vergleich zur Demokratie in Österreich zu setzen – und sehen sich dabei heillos überfordert. Von dem Umstand, dass Chronologie stets die politische Ereignisgeschichte unzulässig stark ins Blickfeld rückt, sei hier noch abgesehen : »Tatsächlich hat der chronologische Durchgang noch nie funktioniert, und heute funktioniert er erst recht nicht.«10 Ein Gebot der Stunde stellt das interkulturelle Lernen im Geschichtsunterricht dar, und das nicht nur wegen der vielen Zuwanderer in den Klassenzimmern, sondern auch wegen der Auswirkungen der europäischen Integration. Europa beherbergt viele unterschiedliche Kulturen : »Wer mehr Europäisierung will, muß sie interkulturell gestalten, wofür die Formel ›Einheit in der Vielfalt‹ nur ein schwacher Ausdruck ist.«11 Geschichtsunterricht in Österreich hat diese Aufgabe erst zu bewältigen.12 Die Geschichtswissenschaft dient der »Sinnbildung über Zeiterfahrung« und erschöpft sich nicht in der bloßen Konservierung und Weitergabe von Kenntnissen.13 Auch im Geschichtsunterricht ist heute der Faktor Wissen nicht von primärer Bedeutung, so sehr er auch das historische Lernen traditionell dominiert hat. Einem naheliegenden Irrtum ist dabei zu begegnen : Wissen und Wissenserwerb wird von der neueren Geschichtsdidaktik nicht gering geschätzt und ihre Bedeutung nicht prinzipiell in Abrede gestellt ! Aber der Erfolg des Bemühens, SchülerInnen ein Reservoirwissen anzutrainieren, das ein Leben lang seinen Zweck erfüllt, wird aus guten Gründen in Zweifel gezogen werden müssen. Die Erfahrungen haben gezeigt : Ein Wissen, das für sich allein steht und nicht immer wieder angewendet werden kann, ist mit einem recht knappen Ablaufdatum versehen. Auch ist es nicht ausgemacht, dass einmal erworbenes Wissen seine Relevanz in späteren Zeiten behält. Da Geschichte immer die Antwort darstellt auf Fragen, die aus der Gegenwart heraus gestellt werden, ist sie – wie die Fragen selbst – ständiger Veränderung unterworfen. Die neuen »Geschichten« – Alltagsgeschichte, Mentalitätsgeschichte, Frauen- und Geschlechtergeschichte etwa –, sie alle verdanken ihr Entstehen dem Bedürfnis nach Antworten auf Gegenwartsfragen.14 Die Antworten auf Fragen, die aus gutem Grund gestern gestellt worden sind, haben ihre Bedeutung heute oft eingebüßt. Historisches Lernen als bloße Aneignung einer Stoffsammlung kann auch nicht zu einer Bildung im humanistischen Sinn führen : Nur »durch die geistige Arbeit an sich und an der Welt«15 und durch die kritische Reflexion ist Bildung erwerbbar, schlecht verstandenes Wissen trägt nicht zur Bildung bei, sondern begründet Unbildung. »Unbildung heute ist deshalb auch kein intellektuelles Defizit, kein Mangel an Informiertheit, kein Defekt an einer kognitiven Kompetenz – obwohl es alles das auch weiterhin geben wird –, sondern der Verzicht darauf, überhaupt verstehen zu wollen. Wo immer heute von Wissen die Rede ist, geht es um etwas anderes als Verstehen.«16
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Das Missverhältnis zwischen den verfügbaren Stundenbudgets einerseits und dem ständig anwachsenden zur Verfügung stehenden Geschichtswissen andererseits zwingt zur Ökonomisierung der Ausgestaltung der Unterrichtszeit und zu einem prinzipiellen Umdenken, was Didaktik und Methodik betrifft. Selbst wenn es gewollt wäre : Einen Überblick über die Geschichte zu gewinnen ist SchülerInnen schon deshalb unmöglich. Die Geschichtsdidaktik verweist deshalb heute auf neue Wege : Die Herstellung und ständige Verbesserung der Fähigkeit, mit Vergangenheit und Geschichte reflektiert und selbstreflexiv umgehen zu können, die Verlagerung des Fokus vom Wissen auf die Techniken des Wissenserwerbs, das Recht der Jugendlichen, sich in ein selbst gewähltes und selbst bestimmtes Verhältnis zur Vergangenheit zu setzen, das sind Anliegen, die in den Vordergrund treten. Seit etwa vier Jahrzehnten spricht die Geschichtsdidaktik von der Förderung des Geschichtsbewusstseins als einem neuen Ziel des historischen Lernens.17 Wesentliche Bausteine dafür sind das Unterscheidenkönnen zwischen Vergangenheit und Geschichte, das Erkennen der Selektivität und Perspektivität der Geschichtsnarrationen und die enge Verbindung zwischen Vergangenheitsdeutung, Gegenwartswahrnehmung und Zukunftserwartung bei allen Versuchen, Vergangenes zu rekonstruieren. Wissen sollten SchülerInnen sich dabei so viel als möglich aneignen, aber der Lernprozess stellt nicht mehr exklusiv darauf ab. Historisches Wissen wird Mittel zum Zweck : Wer sich mit einem historischen Problem befassen möchte, der braucht das dazu notwendige Wissen. Ein solches Wissen ist also anlassbezogen, beispielhaft und die Voraussetzung für den Erwerb historischer Kompetenzen. Es hat nichts gemein mit jenem lexikalischen Überblickswissen, mit dem Generationen von Schülern das Interesse und die Freude an der Geschichte nachhaltig ausgetrieben worden ist. Zu bedenken ist auch : Noch nie waren Jugendliche in ihrer Lebenswelt so intensiv mit der Geschichte konfrontiert wie heute. Die kulturelle Wende vom gedruckten Wort hin zur Audiovision hat längst stattgefunden und trifft das Fach mit Heftigkeit – die Fachhistoriker haben darauf nur noch nicht reagiert. 18 Computerspiele, Comics und historische Romane, vor allem aber Spielfilme und TV-Dokumentationen bestimmen das Geschichtsbild der (jungen) Menschen in weit höherem Maße als es Geschichtsunterricht und Geschichtswissenschaft je könnten. Nur wenn junge Menschen in die Lage versetzt werden, den historischen Narrationen, denen sie in ihrer Lebenswelt begegnen, nicht nur mit naiver Gläubigkeit gegenüberzutreten, sondern sie nach ihrem Zweck, der dahinterstehenden Intention und den offenen und versteckten Botschaften zu befragen, wenn sie es schaffen, die Eigengesetze der Medien, die die Erzählung jeweils transportieren, zu durchschauen und die dadurch unumgängliche Veränderung der erzählten Geschichte abzuschätzen, haben sie einen Schritt zur Mündigkeit erfolgreich getan. Dass zur Auseinandersetzung mit diesen Narrationen jeweils ein spezifisches Wissen die Voraussetzung darstellt, ist
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eine Binsenwahrheit. Es ist aber Voraussetzung des Kompetenzerwerbs und nicht das eigentliche und alleinige Ziel des Lernens. Kompetenzerwerb ist auf die Selbsttätigkeit der Lernenden angewiesen. Kompetenzen können nicht vermittelt werden, sie werden vom Lernenden aktiv erworben. Die Methodik des Geschichtsunterrichts verhält sich aus Tradition dazu eher kontraproduktiv.
Das Desinteresse an der Didaktik Es gehört allem Augenschein nach nicht zu den vordringlichsten Interessen der (österreichischen) Geschichtswissenschaft, sich mit den Problemen, die das historische Lernen der nachfolgenden Generationen aufwirft, intensiver auseinanderzusetzen. Kontroversen unter Historikern verlassen nur selten akademisches Terrain und haben nahezu ausschließlich die eigenen unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich der Deutung von Vergangenheit zum Inhalt. Öffentliche Stellungnahmen zu Erscheinungsformen der Geschichtskultur sind selten und werden in der Regel nur dann bezogen, wenn problematische Missdeutungen und auffallende Fehlinterpretationen der Vergangenheit in den Medien publik werden. Diskussionen, die die Funktion und Wirksamkeit des historischen Lehrens und Lernens betreffen oder Hinweise auf fehlende Innovation im Geschichtsunterricht bleiben in der Regel unbeachtet. Das historische Lernen der nachwachsenden Generationen in seiner institutionalisierten schulischen Form ist die Sache der Historiker nicht. Die unterschiedlichen Resultate historischen Lernens in ihrer Abhängigkeit vom didaktischmethodischen Zuschnitt werden, so scheint es, kaum zur Kenntnis genommen, der Ruf nach Reform nicht unterstützt. Ein Beispiel : Die vom »Verein zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeitgeschichte« getragene und von WissenschaftlerInnen aus allen österreichischen Universitätsinstituten mit zeitgeschichtlichen Forschungs- und Lehrschwerpunkten herausgegebene Zeitschrift »Zeitgeschichte« veröffentlichte in den letzten acht Jahren (also seit 2002) keinen einzigen Artikel, der auf historisches Lernen Bezug nimmt. Zur Zeit gibt es in Österreich keinen einzigen Lehrstuhl für Geschichtsdidaktik, ganz überwiegend wird die Lehre an den Universitäten von lehrbeauftragten LehrerInnen getragen, ein verdienstvolles Wirken, dem allerdings aus strukturellen Gründen die Basis der Forschung fehlt. Dieses stille Desinteresse der Wissenschaftler an allem, was das Geschichtsbild zukünftiger Erwachsener prägt, ist schon allein deshalb erstaunlich, weil die Qualität der zukünftigen Geschichtskultur, die öffentliche Rezeption der Erzeugnisse der Geschichtswissenschaft und letztendlich der Stellenwert und die materielle Ausstattung des Wissenschaftsbetriebs davon nicht unberührt bleiben werden. Die An-
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nahme, dass ein guter Historiker resp. eine gute Historikerin auch schon ein guter Geschichtslehrer/eine gute Geschichtslehrerin sein werde, dürfte unter FachhistorikerInnen recht verbreitet sein. Aber auch wenn es seitens der Historiker nicht wahrgenommen werden sollte : Das Unterrichtsfach Geschichte und die Geschichtswissenschaft sind nicht ident.19 Unterricht kann die Wissenschaft nicht einfach abbilden. Vor allem hat Geschichtsunterricht das Streben der nachwachsenden Generationen nach Mündigkeit in Bezug auf ihr historisches Denken zu unterstützen. »Die übergreifende Zielsetzung der historischen Forschung sollte die Aufklärung dessen sein, was in der Zeit geschehen ist, und dies mit der Zielsetzung einer historischen Orientierung der Menschen, nicht nur der Kolleginnen und Kollegen in der Wissenschaftlergemeinschaft.« 20 Diese hier dem Geschichtswissenschaftler abverlangte Verpflichtung auf Teilhabe an der Bildung junger Menschen lässt seine Abstinenz in Fragen der Didaktik problematisch erscheinen. Ein erster Schritt wäre getan, wenn die anstehenden Probleme des historischen Lernens von dieser Seite überhaupt zur Kenntnis genommen würden. Vieles deutet darauf hin, dass das nicht der Fall ist. Wenn sich Vertreter der universitären Lehrerbildung immer wieder darüber beschweren, dass das Geschichtswissen der Maturanten ständig zurückgehe, dann folgen sie dem fragwürdigen Konzept, dass historisches Lernen allein historisches Wissen zu produzieren habe. Das Problem wird als ein quantitatives gesehen, die Lösung in der Regel dem Didaktiker überantwortet : Er/sie – so die weitverbreitete Meinung – habe die Auswahlproblematik zu lösen, er/sie sei dafür verantwortlich, dass das Komplexe verantwortungsvoll auf das Verständliche reduziert und die Wissenschaftssprache ohne größere Verluste an Genauigkeit und Präzision in die Sprache der Lernenden übersetzt werde. Die Reserviertheit, mit der die Geschichtswissenschaft der Geschichtsdidaktik gegenübersteht, wird nirgends so deutlich, als wenn sie diese auf die Methodik des Unterrichtens reduziert. Den historisch Lernenden in erster Linie als zur Kritik Fähigen zu sehen, fällt dem Historiker offensichtlich schwer, die Vorstellung, dass SchülerInnen angehalten werden, sich Kompetenzen anzueignen, die es ihnen unter anderem ermöglichen, historische Narrationen – die Texte der großen Professoren nicht ausgenommen – als Versuche der Re-Konstruktion von Vergangenheit zu verstehen und nicht als unumstößliche Wahrheiten von kanonischer Gültigkeit, erscheint ihnen wohl als etwas lächerlich und eigentlich als Zumutung. Dazu kommt : Man koppelt sich von den Geschichten, die für das Geschichtsbewusstsein der meisten Menschen konstitutiv sind, mit dem Argument ihrer fehlenden wissenschaftlichen Relevanz ab und richtet sich wohnlich ein in der Welt der Fachpublikationen. Dabei gilt auch für die Geschichtswissenschaft : Mithilfe der von ihr entwickelten Methoden kann sie zwar einen hohen Grad an Verlässlichkeit beanspruchen, dennoch sind ihre Erzählungen nicht ident mit dem vergangenen Geschehen. Dafür ist Quellenmangel ebenso ver-
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antwortlich wie die Perspektivität der erhaltenen Quellen. Die spezifischen Fragen, die der Historiker aus einer aktuellen Problemstellung heraus21 an die Vergangenheit gerichtet hat, prägen die Geschichte ebenso wie sein erkenntnisleitendes Interesse. »Die fundamentale Einsicht, dass der Urgrund der Geschichtswissenschaft das Bedürfnis des Menschen ist, sich in der Zeit zu orientieren, ist nicht nur für Narrativitätstheoretiker wie Jörn Rüsen der Schlüssel zum historischen Denken. Dass sich von diesem Bedürfnis aus historisches Denken und Tun erschließt, taucht implizit und explizit auch bei den meisten anderen Geschichtstheoretikern auf, bei vielen historisch Forschenden, bei fast allen Geschichtsdidaktikern.«22 Jede Geschichtsschreibung ist die »Thematisierung der Vergangenheit, die als Teil der gewordenen Gegenwart notwendigerweise immer schon da ist, aus den Bedürfnissen der Gegenwart heraus«.23 Notwendigerweise durchläuft sie einen Prozess der Sinnbildung. »Außerdem ist Geschichte – diese Tatsache wird in der Ausbildung eher vernebelt als vermittelt – in gleicher Weise ein Deutungs- und Analysegeschäft wie ein Quellensuch- und Quellenkritikgeschäft.« 24 Es kann nichts Vermessenes daran sein, die SchülerInnen langsam – durch Vermittlung der Re- und Dekonstruktionskompetenz – an diese Einsichten heranzuführen.
Geschichtsunterricht zwischen Beharrung und Neuorientierung Aber was trägt Geschichtsunterricht schon jetzt dazu bei, dass sich junge Menschen die notwendigen historischen Kompetenzen aneignen können ? Eine Befragung der Studierenden des ersten Studienabschnittes des Unterrichtsfaches Geschichte an der Universität Salzburg im Juni 2009 (70 Probanden) ergab dazu einige zwar nicht ganz repräsentative, aber dennoch interessante Hinweise.25 Gefragt wurde nach der didaktischen und methodischen Struktur des Geschichtsunterrichts, den die Studierenden in ihrem letzten Schuljahr erlebt hatten. Im Mittelpunkt standen dabei Fragen nach Organisationsformen und Methoden, die sich durch eine bestimmte Ferne oder Nähe zur Kompetenzorientierung auszeichnen. Hypothetisch kann davon ausgegangen werden, dass sich etwa der Lehrervortrag nicht dazu eignet, die SchülerInnen bei ihrem Kompetenzerwerb zu unterstützen. Nahezu alle Befragten erlebten aber in ihrem Unterricht den Lehrervortrag ›sehr oft‹ oder ›oft‹, nur fünf Studierende mochten von einem bloß gelegentlichen Einsatz berichten. (Abb. 1) Dabei ist der Umstand bemerkenswert, dass von vielen Befragten das Dominieren des Lehrevortrags gar nicht negativ bewertet wurde. Jede(r) dritte Befragte gab an, dass er/sie die Lehrervorträge besonders interessant gefunden habe, während nur jeder zehnte die »langweiligen« Vorträge bemängelte.
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Zur Erklärung : Den Lehrervortrag ganz aus dem Geschichtsunterricht zu verbannen, wäre freilich fatal : Er 50 birgt einige Optionen in sich, wie sie 45 sonst kein anderes Medium aufweist.26 40 Auch ist es nicht völlig unmöglich, mit 35 30 Hilfe der herkömmlichen Erzählung 25 im Unterricht reflektiertes Geschichts20 bewusstsein zu fördern.27 Die Nach15 teile wiegen dennoch schwer : So ist es 10 5 für den Schüler/die Schülerin wie auch 0 für die Studierenden an der Universität oft selten sehr oft gelegentlich in aller Regel unmöglich, beim Vortrag sehr selten / nie zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden, die Perspektivität zu erkennen und den Rekonstruktionscharakter der Abb. 1 Erzählung zu begreifen. Geschichte und Vergangenheit scheinen ident zu sein, das Vorgetragene wirkt unveränderlich und absolut, als Expertenwissen eben, die es dem Unwissenden zu vermitteln gilt und an dem zu rütteln sich nicht schickt. Die Asymmetrie der Kommunikation versetzt die SchülerInnen in Abhängigkeit vom vortragenden Lehrer und die starke Außensteuerung der Lernprozesse verhindert primäre Motivation und Interesse, was zum schnellen Vergessen des Erlernten beiträgt. Der Haupteinwand allerdings lautet : Der Lehrervortrag versetzt die SchülerInnen in eine vorwiegend rezeptive Situation, die nun einmal für den aktiven Kompetenzerwerb nicht die beste Voraussetzung bietet. Das Vortragen im Geschichtsunterricht wird allerdings dem Historiker – auch wenn es den Unterricht dominieren sollte – so abwegig nicht erscheinen, besteht doch ein Gutteil der universitären Kommunikationsstruktur aus eben solchen Vorträgen. Anders als in der Schule fungiert hier aber der Vortrag in vielen Fällen als Anstoß zu einer kritischen Auseinandersetzung, eröffnet er eine Diskussion über das Gesagte und werden die Positionen des Referenten zur Diskussion gestellt. In der Schule, wo das alles nicht oder kaum geschieht, stellt das Monopol des Lehrervortrags hingegen insofern eine didaktische Katastrophe dar, als es den SchülerInnen die wichtigsten Lerngelegenheiten und die Möglichkeit der Entwicklung einer kritischen Grundposition von vornherein weitestgehend vorenthält. Die Alternative zum Lehrermonolog, dessen Problematik auch vielen LehrerInnen heute nicht verborgen bleibt, sehen offenbar viele in einem Vortrag, der von Fragen an die Schülerinnen durchsetzt wird. Diese Lehrer-Schüler-Gespräche ergänzen bzw. verdrängen den reinen Lehrervortrag, ohne eine grundlegende AlterIn meinem Geschichtsunterricht erlebte ich LEHRERVORTRAG
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Die Probleme mit dem Geschichtsunterricht und das Schweigen der Historiker
native zu bieten. Dieser Bemäntelung In meinem Geschichtsunterricht erlebte ich Lehrer-SchülerGespräche eines lehrerzentrierten Unterrichts lässt sich insofern kaum eine positive Seite 30 abgewinnen, als diese Gespräche in der 25 Unterrichtspraxis zumeist in sehr eng 20 gelenkter Form auftreten, sodass den Artikulationsmöglichkeiten durch die 15 SchülerInnen ebenfalls enge Grenzen 10 gesetzt werden. Dominiert darüber hinaus das »Er5 arbeitungsgespräch«, bedeutet das, 0 dass auf die didaktisch und methodisch sehr oft oft gelegentlich selten sehr selten / nie strukturierte Informationsvermittlung Abb. 2 seitens der LehrerIn verzichtet wird, und sich die SchülerInnen im schlimmsten Fall ihre Informationen aus einer Menge richtiger und falscher Gesprächsbeiträge mühsam zusammensuchen müssen. Dass auf diese Weise weder zuverlässiges Wissen produziert wird noch die Kompetenzen der SchülerInnen eine Verbesserung erfahren, lässt sich denken. Die Aussagen der Befragten über die Häufigkeit von Unterrichtsorganisationsformen, die die Selbsttätigkeit der SchülerInnen stärker in den Vordergrund stellen, bestätigen die Angaben zur Frequenz des Lehrervortrags. Dabei scheint das Lehrerverhalten einer Grundregel zu folgen : Je höher die Anforderungen einer Organisationsform an die selbstständige Gestaltung der Lernprozesse durch die SchülerInnen, umso seltener deren Anwendung im Geschichtsunterricht. In meinem Geschichtsunterricht erlebte ich Projektarbeit
In meinem Geschichtsunterricht erlebte ich Gruppenarbeit 50
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15
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0 sehr oft
oft
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Abb. 3
selten
sehr selten / nie
sehr oft
oft
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Abb. 4
selten
sehr selten / nie
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Jene Tätigkeiten der SchülerInnen, die am wenigsten kompetenzfördernd ausgelegt sind, sind zugleich jene, die am häufigsten genannt wurden : Gaben knapp 60 % der Befragten an, dass sie im Unterricht sehr oft, oft oder gelegentlich im Schulbuch gelesen hätten, so berichteten fast zwei Drittel, dass im Unterricht die Arbeitsaufgaben des Schulbuchs selten, sehr selten oder nie beantwortet wurden, und gar 83 % konnten sich nur an vereinzelte oder gar keine Analyse des Schulbuchtextes erinnern. Selten, sehr selten oder nie befassten sich mit
Frequenz des Lesens im Schulbuch 60 90 80 Prozent der Befragten
Prozent der Befragten
50
40 30 20
10
70 60 50 40 30 20 10 0
0 Sehr oft / oft / gelegentlich
selten / sehr selten / nie
Abb. 5
Beantworten der Arbeitsaufgaben des Schulbuches
Kritische Analyse des Schulbuchtextes
Abb. 6
Der Film als das Medium, das das Geschichtsbild der SchülerInnen mit am intensivsten prägt,28 wird im Geschichtsunterricht offenbar immer noch nur am Rande zur Kenntnis genommen. Wenn er verwendet wird, dann zumeist ohne didaktische Begleitung und ohne analytischen Anspruch. Selten, sehr selten oder nie haben knapp über 60 % die Analyse historischer Bilder betrieben, Quellentexte untersuchten knapp unter 60 % der Befragten selten, sehr selten oder nie. Dass über 90 % nahezu keine Gelegenheit erhalten hatten, selbst anhand von Quellen ›Geschichte zu schreiben‹ überrascht nicht. Diese Ergebnisse bestätigen die Vermutung, dass Geschichtsunterricht immer noch primär »vom Stoff her« gedacht wird und nicht von den SchülerInnen, die durch historisches Lernen einen möglichst großen Zuwachs an Kompetenzen erfahren sollen. Es ist heute ein Missverständnis, die Schule als Ort zu begreifen, in der die bloße Weitergabe historischen Wissens stattfindet. Im Mittelpunkt aller pädagogischen, didaktischen und methodischen Bemühungen steht der Schüler/die Schülerin und historisches Lernen erfährt seine Relevanz durch seinen Beitrag zu ihrer Emanzipation in der Gesellschaft. Nur wenn junge Menschen dadurch ihre Gegenwart besser
Die Probleme mit dem Geschichtsunterricht und das Schweigen der Historiker Von den Befragten beschäftigten sich mit der Analyse von Filmen
Von den Befragten beschäftigten sich mit dem Anschauen von Filmen 45
80
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Prozent der Befragten
Prozent der Befragten
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60 50 40 30 20 10
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Abb. 7
sehr oft / oft
selten / sehr selten / nie
Abb. 8
verstehen und ihre Zukunft besser meistern lernen, ist Geschichtsunterricht letztlich zu rechtfertigen.
Die Verantwortung der Fachhistoriker »Historisches Lernen ist zwar immer an den Fragestellungen, dem methodischen Vorgehen und den Ergebnissen der Fachwissenschaft orientiert, besitzt jedoch gegenüber der Forschung seine eigene Berechtigung und innere Logik.« 29 Der Geschichtswissenschafter kann von Fragen der Didaktik nicht unberührt bleiben. Viele, wenn nicht die meisten, sind zudem in der Ausbildung von LehrerInnen involviert. Daraus erwächst ihnen eine klar zu definierende Aufgabe : Ihre forschungsgeleitete Lehre kann sich nicht einfach von didaktischen Konzepten und Strategien abkoppeln oder sie durch ungeeignete Vorbildwirkung konterkarieren. Zum einen hat ihre Art zu lehren Beispielcharakter – die universitäre Vorlesung wird später von den LehrerInnen sehr oft imitiert. Zum anderen ist jeder innovative Ansatz in der LehrerInnenausbildung dann zum Scheitern verurteilt, wenn er von den Fachhistorikern nicht mitgetragen wird. Was LehrerInnen in ihrer Ausbildung nicht selbst erwerben und anwenden, werden sie später auch nicht in der Lage sein, ihren SchülerInnen zu vermitteln. Freilich muss eingeräumt werden, dass in der Geschichtsdidaktik noch kein endgültiger Konsens besteht, welche Kompetenzen es nun genau seien, die junge Menschen durch historisches Lernen erwerben sollen. Vergleicht man allerdings die vorliegenden Modelle, so sind keine grundlegenden Unterschiede oder Widersprüche zu erkennen.
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Die Kompetenzen, die etwa das sogenannte FUER-Modell30 (siehe Kasten) nennt, sind für eine Grundlage der Gestaltung des Geschichtsunterrichts eine geeignete Orientierung. Die österreichischen Lehrpläne spiegeln das wider. KOMPETENZBEREICH
TEILKOMPETENZEN
RELEVANZ FÜR DEN SCHÜLER/ DIE SCHÜLERIN
FRAGEKOMPETENZ
Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, a) Fragen an die Vergangenheit und/oder die Geschichte zu stellen und b) die Fragen, die vorliegende historische Erzählungen behandeln, zu erkennen.
Einsicht in die Tatsache, dass Fragen niemals auf das Ganze, sondern nur auf Aspekte der Vergangenheit Bezug nehmen. (Deshalb steuert die Fragestellung die Konstruktion der Geschichte, die die Antwort darstellt.) Da die Quellen nur in Bruchteilen bis in die Gegenwart überliefert wurden, sind nur unvollständige Antworten möglich. Zwischen Vergangenheit und der Erzählung über Vergangenes besteht also eine notwendige Differenz.
SACHKOMPETENZ
Verstehen von Retroperspektivität, Partikularität und Konstruktivität von Geschichte. Fähigkeit, die Standort- und Gegenwartsgebundenheit dessen zu erkennen, der sich mit Vergangenheit/Geschichte beschäftigt. Kategorien zur Erklärung und Beschreibung von Kontinuität und Wandel kennen und anwenden ( Politik, Gesellschaft, Wirtschaft …) Forschungsmethodische Verfahrensscripts begrifflich bestimmen können (Innere und äußere Quellenkritik, Unterscheidung zwischen Quellen und Darstellungen etc.)
Begriffskompetenz durch Kenntnis fachspezifischer Begriffe und Konzepte, und dem Unterscheidenkönnen zwischen Fach- und Alltagssprache. Strukturierungskompetenz durch das Verfügenkönnen über strukturierende Begriffe.
REKONSTRUKTIONSKOMPETENZ
Kenntnis der fachspezifischen Methoden der Erkenntnisgewinnung. Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, Antworten auf Fragen an die Vergangenheit zu erarbeiten. Erschließung vergangener Phänomene mithilfe der Quellen. Beachtung der Triftigkeitskriterien.
Einsicht in die »Werkstatt des Historikers«. Erfahren der Probleme bei der Rekonstruktion der Vergangenheit, Unterscheidenlernen zwischen verlässlicher und weniger verlässlicher Geschichte.
DEKONSTRUKTIONSKOMPETENZ
Erfassung der Bestandteile und Konstruktionsmuster einer vorliegenden historischen Narration. Gesucht werden Hinweise auf die Absicht hinter der Erzählung und auf Orientierungsangebote. Überprüfung der Triftigkeit.
Einsicht in die Perspektivität, Standortgebundenheit und Zeitbezogenheit jeder historischen Erzählung.
ORIENTIERUNGSKOMPETENZ
Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, die erworbenen historischen Kompetenzen lebensweltlich wirksam werden zu lassen und die eigene mentale Disposition für den Umgang mit Geschichte zu reflektieren, die eigenen Vorstellungen von der vergangenen und gegenwärtigen Welt aufgrund historischer Erkenntnisse umzubauen.
Das eigene Geschichtsbild hinterfragen und durch neue Erkenntnisse verändern zu können. Die eigene Identität tiefer verstehen zu lernen und sie auch infrage stellen können. Aus Erkenntnissen der Geschichte Regeln für eigenes Handeln (unter Berücksichtigung veränderter Rahmenbedingungen) ableiten.
Abb. 9 Die durch historisches Lernen zu erwerbenden Kompetenzen
Die Probleme mit dem Geschichtsunterricht und das Schweigen der Historiker
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Ein oft erhobener Einwand gegen die Kompetenzorientierung des Geschichtsunterrichts ist verbunden mit dem Hinweis auf die dafür angeblich zumeist fehlende Ausstattung der SchülerInnen mit dem sogenannten ›Überblickswissen‹. Gerade dem Historiker erscheint es vermutlich als Anmaßung, wenn Jugendliche dazu angeleitet werden, historische Narrationen zu »dekonstruieren«, wenn es ihnen doch in jeder Hinsicht an der notwendigen Sach- und Methodenkenntnis fehle. Dabei wird nicht bedacht, dass die historischen Kompetenzen auf verschiedenen Niveaus erworben werden können, auf Graduierungsstufen, die es nicht zulassen, dass ein Novize sich zum naseweisen Kritiker des großen Historikers aufschwingt.31 Aber die Förderung kritischen und autonomen Denkens der Jugendlichen kann auch vor den historischen Narrationen mit Wissenschaftsanspruch nicht haltmachen, intellektuelle Demut kann auch hier nicht Ziel und Ultima Ratio sein.
Beispiel Dekonstruktionskompetenz Es ist gerade der Erwerb von Dekonstruktionskompetenz, der im Falle der SchülerInnen als besonders unrealistisch angesehen und als intellektuell überzogen eingestuft wird. Dieses Urteil dürfte indes auf einer falschen Annahme beruhen : Dekonstruktion ist nicht gleichzusetzen mit Destruktion, und nicht um ein dünkelhaftes Sich-Erheben über den Historiker, den Regisseur oder den Autor kann es dabei gehen, sondern um ein Nachvollziehen des Zweckes und der Intentionen hinter der Erzählung, um das Bewusstmachen (nicht auch schon das Widerlegen) der Sachund Werturteile, die in die Narration verwoben werden und um den Einfluss, den das die Erzählung transportierende Medium auf die Geschichtserzählung nimmt. Es wird darüber nachzudenken sein, welche Schlussfolgerungen für die Gegenwart nahegelegt werden und welche Warnungen und Empfehlungen explizit und implizit in der historischen Narration enthalten sind. Dekonstruiert kann nur eine aufgrund der Analyse von Quellen gebildete Erzählung werden. Geschichtserzählungen werden aber in der Praxis des Unterrichts – mit Ausnahme der Schulbuchtexte – kaum verwendet, das verhindert schon der seit historistischen Zeiten ausgeprägte Hang zur Quelle. Ein einfaches Schema, an dem die Dekonstruktion im Geschichtsunterricht entlang verlaufen kann, ergibt sich aus der Orientierung an den Fokussierungen, wie sie in jeder Geschichtserzählung feststellbar sind (vgl. Abb. 10). Eine unverzichtbares – auch für SchülerInnen anwendbares – Teilschema der Dekonstruktion stellt die Triftigkeitsprüfung32 dar (vgl. Abb. 11). Dieses durchaus anspruchsvolle Verfahren, zu dessen optimaler Realisierung einiges an Erfahrung und Wissen notwendig ist, kann der Novize auf basalem Niveau einüben. Es gilt der Grundsatz : Nicht der Respekt vor dem, der Geschichte erzählt, soll also durch
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FOKUS DER GEDANKLICHEN OPERATION AUF
INHALT DER GEDANKLICHEN OPERATION (LEITENDE FRAGESTELLUNGEN) :
VERGANGENHEIT
Auf welche Teile (Partikel) der Vergangenheit nimmt die Narration Bezug (welche werden stärker, welche weniger gewichtet, welche klammert sie aus ?) Welche Quellen werden dafür verwendet ?
GESCHICHTE
In welche Kontexte werden diese Vergangenheitspartikel gestellt ? Werden Ursachen und Folgen des Erzählten genannt, wird auf Ähnliches oder Gegensätzliches in der Geschichte verwiesen ? Werden Beurteilungen ausgesprochen ?
GEGENWART / ZUKUNFT
Welche direkten und indirekten Rückschlüsse auf die (damalige) Gegenwart werden gezogen oder nahegelegt ? Werden Schlussfolgerungen für das Verhalten in der Gegenwart gezogen, Ratschläge erteilt oder Wahrnehmungen ausgesprochen ?
Abb. 10 : Die Operationen des Geschichtsbewusstseins
ÜBERPRÜFEN DER TRIFTIGKEIT EINER HISTORISCHEN ERZÄHLUNG NARRATIVE TRIFTIGKEIT
Ist die Erzählung in sich logisch, ist sie frei von Widersprüchen ?
SACHLICHE TRIFTIGKEIT
Ist das Erzählte sachlich richtig, stimmt es mit der Quellenlage überein ? Kann es auch anders gewesen sein, als erzählt wird ? (Vergleich mit anderen Darstellungen desselben Themas, z. B. im Schulbuch, in einer Geschichtsdokumentation, in einem wissenschaftlichen Aufsatz etc.)38
NORMATIVE TRIFTIGKEIT
Wird der Erzählung eine Weltanschauung, ein politisches Programm, eine bestimmte Ideologie zugrunde gelegt ? Sind die daraus erwachsenden Normen akzeptabel ? Sind Urteile, Standpunkte und Stellungnahmen dadurch beeinflusst ?39
Abb. 11 Überprüfung der Triftigkeit einer historischen Narration auf basalem Niveau
Dekonstruktion abgebaut werden, sondern die unbesehene Gläubigkeit gegenüber jedweder Art der historischen Narration.
Rettung durch Politische Bildung ? Die optimistische Annahme, dass der Geschichtsunterricht in Österreich zu einer besseren Orientierung der Jugendlichen in der Gegenwart beitrage, hat wohl den Ausschlag dafür gegeben, dass die in den Hauptschulen und in den Allgemeinbil-
Die Probleme mit dem Geschichtsunterricht und das Schweigen der Historiker
Die politische Sachkompetenz befähigt dazu, Begriffe, Kategorien bzw. Konzepte des Politischen zu verstehen, über sie zu verfügen sowie sie kritisch weiterentwickeln zu können. Unter Begriffen sind hier die politischen Fachausdrücke, die sich von der alltagssprachlichen Verwendung durch exakte Definition unterscheiden zu verstehen, unter Kategorien jene „Kernbegriffe“, denen allgemeine Merkmale eigen sind und die Zusammenhänge ausdrücken, so dass sich Gegenstände, Vorstellungen und Ereignisse diesen Merkmalen entsprechend zuordnen lassen. (Basis)Konzepte sind Leitideen bzw. Grundvorstellungen, mit deren Hilfe Schülerinnen politisches Wissen strukturieren und einordnen können.
Sachkompetenz
Arbeitswissen ist das Wissen, das man braucht, um sich mit einem politischen Problem auseinandersetzen zu können.
ArbeitsMethodenkompetenz
Urteilskompetenz Handlungskompetenz
Politische Urteilskompetenz erlaubt die selbstständige und begründete Beurteilung politischer Entscheidungen, Probleme und Kontroversen. Jedes politische Urteil basiert auf einer Anzahl von Teilurteilen und kann selbst Teil eines übergeordneten Urteils werden.
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wissen
Politikbezogene Methodenkompetenz befähigt das Individuum, sich in modernen Medien politisch zu artikulieren und so im Idealfall auf reflektierte und (selbst)reflexive Weise eigene Manifestationen zu schaffen. Sie umfasst zum anderen die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften zum Entschlüsseln fertiger politischer Manifestationen.
Politische Handlungskompetenz erlaubt es, eigene Positionen in politischen Fragen zu formulieren, politische Positionen anderer zu verstehen, sowie an der Lösung von Problemen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mitzuwirken.
Abb. 12 Kompetenzen durch Politische Bildung
denden Höheren Schulen neu eingeführte Politische Bildung im Fächerverbund mit Geschichte und Sozialkunde unterrichtet wird. Diese Maßnahme ist ein Glücksfall für den Geschichtsunterricht, bewahrt sie ihn doch vor allzu drängenden Nachfragen, seine Ziele und Methoden betreffend. Der im Schuljahr 2008/09 in Kraft getretene neue Lehrplan für das Unterrichtsfach Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung schreibt für die 4. Klassen Hauptschulen und Gymnasien die Kompetenzorientierung des politischen wie des historischen Lernens fest.
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»Der Vermittlung von historischen und politischen Kompetenzen ist besondere Beachtung zu schenken«33 und »der Unterricht in Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung ist so zu gestalten, dass es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht wird, historische und politische Kompetenzen zu erwerben«. Die Intention des Lehrplans ist unzweideutig : Historisches Lernen soll zum besseren Verstehen von Gegenwartsphänomenen und Bewältigen von zukünftigen Herausforderungen beitragen. Der Lehrplan nennt expressis verbis die historische Fragekompetenz, die Methodenkompetenz (Re- und Dekonstruktionskompetenz), die Sachkompetenz und die Orientierungskompetenz, auf die der Geschichtsunterricht abzustellen sei. »Da unterschiedliche Schlüsse aus der Geschichte gezogen werden können, ist im Unterricht auf die Pluralität in der Interpretation zu achten. Die sich daraus ergebenden Synergien mit der Politischen Bildung sind zu berücksichtigen.«34 Diese Synergien ergeben sich in der Praxis wohl nur dann, wenn die Ausrichtung des Geschichtsunterrichts an den genannten Kompetenzen ernst genommen wird. Auch der Lehrplan für die Politische Bildung verpflichtet den Geschichtslehrer zu kompetenzorientiertem Unterricht. Das für den neuen Lehrplan grundlegende Kompetenz-Strukturmodell wurde von einer Kommission, bestehend aus Geschichtsdidaktikern, Geschichtslehrern und Politologen, ausgearbeitet. Historiker gehörten der Kommission nicht an.35 (Vgl. Abb. 12.)
Kompetenzorientierte Politische Bildung – eine Herausforderung für die Ausbildung der GeschichtslehrerInnen Zwischen den Kompetenzen, die durch Politische Bildung und jenen, die durch Geschichtslernen gefördert werden, bestehen enge Verbindungen, in manchen Fällen bedingen die einen die anderen. Würde historisches Lernen ausschließlich als Wissenserwerb organisiert, bliebe der Ertrag für die politische Bildung in Grenzen. Die historische Orientierungskompetenz stellt eine Art Brückenkopf dar zum politischen Lernen : Historische Kompetenzen und historisches Wissen für die Orientierung im Heute nutzen zu können, was anderes als eine Voraussetzung für Politische Bildung möchte man darin sehen ? Entweder über historische oder über politische Kompetenzen zu verfügen, reicht nicht aus, um sich in der Komplexität der Gegenwart zurechtzufinden. Vernünftiges und verantwortliches politisches Denken und Handeln ist neben dem historischen auch auf das politische Lernen angewiesen. Politisches Denken ohne historische Dimension wird aber ebenso im Unzulänglichen verbleibe, wie historisches Denken ohne politische Perspektiven und ohne Bezug auf die Gegenwart. Dabei ist mit nicht unwesentlichen Synergieeffekten zu rechnen : Wer sich historische und politische Sachkompetenz angeeignet hat, verwendet Begriffe aus dem
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Historische und politische SACHKOMPETENZ
Historische und politikbezogene METHODENKOMPETENZ
Historische ORIENTIERUNGSKOMPETENZ Politische URTEILS- UND HANDLUNGSKOMPETENZ
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Kompetenter Umgang mit Fachbegriffen (Herauslösung aus der Bedeutung in der Alltagssprache) und Konzepten (ständige Ausdifferenzierung von Basiskonzepten wie z.B. „Macht“ oder „Recht“ in historischer und politischer Dimension). Analyse von Quellen, Dekonstruktion historischer Narrationen, kritische Analyse politischer Manifestationen, Rekonstruktion von Teilen der Vergangenheit mit Hilfe von Quellen. Erstellen politischer Manifestationen. Nutzbarmachen historischer Kompetenzen und historischer Kenntnisse für die Orientierung in der Gegenwart. Verbesserung der Handlungs- und Urteilskompetenz durch Kenntnis der historischen Dimension des Gegenwärtigen.
Abb. 13 : Synergieeffekte historischer und politischer Kompetenzen.
historischen und politischen Bereich nicht mehr nur in ihrer Alltagsbedeutung, sondern versteht sie in ihrem fachspezifischen Zusammenhang. Die Herauslösung aus der bloß alltagssprachlichen Bedeutung historischer (und politischer) Begriffe wie »revolutionär«, »Diktatur«, »autoritär«, »Herrschaft«, »Modernisierung« etc. kommt auch der Präzisierung von Begriffen aus dem Bereich des Politischen zugute und ermöglicht erst eine Ausdifferenzierung von politischen Basiskonzepten.36 Historische Methodenkompetenz zu erwerben heißt auch, die Bewältigung methodischer Aufgaben im Bereich des Politischen zu erleichtern : Das Verfassen politischer Stellungnahmen und Manifestationen etwa (Leserbriefe, Flugblätter, Aufrufe in Form von Wandzeitungen etc.) oder die Analyse von politischen Texten (u. a. Zeitungsberichte, Parteiprogramme, Wahlwerbung etc.) wird umso leichter fallen, je intensiver man sich mit historischer Re- und Dekonstruktion beschäftigt hat. Geschichte hat im Fächerverbund mit Politischer Bildung also absolut gleichen Stellenwert und ist keineswegs auf eine Art Wasserträgerfunktion beschränkt.
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Es ist zu befürchten, dass sich das Verständnis der Fachhistoriker für diese neue Herausforderung in Grenzen halten wird. Das hängt mit der spürbaren grundsätzlichen Reserviertheit gegenüber einer Kompetenzorientierung und einer distanzierten Einstellung zu jeder Art von ›utilitaristischem‹ Gebrauch der Geschichte zusammen. Für die Praxis der universitären LehrerInnenausbildung erweist sich solch Ressentiment allerdings als fatal : Ein Verzicht auf die Förderung von historisch-politischen Kompetenzen wird auch im Bereich der Politischen Bildung Effekte erzeugen, die alles andere als erwünscht sein können : die Konzentration auf ein staatsbürgerkundliches Wissen, auf eine politische Bildung, die sich um eine Institutionenkunde gruppiert und die ihre Erfolglosigkeit schon bisher hinlänglich unter Beweis gestellt hat. Wenn diese Voraussage zutreffend sein sollte, dann ist vermutlich die letzte Chance verspielt, dem Geschichtsunterricht seinen ihm gebührenden Stellenwert im Bildungsprozess zu sichern.
Resümee Die Antwort auf die Frage, wer denn heute als historisch gebildet gelten darf, kann nur lauten : Der, der historisch denken kann. Die Qualifizierung des historischen Denkens der nachfolgenden Generationen im Sinne der Förderung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins kann nur dann erfolgreich sein, wenn Geschichtsdidaktiker und Fachhistoriker in Lehre und Forschung zusammenwirken. Die Tatsache, dass Geschichtsbewusstsein in hohem Maße von lebensweltlichen Kontakten mit der Vergangenheit und der Geschichte geprägt wird, sollte die hochspezialisierten WissenschaftlerInnen verstärkt zu analytischen Arbeiten veranlassen, die den lebensweltlichen Umgang der Menschen mit der Vergangenheit und der Geschichte zum Thema haben und die TV-Dokumentationen und Spielfilme ebenso zum Gegenstand der Betrachtung machen wie Schulbuchtexte und historische Computerspiele. Den StudentInnen – und nicht nur jenen, die das Lehramt absolvieren – sollte mehr abverlangt werden als – im schlimmsten Fall – bloßes Reproduzieren von ›Fakten‹ und der Nachweis des Verfügenkönnens über eine Grundausrüstung des wissenschaftlichen Arbeitens. Die Verfasstheit der Geschichtskultur fordert ebenso zur Stellungnahme der Fachhistoriker heraus wie die Infrastruktur des historischen Lernens in und außerhalb der Schule. Hin und wieder Blicke in die Schulbücher zu werfen stünde Historikern gut an : Ihre Meinung und ihr Urteil wäre wichtig und wertvoll, besonders dann, wenn ihre Kritik über ein Richtig-FalschBewertungsschema hinausginge und sich der Art und Weise widmen könnte, unter welchen Gesichtspunkten hier Vergangenheit rekonstruiert wird und welche Identifikations- und Sinnangebote gegeben werden. Es wäre auch ein Gewinn, wenn der Wissenschaftler Geschichte wieder öfter so schreiben könnte, dass sie eine größere
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Adressatengruppe erreichen kann. So könnte wissenschaftliche Forschung die um historische Authentizität unbekümmerten und um suggestive Sinnangebote bemühten Darstellungen in Film und Fernsehen für die Konsumenten durchschaubarer machen. Durch Aufzeigen von versteckten und offen zutage tretenden politischen und ideologischen Implikationen, fragwürdigen Spannungseffekten und geschichtsverändernden Simplifikationen könnten Beispiele gegeben werden, was die Dekonstruktion von Geschichtserzählungen bedeuten und leisten kann. Das Werk des durch diese Festschrift Geehrten weist ja einige positive Beispiele für eine solche gegebene Lesbarkeit auf.37
Anmerkungen 1 Theodor W. Adorno : Theorie der Halbbildung. Gesammelte Schriften Band 8/1. Frankfurt/Main 1980. S. 111. 2 Friedrich Nietzsche : Menschliches, Allzumenschliches. Kritische Studienausgabe Band 2. München 1980. S. 220. 3 Wilhelm von Humboldt : Ueber die Aufgabe des Geschichtsschreibers. – In : Andreas Flitner ; Klaus Giel (Hg.) : Wilhelm von Humboldt. Schriften zur Anthropologie und Geschichte (Werke in Fünf Bänden. Bd.1) 2. Aufl. Darmstadt 1960. S. 585–586. 4 http ://www.bmukk.gv.at/medienpool/15730/pisa2006_ersteerg.pdf 5 Die Kritik am österreichischen Schulwesen wird vor allem vonseiten der Journalisten vorangetragen, während bei Befragungen der Elternschaft regelmäßig ein anderes Bild von Schule, LehrerInnen und Unterricht entworfen wird : »Die Lehrerinnen und Lehrer an Salzburgs Schulen haben bei der Umfrage ausgezeichnete Noten bekommen : Die Volksschullehrerinnen und -lehrer liegen mit einem glatten Gut (2,03) an der Spitze, gefolgt von den Hauptschullehrern und Lehrern an Höheren Schulen (Noten 2,48 und 2,56). (Salzburger Nachrichten. Aus Stadt und Land. 7. September 2009. 3). 6 Vgl. etwa Profil 37 (2009) Titelblatt : Warum die Schule alles falsch macht. (Artikel dazu 84–91.). Martina Salomon : Bloß Fortschrittchen im Schulwesen. Die Presse 27.12.2008, Michael Völker : Und jetzt endlich eine Schuldebatte. Der Standard 21.4.2009, Gerald Stoiber : Reform der Lehrerausbildung. Salzburger Nachrichten. 13. 05. 2009. 17 Horst Gies : Geschichtsunterricht. Ein Handbuch zur Unterrichtsplanung. – Köln, Weimar, Wien 2004. S. 61. 18 Horst Gies etwa nennt fünf Begründungszusammenhänge für das Lernen im Geschichtsunterricht : Die Erklärung von Gegenwartsphänomenen, die Hilfe bei individueller und kollektiver, politischer und sozialer Identitätsfindung, der Beitrag zur kritischen Aufklärung über Herrschaft und ideologisch-utopische Totalentwürfe, die Eröffnung von Alternativen zum Bestehenden, die sinnvolle und unterhaltsame Ausfüllung der Freizeit. (Gies : Geschichtsunterricht. S. 64–68.) 19 Peter Schulz-Hageleit : In Alternativen denken lernen. Gedanken über die Zukunft des historisch-politischen Lehrens und Lernens. – In : Geschichtslernen – Innovationen und Reflexionen. Festschrift für Bodo von Borries zum 65. Geburtstag . – Kenzingen 2008. S. 403–418. Hier S. 403. 10 Vgl. dazu : Bodo von Borries : Das Fach Geschichte im Spannungsfeld von Stoffkanon und Kompetenzentwicklung. – In : ders. : Lebendiges Geschichtslernen. Bausteine zur Theorie und Pragmatik, Empirie und Normfrage. – Schwalbach/Ts. 2004. S. 138–168. Hier S. 138–139. 11 Bodo von Borries : Zwischen ›Wurzelsuche‹ und ›Verunsicherung‹. Geschichtslernen für Mehrheit und
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Minderheiten unter interkulturellen Bedingungen. – In : ders. : Lebendiges Geschichtslernen. Bausteine zur Theorie und Pragmatik, Empirie und Normfrage. – Schwalbach/Ts. 2004. S. 425–452. Zum Problem des Interkulturellen historischen Lernens : Andreas Körber (Hg.) : Interkulturelles Geschichtslernen. Geschichtsunterricht unter den Bedingungen von Einwanderung und Globalisierung. Konzeptionelle Überlegungen und praktische Aufsätze. Münster 2001. Vgl. Dazu die Sinnbildungstypen bei Jörn Rüsen : Die ›traditionale‹ Sinnbildung ist bemüht, die geschichtliche Entstehung und Legitimation der heute geltenden Regeln zu erfassen und zu wahren, die ›exemplarische‹ Sinnbildung kennzeichnet prinzipiell gutes (erfolgreiches) und schlechtes zum Misserfolg führendes Verhalten. Die ›kritische‹ Sinnbildung wendet sich gegen Traditionen, Beispiele oder Entwicklungen und die genetische Sinnbildung bezieht sich auf das dem Wandel unterworfene menschliche Verhalten, zumeist in Form des Fortschritts. (Jörn Rüsen : Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen. – Köln, Weimar, Wien 1994.) Vgl. dazu Susanne Popp : Neuere Zugänge zur Geschichte. Ein Überblick. – In : Waltraud Schreiber (Hg.) : Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen historischen Lernens. 1. Teilband. Neuried 1999. S. 275–295. Konrad Paul Liessmann : Theorie der Unbildung. Wien 2008. S. 59. Ebd., S.72. Karl-Ernst Jeismann : Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik. – In : Gerhard Schneider (Hg.) :Geschichtsbewusstsein und historisch-politisches Lernen. – Pfaffenweiler 1988, Jörn Rüsen : Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen. – Köln, Weimar, Wien 1994. Borries : Das Fach Geschichte. S. 142. Ebd. Meinert A. Meyer : Wilhelm von Humboldts Vortrag über die Aufgabe des Geschichtsschreibers aus dem Jahre 1821 im Hinblick auf die Aufgaben der Geschichtslehrer und ihrer Schüler – aus bildungsgangdidaktischer Perspektive. – In : Geschichtslernen – Innovationen und Reflexionen. S. 259–287. Hier S. 271. Eine solche Problemstellung kann sich etwa aus der kollektiven Erfahrung von Zeitbrüchen ergeben, die eine Ausleuchtung der historischen Dimension eines Ereignisses oder Wandels zwecks Verständnisses der Gegenwart notwendig erscheinen lassen. Waltraud Schreiber u.a. : Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell (Basisbeitrag). – In Andreas Körber, Waltraud Schreiber, Alexander Schöner : Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. – Neuried 2007. S. 20–21. Waltraud Schreiber : Die Entwicklung historischer Sinnbildungskompetenzen als Ziel des historischen Lernens mit Grundschülern. – In : dieselbe (Hg.) : Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen historischen Lernens. 1. Teilband. Neuried 1999. S. 15–76. Hier S. 19. Fußnote 8. Borries : Das Fach Geschichte. S. 141. Die Befragung erhebt natürlich keinesfalls den Anspruch der Repräsentativität, ihre Ergebnisse werden aber als keineswegs realitätsfern zu sehen sein. Allenfalls ist davon auszugehen, dass die Befragten insofern von der Norm abweichen, als sie sich für ein Studium des Unterrichtsfaches Geschichte entschieden haben, also eine Gruppe bilden, die von dem Geschichtsunterricht, den sie erlebt haben, weniger frustriert waren als der Durchschnitt der übrigen SchülerInnen. Nur der Lehrervortrag kann etwa das sprachliche Niveau, dass Vorwissen und die Interessenstruktur der SchülerInnen genau berücksichtigen und auf aktuelle Ereignisse und Gegenwartsbezüge flexibel abstellen. Vgl. dazu etwa Wolfgang Hasberg : Geschichte erzählen. S. 488–489. Bodo von Borries : Geschichte im Spiel- und Dokumentarfilm. Fach- und mediendidaktische Überlegungen. In : Geschichtslernen – Innovationen und Reflexionen. S. 192–225. Ulrich Baumgärtner : Textquellen. – In : Waltraud Schreiber (Hg.) : Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen historischen Lernens. 1. Teilband. Neuried 1999. S. 375–364. Hier S. 359.
Die Probleme mit dem Geschichtsunterricht und das Schweigen der Historiker
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30 Dazu Andreas Körber, Waltraud Schreiber, Alexander Schöner : Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. – Neuried 2007. 31 Andreas Körber : Graduierung : Die Unterscheidung von Niveaus der Kompetenzen historischen Denkens. – In : Körber u.a. : Kompetenzen historischen Denkens. S. 415–472. 32 Jörn Rüsen : Historische Vernunft : Grundzüge einer Historik I : Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983. 33 Der Lehrplan für die Hauptschule und die AHS-Unterstufe z.B. unter http ://www.oepu-noe.at/recht/lp/ 34 Reinhard Krammer : Geschichtsdidaktik und Politikdidaktik – zwei Seiten einer Medaille ?- In : Informationen zur Politischen Bildung 27 (2007). S. 52–57. 35 Reinhard Krammer : Kompetenzen durch politische Bildung. Ein Kompetenz-Strukturmodell. – In : Informationen zur Politischen Bildung 29 (2008). S. 5–14. 36 Wolfgang Sander : Basiskonzepte als Element von Sachkompetenz im österreichischen Kompetenzmodell. – In : Heinrich Ammerer, Reinhard Krammer, Elfriede Windischbauer : Politische Bildung konkret. Beispiele für kompetenzorientierten Unterricht. Wien 2009. S. 13–14. 37 Zu nennen wären vor allem : Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. 1890–1990. – Wien 1994 und Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. – Wien, Köln, Weimar 2005. 38 Die sachliche Triftigkeit kann vom Schüler/von der Schülerin natürlich nicht ohne Zuhilfenahme anderer Geschichtserzählungen zum selben Thema überprüft werden. Es sind auch in den meisten Fällen nur Abweichungen und Übereinstimmungen mit anderen Darstellungen festzuhalten ohne dass auch schon ein abschließendes Urteil über die »zutreffende« und »richtige« Narration getroffen werden muss. 39 Die normative Seite einer Geschichtserzählung wird in den seltensten Fällen ohne Zusatzinformation über den Autor/die Autorin (Herkunft, Biografie etc.) und das veröffentlichende Medium (ideologische und politische Eingebundenheit ?) erschlossen werden können.
Thomas Hellmuth
Wider das »normative Geschichtsbewusstsein« Geschichtsdidaktik als historisch-analytische Sinnbildung
Geschichtsdidaktik wird nicht selten als schlichte Anwendungslehre verstanden, die vor allem durch Praxis, d. h. durch und im Unterricht entwickelt wird. Ein theoretisches Fundament scheint unter solchen Voraussetzungen nicht nur kaum notwendig, sondern geradezu als Hemmschuh für geschichtsdidaktische Überlegungen. Zudem wird Geschichtsdidaktik auf eine reine Schulfachdidaktik reduziert.1 Eine solche Theoriefeindlichkeit und Beschränkung auf das Unterrichtsfach Geschichte sind problematisch, zumal sich die Geschichtsdidaktik damit ihrer vielfältigen Möglichkeiten beraubt und zudem in eine Existenz- und Sinnkrise gerät. Denn die Hauptaufgabe der Geschichtsdidaktik besteht nicht mehr in der kinder- und jugendgerechten bzw. publikumswirksamen Aufbereitung eines überlieferten und verordneten, nicht selten auch manipulativ wirkenden Kanons historischen »Allgemeinwissens«. Vielmehr muss darüber reflektiert werden, welche Bedeutung Geschichte sowohl für die Gesellschaft als auch für den Einzelnen besitzt. Damit weitet sich der Bezugsrahmen der Geschichtsdidaktik auf die Gesamtgesellschaft aus. Zu ihrem Beschäftigungsfeld sind daher nicht allein der Geschichtsunterricht zu zählen, sondern die »Geschichtskultur« im Allgemeinen, welche die »Art und Weise« bezeichnet, »wie eine Gesellschaft mit Vergangenheit und Geschichte umgeht«.2 Dazu gehört neben dem Geschichtsunterricht unter anderem die Gestaltung von historischen Ausstellungen, Historien- und Dokumentarfilme oder die Erinnerungskultur, die sich etwa in der Denkmalpflege oder Jubiläums- und Gedenkfeiern manifestiert. In diesem Sinne versucht der vorliegende Beitrag, die theoretischen Grundlagen einer auf die Gesamtgesellschaft ausgerichteten Geschichtsdidaktik auszuloten.
Geschichte: Rekonstruktion oder Konstruktion ? Neben Forschung und Theorie lässt sich Geschichtsdidaktik als eine weitere »Dimension« der Geschichtswissenschaft verstehen.3 Diese hat sich (oder sollte sich) längst von der Tradition der »Meistererzählung« entfernt (haben), die gleichsam als »wahr« bzw. absolut präsentiert wurde. Zugleich verfügt sie zunehmend über eine theoretische Basis, die in enger Beziehung mit Geschichtsforschung und -theo-
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rie steht und seit den 1980er-Jahren insbesondere von der Diskussion um das Geschichtsbewusstsein geprägt ist.4 »Geschichtsbewusstsein« trägt zur Bildung von Identität bei, die als »subjektiver Konstruktionsprozess« verstanden werden kann, »in dem Individuen eine Passung von innerer und äußerer Welt suchen«.5 In diesem Sinne lässt sich Geschichtsbewusstsein als lebensweltlicher Zusammenhang zwischen Vergangenheitsdeutung, Gegenwartserfahrung und Zukunftserwartung definieren.6 Dieser Zusammenhang wird durch »historisches Erzählen« erzeugt,7 d. h. durch die Konstruktion »eines sprachlichen Gebildes, das auf bestimmte Weise zuvor isolierte Sachverhalte bedeutungsvoll miteinander verbindet«.8 Historische Erzählungen können somit als »punktuelle Sinncollagen« betrachtet werden. Da die Vergangenheit aufgrund der lückenhaften Quellenlage niemals als Ganzes erfasst werden kann, dient gleichsam ein »sinnkonstruierende[r] Faden […] als eine ›Angelschnur‹, mit der im Meer der Vergangenheitserinnerungen einzelne Perlen ›gefischt‹ werden. Die Sinnbildung gleicht dabei einer Punktion, durch die der Vergangenheit einzelne Erfahrungseinheiten entnommen werden. […] Die Sinnbezüge werden punktförmig so nebeneinandergesetzt, dass sie einen allgemeinen Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft collagieren.«9 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob wir es bei Geschichte mit »Rekonstruktion« oder – im Sinne des »linguistic turn« – mit »Konstruktion« zu tun haben. Die Rekonstruktion beansprucht für sich »Objektivität«, d. h. die Nachvollziehbarkeit geschichtswissenschaftlicher Ergebnisse durch die Anwendung allgemein akzeptierter Regeln. Dadurch unterscheide sich die Rekonstruktion von der Konstruktion, die auf intersubjektiv überprüfbare Regeln mehr oder weniger verzichte.10 Nicht ganz zu Unrecht wird an dieser Unterscheidung kritisiert, dass auch die Rekonstruktion trotz ihrer Bindung an intersubjektiv anerkannte Regeln letztlich ein Konstrukt bleibt, das seine Wurzeln in der Gegenwart hat und Bedeutung für die Identitätsbildung besitzt. So sind etwa historische Fragestellungen oder die verwendeten Methoden an einen »Zeitgeist«, an herrschende Ideologien und an die jeweilige Sozialisation des Einzelnen gebunden. Diese Erkenntnis beruht auf den Überlegungen von Richard Rorty, der von Varianten des Weltverständnisses ausging und in diesem Zusammenhang den Begriff der »Kontingenz« geprägt hat.11 Demnach ist unser Weltverständnis, das sich etwa in den Vorstellungen ausdrückt, die wir uns von der Vergangenheit machen, nicht beliebig, sondern rational nachvollziehbar bzw. kontingent. Allerdings hängt die jeweilige Form der Kontingenz, die sich aus den Fragestellungen sowie den angewandten Regeln und Methoden ergibt, von den jeweiligen sozialen Konstellationen ab, in die der Einzelne eingebunden ist. Die Interaktion in anderen sozialen Räumen ermöglicht daher auch andere Formen der Kontingenz. Geschichte ist daher streng genommen als Konstruktion zu betrachten – eine Erkenntnis, die sich in der Praxis der Geschichtsvermittlung und zum
Wider das »normative Geschichtsbewusstsein«
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Teil auch in der Geschichtsdidaktik erst allmählich und durchaus unter Widerspruch durchzusetzen beginnt. Nach wie vor scheint die »Meisterlehre« zu dominieren.
(Selbst-)Reflexion und »analytisches Geschichtsbewusstsein« Die Konstruktion »Geschichte« bleibt daher in ihrer Bedeutung für die Identitätsbildung meist unhinterfragt. Sie dient den Menschen auf unreflektierte Weise, »Verhaltenssicherheit, Ich-Bestätigung oder soziale Zugehörigkeit zu erlangen«.12 Dabei spielt die Eingebundenheit des Einzelnen in Sozialisationsprozesse und in diesem Zusammenhang das so genannte »kollektive Gedächtnis« eine entscheidende Rolle. Das »kollektive Gedächtnis« lässt sich in ein »kommunikatives« und »kulturelles Gedächtnis« differenzieren. Ersteres ist Ergebnis der Alltagskommunikation, d.h. der Kommunikation mit anderen in spezifischen sozialen Räumen. »Diese anderen sind keine beliebige Menge«, schreibt Jan Assmann, »sondern Gruppen, die ein Bild oder einen Begriff von sich selbst, d. h. ihrer Einheit und Eigenheit haben und dies auf ein Bewusstsein gemeinsamer Vergangenheit stützen«. Im Gegensatz dazu ist das »kulturelle Gedächtnis« durch seine Alltagsferne gekennzeichnet und beinhaltet vermeintliche »schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit«, die sich in Form von »Erinnerungsfiguren«, etwa Denkmälern, Ausstellungen oder Filmen, kulturell manifestieren.13 Das »kollektive Gedächtnis« prägt das Geschichtsbewusstsein, das noch bis weit »ins 20. Jahrhundert hinein (teilweise bis heute) […] als ein normativer Begriff gebraucht« wurde, »der inhaltlich vorschreibt, was und wie Schülerinnen und Schüler über Geschichte denken sollen«.14 Geschichte hatte bzw. hat daher auch manipulativen Charakter und dient in diesem Zusammenhang zur Konstituierung und Festigung vermeintlicher Kollektive (»Rasse«, »Volk« oder »Nation«) sowie zur Ab- und Ausgrenzung. Eine an Geschichtstheorie orientierte Geschichtsdidaktik versteht dagegen Geschichtsbewusstsein im analytischen Sinn, als eine Disposition, die es ermöglicht, das Verhältnis zwischen Individuum und kollektivem Gedächtnis zu hinterfragen und zu reflektieren. Dazu ist die Förderung eines »selbstreflexiven Ich« notwendig, das seine Abhängigkeit von Sozialisationsprozessen bzw. seine Prägung durch das »kollektive Gedächtnis« erkennt (Grafik 1).15 »Analytisches Geschichtsbewusstsein« trägt somit zur historisch-analytischen Sinnstiftung bei, die als dynamischer Prozess zu verstehen ist, bei dem die überlieferten Quellen in Form des Konstrukts »Geschichte« auf kohärente und identitätsstiftende Sinnzusammenhänge reduziert, diese aber zugleich wieder im Diskurs, in der argumentativen Auseinandersetzung mit den anderen, hinterfragt und gegebenenfalls revidiert werden. Analytisches Geschichtsbewusstsein ist somit als wichtiger Identitätsbaustein zu verstehen, als eine Denk- und im weiteren Sinne auch Handlungsressource, die Exis-
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tenzsicherung nicht durch die oberflächliche Nutzung verklärter Vergangenheit in Form des Konstrukts »Geschichte«, sondern durch eine selbstreflexive Form der »Objektivierung« ermöglicht, durch die Erkenntnis, dass die Wahrnehmung der Welt nicht unabhängig von bestimmten gesellschaftlichen Mustern und Vorgaben stattfindet. Nur auf diese Weise lassen sich wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandlungsprozesse erfassen und verarbeiten, ohne der Gefahr von Identitätskrisen ausgesetzt zu sein. Zudem wird damit auch dazu beigetragen, dass der Einzelne Wandlungsprozesse nicht einfach als schicksalhaft erträgt, sondern darauf auch Einfluss nimmt. Ein solches »selbstreflexives Ich« sollte konsequenterweise auch imstande sein, das normative Geschichtsbewusstsein, das über das »kollektive Gedächtnis« transportiert wird, nicht nur für sich selbst in Frage zu stellen, sondern auch in Richtung analytisches Geschichtsbewusstsein zu beeinflussen. Zwar würde dadurch die Geschichtsdidaktik eines Teiles ihrer Aufgaben beraubt, es wäre aber dennoch wünschenswert, im kollektiven Gedächtnis die Reflexion als konstituierendes Merkmal im Sinne der Demokratie und Meinungspluralität zu verankern. Die Erfüllung dieses Wunsches scheint aber in weiter Ferne, gleichsam eine Utopie, zumal sich Geschichte hervorragend dazu eignet, einerseits Herrschaft zu legitimieren und »politische Vorstellungen zustimmungswürdig zu machen, indem sie als Schonimmer-so dargestellt werden«,16 andererseits soziale Kohärenz zu schaffen, d. h. Abund Ausgrenzung zu legitimieren sowie sozialen Zusammenhalt zu stärken. Gerade deshalb sollte die Geschichtsdidaktik, die ihren Beitrag zur Herausbildung des »Citoyen« in der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft zu leisten hat, aber an dieser Zielvorstellung festhalten. Für das normative und analytische Geschichtsbewusstsein wurden seit den 1980er-Jahren zahlreiche mehr oder weniger äquivalente, in ihrem theoretischen Kontext allerdings zum Teil heftig diskutierte Begriffe verwendet : Karl-Ernst Jeismann verwendet für das normative Geschichtsbewusstsein, die »pragmatische Nutzanwendung«17 der Geschichte, unter anderem die Begriffe »Geschichtsverlangen« und »Geschichtsbild«. Diese umschreiben gleichsam defizitäre historische Vorstellungen, die mittels »Geschichtsbewusstsein« auf eine höhere Stufe gehoben werden sollen.18 Jeismann unterscheidet dafür zwischen Sachaussage, Sachurteil und Bewertung. Die Sachaussage benennt einen gesellschaftlichen Sachverhalt, d. h. die »reine« (freilich nie vollständig zu erfassende) Faktenlage. Das Sachurteil meint dagegen die Analyse dieser Sachverhalte bezüglich ihrer Ursachen und Wirkungen. Die Ebene der Bewertung bezieht sich schließlich auf die Analyse kollektiver und davon beeinflusster individueller Wertungen von Sachverhalten, zum Beispiel auf die politische Instrumentalisierung bestimmter Ereignisse. Aufbauend auf Jeismann wurde in den letzten Jahren der Begriff des »reflektierten« und »(selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins« entworfen, der – zumindest auf dem ersten Blick – tautologisch erscheinen mag und ein »an und für sich bewusstes Be-
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Wider das »normative Geschichtsbewusstsein«
Selbstreflexives Ich
Geschichtsdidaktik
Kollektives Gedächtnis
analytisches Geschichtsbewusstsein
„Geschichtskultur“ als Bezugsrahmen
normatives Geschichtsbewusstsein
„Utopie“: Transformation des normativen in ein analytisches Bewusstsein
Grafik 1 : Geschichtsdidaktik als Zwischeninstanz zwischen »kollektivem Gedächtnis« und »selbstreflexivem Ich«
wusstsein«19 propagiert. Ein Individuum besitzt aber »auch dann Geschichtsbewusstsein (wie elaboriert oder rudimentär auch immer), wenn es dich dessen nicht bewusst ist und darüber keine Angaben machen kann«.20 Daher soll laut Waltraud Schreiber »ein reflektierter Umgang mit Geschichte« angestrebt werden, »ein Umgang also, der sich an den Methoden und Ergebnissen historischer Forschung orientiert, und es ist ein (selbst-)reflexiver Umgang, der erlernt werden soll, ein Umgang, der die Bedeutung von Geschichte für die eigene Person und Gruppe im Blick behält«.21 Dem gegenüber oder besser : die Überlegungen zum »bewussten Bewusstsein« ergänzend und differenzierend wurde von Hans-Jürgen Pandel ein strukturanalytisches Konzept des Geschichtsbewusstseins entworfen. Geschichtsbewusstsein wird dabei als eine »mentale Struktur« verstanden, die aus mehreren Kategorien besteht :22 Zeitbewusstsein (früher – heute/morgen), Wirklichkeitsbewusstsein (real/ historisch – imaginär), Historizitätsbewusstsein (statisch – veränderlich), Identitätsbewusstsein (wir – ihr/sie), politisches Bewusstsein (oben – unten), ökonomischsoziales Bewusstsein (arm – reich) und moralisches Bewusstsein (richtig – falsch). Michael Sauer hat als weitere Dimension ein »Perspektivenbewusstsein« vorgeschlagen, »also ein Verständnis dafür, dass Geschichte immer aus einem bestimmten Blickwinkel wahrgenommen und überliefert wird«.23 Klaus Bergmann fordert zudem die Kategorie »Geschlechtsbewusstsein« ein, d. h. das Bewusstsein über die Regelung der Geschlechterverhältnisse im jeweiligen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext. Ferner weist er darauf hin, dass die Kategorie des moralischen Bewusstseins die Gefahr in sich birgt, historische Sachverhalte und Ereignisse aus heutiger Perspektive zu bewerten.24
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Tatsächlich scheint es für die Geschichtsdidaktik geboten, zwischen Normen und Regeln der Vergangenheit und Gegenwart zu differenzieren, weshalb dem »Zeitbewusstsein« und der in dieser Kategorie inkludierten Empathiefähigkeit besondere Bedeutung zukommt : »Empathie […] bedeutet nicht, in der Person des anderen ›aufzugehen‹. Vielmehr soll hier die Fähigkeit entwickelt werden, sich dem Erleben einer anderen Person so zu nähern, dass ein Verständnis für sie entsteht, ohne das ICH aufzugeben.«25 Dennoch ist »richtig« und »falsch«, insbesondere in der Zeitgeschichte, immer auch in den Rahmen eines »Werte- und Demokratiekonsenses« einzuordnen. Dieser gehört »zu den vorfindlichen Bedingungen des Geschichtsunterrichts« und ist »gleichzeitig eine wesentliche Zieldimension des Unterrichts«, »durch die erstens die Auswahl der Inhalte, das ›Was‹, und zweitens die Art und Weise der Inhaltsbearbeitung, das Wie, wesentlich beeinflusst werden«.26 Dem Vorwurf der Indoktrination, der deswegen erhoben werden könnte, ist mit demselben Argument zu begegnen, das Wolfgang Sander für die politische Bildung formuliert hat : »Demokratische politische Bildung wechselt nicht einfach die Etiketten für die Indoktrination aus, sie ist vielmehr ein Gegenmodell zur Indoktrination, weil sie von der Leitidee der Mündigkeit der Lernenden ausgeht.«27
Die Verbindung von Objektebene und Subjektebene Um analytisches Geschichtsbewusstsein zu gewährleisten, sind in der Geschichtsdidaktik – wie Bärbel Völkel betont28 – Objektebene und Subjektebene miteinander zu verbinden. Die Objektebene bezieht sich zunächst auf die historischen Sachthemen, gleichsam den »trockenen Stoff«, sowie auf die verwendeten Methoden und Medien. Die Subjektebene berücksichtigt dagegen die Lebenswelt der Lernenden, der als unreflektierter Lebensraum verstanden werden kann, als Teil einer vertrauten Umwelt, die unbewusst bedeutend für die eigene Existenz, somit sinnstiftend und handlungsrelevant ist.29 Indem die Subjektebene in den Lernprozess mit einbezogen wird, kann die Objektebene bzw. die Beschäftigung mit Themen der Geschichte letztlich sogar zu einem Teil der Lebenswelt werden. Auf der Objektebene muss Geschichtsdidaktik zunächst Perspektivenübernahme und Multiperspektivität ermöglichen. Multiperspektivität meint, dass historische Sachverhalte aus mehreren konträren Perspektiven zu beleuchten sind. Freilich wird es kaum möglich sein, einen vollständigen Überblick über alle wissenschaftlichen Lehrmeinungen zu einem historischen Thema anzubieten. Daher sollte an wenigen Beispielen die Fähigkeit gefördert werden, den Konstruktionscharakter von Geschichte bzw. historischer Erzählungen entschlüsseln zu können.30 Neben der Multiperspektivität ist auf der Objektebene auch die Perspektivenübernahme ein wichtiges geschichtsdidaktisches Kriterium, d. h. methodisch die Möglichkeit zu
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gewähren, im Sinne der Empathiefähigkeit gleichsam mit den Augen der anderen zu sehen.31 Mit der Perspektivenübernahme wird auch bereits die subjektive Ebene berührt, auf der die Bedeutung der Lebenswelt für die Identitätsstiftung bewusst gemacht werden soll.32 Denn Empathiefähigkeit bedeutet nicht, wie bereits erwähnt, das völlige Aufgehen in einer fremden Person, sondern lediglich zu versuchen, Motivation, Denkweisen und Gefühle anderer zu verstehen, ihre Handlungen zu erklären und somit auch mehrere Perspektiven zu akzeptieren. Dabei wird die eigene Perspektivität deutlich, d. h. die Erkenntnis, dass wir die Vergangenheit durch eine subjektive Brille betrachten. Dies schließt auch Reflexivität mit ein, die Beschäftigung mit Perspektiven, die andere auf die Vergangenheit haben und von den eigenen abweichen, ebenso die Berücksichtigung historischer Quellen, die nicht so recht in die eigene Vorstellung der Vergangenheit entsprechen. Damit verbunden ist auch Alterität, die zum einen zeitliche Entfernung berücksichtigt und die Gleichsetzung von Vergangenheitsdeutung und Gegenwartserfahrung infolge der Berücksichtigung unterschiedlicher zeitlicher und gesellschaftlicher Kontexte verhindert. Zum anderen nimmt sie auch Alternativen, die in der Vergangenheit existierten, sowie das »Wir« und »die anderen« in den Blick, womit auch Verschiedenheit in der Gegenwart ertragbar gemacht werden kann. Mit Alterität ist zudem historisches Fremdverstehen verbunden, das sich am interkulturellen Lernen orientiert. Dieses versucht, durch persönliche Begegnungen und gleichberechtigte Kooperation Konflikte abzubauen, wobei der gleiche Status der kooperierenden Gruppen eine zentrale Komponente darstellt. Übertragen auf die Geschichtsdidaktik bedeutet dies, »sich für das historisch Andere tatsächlich zu öffnen, Situationen und Verhaltensweisen für sich gedanklich zu erproben, versuchsweise die Perspektive des Fremden zu übernehmen«.33 Damit kann einerseits zum Fremdverstehen und interkulturellen Lernen in der Gegenwart beigetragen werden, indem am historischen Beispiel geübt wird, was von den Mechanismen her auch in der Gegenwart notwendig ist. Andererseits kann verhindert werden, dass sich der Einzelne unkritisch und gleichsam schicksalergeben in die Gegenwart einfügt : »Die Erfahrung, dass Menschen immer in entscheidungsoffenen Situationen leben und durch ihre Handeln Wirklichkeiten schaffen, die bis in die Gegenwart reichen, mag die Frage aufwerfen, welche Zukunft aus unserem Handeln erwachsen wird.«34 Als Brücke zwischen der Objektebene und der Subjektebene kann Handlungsorientierung dienen, die sich an konstruktivistischen Lernkonzepten orientiert : Die individuelle Wahrnehmung wird verstärkt betont, indem selbstreflexiv die eigene Konstruktion der Wirklichkeit ermöglicht werden soll. Auf der Objektebene werden dafür Informationen und Werkzeuge angeboten, um Lernprozesse selbst zu gestalten. Auf der Subjektebene ist es möglich, Erfahrungen zu sammeln, diese subjektiv zu deuten und diese Deutungen durch kommunikatives Handeln immer wieder zu
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reflektieren : »Der Lehrer wird als Mediator, die Lernenden [werden] als Konstrukteure ihres Wissens ohne Aneignungszwang gesehen. Der Erkenntnisfortschritt wird individualisiert und nicht mehr als Wissen vermittelt. Lernen ist ein selbständig sich vollziehender Akt, den man nicht mit Zielen, sondern durch die Ermöglichung vielfältiger schülergerechter Lernwege steuern soll.«35 Auf diese Wiese werden »Sachlogik« und »Lernlogik« zu einem Ganzen vereint. Die Sachlogik verknüpft Inhalt, Methode und Medium, die Lernlogik – im Sinne Pestalozzis – gleichsam »Kopf, Herz und Hand«, wodurch »Rationalität, Emotionalität und Aktivität als komplementäre Lernleistungen verstanden« werden können.36
Objektebene
Subjektebene
Kopf Inhalt
Rationalität (Fähigkeit und Bereitschaft zur reflexiven Auseinandersetzung
Hand Medium
Sachlogik
Handlung
Lernlogik
Aktivität (Fähigkeit und Bereitschaft zum Handeln
Herz Methode
Emotion und Empathie (Fähigkeit und Bereitschaft, Gefühle zuzulassen und sich auf Fremdes einzulassen)
Grafik 2 : Handlungsorientierung als Bindeglied zwischen Sach- und Lernlogik37
Im Bereich der Lernlogik müssen die durch Aktivität gemachten Erfahrungen auf eine abstrakte oder besser : kognitive Ebene transferiert und in bereits vorhandene Denk- und Handlungsschemata eingeordnet werden oder diese auch modifizieren. Der Lernende kehrt von seiner imaginären Reise in die Vergangenheit zurück und versucht, die Erfahrungen zu strukturieren und zu deuten. Dabei kann das Verfah-
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ren des »Verstehens« und »Erklärens behilflich sein, wobei Erklären als »eine diskursiv-prozessuale, kommunikative Erkenntnisleistung des Verständlich-machens« bezeichnet werden kann, »während Verstehen einen Akt des Begreifens oder einen Zustand des Begriffen-habens meint«.38 »Verstehen« und »Erklären« beziehen sich aufeinander, zumal »Verstehen (im Sinne von ›etwas verstehen‹) eine Voraussetzung des Erklärens« darstellt, »aber auch umgekehrt das Erklären eine Voraussetzung des Verstehens (im Sinne des ›verstehen warum‹)«.39 Diese komplizierten theoretischen Überlegungen lassen sich anhand eines Praxisbeispiels verdeutlichen : Ein Rollenspiel, das einen Disput von Vertretern des Absolutismus und der Aufklärung im 18. Jahrhundert zum Thema hat, bietet etwa durch Perspektivenübernahme die Möglichkeit des »Verstehens«. Die dabei gemachten Erfahrungen bleiben dabei aber noch weitgehend unreflektiert, weshalb etwa mithilfe eines sogenannten »Begriffslabyrinths« eine kognitive Verankerung und somit »Erklären« erzielt werden kann : In einem Durcheinander von Buchstaben sollen die SchülerInnen mehrere relevante Begriffe, etwa »Demokratie«, »Verfassung« oder »Parlament«, nicht nur entdecken, sondern auch erklären und ihre Erklärungen schließlich zur Diskussion stellen. An diesem Beispiel wird im Übrigen deutlich, dass bei theoretischen Überlegungen immer auch die methodische Umsetzbarkeit mitgedacht werden muss. Ein abgehobener theoretischer Diskurs, hochabstrakte Begriffe und mehr oder weniger kunstvoll produzierte Modelle sind letztlich für die Praxis unbrauchbar, wenn sie nicht mit einer adäquaten, die Objekt- und Subjektebene verbindenden Methodik verwoben sind.40
»(Arbeits-)Wissen« und »Kompetenzen« – eine Einheit ? Lernen, das durch die Verbindung von Objekt- und Subjektebene optimiert werden soll, bedeutet die Aufnahme von Informationen, deren Verarbeitung und Speicherung im Gedächtnis sowie deren Anwendung und Nutzung. Gemeinhin wird dieses komplexe Ergebnis von Lernprozessen als »Wissen« bezeichnet, das wiederum in »Grundwissen« und »Orientierungswissen« unterteilt werden kann : Ersteres umfasst gleichsam die »reine« Faktenlage, die an sich noch unbrauchbar ist. Letzteres besitzt dagegen eine instrumentelle Funktion, d.h., es stellt SchülerInnen ein Instrumentarium bzw. Kompetenzen zur Verfügung, um ihre Existenz im Sinne des »selbstreflexiven Ich« zu meistern. Orientierungswissen ist kein Lerngegenstand, sondern wird ständig trainiert und verbessert, indem es »funktional einbezogen [ist] in aktivierende, handlungs- und problemorientierte Lernwege […]. Es ist so gesehen nicht vorgegeben und stellt kein inhaltlich geschlossenes Lehr-System dar, das es zu ›lernen‹ gilt, sondern es entsteht durch Unterricht [oder andere Formen der Geschichtsdidaktik, Anm. d. V.].«41 Sowohl Orientierungswissen als auch Grundwis-
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sen sind aber aufeinander bezogen und können nicht isoliert voneinander betrachtet werden. In der gemäßigten konstruktivistischen Lernpsychologie wurde dafür der Begriff des »situierten Lernens« geprägt, das den Lernprozess an die inhaltlichen und sozialen Erfahrungen der Lernsituation gebunden sieht und den Zusammenhang von »Instruktion« (durch den Lehrenden) und »Konstruktion« (durch den Lernenden) betont : »Ziel situierter Lernumgebungen ist es, dass die Lernenden neue Inhalte verstehen, dass sie die erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten flexibel anwenden können und darüber hinaus Problemlösungsfähigkeiten und andere kognitive Strategien entwickeln.«42 Die Geschichtsdidaktik hat in den letzten Jahren das »Orientierungswissen« aus dem Wissensbegriff ausgegliedert, indem sie es durch den Begriff der »Kompetenz« ersetzt und vom so genannten »Wissen« oder »Arbeitswissen« abgegrenzt hat. Ob diese Trennung in der Geschichtsdidaktik tatsächlich einen Fortschritt bedeutet, bleibt dahingestellt. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass sie möglicherweise die Zusammenhänge zwischen »Grundwissen« und »Orientierungswissen« bzw. »(Arbeits-)Wissen« und »Kompetenzen« sowie zwischen »Instruktion« und »Konstruktion« verschleiert.43 Unter Wissen oder Arbeitswissen wird die Kenntnis von Begriffen und Begriffsdefinitionen, von Fakten und Sachverhalten, von Personen und Ereignissen, von Objekten und gesellschaftlich relevanten Bereichen, etwa den Grundlagen demokratischer Systeme, verstanden. Weiters zählen auch Kategorien zum »Arbeitswissen«, die – im Sinne der »kategorialen Bildung«44 – »die wesentlichen Eigenschaften und Merkmale einer Wissenschaft« repräsentieren und »so die prinzipielle Struktur der Disziplin« ausdrücken, »die hinter den Sachverhalten (Ereignissen und Prozessen) liegt. Historische Kategorien gelten als ›Denkregister‹, mit denen man das Spezifische des Historischen wahrnehmen, beschreiben, analysieren und systematisieren kann.«45 Freilich gibt es unterschiedliche Meinungen, wie das »Denkregister« gestaltet sein soll : Kategorien wie Geschlecht, Arbeit, Macht bzw. Herrschaft und Partizipation werden genannt, ferner Zeitpunkt, Dauer, Gewordenheit, Veränderbarkeit und Zukunftsperspektive, aber auch Gegenwartsbezug, Identifikation, Perspektivität und eben Geschichtsbewusstsein.46 Übereinstimmung herrscht darin, dass ein feststehender Kanon an Wissen bzw. Arbeitswissen, gleichsam ein historisches »Allgemeinwissen«, nicht existiert. Vielmehr ist es vom jeweiligen Thema abhängig, das behandelt wird ; es muss immer wieder auf die Relevanz für die Vermittlung von Kompetenzen überprüft werden : »Das Arbeitswissen stellt […] eine wichtige Basis dar, darf jedoch nicht mit einem ständig verfügbaren Fakten- oder Überblickswissen (›Lexikonwissen‹) gleichgesetzt werden, das, einmal erworben, dem Menschen dauerhaft zur Verfügung steht […].«47 Als Kompetenzen werden gemeinhin »die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten« bezeichnet, »um bestimmte Probleme zu lösen,
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sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können«.48 Kompetenzen sind demnach Bestandteile der sogenannten »kognitiven Struktur« eines Individuums, eines »Gefüge[s] von Begriffen, Operationen und Schemata, das, im Bewusstsein […] verankert, dort auch verändert werden kann« und »für künftige Erkenntnis- und Denkakte und Handlungen bereit« steht.49 Kompetenzen lassen sich somit von den Lernsituationen, in denen sie erworben wurden, loslösen und in anderen, alltäglichen Situationen anwenden. Außerdem sind sie keineswegs statisch, sondern können verfeinert und auch erweitert werden. Diese Definition von Kompetenz ist allerdings insofern zu problematisieren, zumal sie von einem weitgehend autonomen, selbst bestimmenden und im vollen Ausmaß für sich verantwortlichen »Ich« ausgeht. Da das »Ich« aber, wie bereits ausgeführt, als offenes System zu verstehen ist, das in Wechselbeziehung mit der Welt, mit dem »Außen«, steht und stark durch Sozialisation geprägt ist, bedarf die Definition daher einer Erweiterung um die Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbstreflexion. Erst eine solche ermöglicht es, die »motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten« immer wieder zu hinterfragen, sie auf ihre Tauglichkeit und letztlich auch auf ihre Plausibilität und Rationalität hin zu überprüfen.
Historische Kompetenzen – eine kritische Betrachtung Die Bedeutung, die Kompetenzen nicht nur in der Geschichtsdidaktik erlangt haben,50 resultieren vor allem aus der Anforderung, fachspezifische »Bildungsstandards« für den Unterricht zu entwickeln.51 Darin soll festgelegt werden, welche Kompetenzen SchülerInnen in den Kernbereichen jeweils bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe erworben haben. Sie sollen letztlich den Output messbar und vergleichbar machen, um somit die Leistungsfeststellung zu erleichtern. Ob sich Kompetenzmodelle dafür tatsächlich eignen, bleibt allerdings zu bezweifeln, zumal das Messen von Kompetenzen – wie die obige Definition zeigt – nur partiell möglich ist. Wird daher in der Geschichtsdidaktik von Kompetenzen gesprochen, sollte es vielmehr um die Frage gehen, wie historische Bildung den Einzelnen befähigen kann, seine Existenz in einer demokratischen Gesellschaft besser zu meistern. Die Kompetenzmodelle, die in der Geschichtsdidaktik kursieren, haben sich genau die Beantwortung dieser Frage zur Aufgabe gemacht. Das Problem dieser Modelle liegt aber in ihrer Unterschiedlichkeit und in der von ihnen gestifteten Begriffsverwirrung. So wirken die einzelnen Kompetenzen nicht selten zufällig formuliert, könnten anderen Kompetenzen untergeordnet sowie durch andere ersetzt oder auch erweitert werden. Zudem wird unter verschiedenen Bezeichnungen oft Ähnliches verstanden und somit nicht gerade zur Klärung von Missverständnissen beigetragen.
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Michael Sauer unterscheidet etwa zwei Kompetenzbereiche : Sachkompetenz und Methodenkompetenz. Zur Sachkompetenz zählt Sauer zum einen »chronologisches Orientierungswissen«, d. h. die Fähigkeit, zwischen früher und heute bzw. vorher und nachher zu unterscheiden sowie Schlüsselereignisse, Umbrüche und Kontinuitäten menschlicher Lebensweisen zu erkennen. Zum anderen gehört zur Sachkompetenz auch »Sachwissen« : charakteristische Merkmale einzelner Epochen und Gesellschaften sowie Ursachen und Folgen wesentlicher Ereignisse und Prozesse. Methodenkompetenz umfasst bei Sauer das »historische Denken«. Damit soll gewährleistet werden, dass Geschichte als Konstrukt erkannt, die Perspektivität in Vergangenheit und Gegenwart reflektiert, Alteritätserfahrung und Fremdverstehen ermöglicht sowie Methoden historischer Untersuchungen und Erklärungen beherrscht werden. Zur Methodenkompetenz gehört zudem nach Sauer der Umgang mit historischen Kategorien und Begriffen, die Fähigkeit, mit Quellen und Geschichtsdarstellungen umzugehen, eigene historische Lernprozesse zu organisieren und zu reflektieren sowie historische Kenntnisse und Erkenntnisse zu reflektieren.52 Ein weiteres von Hans-Jürgen Pandel entworfenes Kompetenzmodell unterscheidet zwischen Gattungskompetenz, Interpretationskompetenz, geschichtskultureller Kompetenz und narrativer Kompetenz.53 Gattungskompetenz meint die Fähigkeit, historische Quellen und Literatur zu unterscheiden und gattungsgerecht zu nutzen. Mit Interpretationskompetenz wird die Fähigkeit zur analysierenden, an Kategorien orientierten Interpretation sowie zur kritisierenden Interpretation von Quellen und Geschichtsdarstellungen umschrieben. Mit der kritisierenden Interpretation ist das Aufdecken verborgener Annahmen und Interessen gemeint.54 Dazu ist wiederum geschichtskulturelle Kompetenz notwendig, d.h. die Fähigkeit, Geschichte als konstruierte Vergangenheit zu erkennen. Die narrative Kompetenz ermöglicht es schließlich dem Lernenden, aus vorhandenen Informationen, insbesondere aus Quellen, historische Sinnzusammenhänge herzustellen. Das ausführlichste historische Kompetenzmodell wurde im Rahmen des Projekts »Förderung und Entwicklung Reflektierten Geschichtsbewusstseins« (FUER Geschichtsbewusstsein) entwickelt. Vier Kompetenzbereiche sind dabei zentral : die Fragekompetenz, die methodische Kompetenz, die Sachkompetenz und die Orientierungskompetenz.55 Die Fragekompetenz meint die Fähigkeit und Bereitschaft, Fragen an die Vergangenheit zu stellen und die Fragestellungen zu erfassen, die fremden historischen Erzählungen zugrunde liegen. Mit der Fragekompetenz eng verbunden ist die methodische Kompetenz, die als Fähigkeit und Bereitschaft definiert wird, die Instrumentarien sowohl zur Re-Konstruktion und De-Konstruktion von Geschichte verwenden zu können. Daher werden auch die Re-Konstruktions- und die De-Konstruktionskompetenz als Kernkompetenzen unter die Methodenkomptenz gezählt. Unter Re-Konstruktionskompetenz wird die Fähigkeit verstanden, aus vorhandenen Quellen der Ver-
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gangenheit selbst Geschichte zu rekonstruieren. Die De-Konstruktionskompetenz, die wohl zum Teil mit der oben genannten »geschichtskulturellen Kompetenz« vergleichbar ist, ermöglicht dagegen dem Lernenden, historische Erzählungen auf ihren Entstehungszusammenhang, ihre Funktionen bzw. die Absichten und Interessen der Erzähler zu hinterfragen. Das Modell geht somit davon aus, dass Geschichte rekonstruierbar sei, indem intersubjektiv anerkannte wissenschaftliche Methoden angewandt werden und eine bestimmte Auffassung über wirtschaftliche und gesellschaftliche Verhältnisse nachvollziehbar machen. Auf die Problematik einer solchen Annahme wurde bereits hingewiesen, zumal sich Rekonstruktion und Konstruktion nur auf dem ersten Blick zu unterscheiden scheinen. Es sei auch darauf hingewiesen, dass – wenn schon die Möglichkeit einer Rekonstruktion angenommen wird – im Modell konsequenterweise von »De-Rekonstruktionskompetenz« gesprochen werden sollte. Ein solcher wortsemantischer Widerspruch verwundert freilich nicht, zumal in der Geschichtsdidaktik die Begriffsbildung erst am Anfang steht56 und Sprachverwirrung geradezu als eines ihrer typischen Merkmale betrachtet werden muss. Unter Sachkompetenz, die nicht mit jener von Sauer zu verwechseln ist, wird die Fähigkeit und Bereitschaft verstanden, »die Domäne des Historischen zu strukturieren und mit dafür entwickelten bzw. adaptierten Begriffen zu erschließen«.57 Zwei Kernkompetenzen werden daher unterschieden : die Begriffskompetenz und die Strukturierungskompetenz. Die Begriffskompetenz soll dazu befähigen, aus fachspezifischen Begriffen und den dahinter stehenden Kategorien und Konzepten »semantische Netze«58 zu bilden sowie den Wandel von Begriffen im gesellschaftlichen Kontext zu erkennen. Dagegen dient die historische Strukturierungskompetenz zur »Strukturierung und Systematisierung der Domäne« mithilfe der Begriffe. Die Kategorie »Herrschaft« muss etwa mit der Kategorie »Mitbestimmung« verknüpft werden, zugleich bildet sie ein ganzes Wort- und Begriffsfeld, zumal mehrere Subkategorien wie beispielsweise »Staat«, »Gewalt«, »Partizipation«, »Freiheit« und »Unterdrückung« mitzudenken sind. Neben dieser semantischen Netzwerkbildung ermöglicht die Kategorie »Herrschaft« zudem eine Strukturierung und Systematisierung, indem sie notwendigerweise auf Wandlungsprozesse und somit auf Revolutionen, Verfassunggebung oder Staatsauflösung achten lässt.59 Die – nicht mit Sauers »Orientierungswissen« zu verwechselnde – historische Orientierungskompetenz soll es schließlich möglich machen, historisches Wissen und die erworbenen Kompetenzen zum besseren Verständnis von Gegenwartsproblemen zu nutzen. Zudem umfasst sie die Fähigkeit, sowohl Geschichte als auch das eigene Geschichtsbewusstsein zu reflektieren und als Hilfe für die Orientierung in der eigenen Lebenswelt zu erkennen : »Es geht darum zu erkennen, zu akzeptieren und zu nutzen, dass Geschichte einen Beitrag dafür leisten kann, sich zu orientieren, das eigene Tun und Lassen plausibler zu begründen bzw. die eigenen (Vor-)Urteile, Einstellungen, Prägungen zu hinterfragen.«60 Damit übernimmt die historische
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Orientierungskompetenz auch Aufgaben politischer Bildung : »Versucht man […] also historisch-politisches Denken im Unterricht zu fördern, kann man Fragen der Orientierung nicht ausschließen und sollte auch auf Konzepte der politischen Bildung zurückgreifen. Dabei wird ein verstärkter Gegenwarts- und Zukunftsbezug traditionelle Auswahlmechanismen des Geschichtsunterrichts erweitern und neue, andere Themen positionieren.«61 Die Schnittmenge zwischen Geschichtsdidaktik und politischer Bildung bleibt hier freilich relativ klein,62 und die Synergien zwischen beiden Bereichen sind bei Weitem noch nicht ausreichend erfasst. Es wird daher notwendig sein, weitere, insbesondere auf historisch-politische Sinnbildung ausgerichtete Überlegungen anzustellen.63 Auf den ersten Blick scheinen die genannten Kompetenzen, die im Rahmen des Projekts »FUER Geschichtsbewusstsein« erarbeitet wurden, durchaus nachvollziehbar, bei genauerer Betrachtung offenbart sich aber deren Konstruktionscharakter und damit auch eine gewisse Willkürlichkeit der Begriffsbildung. So ließen sich Re-Konstruktion und De-Konstruktion, die als »Basisoperationen« besondere Bedeutung besitzen,64 als eigene Kompetenzbereiche definieren. Genau genommen gehören lediglich die Methoden, die der Re-Konstruktion und De-Konstruktion dienen, in den Kompetenzbereich »Methodenkompetenz«. Die so genannte »Sachkompetenz« muss dagegen nicht unbedingt als eigener Kompetenzbereich hervorgehoben werden. Denn bei den Begriffen, Kategorien bzw. Konzepten handelt es sich um »(Arbeits-)Wissen« ; sie stehen erst mit Kompetenzen in Verbindung, wenn diese auch angewandt werden, um Fragen an die Geschichte zu stellen, eigene historische »Erzählungen« zu schaffen sowie eigene und fremde Geschichtserzählungen zu dekonstruieren. Das Anwenden von »(Arbeits-)Wissen«, etwa wenn Begriffe wie »Freiheit« gleichsam als »Folie« auf bestimmte Texte gelegt und diese damit dekonstruiert werden, ist letztlich aber nichts anderes als eine Methode bzw. eine Arbeitstechnik.65 Es scheint daher sinnvoll, unter den Kompetenzbereich »Methodenkompetenz« alle jene Methoden und Arbeitstechniken zu reihen, die Fragekompetenz, Rekonstruktions- und De-Konstruktionskompetenz sowie Orientierungskompetenz ermöglichen. Innerhalb der Methodenkompetenz lassen sich aber selbstverständlich Hierarchien erstellen, wie sie etwa Andreas Körber anspricht, wenn er unter dem »Kompetenzbereich ›Methodenkompetenz‹ die Fähigkeit sowie Bereitschaft und die dazugehörigen Kenntnisse und Einsichten« reiht, »die den selbstständigen Einsatz der grundlegenden Operationen des historischen Denkens steuern. Konkrete isolierte Arbeitstechniken und Methoden, wie etwa die Interpretation einer einzelnen Quelle oder auch die Formulierung einer Fragestellung, das Recherchieren in Archiven und Bibliotheken sowie dem Internet etc., gehören zwar auch in den Bereich dieser Kompetenz, sie liegen jedoch auf einer anderen Ebene, definieren nicht für sich den Kompetenzbereich. […] Methodenkompetenz als Ganzes entsteht dann, wenn der Schüler [und freilich auch die Schülerin, Anm. d. V.] die Methoden nicht nur
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auszuführen weiß, sondern selbstständig ihren Einsatz entscheidet, die Ergebnisse einzuschätzen weiß, ja sie ggf. kreativ verändern kann.«* In eine solche Hierarchie, die der praktischen Umsetzung eines Kompetenzmodells entgegenkommt, lässt sich letztlich auch – selbst wenn Körber dies wohl verneinen würde – die Anwendung von Begriffen und Konzepten bzw. Kategorien, d.h. die Sachkompetenz reihen.
Modifizierte »Mündigkeit«: Kompetenzen im subjekttheoretischen Sinn Die gängigen Kompetenzmodelle beziehen sich nur bedingt auf die Unterscheidung zwischen Objekt- und Subjektebene. Im Folgenden soll daher ein Kompetenzmodell (Grafik 3) entwickelt werden, das auch subjekttheoretische Überlegungen verstärkt miteinbezieht. Dabei – und das ist unter anderen ein Vorteil dieses Modells – werden keine neuen Begrifflichkeiten geschaffen. Vielmehr wird versucht, an bereits Vorhandenes anzuknüpfen und lerntheoretische Überlegungen zu berücksichtigen bzw. sogar unterschiedliche Begrifflichkeiten einander anzunähern. Zugleich werden auch interdisziplinäre Brücken zur Politikdidaktik geschlagen, die sich in den letzten Jahren ebenfalls intensiv mit der Definition von Kompetenzen auseinandergesetzt hat.66 Zwei Kompetenzbereiche sind im Modell grundlegend : die Reflexionskompetenz sowie die selbstreflexive Kompetenz. Die Reflexionskompetenz ist auf der Objektebene angesiedelt und soll den Lernenden befähigen, mit historischen Quellen kritisch umzugehen und fremde historische Erzählungen als Elemente normativen Geschichtsbewusstseins gleichsam zu entlarven. Die selbstreflexive Kompetenz bezieht sich dagegen auf die Subjektebene und soll es den Einzelnen ermöglichen, sich im Sinne des »selbstreflexiven Ich« (S. 464) seiner Abhängigkeit von Sozialisationsprozessen, von vorgegebenen Normen und Werten und damit verbunden vom kollektiven Gedächtnis bewusst zu werden sowie aus der Beschäftigung mit Geschichte ein analytisches Geschichtsbewusstseins zu entwickeln. Darauf aufbauend soll die Fähigkeit vermittelt werden, verantwortungsbewusst zu handeln und auf diese Weise zur Fortentwicklung der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft beizutragen. Im Zusammenhang mit der Reflexionskompetenz und der selbstreflexiven Kompetenz sind sowohl auf der Objekt- als auch auf der Subjektebene zwei Kompetenzen festzumachen, die sich auf die von Hans-Jürgen Pandel formulierte geschichtskulturelle Kompetenz (S. 472) beziehen : die zum Teil an das Projekt »FUER Geschichtsbewusstsein« angelehnte (De-)Konstruktionskompetenz und die Urteilskompetenz.67 So sind die eigenen Vorstellungen über die Vergangenheit und auch jene der anderen *
Körber, Andreas : Grundbegriffe und Konzepte : Bildungsstandards, Kompetenzen und Kompetenzmodelle. In : Ders./Schreiber/Schöner (Hg.) : Kompetenzen historischen Denkens, S. 133 f.
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lediglich Konstrukte, die es zu entschlüsseln bzw. zu dekonstruieren gilt. Dazu ist es aber notwendig, die Mechanismen der Konstruktion kennenzulernen und anwenden zu können sowie das Konstrukt »Geschichte« mit Sinn zu belegen, d. h. über Konstruktionskompetenz zu verfügen. Erst auf Basis dieser Kenntnis ist auch Dekonstruktionskompetenz möglich, die – gemäß der Philosophie des Dekonstruktivismus (Jacques Derrrida) – die Konstruktion von »Geschichte« nicht als Ergebnis eines vermeintlich autonomen Individuums versteht. Vielmehr muss dessen Eingebundenheit in gesamtgesellschaftliche Kontexte bzw. dessen Sozialisation berücksichtigt werden. Der Lernende soll demnach erkennen und auch problematisieren können, dass die eigenen und fremden Geschichtskonstruktionen zur Identitätsstiftung beitragen und somit Ausdruck unterschiedlicher Formen des Weltverständnisses bzw. des normativen Geschichtsbewusstseins sind. Ohne die (De-)Konstruktionskompetenz ist keine Urteilskompetenz möglich, die den Blick auf ein historisches Thema aus möglichst vielen Perspektiven erlauben sowie ein kommunikativ und rational begründetes Urteil darüber ermöglichen soll. Damit verbunden sind zum einen die Auseinandersetzung mit anderen, ebenfalls rational begründeten Urteilen und deren Akzeptanz, zum anderen das etwaige Revidieren des eigenen Urteils infolge der Macht des besseren Arguments. Hinter der Urteilskompetenz steht die »Theorie des kommunikativen Handelns« von Jürgen Habermas, die als gesellschaftliches Ideal eine herrschaftsfreie Gesprächssituation annimmt, in der gleichberechtigte, von jeglichem Handlungsdruck befreite KommunikationspartnerInnen das vernünftigste Argument als Grundlage ihrer Entscheidung heranziehen.68 Eine solche Beziehung ist freilich in einer Gesellschaft, deren Ansprüche in höchstem Maße widersprüchlich sind, nur schwer möglich. Soziale Kompetenz, darunter auch die Akzeptanz der Gleichbehandlung und Solidarität als demokratische Norm, wird durch die Ideologie der Selektion und der Konkurrenz konterkariert.69 Eine Kapitulation der Geschichtsdidaktik vor diesen Widersprüchen bedeutete aber letztlich, ihre eigene Existenz infrage zu stellen, nicht zuletzt weil ihr Beitrag zur Herausbildung des »Citoyen«, d.h. des »mündigen« Bürgers bzw. der »mündigen« Bürgerin, unentbehrlich ist. (De-)Konstruktionskompetenz und Methodenkompetenz benötigen als Grundlage die auf der Objektebene angesiedelte Methodenkompetenz. Sie schließt zunächst die Fragekompetenz (S. 474) mit ein, die als Fähigkeit definiert wird, Fragen an die Vergangenheit zu stellen und auch die Fragen zu erfassen, die fremden historischen Erzählungen zugrunde liegen. Ferner erlaubt die Gattungskompetenz (S. 476) die Unterscheidung von »Texten« : So soll der Lernende, um nur einige Beispiele zu nennen, historische Quellen klassifizieren und historische Literatur als wissenschaftlich oder populärwissenschaftlich bewerten können sowie über das notwendige analytische Rüstzeug verfügen, um etwa Historienfilme als zeitidente Darstellungen zu entschlüsseln, d.h. als Ausdruck jener Zeit, in der sie entstanden sind. Dazu ist die
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Diskursanalyse bzw. – zumal Schüler und Schülerinnen wissenschaftliches Arbeiten nur in Ansätzen zu erfassen vermögen – die diskursanalytische Propädeutik notwendig, die neben der Frage- und Gattungskompetenz gleichsam ein »Herzstück« der Methodenkompetenz bildet. »Texte«, d.h. nicht nur geschriebene Texte, sondern auch Filme, Bilder oder auch ein spezifischer Habitus, sind nicht als Produkt eines Einzelnen zu verstehen, sondern »als Bestandteil eines (sozialen) Diskurses«,70 d.h. als Produkt, das infolge direkter Interaktion zwischen dem Textproduzenten und seiner sozialen Umwelt und/oder durch den Einfluss von Medien entstanden ist. Eine Textanalyse muss letztlich eine Diskursanalyse sein und kann daher nicht werkimmanent erfolgen, d. h. unter Ausschluss des gesellschaftlichen Kontextes. Vielmehr muss durch die Berücksichtigung anderer »Texte« gewährleistet sein, dass der Lernende die Eingebundenheit des Textproduzenten in Sozialisationsprozesse bzw. einen sozialen Diskurs erkennt. Damit verbunden ist freilich auch Sachkompetenz im Sinne des Kompetenzmodells, das im Rahmen des Projekts »FUER Geschichtsbewusstsein« entworfen wurde (S. 472–475), sowie narrative Kompetenz,71 d. h. die Fähigkeit, eigene historische Erzählungen zu konstruieren, indem historische Quellen geordnet und kontextualisiert werden. Methoden-, (De-)Konstruktions- und Urteilskompetenz sind notwendige Voraussetzungen, um auf der Subjektebene Orientierungs- und Handlungskompetenz zu ermöglichen. Die Orientierungskompetenz soll es dem Lernenden ermöglichen, sich in seiner Lebenswelt besser zurechtzufinden : »Es geht darum, zu erkennen, zu akzeptieren und zu nutzen, dass Geschichte einen Beitrag dafür leisten kann, […] das eigene Tun und Lassen plausibler zu begründen bzw. die eigenen (Vor-)Urteile, Einstellungen, Prägungen zu hinterfragen. […] Historische Orientierungskompetenz beinhaltet deshalb auch die Modifikation des eigenen Geschichtsbewusstseins.«72 Orientierungskompetenz meint demnach die Reflexion über den eigenen Umgang mit Geschichte und die Bereitschaft, sich neuen Geschichtskonstruktionen zu öffnen. Dazu notwendig ist Fremd- und Selbstverstehen, zum einen also die Fähigkeit zur Empathie und zum anderen die Fähigkeit, das Selbst zu hinterfragen, indem die soziale und kulturelle Prägung des Menschen durch die Erfahrung mit Geschichte deutlich gemacht wird. Schließlich bedeutet Orientierungskompetenz auch, durch die Beschäftigung mit Geschichte über ein Repertoire von Handlungsdispositionen zu verfügen bzw. dieses zu erweitern, aber auch die Handlungsmöglichkeiten der Gegenwart nicht mit jenen der Vergangenheit gleichzusetzen, sondern sie im jeweiligen Zeitkontext zu verorten.73 Demnach greift eine Definition der Orientierungskompetenz zu kurz, nach der »historisches Wissen und die durch historisches Lernen erworbenen Kompetenzen zum besseren Verstehen von Gegenwartsphänomenen und aktuellen Problemen«74 dient, zumal diese nicht unbedingt die Lebenswelt des Lernenden tangieren müssen. Aus diesem Grund sind der »interpersonale« und der »transpersonale Raum«
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einander anzunähern : Der interpersonale Raum beschreibt einen durch soziale Beziehungen definierten Raum, der Übersichtlichkeit gewährt, d.h. einen konkret erfahrbaren sozialen Nahraum. Abstrakte historische Kategorien wie Macht bzw. Herrschaft, Veränderbarkeit oder auch Geschlecht, um nur einige zu nennen, werden dagegen auf der transpersonalen Ebene vermittelt, die nicht unmittelbar mit der Lebenswelt des Lernenden verknüpft sein muss.75 Die Geschichtsdidaktik ist daher aufgefordert, die beiden Räume miteinander in Beziehung zu setzen und damit Orientierungskompetenz im oben beschriebenen Sinn zu ermöglichen. Anhand eines praktischen Beispiels, das Bärbel Völkel für die notwendige Verbindung von Objekt- und Subjektebene anführt,76 lässt sich diese Annäherung der beiden Räume erläutern : Im Zusammenhang mit der Französischen Revolution wird die Problematik der geschlechtlichen Ungleichheit mit zielorientierten Methoden meist auf der Objektebene thematisiert. Dazu werden Quellen gelesen und mithilfe von Leitfragen erschlossen und gemeinsam diskutiert. Auf diesem Weg wird das Thema allerdings lediglich im transpersonalen Raum behandelt, weshalb die Reaktionen vermutlich eher verhalten bleiben und nicht den Erwartungen der Lehrperson entsprechen. Tatsächlich sind die Quellen für die Schüler und Schülerinnen nichts anderes als abstrakte Texte, die es zu lesen gilt. Mithilfe handlungsorientierter Methoden, etwa eines Rollenspiels, lässt sich allerdings die Dramatik der in den Quellen beschriebenen Situation erfahrbar machen und in den interpersonalen Raum eindringen. Die abstrakte Kategorie Geschlecht wird auf diese Weise in der Lebenswelt der Lernenden expliziert, nicht zuletzt weil diese die Frage der geschlechtlichen Ungleichheit mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für die Gegenwart stellen. Orientierungskompetenz macht die Lernenden unter anderem mit Handlungsdispositionen bekannt und steht somit in enger Verbindung mit Handlungskompetenz, worunter die Fähigkeit verstanden wird, auf rationaler und diskursiver Basis eigene Positionen zu gesellschaftlichen Fragen zu entwickeln, für die Bedürfnisse und Einstellungen anderer Menschen Verständnis aufzubringen und zur Gestaltung und Fortentwicklung der Gesellschaft beizutragen. »Dabei geht es nicht nur um Handlungen im Sinne großer politischer Aktionen – etwa einer Ableitung der Notwendigkeit feministischer Aktion aus der Erkenntnis historisch konstanter Unterdrückung der Frauen. Auch der Vorsatz, die etwa aus der Lektüre einer Unternehmerbiografie gewonnenen Erkenntnisse über Führungsverhalten im eigenen Betrieb umzusetzen, gehört z. B. hierher.«77 Die Handlungskompetenz schlägt damit bereits die Brücke zu einer Politischen Bildung, die einem weiten Politikbegriff verpflichtet ist. Entgegen mancher Meinung in der Geschichtsdidaktik78 kann also die Beschäftigung mit Geschichte, wie bereits bei der Definition der Orientierungskompetenz angedeutet wurde, durchaus Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Voraussetzung dafür ist freilich, dass der jeweilige Zeitkontext mitberücksichtigt wird und keine automatische Übertragung vergangener Handlungen auf die Gegenwart
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Objektebene
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Subjektebene
Methodenkompetenz
(De-)Konstruktionskompetenz
Urteilskompetenz
Orientierungskompetenz
Handlungskompetenz
Reflexionskompetenz
Selbstreflexionskompetenz handlungsorientiertes Lernen
„historisch-analytische Sinnbildung“ als Teil der Identitätsbildung
Grafik 3 : Historische Kompetenzen aus subjekttheoretischer Perspektive
erfolgt bzw. aus der Reflexion über die unterschiedlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen heraus neue, der Gegenwart und Zukunft angemessene Handlungsmöglichkeiten entworfen werden. Auf den ersten Blick erscheinen geschichtsdidaktische Modelle wie das vorliegende als äußerst kompliziert und in der Praxis kaum realisierbar. Joachim Rohlfes hat wohl nicht ganz zu Unrecht die Frage gestellt, »ob hier nicht die gymnasiale Oberstufe mit einem universitären Oberseminar verwechselt wird«.79 Diesen Vorbehalten lässt sich allerdings begegnen, wenn solche Modelle gleichsam als Folie über die geschichtskulturelle Praxis gelegt werden und eine adäquate Methodik ein Auseinanderdriften von
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Theorie und Praxis verhindert. Dazu eignet sich insbesondere die Handlungsorientierung80, welche Ganzheitlichkeit auf der Objekt- und Subjektebene gewährleisten kann. Voraussetzung dafür ist insbesondere Erfahrungs- und Lebensweltbezug sowie Lernen im sozialen Kontext : Beides ermöglicht es, eine Brücke zwischen Vergangenheit sowie individueller Gegenwart und Zukunft zu schlagen und dabei – infolge eines »kooperativen Deutungsprozess[es]« in der Gruppe – auch Neues entstehen zu lassen, »das im individuellen Erleben als sinnhaft erkannt werden kann«.81 Dabei werden die unterschiedlichen Kompetenzen, die sich vielfach überschneiden und im Modell letztlich nur auf analytische Weise auseinanderdifferenziert und damit für den Lehrenden bewusst gemacht wurden, trainiert und angeeignet. Zu berücksichtigen ist dabei, dass Kompetenzen aber nur schrittweise aufgebaut werden, weshalb die Ergebnisse von Lernprozessen oftmals fragmentarisch und – zumindest auf dem ersten Blick – als nicht zufriedenstellend erscheinen mögen. Lernen erfolgt aber gleichsam als »Plattform-Lernen«,82 bei dem die Lernenden bei bestimmten Lerngegenständen verweilen und sich diese vertraut zu machen versuchen. Nicht immer lässt sich der Lernerfolg deutlich messen, zumal auf den Plattformen auch Grundlagen geschaffen werden, die erst in Verbindung mit anderen »Plattformen« wirksam werden. Die Brücken zwischen den Plattformen werden letztlich durch den Lernenden selbst geschlagen, indem das Gelernte in die kognitive Struktur Eingang findet bzw. Teil der individuellen Identität wird. Das Gelernte kann in der Folge vom Einzelnen in bestimmten Situationen angewandt, mit anderen Elementen der kognitiven Struktur zu kohärenten Sinnzusammenhängen verknüpft und somit Teil eines individuellen Bewusstseins, eines gleichsam mehr oder weniger geschlossenen, aber immer wieder veränderbaren Universums werden. In diesem Universum kann auch historisch-analytische Sinnbildung stattfinden, vorausgesetzt, dass Lernsituationen geschaffen werden, die das allmähliche Beherrschen der im vorliegenden Modell angeführten Kompetenzen garantieren. Die Auseinandersetzung mit Geschichte, geschieht sie in (selbst-)reflexiver Weise, kann somit zur Herausbildung des modernen »Citoyen« beitragen, der sich seiner Eingebundenheit in Sozialisationsprozessen und somit auch des Einflusses bewusst ist, welche das »normative Geschichtsbewusstsein« auf ihn ausübt, zugleich aber gerade deshalb dazu befähigt ist, Normen und Wertesysteme infrage zu stellen und die demokratisch-bürgerliche Gesellschaft damit weiterzuentwickeln.
Schlussbemerkungen Die erwähnte Begriffsverwirrung unter anderem bei den historischen Kompetenzen lässt nicht zu Unrecht vermuten, dass es sich bei der Geschichtsdidaktik noch immer um eine wissenschaftliche Disziplin handelt, »die sich erst im Statu nascendi befin-
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det«.83 Gerade daher bedarf es aber einer intensiven diskursiven Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen. In Österreich, das sei hier durchaus kritisch angemerkt, hat ein solcher Diskurs bislang kaum stattgefunden. Besonders auffällig ist daher die geradezu hegemoniale Position, die das im Rahmen des Projekts »FUER Geschichtsbewusstsein« entworfene Kompetenzmodell – ganz im Gegensatz zu seinen inhaltlichen Ansprüchen – einnimmt. Trotz seiner unbestrittenen Verdienste, die insbesondere darin liegen, die Geschichtskultur gleichsam von der »Meistererzählung« zu befreien, findet das dahinter stehende Konzept als Gesamtes im bundesdeutschen Kontext nicht unbedingt die volle Zustimmung und wird – wie bereits erwähnt (S. 474) – in manchen Bereichen durchaus kritisiert : bei der Entwicklung eigener »wissenschaftlicher« Termini zum Beispiel, die nur zum Teil an bereits bestehende anknüpfen84, aber auch bei der Frage, was denn etwa unter dem Bereich der Methodenkompetenz zu reihen sei (S. 474). Aufgrund der geringen Bedeutung, die Geschichtsdidaktik als »Domäne« der Geschichtswissenschaft in Österreich noch immer besitzt, werden diese Einwände aber kaum problematisiert. Ein geschichtsdidaktischer Diskurs anstelle der Monopolisierung eines Modells täte aber auch der österreichischen Geschichtsdidaktik gut, zumal sich Wissenschaft bekanntlich nicht mit dem Erreichten zufriedengeben darf. Der vorliegende Beitrag ist daher auch als Belebung des geschichtsdidaktischen Diskurses in Österreich zu verstehen, indem er ein Kompetenzmodell präsentiert, das aus subjekttheoretischer Perspektive und unter Bezugnahme lernpsychologischer Forschung vom derzeit dominierenden Modell zum Teil abweicht bzw. dieses erweitert.
Anmerkungen 1 Bernd Schönemann : Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft. In : Hilke GüntherArndt (Hg.) : Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003. S. 11f. 2 Hans-Jürgen Pandel : Geschichtskultur. In : Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider/Bernd Schönemann (Hg.) : Wörterbuch Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2006. S. 74f. Zur Geschichtskultur siehe u.a auch : Schönemann : Geschichtsdidaktik, S. 16–20. 3 Joachim Rohlfes : Geschichte und ihre Didaktik. 3., erweiterte Auflage. Göttingen 2005. S. 17, 23 ; Ernst Weymar : Dimensionen der Geschichtswissenschaft. Geschichtsforschung – Theorie der Geschichtswissenschaft – Didaktik der Geschichte. In : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 33 (1982). S. 1–11, 65–78, 129–153. 4 Schönemann : Geschichtsdidaktik. S. 15. 5 Heiner Keupp/Thomas Ahbe/Wolfgang Gmür/Renate Höfer/Beate Mitzscherlich/Wolfgang Kraus/Florian Straus : Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek b. Hamburg 1999. S. 7. 6 Karl-Ernst Jeismann : Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik. In : Gerhard Schneider (Hg.) : Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen. Pfaffenweiler 1988. S. 1–24.
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17 Jörn Rüsen : Historisches Erzählen. In : Klaus Bergmann/Klaus Fröhlich/Anette Kuhn,/Jörn Rüsen/Gerhard Schneider (Hg.) : Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5., überarbeitete Auflage. Seelze-Velber 1997. S. 57–63 ; Hans-Jürgen Pandel : Erzählen, in : Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hg.) : Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. 2., überarbeitete Auflage. (Forum Historisches Lernen). Schwalbach/Ts. 2007. S. 408–424. 18 Michele Barricelli : Narrativität. In : Mayer u.a. (Hg.) : Wörterbuch Geschichtsdidaktik, S. 135. 19 Dirk Lange : Historisch-politische Didaktik. Zur Begründung historisch-politischen Lernens. (Studien zu Politik und Wissenschaft). Schwalbach/Ts. 2004. S. 33f. Ähnliches meint auch Waltraud Schreiber, wenn sie die Bedeutung sogenannter »Vergangenheitspartikelchen« hervorhebt : »In der Fokussierung auf Vergangenes stellt er/sie [der/die Lernende, Anm. d. V.] Vergangenheitspartikelchen fest, fragt, wie gesichert sie sind, zieht deshalb unterschiedliche Quellen und Darstellungen hinzu und bezieht sie aufeinander.« (Gertraud Schreiber : Grundlegung : Mit Geschichte umgehen lernen – Historische Kompetenzen aufbauen. In : Reinhard Krammer/Heinrich Ammerer [Hg.] : Mit Bildern arbeiten. Historische Kompetenzen erwerben. [Themenhefte Geschichte, 2]. Neuried 2006. S. 8). Zwar stößt nicht unbedingt die dahinterstehende Überlegung, allerdings doch das »begriffliche Monster ›Vergangenheitspartikel‹«, wie Hans-Jürgen Pandel diesen Neologismus bezeichnet, auf Kritik : »Die Geschichtsdidaktik sollte sich nicht ohne Not dem Gespött der Fachwelt preisgeben, wenn sie mit selbsterfundenen esoterischen Begriffen 200 Jahre geschichtstheoretischer Anstrengung auf den Kopf stellt. […] Die Kritik an der gegenwärtigen Praxis ist kein apodiktisches Votum gegen neue Begriffe, denn Neuerungen machen ja gerade Wissenschaftsfortschritt aus. Wer einen neuen Begriff einführt, trägt aber auch die Beweislast, dass damit etwas Sinnvolles bezeichnet wird.« (Hans-Jürgen Pandel : Geschichtsdidaktische Begriffe : Lieber Borgen als bilden ? In : Ulrich Mayer/ders./Bernd Schönemann (Hg.) : Wörterbuch Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2006. S. 10). Zwar muss nicht unbedingt der harsche Ton Pandels geteilt werden, seine Kritik scheint allerdings nicht ganz unberechtigt. Denn während Lange den Vorgang der »historischen Erzählung« bildhaft beschreibt, versucht Schreiber tatsächlich, einen neuen wissenschaftlichen Begriff einzuführen, der bereits bestehende lediglich ablöst, nämlich »Fakten« und »Interpretation«. 10 Jörg Kayser/Ulrich Hagemann : Teil A : Theoretische Grundlegung. In : dies. (Hg.) : Urteilsbildung im Geschichts- und Politikunterricht. (Fachdidaktische Hilfen, 3). Bonn/Berlin 2005. S. 6–24. 11 Richard Rorty : Kontingenz, Ironie, Solidarität. Frankfurt a. M. 1989. 12 Rohlfes : Geschichte und ihre Didaktik. S. 36. 13 Jan Assmann : Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In : ders./Tonio Hölscher (Hg.) : Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988. S. 10. 14 Hans-Jürgen Pandel : Geschichtsbewusstsein. In : Ulrich Mayer (Hg.) : Wörterbuch Geschichtsdidaktik. S. 70. 15 Thomas Hellmuth : Das »selbstreflexive Ich«. Politische Bildung und kognitive Struktur. In : ders. (Hg.) : Das »selbstreflexive Ich«. Beiträge zur Theorie und Praxis politischer Bildung. Innsbruck/Wien/Bozen 2009. S. 11–20. 16 Lange : Historisch-politische Didaktik. S. 70, 90. 17 Rolf Schörken : Geschichte in der Alltagswelt. Wie uns Geschichte begegnet und was wir mit ihr machen. Stuttgart 1981. S. 227. 18 Karl-Ernst Jeismann : Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik. In : Gerhard Schneider (Hg.) : Geschichtsbewusstsein und historisch-politisches Lernen. Pfaffenweiler 1988. S. 1–24. 19 Schönemann : Geschichsdidaktik. S. 15. 20 Pandel : Geschichtsbewusstsein. S. 70. 21 Schreiber : Grundlegung : Mit Geschichte umgehen lernen. S. 8. Siehe dazu auch : dies. : Reflektiertes und (selbst-)reflexives Geschichtsbewusstsein durch Geschichtsunterricht fördern – ein vielschichtiges Forschungsfeld der Geschichtsdidaktik. In : Zeitschrift für Geschichtsdidaktik. Jahresband 2002, S. 18–43.
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22 Hans-Jürgen Pandel : Dimensionen des Geschichtsbewußtseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen. In : Geschichtsdidaktik, 12 (1987), S. 132. 23 Michael Sauer : Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 7., aktualisierte Auflage. Seelze-Velber 2008. S. 17. 24 Klaus Bergmann : Historisches Lernen in der Grundschule. In : Siegfried George/Ingrid Prote (Hg.) : Handbuch zur politischen Bildung in der Grundschule. (Politik und Bildung, 7). Schwalbach/Ts. 1996. S. 333. 25 Bärbel Völkel : Handlungsorientierung im Geschichtsunterricht (Methoden historischen Lernens). 2. Auflage. Schwalbach/Ts. 2008. S. 32. 26 Peter Schulz-Hageleit : Grundzüge geschichtlichen und geschichtsdidaktischen Denkens. Frankfurt a. M./ Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2002. S. 81f (Hervorhebungen im Original). 27 Wolfgang Sander : Politische Bildung in der Demokratie – Herausforderungen im europäischen Kontext. In : Gertraud Diendorfer/Sigrid Steininger (Hg.) : Demokratie-Bildung in Europa. Herausforderungen für Österreich. Bestandsaufnahme, Praxis, Perspektiven. Schwalbach/Ts. 2006. S. 24. 28 Völkel : Handlungsorientierung, S. 23–38. 29 Alfred Schütz/Thomas Luckmann : Strukturen der Lebenswelt (UTB, 2412). Konstanz 2003. 30 Reinhard Krammer : Weder politisch noch gebildet ? »Geschichte und Politische Bildung« in der Oberstufe der AHS. In : Hellmuth (Hg.) : Das »selbstreflexive Ich«. S. 102. 31 Völkel, Handlungsorientierung, S. 31. 32 Zu den folgenden Ausführungen siehe : Ebd., S. 33–36. 33 Sauer : Geschichte unterrichten. S. 77. 34 Völkel : Handlungsorientierung. S. 36. 35 Georg Weißeno : Medien im Politikunterricht. In : Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.) : Politikunterricht im Informationszeitalter. Bonn 2001. S. 34. 36 Völkel : Handlungsorientierung. S. 14. 37 Grafik nach : Völkel : Handlungsorientierung. S. 27. 38 Frithjof Rodi : Über einige Grundbegriffe einer Philosophie der Geisteswissenschaften. In : ders. (Hg.) : Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften. Bd. 1. Göttingen 1985. S. 21. 39 Thomas Haussmann : Erklären und Verstehen : Zur Theorie und Pragmatik der Geschichtswissenschaft. Mit einer Fallstudie über die Geschichtsschreibung zum Deutschen Kaiserreich 1871–1918. (SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft, 918). Frankfurt a. M. 1991. 40 Zu den Methoden siehe u.a. : Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hg.) : Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. 2., überarbeitete Auflage. Schwalbach/Ts. 2007 ; Völkel : Handlungsorientierung ; Markus Bernhardt : Das Spiel im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2003 ; Hartmut Wunderer : Geschichtsunterricht in der Sekundarstufe II. (Methoden historischen Lernens). Schwalbach/ Ts. 2000 (Methoden historischen Lernens) ; Jörg Kayser/Ulrich Hagemann (Hg.) : Urteilsbildung im Geschichts- und Politikunterricht. (Themen und Materialien). Bonn 2005. 41 Herbert Uhl : Orientierungswissen. In. Dagmar Richter/Georg Weißeno (Hg.) : Lexikon der politischen Bildung. Bd. 1. Didaktik und Schule. Schwalbach/Ts. 1999. S. 168. 42 Gabi Reinmann-Rothmeier/Heinz Mandl : Unterrichten und Lernumgebungen gestalten. In : Andreas Krapp/Bernd Weidenmann (Hg.) : Pädagogische Psychologie. Ein Lehrbuch. 4. Auflage. Weinheim 2001. S. 615. Siehe dazu auch : Hilke Günther-Arndt : Methodik des Geschichtsunterrichts. In : Dies. (Hg.) : Geschichtsdidaktik. S. 153–155. 43 Es gibt durchaus geschichtsdidaktische Ansätze, welche die Trennung zwischen »Grundwissen« und »Orientierungswissen« zum Teil aufheben. Siehe z. B. das m. E. viel zu wenig beachtete lernpsychologische Modell bei : Hilke Günther-Arndt : Historisches Lernen und Wissenserwerb. In : dies. (Hg.) : Geschichtsdidaktik. S. 37–42.
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Thomas Hellmuth
44 Wolfgang Klafki : Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung. (Göttinger Studien zur Pädagogik, N.F., 6). Weinheim 1959. 45 Ulrich Mayer : Kategorien. In : ders. u.a. (Hg.) : Wörterbuch Geschichtsdidaktik. S. 102. 46 Die Didaktik der Politischen Bildung unterscheidet zwischen Kategorien und Konzepten. Demnach gehen Kategorien nicht auf das Fach selbst ein, sondern bleiben letztlich an der Oberfläche. Konzepte seien dagegen fachspezifisch. Sie repräsentieren die Leitideen und Ziele der Politikdidaktik, wobei Basiskonzepte (»key concepts«) durch detailliert ausformulierte »Fachkonzepte« präzisiert werden. (Dagmar Richter : Kompetenzdimension Fachwissen. Zur Bedeutung und Auswahl von Basiskonzepten. In : Georg Weißeno, [Hg.] : Politikkompetenz. Was Unterricht zu leisten hat. Bonn 2008. S. 157.) Eine Trennung von Kategorien und Konzepten wird in der Geschichtsdidaktik kaum oder eher unreflektiert praktiziert ; es scheint auch fraglich, ob eine solche Trennung tatsächlich praktikabel ist, zumal Kategorien gemäß der Definition in der politischen Bildung letztlich inhaltsleer sind und sich zurecht die Frage nach ihrer Bedeutung stellt. 47 Christoph Kühberger : Kompetenzorientiertes historisches und politisches Lernen. Methodische und didaktische Annäherung für Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung. (Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Geschichte – Sozialkunde – Politische Bildung, 2). Innsbruck/Wien/Bozen 2009. S. 89. 48 Franz E. Weinert : Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In : ders. (Hg.) : Leistungsmessung in Schulen. Weinheim 2001. S. 27f. 49 Walter Gagel : Einführung in die Didaktik des politischen Unterrichts. (UTB). 2. Auflage. Opladen 2000. S. 224. 50 Helmut Johannes Vollmer : Kompetenzen und Bildungsstandards. Stand der Entwicklung in verschiedenen Fächern. In : Georg Weißeno (Hg.) : Politikkompetenz, S. 33–49. Zur politische Bildung siehe u.a. : Joachim Detjen/Hans-Werner Kuhn/Peter Massing/Dagmar Richter/Wolfgang Sander/Georg Weißeno : Anforderungen an Nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen. Ein Entwurf. 2. Auflage. Schwalbach/Ts 2004 ; Reinhrad Krammer : Kompetenzen durch Politische Bildung. Ein Kompetenz-Strukturmodell. In : Informationen zur Politischen Bildung, 29 (2008). S. 5–14. 51 Helmut Johannes Vollmer : Kompetenzen und Bildungsstandards. Stand der Entwicklung in verschiedenen Fächern. In : Weißeno (Hg.) : Politikkompetenz. S. 33–49. 52 Michael Sauer : Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 7. aktualisierte und erweiterte Auflage. Seelze-Velber 2008. S. 22. 53 Rohlfes : Geschichte und ihre Didaktik. S. 395. 54 Hans-Jürgen Pandel : Interpretation. In : Mayer u.a. (Hg.) : Wörterbuch Geschichtsdidaktik. S. 96. 55 Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hg.) : Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. (Kompetenzen : Grundlagen – Entwicklung – Förderung, 2). Neuried 2007 ; Krammer : Weder politisch noch gebildet. S. 101. 56 Pandel : Geschichtsdidaktische Begriffe. S. 9.14. 57 Waltraud Schreiber/Andreas Körber/Bodo von Borries/Reinhard Krammer/Sybilla Leutner-Ramme/Sylvia Mebus/Alexander Schöner/Béatrice Ziegler : Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell (Basisbeitrag). In : Körber/Schreiber/Schöner (Hg.) : Kompetenzen historischen Denkens. S. 33. 58 Ebd., S. 33. 59 Bodo von Borries/Christine Pflüger/Heike Hessenauer (2007) : Verfügung über fachliche Kategorien als Teil der »Historischen Sachkompetenz«. Das Beispiel »Herrschaft«. In : Körber/Schreiber/Schöner (Hg.) : Kompetenzen historischen Denkens. S. 623–626. 60 Schreiber : Grundlegung : Mit Geschichte umgehen lernen. S. 15.
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61 Kühberger : Kompetenzorientiertes historisches und politisches Lernen. S. 113. 62 Ein weitergehender Versuch, Überschneidungen von historischen und politischen Kompetenzen zu beschreiben, findet sich bei : Thomas Hellmuth : Zeitgeschichte und politische Bildung. In : Cornelia Klepp/ Daniela Rippitsch (Hg.) : 25 Jahre Universitätslehrgang Politische Bildung in Österreich. Wien 2008. S. 322–332. 63 Siehe dazu erste Ansätze bei : Thomas Hellmuth : Politische Bildung als historisch-politische Sinnstiftung : Überlegungen zu einem historisch-politischen Kompetenzmodell. In : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 4 (2009), S. 483–496. 64 Waltraud Schreiber : Kompetenzbereich historische Methodenkomptenz. In : Körber/Schreiber/Schöner (Hg.), Kompetenzen historischen Denkens. S. 193. 65 Bei den Methoden wird zwischen Makro- und Mikromethoden unterschieden. Unter Makromethoden werden umfassende Entwürfe zusammenhängender Handlungen im Unterricht verstanden, die zumeist einen größeren Abschnitt einer Unterrichtseinheit oder auch eine oder mehrere Unterrichtseinheiten prägen. Rollenspiele, Planspiele und Pro-Contra-Debatten oder Erkundungen und Experimente zählen etwa zu den Makromethoden. Die Mikromethoden sind Bestandteile der Makromethode und gestalten die Mikrostruktur des Unterrichts, indem sie der Gestaltung der einzelnen Unterrichtsphasen dienen. Zu den Mikromethoden zählen zum Beispiel der Lehrervortrag, das Unterrichtsgespräch oder die Textarbeit. Arbeitstechniken besitzen dagegen einen stärker instrumentellen Charakter und befähigen den Lernenden zu bestimmten Tätigkeiten im Rahmen der jeweiligen Methode, die angewandt wird. So bedarf es etwa bei der Pro-Contra-Debatte der Argumentationstechniken, die Textarbeit setzt wiederum die Fähigkeit des Exzerpierens und – zumindest im propädeutischen Sinn – der Diskursanalyse voraus. 66 Detjen u.a. : Anforderungen an Nationale Bildungsstandards. S. 13–18 ; Weißeno (Hg.) : Politikkompetenz. 67 Der Begriff der historischen Urteilskompetenz orientiert sich an der politischen Urteilskompetenz, die Teil eines von der »Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung« (GPJE) entworfenen Kompetenzmodells für politische Bildung ist und die Fähigkeit umfasst, politische »Ereignisse, Probleme und Kontroversen sowie Fragen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung unter Sachaspekten und Wertaspekten analysiert und reflektiert beurteilen [zu] können«. Detjen u.a. : Anforderungen an Nationale Bildungsstandards. S. 13. 68 Jürgen Habermas : Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt a. M. 1995. 69 Martin Heinrich : Politische Bildung zum »selbstreflexiven Ich«. Versuch über ein didaktisches Paradoxon. In : Hellmuth (Hg.) : Das »selbstreflexive Ich«. S. 29f. 70 Siegfried Jäger : Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Duisburg 1999. S. 173. 71 Michele Barricelli : Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2005. 72 Schreiber : Grundlegung, S. 15. 73 Schreiber u.a. : Historisches Denken, S. 29–31. 74 Krammer : Weder politisch noch gebildet, S. 101. 75 Die Unterscheidung von »interpersonalem« und »transpersonalem Raum« wurde aus der Didaktik der Politischen Bildung übernommen, die sich wiederum auf die Entwicklungspsychologie bezieht : Tilman Grammes/Christian Welniak : Diagnostische Kompetenz. Der Beitrag der kognitiven Entwicklungspsychologie – ein Überblick. (Schriftenreihe, 645). In : Weißeno (Hg.) : Politikkompetenz, S. 334f. 76 Völkel : Handlungsorientierung, S. 24–26. 77 Schreiber u.a. : Historisches Denken, S. 31, Anm. 38. 78 Krammer : Weder politisch noch gebildet, S. 105.
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79 Rohlfes : Geschichte und ihre Didaktik. S. 389. 80 Genauer zur Handlungsorientierung und zu handlungsorientierten Methoden siehe u.a. : Völkel : Handlungsorientierung ; Sibylle Reinhardt : Handlungsorientierung. In : Wolfgang Sander (Hg.) : Handbuch politische Bildung. (Reihe Politik und Bildung, 21). 3., völlig überarbeitete Auflage. Schwalbach/Ts. 2005. S. 146–155. 81 Völkel : Handlungsorientierung, S. 13. 82 Martin Wagenschein : Verstehen lernen. 5., erweiterte Auflage. Weinheim/Basel 1975. S. 10 ; Hilbert Meyer : Unterrichtsmethoden. Bd. II. Praxisband. Berlin 1987. 83 Pandel : Geschichtsdidaktische Begriffe. S. 9. 84 Ebd., S. 9–14.
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Bücher Konservatives und revolutionäres Denken. Deutsche Sozialkatholiken und Sozialisten im 19. Jahrhundert. – Wien, Salzburg 1975 Karl Marx und die Berichte der österreichischen Geheimpolizei. – (= Schriften aus dem Karl-Marx-Haus, H. 16) Trier 1976 Die Ideologie des politischen Katholizismus in Österreich 1918–1938. – Wien, Salzburg 1977 Der kranke Mann an der Donau. Marx und Engels über Österreich. – (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung.) Wien, München, Zürich 1978 NS-Herrschaft in der Provinz. Salzburg im Dritten Reich. – Salzburg 1983 Im Schatten berühmter Zeiten. Salzburg in den Jahren Georg Trakls (1887–1914). – Salzburg 1986 (gem. mit Ulrike Fleischer) Vermittlungen. Texte und Kontexte österreichischer Literatur und Geschichte im 20. Jahrhundert. – Salzburg 1990 (gem. mit Walter Weiss) Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert 1890–1990. – Wien 1994 Der Obersalzberg, das Kehlsteinhaus und Adolf Hitler, Berchtesgaden 1996 Gau der guten Nerven. Die nationalsozialistische Herrschaft in Salzburg, Salzburg 1997 Geschichte der Österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert, Wien 2002 (gem. mit Ernst Bruckmüller) Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien 2005
Herausgeber (gem. mit Emmerich Tálos u.a.) NS-Herrschaft in Österreich 1938–1945, Wien 1988 (gem. mit Emmerich Tálos u.a.) Handbuch des Politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1933, Wien 1995 (gem. mit Theodor Faulhaber), Mentalitäten und wirtschaftliches Handeln in Österreich, Wien 1997 (gem. mit Robert Kriechbaumer), Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945. Salzburg. Zwischen Globalisierung und Goldhaube, Wien 1997
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(gem. mit Emmerich Tálos u.a.) NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000 (gem. mit Herbert Dachs u. a.) Die Ära Haslauer. Salzburg in den siebziger und achtziger Jahren, Wien 2001 (gem. mit Ernst Bruckmüller und Roman Sandgruber) Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft, 2 Bde., Wien 2002/03 (gem. mit Ingrid Bauer u. a.) Kunst-Kommunikation-Macht. Sechster österreichischer Zeitgeschichtetag 2003, Innsbruck 2004
Aufsätze Zur Kritik des katholischen und sozialistischen Staatsdenkens im 19. Jahrhundert. – In : Thomas Michels (Hg.), Heuresis. Festschrift für Andreas Rohracher. – Salzburg 1969, S. 241–275 The Image of the Jew in Austrian Literature since 1945. – In : Pattern of Prejudice 1973, S. 23–33 Karl Freiherr von Vogelsang. – In : Walter Pollak (Hg.) : 1000 Jahre Österreich. 2.Bd. – Wien, München 1973, S. 250–255 Neuere Faschismustheorien. – In : Zeitgeschichte 1, 1973, S. 19–23 Kritische Geschichtswissenschaft. – In : Zeitgeschichte 1, 1974, S. 125–132 Der katholische Literaturstreit. – In : Erika Weinzierl (Hg.) : Der Modernismus. Beiträge zu seiner Erforschung. – Graz, Wien 1974, S. 125–160 Marx/Engels und Österreich (Vormärz und Revolution 1848/49). – In : Berichte über den 12. Österreichischen Historikertag in Bregenz. – Wien 1974, S. 72–81 Otto Bauers Theorie des »Austrofaschismus«. – In : Zeitgeschichte 1, 1974, S. 251–263 Der junge Engels und die österreichische Literatur im Vormärz. – In : Österreich in Geschichte und Literatur 19, 1975, S. 160–169 Wirtschaft und Verwaltung in der Habsburger-Monarchie 1848–1918. – In : Zeitgeschichte 3, 1975, S. 23–29 Franz Rehrl – sein Leben. – In : Wolfgang Huber (Hg.) : Franz Rehrl. Landeshauptmann von Salzburg 1922–1938. – Salzburg 1975, S. 5–42 Friedrich Engels und der Antisemitismus in Wien. – In : Archiv. Mitteilungsblatt des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung 15, 1975, S. 116–121 Vatikan – deutscher Episkopat – Drittes Reich. – In : Zeitgeschichte 4, 1976, S. 99– 108 »Faschismus« – Modelleinheit für den Oberstufenunterricht. – In : Zeitgeschichte 4, 1977, S. 172–186 (gem. m. J. Thonhauser) Verbände, Opposition, Emigration der deutschen Katholiken in der Zeit des Nationalsozialismus. – In : Zeitgeschichte 4, 1977, S. 287–304
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Zur Frühgeschichte des Nationalsozialismus in Salzburg. – In : Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 117, 1977, S. 371–410 Politische Prozesse vor dem Sondergericht in Salzburg 1939–1945. – In : K.R. Stadler, E. Weinzierl (Hg.) : Justiz und Zeitgeschichte. – Wien 1977, S. 210–226 Anmerkungen zu Klemens von Klemperers Seipel-Biographie. – In : Zeitgeschichte 4, 1977, S. 359–362 Der »vormoderne« Antikapitalismus der Politischen Romantik. Das Beispiel Adam Müller. – In : Richard Brinkmann (Hg.) : Romantik in Deutschland. – Stuttgart 1978, S. 132–145 Bis daß der Tod Euch scheidet. Katholische Kirche und Ehegesetzgebung in Österreich. – In : E. Weinzierl, K.R. Stadler (Hg.) : Justiz und Zeitgeschichte. – Wien 1978 (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften 3.) S. 17–36 Die Marx-Rezeption in der österreichischen Arbeiterbewegung. – In : Südost-Forschungen 37, 1978, S. 92–121 Die sozialdemokratische Fraktion im Salzburger Landtag 1918–1934. – In : Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. – Wien, München 1978, S. 247–268 Vierzig Jahre nach dem Anschluß : neue wissenschaftliche Literatur. – In : Zeitgeschichte 6, 1978, S. 117–127 Die katholische Kirche im Dritten Reich. – In : Erika Weinzierl (Hg.) : Kirche und Gesellschaft. Theologische und gesellschaftswissenschaftliche Aspekte. – Wien, Salzburg 1979, S. 21–41 1938 in Salzburg. – In : Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 118, 1978, S. 257–309 Regionale Zeitgeschichte. Einige theoretische und methodologische Überlegungen. – In : Zeitgeschichte 7, 1979, S. 39–60 Landespolitik. – In : Landeshauptmann Klaus und der Wiederaufbau Salzburgs, hrsg. v. W. Huber. – Salzburg 1980, S. 23–54 Otto Bauer. – In : Deutsche Historiker, Bd. 6, hrsg. v. H. U. Wehler. – Göttingen 1980, S. 69–88 Zur Freizeit der Arbeiter in der Habsburger-Monarchie und in der Ersten Republik, Zeitgeschichte 8, 1980, S. 75–81 Überlegungen zur Heimatkunde. – In : Salzburg Diskussionen. 1. Landessymposium. – Salzburg 1981, S. 57–62 Die Errichtung des Reichsgaues Salzburg. – In : Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 120/121, 1980/81, S. 275–287 »Gau der guten Nerven« : die nationalsozialistische Herrschaft in Salzburg 1939/40. – In : Festschrift Rudolf Neck. – Wien 1981, S. 194–218
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Provinz und Metropole. Gesellschaftsgeschichtliche Perspektiven der Beziehungen des Landes Salzburg zu Wien (1918–1934). – In : Föderalismus als Prinzip der Freiheit, hrsg. v. E. Zwink. – Salzburg 1981, S. 67–105 Arbeiterkindheit vor dem Ersten Weltkrieg in Österreich. – In : Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 7, 1982, S. 109–147 Wer waren die Faschisten. – In : Zeitgeschichte 9, 1982, H.5, S. 179–186 Kompromiß der Parteien : Die Entstehung der Salzburger Landesverfassung. – In : Demokratisierung und Verfassung in den Ländern 1918–1920. – St. Pölten 1983, S. 58–75 St. Peter in der Zwischenkriegszeit. Politische Kultur in einer fragmentierten Gesellschaft. – In : Festschrift Erzabtei St. Peter in Salzburg 582–1982. – Salzburg 1982, S. 361–382 Salzburg. – In : Österreich 1918–1938, Geschichte der Ersten Republik, hrsg. v. E. Weinzierl, K. Skalnik. – Graz 1983, 2. Bd., S. 903–937 Marxistische Geschichtstheorie : Das Basis-Überbau-Modell. – In : Marxismus und Christentum. – Linz 1983, S. 127–138 Nationalsozialismus im Dorf : Salzburger Beobachtungen. – In : Arbeiterbewegung – Faschismus – Nationalbewußtsein. – Wien 1983, S. 69–81 Der Politische Katholizismus als ideologischer Träger des »Austrofaschismus«. – In : Austrofaschismus. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938, hrsg. v. E. Tálos. – Wien 1984, S. 53–73 Die ideologische Entwicklung der österreichischen Arbeiterbewegung. – In : Der Konstituierungsprozeß der sozialistischen Arbeiterbewegung in Deutschland und Österreich. – Leipzig 1984, S. 85–99 Neuere Literatur zur regionalen Zeitgeschichte in Österreich. – In : Zeitgeschichte 11, 1984, H.8, S. 277–284 Die Christlich-soziale Partei für das Land Salzburg 1918–1934. – In : Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landesgeschichte 124 (1984) Historische Überhänge in der österreichischen politischen Kultur. – In : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 13 (1984), S. 15–19 Bäuerliche Kindheit in Österreich vor dem Ersten Weltkrieg. – In : Unterdrückung und Emanzipation. Festschrift für Erika Weinzierl zum 60. Geburtstag, hg. v. Rudolf. G. Ardelt u.a. – Wien/Salzburg 1985 Zeitgeschichtliche Dimensionen der politischen Kultur in Salzburg. – In : Das politische, soziale und wirtschaftliche System im Bundesland Salzburg, hg. v. H. Dachs. – Salzburg 1985 Otto Bauer als Historiker. – In : Otto Bauer, hg. v. Erich Fröschl und Helge Zoitl. – Wien 1985 Die Zeit der Ersten Republik. – In : Unser Salzburg. – Salzburg 1985, S. 192–194 Von den schwierigen Jahren der Zweiten Republik – Salzburg im Wiederaufbau.
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bewegung vor 1914 und während des Ersten Weltkrieges. – Leipzig 1988, S. 100– 111 Kultur – einmal ohne Festspiele. – In : Die Ära Lechner. Das Land Salzburg in den sechziger und siebziger Jahren, hg. von Eberhard Zwink. – Salzburg 1988, S. 461– 488 Überlegungen zu einer Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert. – In : Zeitgeschichte 16 (1988), S. 1–11 Salzburg und Georg Trakl. – In : Trakl-Forum 1987, hg. von Hans Weichselbaum. – Salzburg 1988, S 37–46 Die Erste Republik. Die NS-Herrschaft. Der Politische Wiederaufbau. – In : Geschichte Salzburgs, hg. von Heinz Dopsch u.a., Bd. II/2. – Salzburg 1988, S. 1057– 1208 Die Salzburger Presse in der Ersten Republik 1918–1938. – In : Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 128 (1988) Austrian Catholicism : Between Accommodation and Resistance. – In : Conquering the Past. Austrian Nazism Yesterday and Today, ed. F. Parkinson. – Detroit 1989, S. 165–176 Mauterndorf und Hermann Göring. Eine zeitgeschichtliche Korrektur. – In : Salzburger Jahrbuch für Politik 1989, S. 95–98 Kirche im Widerstand ? Die Auseinandersetzung der katholischen Kirche in Österreich mit dem Nationalsozialismus nach 1945, in : Kirchliche Zeitgeschichte Z (1989) S.158–164 Demokratieverständnis, parlamentarische Haltung und nationale Frage bei den österreichischen Christlichsozialen. – In : Das Parteienwesen Österreichs und Ungarn in der Zwischenkriegszeit, hg. von Anna M. Drabek u.a. – Wien 1990, S. 73–86 Bäuerliches Milieu und Arbeitermühen in den Alpengauen : Ein historischer Vergleich. – In : Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich, hg. von Rudolf G. Ardelt. – Wien 1990, S. 583–598 Das Fest in einer fragmentierten Politischen Kultur : Der österreichische Staatsfeiertag während der Ersten Republik. – In : Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, hg. von Detlef Lehnert u.a. – Opladen 1990, S. 43–60 Peasants and Workers in their Environment : Nonconformity and Opposition to National Socialism in the Austrian Alps. – In : Germans against Nazism. Essays in Honour of Peter Hoffmann, ed. Francis R. Nicosia. – New York 1990, 175–190 Salzburg zwischen 1933 und 1945. – In : Widerstand und Verfolgung in Salzburg 1934–1945. – Wien 1991, 1. Bd., S. 21–29 Die katholische Kirche. – In : Widerstand und Verfolgung in Salzburg 1934–1945, hg. von Döw. – Wien 1991, 2. Bd., S. 134–140 (gem. mit Hans Spatzenegger)
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Ambivalenzen der Modernisierung. Die Formierung der politischen Lager in den Alpenländern. – In : Innere Staatsbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/71 bis 1914, hg. von Helmut Rumpler. – Wien 1991, S. 176–185 Zentrum-Peripherie. Modellüberlegungen am Beispiel des Kronlandes Salzburg. – In : Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 131 (1991), S. 187–199 Im Zeichen des allgemeinen Wahlrechts (1918–1934). Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. II/4. – Salzburg 1991, S. 2377–2390 Kontinuität und Brüche : Die innere Geschichte. – In : Handbuch des politischen Systems Österreichs, hg. von Herbert Dachs u.a. – Wien 1991, S. 11–19 Fragmentarische Bemerkungen zur Konzeptualisierung der NS-Herrschaft in Österreich. – In : Österreich, Deutschland und die Mächte. Internationale und österreichische Aspekte des »Anschlusses« vom März 1938, hg. von Gerald Stourzh u.a. – Wien 1990, S. 493–496 The Political Influence and Appropriation of Wagner. – In : Wagner Handbook, ed. by Ulrich Müller u.a. – Harvard University Press 1992, S. 186–201 Überlegungen zu einer Geschichte. Österreich im 20. Jahrhundert : Eine Repblik. – In : Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung, hg. von Herwig Wolfram u.a. – Wien 1991, S. 79–83 Der Rückbruch des Jahres 1945 und das große Design der zweiten österreichischen Republik. – In : Vom Totalitarismus zum Pluralismus. Beiträge zur politischen Situation in den ehemaligen Ostblockstaaten, hg. von der Paul-Lazarsfeld-Gesellschaft. – Wien 1993, S. 9–25 »An erlaubten G’spaß – ka Silb’n Politik ?« Die historischen Grundlagen der politischen Kultur in Österreich. – In : Ostcharme mit Westkomfort. Beiträge zur politischen Kultur in Österreich, hg. von Peter Bettelheim u.a. – Wien 1993, S. 15–41 Wirtschaftswachstum ohne Industrialisierung. Fremdenverkehr und sozialer Wandel in Salzburg 1918–1938, in : Weltbühne und Naturkulisse. Zwei Jahrhunderte Salzburg-Tourismus hg. von Hanns Haas u.a., Salzburg 1994, S.104–112 Zeitgeschichte in der Krise ! in : Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. hg. von Gerhard Botz u.a., Frankfurt/M 1994, S.150–156 Neuere Klagen über die österreichische Zeitgeschichte-Forschung in der alten Weise der österreichischen Jammerkultur, in : Österreichischer Zeitgeschichtetag 1993, hg. von Ingrid Böhler, Innsbruck 1995, S.34–36 Versuch einer Periodisierung der Zweiten Republik, in : Die Transformation der österreichischen Gesellschaft und die Alleinregierung von Bundeskanzler Dr. Josef Klaus, Salzburg 1995, S.17–26 Einleitung. Das politische System Erste Republik/Zwei Erklärungsmodelle, in :
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Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1938, hg. von Emmerich Tálos, Herbert Dachs, Ernst Hanisch, Anton Staudinger Wien 1995, S. 1–7 Politische Symbole und Gedächnisorte, ebd., 421–430 Das System und die Lebenswelt der Katholizismus, ebd., 444–453 Josef Klaus, in : Die Politik der Zweiten Republik. Karriere und Wirken bedeutender Repräsentaten, hg. von Herbert Dachs u.a., Wien 1995, S.299–306 Tradition und Moderne. Grundzüge der Geschichte Salzburgs in der Zweiten Republik 1945–1955, in : Salzburg Jahrbuch für Politik, 1995, S.9–27 Literatur und Geschichte, in : Geschichte und Gegenwart 14 (1995), S.178–182 Peripherie und Zentrum : die Entprovinzialisierung der NS-Herrschaft in Österreich, in : Nationalsozialismus in der Region, hg. von Horst Möller u.a., München 1996, S.329–334 Anklagesache : Österreichische Gesellschaftsgeschichte. Die Verteidigung des Ernst Hanisch, in : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 6 (1995), S. 457–466 »Selbsthaß« als Teil der österreichischen Identität, in : Zeitgeschichte 23 (1996), S.136–145 Die Präsenz des Dritten Reiches in der Zweiten Republik, in : Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, hg. von Wolfgang Kos, Wien 1996, S.33–50 Die linguistische Wende. Geschichtswissenschaft und Literatur, in : Kulturgeschichte heute, hg. von Wolfgang Hardtwig, Göttingen 1996, S.212–230 Salzburger Heimatpflege und Salzburger Heimatwerk im Konflikt der Kulturen 1942–1946–1948, in : Salzburger Volkskultur 20 (1996), S. 67–72 Das »wilde Land« – Bürgerkrieg und Nationalsozialismus in Seekirchen, in : 1300 Jahre Seekirchen. Geschichte und Kultur einer Salzburger Marktgemeinde, hg. von Elisabeth und Heinz Dopsch, Salzburg 1996, S. 323–346 Periodisierungsversuche des 20. Jahrhunderts, in : Handbuch des politischen Systems Österreichs. Die Zweite Republik, hg. von Herbert Dachs, 3. erweiterte Auflage, Wien 1996, S.11–24 Konsumgesellschaft und Säkularisierung. Die Signaturen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in : Kirche in der Gesellschaft. Wege in das 3. Jahrtausend, hg. vom Sekretariat der österreichischen Bischofskonferenz, St. Pölten 1997, S.125–143 Bin ich ein Antisemit ? In : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 8 (1997), S. 144–146 Aus den Tiefen der Zeit. Hypothesen über die historische Entwicklung der wirtschaftlichen Einstellung in Österreich. In : Mentalitäten und wirtschaftliches Handeln in Österreich, hg. von Ernst Hanisch, Wien 1997, S.9–36 Salzburger Volkskulturen : Pflege – Traum – Kommerz. In : Geschichte der öster-
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reichischen Bundesländer seit 1945. Salzburg, hg. von Ernst Hanisch, Wien 1997, S.417–442 Zum Stand der Theoriedebatte in der Geschichtswissenschaft. In : Wissenschaft, Bildung, Politik, hg. von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, Wien 1997, S.103–117 ; und Beiträge zur historischen Sozialkunde, Sondernummer 1997 Constellations historiques de l’an 1945 en Austriche. In : Identité et Résistance. Mélanges pour Felix Kreissler, réunis par Georg Jankovics Rouen 1998, S.44–63 Die regressive Modernisierung des Nationalsozialismus in Österreich und die Funktion der Kunst. In : Macht Literatur Krieg. Österreichische Literatur im Nationalsozialismus, hg. von Uwe Baur u. a., Wien 1998, S.21–30 Die Welt, die wir verloren haben. Welche ? Newsletter 60 (1998) IWM Institut für die Wissenschaften vom Menschen The Denazification in Salzburg – a Region with Strong German Nationalist Traditions. In : Modern Europe after Fascism 1943–1980, ed. Stein U. Larsen, Columbia University Press, New York 1998, S.378–396 John Boyer and Austrian Twentieth-Century History. In : Contemporary Austrian Studies 6 (1998), S.202–212 Überlegungen zum Funktionswandel des Antikommunismus. Eine österreichische Perspektive. In : Zeitgeschichte im Wandel, hg. von Gertraud Diendorfer, Innsbruck 1998, S.37–45 Wien : Heldenplatz. In : Transit. Europäische Revue 15 (1998), S.120–129 Der Verlust der Bärte. Zur politischen Kultur der Wendehälse. In : »Dürfen’s denn das ?« Die fortdauernde Frage zum Jahr 1848, hg. von Sigurd Paul Scheichl, Wien 1998, S.249–254 Historische Konstellationen des Jahres 1945 in Österreich. In : An der Bruchlinie. Österreich und die Tschechoslowakei nach 1945, hg. von Gernot Heiss, Innsbruck 1998, S.113–124 Vom Antiklerikalismus zur Verteidigung des christlichen Abendlandes : die FPÖ. In : Parteien und Katholische Kirche im Gespräch, hg. von Michael Wilhelm, Wien 1999, S.13–18 Bürgergesellschaft und die Tradition des Antiklerikalismus : Liberales Forum. In : ebd., S.51–55 Von der Solidargemeinschaft zur Konsumgesellschaft : die SPÖ. In : ebd., S.89–93 Zwischen Klerikalismus und Wirtschaftsliberalismus : die ÖVP. In : ebd., S.129–133 Von der Basisbewegung zur Partei : die Grünen. In : ebd., S.179–182 Die Rückkehr des Kriegers. In : Transit. Europäische Revue 16 (1999), S.108–124 Die Männlichkeit des Kriegers. Das österreichische Militärstrafrecht im 1. Weltkrieg. In : Geschichte und Recht. Festschrift für Gerald Stourzh zum 70. Geburtstag, Wien 1999, S.313–338
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Der forschende Blick. Österreich im 20. Jahrhundert : Interpretationen und Kontroversen. In : Carinthia I 189 (1999), S.567–584 Brauchtum und Politik. In : Historicum (Herbst 1999) Die Geschichte denken : Marc Bloch. In : Im sechsten Jahr des Drachen. LektüreEmpfehlungen für das neue Jahrhundert, hg. von Ulrich Müller, Göppingen 2000, S.13–22 Männlichkeiten. Eine Erzählung und eine Provokation. In : Zeitgeschichte.at, 4. österreichischer Zeitgeschichtetag 1999, hg. Manfred Lechner, CD. Innsbruck 1999 Der Ort des Nationalsozialismus in der österreichischen Geschichte. In : NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, hg. von Emmerich Tálos u.a., Wien 2000, S.11–25 Homo consumens. Dechristianisierung und Strukturelemente der österreichischen Gesellschaft in der Zweiten Republik. In : Brennpunkt Mitteleuropa. Festschrift für Helmut Rumpler zum 65. Geburtstag, hg. von Ulfried Burz, Klagenfurt 2000, S.565–778 Der Einbruch der Literatur in die Geschichtswissenschaft. Der Streit um die postmoderne Subjektivität. In : Literatur als Geschichte des Ich, hg. von Eduard Beutner, Würzburg 2000, S.314–323 Diskursbrüche. Von den 1950er zu den 1960er Jahren. In : Noch einmal Dichtung und Politik. Vom Text zum politisch-sozialen Kontext, und zurück, hg. von Oswald Panagl, Wien 2000, S. 355–357 Die Vision der liberalen Bürgergesellschaft und die Revolution 1848/49 in Österreich, in : Kärntner Landesgeschichte und Archivwissenschaft. Festschrift für Alfred Ogris zum 60. Geburtstag, hg. von Wilhelm Wadl, Klagenfurt 2001, S. 403– 412 Wien, Heldenplatz, in : Deutsche Erinnerungsorte, hg. von Etienne François, 1. Bd., München 2001, S. 105–122 Kleine Meditation über Globales und Regionales : Die Landesgeschichte zwischen Mikro- und Makrogeschichte, in : Festschrift. 150 Jahre Historischer Verein. Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark 91/92 (2000/2001), S. 41–50 Kultur = Kunst und …, in : Die Ära Haslauer. Salzburg in den siebziger und achtziger Jahren, hg. von Herbert Dachs u.a., Wien 2001, S. 459–490 Reaustrifizierung in der Zweiten Republik und das Problem eines österreichischen Nationalismus, in : Gestörte Identitäten ? Eine Zwischenbilanz der Zweiten Republik, hg. von Lutz Musner, Innsbruck 2002, S. 27–34 Die Sprache der Plakate. Männlichkeit und die Remilitärisierung der österreichischen Gesellschaft in der Ersten Republik, in : Wahlkämpfe. Sprache und Politik, hg. von Oswald Panagl, Wien 2002, S. 75–100 Österreichische Identität und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, in :
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Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten. Festschrift für Urs Altermatt, hg. von Catherine Bosshart-Pfluger, Frauenfeld 2002, S. 283–298 Der politische Katholizismus. Staat und Kirche in Österreich von 1919 bis zur Gegenwart, in : State and Church. Selected Historical and Legal Issues, hg. Von Akademia Scientiarium et Artium Slovenica, Ljubljana 2002, S. 361–371 (ach auf Slowenisch) Ernst Hanisch, Zum Stand der Theoriedebatte in der Geschichtswissenschaft, in : Historische Sozialkunde, Sommernummer 2002, S. 1–11 Archiv und Zeitgeschichte – ein notwendiges und spannungsreiches Verhältnis, in : Scrinium 57 (2003), S. 24–42 Konsumgesellschaft und Säkularisierung. Die Signaturen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in : Luxus und Konsum. Eine historische Annäherung, hg. von Reinhold Reith, Münster 2003, S. 237–253 Der politische Katholizismus. Staat und Kirche in Österreich von 1919 bis zur Gegenwart, in : Zbornik Janka Pleterskega, ed., Oto Luthar, Ljublana 2003, S. 527–538 Der Untergang des Kriegers. Männlichkeit und politische Kultur nach 1945 in Österreich, in : Männerkrieg und Frauenfrieden. Geschlechterdimensionen in kriegerischen Konflikten, hg. von Neissl u.a., Wien 2003, S. 107–119 Der Flüsterwitz im Nationalsozialismus in : Stachel wider den Zeitgeist. Politisches Kaberett, Flüsterwitze und subversive Textsorten, Wien 2004, 121–129 Die Dominanz des Staates. Österreichische Zeitgeschichte im Drehkreuz von Politik und Wissenschaft, hg. Von Alexander Nützenadel, Göttingen 2004, S. 54–77 Vom Umgang mit einer belastenden Geschichte : Österreich als Beispiel, in : Faktizitäten der Macht, hg. Von Karl Acham 2004, S. 31–36 Der Liebhaber. Liebe und Sexualität im Fin de Siècle in : Analecta Homini Universali Dicta. Festschrift für Oswald Panagl zum 65. Geburtstag, hg. Von Thomas Krisch, 2. Bd., Stuttgart 2004, S. 685–701 Der Priester als Mann – eine geschlechterspezifische Perspektive im 20. Jahrhundert, in Impulse für eine Religiöse Alltagsgeschichte des Donau-Alpen-Adria-Raumes, hg. von Rupert Klieber, Wien 2005, S. 211–221 Das Dilemma der Politik. Die Agrapolitik von Engelbert Dollfuß, in : Reguliertes Land. Agrapolitik in Deutschland, Österreich und Schweiz 1930–1960, hg. von Ernst Langthaler, Innsbruck 2005, S. 107–113 Der Politische Katholizismus als ideologischer Träger des »Austrofaschismus«, in : Austrofaschismus. Politik-Ökonomie-Kultur 1933–1938, hg. von Emmerich Tálos, 5. neubearbeitete Auflage, Wien 2005, S. 68–87 Abschied von der Staatsvertragsgeneration, in : Die Gunst des Augenblicks. Neue Forschungen zum Staatsvertrag und Neutralität, hg. von Manfried Rauchensteiner, Wien 2005, S. 537–551
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1934. Ein Merkjahr der Geschichte Österreichs, in : Widerstand als Bürgerpflicht, hg. von Anita Ziegerhofer-Prettenthaler, Graz 2005, S. 17–24 Zur Geschichte des Liebhaber im 20. Jahrhundert, in : Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen, hg. Ingrid Bauer, Wien 2005, S. 417–427 »Frei und deutsch sei die Stadt Mozarts«. Nationalsozialistische Ästhetik in der Provinz, in Salzburger Musikgeschichte vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert, hg. von Jürgen Stenzl, Salzburg 2005, S. 476–487 Zur politischen Kultur der 1960er bis 1980er Jahre in Salzburg. Das Beispiel der Kulturpolitik, in : Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 145 (2005), S. 291–298 Die Wiener Ringstrasse. Zwei Pole, zwei Muster der österreichischen Kultur, in : Memoria Austriae, 2. Bd., Bauten, Orte, Regionen, hg. von Emil Brix, Wien 2005, S. 75–104 Von der Opfererzählung zum schnellen Moralisieren. Interpretationen des Nationalsozialismus in Österreich, in Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), S. 255–265 Die Verantwortung des Zeithistorikers, in : Research und Responsibility. Forschung und Verantwortung. Jahresbericht/Annual Report 42. Jahrestagung in Salzburg 2005, hg. Societas Ethica, Salzburg 2006, S. 18–26 Der Reichsgau Salzburg im Hintergrund der »Führerresidenz« Obersalzberg, in : Vom Salzachkreis zur EuRegio. Bayern und Salzburg im 19. und 20. Jahrhundert, hg. Von Fritz Koller u.a., München 2006, S. 287–296 NS-Gewaltverbrechen gegen Kriegsende in Österreich in : Terror nach Innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges, hg. Von Cord Arendes u. a., Göttingen 2006 (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte 6) S. 231–235 (gem. mit Peter Urbanitsch) Die Prägung der politischen Öffentlichkeit durch die politische Strömungen, in : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd VIII/1/, hg. Von Helmut Rumpler, Wien 2006, S. 15–111 Opfer/Täter/Mythos. Verschlungene Erzählungen über die NS-Vergangenheit in Österreich. Zeitgeschichte 33 (2006), S. 318–327 Der revolutionäre Diskurs in Österreich 1918–1920, in : Niederösterreich 1918 bis 1922, hg. Von Willibald Rosner, St. Pölten 2007, S. 9–16 »Land« und »Reichsgau« Salzburg (1938–1945), in : Die NS Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen Führerstaat, hg. Von Jürgen John, München 2007, S. 378–385 Industrie und Politik 1927–1934 : Dr. Anton Apold, Generaldirektor der AlpineMontan Gesellschaft, in : Erfahrungen der Moderne. Festschrift für Roman Sandgruber zum 60. Geburtstag, hg. Von Michael Pammer u.a., Stuttgart 2007, S. 241–254 Moral in der Geschichte – ein grundlegendes Problem, in : Wahre Geschichte – Ge-
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schichte als Ware. Die Verantwortung der historischen Forschung für Wissenschaft und Gesellschaft, hg. von Christoph Kühberger, Rahden/Westfal. 2007, S. 81–88 »Christlicher Ständestaat« und autoritäre/faschistische Systeme, in : Mensch, Staat und Kirche zwischen Alpen und Adria 1848–1938, hg. Von Werner Drobesch, Klagenfurt 2007, 177–182 Kirche und Staat im Gau Salzburg 1938–1945, in : Salzburg Archiv 32(2007), S. 341– 347 Der politische Katholizismus in Österreich im 20. Jahrhundert, in : Politik aus christlicher Verantwortung. Ein Ländervergleich Österreich–Schweiz, hg. von Mariano Delgardo, David Neuhold, Innsbruck 2008, S. 65–76 Zwischen Wien und München. Salzburg – die deutsche Stadt »Mozarts« 1938– 1945, in : Stadt und Nationalsozialismus, hg. von Fritz Mayrhofer u.a., Linz 2008, S. 251–267
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Herausgeber Reinhard Krammer, geb 1949. Mag.phil., Dr. phil. Ao. Univ.-Prof. am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg. Von 2001 bis 2007 Mitglied im Leitungsteam des internationalen Projektes »Förderung und Entwicklung reflektierten Geschichtsbewusstseins«. Leiter der Zentralen Arbeitsstelle für Geschichtsdidaktik. Christoph Kühberger, Mag. Dr., geb. 1975, Studium in Salzburg (Österreich) und Perugia (Italien), 2002–2004 Forschungsassistent am Institut für Philosophie/Universität Salzburg; 2004–2006 Leiter der Geschichtsdidaktik am Historischen Institut der Universität Greifswald. 2006–2008 Mitarbeiter an der Zentralen Arbeitsstelle für Geschichtsdidaktik und Politische Bildung am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg. 2008–2009 Professor für »Vergleichende Neuere und Neueste europäische Kulturgeschichte« am Institut für Geschichte der Universität Hildesheim. Seit 2009 Vizerektor für Sozial- und Gesellschaftswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Salzburg und stellvertretender Leiter der Zentrale Arbeitsstelle für Geschichtsdidaktik und Politische Bildung am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg. Franz Schausberger, geb. 1950. Dr. phil. Universitätsdozent für Neuere Österreichische Geschichte an der Universität Salzburg. Tit. Univ.-Prof. an der Westungarischen Universität in Sopron. Landeshauptmann a. D. von Salzburg. Vorsitzender des Forschungsinstituts für politisch-historische Studien. Vorstand des Instituts der Regionen Europas (IRE).
Autoren Günther Bischof, geb. 1953 in Mellau/Vorarlberg, hat in Innsbruck, Wien und New Orleans Geschichte, Englisch und Internationale Beziehungen studiert und an der Harvard-Universität in amerikanischer Geschichte promoviert. Er ist der Marshall Plan Professor of History und der Direktor des CenterAustria an der Universität von New Orleans, wo er seit 20 Jahren unterrichtet. Er war Gastprofessor an den Universitäten München, Innsbruck, Salzburg, Wien und Wirtschaftsuniversität Wien. Er ist Träger des Forschungspreises der Haslauer-Gesellschaft in Salzburg. Seine Hauptforschungsbereiche liegen in der Zeitgeschichte, vor allem die Kriegs-
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gefangenschaft im Zweiten Weltkrieg, sowie die USA und Mitteleuropa im Kalten Krieg. Gerhard Botz, geb. 1941 in Schärding, Dr. phil. 1967 (Univ. Wien), Habilitation 1978 (Univ. Linz), 1980 Berufung als Professor für Österreichische Geschichte an die Univ. Salzburg, 1997 für Zeitgeschichte an die Univ. Wien, seit 2009 emeritiert, 1982 Gründer und seither Leiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Historische Sozialwissenschaft (Salzburg/Wien). Forschungsinteressen und Buchpublikationen u. a. : Nationalsozialismus, Österreich im 20. Jahrhundert, Historiographie, Quantitative Methoden und Oral History. Herbert Dachs, geb. 1943 in Salzburg, Dr. phil. Studium Geographie und Geschichte, ab 1972 Lehrtätigkeit am Institut für philosophische Gesellschaftslehre und Politische Theorie bzw. am Institut für Politikwissenschaft der Universität Salzburg, 1981 Venia für Politikwissenschaft, seit 1999 Univ.-Prof. am Institut für Politikwissenschaft der Universität Salzburg. Verschiedene Tätigkeiten im Rahmen der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft, regelmäßige freiberufliche wissenschaftspublizistische Tätigkeit in Zeitungen und im Österreichischen Rundfunk. Christian Dirninger, geb. 1. 8. 1952), Mag. Dr. ao. Univ.-Prof. für Wirtschaftsund Sozialgeschichte am FB Geschichte der Universität Salzburg. Schwerpunkte in Forschung und Lehre : Geschichte der Wirtschafts- und Finanzpolitik, Geschichte der Geld- und Kreditwirtschaft, Geschichte der ökonomischen Theorie, Regionale Wirtschaftsgeschichte. Michael Gehler, geb. 1962, Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Innsbruck ; Mag. und Dr. phil. habil. ; Research Fellow des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) Wien 1992–1996 ; außerordentlicher Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte am Institut für Zeitgeschichte der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck 1999–2006 ; Alexander von HumboldtStipendiat 2001–2002 und Permanent Senior Fellow am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und assoziiertes Mitglied bei der Forschungsgruppe Europa am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen 2001–2002 ; Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs »Politische Kommunikation zur Herrschaftslegitimation« der Universitäten Bologna, Frankfurt/Main, Innsbruck und Trient 2003–2006 ; Gastprofessor an den Universitäten Rostock 2004, Salzburg 2004/05 und an der KU Leuven 2005 ; korrespondierendes Mitglied der Philosophisch-Historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien ; 2006 Berufung an die Stiftung Universität Hildesheim als Professor und Leiter des Instituts für Geschichte ; Professor für Neu-
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ere und Neueste deutsche und europäische Geschichte sowie Jean Monnet Chair für vergleichende europäische Zeitgeschichte und Geschichte der europäischen Integration ; Mitglied des Liaison Committee/der Verbindungsgruppe der Historiker bei der EU-Kommission siehe http ://www.uni-hildesheim.de/de/27520.htm und www. gehler.at Thomas Hellmuth, geb. 1965 in Gmunden. Mag. phil., Dr. phil. Senior Scientist an der Johannes-Kepler-Universität Linz, Initiator und Koordinator des Masterstudiums »Politische Bildung« an der Johannes-Kepler-Universität Linz, teilzeitbeschäftigter AHS-Lehrer, Lektor an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich und an der Universität Salzburg. Derzeitige Forschungsschwerpunkte : Geschichtsdidaktik und Didaktik der Politischen Bildung, Kulturgeschichte Frankreichs, Mikrohistorie. Ewald Hiebl, geb. 1968 in Linz und aufgewachsen in Lambach. Mag. phil., Dr. phil. Studium der Geschichte und Deutschen Philologie an der Universität Salzburg. Seit 1997 Assistent am dortigen Institut für Geschichte (Fachbereich Geschichtswissenschaft). 2003–2007 Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift »RhetOn. Online-Zeitschrift für Rhetorik und Wissenstransfer«. Seit 2007 Leiter des LeopoldKohr-Archivs in Salzburg Robert Hoffmann, geb. 1946 in Salzburg. Dr. phil. Studium an den Universitäten Salzburg und Zürich. Forschungsaufenthalte in London und Mainz. Seit 1974 tätig am Institut für Geschichte der Universität Salzburg. 1986 Universitätsdozent für »Allgemeine Geschichte der Neuzeit und Neuere Österreichische Geschichte«. 1997 Verleihung des Titel eines Universitätsprofessors. Forschungsschwerpunkte : Geschichte von Stadt und Land Salzburg, Geschichte des Bürgertums in Österreich, Tourismusgeschichte, Geschichte des Wohnungswesens etc Karl Klambauer, geb. 1957 in Linz. Mag. Dr. phil. Studium der Germanistik und Geschichte an den Universitäten Wien und Klagenfurt ; Unterrichtstätigkeit in Wien. Forschungen zur österreichischen zeitgeschichtlichen Gedächtniskultur. Robert Kriechbaumer, geb. 1948 in Wels. Mag. phil., Dr. phil., Studium der Geschichte, Philosophie, Psychologie und Politikwissenschaft in Salzburg und München. 1974–2001 Lehrer am BORG, Akademiestraße 21, 5020 Salzburg, für die Fächer Geschichte und Philosophie/Psychologie. 1982 Habilitation für das Fach »Neuere Österreichische Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte der Zweiten Republik« an der Universität Salzburg. Seit 1982 Lehrtätigkeit an der Pädagogischen Akademie des Bundes in Salzburg im Fachbereich »Geschichte«. 2001
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Ernennung zum Ao. Univ.-Prof. für Neuere Österreichische Geschichte und zum LPA-Professor für Geschichte und Politische Bildung an der Pädagogischen Akademie des Bundes in Salzburg Laurenz Krisch, geb. 1959 in Bad Gastein, Studium der Wirtschaftspädagogik in Innsbruck und Geschichtswissenschaften in Salzburg. Mag. rer. soc. oec., Dr. phil. (Dissertation 2002 bei Univ.-Prof. Dr. Ernst Hanisch : »Kollektivbiografische Studie zum Nationalsozialismus in den Dreißigerjahren in Bad Gastein. Eine Lokalgeschichte als Allgemeingeschichte«). Seit 1984 Lehrer an den Salzburger Tourismusschulen. Zahlreiche lokalgeschichtliche Publikationen über Bad Gastein und zum Thema Nationalsozialismus. Adresse : Werner-Berg-Weg 3, 5640 Bad Gastein, [email protected] Michael Mitterauer, geb. 1937 in Wien, Matura 1955 am Schottengymnasium, Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Wien 1955–59. 1960 Promotion sub auspiciis praesidentis, 1959 wissenschaftliche Hilfskraft, 1960 Assistent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, 1968 Habilitation für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien, 1971 außerordentlicher Professor für Sozialgeschichte, 1971 ordentlicher Professor, mehrmals Institutsvorstand, 1993 Mitbegründer und Vizepräsident des Österreichischen Instituts für Familienforschung, 2003 Emeritierung, 1999 Dr. h.c. der Southwestern University »Neofit Rilski« Blagovegrad, 2007 Dr. h. c. der Paris-Lodron-Universität Salzburg, 2004 Deutscher Historikerpreis für »Warum Europa ? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs« und Lebenswerk. Karlheinz Rossbacher, geb. 1940 in Waidegg, Kärnten. Studium der Gemanistik und Anglistik an den Universitäten Wien, Innsbruck, University of Kansas, Lawrence (Fulbright Fellowship, Assistant Instructor), Salzburg. 1975 Habilitation für Neuere deutsche Sprache und Literatur. 1976 Ernennung zum A.o. Universitätsprofessor an der Universität Salzburg ; Leiter der Abteilung für Literatursoziologie und Rezeptionsforschung. 1978/79 Fellowship des American Council of Learned Societies und Adjunct-Professor an der University of Massachusetts, Amherst. 1994 Ernennung zum o. Universitätsprofessor. 1994–1999 Institutsvorstand. 2008 Emeritierung. Helmut Rumpler, Em. Univ.-Prof. Dr., Kornblumengasse 9, 9073 Klagenfurt/Viktring. Geboren 1935 in Wien. 1975–2003 o. Univ.-Prof. für Neuere und Österreichische Geschichte an der Universität Klagenfurt. Korrespondierendes Mitglied der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste 1993, Wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1995 (Obmann der Kommission für die Geschichte der Habsburgermonarchie). Arbeitsgebiete : Geschichte der
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Habsburgermonarchie (Verfassung und Verwaltung, Historiographie und Quellenkunde) ; Beziehungen Österreich-Deutschland 19./20. Jahrhundert ; Geschichte Kärntens, Sloweniens und des Alpen-Adria-Raumes ; österreichische Zeitgeschichte. Autor von : Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie 1804–1914 (1997) Roman Sandgruber, geb. 1947, Studium der Geschichte, Germanistik und Volkswirtschaftslehre, seit 1988 o. Univ.-Prof. für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Johannes-Kepler-Universität Linz, seit 1995 Korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ; Präsident des Verbunds oberösterreichischer Museen. Bisher 20 wissenschaftliche Bücher und etwa 200 Beiträge in Zeitschriften und Sammelwerken zu Themen der österreichischen und allgemeinen Wirtschafts-, Sozial-, Kultur- und Zeitgegeschichte. Zuletzt : Frauensachen – Männerdinge. Eine »sächliche« Geschichte der zwei Geschlechter, Wien 2006, 416 Seiten. Johannes-Kepler-Universität Linz, Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 4040 Linz, Altenberger Straße 69, [email protected] Sigrid Vandersitt, Mag. phil, Historikerin/Lehrerin, seit 2001 Verlagslektorin in einem Bildungsverlag, Arbeitsschwerpunkte : Geschichte und Politische Bildung in allen Schultypen.
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Eine der wohl größten sozialen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, die Emanzipation der Frauen, hatte die Krise des Mannes ausgelöst. Die Verhärtung der militärischen Männlichkeit im Ersten Weltkrieg konnte diese im Fin die Siècle einsetzende Entwicklung nur aufschieben. Militärische Niederlage, Frauenwahlrecht, „Neue Sachlichkeit der Liebe“, „Kameradschaftsehe“ und ein breiter Demokratisierungsschub unterwuschen den traditionellen männlichen Habitus. Die autoritären und faschistischen Bewegungen und Regime leiteten wiederum eine streng virile Periode ein, die in der aggressiven und destruktiven Figur des politischen Soldaten der SS gipfelte. Nach den eklatanten Herausforderungen der Frauenbewegung mussten die Männlichkeitsbilder neu konturiert werden.
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