Denken und Handeln: Perspektiven der praktischen Philosophie und der Sprachphilosophie. Festschrift für Matthias Kaufmann zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428555659, 9783428155651

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Denken und Handeln: Perspektiven der praktischen Philosophie und der Sprachphilosophie. Festschrift für Matthias Kaufmann zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428555659, 9783428155651

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Philosophische Schriften Band 99

Denken und Handeln Perspektiven der praktischen Philosophie und der Sprachphilosophie Festschrift für Matthias Kaufmann zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Andrej Krause Danaë Simmermacher

Duncker & Humblot · Berlin

Denken und Handeln Festschrift für Matthias Kaufmann zum 65. Geburtstag

Philosophische Schriften

Band 99

Denken und Handeln Perspektiven der praktischen Philosophie und der Sprachphilosophie Festschrift für Matthias Kaufmann zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Andrej Krause Danaë Simmermacher

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-15565-1 (Print) ISBN 978-3-428-55565-9 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Festschrift ist Matthias Kaufmann gewidmet, der im April 2020 seinen 65. Geburtstag feiert. Der Jubilar studierte Mathematik (Diplom), Philosophie und Politische Wissenschaft in Erlangen und Osnabrück/Vechta. Für seine Dissertation „Recht ohne Regel? Die philosophischen Prinzipien in Carl Schmitts Staats- und Rechtslehre“ wurde er 1988 vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft mit dem Heinz-Maier-Leibnitz-Preis ausgezeichnet. 1992 habilitierte er sich an der Universität Erlangen-Nürnberg mit einer Arbeit über „Referenz und Wahrheit bei Wilhelm von Ockham“. Nach Gastprofessuren an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Universität Münster ist er seit 1995 Inhaber der Professur für Ethik an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg. Er ist Sprecher der dortigen Graduiertenschule Society and Culture in Motion (SCM) und seit vielen Jahren Mitglied in der Accademia di Scienze Morali e Politiche der Società Nazionale di Scienze, Lettere e Arti in Napoli. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Ethik, Politische Philosophie, Rechtsphilosophie sowie Sprachphilosophie im Mittelalter und im 20. Jahrhundert. Sein wissenschaftliches Werk umfasst zahlreiche Veröffentlichungen auf diesen Gebieten, darunter mehrere Monographien, die in anderen Sprachen verfasst oder in andere Sprachen übersetzt wurden. So gibt es beispielsweise von seiner 1999 publizierten Abhandlung „Aufgeklärte Anarchie. Eine Einführung in die politische Philosophie“ eine türkische, italienische und französische Übersetzung. Die Gliederung der vorliegenden Festschrift orientiert sich an den genannten Forschungsschwerpunkten von Matthias Kaufmann. Die Autorinnen und Autoren sind in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beheimatet, besonders in der Philosophie, aber auch in der Medizin, Ethnologie, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft, Geschichte, Logik und Mathematik, um nur einige Bereiche zu nennen. Ihre Mitarbeit an diesem Band versinnbildlicht das transdisziplinäre Denken des Jubilars in hervorragender Weise. Als Herausgebende haben wir die angenehme Pflicht zu danken: den Autorinnen und Autoren für ihre Kollegialität, Dagmar Kaufmann für ihre Hilfe bei der Anbahnung der Kontakte zu einigen von ihnen, Sigrun Rößler und James Thompson für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Manuskriptes, Johannes Hübner, Heiner F. Klemme und Richard Rottenburg für die Vermittlung finanzieller Zuschüsse sowie dem Verlag Duncker & Humblot für die gute Zusammenarbeit. Vor allem aber gilt unser Dank Matthias Kauf-

6 Vorwort

mann. Er hat uns über viele Jahre als Wissenschaftler und Freund begleitet und es ist uns eine große Freude, ihn mit der Edition dieses Bandes zu ehren. Halle, im April 2020

Danaë Simmermacher Andrej Krause

Inhaltsverzeichnis 1. Ethik Alles ist gut. Glück, Unglück und Glückseligkeit im Werk von Georg Friedrich Meier Von Frank Grunert, Halle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 König Alkohol Von Hans-Jürgen Luderer, Weinsberg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Vernunft, Konformismus und Kulturindustrie Von Giancarlo Magnano San Lio, Catania  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Politische Philosophie Liebe zur Welt als Veränderung der Welt? Die Ambiguität in Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Karl Marx Von Uta Eichler, Halle/Leipzig  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Menschenrechte als Meta-Code – Von der Translation subjektiver Rechte Von Stefan Knauß, Erfurt, und Christoph Haar, Halle  . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Carl Schmitt oder Kant? Ein Versuch über Recht, Staat und Revolution Von Heiner F. Klemme, Halle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Ein Übungsbericht und eine Frage an Matthias Kaufmann Von Richard Rottenburg, Johannesburg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 „Entfremdung“ vor der Entfremdung – Vorüberlegungen zu einer Nach­ geschichte Von Robert Schnepf, Halle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Critical cosmopolitanism. Beyond the opposition between a philosophical and a sociological one By Soraya Nour Sckell, Lissabon  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Vicos interkultureller Gemeinsinn Von Danaë Simmermacher, Halle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Domingo de Soto: Vom ius peregrinandi zum Recht auf Migration Von Jörg Alejandro Tellkamp, Mexico City  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

8 Inhaltsverzeichnis 3. Rechtsphilosophie „Meine“ Vico Von Giuseppe Cacciatore, Neapel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Zur Aufklärungspflicht des behandelnden Arztes im Hinblick auf den Einsatz von Außenseitermethoden bei einer eventuellen Reoperation Von Jan C. Joerden, Frankfurt (Oder)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Ein Plädoyer für den Rechtspositivismus Von Jean-François Kervégan, Paris  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Über den Rechtscharakter von Menschenrechten als „moralische Rechte“ Von Georg Lohmann, Magdeburg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Niklas Luhmann: Gerechtigkeitstheorie des Rechtssystems Von Lukas K. Sosoe, Luxemburg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Beantwortung der Frage: Was ist kritische Philosophie? Von Kenneth R. Westphal, Istanbul  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 4. Sprachphilosophie Ockham und Sellars über Begriffe Von Johannes Hübner, Halle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Überlegungen zum Suppositionsbegriff des Petrus Hispanus Von Andrej Krause, Halle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Cartesianism, Philological Criticism and Philosophy of Language: Jean Le Clerc By Fabrizio Lomonaco, Neapel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Theologisch-philosophische Erklärungsversuche mittelalterlicher ­Weltvorstellungen Von Günter Schenk, Halle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Wenn Sätze Eigennamen wären Von Christian Thiel, Erlangen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Translating Wittgenstein: the Emergence of Practice Theory By James Thompson, Frankfurt/Main  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

1. Ethik

Alles ist gut. Glück, Unglück und Glückseligkeit im Werk von Georg Friedrich Meier Von Frank Grunert I. Glück als Arbeit Wie auch immer man Aufklärung im Einzelnen definieren mag, für die philosophische Aufklärung ist in einer historischen Perspektive zweifellos charakteristisch, dass sie von Anfang an und auf breiter Front den Anspruch erhebt, das Tradierte oder auch nur Vorgefundene in einer theoretischen wie praktischen Hinsicht durchgreifend und wirksam zu verbessern. Fragt man nach dem letztlichen Ziel dieser zunächst theoretischen und dann praktisch werdenden Anstrengung, dann dürfte die „Glückseligkeit“1 des Einzelnen wie schließlich der gesamten Menschheit für viele philosophische Autoren des 18. Jahrhunderts die naheliegende Antwort gewesen sein. In der Tat ist die Diskussion über die „Glückseligkeit“ als „Endziel des uns möglichen Handelns“2 im 18. Jahrhundert ausgesprochen vielfältig, so dass Glück zweifellos zu den Schlüsselbegriffen des Zeitalters gerechnet werden kann.3 Die 1  In der philosophischen Diskussion des 18. Jahrhunderts wird im Deutschen regelmäßig der Begriff „Glückseligkeit“ anstelle von „Glück“ verwendet. Damit wird eine Differenz zwischen der Zufälligkeit des unbeständigen Glücks im Sinne von „fortuna“ und der zumeist moralischen und daher verdienten bzw. verdienbaren Glückseligkeit im Sinne von „beatitudo“ oder „felicitas“ markiert. Für eine religiöse Konnotation des Begriffs „Glückseligkeit“ aufgrund des zweiten Teils des Kompositums sind die meisten Autoren offen, doch wird in der Regel dann zwischen ewiger und zeitlicher Glückseligkeit unterschieden. Vgl. die Ausführungen zu den Lemmata „Glück“ und „Glückseligkeit“ in: Walch 1775, Sp. 1792–1795 bzw. 1795–1798. 2  Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1097b20. 3  Vgl. dazu: Grunert 1998, S. 351–368. Siehe auch neuerdings: Arend 2019. Vor dem Hintergrund der eigenen literaturwissenschaftlichen Interessen nimmt Arend einen breiteren, nicht nur philosophischen Diskurs in den Blick und hat die Quellen „so ausgewählt, daß Zusammenhänge deutlich und ein Narrativ spürbar werden können“ (S. 19). Angesichts der Intensität und der theoretischen Tiefenschärfe der Diskussion kann die Beschränkung auf Thomasius und Wolff, Lamettrie und Lessing, sowie auf Hobbes und Shaftesbury – abgesehen von historischen Vorläufern wie Aristoteles, Seneca und Thomas von Aquin – den philosophischen Gehalt des Diskurses nicht hinreichend abbilden.

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Auseinandersetzung reicht im deutschen Kontext bekanntlich von Christian Thomasius, der „felicitas“ in seinen Fundamenta iuris naturae et gentium zu einem pragmatischen normativen Prinzip des Naturrechts machte,4 bis hin zu Immanuel Kant, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts ausdrücklich die bis dahin unangefochtene moralphilosophische Bedeutung der Glückseligkeit entschieden in Abrede stellte.5 Auf der Suche nach einem allgemeingültigen moralischen Gesetz hat Kant die Glückseligkeit für untauglich befunden, als Ableitungsbasis für ein allgemeines, von allen zufälligen Handlungsbedingungen unabhängiges Sittengesetz zu fungieren. Er hielt Glück für eine „schwankende Idee“6 und erkennt in ihm deswegen einen nur „unbestimmten Begriff“, weil „alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind“, so „daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle“.7 Da Glück „von dem Subjekte bloß empirisch erkannt werden kann“, kann es dem Sittengesetz nicht die geforderte Allgemeingültigkeit verschaffen, geht es bei diesem Sittengesetz doch darum, für alle Fälle „und für alle vernünftigen Wesen eben denselben Bestimmungsgrund des Willens“8 zu formulieren. Allerdings ist diese philosophische Dequalifizierung des Glücks bei Kant noch nicht die ganze Wahrheit,9 denn er will die „Unterscheidung des Glückseligkeitsprinzips von dem der Sittlichkeit“ nicht als „Entgegensetzung“ verstanden wissen: „[D]ie reine praktische Vernunft“, so betont Kant, „will nicht“, dass man „die Ansprüche auf Glückseligkeit“ aufgibt, sondern nur, dass man „sobald von Pflicht die Rede ist“, auf Glückseligkeit keine „Rücksicht“ nimmt.10 Das Streben nach Glückseligkeit gehört auch für Kant zu den „natürlichen Neigungen“, die „an sich selbst betrachtet, gut, d. i. unverwerflich [sind], und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft sie ausrotten zu wollen“.11 Und tatsächlich kann – wie Kant mehrfach betont – das Streben nach Glückseligkeit im Hinblick auf die Sittlichkeit wenigstens zur indirekten Pflicht werden, und zwar „teils weil sie (wozu Geschicklichkeit, Gesundheit, Reichtum gehört) Mittel zur Erfüllung seiner Pflicht enthält, teils weil der Mangel derselben (z. B. Armut) Versuchungen enthält, seine Pflicht zu übertreten“.12 Diese Erläuterungen stellen selbstverständlich keine moralphilosophische Rehabili4  Thomasius:

Fundamenta iuris naturae et gentium, S. 172. zum Folgenden auch die Hinweise in: Grunert 2018, S. 189–194. 6  Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 12. 7  Ebd., BA 46. 8  Kant: Kritik der praktischen Vernunft, A 45 f. 9  Siehe dazu ausführlich Kang 2015. 10  Kant: Kritik der praktischen Vernunft, A 166. 11  Kant: Religion in den Grenzen der blossen Vernunft, B 69. 12  Kant: Kritik der praktischen Vernunft, A 166. 5  Vgl.



Glück, Unglück und Glückseligkeit im Werk von Georg Friedrich Meier13

tierung der Glückseligkeit dar, sie ist weder Ergebnis noch Voraussetzung der Moral, doch wird sie als ihre Verwirklichungshilfe etwa dort wirksam, wo das theoretische Sittengesetz sich mit der Empirie berührt. Kants philosophische Bedenken gegenüber einer moralischen Inanspruchnahme des Glückseligkeitsbegriffs hat mit einer Subjektivierung des Glücksbegriffs zu tun, die nach dem Verständnis der am Diskurs beteiligten Autoren für die deutsche Aufklärung zunächst gar nicht typisch war. Diese zur moralischen Dequalifizierung führende Subjektivierung und Relativierung des Glücks scheint sich in Deutschland erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts, und zwar nicht zuletzt unter den Auspizien eines kritisch revidierten Wolffianismus, entwickelt zu haben. Georg Friedrich Meier hat dabei – wie sich zeigen lässt – eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Für die Aufklärer bis und einschließlich Christian Wolff galt Glück viel eher als etwas Objektives, das als „wahres Glück“ von den Zufälligkeiten eines bloß subjektiven und daher nur scheinbaren Glücks theoretisch wie praktisch abgehoben werden musste und tatsächlich auch konnte. Glück mochte zwar subjektiv empfunden werden, doch konnte sein eigentlicher Gehalt objektiviert werden, d. h. Glück lässt sich theoretisch erkennen und im Prinzip auch praktisch verwirklichen.13 Subjektiv empfundenes Unglück konnte daher über die rationale Einsicht in das tatsächlich gegebene wahre Glück als Irrtum erkannt und auf diese Weise praktisch gegenstandslos gemacht werden. Die Objektivität des Glücks impliziert seine technische Herstellbarkeit und so hat im deutschen philosophischen Kontext Glück nichts mit dem Genuss sinnenfroher Mühelosigkeit zu tun, vielmehr ist es in der Regel die Frucht einer asketischen Anstrengung, die – wie es in Johann Georg Walchs Philosophischem Lexicon heißt – eine genaue Kenntnis und eine gewissenhafte Praxis der „Regeln des Glücks“14 erfordert. Die „Kunst glücklich zu seyn“ besteht denn auch vornehmlich in der angemessenen Realisierung technischer Vorkehrungen, „denn in Ansehung des Glücks ist grosse Klugheit vonnöthen, solches nemlich zu erlangen, zu beurtheilen, sich bey demselben wohl auffzuführen und zu mäßigen“.15 Von Regeln zur Erlangung der Glückseligkeit ist auch bei Christian Wolff die Rede. Für ihn besteht Glückseligkeit in der beständigen Freude, die das unveränderte Fortschreiten von einer, nicht nur innerlich-moralisch, sondern auch äußerlich-materiell vorgestellten, „Vollkommenheit zur andern“ verursacht.16 Weil die Regel „Thue, 13  Vgl.

dazu Grunert 1998, S. 351–368. 1775, Sp. 1793.

14  Walch 15  Ebd.

16  Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, S. 35. Siehe zur Glückseligkeit bei Wolff ausführlich Schwaiger 1995, S. 161–188; sowie Arend 2019, S. 227–247.

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was dich und deinen Zustand vollkommener machet und unterlaß, was dich und deinen Zustand unvollkommener machet“17 von der Natur vorgeschrieben wird, wird die Glückseligkeit durch die Erfüllung des natürlichen Gesetzes erreicht.18 Die Fertigkeit, alle Handlungen nach der naturgesetzlichen Weisung einzurichten, ist die Tugend, so dass es die Tugend ist, die den Menschen glückselig macht.19 Die dabei vor allem in Anschlag zu bringende Tugend ist die Klugheit, denn um die eigene Vervollkommnung zu betreiben muss der Mensch „nichts ohne Absichten thun“ und diese Absichten, muss er dergestalt einrichten, dass „immer eine ein Mittel zu der andern, alle insgesammt aber ein Mittel zu der letzten Haupt-Absicht sind“.20 Die glückseligmachende Vervollkommnung ist daher auf kluge Vorkehrungen angewiesen: Für dieses Ziel gilt es, die Bedingungen einer Handlung zu berücksichtigen, die richtigen Mittel zu wählen, die möglichen Hindernisse zu erkennen und diese schließlich zu beseitigen. Bei Johann Christoph Gottsched, der ebenfalls „viel Fleiß, Verstand, Ernst und eine lange Uebung“21 bei der Erlangung der Glückseligkeit für erforderlich hält, wird daraus – im unverkennbaren Anschluss an Wolff – ein regelrechtes Trainingsprogramm, das vorschreibt, morgens und abends die Zwecke, die Mittel und die Erfolge eines Tages zu reflektieren, Verbesserungsmöglichkeiten zu eruieren und in die Planung des nächsten Tages zu integrieren.22 Glückseligkeit ist damit das Resultat einer auf fortwährender Emendation beruhenden Vervollkommnung. Nicht von ungefähr wird die Erlangung des Glücks auch von Autoren, die Wolff und dem Wolffianismus fernstehen, ausdrücklich mit ‚Arbeit‘ in Verbindung gebracht, etwa wenn Martin Musig betont, dass sich der Christ erst durch „fleißiges Gebeth und Arbeit“23 für die äußerliche Glückseligkeit sittlich zu qualifizieren habe, oder wenn Christoph Heinrich Amthor in seiner Anleitung zur Sitten-Lehre eine – ganz im Geist der ‚protestantischen Ethik‘ vollzogene – Reformulierung der antiken Kardinaltugenden vornimmt, indem er Glück als das Ergebnis von „Nüchternheit, Reinlichkeit, Arbeitsamkeit und Tapfferkeit“24 ausgibt.

17  Ebd., 18  Vgl.

S. 16. ebd., S. 35. Vgl. auch Wolff: Philosophia Practica Universalis. Pars Prior,

S. 308. 19  Vgl. Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, S.  42 f. Vgl. auch Wolff: Philosophia Practica Universalis, S. 309. 20  Ebd., S. 84. 21  Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, S. 118. 22  Vgl. ebd., S. 115–116. 23  Musig: Licht der Weisheit, in denen Nöthigsten Stücken der wahren Gelehrsamkeit, zur Erkänntniß Menschlicher und Göttlicher Dinge, S. 26. 24  Amthor: Anleitung zur Sitten-Lehre, S. 41.



Glück, Unglück und Glückseligkeit im Werk von Georg Friedrich Meier15

In diesem Kontext sind auch die Wortmeldungen von Georg Friedrich Meier25 angesiedelt. Meier kommt häufiger auf die Glückseligkeit bzw. auf das Glück zu sprechen, etwa in seiner Sittenlehre,26 seiner Metaphysik27 oder in Beiträgen zu seinen verschiedenen mit Samuel Gotthold Lange veranstalteten moralischen Wochenschriften, von denen sogar eine den Titel Der Glückselige28 trägt. Vor allem aber widmete sich Meier dem Thema in zwei selbstständig erschienenen Schriften, die im Folgenden die hauptsächlichen Gegenstände der Untersuchung sein sollen. Die beiden kaum 200 Seiten starken Arbeiten greifen andernorts angestellte Überlegungen auf, intensivieren und modifizieren sie und lassen in Ton und Stil den Anspruch des Autors erkennen, das interessierte Publikum auf eine leicht fassliche und daher angenehme Weise über ein wichtiges philosophisches Problem mit dem Ziel zu belehren, es zu einer besseren Praxis anzuleiten. Es handelt sich um die 1753 zum ersten Mal erschienenen Gedanken vom Glück und Unglück29 – eine zweite Auflage wurde 1762 publiziert – und die 1764 veröffentlichten Betrachtungen über die menschliche Glückseligkeit.30 Mit der durch die beiden Titel prononcierten Unterscheidung zwischen Glück und Unglück auf der einen Seite und Glückseligkeit auf der anderen setzt Meier die lebensweltliche Erfahrung von zustoßendem Glück und Unglück mit der seit der Antike diskutierten Frage nach der Glückseligkeit als „beatitudo“ in ein Verhältnis. Er greift dabei – wie Clemens Schwaiger mit Blick auf Meiers Metaphysik gezeigt hat – Überlegungen auf, die Alexander Gottlieb Baumgarten in seiner Metaphysica zum Zusammenhang von Glück und Glückseligkeit angestellt hatte.31 Ob Meier dabei nur als ein „zuverlässiger Interpret“ oder „Dolmetscher und Schildknappe“32 seines Lehrers fungiert, ist allerdings bereits mit Bezug auf die Metaphysik die Frage, wo die grundsätzliche Orientierung an Baumgarten nicht nur unübersehbar, sondern geradezu Programm ist. Im Hinblick auf die hier in Rede stehenden Arbeiten über Glück und Unglück bzw. Glückseligkeit kommen die Differenzen vollends zum Tragen. Schon die Tatsache, dass Meier dem Thema zwei Monographien widmet, während ihm Baumgarten – wie auch Schwaiger erkennt – interessanterweise kaum Aufmerksamkeit schenkt, spricht eher dafür, dass Meier auch in dieser Hinsicht bereit ist, im Anschluss an Baumgarten und Wolff über diese hinauszu25  Vgl. zu Meier vor allem: Schenk 1994; Pozzo 2000; sowie die Beiträge in: Grunert/Stiening 2015. Darin: Edelmann 2015, S. 382–315. 26  Meier: Philosophische Sittenlehre, 1762. ND: 2007. 27  Meier: Metaphysik, 1765. ND: Christian Wolff: Gesammelte Werke, 2007. 28  Vgl. Zenker 2015, S. 55–80, siehe zu Der Glückselige S. 64–66. 29  Meier: Gedanken vom Glück und Unglück, Halle 1753. 30  Meier: Betrachtung über die menschliche Glückseligkeit. Halle 1764. 31  Schwaiger 2011, S. 107. Zuvor in ders. 2010, S. 33. 32  Ebd., S. 107 und S. 109.

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gehen. Und in der Tat: Meier – so wird sich zeigen – ist in der Lage, der philosophischen Diskussion über die Glückseligkeit wichtige, durchaus wegweisende Aspekte hinzuzufügen, auch wenn er in vielen Details Vorstellungen folgt, die im theoretischen Umfeld des Wolffianismus üblich sind.33 II. Die Unmöglichkeit des Unglücks In seiner 1739 zum ersten Mal erschienenen Metaphysica hat Alexander Gottlieb Baumgarten im Rahmen seiner Psychologie mehr konstatiert als ­demonstriert, dass Glückseligkeit den „Inbegriff von gutem Glück und Selig­ keit“34 darstellt: Unter gutem Glück versteht er Glücksgüter, das sind „physische Güter“ in enger Bedeutung; sie werden verbunden mit Seligkeit, die in der Vollkommenheit des endlichen Geistes besteht, die dieser durch das sittlich Gute selbst in Freiheit hervorbringt. Glückseligkeit, als Kombination von gutem Glück und Seligkeit, verbindet Inneres mit Äußerem und vor allem etwas, das der Einzelne als moralisches Wesen selbst in der Hand hat, mit dem, worüber er nicht – oder nicht ohne Weiteres – verfügen kann. Wenn Meier im dritten Teil seiner Metaphysik Glückseligkeit als „Inbegrif der Seligkeit und der Wohlfahrt“35 bezeichnet, scheint er den Vorgaben von Baumgarten noch getreulich zu folgen. In den Gedanken vom Glück und Unglück dagegen ist die Unterscheidung verschoben: Hier geht es nicht mehr um die Kombination von äußerlichen Gütern und moralischer Seligkeit als die beiden Elemente von Glückseligkeit, sondern hier werden Glück und Unglück, die einen „gewaltigen Einfluß, in die Glückseligkeit und Unglückseligkeit“36 haben, vor allem mit Blick auf den Modus ihrer Verwirklichung wahrgenommen und beschrieben. Meier geht es in den Gedanken vom Glück und Unglück um die „glücklichen und unglücklichen Zufälle“, die einen „sehr großen Theil des menschlichen Lebens“37 ausmachen, denn „Glück und Unglück 33  Dass der „bei Wolff noch zentrale Begriff der Glückseligkeit“ bei Baumgarten und Meier in den Hintergrund tritt, wie Nele Schneidereit behauptet, lässt sich wohl für Baumgarten, ganz sicher aber nicht für Meier bestätigen. Die Frage „worin die Glückseligkeit und Unglückseligkeit der Menschen“ bestehe, zählt Meier im vierten Teil seiner Metaphysik ausdrücklich zu den „nöthigsten, nützlichsten und wichtigsten Fragen“. Meier: Metaphysik. Dritter Theil, S. 469–470. Vgl. Schneidereit 2015, S. 215. 34  „Felicitas spiritus finiti est complexus prosperitatis et beatitudinis“. Baumgarten: Metaphysica, 2011. § 787, S. 428. Vgl. auch die eher beiläufigen Hinweise in: Baumgarten: Philosophische Brieffe von Aletheophilus. Frankfurth und Leipzig 141. S. 62. Dazu: Schwaiger 2011, S. 107. 35  Meier: Metaphysik. Dritter Theil, S. 474. Siehe auch: ders.: Philosophische ­Sittenlehre, erster Theil, S. 85. 36  Meier: Gedanken vom Glück und Unglück, S. 3. 37  Ebd., S. 3.



Glück, Unglück und Glückseligkeit im Werk von Georg Friedrich Meier17

verhalten sich, in dem moralischen Zustande der Menschen, wie das Wetter in der Körperwelt“.38 Durch die Zuspitzung auf die lebensweltlich plausible Unverfügbarkeit des Zufalls und vor allem durch den von Meier entwickelten Vorschlag, mit dem glücklichen oder unglücklichen Zufall umzugehen, bereitet er – wie sich zeigen wird – die Dequalifizierung von Glück und Unglück als Bestandteil der Glückseligkeit vor und betreibt damit wieder eine moralische Vereinseitigung der Glückseligkeit, die von Baumgarten – und ihm selbst – durch die Kombination von äußeren Glücksgütern und Seligkeit gerade beseitigt werden sollte. Dass dies das eigentliche Ziel seiner Gedanken ist, macht Meier schon gleich zu Beginn seiner Abhandlung unmissverständlich klar, wenn er nämlich bereits im zweiten Paragraphen seinem Leser bzw. seiner Leserin zu verstehen gibt, dass ein Mensch sich „wahrhaftig schämen“ müsse, „wenn er niemals gelernt hat, die glücklichen und unglücklichen Zufälle des Lebens richtig und vernünftig zu beurtheilen“. Denn – so erklärt Meier weiter – erfordere es unsere Gemütsruhe, „daß wir diese Beur­ theilung lernen, damit wir mit unserem Verhängnisse, dem wir nicht entfliehen können, uns befriedigen, und mit einer männlichen Gelassenheit und Mäßigung, die Ketten unserer glücklichen und unglücklichen Zufälle, tragen“.39 Erreicht wird dieses Ziel durch ein im Grunde alles schlagendes natürlichtheologisches Argument, das das Ganze der Welt als die Wirkung des höchsten Wesens, des „allerweisesten Baumeisters“40 vorstellt, dessen Schöpfung in seiner eigenen Vollkommenheit gründet und daher notwendigerweise als „beste Welt“41 aufgefasst werden muss. Und das bedeutet: „Wenn also Gott eben dieses und kein anderes Glück oder Unglück, über diesen und keinen andern Menschen, verhänget; so thut er dieses deswegen, weil dieser Mensch eben die Beschaffenheit hat, die er hat, und keine andere, und weil er sich gegen die ganze beste Welt eben so, und nicht anders verhält“.42 Insofern hängt „alles Glück und Unglück […] von dem freyen Rathschlusse Gottes ab, welcher allemal den Regeln der allerhöchsten und vollkommensten Weisheit gemäß ist“.43 Der glückliche oder unglückliche Zufall kann daher kein blinder Zufall sein, sondern wird vom Menschen nur deswegen als ein „ohngefährer Zufall“44 erfahren, weil ihm aufgrund seiner begrenzten Erkenntnismöglichkeiten die Einsicht in „den ganzen Zusammenhang der würkenden 38  Ebd., 39  Ebd., 40  Ebd., 41  Ebd., 42  Ebd., 43  Ebd., 44  Ebd.,

S. 2. S. 4. S. 27. S. 26. S. 26. S. 29. S. 30.

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Ursachen in dieser Welt“ verwehrt und die damit verbundenen „Bewegungsgründe und Absichten Gottes“45 verborgen bleiben. Indem alles, was ist, auf den allerweisesten Ratschluss Gottes zurückgeführt wird, wird nicht nur der Zufall aufgelöst, sondern genau genommen das Unglück gleich mit. Denn die Einsicht, dass die notwendigerweise beste Welt nicht nur im Ganzen, sondern auch in ihren Einzelheiten so vollkommen ist wie „es die Vollkommenheit des Ganzen zuläßt und erfordert“,46 macht den Zufall ebenso wie Glück und Unglück zu einem durch seinen Schöpfer immer schon gerechtfertigten Teil des als Bestes vorgestellten Ganzen. Der Zufall wird nur durch mangelnde, d. h. naturgemäß begrenzte Einsicht als Zufall wahrgenommen, und das als schmerzhaft erfahrene Unglück ist als Teil des Ganzen, ein Moment der Vollkommenheit und daher nur dem Schein nach Unglück. Die dadurch vermittelte Überzeugung, dass Gott „bey der Austheilung des Glücks und Unglücks“ nur die allerweisesten und gütigsten Absichten verfolgt habe, kann „einen so beruhigenden Einfluß auf unser Herz haben“, dass wir mit „unserm Schicksale zufrieden“ sind und „Gott dafür danken“.47 Mit diesem vergleichsweise einfach hergestellten, die Gemütsruhe vorgeblich befördernden Einverständnis in das Gegebene hat Meier im Grunde schon das Entscheidende erreicht, doch belässt er es nicht bei abstrakten Einsichten, die die natürliche Gottesgelehrtheit vermittelt, vielmehr zielt er auf eine tätige Auflösung des schmerzhaft erfahrenen Unglücks ab. Dazu macht Meier geltend, dass „niemandem zu rathen“ sei, „von einem glücklichen oder unglücklichen Zufalle, alsobald, in der gegenwärtigen Zeit zu urtheilen“.48 Denn ob etwas ein Glück oder Unglück sei, lasse sich tatsächlich erst später, und möglicherweise nicht einmal im diesseitigen Leben, feststellen.49 Weil Unglück vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass es eine größere Vollkommenheit hindert und eine Unvollkommenheit verursacht, sind Glück und Unglück der zugestoßenen Zufälle auch nicht unmittelbar zu unterschieden, denn auch „glückliche Zufälle“ sind zum Unglück zu rechnen, wenn sie in der Konsequenz den Menschen daran hindern, „persönliche Geschicklichkeiten und Tugenden zu erlangen“.50 Wenn zudem – wie die Erfahrung zeigt – derselbe Zufall „bey einem Menschen, ein wahres Glück, und bey einem andern, ein wahres Unglück seyn kann“, so dass ein Zufall „bey verschiedenen Personen, verschiedene Folgen und Würkungen haben“ kann, dann wird deutlich, dass nicht die aktuell zugestoßene Freude oder der aktuell zugesto45  Ebd.,

S. 30. S. 35–36. 47  Ebd., S. 152. 48  Ebd., S. 51. 49  Vgl. ebd., S. 49. 50  Ebd., S. 42. 46  Ebd.,



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ßene Schmerz entscheidend sind, sondern deren Folgen, und diese Folgen hängen von der Reaktion desjenigen bzw. derjenigen ab, dem oder der Glück oder Unglück zustößt. Weil demnach das Verhalten des Einzelnen gegenüber Glück und Unglück die entscheidende Rolle spielt, müssen die Pflichten untersucht werden, die „wir in Absicht auf das Glück und das Unglück zu beobachten haben“.51 Die Beziehung zwischen Glück und Unglück als zustoßendem Zufall und dem erforderlichen pflichtgemäßen Umgang mit ihm stellt Meier im Rückgriff auf seine natürlich-theologischen Überzeugungen her: Es kennzeichnet die „allerweisesten Absichten Gottes“, dass die gesamte Schöpfung und ihre Erhaltung „zur Glückseligkeit der Geister gereichen“ soll, folglich müssen „alle Dinge, die den Menschen betreffen, zur Absicht haben, ihn glückselig zu machen“.52 Das betrifft auch die Funktion von Glück und Unglück. Glück und Unglück können aber nur dann ein Mittel zur Glückseligkeit sein, wenn sie als Mittel zur Tugend in Anspruch genommen werden, denn die Glückseligkeit des Menschen ist die Wirkung seiner ausgeübten Tugend. Die Pflicht im Umgang mit dem zufälligen Glück und Unglück besteht daher im tugendhaften Umgang mit ihnen: Glück und Unglück sind für den Menschen „Gelegenheiten zu vielen Tugenden, und ein Mittel, durch welche ein Mensch in den Stand gesetzt wird, sie auszuüben“.53 Indem Meier den Menschen für verpflichtet und in der Lage hält, „es dahin zu bringen, daß alles Glück und Unglück ein wahres Glück sey und werde“,54 sind Glück und Unglück ausschließlich von seinem eigenen Verhalten abhängig: „Wer vor dem Erfolg der glücklichen oder unglücklichen Zufälle, mitten in denselben, und nachher, sich vernünftig, klug und tugendhaft verhält“,55 Sünden und Laster vermeidet, sich im Gegenteil des Glück und des Unglücks als Mittel der Tugend gegen Gott, sich selbst und andere bedient, der befördert notwendigerweise auch durch die „ungefehren Zufälle dieser Welt“ seine eigene Vollkommenheit: „Wer allemal von der Tugend begleitet wird, wen die Tugenden umringen und beschützen, dem kann kein Uebel begegnen. Und wenn“ – so fährt Meier fort – „ein solcher Mensch, nach dem Urtheile der Welt, auch noch so 51  Ebd., S. 54, 123. Die unverfügbare Zufälligkeit von Glück und Unglück macht es unmöglich, sie auf vergangenes Verhalten zu beziehen, Glück und Unglück stehen daher mit vergangenen Handlungen in keinem „moralischen Verhältniß“ und können folglich nicht als Belohnungen oder Strafen aufgefasst werden. Weil es Meier am Ende auf die moralische Bewährung ankommt, legt er Wert auf die Feststellung, dass Glück und Unglück nur mit unserem gegenwärtigen und künftigen Verhalten verbunden sind. Vgl. ebd., S. 105, 117, 123. 52  Ebd., S. 123–124. 53  Ebd., S. 123. 54  Ebd., S. 134. 55  Ebd., S. 135.

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unglücklich seyn sollte, wenn er mit Hunger und Durst, mit Schmerzen und Krankheiten, und wer weiß mit vielen andern Unfällen zu kämpfen haben solte, so ist er demohnerachtet ein Kind des Glücks zu nennen“.56 Der wahrhaft Tugendhafte kann daher „unmöglich in ein wahres Unglück geraten“.57 Und weil der Mensch zwar die glücklichen und unglücklichen Zufälle nicht in seiner Gewalt hat, er aber – insoweit er verständig und tugendhaft ist – „alle diese Zufälle in ein wahres Glück“ verwandeln kann, beruhen Glück und Unglück letztlich auf seinem eigenen Willen: „Wer also will, der kann beständig glücklich, und niemals unglücklich seyn, mithin ist ein jedweder seines eigenen Glücks Schmid“.58 Die Existenz von glücklichen und unglücklichen Zufällen wird damit zwar in keiner Weise bestritten, in der von Meier eingenommenen moralischen Perspektive werden sie gleichwohl vollständig dequalifiziert. Dabei mag es für die pietistisch inspirierte Moralphilosophie von Meier bezeichnend sein, dass in seiner Perspektive Glück und Unglück im Hinblick auf ihre jeweiligen Potenziale, die Glückseligkeit zu befördern, durchaus nicht gleichwertig sind. Für Meier steht außer Zweifel, dass „lauter gute, fröhliche, vergnügte und glückliche Tage“ das Gemüt verzärteln und zu „flatterhafter Leichtsinnigkeit“ verleiten, dagegen ist vielmehr die „Trübsaal“ geeignet, das Gemüt zu stärken und die Tugend anzufeuern.59 So ist es am Ende das Unglück, das besonders dazu geeignet ist, zur Tugend zu führen und damit den Tugendhaften glücklich zu machen. III. Das Glück des Einzelnen – die Subjektivierung des Glücks Meiers Betrachtungen über die menschliche Glückseeligkeit lassen sich als Gegenstück und Fortsetzung seiner früheren Überlegungen lesen: Sie halten an dem Unterschied zwischen der Zufälligkeit von Glück/Unglück auf der einen Seite und der Glückseligkeit auf der anderen fest und haben das gleiche natürlich-religiös orientierte Ziel vor Augen. Gleichzeitig fügt Meier dem eudämonistischen Diskurs der deutschen Aufklärung aber neue, ausgesprochen wichtige Aspekte hinzu, die er auf der Grundlage seiner Anthropologie, seiner Vorstellungen von Sinnlichkeit, d. h. seines Konzepts vom „ganzen Menschen“,60 und mit der Hilfe empirischer Beobachtungen gewinnt. 56  Ebd.,

S. 135. S. 136. 58  Ebd., S. 140. 59  Ebd., S. 163. 60  Siehe dazu: Meier: Betrachtungen über die Glückseligkeit, S. 14; sowie ders.: Philosophische Sittenlehre. Anderer Theil, 2. Auflage Halle 1762, S. 29 und ders.: Philosophische Sittenlehre. Fünfter Theil, 2. Auflage Halle 1774, S. 253. 57  Ebd.,



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Um diesen Beitrag wahrzunehmen und freizulegen, darf man sich freilich nicht von den – etwa im wolffianischen Umfeld – eher üblichen Äußerungen beeindrucken lassen, die sich bei Meier nicht nur nebenbei, sondern durchaus an sehr prominenten Stellen finden lassen. Denn auch Meier ist davon überzeugt, dass die Tugend „das einzige Mittel der wahren menschlichen Glückseeligkeit sey, und daß bloß das Laster die Menschen unglückseelig machen könne“.61 Die Tugend begehrt das Gute und verabscheut das Böse und bringt so „alle unsere Begierden und Verabscheuungen, in die rechte Ordnung, und verhütet alle vergeblichen Begierden und Verabscheuungen, die unser Gemüth beunruhigen können“.62 Und weil die Tugend nicht irgendein moralisches Übel verhindert, sondern – wie es ausdrücklich heißt – die „Sünde“ verhütet, ist die schon dargestellte religiöse Finalisierung des Gedankens wiederum naheliegend. Auf eine massive religiöse Volte hatte Meier in seinen Betrachtungen schon länger hingesteuert. Sie bildet den Schlusspunkt seiner Ausführungen und kommt dann als entscheidende Lösung ins Spiel, als Meier der Frage nachgeht, auf welchem Wege die „höchste Glückseeligkeit“, d. h. die „allervollkommenste Gemüthsruhe“ zu erreichen sei. Die Superlative lassen schon ahnen, worauf es Meier ankommt. Denn das einzige Mittel, die vollkommenste Gemütsruhe zu erlangen, besteht nach Auffassung von Meier darin, dass der „Mensch eine solche practische und lebendige richtige Erkenntniß von dem Laufe der Dinge in der gantzen Welt erlange, wodurch er in den Stand gesetzet werde, alle vergeblichen Begierden und Verabscheuungen zu verhüten“.63 Dass diese vollständige, d. h. auch die Zukunft umfassende Erkenntnis nicht mit den begrenzten menschlichen Mitteln möglich ist, liegt auf der Hand. Kein Mensch ist zu einer solch genauen Einsicht in die Grundlagen und den ganzen Zusammenhang dieser Welt fähig, „wenn er auch noch so verständig, tugendhaft und Einsichtsvoll seyn sollte“.64 Weil die vollständige Erkenntnis des Laufs der Dinge keine ausschließlich vernunftbasierte Erkenntnis sein kann, kann sie nur durch die Frömmigkeit zuwege gebracht werden, d. h. durch „eine vollkommene und zuversichtliche Zufriedenheit mit der göttlichen Vorsehung, und eine gänzliche Ergebung in den göttlichen Willen. Ein Mensch muß lebendig und richtig überzeugt seyn, daß alles in der Welt, vom Anfange an bis in alle Ewigkeit, von Gott schon in der Ewigkeit beschlossen; und daß dieser Rathschluß, 61  Ebd., S. 130. Vgl. auch den ersten Teil seiner Philosophischen Sittenlehre, in dem Meier feststellt: „Die Tugend muß den Menschen, auf dem Wege zu seiner Glückseligkeit, beständig leiten und führen. Und wenn sie ihn auch nur einen Augenblick verlassen sollte, so geräth er auf verführende Abwege“. Meier: Philosophische Sittenlehre, erster Theil, S. 3. 62  Ebd., S. 131. 63  Ebd., S. 178. 64  Ebd., S. 179.

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durch die Vorsehung Gottes, nach den Regeln der höchsten Güte und Weisheit ausgeführet werde“.65 Weil so glaubend eingesehen wird, dass alles gut ist, und zwar selbst dasjenige, was zunächst als widrig erfahren wird, gibt es auch keinen Grund zur Beunruhigung. Insofern ist es „nur die wahre Fröm­ migkeit“,66 die uns zu dem höchsten Gut verhilft. Wenn Meier verlangt, dass „Gott in uns wohnen“67 müsse, dann geht die religiöse Grundierung seiner Überlegungen zur Glückseligkeit doch weit über das zeitübliche Maß hinaus und kann als Schlusspunkt einer in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts verfassten Abhandlung über die Glückseligkeit in philosophischer Hinsicht nur schwerlich befriedigen. Dieses von Meier zweifellos anvisierte Ziel ­seiner Überlegungen muss zwar theoretisch ernst genommen werden, doch sollte es nicht den philosophisch interessanteren Weg verstellen, der Meier zu seinem Ziel geführt hat, finden sich auf diesem doch Einsichten, die lebensnäher und als Kritik an der philosophischen Tradition tatsächlich auch weiterführend sind. Ungeachtet dieser Befunde kann man Meiers Betrachtung über die menschliche Glückseeligkeit aber auch als den Versuch einer Phänomenologie des Glücks wahrnehmen, die nicht in erster Linie an einer moralphilosophischen Begründung oder einer religiösen Überhöhung interessiert ist, sondern eher psychologisch die „Neigung zur Glückseeligkeit“ als „das erste Triebwerk aller menschlichen Handlungen“68 in den Blick nehmen will. Als solches ist sie der „vornehmste Gegenstand der ganzen Wissenschaft von dem Menschen“,69 denn die Grundregel „suche deine Glückseeligkeit“ ist nach Auffassung von Meier ein Naturgesetz, „welches allen Menschen angebohren und in das Herz aller Menschen eingeschrieben ist“.70 Daher besitzt derjenige Philosoph nur eine elende und unbrauchbare Kenntnis von dem Menschen, der „diese Neigung des menschlichen Herzens zur menschlichen Glückseeligkeit“71 nicht hinreichend untersucht hat. Die Regel – „suche deine Glückseeligkeit“ – ist allgemein, das heißt, sie betrifft jeden und jede, doch die direkte Ansprache des Einzelnen bzw. der Einzelnen macht klar, dass die Einlösung der Regel individuell ist. Denn gesucht wird nicht die Glückseligkeit, sondern jeder und jede sucht seine bzw. ihre Glückseligkeit. Das ist kein Zufall. Meier vermittelt hier die All65  Ebd.,

S. 179–180. S. 180. 67  Ebd., S. 180. 68  Ebd., S. 7. Vgl. auch die ähnliche Formulierung in: Meier: Philosophische Sittenlehre, erster Theil, S. 2. 69  Ebd., S. 7. 70  Ebd., S. 7. 71  Ebd., S. 7. 66  Ebd.,



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gemeinheit einer philosophischen Aussage mit der Besonderheit ihrer individuellen Umsetzung, wobei es ihm offenbar um die Herausarbeitung der bislang vernachlässigten Besonderheit geht. Die Vermittlung von Allgemeinheit und Besonderheit finden sich im Text allenthalben, die Überlegungen, die Meier im Zusammenhang mit seiner Definition der Glückseligkeit anstellt, lassen den Übergang gut nachvollziehen. Meier nimmt in Anspruch, einen Begriff der menschlichen Glückseligkeit zu liefern, „welcher der Gesinnung und Denkungsart aller Menschen gemäß ist, weil er auf der Grundeinrichtung der ganzen menschlichen Natur beruht“.72 Meier stellt fest: „[S]ie [die Glückseligkeit] besteht in einem Vergnügen, aus welchen keine anderen Begierden entstehen, als solche, an deren völliger Erfüllung der Mensch gar nicht zweifelt, und mit welchen nur solche Verabscheuungen vergesellschaftet sind, an deren völliger Erfüllung der Mensch gar keinen Zweifel trägt. Folglich muß ein jeder Mensch sich, in einem jedweden Zeitpuncte für völlig glückseelig halten, in welchem er, weder eine vergebliche Begierde, noch eine vergebliche Verabscheuung, in sich fühlt. Alsdenn hat er alles, was er wünscht und verlanget. Er ist durchaus gesättigt. Entsteht in ihm eine neue Begierde, so kann er sie alsobald stillen. Es begegnet ihm nichts, was er verabscheuet, und er fürchtet nichts. […] Sein Gemüth ist ja durchaus heiter und ruhig“. Und Meier fügt hinzu: „Lasterhafte und Tugendhafte, Kinder und Männer, Freygeister und Fromme sind in diesem Begriffe mit einander einig“.73 Glückselig ist also ein Mensch, der eine „durchgängige Gemüthsruhe genießt“, er ist mit etwas zufrieden und hat an ihm genug, wenn er „lebendig erkennt, daß es zu seinem Zwecke zureichend sey; und er beruhiget sich in demselben, wenn er zugleich erkennt, daß er nicht vollkommener und vergnügter seyn könnte, wenn er auch noch mehr hätte. Wer also einer befriedigten und zufriedenen Gemüthsruhe genießt, der begehrt nichts anders, als was er haben kann, und verabscheuet nichts anders als was er vermeiden kann.“74 Entscheidend an diesen augenscheinlich der stoischen Tradition verpflichteten Überlegungen ist nun zweierlei, und hier kommen dann im Ausgang von der Allgemeinheit der philosophischen Einsicht die Besonderheit ihrer praktischen Einlösung ins Spiel: 1. ist von einem Vergnügen die Rede, das als solches auch individuell empfunden werden muss, denn die Menschen – sie seien so gebildet oder ungebildet wie sie wollen – beurteilen ihre Glückseligkeit nach „Maaßgebung ihres Vergnügens, und der Empfindung“, die ihnen vermittelt wird. „Trockene Be72  Ebd.,

S. 60. S. 61. 74  Ebd., S. 61–62. Die etwas missverständliche Rede von den ‚erfüllten Verabscheuungen‘ bedeutet nicht das Eintreffen eines erwarteten Übels, sondern im Gegenteil dessen erfolgreiche Vermeidung. Die Abscheu ermöglicht es, dem Übel aus dem Weg zu gehen. 73  Ebd.,

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weise“ – wie es an anderer Stelle heißt – vermögen da gar nichts. Glück lässt sich nicht andemonstrieren, und – so fügt Meier hinzu – empfundenes Glück lässt sich auch nicht wegdemonstrieren. Es irrt der Sittenlehrer, „wenn er alle diejenigen verdamt, welche sich für glückseelig schätzen, ob sie gleich nach seinen eigenen Einsichten nicht glückseelig sind“.75 2. Auf die „lebendige Erkenntnis“ kommt es an, also auf eine Erkenntnis, die eine Überzeugung schafft und insofern auch tatsächlich etwas bewirkt. Diese Erkenntnis ist auch – wie sollte es anders sein – eine vernünftige Erkenntnis, doch die „lebendige Erkenntnis“ trägt zudem der Endlichkeit und der Zufälligkeit, der empirischen Begrenztheiten des Menschen Rechnung, denn – so hält Meier – realitätsnah fest, gehören zu der „durchgängigen Bestimmung der jedesmaligen Erkenntniß eines Menschen […] nicht nur seine reellen und richtigen Vorstellungen, sondern auch seine Unwissenheit, und alle seine dermaligen falschen und irrigen Vorstellungen“ und schließlich seine „sinnliche Erkenntnis“.76 Denn eine bloß geistige Glückseligkeit ist keine menschliche, denn eines bloß geistigen Vergnügens ist der Mensch schlechterdings nicht fähig. Insofern ist die sinnliche Glückseligkeit notwendigerweise ein Element der höchsten und vollkommensten Glückseligkeit. Es geht bei der zur Glückseligkeit führenden „lebendigen Erkenntnis“ nicht, bzw. nicht nur um eine im eigentlichen Sinn wahre Erkenntnis, sondern auch um das für „wahr Gehaltene“. Es sucht sich nämlich „ein jeder nach seinem Geschmacke, und vermöge seiner gesamten Erkenntniß und Gesinnung, gewisse Arten des Vergnügens aus, in deren Genusse er sich für glückseelig hält“.77 In diesem Sinne haben – wie Meier betont – „alle Menschen Recht […], in so ferne sie nichts als einen Theil ihrer Glückseligkeit ansehen und schätzen“, diese auf das zu stützen, was in ihnen „ein Vergnügen verursacht, erhält oder vermehrt“.78 Weil die dazu notwendige „lebendige Erkenntnis“ von den Zufälligkeiten individueller Dispositionen abhängig ist, „kann das menschliche Geschlecht unmöglich dahin gebracht werden, sich einerley Begrif von der menschlichen Glückseeligkeit und Unglückseeligkeit zu machen“.79 Es ist also „ganz unleugbar, daß nicht zwey Menschen möglich sind, welche eines vollkommen gleichen und ähnlichen Grades der Glückseeligkeit fähig sind“, und weil ein jeder Mensch sein eigenes höchstes Gut hat, „welches von dem höchsten Gute eines jeden andern etwas verschieden ist“80, irren die Sittenlehrer, wenn sie von jedem Menschen fordern, „er solle nach derjenigen allerhöchsten Glückseeligkeit 75  Ebd., 76  Ebd., 77  Ebd., 78  Ebd., 79  Ebd., 80  Ebd.,

S. 23. S. 63. S. 49. S. 24. S. 23. S. 164.



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streben, deren überhaupt die menschliche Natur fähig ist; und wenn sie allemal einem Menschen daraus eine Sünde machen, wenn er nicht so glückseelig ist, als ein anderer Mensch“.81 Glückseligkeit ist als Ziel des menschlichen Strebens allgemein. Allgemein ist auch die Gemütsruhe als Inbegriff der Glückseligkeit, doch individuell, ja subjektiv ist der Weg, sie zu erreichen und sie zu empfinden. Glück ist hier tatsächlich subjektiv und allgemein nicht mehr kommensurabel. Nicht von ungefähr liefert Meier keine inhaltliche Bestimmung, sondern lediglich eine formale Definition der Glückseligkeit, deren inhaltliche Konkretisierung von den Präferenzen des bzw. der Einzelnen abhängig ist. Indem Meier auch die Unwissenheit (etwa des Kindes), die sinnliche Erkenntnis und selbst noch den Irrtum als Voraussetzungen für eine wahre, nämlich individuell und im konkreten Fall für wahr gehaltene Glückseligkeit mit einbezieht, freilich wohl wissend, dass eine auf Irrtum und Unwissenheit beruhende Glückseligkeit zumindest prekär ist, reflektiert er konkret auf die conditio humana und unterstellt sie nicht sofort einer moralphilosophischen oder moraltheologischen Kuratel. Im Gegenteil: Zwar sollte man die Menschen nicht regelrecht dazu auffordern, eine auf Irrtümern beruhende Glückseligkeit anzustreben, doch ist Meier entschieden davon überzeugt, dass es gerade der Irrtum ist, der – angesichts der menschlichen Schwäche – den Genuss „einer völligen Gemüthsruhe und Glückseeligkeit in diesem Leben“ erst gewährleistet. Ohne den Irrtum, d. h. ohne einen „falschen und irrigen Begriff“, den sich „der Mensch von manchen Vorfällen seines Lebens, und von manchen andern Dingen, mit denen er in einer nähern Verbindung steht“, macht, „würde er beynahe niemals wenigsten in diesem Leben zu einer wahren Gemüthsruhe gelangen können“.82 Die von Meier behauptete Bedeutung des Irrtums als subjektive Fehleinschätzung für die Erlangung und Erhaltung der Glückseligkeit führt dazu, dass die Pflicht des Verständigen, den Irrenden aufzuklären, von einer Güterabwägung abhängig ist. Falls der Irrtum ein kleineres Übel ist, das durch größeren Nutzen aufgewogen wird, „so erfordert es die wahre Menschenliebe, daß man den Irrenden in seinem Irrthume ruhig und glückseelig seyn lasse“.83 Nur im umgekehrten Fall gebietet die gleiche wahre Menschenliebe, den glückselig Irrenden auf die unglückseligen Folgen seines Irrtums aufmerksam zu machen und ihn in seiner irrtüm­ lichen Glückseligkeit zu stören. Wenn Meier die Forderung „mancher Sittenlehrer“, zur Erlangung wahrer Glückseligkeit müsse jeglicher Irrtum vermieden werden, für „eine unüberlegte Sache“ hält, dann hatte er zweifelsohne Christian Wolff und seine unmittelbaren Anhänger vor Augen, denn eine auf 81  Ebd.,

S. 164. S. 92–93. 83  Ebd., S. 95–96. 82  Ebd.,

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Irrtum beruhende Glückseligkeit, die zudem noch als eine ‚wahre‘ ausgegeben wird, dürfte für Wolff und die Seinen schlechterdings undenkbar gewesen sein. Die Endlichkeit und Zufälligkeit, ja Dürftigkeit des Menschen ist ihm nicht Anlass zur moralischen Verurteilung, sondern zu einer relativierenden, pädagogisch inspirierten Menschenliebe. Das wird auch deutlich, wenn er gegen Ende seiner Betrachtungen die reine und die gemischte Glückseligkeit einander gegenüberstellt und mit Blick auf die reine Glückseligkeit konstatiert, dass diese die Glückseligkeit eines Menschen darstellt, welche mit keiner Sünde und keiner bösen Folge vermischt ist. Doch „einer solchen reinen, heitern und lautern Glückseeligkeit ist nur ein Mensch fähig, welcher vollkommen heilig und ohne alle Sünde ist“.84 Was nichts anderes heißt, als dass niemand dazu fähig ist. Denn eine menschliche Glückseligkeit zu denken, in „deren Besitze der Mensch gar keine Unvollkommenheiten und Uebel hat, ist widersprechend, ein süsser Traum“.85 Der Mensch aber ist wirklich und eben kein Traum, er ist tugendhaft und lasterhaft zugleich; seine Glückseligkeit kann daher nur mit Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten vermischt sein. Dabei bleibt sie doch immer eine wahre Glückseligkeit, und zwar selbst dann noch, wenn die mit ihr vergesellschaftete Unglückseligkeit das Übergewicht hat. Meiers Überlegungen zur reinen und zur vermischten Glückseligkeit lesen sich wie eine realitätsnahe Absage an die zumindest im Diesseits unerreichbare reine Glückseligkeit; dass Meier schließlich doch noch behauptet, die reine Glückseligkeit sei allemal besser als die vermischte, hat damit zu tun, dass er am Ende doch wieder in die religiöse Perspektive einschwenkt. Die Entschiedenheit, mit der dies geschieht, mag erstaunen, doch passt sie durchaus zu der von Anfang an bestehenden religiösen, zumindest natürlich-theologischen Grundierung von Meiers Denken. Nicht auszuschließen ist, dass Meiers traditionsorientiertes Plädoyer für die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit in ihrer prononcierten religiösen Dimensionierung auch mit Diskussionen zu tun hat, die durch den Anti-Seneca des Materialisten und Epikurärers Julien Offray de La Mettrie provoziert worden waren. Der Text war zunächst als begleitende Abhandlung zu einer Seneca-Übersetzung erschienen und wurde 1750 selbstständig publiziert; er hatte – wie La Mettrie in einer späteren Ausgabe selbst mitteilt – wie kein zweites Buch die Wut der

84  Ebd.,

S. 134. S. 135–136. Vgl. auch Meier: Metaphysik, Dritter Theil, S. 475: „Die Glückseligkeit der menschlichen Seele kann niemals ganz rein seyn, sondern sie ist allemal mit vielen zufälligen Uebeln untermengt, weil die Seele ein endliches Ding ist.“ 85  Ebd.,



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Frommen erregt.86 Meier konnte mit La Mettries Wortmeldung selbstverständlich in keiner Weise einverstanden sein. Die Vorstellung eines materialistischen Konzepts von Glückseligkeit dürfte er sogar für gefährlich gehalten haben. Dass er daher eine philosophische Gegenreaktion für notwendig hielt, die in ihrem dezidierten Antimaterialismus entschieden religiös argumentiert, dürfte vor diesem Hintergrund nachvollziehbar sein. Freilich hat Meier sein religiöses Engagement sehr weit getrieben. Es führte ihn zu einer im Detail kaum erträglichen Rechtfertigung und Affirmation aller Zumutungen, die dem Menschen – verschuldet oder unverschuldet – zustoßen können, zugleich aber hinderte ihn dies nicht, durch die lebensnahe Beobachtung des „ganzen Menschen“ dem Glückseligkeits-Diskurs seiner Zeit wichtige Aspekte hinzuzufügen. Dass diese am Ende – etwa durch die Beschreibung und Wertschätzung des subjektiven und damit begrenzten Glücks – die moralische Beanspruchung des Glücks in Gefahr bringen und schließlich sogar, zumindest der Tendenz nach, die Division der einmal für notwendig gehaltenen Verbindung von Glück und Tugend betreibt, dürfte er ganz sicher nicht gewollt haben. Literaturverzeichnis Arend, Stefanie: Glückseligkeit. Geschichte einer Faszination der Aufklärung. Von Aristoteles bis Lessing, Göttingen 2019. Aristoteles: Nikomachische Ethik, Stuttgart 1983. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Philosophische Brieffe von Aletheophilus, Frankfurth/Leipzig 1741. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Metaphysica. Metaphysik übers., eingel. und hrsg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011. Edelmann, Ronny: Bibliographie der Werke von und der Forschungsliteratur zu ­Georg Friedrich Meier, in: Frank Grunert und Gideon Stiening (Hrsg.): Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als „wahre Weltweisheit“, Berlin/Boston 2015, S. 382–315. Gottsched, Johann Christoph: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Praktischer Theil, in: Ders.: Ausgewählte Werke. Hrsg. von Philipp M. Mitchell. Fünfter Band, zweiter Teil, Berlin/New York 1983. Grunert, Frank: Die Objektivität des Glücks. Aspekte der Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung, in: Frank Grunert und Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Aufklärung als praktische Philosophie, Tübingen 1998. Grunert, Frank: „[S]elbst Schuld“. Zum Begriff der Glückseligkeit bei Johann Georg Feder, in: Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth und Gideon Stiening (Hrsg.): Johann 86  Siehe zu La Mettries Beitrag zur Glückseligkeits-Diskussion: Arend 2019, S. 249–275.

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Glück, Unglück und Glückseligkeit im Werk von Georg Friedrich Meier29

Schwaiger, Clemens: Alexander Gottlieb Baumgarten – Ein intellektuelles Porträt. Studien zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011. Thomasius, Christian: Fundamenta iuris naturae et gentium (Halle 1705). 2. ND der 4. Aufl. Halle 1718, Aalen 1979. Walch, Johann Georg: Philosophisches Lexicon. Vierte Aufl, Leipzig 1775. Wolff, Christian: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit. 4. Auflage Frankfurt und Leipzig 1734. ND: Mit einer Einleitung von Hans Werner Arndt. In: Christian Wolff: Gesammelte Werke. I. Abt. Deutsche Schriften. Band 4, Hildesheim/Zürich/New York 1996. Wolff, Christian: Philosophia Practica Universalis. Pars Prior. Frankfurt und Leipzig 1738. ND Christian Wolff: Gesammelte Werke. II. Abt. Lateinische Schriften. Band 10, Hildesheim/Zürich/New York 1971. Zenker, Kay: Zwei Jahrzehnte Volksaufklärung (1748–17689). Meier als Herausgeber und Autor Moralischer Wochenschriften. In: Frank Grunert und Gideon Stiening (Hrsg.): Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als „wahre Weltweisheit“, Berlin/Boston 2015. S. 55–80.

König Alkohol Von Hans-Jürgen Luderer I. Einleitung 1. König Alkohol 1925 erschien das Buch „König Alkohol“ des US-amerikanischen Journalisten und Schriftstellers Jack London (1876–1916) erstmals in deutscher Übersetzung. Im Klappentext der deutschen Übersetzung von 1925 ist zu lesen: „‚König Alkohol‘ ist ein faszinierender, stark autobiographisch gefärbter Roman“, d. h. eine fiktive Geschichte, die viele Elemente seines realen Lebens beinhaltet. Im Folgenden werden wir uns zunächst mit Jack Londons realem Leben und seiner Geschichte von „König Alkohol“ auseinandersetzen. Anschließend sollen die Unterschiede zwischen dem amerikanischen Originaltext und der deutschen Übersetzung von 1925 aufgezeigt und die Gründe für diese Unterschiede diskutiert werden. Schließlich werden wir auf die ­Geschichte der amerikanischen Prohibition, die Trinksitten im Amerika des 17. und 18. Jahrhunderts und die Theorien der Alkoholkrankheit im 19. und 20. Jahrhundert eingehen. 2. Jack London – Biographie1 Jack Londons kurzes Leben verlief alles andere als gradlinig. Er wurde am 12. Januar 1876 in San Francisco als Sohn der Pensionspächterin Flora Wellman und des reisenden Astrologen William Chaney unter dem Namen John Griffith Chaney geboren.2 Sein leiblicher Vater und seine Mutter lebten nur von 1874 bis 1875 zusammen. Die „San Francisco Chronicle“ berichtete am 4. Juni 1875, Chaney habe die schwangere Flora Wellmann verlassen, da 1  Biographien, Bilder und weitere Informationen finden sich auf verschiedenen websites, u. a. auf der Jack-London-Site http://www.jack-london.org/main.htm, Jack London international http://jack-london.org/ oder der Jack London Society https:// jacklondonsociety.org/. Letzter Zugriff: 26.12.2018. 2  Stasz 2003, 2017, Krausnick 2006.

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sie nicht zu einer Abtreibung bereit war. Sie habe daraufhin einen Suizidversuch unternommen, aber die werdende Mutter und das ungeborene Kind überlebten. Am 7. September 1876 heiratete Flora Wellman den Geschäftsmann und Farmer John London, der ihren Sohn ein halbes Jahr später adoptierte. Das Kind wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf, da die Geschäfte des Vaters immer wieder scheiterten. So kam es, dass er schon mit 11 Jahren als Zeitungsausträger zum Familieneinkommen beitragen musste.3 1890 schloss er die Schule ab. Bis 1894 war er „Hobo“, d. h., er gehörte zur Gruppe der US-amerikanischen Wanderarbeiter. Er verdiente sein Geld in einer Konservenfabrik, versuchte sein Glück als Austernpirat in der San Francisco Bay, als Matrose auf einem Robbenfangboot im nördlichen Pazifik und Hilfskraft in einer Jutefabrik.4 1894 beteiligte er sich am Marsch der Arbeitslosen auf Washington (Jacob Coxey’s Army). Im nächsten Jahr ging er auf die High-School zurück, nach einem Jahr wurde er zum Studium an der Berkeley University zugelassen. Im Februar 1897 wurde er nach einer sozialistischen Rede in Oakland verhaftet. Im selben Jahr begann der Goldrausch (Klondike Gold Rush). Er verließ die Universität ohne Abschluss und brach nach Alaska auf. 1898 kehrte er krank und mittellos nach Kalifornien zurück und begann, seine Erinnerungen von der „white frontier“ aufzuschreiben. Im Januar 1899 veröffentlichte er seine erste Kurzgeschichte „To the Man on Trail“, gefolgt von seinem ersten Buch „The Son of the Wolf“. 1900 heiratete er Bessie Madden, 1901 und 1902 wurden seine beiden Töchter geboren. Er trat in die sozialistische Partei ein und veröffentlichte Sozialreportagen, die er, als Seemann verkleidet, in London recherchiert hatte. 1904 erschien einer seiner bekanntesten Romane, „The Sea Wolf“. 1905 wurde die unglückliche Ehe geschieden, im selben Jahr heiratete er Charmian Kittredge. Kurz darauf begann er eine Vortragsreise, auf der er zum Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft aufrief. Er selbst war inzwischen zu Ruhm und Geld gekommen und unternahm mit seiner Frau eine Weltumsegelung auf seiner eigenen Yacht. 1909 kehrte er krankheitsbedingt zurück, veröffentlichte einen Band mit Südseegeschichten und baute für sich und seine Frau eine Ranch im Sonoma Valley. 1913, auf dem Gipfel seines literarischen Ruhms, war er der am besten verdienende Schriftsteller der Welt. In diesem Jahr wurde bei der Operation an einer Appendizitis die Diagnose einer chronischen Nephritis gestellt. Drei Jahre später starb er 40-jährig an Nierenversagen. 3  Ayck

2000, S. 15 f. 1907.

4  London



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II. John Barleycorn – alcoholic memoirs 1. Der Buchtitel „König Alkohol“ erschien im amerikanischen Original 1913 unter dem Titel „John Barleycorn“. Dieser Name ist eine spöttische, verharmlosende Bezeichnung für den Alkohol.5 Der Name „John Barleycorn“ taucht erstmals in einer Ballade des schottischen Dichters Robert Burns (1759–1796)6 auf. Drei Könige beschließen, John Barleycorn zu töten, indem sie ihn unterpflügen und mit Erde bedecken, aber die Gerste (barley) wächst in der Erde und wird zum Whisky. John Barleycorn ist nicht totzukriegen. There went three kings into the east, Three kings both great and high; And they have sworn a solemn oath, John Barleycorn shall die. They took a plough and plough’d him down, Put clods upon his head; And they have sworn a solemn oath, John Barleycorn was dead. … They wasted o’er a scorching flame The marrow of his bones; But the miller used him worst of all, For he crush’d him between two stones. And they have strain’d his very heart’s blood, And drank it round and round, And still the more and more they drank, Their joy did more abound. So, neighbours all, make sad lament. And sorely weep and mourn, For now you’ve heard the doleful end Of bold John Barleycorn.7

5  http://de.wikipedia.org/wiki/John_Barleycorn, letzter Zugriff 26.12.2018 (barley = Gerste, corn = Mais). 6  Das bekannteste seiner Gedichte ist der Text des Liedes „Auld Lang Syne“. http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Burns, letzter Zugriff 26.12.2018. 7  A First Series of Hymns and Songs/Descriptive Songs/John Barleycorn. (2017, August 19). In Wikisource. https://en.wikisource.org/w/index.php?title=A_First_ Series_of_Hymns_and_Songs/Descriptive_Songs/John_Barleycorn&oldid=6973636, letzter Zugriff 2.1.2019.

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2. Alcoholic memoirs Jack London schilderte in „John Barleycorn“ seine Lebensgeschichte mit Blick auf den Alkohol. Er nannte sie im Untertitel „Alcoholic memoirs“ und nicht „Memoirs of an alcoholic“, da er sich nicht als Alkoholiker sah. Seinen ersten Rausch erlebte er im Alter von 5 Jahren beim Bierholen für den Vater, seinen zweiten Rausch mit 7 Jahren, als er von Gleichaltrigen zum Weintrinken genötigt wurde. Schon als Kind gefiel ihm die Atmosphäre der Saloons, in der sich seine Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer und sein Stolz auf die erwachende Männlichkeit entwickelte. „I wanted to go to sea. I wanted to get away from monotony and the commonplace. I was in the flower of my adolescence, athrill with romance and adventure, dreaming of wild life in the wild man-world.“ (S. 27)8

In den Saloons wurde verhandelt, Erfolge wurden gefeiert, und John Barleycorn half allen, sich großartig zu fühlen: „And, as John Barleycorn heated his way into my brain, thawing my retinence, melting my modesty, talking through me and with me and as me, my adopted twin brother and alter ego, I, too, raised my voice to show myself a man and an adventurer.“ (S. 30)

Er beschrieb aber auch die Todessehnsucht in der Euphorie eines schweren Rauschs („It was a hero’s death, and by the hero’s own hand and will.“, S. 69), den Verfall von Geist und Körper und den Verfall von Interessen, Sitten und Hemmungen. „The whispers from the back of life were growing dim as my mind and body sottened. I might as well rot and die here in Oakland as anywhere else. And I should have so rotted and died and not in very long time either, at the pace John Barleycorn was leading me, had the matter depended wholly on him. I was learning what it was to get up shaky in the morning, with a stomach that quivered, with fingers touched with palsy, and to know the drinker’s need for a stiff glass of whisky net in order to brace up. Oh! John Barleycorn is a wizard dopester. Brain and body, scorched and jangled and poisoned, return to be tuned up by the very poison that caused the damage.“ (S. 78) „John Barleycorn, by inhibiting morality, incited to crime. Everywhere I saw men doing, drunk, what they never dream of doing sober. And this wasn’t the worst of it. It was the penalty that must be paid. […] The other phase of death-road was that of the habitual drunkards, who had a way of turning up their toes without apparent provocation. When they took sick, even with trifling afflications that any ordinary man could pull through, they just pegged out. Sometimes they were found unattended and dead in their beds, on occation their bodies were dragged out of the water.“ (S. 85/86)

8  Zitate

des amerikanischen Originals nach London 1989.



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Eine weitere Episode, die Fahrt zu den japanischen Bonin-Inseln, dem heutigen Ogasawarajima, im Jahr 1893 (Kapitel 16, Am, S. 88 ff., D, S. 72 ff.) zeigte eine weitere Eigenheit John Barleycorns: er kann warten, bis er seine Macht zeigt. Jack London und die anderen amerikanischen Seeleute waren 51 Tage lang abstinent und schmiedeten Pläne für die Besichtigung der tropischen Inseln. Schließlich war es für viele von ihnen das erste Mal, dass sie den Boden eines fremden Landes betraten. Nach der Landung kamen sie bis zu den Hafenkneipen, dann hatte John Barleycorn wieder die Regie übernommen. Jack London betonte, dass er kein Bedürfnis hatte, zu trinken. Er habe nur ein guter Kamerad sein wollen. Der Tag endete trotzdem für ihn wie für die anderen Matrosen in grölenden Gesängen, wüsten Schlägereien und demolierten Lokalen. Die kleine, überforderte Polizeimannschaft musste dem Treiben hunderter betrunkener Seeleute hilflos zusehen. Als Jack London 1895 sein Studium in Berkeley begann, bemerkte er erstmals ein aktives Verlangen, sich nach einem bestandenen Examen zu betrinken (Am, S. 129, D, S. 103). Dasselbe Bedürfnis überkam ihn aber nach der Arbeit in einer Wäscherei, die er aus finanziellen Gründen angenommen hatte: „And when Saturday night came, and the week’s work was over until Monday morning, I knew only one desire besides the desire to sleep, and that was to get drunk. This was the second time in my life that I had heard the unmistakable call of John Barleycorn. The first time it had been because of brain-fog. But I had no overworked brain now. On the contrary, all I knew was the dull numbness of a brain that was not worked at all.“ (S. 138)

Mit Erschrecken blickt Jack London auf seine Zeit zurück, als er zu Ruhm und Reichtum kam und er den Alkohol sowohl zum Abschalten und Vergessen als auch zur Steigerung des Wohlempfindens einsetzte. „I had no troubles. The bills were all paid, and a surplus of money was rolling in on me […] I felt so good, that somehow, somewhere, in me arose an insatiable greed to feel better. I was so happy that I wanted to pitch my happiness even higher. And I knew the way. Ten thousand contacts with John Barleycorn had taught me.“ (S. 165 f.)

Schließlich begann er, regelmäßig zu trinken. Er begann am Vormittag nach einigen Stunden Arbeit an seinem Manuskript und setzte den Konsum bis zum Abend fort. Schließlich wurde sein Schlaf unruhiger, und er erwachte am Morgen. „[…] with mouth parched and dry, with a slight heaviness of head, and with a mild palpitation in the stomach. In fact I did not feel good. I was suffering from the morning sickness of the steady heavy drinker. What I needed was a pick-me-up, a bracer. Trust John Barleycorn, once he has broken down a man’s defense. So it was a drink before breakfast that to put me right for breakfast – the old poison of the snake that has bitten one!“ (S. 182 f.)

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Vieles, das wir heute über das Leben Alkoholkranker wissen, findet sich in diesem Buch: Der Kater nach einer durchzechten Nacht, der körperliche Entzug und die Unfähigkeit oder der Unwille, das alles als persönliches und gesundheitliches Problem zu erkennen. Die Selbstrechtfertigung der Personen, die zu viel trinken, nennt Jack London „Weiße Logik“, und er personalisiert sie als Eigenschaft John Barleycorns. „ ‚Let the doctors of all schools condemn me,‘ White Logic whispers as I ride along. ‚What of it? I am truth. You know it. You can’t combat me. Life lies in order to live. Life is a perpetual lie-telling process […]‘ “ (S. 192) „Cheer up and take a drink. We know, we illuminated, you and I, all the folly and the farce.“ (S. 194)

John Barleycorn erscheint als Lügner und Betrüger, der sich vieler Verkleidungen bedient: Als väterlicher Freund, der Wärme, Geborgenheit und Süßigkeiten schenkt, als Saufkumpan auf dem Weg zur Welt der Erwachsenen, aber auch als Verbrecher, der fast zum Kindsmörder wurde und später geistigen und körperlichen Tribut fordert. Im letzten Kapitel beschreibt Jack London seine Fahrt mit dem eigenen Schiff, die ihn von Baltimore über Kap Hoorn bis nach Seattle führte. Er erwähnt, dass er auf der gesamten Fahrt keinen Alkohol getrunken habe, weil er nicht das Bedürfnis gehabt habe. Daraus habe sich die Frage ergeben: wenn das so leicht ist, warum solle er nicht genau so weitermachen, wenn er an Land sei? Er habe sich diese Frage genau überlegt. Zunächst einmal sei er überzeugt, „[…] that not one man in thousand, or in a hundred thousand is a genuine, chemical dipsomaniac. Drinking, as I deem it, is practically entirely a habit of mind. It is unlike tobacco, or cocaine, or morphine […]“ (S. 205)

Er sei kein Alkoholiker, sondern ein Gewohnheitstrinker, und deshalb werde er nach der Fahrt wieder trinken. „Glass in hand! There is a magic in this phrase […] It is a habit of mind to which I have been trained all my life. It is now part of the stuff that composes me.“ (S. 207)

Der Alkohol gehöre zu ihm und zu seinem Leben, und darauf wolle er nicht verzichten. Er bedauere aber, dass er überhaupt John Barleycorn kennengelernt habe. Die Lösung des Problems liege in der Zukunft. Um das psychische und soziale Verlangen nach Alkohol überhaupt nicht entstehen zu lassen, müsse der Alkohol aus dem Leben der Menschen verbannt werden.



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3. Der amerikanische Text und die deutschen Übersetzungen von 1925 und 2014 Die Unterschiede zwischen dem amerikanischen Original und der deutschen Übersetzung von 1925 beschränken sich nicht nur auf den Buchtitel, auch den Untertitel „Roman“ findet man nicht. Zudem wurden Textpassagen, die auf den nichtfiktionalen Charakter des Buchs hinweisen, verändert. In der Einleitung gibt Jack London die Aufforderung seiner Frau Charmian Kittredge mit den Worten wieder: „You have shown yourself […] a habitual drinker, one who has made John Barleycorn’s acquaintance through long years of rubbing shoulders with him. Write it up and call it ‚Alcoholic Memoirs‘ “. (S. 5)9

In der deutschen Übersetzung von 1925 liest man: „Du hast gezeigt, dass du selbst ein Gewohnheitstrinker (bist), einer, der die Bekanntschaft König Alkohols gemacht hat, als er jahrelang Schulter an Schulter mit ihm marschierte. Schreib es auf und nenn es ‚König Alkohol‘ “. (S. 8)

Das Wort „alcoholic memoirs“ taucht in dieser deutschen Übersetzung nicht auf. Hat Jack London es tatsächlich als Lebenserinnerungen gemeint und nicht als einen autobiographisch gefärbten Roman? In einem Brief von 1915 schreibt er hierzu: „John Barleycorn is frankly and truthfully autobiographic. There is no poetical license in it. It is a straight, true narrative of my personal experiences, and it is toned down, not up.“10

An einer weiteren Stelle in „John Barleycorn“ betont Jack London erneut den Charakter seines Buches als autobiographischer Tatsachenbericht, und dieses Mal weicht der deutsche Text von 1925 besonders grob vom amerikanischen Original ab: „I am a fact. My drinking is a fact. My drinking is a thing that has happened, and is no theory nor speculation; and, as I see it, it but lays the emphasis on the power of John Barleycorn – a savagery that we still permit to exist, a deadly institution that lingers from the mad old brutal days and that takes its heavy toll of youth and strength and high spirit, and of very much of all of the best we breed.“ (S. 169) „Groß ist die Macht König Alkohols, dieses wilden Tieres, dem wir gestatten, frei umherzuschweifen, und dem wir tödlichen Tribut entrichten vom Besten, was wir haben: Jugend, Kraft und Edelmut.“ (S. 127)

2014 erschien „John Barleycorn“ in einer neuen Übersetzung, die alle diese Textstellen korrekt wiedergibt. Der Titel und die Gattungsbezeichnung 9  Text und Seitenzahlen der amerikanischen Zitate nach London 1989, Text und Seitenzahlen der deutschen Zitate nach London 1925. 10  Sutherland 1989, S. XVIII.

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„Roman“ sind geblieben, da Jack Londons Erinnerungen an sein Leben mit dem Alkohol im deutschsprachigen Raum als „König Alkohol“ bekannt ist. Die Sprache der neuen Übersetzung ist nüchterner und präziser, der deutsche Text wurde, wie der amerikanische, mit einem Nachwort versehen sowie mit Anmerkungen und einer Zeittafel ergänzt. Insofern ist es mittlerweile möglich, das von Jack London veröffentlichte Buch unverfälscht in deutscher Sprache zu lesen. 4. Wie sind die Unterschiede zwischen dem amerikanischen Originaltext und der deutschen Übersetzung zu erklären? Es stellt sich die Frage, was den Übersetzer der deutschen Ausgabe von 1925 dazu bewegte, den Charakter des Buchs als Tatsachenbericht so zu verschleiern, dass er ganze Textpassagen umschrieb. Ein Blick in die Geschichte der Rezeption dieses Buchs macht die Absicht des Übersetzers nachvollziehbar. „John Barleycorn“ erschien zunächst vom 15. März bis 3. Mai 1913 als Vorabdruck in der „Saturday Evening Post“. Es war die erste Darstellung des Alkoholismus in der amerikanischen Literatur. Die Irritation angesichts dieser Enthüllungen war gewaltig. Der größte Star der literarischen Szene, jugendlich, gutaussehend und kraftvoll, gestand, ein Trinker zu sein. Die Reaktionen reichten von Bewunderung bis zu Bestürzung und offener Ablehnung. Die New York Times lobte das Werk euphorisch, während André Tridon, ein sozialistischer Weggefährte, feststellte, dass die literarische Qualität wohl unter dem Trinken gelitten hatte.11 Wahrscheinlich wollte Erwin Magnus, der Übersetzer der deutschen Erstausgabe von 1925, genau das vermeiden. Deshalb veränderte er gezielt alle Textstellen, die das Andenken des Autors, der neun Jahre vor der Veröffentlichung gestorben war, hätten beschädigen können. „König Alkohol“ sollte ein Roman sein, der sich an Erfahrungen eines Autors anlehnt, der gelegentlich zu viel getrunken hat und deshalb weiß, wie sich das anfühlt.

11  Wolf

2014, S. 251, Sutherland 1989, S. XXXVff.



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III. „John Barleycorn“, die amerikanische Prohibition und die Entwicklung des Krankheitskonzepts des Alkoholismus 1. „John Barleycorn“ und die amerikanische Prohibition: Was veranlasste Jack London zu dem für ihn und seine Karriere riskanten Schritt der Veröffentlichung seiner „alkoholischen L ­ ebenserinnerungen“? Jack London schrieb „John Barleycorn“ aus dem Bedürfnis heraus, die Jugend vor seinen Fehlern zu bewahren. Wiederholt äußerte er sein Bedauern, überhaupt mit Alkohol in Berührung gekommen zu sein. Im ersten Kapitel formulierte er eine politische Vision: das Frauenwahlrecht mit dem Ziel der Unterstützung der Prohibitionsbewegung. Diese Vision ging in Erfüllung.12 Im Jahr 1914 wurde das Frauenwahlrecht in Illinois eingeführt. Sofort wurden 1.000 Saloons geschlossen. Auszüge aus „John Barleycorn“ wurden durch die „Womans’ Christian Temperence Union“ veröffentlicht. Die Beschreibung betrunkener Seeleute in „John Barleycorn“ hatte zur Folge, dass bei der US Navy 1914 ein Alkoholverbot erlassen wurde, das heute noch gültig ist. Die Prohibitionsbewegung wurde durch bekannte Industrielle (u. a. John D. Rockefeller) mit der Hoffnung auf Steigerung der Produktivität durch nüchterne Arbeiter unterstützt. 1920 feierten die „Progressive Party“, die „Temperance Movement“ und die „Votes for Women Pressure Group“ ihren entscheidenden Erfolg: Die USA waren 13 Jahre lang trocken. Ein wichtiger Anfangserfolg der Prohibition war der Rückgang des Alkoholkonsums in der Arbeiterklasse. Wenig später erfolgte jedoch die Übernahme von Produktion und Vertrieb alkoholischer Getränke durch Untergrundorganisationen. Die Grenze zwischen den USA und Kanada erwies sich als durchlässig. Der Transport von kanadischem Whisky in die USA war kein Problem. Es entstanden kleine illegale Destillerien („Bathtub-gin“), der Vertrieb erfolgte über kleine illegale Geschäfte und Clubs. Wer Alkohol wollte und Geld hatte, konnte ihn kaufen. Die Einhaltung der Prohibition war nicht kontrollierbar. Prominente Großunternehmer setzten sich deshalb für die Abschaffung der Prohibitionsgesetze ein. 1933 unterzeichnete Präsident Franklin D. Roosevelt ein Gesetz, das die Prohibition aufhob. Trotzdem war nach der Prohibition vieles anders als vorher. Die Einstellung zum Trinken hatte sich geändert, die Trinkkultur im Nordamerika wurde wesentlich restriktiver, und die Saloons verschwanden vollständig. Zudem wurde das Krankheitskonzept des Alkoholismus, das zu Beginn des 19. Jahr12  Levine

1982.

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hunderts entwickelt wurde und gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit geriet, wiederentdeckt und systematisch beforscht. Zum Verständnis dieser Veränderungen ist es hilfreich, die amerikanische Trinkkultur des 17.18. Jahrhunderts und die ersten Formulierungen eines Krankheitskonzepts der Trunksucht zu betrachten. 2. Trinken und Trinkkultur im Nordamerika des 17.–19. Jahrhunderts13 Bekanntlich gelang die Besiedelung Nordamerikas durch Europäer erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts, d. h. mehr als hundert Jahre nach der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus (1492). Alkoholische Getränke spielten im nordamerikanischen Alltag des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts eine große Rolle. Sie wurden als Nahrungsmittel betrachtet, und Trinken großer Mengen von Alkohol war bei Festen jeglicher Art selbstverständlich. Der Alkohol floss, unabhängig von der Tageszeit, überall, zu Hause, bei der Arbeit und auf Reisen, vor allem aber in den Lokalen („taverns“), für die sich ab 1800 die Bezeichnung „Saloon“ einbürgerte. Der Saloon entsprach weitgehend den Klischees der Wildwestfilme. Er war, wie Jack London in „John Barleycorn“ beschrieb, in der Welt der Männer das Zentrum des sozialen Lebens. Frauen traten in größeren Saloons, die auch Übernachtungsmöglichkeiten anboten, als Prostituierte oder Musikerinnen in Erscheinung. Trunkenheit wurde in dieser Zeit nicht als Problem gesehen, und dementsprechend wurde jedem Mann das Recht auf Rausch zugestanden. Wohlhabende Trinker wurden genauso geschätzt wie Personen ihrer sozialen Klasse, die wenig oder keinen Alkohol zu sich nahmen. Arme Trinker wurden wegen ihrer Armut sozial ausgeschlossen, nicht wegen des Trinkens. Mahnende Worte in Bezug auf den Alkohol kamen vor allem von kirchlicher Seite. Gebildete Puritaner sprachen gegen Ende des 17. Jahrhunderts erstmals von der „Sünde“ oder dem „Laster“ des schweren Trinkens und warnten vor den Folgen für den Glauben, das finanzielle Wohlergehen und die Familie. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde schweres Trinken jedoch als Gewohnheit angesehen, nicht als Krankheit. In der damaligen Sicht war es die persönliche Entscheidung eines Menschen, zu trinken oder das Trinken zu beenden. An eine Einschränkung des freien Willens als Folge des Trinkens dachte noch niemand.

13  Ausführliche

Übersicht bei Levine 1978.



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3. Das Krankheitskonzept des Alkoholismus im 19. und 20. Jahrhundert Ein Krankheitskonzept des Alkoholismus wurde in Nordamerika erstmals durch den Arzt und Politiker Benjamin Rush formuliert.14 Er führt aus, dass die Entscheidung zum Trinken zunächst aus freiem Willen erfolge. Im weiteren Verlauf entwickeln sich Trinkanfälle („paroxysms“), die immer häufiger auftreten und von den Betroffenen nicht verhindert werden könnten. Die „drunkenness“15 sei deshalb eine Krankheit des Willens. Nach seiner Erfahrung sollten die Betroffenen, die dem Alkohol verfallen waren,16 sofort und vollständig aufhören, alkoholische Getränke anzurühren. Rush beschrieb hier zum ersten Mal ein Symptom, das später „Kontrollverlust“ genannt wurde, und er formuliert ebenfalls zum ersten Mal das Abstinenzparadigma, das die Suchttherapie bis heute entscheidend bestimmt. Zusätzlich warnte er vor den körperlichen, psychischen und sozialen Folgen übermäßigen Trinkens. Er schloss seine Streitschrift „Inquiry into the Effects of Ardent Spirits Upon the Human Body and Mind“17 mit dem Appell, „unsere Mitmenschen vor dem großen Zerstörer ihres Lebens und ihrer Seele“ zu retten. Hierzu schlug er vor, spezielle Einrichtungen („asylums“) zu schaffen, in denen Trunksüchtige behandelt werden konnten. Rushs Krankheitskonzept der Trunksucht und seine Erfahrung, dass die einzig sinnvolle Lösung des Problems in der lebenslangen Abstinenz der Betroffenen besteht, wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von vielen Fachkollegen übernommen. Die National Temperance Society, die Dachgesellschaft der amerikanischen Temperenzgesellschaften, sah es bis in die 1880-er Jahre hinein als ihre wesentliche Aufgabe an, sich für die Einrichtung von Trinkerheilstätten, für die Forschung über die Trunksucht und für einen verständnisvollen Umgang mit Trunksüchtigen einzusetzen. In ihrer Sicht waren die Betroffenen Opfer des Alkohols, die kompetente Hilfe benötigten.18 Die Temperenzgesellschaften arbeiteten damals ähnlich wie die Anonymen Alkoholiker und andere Selbsthilfeorganisationen heute. Dabei spielten Aussagen von Betroffenen eine nicht unwichtige Rolle. In den 1840er Jahren berichteten viele von ihnen in Publikationen der Temperenzgesellschaften, wie sie den Verlust der Kontrolle über das Trinken verloren und nur 14  Rush

1810.

15  „Drunkenness“

bedeutet sowohl Trunkenheit als auch Trunksucht. verwendet hier den Terminus „addicted“ im Sinn von „dem Alkohol verfallen“. Die heutige Bedeutung dieses Wortes im Sinne von „süchtig“ oder „abhängig“ gab es damals noch nicht. 17  Rush 1814. 18  Davis 1875. 16  Rush

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durch vollständige Abstinenz wieder zu einem normalen Leben zurückgefunden hatten.19 Das gewohnheitsmäßige Trinken wurde in der Regel als erbliche Krankheit angesehen.20 Genetisch weitergegeben wurde nach dieser Theorie die verminderte Widerstandsfähigkeit gegen die Versuchungen des Alkohols. Da der Alkohol als Quelle des Leidens der Trunksüchtigen angesehen wurde, geriet aber auch moderates Trinken zunehmend in die Kritik. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wandelte sich das Paradigma der Temperenzorganisationen. Im Zentrum der Aktivitäten stand zunehmend der Alkoholkonsum als solcher und seine Folgen. Die Forderung nach Alkoholabstinenz für alle führte schließlich, wie oben beschrieben, zur Prohibition. Das Krankheitsmodell des Alkoholismus geriet dabei aus dem Blickwinkel vieler Temperenzler, und damit auch die Empathie für die Betroffenen. 1933, nach dem Ende der Prohibition, wurde das Yale Center of Alcohol Studies gegründet. Der Leiter, E. M. Jellinek, der in den 1950-er Jahren für die WHO tätig war, beeinflusste die Alkoholismusforschung über viele Jahre. Seine Unterscheidung zwischen Missbrauch und Abhängigkeit wurde allgemein akzeptiert, und seine Klassifikation der Missbrauchs- und Abhängigkeitstypen fand Eingang in zahlreiche Lehrbücher bis in die 1990-er Jahre hinein. In seinem 1960 erschienenen Buch „The disease concept of alcoholism“ nannte er zwei Typen des Missbrauchs, den Alpha-Alkoholismus (Alkohol­ exzesse mit Perioden der Abstinenz oder des mäßigen Trinkens) und BetaAlkoholismus (rauscharmer Überkonsum). Er unterschied zwischen drei Formen der Abhängigkeit, dem Gamma-, dem Delta- und dem Epsilon-Typ. Gamma-Alkoholiker trinken zunächst nicht jeden Tag, wenn sie trinken, verlieren sie jedoch in der Regel die Kontrolle über die Trinkmenge. Dies nannte Jellinek in Anlehnung an die Nomenklatur der Anonymen Alkoholiker „Kontrollverlust“. Bei Delta-Alkoholikern sind schwere Räusche eher selten, sie sind jedoch gezwungen, jeden Tag zu trinken, um körperliche Entzugssymptome zu vermeiden. Sie haben die Kontrolle über den Zeitpunkt des Trinkens verloren. Dieses Symptom bezeichnete Jellinek als „Unfähigkeit zur Abstinenz“. Als Epsilon-Alkoholiker bezeichnete Jellinek Trinker, bei denen Kontrollverlust oder Unfähigkeit zur Abstinenz nur zeitweise bestehen. Bei der Jellinek’schen Typologie handelt es sich um eine Einteilung nach dem Trinkstil und nach dem Ausmaß der Kontrolle. Die körperlichen Folgen des Trinkens scheinen bei rauscharmem, regelmäßigen Überkonsum schwe19  Maxwell 20  Stone

1950. 1830.



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rer zu sein, während bei einem Trinkstil mit Alkoholexzessen die sozialen Folgen ausgeprägter sind. 4. Das heutige Krankheitskonzept des Alkoholismus Das heutige Krankheitskonzept des Alkoholismus ist in ein allgemeines Krankheitskonzept der Substanzkonsumstörungen eingebettet. Unter diesem Begriff werden nach DSM-5 (APA 2013) psychische und körperliche Veränderungen zusammengefasst, die als Folgen des Konsums bestimmter Sub­ stanzen entstehen können. Zu diesen Substanzen gehören Alkohol, Beruhigungs- und Schlafmittel, bestimmte Schmerzmittel, Tabak und eine ganze Reihe meist illegaler Drogen. Die betroffenen Personen konsumieren diese Substanzen weiter, obwohl sie dadurch schwere körperliche, psychische und soziale Folgen in Kauf nehmen müssen. Bei den von einer schweren Störung des Gebrauchs (Abhängigkeit) betroffenen Personen finden sich sechs Symptome immer wieder. Die Diagnose einer substanzbedingten Störung kann nur dann gestellt werde, wenn drei von ihnen bestehen: •• Zwang, Alkohol oder andere psychotrope Substanzen zu konsumieren. Dieser wird als „craving“ (Verlangen) oder umgangssprachlich als „Suchtdruck“ bezeichnet. •• Erheblich verminderte Fähigkeit, Beginn, Beendigung und Menge des Konsums zu steuern. •• Auftreten von Entzugserscheinungen beim Versuch, weniger zu konsumieren oder den Konsum zu beenden. •• Notwendigkeit, immer größere Mengen der Substanz zu konsumieren, um die gleiche Wirkung zu erzielen (Toleranzentwicklung). •• Vernachlässigung anderer Interessen und Tätigkeiten zugunsten des Sub­ stanzkonsums. •• Fortsetzung des Konsums trotz körperlicher, psychischer oder sozialer Folgen weiter. Suchtdruck, ungenügende Fähigkeit, den Konsum zu steuern und Entzugserscheinungen sind, vor allem bei Betroffenen mit einer langen Leidensgeschichte, lebenslang bestehende Symptome. Eine Rückkehr zum mäßigen, nicht schädlichen Konsum ist in der Regel nicht möglich. Daraus leitet sich die Abstinenz als wichtiges Therapieziel ab. Die lebenslange, zufriedene Abstinenz ist allerdings ein Ziel, das sich viele Betroffene gerade zu Beginn der Beratung oder Behandlung nicht vorstellen können. Deshalb kann es auch sinnvoll sein, zunächst eine Konsumreduktion

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anzustreben, denn die beiden wichtigsten Ziele sind Lebenserhaltung und Therapieteilnahme. Wenn Betroffene sterben oder den Prozess die Beratung oder Behandlung abbrechen, ist es nicht möglich, ihnen zu helfen. Aufgabe psychosozialer Fachkräfte ist es deshalb vor allem, die Betroffenen in diesem Prozess zu halten. Die Substanzkonsumstörungen gehören zu den häufigsten psychischen Störungen. Sie beginnen meist in der Jugend oder im jungen Erwachsenen­ alter, die Folgen des Gebrauchs werden bei bestimmten Substanzen sehr schnell, bei anderen erst nach Jahren des Konsums deutlich. Im höheren Lebensalter sind substanzbedingte Störungen seltener. Störungen durch Alkohol gehören zu den häufigsten Substanzkonsumstörungen. Bei Jugendlichen in den USA ist von einer Häufigkeit um 4,5 %, bei Erwachsenen von 8,5 % auszugehen.21 Bei Männern liegt sie mit 12,4 % mehr als doppelt so hoch wie bei Frauen (4,5 %). In Deutschland gelten für beide Geschlechter etwas niedrigere Zahlen.22 Die Entwicklung von Störungen durch Alkohol hängt von zahlreichen psychosozialen und biologischen Faktoren ab. In Kulturen, Familien oder Freundeskreisen, die hohen Alkoholkonsum und Alkoholräusche tolerieren oder Kinder und Jugendliche zum Trinken ermutigen, treten sie häufiger auf. Schutz bieten ein gutes soziales Klima und ein mittleres Ausmaß elterlicher Kontrolle. Genetische Faktoren sind ebenfalls nachgewiesen. Die Kinder alkoholkranker Eltern haben ein drei- bis vierfach erhöhtes Erkrankungsrisiko, auch wenn sie adoptiert wurden und in Familien aufwuchsen, in denen keine Alkoholprobleme bestanden. Der wichtigste Risikofaktor ist aber der Konsum. Ohne Konsum kommt es nicht zu einer substanzbedingten Störung. Hoher Alkoholkonsum führt zu psychischen, körperlichen und sozialen Folgen, die seit langem bekannt sind. Bei abruptem Entzug ohne medikamentöse Behandlung kommt es zu Entzugssyndromen mit Zittern, Schwitzen, hoher Pulsfrequenz, hohem Blutdruck, Unruhe, Angst und Schlafstörungen. Bei schweren Entzugssyndromen (Alkoholdelirien) kann es zusätzlich zu meist optischen Halluzinationen und zu Krampfanfällen kommen. Alkoholdelirien sind schwere, lebensgefährliche Krankheiten, die eine Krankenhausbehandlung zwingend erforderlich machen. Zu den vom Alkohol geschädigten Organen gehören neben Gehirn und Nervensystem vor allem Magen-Darm-Trakt (Zunge, Mundhöhle, Speicheldrüsen, Speiseröhre, Magen, Leber, Bauchspeicheldrüse), blutbildende Organe, Herz und Hoden. Alkoholkranke sind zudem anfälliger für Infekte. Wegen der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen besteht eine 21  Kessler 22  Pabst

et al. 2007. et al. 2013.



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vermehrte Gefahr von Unfällen bei der Arbeit oder im Straßenverkehr. Am Arbeitsplatz kommt es zu vermehrten Fehlzeiten, was mittel- und langfristig zum Arbeitsplatzverlust führt. Familienkonflikte führen zu erhöhten Scheidungsraten. Sowohl Verkehrsdelikte als auch Aggressionsdelikte sind häufig. Menschen mit Alkoholabhängigkeit durchlaufen meist einen schmerzlichen Prozess, wenn sie sich ihrer Krankheit bewusst werden. Lange trinken sie ohne körperliche, psychische und soziale Nachteile. Irgendwann sehen sie sich aber mit den ersten negativen Folgen wie morgendlichem Kater oder kritischen Bemerkungen von Familienangehörigen und anderen Personen konfrontiert. Sie versuchen, diese Folgen irgendwie zu erklären und kritische Äußerungen als übertrieben abzutun. Wenn die alkoholbedingten Probleme erkannt werden, bemühen sie sich, ihren Konsum zu reduzieren, was ihnen oft nicht gelingt. Schließlich versuchen sie, das Trinken zu verbergen oder ihr Scheitern zu rechtfertigen, um wenigstens nach außen hin ein positives Bild aufrechtzuerhalten. Irgendwann stellen sie sich die Frage, wie sie aus diesem Teufelskreis herauskommen können. Dieser Prozess wird im transtheoretischen Modell von Prochaska und DiClemente 1982 beschrieben. Nach diesem Modell durchlaufen die Betroffenen mehrere Phasen der Auseinandersetzung mit dem Trinken. Anfangs ist ihnen das Problem noch nicht bewusst, dann beginnen sie zu ahnen, dass etwas nicht stimmt, und später wird ihnen bewusst, dass sich etwas ändern muss. Erst dann sind sie bereit, Hilfe anzunehmen. Dieser Prozess läuft in der Regel, vor allem nach einem Rückfall, mehrfach ab. Das Motivational Interviewing23 setzt sich mit der Frage auseinander, wie dieser Prozess begleitet und unterstützt werden kann. Dieser Ansatz der Beratung und Psychotherapie entstand in den frühen 1980-er Jahren. Damals war ein sehr harter, konfrontierender Umgang mit Suchtkranken üblich. William R. Miller lehnte diesen ab und setzte sein Vorgehen als „empathic person-centered style“ dagegen. Grundsätzlich wird bei der Beratung und Behandlung der Alkoholabhängigkeit eine vollständige lebenslange Alkoholabstinenz als Ideal angestrebt. Vollständig bedeutet, dass es ratsam ist, auch geringe Mengen von Alkohol zu meiden. Lebenslang bedeutet, dass Alkoholkonsum auch nach Jahrzehnten der Abstinenz einen schweren Rückfall auslösen kann. Die Behandlungsergebnisse stationärer Entwöhnungsbehandlungen sind ermutigend. Shaw et al. stellten fest, dass es im Verlauf von Jahren immer mehr Patienten gelingt, abstinent zu werden oder ihre Trinkmenge entschei23  Miller/Rose

2009.

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dend zu reduzieren.24 Sie fanden Erfolgsquoten von 37  % nach sechs Monaten, 53  % nach 12 Monaten und 69  % nach neun Jahren. Diese Ergebnisse zeigen, dass das Abstinenzparadigma in der früher vertretenen absoluten Form nicht aufrechterhalten werden kann. Trinkmengenreduktion ist eine Möglichkeit der Schadenbegrenzung. Die Lebensqualität abstinent lebender Alkoholkranker ist in jedem Fall höher. IV. Was kann uns „John Barleycorn“ heute noch sagen? „John Barleycorn“ zeichnet ein Bild der Trinksitten in den USA zur Zeit der Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert. Nach der extremen Permissivität im 17. und 18. Jahrhundert wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts Zweifel an dieser Art des Umgangs mit Alkohol laut. Die Trunksucht, die vorher als Problem kaum wahrgenommen worden war, wurde als Krankheit erkannt, die zum Stillstand gebracht werden kann, wenn die Betroffenen lebenslang vollständig abstinent leben. In der 2. Hälfte des 19 Jahrhunderts verlagerte sich das medizinische und politische Interesse weg von der Behandlung der Trunksucht und hin zu ihrer Prävention mit Hilfe der Prohibition. „John Barleycorn“ wurde etwa 100 Jahre nach der ersten Formulierung des Krankheitskonzepts der Trunksucht durch Benjamin Rush geschrieben. Jack London schilderte in seinen „alkoholischen Lebenserinnerungen“ zahlreiche Symptome, über die Alkoholkranke auch heute berichten. Wir erfahren beim Lesen, wie sich ein Kater nach einer durchzechten Nacht anfühlt, wie es ist, einen körperlichen Entzug durchstehen zu müssen und wie schwer es ist, das alles als persönliches und gesundheitliches Problem zu erkennen. Wir erleben mit, wie Jack London und viele gleichaltrige Männer sich nach Wochen der Abstinenz bei der ersten Gelegenheit wieder betrinken, obwohl sie das nicht wollten. Wer mit alkoholbedingten psychischen Störungen vertraut ist, erkennt in diesen Schilderungen Erlebens- und Verhaltensweisen heutiger Betroffener wieder. Das Krankheitskonzept der Trunksucht kommt jedoch nicht zur Sprache, und auch die Empfehlung der lebenslangen Abstinenz schien dem Autor unbekannt zu sein. Stattdessen legt Jack London eine eigene Theorie vor, nach der Alkoholismus eine extrem seltene, erbliche Krankheit ist, und dass das gewohnheitsmäßige Trinken so zu seiner Person gehört, dass er sich nicht entschließen konnte, den Alkoholkonsum dauerhaft aufzugeben. Soweit wir wissen, hat Jack London in Bezug auf seinen Alkoholkonsum nie fachlichen Rat eingeholt. Vielleicht erklärt sich daraus die groteske Situation, dass er „die Symptome seiner Alkoholsucht zwar äußerst plastisch und 24  Shaw

et al. 1997.



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überzeugend beschreibt, das Vorhandensein einer Abhängigkeit aber immer bestreitet“.25 An der Ambivalenz vieler Betroffener in Hinblick auf eine Beendigung des Trinkens hat sich bis heute leider nicht viel geändert. Auch heute finden weniger als 10  % der Alkoholkranken den Weg in eine spezifische Behandlung. Zwar werden 30–35  % der Alkoholkranken in somatischen Krankenhäusern und 70–80  % in Praxen niedergelassener Ärzte behandelt. Dort stehen jedoch die Alkoholfolgeerkrankungen und nicht die Suchterkrankung selbst im Vordergrund.26 In dieser Hinsicht ist John Barleycorn wohl tatsächlich ein Überlebenskünstler. Literaturverzeichnis Abbott, Helen: Family Tree. Jack London International 2000. http://www.jack-london. org/joan-london/08-family-tree.htm. Letzter Zugriff 16.2.2015. American Psychiatric Association (APA), Diagnostic and Statistical Manual of Mental disorders, fifth edition (DSM-5), American Psychiatric Press, Washington D.C. 2013. Ayck, Thomas: Jack London, Reinbek 2000. Davis, N. S.: The nature of inebriation and the means of cure, in: National Temperance Society Pamphlet 56 (ca. 1875). Zitiert nach Levine 1978. Jellinek, Elvin Morton: The Disease Concept of Alcoholism, New Haven 1960. Kessler, Ronald C./Angermeyer, Matthias C./Anthony, James C./de Graaf, Ron/ Demyttenaere, Koen/Gasquet, Isabelle/de Girolamo, Giovanni/Gluzman, Semyon/ Gureje, Oye/Haro, Joseph Maria/Kawakami, Norito/Karam, Aimée/Levinson, Daphne/Medina Mora, Maria-Elena/Oakley Browne, Mark A./Posada-Villa, José/ Stein, Dan J./Adley Tsang, Cheuk Him/Aguilar-Gaxiola, Sergio/Alonso, Jordi/Lee, Sing/Heeringa, Steven/Pennell, Beth-Ellen/Berglund, Patricia/Gruber, Michael J./ Petukhova, Maria/Chatterji, Somnath/Ustün, T. Bedirhan: Lifetime prevalence and age-of-onset distributions of mental disorders in the World Health Organization’s World Mental Health Survey Initiative, in: World Psychiatry 6 (2007), S. 168–176. Krausnick, Michail/Sulzer-Reichel, Martin: Jack London, München 2006. Levine, Harry G.: The Discovery of Addiction: Changing Conceptions of Habitual Drunkenness in America, in: Journal of Studies on Alcohol 15 (1978), S. 493–506. https://web.archive.org/web/20060405025613/http://www.soc.qc.cuny.edu/Staff/ levine/doa.htm. Letzter Zugriff 1.1.2019. Levine, Harry G.: Mäßigkeitsbewegung und Prohibition in den USA, in: Gisela Völger/Karin Welck (Hrsg.), Rausch und Realität, Reinbek 1982, S. 241–251.

25  Wolf

2014, S.  253 f. et al. 2012.

26  Mann

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London, Jack: The road, New York 1907. Deutsch: Abenteurer des Schienenstranges, München 1984. London, Jack: John Barleycorn, New York 1989 (1913). Deutsch: König Alkohol, Übersetzung v. Erwin Magnus, München 1925; König Alkohol, Übersetzung v. Lutz-W. Wolff, München 2014. Mann, Karl/Diehl, Alexander/Hein, Jakob/Heinz, Andreas: Alkoholabhängigkeit, in: Ulrich Voderholzer/Fritz Hohagen (Hrsg.), Therapie psychischer Erkrankungen, München 2012, S. 22–36. Mann, Karl/Hermann, Derik/Heinz, Andreas: One Hundred Years of Alcoholism: The Twentieth Century, in: Alcohol & Alcoholism 35 (1) (2000), S. 10–15. Maxwell, Milton A.: The Washingtonian movement, in: Quarterly Journal of Studies on Alcohol 11 (1950), S. 410–451. Miller, William R./Rose, Gary S.: Toward a theory of Motivational Interviewing, in: American Psychologist 64 (2009), S. 527–537. Pabst, Alexander/Kraus, Ludwig/Gomes de Matos, Elena/Piontek, Daniela: Substanzkonsum und substanzbezogene Störungen in Deutschland im Jahr 2012, in: Sucht 59 (6) (2013), S. 321–331. Prochaska, James O./DiClemente, Carlo C.: The transtheoretical therapy: Toward a more integrative model of change, in: Psychology and Psychotherapy: Theory, Research and Practice 19 (1982), S. 276–288. Rush, Benjamin: Medical inquiries and observations upon the diseases of the mind, New York 1810. Zitiert nach Levine 1978. Rush, Benjamin: Inquiry into the Effects of Ardent Spirits Upon the Human Body and Mind (8th edition), 1814, in: Y. A. Henderson, A New Deal in liquor; A plea for dilution, New York 1934, S. 185–221. Zitiert nach Levine 1978. Shaw, G. K./Waller, S./Latham, C. J./Dunn, G./Thomson, A. D.: Alcoholism: a longterm follow-up study of participants in an alcohol treatment program, in: Alcohol and Alcoholism 32 (4) (1997), S. 527–535. Stasz, Clarice: Jack London’s Women, Amherst, MA 2003. Stasz, Clarice: Flora Wellman, 2017, http://london.sonoma.edu/Family/Flora.html. Letzter Zugriff 26.12.2018. Stone, J. S.: An address delivered before the Young Men’s Temperance, Society of New Haven, Connecticut, in: Trinity Church, New Haven 1830. Zitiert nach Le­ vine 1978. Sutherland, John: Introduction, in: London 1989 (1913), S. VII–XXXIV. Wolf, Lutz W.: Nachwort zur neuen Übersetzung, in: Jack London, König Alkohol, München 2014, S. 247–259.

Vernunft, Konformismus und Kulturindustrie1 Von Giancarlo Magnano San Lio In dem vorliegenden Beitrag werde ich mich auf einige kurze Überlegungen zu den möglichen Bedeutungen der konformistischen Haltung innerhalb der komplexen Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft beschränken. Hierbei werde ich mich insbesondere auf den Gegensatz von Individualismus und unkritischer Abflachung hinsichtlich vorgefasster kollektiver Modelle, die sehr oft von oben auf mehr oder weniger versteckte und tückische Weise auferlegt werden, konzentrieren. Ohne den Anspruch zu erheben, neue hermeneutische Perspektiven zu beschreiben, werde ich die Abhandlung ausgehend von einigen Überlegungen strukturieren, die im Rahmen der Frankfurter Schule in Bezug auf die Massengesellschaft und die Kulturindustrie entwickelt wurden. Letztere spielt eine bedeutende Rolle in der Massengesellschaft. Insbesondere werde ich auf die Verbindung zwischen Kulturindustrie und konformistischer Haltung im Rahmen der Konfrontation der Bedürfnisse der individuellen Vernunft und des Zusammenlebens in einer Gesellschaft eingehen. Jede kulturelle Erscheinung bezieht sich in gewisser Weise auf den schöpferischen Anstoß durch die individuelle Schaffenskraft einerseits und auf kollektive Anforderungen andererseits. Das Element des sozialen Konformismus kann auch im Rahmen der Phänomenologie der Kultur verstanden werden, zumindest in dem Maße, in dem es sich auf die verschiedenen Mitteilungssysteme, die vielfältigen Bedürfnisse der Individuen und die unterschiedlichsten Haltungen verschiedener und mehr oder weniger breiter Gruppen bezieht. Hierbei geht es um Spannungen zwischen der unkritischen, beruhigenden Anpassung an das bereits Gegebene und den ebenso unvermeidlichen Forderungen nach Veränderung und Erneuerung. Diese Spannungen sind möglicherweise grundsätzlich nicht lösbar. Nehmen wir zum Beispiel einen der möglichen Kontexte der Äußerung des sozialen Konformismus, das heißt die Erscheinung der sogenannten „Mode“, die sicherlich unter unzähligen Perspektiven und Phänomenologien der Gesellschaft verstanden werden kann: Kant (Die Anthropologie in prag1  Ich danke Beate Baumann, Professorin der Universität von Catania, die die deutsche Übersetzung dieses Aufsatzes freundlicherweise geprüft hat.

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matischer Hinsicht) bezog sich hierbei grundsätzlich auf die Ausübung der Nachahmung als Wille, nicht weniger als andere erscheinen zu wollen, auch wenn dies zu keinem Nutzen gereicht. Das heißt mit anderen Worten: Sich nicht anzupassen bedeutet, zumindest bis zu einem gewissen Grad an Positionen der Vergangenheit festzuhalten, die oft auf weitgehend passive Weise erworben werden. Diese Lesart hinderte den Philosophen von Königsberg jedoch nicht daran, die Mode als ein sogar für die Geselligkeit konstitutives Element zu betrachten, ein Element, das geteilt werden konnte, solange es von jeder Möglichkeit ferngehalten wird, etwas von dem zu opfern, was als passend und angebracht gilt. Von diesem Standpunkt aus verstand er die Erscheinung der Mode im Wesentlichen als Nachahmung und Äußerung der Geselligkeit, innerhalb derer Eitelkeit und Konkurrenz in gewisser Weise als konstitutiv und daher unvermeidlich zu betrachten sind. Dies bringt mit sich, dass die Mode letztendlich jeden Bezug auf den Geschmack aufgibt und stattdessen ausschließlich zum Bereich der Eitelkeit wird. Es versteht sich von selbst, dass sich die kantianische Stellung zwar auf die negativen Entwicklungen der Mode konzentriert, aber immer auch auf ein recht positives Faktum verweist, das in der ursprünglichen Fähigkeit zur individuellen Entscheidung und in der damit verbundenen Kraft, sie als mögliches Nachahmungsobjekt vorzuschlagen, identifiziert werden kann. Mit anderen Worten: Unabhängig von jeder Bezugnahme auf soziale Klassen kann argumentiert werden, dass die Mode aus einem schöpferischen genetischen Moment besteht, das sicherlich mit dem subjektiven Geschmack verbunden ist, und erst nachfolgend wird sie in ein einfaches Verfahren der Nachahmung, wenn nicht sogar der sozialen Mimikry, umgewandelt, was ich später weiter ausführen werde. Sie enthält sehr spezifische Motivationen der freien individuellen Kreativität und Formen einer möglichen Abflachung subjektiver Forderungen hinsichtlich weit verbreiteter und unkritisch-stereotyper Bedürfnisse. Unter diesem Gesichtspunkt kann die Erscheinung der Mode in mancher Hinsicht parallel zu der des Konformismus betrachtet werden. Beide beinhalten, wenn auch auf unterschiedliche Weise, die konstitutive Spannung zwischen dem Streben nach individueller Bestimmung und einem zweifellos dringenderen und unkritischeren Sich-Anvertrauen an ruhige Bequemlichkeiten und demzufolge, wie ich behaupten möchte, auch an Gefahren der Gewohnheit, die sich zwangsläufig daraus ergeben. Zweifellos ist das Phänomen der Mode eng mit den Erscheinungsformen einer sehr weit gefassten Kultur verbunden, da sie in ihrer zweifachen möglichen Artikulation eine denkbare Ausdrucksweise ist: Einerseits stellt sie die Form der Kultur im ursprünglichen Sinne dar, also als ein Bildungsmoment des Menschen, als ein Versuch, eine zunehmend adäquatere und verfeinerte Form anzunehmen. Andererseits ist sie lediglich das Ergebnis einer solchen Entwicklung. Im ersten Fall tritt das sozusagen kritisch-rationale Element in den Vordergrund, das die mit der individuellen Vernunft konstitutiv verbundenen Leistungs­



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fähigkeiten bekräftigt, während sich im zweiten eine mehr oder minder bedeutsame und mit größerer Häufigkeit und Intensität auftretende Manifestationsform des Konformismus und der soziale Homologation offenbart. Die Gesellschaft mit ihrer hohen industriellen Entwicklung hat zweifellos zugleich zur Stärkung und Verfeinerung der alten Orientierungsweisen des sozialen Körpers sowie zur Verdichtung der Zeit, die erforderlich ist, um solche Formen der Kontrolle zu erzeugen, und zur Beschleunigung der Veränderungen selbst geführt. Die Spezialisierung der individuellen Fähigkeiten hat das Handlungsfeld des Individuums schrittweise reduziert, es einem Urteil unterstellt, das ausschließlich an die Leistung im Hinblick auf eine klar bestimmte und spezifisch zugewiesene Aufgabe gebunden ist und schließlich den potentiellen kulturellen und kreativen Wert radikal verringert hat, indem es den strengen Regeln der sozialen Kontrolle und der standardisierten Orientierung unterworfen wird. Dies betraf den gesamten Bereich der Kultur, in dem sich das Gleichgewicht zwischen der Dimension der Freiheit sowie der individuellen Kreativität und der Instrumentalität, die darauf abzielte, die Unterschiede in der Anonymität des sozialen Körpers zu verringern, allmählich verändert hat. Das Phänomen der Mode dokumentiert und reflektiert zusammen mit zahlreichen anderen Analoga ein solches Oszillieren von Kulturformen, wobei sie in unterschiedlichen Ausmaßen einen freien und direkteren Ausdruck der Individualität sowohl im Hinblick ihrer schöpferischen Dimension als auch ihrer Möglichkeit der Wahl, sich für das, was in irgendeiner Weise bereits zur Verfügung steht, mehr oder minder passiv zu entscheiden, oder ein bloßes Druckmittel bzw. Instrument der sozialen Homo­ logation darstellt. In diesem Zusammenhang werde ich aus Platzgründen und Gründen der Zweckmäßigkeit nicht auf die theoretische und historiographische Gliederung der Erörterung kultureller Formen und ihrer möglichen Bedeutungen sowie die sehr interessante Reflexion über das Verhältnis von Narzissmus und Konformismus eingehen. Ich möchte mich in diesem Beitrag vorwiegend auf die modernen Formen der Kulturindustrie und ihre Rolle als Instrument der sozialen Homologation beschränken. Den Ausgangspunkt hierfür stellen die bedeutenden Überlegungen Max Horkheimers dar, aber auch einige Aspekte von Theodor Adornos Denken, die aus ihrer Zusammenarbeit hervorgegangen sind. Zunächst ist in diesem Zusammenhang als grundlegende Voraussetzung von einem veränderten Konzept der Freiheit auszugehen, das nun in einer hochentwickelten Industrie- und Technologie-Gesellschaft gewissermaßen eine Erweiterung zu erfahren scheint, die in gewisser Weise quantitativ ist, und zwar umgekehrt proportional zu ihrer höchst qualitativen Prägung: „Jedoch hat der Zuwachs an Freiheit einen Wechsel im Charakter der Freiheit bewirkt […]. An die Stelle unserer Spontaneität ist eine Geistesverfassung getreten, die uns zwingt, uns jeder Empfindung oder jedes Gedankens zu

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entschlagen, die unsere Flinkheit gegenüber den unpersönlichen Anforderungen beeinträchtigen könnten, die auf uns einstürmen“2. Wenn bei der Beurteilung der existenziellen Grundbestimmung des Individuums die unmittelbarsten Ausdrucksformen seiner persönlichen Freiheit in Betracht zu ziehen sind, sollte freilich eine Überlegung in Bezug auf das Wesen dieser Freiheit nicht übergangen werden. Insbesondere wenn der Narzissmus als individualistische Erhöhung des Selbst gelesen werden kann, um reale Perspektiven auf die Bestätigung von Unterschieden zu eröffnen, ist er jedoch auch immer ein Versuch, der Homologation gerade aus denselben Bezugselementen zu widerstehen, wenn es zutrifft, dass man sich in irgendeiner Form im Unterschied bestätigt, um sich mit der Gruppe, der man angehört, zu konfrontieren und auf diese Weise den Anforderungen derselben zu entsprechen. Hierbei handelt es sich um das komplizierte Gleichgewicht zwischen der Dimension des Individuums, die in der Ausübung bewusster und wirklich rationaler Überlegungen geltend gemacht wird, und der tatsächlichen Realität des sozialen Körpers, die dennoch einen unvermeidlichen Bezugsrahmen darstellt. Wenn also der Bezug auf die expressiven Formen des Daseins in gewisser Weise die Selbstbejahung des Einzelnen bedeuten kann, so trifft es allerdings ebenfalls zu, dass dies zugleich auch seine Anerkennung in der Gruppe und damit die mögliche Homologation der spezifischen Unterschiede, zuweilen bis zur Annullierung derselben, bedeutet. Diese Situation kann gleichzeitig Ursache und Wirkung der sozialen Mimikry sein, das heißt jener Erscheinung, die heimtückisch und immer wiederkehrend ist, wenn auch mit wechselnden Intensitäten, typisch für die kollektiven Organisationen, die dem Individuum die beruhigende Gewissheit des Lebens vermitteln können, gerade wenn dieses in die beruhigenden Formen der Anonymität verbannt und sein Leben auf wenig mehr als bloßes Überleben reduziert wird: „Von Kindesbeinen an wird das Individuum zu der Ansicht gebracht, daß es nur einen Weg gibt, mit dieser Welt auszukommen – den, seine Hoffnung auf höchste Selbstverwirklichung aufzugeben. Das kann es einzig durch Nachahmung erreichen […]. Indem es das Echo seiner Umgebung ist, sie wiederholt, nachahmt, indem es sich all den mächtigen Gruppen anpaßt, zu denen es letztlich gehört, indem es sich von einem menschlichen Wesen in ein Glied von Organisationen verwandelt, indem es seine Möglichkeiten zugunsten der Bereitwilligkeit, solchen Organisationen zu genügen und in ihnen Einfluß zu erlangen, aufopfert, gelingt es ihm zu 2  Horkheimer 1991, S. 110. Für einen ersten Überblick über die Figur von Horkheimer und allgemeiner der Frankfurter Schule: Schmidt/Rusconi 1972, Gumnior/ Ringguth 1973, Skuhra 1974, Geyer 1982. Ich werde es vermeiden, im Laufe der Arbeit den Text mit ständigen Hinweisen auf die Bibliographie zu belasten, die andererseits sehr bekannt und leicht verfügbar ist.



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überleben. Es ist ein Überleben, das durch das älteste biologische Mittel des Überlebens zustande kommt, nämlich durch Mimikry“3. Die verschiedenen Erscheinungsformen der Kultur, die hier im Wesentlichen als Bildung und Erwerb von Verhaltensweisen verstanden wird, ermöglichen es dem Individuum, ausgehend von rational begründeten Bedürfnissen seine Entscheidungsfähigkeit auszuüben. Und dennoch scheinen diese eher auf unpersönliche Bedürfnisse, die von der Dringlichkeit einer möglichen Integration auferlegt werden, als auf authentisch subjektive Anforderungen ausgerichtet zu sein. Wenn wir nun für einen Moment auf das oben erwähnte Beispiel zurückkommen und die Mode als eine Form von Kultur verstehen, dann ist es offensichtlich, dass sie einerseits den zweifachen Wert des freien Ausdrucks des Individuums annehmen kann, andererseits den einer notwendigen Tarnung innerhalb der Anonymität des sozialen Körpers, die im Wesentlichen auf das Überleben abzielt. Mit anderen Worten handelt es sich hier um das komplizierte Gleichgewicht zwischen der autonomen Rationalität des einzelnen Subjekts und seines unvermeidlichen Lebens innerhalb der Koordinaten des Gesellschaftlichen, was auch immer diese seien. Um es noch einmal anders zu formulieren, bedeutet dies die Fähigkeit, eine Art Kontrolle noch innerhalb der rationalen Mechanismen auszuüben, die die komplexe Interaktion zwischen dem Individuum und dem sozialen Körper bestimmen, so dass das Individuum die authentische Dimension seiner Subjektivität, die nun in einem weiteren Sinne zu verstehen ist, innerhalb des sozialen Körpers aufrecht erhalten kann, das heißt ohne jegliche Zugeständnisse hinsichtlich der Möglichkeit, zu einem einfachen Instrument einer unpersönlichen Vernunft werden, die in den Massengesellschaften paradoxerweise sogar den beunruhigenden Schein des Irrationalen annehmen kann: „Das Individuum bestimmte einmal die Vernunft ausschließlich als ein Instrument des Selbst. Jetzt erfährt es die Kehrseite seiner Selbstvergottung. Die Maschine hat den Piloten abgeworfen; sie rast blind in den Raum. Im Augenblick ihrer Vollendung ist die Vernunft irrational und dumm geworden. Das Thema dieser Zeit ist Selbsterhaltung, während es gar kein Selbst zu erhalten gibt“4. Die schmale Grenze, die die Dimension des Selbstbewusstseins als freie Bestätigung des Ichs im sozialen Kontext von dem Abweichen innerhalb der heimtückischen Mechanismen der Homologation trennt, ist niemals genau lokalisierbar, das heißt es lässt sich niemals ein bestimmter Ort ausmachen, sondern sie wird in ihrer konstituierenden Dynamik in jeglicher Hinsicht immer wieder überschritten, und zwar in Bezug auf die sich ändernde historische Bedingtheit der Individuen und auf die verschiedenen sozialen Kontexte, die ihre Wechselwirkungen unterstützen. Genau dies macht jede kodi3  Horkheimer 4  Ebd.,

1991, S. 147. S. 136.

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fizierte und in gewisser Hinsicht endgültige Perspektive unhaltbar, natürlich auch in Bezug auf die Ausdrucksmodalitäten des Individuums, insofern diese nun die freie Erscheinungsform des rationalen Individuums, also jeweils im Moment der spontanen Schaffenskraft bzw. des bewussten Genusses, oder jene eines unkritischen Werdegangs, der schlechtweg konformistisch und von der bloßen Notwendigkeit des Überlebens inspiriert ist, annehmen können. Bei dieser kontinuierlichen, wechselseitigen Definition und Neudefinition der Individualität und der Dimension der Gesellschaftlichkeit innerhalb der Koordinaten der historischen Entwicklung spielt die Kulturindustrie eine sicherlich bedeutende Rolle, insbesondere wenn sie mehr oder minder explizit die Funktion der Regulierung und der Planung des gesamten Kulturbereichs so übernimmt, dass dieser als soziales Integrations- und Kontrollinstrument verwendet werden kann. Unter diesem Gesichtspunkt scheint es relevant zu sein, wenn wir unsere Aufmerksamkeit nochmals auf das oben erwähnte Thema der Mode richten und die Entwicklung von der ursprünglichen handwerklichen Dimension des Modeschöpfers zu der neuen Figur des in der hoch industrialisierten Gesellschaft handelnden Produzenten/Industriellen beobachten, eine Entwicklung, die sich auf unterschiedliche Art und Weise und Intensität vollzieht und sich auch auf die Kulturindustrie als Raum mannigfaltiger Anforderungen, die immer breitere Schichten der sozialen Organisation beeinflussen, auswirkt. Tatsächlich kommt der Kulturindustrie eine große Verantwortung in Bezug auf den Prozess der sozialen Standardisierung zu, um die ursprüngliche Individualität gerade durch die Kultur auf eine bloße Entität zu reduzieren, auch wenn es die mit dem spezifischen Unterschied verbundenen äußeren Aspekte zumindest scheinbar beibehält. Diese kann mit großer Genauigkeit klassifiziert werden und ist in allen möglichen Aspekten vorhersehbar, womit sie in der Tat zu einem integralen Bestandteil der Gesamtheit wird: „In der Kulturindustrie ist das Individuum illusionär nicht bloß wegen der Standardisierung ihrer Produktionsweise. Es wird nur so weit geduldet, wie seine rückhaltlose Identität mit dem Allgemeinen außer Frage steht. Von der genormten Improvisation im Jazz bis zur originellen Filmpersönlichkeit, der die Locke übers Auge hängen muß, damit man sie als solche erkennt, herrscht Pseudoindividualität. Das Individuelle reduziert sich auf die Fähigkeit des Allgemeinen, das Zufällige so ohne Rest zu stempeln, daß es als dasselbe festgehalten werden kann. Gerade die trotzige Verschlossenheit oder das gewählte Auftreten des je ausgestellten Individuums werden serienweise hergestellt wie die ­Yaleschlösser, die sich nach Bruchteilen von Millimetern unterscheiden. Die Besonderheit des Selbst ist ein gesellschaftlich bedingtes Monopolgut, das als natürliches vorgespiegelt wird“5. 5  Horkheimer/Adorno

1987, S. 181–182.



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Dieser Prozess der Standardisierung und Homologation vollzieht sich auch durch die Illusion, die Unterschiede und Besonderheiten zu erhalten, und kann sich innerhalb der Massengesellschaften in dem äußerst beunruhigenden Vorbild der Gleichmäßigkeit, das diese tatsächlich vorgeben, auflösen, so dass auch die angeblichen Stimmen „außerhalb des Chores“ durchaus geplant sind und sich somit einer präzisen und bestimmten Stellung erfreuen und demzufolge auf nahezu paradoxe Weise eine wichtige konservative Funktion übernehmen. Auf diese Weise läuft die Autonomie der Kultur größte Gefahr in dem Sinne, dass die Originalität der Schöpfung, die authentische Ausdruckskraft des Erzeugnisses ebenso wie die ästhetische und funktionelle Rezeptivität des Rezipienten von der Kulturindustrie stark beeinflusst werden und sich demzufolge ausgesprochen überindividuellen Bedürfnissen derart beugen, dass das, „was widersteht, […] nur [überleben darf], indem es sich eingliedert. Einmal in seiner Differenz von der Kulturindustrie registriert, gehört es schon dazu wie die Bodenreformer zum Kapitalismus“6. Und genau dies geschieht, wenn auch nicht als unvermeidliche Regel, so doch als arglistige Tendenz in der Industriegesellschaft. Hierbei kommt es zu einem schrittweisen Übergang vom streng kreativen Moment, das in gewisser Weise noch mit der handwerklichen Dimension verknüpft ist und daher jene Leistungsfähigkeit darstellt, die frei von übermäßigen äußeren Konditionierungen ist, zur vollkommenen Standardisierung der industriellen Produktion, wobei die Schaffenskraft und die Originalität der Interpretation sich unpersönlichen Erfordernissen beugen, die im Wesentlichen zur Aufhebung der Unterschiede führen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die individuelle Fähigkeit des Selbstausdrucks mit Vorurteilen und Misstrauen gegenüber einer sozialen Organisation, die möglicherweise für seine Vernichtung verantwortlich sein könnte, vonstatten gehen muss. Dies wäre in der Tat ein pathologischer Zustand, der für sogenannte Massengesellschaften typisch ist. In einer nicht-pathologischen Dimension ist es hingegen dieselbe Individualität, die nur in fortwährender, produktiver Wechselwirkung mit der Gemeinschaft konstituiert werden kann und muss, insofern das Individuum nur innerhalb des Horizonts des sozialen Bezugsbereichs authentisch sein kann. Wenn sich die Kulturformen unkritisch an die von der Industrie vorgegebenen Typologien anpassen, dann treten sie nicht in ihrem natürlichen Zustand auf. Dieser Aspekt sollte nachdrücklich hervorgehoben werden. Vielmehr stellen sie in ihrer ursprünglichen Form den Raum für den freien Ausdruck der Individuen dar, und genau diese Dimension müssen wir zuweilen wiedererlangen, insbesondere dann, wenn diese durch Modalitäten und Ansprüche, die nur abgeleitet und in gewisser Weise entartet sind, beeinträchtigt wird. In dieser ursprünglichen, wechselseitigen Verbindung von Individuum 6  Ebd.,

S. 156.

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und Gemeinschaft lässt sich jegliche Form des freien Ausdrucks der individuellen Kreativität einbringen sowie der Fähigkeit, in vollkommener Unabhängigkeit ein Selbstbild zu schaffen, obgleich auch dieses ständig der Gefahr unterliegt, im Hinblick auf eine allgemeinere Homologation zu einem bloßen Werkzeug der Nachahmung zu werden. Diese komplexe Ausgangssituation nimmt problematische und verfängliche Formen an, wenn die Beeinflussung angesichts der Standardisierung radikale Ausmaße annimmt, alle Bereiche der Gesellschaft durchdringt und dabei ihre innere Struktur auf bedeutungsvolle Weise charakterisiert: „Für alle ist etwas vorgesehen, damit keiner ausweichen kann, die Unterschiede werden eingeschliffen und propagiert. Die Belieferung des Publikums mit einer Hierarchie von Serienqualitäten dient nur der um so lückenloseren Quantifizierung. Jeder soll sich gleichsam spontan seinem vorweg durch Indizien bestimmten ‚level‘ gemäß verhalten und nach der Kategorie des Massenprodukts greifen, die für seinen Typ fabriziert ist. Die Konsumenten werden als statistisches Material auf der Landkarte der Forschungsstellen, die von denen der Propaganda nicht mehr zu unterscheiden sind, in Einkommensgruppen, in rote, grüne und blaue Felder, aufgeteilt“7. Diese gefährliche Form der Standardisierung zeigt sich auch in den Modalitäten, die der Kunststil in der Regel in den Massengesellschaften annimmt, da er oft ein einfaches Instrument zur Einordnung des Individuums in das bereits vorgegebene Allgemeine wird: „In jedem Kunstwerk ist sein Stil ein Versprechen. Indem das Ausgedrückte durch Stil in die herrschenden Formen der Allgemeinheit, die musikalische, malerische, verbale Sprache eingeht, soll es mit der Idee der richtigen Allgemeinheit sich versöhnen. Dieses Versprechen des Kunstwerks, durch Einprägung der Gestalt in die gesellschaftlich tradierten Formen Wahrheit zu stiften, ist so notwendig wie gleißnerisch. Es setzt die realen Formen des Bestehenden absolut, indem es vorgibt, in ihren ästhetischen Derivaten die Erfüllung vorwegzunehmen. Insofern ist der Anspruch der Kunst stets auch Ideologie“8. Gerade diese ständige Auflösung des Besonderen innerhalb der Dimension des Allgemeinen führt zur einer gegenseitigen Tarnung bzw. Anpassung bis hin zu einer kontinuierlichen, unkritischen Überlagerung: „Die Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem, von Regel und spezifischem Anspruch des Gegenstands, in deren Vollzug Stil allein Gehalt gewinnt, ist nichtig, weil es zur Spannung zwischen den Polen gar nicht mehr kommt: die Extreme, die sich berühren, sind in trübe Identität übergegangen, das Allgemeine kann das Besondere ersetzen und umgekehrt“9. 7  Ebd.,

S. 147. S. 155. 9  Ebd., S. 154. 8  Ebd.,



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Dieser Zustand hat offensichtlich die allmähliche Abflachung des Kunststils zur Folge und führt zur Mittelmäßigkeit, da es dem Künstler weiser und angemessener erscheint, nicht die Gefahr eines möglichen Scheiterns oder einer Ausgrenzung in Kauf zu nehmen, sondern Zuflucht innerhalb der Parameter des Allgemeinen zu suchen, d. h. der Reproduktion der bereits gegebenen, konventionellen Schemata und Modelle, die heute weithin akzeptiert und demzufolge beruhigend sind: „Das Moment am Kunstwerk, durch das es über die Wirklichkeit hinausgeht, ist in der Tat vom Stil nicht abzulösen; doch es besteht nicht in der geleisteten Harmonie, der fragwürdigen Einheit von Form und Inhalt, Innen und Außen, Individuum und Gesellschaft, sondern in jenen Zügen, in denen die Diskrepanz erscheint, im notwendigen Scheitern der leidenschaftlichen Anstrengung zur Identität. Anstatt diesem Scheitern sich auszusetzen, in dem der Stil des großen Kunstwerks seit je sich negierte, hat das schwache immer an die Ähnlichkeit mit anderen sich gehalten, an das Surrogat der Identität, Kulturindustrie endlich setzt die Imitation absolut. Nur noch Stil, gibt sie dessen Geheimnis preis, den Gehorsam gegen die gesellschaftliche Hierarchie“10. Dabei wird jedoch offenkundig, dass die Kunst auf diese Weise ihre Eigenartigkeit und Unabhängigkeit völlig verloren hat. Sie wird zu einem simplen Konsumgut herabgesetzt, um sich letztendlich in der völligen Anonymität der Konsumgesellschaft in unterschiedlichste Formen aufzulösen: „Mit der Billigkeit der Serienprodukte de luxe aber und ihrem Komplement, dem universalen Schwindel, bahnt eine Veränderung im Warencharakter der Kunst selber sich an. Nicht er ist das Neue: nur daß er heute geflissentlich sich einbekennt, und daß Kunst ihrer eigenen Autonomie abschwört, sich stolz unter die Konsumgüter einreiht, macht den Reiz der Neuheit aus“11. Dieser Prozess, der hier sicherlich durch eine von marxistischen Kategorien inspirierten Lektüre akzentuiert wird, tritt auch in der dramatischen Verortung der ästhetischen Sphäre innerhalb der Parameter der so genannten Tauschgüter zu Tage, ebenso wie die anderen Entitäten des Marktes, denen jegliche Möglichkeit zur Erfüllung ihrer ursprünglichen Funktion abhanden gekommen ist. Diese gestattet es nun nicht mehr, die individuellen Leistungsfähigkeiten zu entfalten, noch ist sie in der Lage, Derartiges zu versprechen, vielmehr beugt sie sich den konformistischen und merkantilistischen Anforderungen der Massengesellschaft: „Indem das Kunstwerk ganz dem Bedürfnis sich angleicht, betrügt es die Menschen vorweg um eben die Befreiung vom Prinzip der Nützlichkeit, die es leisten soll. Was man den Gebrauchswert in der Rezeption der Kulturgüter nennen könnte, wird durch den Tauschwert ersetzt, anstelle des Genusses tritt Dabeisein und Bescheidwissen, Prestigegewinn anstelle der Kennerschaft“12. 10  Ebd.,

S. 155. S. 184. 12  Ebd., S. 185–186. 11  Ebd.,

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Dieses Problem ist sicherlich über den ideologischen Bezugsrahmen der Frankfurter Schule hinaus, der zweifelsohne nicht mehr aktuell ist und zudem auf einen spezifischen historischen Moment und Umstand bezogen war, neu anzugehen. Doch geht es hierbei keineswegs um eine unbestimmte und allgemeine Kritik an einem Ideal und einer Form der Geschmackserziehung, sondern vielmehr um das tiefgreifendere und aktuellere Bewusstsein, dass die Nivellierung der menschlichen Leistungsfähigkeiten – auch in Bezug auf die ästhetische Praxis – letztendlich nicht die Verbesserung der individuellen kritischen Fähigkeiten immer größerer Bevölkerungsschichten bedeutet, sondern das unkritische Nivellieren der Individualitäten. Dabei steht die Erlangung einer Kultur im Mittelpunkt, die, anstatt die unterschiedlichen Möglichkeiten einer immer größer werdenden Anzahl von Individuen zu fördern und zu steigern, häufig in die Barbarei der stereotypen Homologation verfällt, wobei erschwerend hinzukommt, dass sich dieser Prozess oftmals unter dem vorzüglichen Vorzeichen der Bildung und Weiterentwicklung der Bevölkerungen vollzieht: „Schon heute werden von der Kulturindustrie die Kunstwerke, wie politische Losungen, entsprechend aufgemacht, zu reduzierten Preisen einem widerstrebenden Publikum eingeflößt, ihr Genuß wird dem Volke zugänglich wie Parks. […] Die Abschaffung des Bildungsprivilegs durch Ausverkauf leitet die Massen nicht in die Bereiche, die man ihnen ehedem vorenthielt, sondern dient, unter den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen, gerade dem Zerfall der Bildung, dem Fortschritt der barbarischen Beziehungslosigkeit“13. Die ästhetische Dimension wird daher häufig von der Kulturindustrie absorbiert, die ständig darum bemüht ist, die Massen auf klar definierte Zwecke hinzulenken, auch unter Verwendung der komplexen und heimtückischen Werbemaschinerie, die nach und nach eine Form der Konditionierung erzeugt, die auf die unkritische Homologation und auf die Aufhebung der Unterschiede abzielt: „Technisch so gut wie ökonomisch verschmelzen Reklame und Kulturindustrie. Hier wie dort erscheint das Gleiche an zahllosen Orten, und die mechanische Repetition desselben Kulturprodukts ist schon die desselben Propaganda-Schlagworts. Hier wie dort wird unterm Gebot von Wirksamkeit Technik zur Psychotechnik, zum Verfahren der Menschenbehandlung. Hier wie dort gelten die Normen des Auffälligen und doch Vertrauten, des Leichten und doch Einprägsamen, des Versierten und doch Simplen; um die Überwältigung des als zerstreut oder widerstrebend vorgestellten Kunden ist es zu tun“14. An dieser Stelle soll noch einmal betont werden, dass die Argumentationsgänge, die hier nachfolgend angeführt werden, auf historische Umstände zu13  Ebd., 14  Ebd.,

S. 188. S. 192.



Vernunft, Konformismus und Kulturindustrie59

rückzuführen sind, die stark durch die Konfrontation von radikalen politischsozialen Vorstellungen sowie durch ideologische Strukturen geprägt sind, die stets in einen historischen Kontext einzubetten sind. So lässt sich – unabhängig von der Härte und zuweilen übermäßigen Strenge einiger Auffassungen – sicherlich behaupten, dass die Reflexion der Frankfurter Schule grundsätzlich immer noch verwendet werden kann, um eine der möglichen Formen der Entartung der Kultur zu unterstreichen, d. h. in diesem Fall des ästhetischen Bereichs. Es versteht sich jedoch von selbst, dass die negative Gegebenheit stets einen positiven Bezug voraussetzt, wenn es zutrifft, dass diese mögliche Dekadenz der ästhetischen Dimension innerhalb der Grenzen des einfachen sozialen Konformismus auf ihre ursprüngliche Vorstellung als eine Art des freien kritischen Ausdrucks des Individuums verweist, sowohl in seiner konstitutiven schöpferischen Funktion als auch in seiner nicht minder bedeutenden Entscheidungsfähigkeit. Der konformistische Aspekt ist sozusagen mit der Notwendigkeit der Homologation verbunden und findet seine Entsprechung, sowohl hinsichtlich der genetischen Motivation als auch bezüglich einer möglichen Endperspektive, in der Kulturindustrie, die zu einer sozialen Mimikry führt, die oftmals als das einzig wirksame Instrument zum Überleben erachtet wird. Es ist offensichtlich, dass in diesem Fall das Vorstellungsvermögen und jegliche Form des kritischen Bewusstseins der Individualität aufgehoben werden: Nichtsdestotrotz handelt es sich um eine Form der Entartung, d. h. einer möglichen Abweichung, die häufig durch bestimmte Ereignisse hervorgehoben wird, aber dennoch die konkrete Fähigkeit besitzt, plötzliche und wesentliche Richtungsänderungen zu erzeugen und zu bestimmen, d. h. das individuelle Bewusstsein auf bedeutungsvolle Weise zu erwecken. Ein solch uneinheitlicher Prozess verweist jedoch als konstitutives genetisches Moment immer auch auf eine positive Dimension, nämlich auf die ästhetisch-kulturelle Bedeutsamkeit des künstlerischen Produktes, die einerseits als Ort des schöpferischen Prozesses, der in der Individualität seinen Ursprung findet, zu verstehen ist und andererseits als Möglichkeit, Ausdrucksformen zu identifizieren, in denen man sich frei wiedererkennt und bedeutende persönliche Bestrebungen wiederentdeckt. Mit anderen Worten: Die Dimension der ästhetischen Produktion weist im weitesten Sinne ein großes Potenzial für den schöpferischen Prozess auf, d. h. sie ermöglicht in gewissem Maße die freie Bestimmung der individuellen Einbildungskraft sowohl seitens des schöpferischen Subjekts als auch des bewussten Verbrauchers. In dieser Hinsicht wird deutlich, dass die Entartung in Richtung eines unkritischen Konformismus, das heißt in Richtung der bloßen Annahme des stereotypisierten Faktums als grundsätzliche Demütigung der freien Einbildungskraft lediglich das mögliche negative Ergebnis eines Prozesses darstellt, der die ursprüngliche Möglichkeit einer freien Bestimmung der individuellen Fähigkeiten als idealerweise wieder erlangen lässt, eine Möglichkeit, die die Kulturgeschichte in irgendeiner Form immer wieder abgesichert zu

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haben scheint, auch wenn sie zuweilen demütigenden Abweichungen vom ursprünglichen Pfad ausgesetzt ist. In diesem Sinne scheint die Reflexion zur allgemeine Bedeutung von Vernunft und Rationalität, die die Vertreter der Frankfurter Schule um die Mitte des letzten Jahrhunderts vorgebracht hatten, als sie sich mit der Krise des Individuums und mit Phänomenen wie der sozialen Mimikry beschäftigten, von großer Aktualität. So betonten sie in Bezug auf den sicherlich dramatischeren Kontext der Monopole und Diktaturen den zu oft unausgesprochenen Unterschied zwischen subjektiver Vernunft (die dann oft zu einer bloßen Instrumentalität degeneriert) und objektiver Vernunft: „Aber die Kraft, die letztlich vernünftige Handlungen ermöglicht, ist die Fähigkeit der Klassifikation, des Schließens und der Deduktion, ganz gleich, worin der besondere Inhalt besteht – das abstrakte Funktionieren des Denkmechanismus. Diese Art von Vernunft kann subjektive Vernunft genannt werden. Sie hat es wesentlich mit Mitteln und Zwecken zu tun, mit der Angemessenheit von Verfahrensweisen an Ziele, die mehr oder minder hingenommen werden und sich vermeintlich von selbst verstehen. Sie legt der Frage wenig Bedeutung bei, ob die Ziele als solche vernünftig sind. Befaßt sie sich überhaupt mit Zwecken, dann hält sie es für ausgemacht, daß auch sie vernünftig im subjektiven Sinne sind, das heißt, daß sie dem Interesse des Subjekts im Hinblick auf seine Selbsterhaltung dienen – sei es die des einzelnen Individuums oder die der Gemeinschaft, von deren Fortbestand die des Individuums abhängt. Der Gedanke, daß ein Ziel um seiner selbst willen vernünftig sein kann – auf Grund von Vorzügen, von denen Einsicht zeigt, daß das Ziel sie enthält, ohne auf irgendeine Art subjektiven Gewinnes oder Vorteils sich zu beziehen, ist der subjektiven Vernunft zutiefst fremd, selbst wo sie sich über die Rücksicht auf unmittelbar nützliche Werte erhebt und sich Reflexionen über die Gesellschaftsordnung, betrachtet als ein Ganzes, widmet“15. Aber diese subjektive Dimension der Vernunft war in der westlichen Kultur nicht immer so verbreitet in dem Sinne, dass zunächst ein Gleichgewicht zwischen subjektiver und objektiver Vernunft bestand, ein Gleichgewicht, das allmählich verblassen sollte: „Lange Zeit herrschte eine diametral entgegengesetzte Ansicht von der Vernunft. Diese Ansicht behauptete das Dasein der Vernunft als einer Kraft nicht nur im individuellen Bewußtsein, sondern auch in der objektiven Welt – in den Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen sozialen Klassen, in gesellschaftlichen Institutionen, in der Natur und ihren Manifestationen. Große philosophische Systeme, wie die von Platon und Aristoteles, die Scholastik und der deutsche Idealismus, waren auf einer objektiven Theorie der Vernunft begründet. Sie zielte darauf ab, ein umfassendes System oder eine Hierarchie alles Seienden einschließlich des Menschen 15  Horkheimer

1991, S. 27–28.



Vernunft, Konformismus und Kulturindustrie61

und seiner Zwecke zu entfalten. Der Grad der Vernünftigkeit des Lebens eines Menschen konnte nach seiner Harmonie mit dieser Totalität bestimmt werden. Deren objektive Struktur, und nicht bloß der Mensch und seine Zwecke, sollte der Maßstab für individuelle Gedanken und Handlungen sein. Dieser Begriff von Vernunft schloß subjektive Vernunft niemals aus, sondern betrachtete sie als partiellen, beschränkten Ausdruck einer umfassenden Vernünftigkeit, von der Kriterien für alle Dinge und Lebewesen abgeleitet wurden. Der Nachdruck lag mehr auf den Zwecken als auf den Mitteln“16. Nach Horkheimer hingegen befanden sich diese beiden Arten der Vernunft lange Zeit miteinander im Einklang und ergänzten sich gegenseitig. Erst in der jüngeren Vergangenheit wurde dieses Gleichgewicht bedrohlich untergraben: „Die Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen von Vernunft ist nicht bloß eine des Gegensatzes. Historisch hat es beide Aspekte der Vernunft, den subjektiven und den objektiven, seit Anbeginn gegeben, und das Vorherrschen jenes über diesen kam im Verlaufe eines langen Prozesses zustande“17. Dies bezieht sich eindeutig auf eine viel umfassendere und befriedigendere Vorstellung von Vernunft, die jetzt dramatisch verloren gegangen ist: „Die philosophischen Systeme der objektiven Vernunft schlossen die Überzeugung ein, daß eine allumfassende oder fundamentale Struktur des Seins entdeckt und eine Konzeption der menschlichen Bestimmung aus ihr abgeleitet werden könne. Sie verstanden Wissenschaft, wenn sie dieses Namens wert war, als eine Betätigung solcher Reflexion oder Spekulation. Sie opponierten einer jeden Erkenntnistheorie, die die objektive Basis unserer Einsicht auf ein Chaos unkoordinierter Daten reduzieren und unsere wissenschaftliche Arbeit als die bloße Organisation, Klassifikation oder Berechnung solcher Daten bestimmen würde. Diese Tätigkeiten, in denen die subjektive Vernunft die Hauptfunktion der Wissenschaft zu sehen geneigt hat, sind im Licht der klassischen Systeme der objektiven Vernunft der Spekulation untergeordnet“18. Horkheimer hat jedoch nicht die Absicht, den Wert der sogenannten zeitgenössischen Rationalität tout court zu bestreiten, noch kann er als romantischer Nostalgiker der Vergangenheit bezeichnet werden. Er denkt in der Tat niemals an eine Rückkehr, die in jeglicher Hinsicht völlig unwahrscheinlich und unhaltbar wäre, zu einem nunmehr verloren gegangenen Modell der Rationalität der Vergangenheit und noch viel weniger zu einer unmissverständlichen und endgültigen Entscheidung zwischen starren Alternativen. Vielmehr geht es darum, das Thema der Vernunft in einem umfassenderen Kontext zu überdenken, und zwar in einem solchem, in dem sie ihren ursprünglichen und authentischen Wert nur in Bezug auf den gesamten Prozess des menschlichen Le16  Ebd.,

S. 28. S. 30. 18  Ebd., S. 34–35. 17  Ebd.,

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bens entfalten kann und nicht zu einem einfachen Herrschafts- und Rechtsinstrument wird und somit auf die Ausbeutung einer Welt, die in irgendeiner Weise als etwas Anderes betrachtet wird, ausgerichtet ist. Hier ist eine starke Rückkehr auf Kant als Befürworter des kritischen Datums der Vernunft als seine zutiefst authentische Eigenschaft festzustellen: „Die Aufgabe der Philosophie besteht nicht darin, stur den einen gegen den anderen auszuspielen, sondern eine wechselseitige Kritik zu befördern und so, wenn möglich, im geistigen Bereich die Versöhnung beider in der Wirklichkeit vorzubereiten. Kants Maxime ‚Der kritische Weg ist allein noch offen‘, die sich auf den Konflikt zwischen der objektiven Vernunft des rationalistischen Dogmatismus und dem subjektiven Denken des englischen Empirismus bezog, gilt treffender noch von der gegenwärtigen Situation. Da die isolierte subjektive Vernunft in unserer Zeit überall triumphiert, mit fatalen Ergebnissen, muß die Kritik notwendigerweise mehr mit dem Nachdruck auf der objektiven Vernunft geführt werden als mit dem auf Überbleibseln subjektivistischer Philosophie, deren genuine Traditionen im Licht der fortgeschrittenen Subjektivierung jetzt selbst als objektivistisch und romantisch erscheinen“19. Doch um dies zu erreichen und damit die erdrückende Spaltung zwischen subjektiver und objektiver Vernunft angemessen zu überwinden, ist es notwendig, einen viel umfassenderen und vereinnahmenderen Prozess auszulösen. Vor diesem Hintergrund scheint die zentrale Rolle der Philosophie als kritische Fähigkeit wiedererlangt werden zu müssen, d. h. als Möglichkeit des authentischen Ausdrucks individueller und kollektiver Intelligenz, jenseits aller Versuche, sie auf die typische ökonomisch-produktive Dimension anderer Wissenschaften und vor allem anderer Aktivitäten zu reduzieren. Anders ausgedrückt ist dies nichts anderes als die korrekte Auslegung der berühmten Worte Platons bezüglich der Zweckmäßigkeit der Philosophenherrschaft. Das bedeutet letztendlich – jenseits aller zwangsläufig reduzierenden Interpretationen – in der Lage zu sein, den Blick erneut auf den wahrhaft authentischen Sinn des Wissens zu richten, das auf eine umfassendere und ursprüngliche Weise zu begreifen ist: „Begriffe, Urteile und Theorien sind Phänomene, die sich in der Auseinandersetzung der Menschen untereinander und mit der Natur entwickeln. Keineswegs ist zwar, wie der Pragmatismus meint, der Nutzen das Kriterium der Erkenntnis; diese weist sich vielmehr in den verschiedenen Wissenschafts- und Lebensgebieten auf Grund sehr mannigfacher Zeichen aus. Die Lehre, daß jede Erkenntnis nützlich sei, das heißt unmittelbar zur Befriedigung eines praktischen Bedürfnisses führen müsse, ist falsch, aber das theoretische Bedürfnis selbst, das Interesse an der Wahrheit, wird entsprechend der Lage des Erkennenden gelenkt. Wenn sein Schicksal, in dem materielle und psychische Momente sich durchdringen, dazu führt, daß 19  Ebd.,

S. 175.



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in seiner geistigen Arbeit nicht bloß private Schrullen, sondern die Bedürfnisse der Menschheit sich durchsetzen, kann sie geschichtliche Bedeutung gewinnen“20. Berühmt in Horkheimers Vorstellung (und nicht nur in seiner) bleibt, obgleich sich dies in irgendeiner Weise als unvermeidlich stereotypisiert und als Modell einer bestimmten historischen Situation erweisen muss, die Darstellung des Ingenieurs als Ausdruck einer rein funktionalen Rationalität, die in der Tat losgelöst von jeglicher Bezugnahme auf weitere und umfassendere Zusammenhänge und Zwecke ist: „Zwar ist der Ingenieur, vielleicht das Symbol dieses Zeitalters, nicht so ausschließlich auf Gewinn aus wie der Industrielle oder der Kaufmann. Weil seine Funktion unmittelbarer mit den Erfordernissen der Produktionstätigkeit selbst verbunden ist, tragen seine Anweisungen das Zeichen größerer Objektivität. Seine Untergebenen anerkennen, daß zumindest einige seiner Befehle in der Natur der Dinge liegen und deshalb in einem allgemeinen Sinn rational sind. Aber im Grunde gehört auch diese Rationalität zur Herrschaft, nicht zur Vernunft. Der Ingenieur ist nicht daran interessiert, die Dinge um ihrer selbst oder um der Einsicht willen zu verstehen, sondern im Hinblick darauf, daß sie geeignet sind, in ein Schema zu passen, ganz gleich, wie fremd dieses ihrer eigenen inneren Struktur sein mag; das gilt für lebende Wesen ebensogut wie für unbeseelte Dinge. Das Bewußtsein des Ingenieurs ist das des Industrialismus in seiner hochmodernen Form. Seine planmäßige Herrschaft würde die Menschen zu einer Ansammlung von Instrumenten ohne eigenen Zweck machen“21. Die heutige Gesellschaft ist durch Homologation und Konformismus bestimmt, das Ergebnis eines langen Prozesses, der im paradigmatischen Sinne seinen Ausgang nahm von der Rationalisierung der kosmischen Räume, die Odysseus, der gerade diesen Anfangsmoment des Rationalisierungsprozesses und der nachfolgenden Eroberung der Welt verkörpert, so entschlossen zu erreichen suchte: „Die Irrfahrt von Troja nach Ithaka ist der Weg des leibhaft gegenüber der Naturgewalt unendlich schwachen und im Selbstbewußtsein erst sich bildenden Selbst durch die Mythen. Die Vorwelt ist in den Raum säkularisiert, den er durchmißt, die alten Dämonen bevölkern den fernen Rand und die Inseln des zivilisierten Mittelmeers, zurückgescheucht in Felsgestalt und Höhle, woraus sie einmal im Schauder der Urzeit entsprangen. Die Abenteuer aber bedenken jeden Ort mit seinem Namen. Aus ihnen gerät die rationale Übersicht über den Raum. Der zitternde Schiffbrüchige nimmt die Arbeit des Kompasses vorweg“22. Dies bedeutet, die Harmonie des Menschen mit der Natur zu brechen und durch die fortschreitende Stärkung des 20  Horkheimer

1988, S. 192–193. 1991, S. 155–156. 22  Horkheimer/Adorno 1987, S. 70. 21  Horkheimer

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Selbst das Umfeld zu unterwerfen und demzufolge ein deutliches Ungleichgewicht zu schaffen, das zunehmend unkontrollierbar wird. Mit anderen Worten handelt es sich dabei um den Prozess, der in der Geschichte der Menschheit zur fortschreitenden Zerstörung des mythischen Elements zugunsten des rein rationalen geführt hat: „Odysseus erkennt die archaische Übermacht des Liedes an, indem er, technisch aufgeklärt, sich fesseln läßt. Er neigt sich dem Liede der Lust und vereitelt sie wie den Tod. Der gefesselt Hörende will zu den Sirenen wie irgendein anderer. Nur eben hat er die Veranstaltung getroffen, daß er als Verfallener ihnen nicht verfällt. Er kann mit aller Gewalt seines Wunsches, die die Gewalt der Halbgöttinnen selber reflektiert, nicht zu ihnen, denn die rudernden Gefährten mit Wachs in den Ohren sind taub nicht bloß gegen die Halbgöttinnen, sondern auch gegen den verzweifelten Schrei des Befehlshabers. Die Sirenen haben das Ihre, aber es ist in der bürgerlichen Urgeschichte schon neutralisiert zur Sehnsucht dessen, der vorüberfährt. Das Epos schweigt darüber, was den Sängerinnen widerfährt, nachdem das Schiff entschwunden ist. In der Tragödie aber müßte es ihre letzte Stunde gewesen sein, wie die der Sphinx es war, als Ödipus das Rätsel löste, ihr Gebot erfüllend und damit sie stürzend. Denn das Recht der mythischen Figuren, als das des Stärkeren, lebt bloß von der Unerfüllbarkeit ihrer Satzung. Geschieht dieser Genüge, so ist es um die Mythen bis zur fernsten Nachfolge geschehen“23. Diese Veränderung des kosmischen Gleichgewichts, in dem der Mensch ein zwar wichtiger Teil ist, doch nicht der absolute und unbestrittene Herrscher, verweist also auf das bekannte und in der (vor allem, aber nicht nur) deutschen Welt viel diskutierte Thema des stets unsicheren Gleichgewichts zwischen Kultur und Zivilisation. Eine weitere wichtige Tatsache im Zusammenhang mit der Bestimmung des Entfremdungsprozesses von Individualität und damit der Verbreitung des sozialen Konformismus in der heutigen Zeit ist die Rolle, die die Unterhaltung und allgemein die Nutzung von Freizeit in den sozialen Organisationen spielen. So wird die Freizeit zu einem bloßen Erholungsmittel der für die Arbeit aufgewandte Energie, wobei sie ihre eigentliche Funktion verliert, die nämlich mit der Bestätigung und dem Ausdruck (insbesondere) der persönlichen Eigenheiten verbunden ist, welche nicht schlichtweg mit der Arbeitstätigkeit übereinstimmen. Die Unterhaltungsindustrie innerhalb der Massengesellschaften dient demnach dazu, das Bild einer Welt und einer Reihe von Ereignissen absolut klischeehaft und damit leicht erkennbar und neutralisierbar zu machen, um auf diese Weise die Vorstellung einer stereotypen Normalität, die die Unterschiede aufhebt und daher in gewisser Weise gegen das 23  Ebd.,

S. 83.



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Konzept einer authentischen und voll verantwortlichen Individualität angeht, geltend zu machen: „Die kurze Intervallfolge, die in einem Schlager als einprägsam sich bewährte, die vorübergehende Blamage des Helden, die er als good sport zu ertragen weiß, die zuträglichen Prügel, die die Geliebte von der starken Hand des männlichen Stars empfängt, seine rüde Sprödheit gegen die verwöhnte Erbin sind wie alle Einzelheiten fertige Clichés, beliebig hier und dort zu verwenden, und allemal völlig definiert durch den Zweck, der ihnen im Schema zufällt. Es zu bestätigen, indem sie es zusammensetzen, ist ihr ganzes Leben. Durchweg ist dem Film sogleich anzusehen, wie er ausgeht, wer belohnt, bestraft, vergessen wird […]“24. Mit anderen Worten geht es also darum, das Bild einer Realität vertraut zu machen, die unvermeidlich immer gleich und daher passiv zu akzeptieren und zu teilen ist, anstatt sie zu verwandeln und für die Bekräftigung der vielfältigen Leistungsfähigkeiten unterschiedlicher Individuen zunehmend tauglich zu machen: „All die ingeniösen Apparate der Vergnügungsindustrie reproduzieren stets aufs neue banale Szenen des Alltags, die gleichwohl trügerisch sind, weil die technische Exaktheit der Reproduktion die Falschheit des ideologischen Inhalts oder die Willkür, mit der ein solcher Inhalt vorgeführt wird, verschleiert. Diese Reproduktion hat nichts gemein mit großer realistischer Kunst, welche die Wirklichkeit porträtiert, um ein Urteil über sie auszusprechen. Die moderne Massenkultur glorifiziert die Welt wie sie ist, obgleich sie sich stark an abgestandenen Kulturwerten orientiert. Die Filme, das Radio, die populären Biographien und Romane haben denselben Refrain: dies ist unser gewohntes Gleis, dies ist die Spur des Großen und dessen, was gern groß wäre – dies ist die Wirklichkeit, wie sie ist und sein sollte und sein wird“25. Es verändert sich demnach der Sinn der Unterhaltung, der nun zu einem einfachen Prozess heruntergekommen ist, ein schnell und mechanisch ablaufender Prozess, der darauf abzielt, die individuellen Fähigkeiten zu schwächen und Homologation und soziale Konformität zu erzeugen: „Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur in der Angleichung an ihn in der Muße. Daran krankt unheilbar alles Amüsement. Das Vergnügen erstarrt zur Langeweile, weil es, um Vergnügen zu bleiben, nicht wieder Anstrengung kosten soll und daher streng in den ausgefahrenen Assoziationsgeleisen sich bewegt. Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen: das Produkt zeichnet jede Reaktion vor: nicht durch seinen sachlichen Zusammenhang – dieser zerfällt, soweit er Denken beansprucht – sondern durch Signale. Jede logische Verbindung, die geistigen Atem voraussetzt, wird peinlich vermieden. […] Vergnügen heißt allemal: nicht daran denken müssen, das Leiden vergessen, noch wo es gezeigt wird. Ohnmacht liegt ihm zu Grunde. Es ist in 24  Ebd.,

S. 149–150. 1991, S. 147–148.

25  Horkheimer

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der Tat Flucht, aber nicht, wie es behauptet, Flucht vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch übriggelassen hat. Die Befreiung, die Amüsement verspricht, ist die von Denken als von Negation“26. Mit anderen Worten bedeutet dies, die Unterschiede aufzuheben, und auch das, was sich vom Kontext zu unterscheiden scheint, als eine physiologische Manifestation zu verzeichnen, was gerade aus diesem Grund einfach registriert und demzufolge neutralisiert werden kann. In der Massengesellschaft wird der Mensch, jenseits aller ideologischen und politischen Konnotationen, zu einem bloßen Getriebe des Systems reduziert, zu einer Maschine unter Maschinen. Es wird von ihm lediglich verlangt, immer schneller und daher notwendigerweise mechanisch und unkritisch auf Leistungsansprüche zu reagieren, die jedes Mal mit einem zunehmend obsessiveren Rhythmus an ihn gerichtet werden, der jeglichen Raum für Reflexion und die Bekräftigung der individuellen Qualitäten unmöglich macht. So vollzieht sich die endgültige Entfremdung des Ichs, das nunmehr lediglich darauf bedacht ist, nicht durch den unaufhaltsamen sozialen Mechanismus zermalmt zu werden. Die umfassendere und authentische Verwirklichung des eigenen Ich und der verschiedenen spezifischen Möglichkeiten, die zumindest theoretisch zum Ausdruck gebracht werden könnten, geraten dabei in den Hintergrund: „Heute konstituiert sich die planende Verwaltung und die Konstitution des Ichs löst sich auf. Als Resultat der ökonomischen Zentralisation hat sich die kleine Gruppe industrieller Magnaten installiert. Trotz und wegen des unmäßigen Kapitals, über das sie verfügen sollen, können sie sich so wenig fassen wie die Unterworfenen. Diese stehen in Abteilungen, Gruppen und Verbände eingeteilt. In den Verbänden ist das Individuum nur ein Element und hat an sich selbst keine Bedeutung. Wenn es sich erhalten will, muß es nur überall zupacken können, in jedem Team mitmachen, zu allem geschickt sein. Es gehört immer einer Belegschaft an, in der Fabrik, beim Straßen- und Landbau, beim Sport, in der Armee. In jedem solchen Lager muß es unmittelbar seine psychische Existenz verteidigen, beim Arbeiten, Essen, Schlafen seinen Platz behaupten, Püffe und Schläge nehmen und austeilen, unter der rauhsten Disziplin noch durchkommen. Anstelle der weitausholenden bürgerlichen Verantwortlichkeit für sich und die Seinen auf Generationen hinaus tritt die Anpassungsfähigkeit an mechanische Aufgaben jeder Art. Das Individuum zieht sich zusammen. Es ist stets wachsam und bereit, immer und überall von derselben Art Wachsamkeit und Bereitschaft, immer und überall auf unmittelbar Praktisches gerichtet, auf Sprache nur hörend wie auf Information, Orientierung, Anordnung, ohne Traum und ohne Geschichte“27. 26  Horkheimer/Adorno 27  Horkheimer

1987, S. 162 und 170. 1987, S. 336–337.



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Das Thema, das ich in diesem Beitrag – wenngleich in einem umschriebenen Rahmen – behandelt habe, nämlich die authentische Bedeutung der Vernunft und ihre möglichen Mystifizierungen im Bereich der Massengesellschaften, ist auch in der heutigen Welt, in der die sozialen Homologationsprozesse durch die Entwicklung der Kommunikationstechniken und zunehmend erfindungsreiche, subtile Mittel der Kulturindustrie auf immer schnellere und intensive Weise ablaufen, äußerst relevant. All dies bewirkt auch heute noch jenes gefährliche Phänomen des Konformismus und der Standardisierung, das bereits im letzten Jahrhundert zu gewaltsamen Katastrophen und der tragischen Leugnung jeglicher – auch der kleinsten – Würde der Individuen und ganzer Gruppen der Weltbevölkerung geführt hat. Es ist sicherlich bedeutsam und gleichermaßen ausgesprochen beunruhigend, dass dies in der sogenannten technologischen und hochentwickelten Gesellschaft geschehen ist und nach wie vor geschieht, da der Mythos des Fortschritts und der Optimismus der Wissenschaften häufig mehr oder minder bewusst dazu beigetragen haben, ein weitgehend reduzierendes und verzerrtes Bild der Menschheit in ihrer Gesamtheit zu schaffen und dabei die Aufmerksamkeit von ihren Bedürfnissen und Vorrechten, die als wesentlich gelten sollten, abzuwenden. Das heutige Individuum, insbesondere (doch nicht nur), wenn es verantwortungsvolle (politische, kulturelle usw.) Rollen in Bezug auf eine Gemeinschaft übernimmt, hat die Pflicht, auf diese degenerativen Erscheinungen aufmerksam zu machen, die oftmals über lange Zeit unterirdisch und in der Tiefe und daher auf sehr tückische Weise wirken, bevor sie in irgendeiner Weise unkontrollierbar werden und eine weitere Ursache für Tragödien und Demütigungen darstellen, wie es die Geschichte leider lehrt, und nicht nur in der Moderne. Ausgehend von dieser Perspektive ist es notwendig, die eigentlich ursprüngliche Vorstellung der Vernunft wiederherzustellen und daran festzuhalten, eine Vorstellung, die im Wesentlichen als unveräußerliche kritische Fähigkeit eines jeden Individuums und als eine unabdingbare Eigenschaft der spezifischen Eigenheiten des Menschen in seinem tiefgründigsten und wahrsten Sinn zu begreifen ist. Literaturverzeichnis Geyer, Carl Friedrich: Kritische Theorie. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Freiburg/München 1982. Gumnior, Helmut/Ringguth, Rudolf: Horkheimer, Reinberg 1973. Horkheimer, Max: Vernunft und Selbsterhaltung, in: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 5: Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940–1950, hrsg. v. G. Schmid Noerr, Frankfurt am Main 1987. Horkheimer, Max: Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie, in: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 3: Schriften 1931–1936, hrsg. von A. Schmidt, Frankfurt am Main 1988.

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Giancarlo Magnano San Lio

Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, in: Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 6: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft und Notizen 1949–1969, hrsg. von A. Schmidt, Frankfurt am Main 1991. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 5: Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940–1950, hrsg. v. G. Schmid Noerr, Frankfurt am Main 1987. Schmidt, Alfred/Rusconi, Gian Enrico: La Scuola di Francoforte, Bari 1972. Skuhra, Anselm: Max Horkheimer. Eine Einführung in sein Denken, Stuttgart 1974.

2. Politische Philosophie

Liebe zur Welt als Veränderung der Welt? Die Ambiguität in Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Karl Marx1 Von Uta Eichler „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.“2 „Marx, der ebenfalls philosophisch nur noch erklärte, dass der Mensch die Welt verändern könne und deshalb aufhören solle, sie zu interpretieren. […] Das Resultat war, dass […] Marx sich in eine Wissenschaft der Politik zur Beschreibung des äußeren Handelns rettet[e-UE].“3 „Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung, wie Marx meinte, ist das Kennzeichen der Neuzeit.“4

Die Begriffe „Weltentfremdung“ und „Liebe zur Welt“ bedingen bei ­ rendt einander. Das „tertium comparationis des Menschseins“ ist die Welt.5 A Auch in Marx’ Konzept sind Welt- und Entfremdungsbegriff verbunden, das tertium comparationis ist die gegenständliche menschliche Tätigkeit. Aber greift Marx in seinem Tätigkeitskonzept auf den Liebesbegriff zurück? Diese These soll gestützt werden. ­Arendts berühmteste Formulierung, die den Weltbegriff umfasst, ist amor mundi  – Liebe zur Welt. Wie wird dieser Zusammenhang mit ihrer Auffassung von der Bedingtheit menschlicher Tätigkeitsformen verknüpft, ist die erste Frage, die verfolgt wird. (I.) Die zweite wird sich dem Weltbegriff bei Marx unter Einbeziehung der ­Arendtschen Kritik widmen (II.) und drittens schließlich wird diskutiert, ob sich Gemeinsamkeiten zwischen der Liebe zur Welt bei ­Arendt und der Forderung nach Veränderung der Welt bei Marx herausstellen lassen (III.). 1  Der Aufsatz bezieht sich auf Marx-Texte bis 1848, darunter jene, auf die ­Arendt vor allem Bezug nahm. Da ich die Vorgaben der Seitenzahlbegrenzung akzeptiert habe, wurde der Aufsatz gekürzt. 2  Marx 1845a, S. 7. 3  Arendt 1946, S. 25 f. 4  Arendt 1960, S. 249. 5  ­Arendt 1955, S. 343.

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I. Liebe zur Welt ­Arendts Weltbegriff ist ohne ihre Dissertation zu Augustinus, die sie mit 23 Jahren bei Jaspers und unter Bezugnahme auf Heidegger, der Augustinus verehrte, geschrieben hat, nicht zu verstehen. Zunächst werden die Früchte dieser Arbeit kurz skizziert: Die Bindung des Menschen an die Welt ist das Problem, das ­Arendt umtreibt. Sie stellt nicht nur Augustinus’ Weltbegriff und seine Position, dass die Welt vergehen müsse, nur Mittel zum Zweck, gleichsam ein Durchgangsstadium sei, um zu einem ewigen Leben bei Gott zu gelangen, und damit eine insgesamt negative Bedeutung der Welt für den Menschen, in Frage. Sie nimmt geradezu eine Umkehr vor und untersucht, ob sich das Mensch-Welt-Verhältnis auf Dauer stellen lasse, sie ersetzt amor Dei durch amor mundi. ­Arendt lernt zugleich von Augustinus, der die negative Bindung des Menschen an die Welt auch auf dessen bloße natürliche Begierde zurückführt, die dann zerstörerisch wird, wenn der Mensch sich dem Streben ausliefert, sich im Verlangen an äußere Gegenstände bindet und von diesen beherrschen lässt. Damit degradiert das Streben zum Trieb. Der hier enthaltene Grundgedanke, dass die Begierde, die zur Herrschaft der Mittel über den Zweck führt, nicht nur den Menschen selbst, sondern auch die Welt zerstört, bleibt für ­Arendt bis in ihre späten Schriften zentral und wird unter verschiedenen Perspektiven verdichtet. Der Begierde oder der falschen Liebe – cupiditas – stellt Augustinus die rechte Liebe – caritas – gegenüber. Der Focus richtet sich auf das Verhältnis des Menschen zu einem Gegenstand, den er nicht hat, auf etwas, das ihm fehlt und er deshalb sucht, in der Suche nach diesem zugleich sich selbst überschreitet. Die rechte Liebe kann sich von dem nähren, was nicht von dieser Welt ist, vom unerschöpflichen Bezug zu Gott. „In der caritas lebend wird die Welt zur Wüste, statt zur Heimat, sie ist leer und fremd dem, was der Mensch sucht. Warum aber ist die Welt für das Suchen des Menschen die Wüste?“6 Die Metapher der Wüste nimmt ­Arendt auf, weil der Mensch scheinbar ohne eigenen Anspruch an die Welt leben kann und damit als Fremder in ihr. Die Fremdheit der Welt bezieht sich nicht nur darauf, dass alles, wonach der Mensch strebt, vergänglich und er selbst sterblich ist, sondern auch auf sein Verhältnis zum anderen Menschen. In der Hinwendung zu Gott schwindet die Hinwendung zum Nächsten und deshalb interpretiert ­Arendt die Nächstenliebe als Entleerung im Verhältnis zum anderen, in der der konkrete Einzelne nicht in den Blick gerät. Es ist eine doppelte Entleerung im Verhältnis zum anderen, die sie herausstellt. „Ich liebe nicht einfach ihn, sondern etwas in ihm, das gerade, was er selber von sich her nicht ist.“7 Durch diese Form der Gleichheit 6  ­Arendt 7  Ebd.,

1929, S. 13. S.  70 f.



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geraten Menschen in ihrer Verschiedenheit aus dem Blick, verlieren auch weltliche Differenzierungen wie Freund und Feind ihre Relevanz.8 Wenn der „Glaube den Einzelnen in die Isolierung coram Deo stößt“, wird ein weltliches „Zusammen für das Sein des Einzelnen irrelevant“.9 Die Gefährdung der Eigenständigkeit des menschlichen Zusammenlebens, die zur Flucht aus der Welt führt, ist eine Form der Weltentfremdung. Schon hier zeigt sich, dass nach ­Arendt Weltentfremdung nicht erst ein neuzeitliches Phänomen ist. Ihre Kritik an Augustinus gewinnt sie auch vor dem Hintergrund von Heideggers Bestimmung des Daseins als In-der-Welt-sein. Mit der Terminologie von „Sein und Zeit“ ist sie vertraut.10 Danach sind die Menschen für die Welt gerüstet, sie „sind nicht bloß in der Welt, sie sind von dieser Welt […].11 Dennoch erschöpfen Heideggers eingehende Analysen des Daseins, die die gegenständliche Tätigkeit, den Menschen als homo faber, in den Blick nehmen, die Mensch-Welt-Beziehung nicht.12 Für ­Arendts Ansatz ist entscheidend, dass Mensch und Welt aufeinander verweisen. Deshalb erfasst sie den Menschen nicht nur im Zusammenhang mit der gegenständlichen Welt. Somit wird die Frage, wie sich die Welt auf Dauer stellen lässt, zu einer Frage nach den Menschen und an diese selbst. Ein gelingendes WeltMensch-Verhältnis ist auf Grund der politischen Katastrophen des letzten Jahrhunderts für ­ Arendt nicht mehr selbstverständlich, im Zentrum ihres Denkens steht deshalb vor allem seine Gefährdung. Um ihr zu begegnen, untersucht sie die Bedeutung der Liebe im Mensch-Welt-Verhältnis und damit im Verhältnis zwischen Menschen. Wie geht sie dabei vor? 1. Pluralität als Zwischen Nicht die Natur liegt dem Menschen voraus, streng genommen entsteht der Mensch nicht aus der Natur, sondern aus einem Bedingungsgefüge, das nach Arendt in drei Grundtätigkeiten zur Erscheinung kommt: Die Arbeit, das ­ Herstellen und das Handeln. Die Arbeit sichert den bloßen Lebenserhalt von Individuum und Gattung, das Herstellen errichtet eine künstliche Welt, die dem flüchtigen Leben Bestand verleiht und das Handeln schafft die Bedingungen für die Entstehung von Gemeinwesen und für den Erhalt der Generationen.13 ­Arendt trennt diese Praxisformen in idealtypischer Weise. In Wirk8  Vgl.

Ebd., S. 69. S. 76 (Hervorh. im Text). 10  Zum Einfluss von Heideggers Terminologie auf die Dissertation vgl. u. a. Tömmel 2013, S. 202 ff. 11  ­Arendt 1978, S. 30 (Hervorh. im Text). 12  Vgl. ­Arendt 1946, S. 32. 13  Vgl. ­Arendt 1960, S. 15. 9  Ebd.,

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lichkeit greifen die genannten Tätigkeitsformen auch ineinander.14 In diesem Bedingungsgefüge ist die Pluralität die wichtigste Bedingung, die conditio per quam.15 Sie findet ihren Ausdruck in der Perspektivenvielfalt, in der Menschen einander begegnen, durch sie lässt sich auch der Reichtum zwischenmenschlicher Beziehungen erfassen. Der Zusammenhang von Differenz und möglicher Einheit macht den Charakter der Pluralität aus, durch die zwischen Menschen ein Raum entsteht, eine Öffentlichkeit, eine Welt. ­Arendt unterscheidet die öffentliche Welt von der Welt der Dinge, die aus dem Herstellungsprozess hervorgehen.16 Diese zwischen Menschen spielenden Aktionen, nennt sie das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten, „das aus den Taten und Worten selbst, […] entsteht, in dem Menschen sich direkt über die Sachen, welchen den jeweiligen Gegenstand bilden, hinweg aneinander richten und sich gegenseitig ansprechen.“17 Erst in der Öffentlichkeit treten Menschen als Personen, das heißt vor anderen, in Erscheinung, bringen mit anderen Gemeinsames hervor. Die Bezeichnung für diese Grundtätigkeit bei ­Arendt ist das Handeln oder das Politische. Mit dem Handeln erfasst sie eine Tätigkeitsform, die vom Menschen selbst nicht getrennt werden kann, die kein Produkt außerhalb ihrer selbst hat, sondern die Vermittlung – das Zwischen – selbst ist. Das „Produkt“ des Handels, sein „Zweck“, liegt nicht außerhalb der Menschen, sondern „zwischen Menschen qua Menschen“. So verschieden Menschen von Geburt aus sind, als gleiche können sie sich erst erweisen, wenn sie ein Drittes, etwas Gemeinsames zwischen sich stiften, das nicht intendiert ist, die „Mitwelt“18. 2. ­Arendts Liebesbegriff Unter Rückgriff auf das „Zwischen“ kann ­Arendts Liebesbegriff entwickelt werden. Sie unterscheidet die Liebe zweier Menschen, die in der Gegenseitigkeit besteht und ein Drittes ausschließt. In Abhebung davon lässt sich ihr Begriff der Liebe zur Welt erläutern. ­Arendt versteht Liebe zur Welt als plurales Beziehungsgefüge und verbindet sie nicht nur mit ihrer Auffassung vom Politischen, sondern versucht unter Einbeziehung der Liebe ihre These einzulösen, dass Mensch und Welt zusammenpassen. Ausschlaggebend dafür ist ihre Konzentration auf die Bindung der Liebe an die Pluralität auf der einen und auf das Du auf der anderen Seite. Zu dem ist Liebe damit in unterschied14  ­Arendt

1957, S.  73 f. ­Arendt 1960, S. 14 f. Zum doppelten Charakter der Bedingtheit als Einschränkung (conditio sine qua non) und Ermöglichung (conditio per quam) vgl. Vollrath 1977, S. 12. 16  Vgl. ­Arendt 1960, S. 52. 17  Ebd., S. 173. 18  Ebd., S. 172. 15  Vgl.



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lichen Räumen verortet, im Öffentlichen oder im Privaten. Während in der dualen Liebesbeziehung das Zwischen erlischt, ist die plurale Liebe auf ein Drittes, etwas Gemeinsames, bezogen. ­Arendt verknüpft die Entstehung des Dritten mit der Bildung eines originären Sinns, dem sensus communis. In Verbindung mit diesem ist Liebe zur Welt sinn- und gemeinschaftsstiftend ohne auf eine Instanz oder eine transzendente Ordnung rückbezogen zu sein.19 Die Trennung zwischen der weltbildenden bzw. politischen und der weltlosen bzw. antipolitischen Liebe scheint einer einheitlichen Verwendung des Begriffs entgegenzustehen.20 So schließt die Unmittelbarkeit der Liebesbeziehung zweier Menschen das Zwischen gerade aus. „In der Leidenschaft, mit der die Liebe nur das Wer des Anderen ergreift, geht der weltliche Zwischenraum, durch den wir mit anderen verbunden und zugleich von ihnen getrennt sind, gleichsam in Flammen auf.“21 ­Arendt wird nicht müde, Unterschiede zu betonen: „Die Liebe ist ihrem Wesen nach nicht nur weltlos, sondern sogar weltzerstörend, und daher nicht nur apolitisch, sondern antipolitisch […].22 „Noch schärfer: „Wegen der ihr inhärenten Weltlosigkeit muten uns daher auch alle Versuche, die Welt durch Liebe zu ändern oder zu retten, als hoffnungslos verlogen an.“23 Lassen sich diese widersprüchlichen Äußerungen auf einen Begriff der Liebe bringen? Das Gemeinsame tritt hervor, wenn gezeigt wird, was beide Bestimmungen ausschließen. Erstens: ­Arendt spricht von der Liebe zweier Menschen als von der reinen, der weltlosen Liebe, die selbstzweckhaft ist, weil die Bindung an den anderen nicht auf das Selbstinteresse zurückgeführt werden kann, noch Liebendes und Geliebtes hier getrennt sind. Auch die Liebe zur Welt lässt sich nicht als Subjekt-Objekt-Verhältnis bestimmen, weil sie auf ein Zwischen bezogen ist. Damit fallen beide Formen der Liebe nicht unter die ZweckMittel-Beziehung. Zweitens verneint ­Arendt, dass theoretische Begründungen der Liebe zur Welt führen können. Die Entstehung der Liebe zweier Menschen wird als Einschlag, als coup de foudre24, erfasst. Liebe ist nicht an die Eigenschaften des Geliebten, sondern an das Wer des Anderen, die Person, gebunden. Geliebt am Anderen wird das, was nicht erscheint.25 19  Max Scheler bindet die Liebe – unter Rückgriff auf Augustinus – an einen ordo amoris. Vgl. Scheler 1914–16, S. 345 ff. 20  Vgl. Tömmel 2013, S. 296 ff. 21  ­Arendt 1960, S. 237. 22  Ebd., S. 238. 23  Ebd., S. 51. 24  ­Arendt 2002, S. 51. 25  Eine Übereinstimmung mit Schelers Liebesbegriff zeigt sich darin, dass Liebe sich auf die Person des Anderen bezieht, die nicht gegenständlich werden kann. Vgl. Scheler 1923.

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Drittens: Zu dem sind beide Formen der Liebe nicht als Wahl im Sinne einer Entscheidung zu verstehen.26 ­Arendt verknüpft die Liebe zur Welt mit der Entstehung eines Sinns für die Welt. Wie die Liebe zum anderen Menschen ist die Liebe zur Welt eine Bejahung, aber keine selbstverständliche: „In die Welt gerade wird der Mensch geleitet, nicht geworfen, da gerade stellt sich seine Kontinuität her und offenbart sich seine Zugehörigkeit.“27 Viertens: Schon 1951 schlägt ­Arendt im „Denktagebuch“ einen Bogen zur griechischen Eros-Tradition, die „von der Bedürftigkeit des Einen für den Andern, wie sie in der Tatsache der Geschlechter gegeben ist, ausging; […].“ Sie sieht darin eine Zäsur: „Aber überflüssig konnten Menschen im Plural solange nicht werden, als an der menschlichen Bedürftigkeit füreinander, wie der Eros sie verwaltet, festgehalten war.“28 ­Arendt bezieht die Liebe zweier Menschen über den Eros auch auf die Liebe zur Welt. Dennoch fundiert der Eros nicht die Liebe zur Welt. Als Bindung an den Anderen als einen einzigen Menschen ist Liebe weltlos. Hier wird die Pluralität auf die Ich-Du-Beziehung reduziert, hier sichert die Liebe das Private, bildet einen Schutzraum, verwaltet die „menschliche Bedürftigkeit“, sie hat in der Bejahung des Geliebten zugleich eine Grenze. In ihrer späten Ethik kommt ­Arendt auf Augustinus zurück und schlägt den Bogen von der Liebe zweier Menschen zur Liebe zur Welt: „ ‚Amo: volo ut sis‘. (ich liebe dich heißt: ich will, dass Du seist). Meine Bestätigung dessen, was ist oder wer ist, bringt mich in bezug zu dem, was ohnehin ist, wie meine Verneinung mich ihm entfremdet. In diesem Sinne ist Welt ‚dilectores mundi‘, sind die ‚Liebhaber der Welt‘ die Welt.“29 Insgesamt verbindet ­Arendt Liebe zur Welt und Sinnsuche, wie sie auch in ihrer Sokrates-Interpretation in „Das Denken“ festhält: „Das, was ich Sinn‚Suche‘ genannt habe, heißt in Sokratischer Sprache Liebe, und zwar in der griechischen Bedeutung des erōs, nicht in der christlichen der agapē. Liebe als Eros ist in erster Linie ein Begehren; es begehrt, was es nicht hat.“ Damit 26  Sinn- und Wahlproblem lassen sich im Urteil aufeinander beziehen, wenn die Liebe ihre gemeinsame Quelle ist. Dann begleitet die Wahl die Liebe und die Liebe die Wahl. Die Wahl aber bringt die Liebe nicht hervor, wie Tömmel 2013, S. 256 ff., bes. S. 263, betont. Mit ­Arendt lässt sich die Spannung zwischen Lieben und Wählen aushalten: „Der Wille erstreckt sich nicht nur in die Zukunft, sondern er ist auch das Vermögen, mit dem wir bestätigen und verneinen können. […] Ich kann zu dem, was ist, ja oder nein sagen. […] die Liebe zur Welt begründet die Welt für mich, passt mich in sie ein.“ ­Arendt 2006, S. 165. 27  ­Arendt 2002, S. 549 f. 28  Ebd., S. 158 (Hervorhebung im Text) und S. 159. 29  ­Arendt 2006, S. 165. ­Arendt hat die verschiedenen Bedeutungen dieser Formulierung unter Bezug auf die Interpretationen von Augustinus, Duns Scotus und Hei­ degger diskutiert, vgl. Tömmel 2013, v. a. S. 322 ff.



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grenzt sie ihren Liebesbegriff nicht nur vom christlichen ab, sondern geht an dieser Textstelle weiter zum Zusammenhang von Eros und Philosophie: „Die Menschen lieben die Weisheit und beginnen deshalb zu philosophieren, weil sie nicht weise sind, und sie lieben die Schönheit, weil […] sie nicht schön sind.“30 Zugleich hält sie am Eros als Band zwischen Begehren und Lieben fest. Nicht an Platons Ideenlehre knüpft sie hier an, sondern an Sokrates, ihrem unabgegoltenen Vorbild des Philosophierens. Dazu gehört Lieben nicht auf Betrachten zu reduzieren wie einen Zusammenhang zwischen den Liebesformen im Blick zu behalten. Zentral bleibt die Sinnproblematik, in der die Tätigkeitsformen des Denkens und Handelns verknüpft sind: „Freies Denken und freies Handeln verfolgen keine Zwecke, ‚haben‘ keine Gegenstände und erzeugen keine Resultate, sondern: kreieren Sinn. Handeln ist ‚praktisches‘ Denken, Denken ist […] ‚Sinn vernehmendes‘ oder sinnendes Handeln.“31 II. ­Arendts Kritik an Marx’ Weltbegriff Weltveränderung bei Marx ist auf seinen Begriff der gegenständlichen Tätigkeit bezogen, auf den Menschen als ein Wesen, das seine Welt im Stoffwechsel mit der Natur hervorbringt und damit zugleich Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens und sich selbst als Mensch. Marx löst seinen Weltbegriff – ­Arendt durchaus ähnlich – vom klassischen griechischen Kosmosbegriff ab und bindet ihn an den Menschen: „Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät.“32 Dazu gehört, dass die Begriffe „Welt“, „Mensch“, „Gesellschaft“, „Geschichte“ und „Freiheit“ in einem Schema – der Basis-Überbau-Formel – gedacht werden. ­Arendt lehnt eine solche, letztlich an Hegel orientierte, systematische Analyse menschlicher Verhältnisse strikt ab. Durch Marx’ Tätigkeitskonzept erlangt der Weltbegriff im Zusammenhang mit dem Gesellschafts- und Geschichtsbegriff nicht nur eine systematische, sondern darüber hinaus eine historische Bedeutung. Es bildet die Grundlage seiner materialistischen Geschichtsauffassung, die Erkenntnis, der Mensch mache seine Geschichte selbst und kann sie als solche begreifen und verändern. ­Arendt kritisiert Marx Weltbegriff von seinem Geschichtsbegriff her. Aus diesem leitet sie ab, dass Marx dem Gang der Geschichte einen Zweck oder Sinn unterstellt. Durch seine Anknüpfung an Hegels Tätigkeitsmodell schreibt sie ihm nicht nur ein teleologisches Geschichtsmodell zu, sondern ein in ge30  ­Arendt

1978, S. 178. 2002, S.  283 f. 32  Marx 1844a, S. 378 (Hervorh. im Text). 31  ­Arendt

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setzmäßigen Zusammenhängen begreifbares. Deshalb kann Marx seinen Weltbegriff mit Konnotationen verbinden wie der Forderung nach der Veränderung der Welt in der 11. „These über Feuerbach“, die er in die programmatische Formel kleidet: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.“33 In dieser These sind entscheidende Elemente der Marxschen Theorie gebündelt. Zentral in dieser Kritik ist das Verhältnis von Theorie und Praxis, sind Möglichkeiten der Weltveränderung, die wiederum den Weltbegriff in den Focus nehmen: „Die Proletarier […] haben eine Welt zu gewinnen.“34 ­Arendt interessiert der Zusammenhang von Interpretation und Veränderung der Welt bei Marx, setzt sie sich doch selbst mit der Vermittlung von Denken und Handeln vom traditionellen Philosophiebegriff ab. Sie variiert ihre Lesart des Theorie-PraxisVerhältnisses der 11. „These über Feuerbach“ mehrfach: „Marx, der doch, […] erklärte, er wolle die Welt nicht mehr interpretieren, sondern sie verändern, […] flüchtete sich schleunigst in die alte Geborgenheit zurück, als er erklärte, die Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit.“35 Oder: „dass die Philosophen die Welt lange genug interpretiert haben und dass nun die Zeit gekommen sei, sie zu verändern; […].“36 Mit dieser veränderten Aufgabe der Philosophie bestreitet Marx deren Anspruch auf Interpretation der Welt keineswegs. Ihre Kritik an Marx’ versucht sie dadurch zu stützen, dass er – nach ihrem Verständnis – Weltveränderung als Ergebnis des Herstellens begreift. Hierin sieht sie die Aufhebung der Differenzierung von Handeln und Tun und den Verlust des privilegierten Zugangs des Handelns zur Welt: „Löst man Handeln in Tun auf, so verwandelt man ‚victory and defeat‘ in ‚success and failure‘. […] Das Verändern der Welt findet dauernd statt im Sinne […] zweckfreien, sinnenden Handelns und praktischen Denkens. Tun fügt der Welt Gegenstände zu oder vernichtet sie; verändert aber die Welt gerade nicht.“37 1. Der vergesellschaftete Mensch und seine Defizite? Eine zweite Säule der Kritik ­Arendts an Marx Welt- und Philosophieauffassung bildet sein Gesellschaftsbegriff. Ihre radikale Kritik am Gesellschaftsbegriff der Neuzeit überhaupt ist an seiner Gesellschaftsauffassung entwickelt. Dazu gehört, dass Weltveränderung und das weltlich Werden der Philosophie nach Marx zur politischen Aufgabe werden: „alle Verhältnisse 33  Marx

1845a, S. 7 (Hervorh. im Text). 1848, S. 493. 35  ­Arendt 1946, S. 19. 36  ­Arendt 1954, S. 28, vgl. ­Arendt 1946, S. 25. 37  ­Arendt 2002, S. 282 ff. (Hervorh. im Text). 34  Marx/Engels



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umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“38 Er durchbricht – wie ­Arendt durchaus konstatiert – damit die Lesart von Philosophie als vita contemplativa und wendet sich der vita activa zu. Ihr Urteil aber beeinträchtigt das nicht: „Philosophie kann wirklich, nämlich ‚verwirklicht‘ nur im Zusammenleben der Menschen werden, das er Gesellschaft nannte, und seine Hoffnung für diese kommende Verwirklichung der Philosophie setzte er auf den ‚vergesellschafteten Menschen‘.“39 Der vergesellschaftete Mensch wird Hannah ­ Arendts zentraler Punkt der Auseinandersetzung mit Karl Marx und der vergesellschaftete Mensch ist nicht der politische Mensch. Damit betont sie zugleich, dass die moderne Gesellschaft sich dem Wohlstandsprinzip verschrieben hat, nach vorgegebenen Zwecken funktioniert, dem Glückskalkül subordiniert ist und damit das Politische, den öffentlichen Raum, aushöhlt: „der Wachstumsprozess gesellschaftlichen Reichtums, wie wir ihn kennen, der dem Lebensprozess entspringt, […] ist möglich nur, wenn die Welt und die Weltlichkeit des Menschen ihm zum Opfer gebracht werden.“40 In den Fokus tritt der vergesellschaftete Mensch als ein Ergebnis der ursprünglichen Akkumulation, durch die Prozesse in Gang gesetzt werden, durch die Menschen nicht nur von ihrem Boden vertrieben, enteignet wurden, sondern mit Gewalt gedrängt wurden, ihre Fähigkeiten auf das Arbeiten zu reduzieren. Die Sicherung des Lebensunterhalts wird für breite Bevölkerungsschichten ihre wichtigste Aufgabe. Mit diesem Enteignungsprozess geht nach ­Arendt die Vergesellschaftung des Menschen einher, damit die Verkümmerung wesentlicher menschlicher Fähigkeiten – kurz: weltlicher Lebensäußerungen – wie Handeln und Politik. Die Gesellschaft okkupiert die Welt im Modus der Beraubung. Wenn ­Arendt jetzt vom „Beginn der Weltentfremdung“ und von „innerweltlicher Weltentfremdung“ spricht, hat sie eine andere Dimension der Weltentfremdung im Blick als in der Auseinandersetzung mit Augustinus, nicht die Flucht des Menschen zu Gott, sondern die Flucht ins Subjekt, ins Selbstbewusstsein. Beide Begriffe, hier lässt sich als Drittes die Erdentfremdung einbeziehen, verbindet das Phänomen der Flucht, der Rückzug aus der Welt. Innerweltliche Entfremdung ist bei ­Arendt nicht nur ein Fliehen ins Subjekt, sondern aus der gemeinsamen Welt, ein Fliehenmüssen, es ist ein Freiheitsentzug, der in der Gesellschaft gründet.41 Entfremdung bezieht sich nach ­Arendt damit auf den Weltbezug des Handelns und seine Gefährdung. Allein von dieser Position aus setzt sie sich mit 38  Marx

1844a, S. 385 (Hervorh. im Text). 1954, S. 23 (Hervorh. – UE). 40  ­Arendt 1960, S. 250. 41  Zu Aspekten des Fliehens, des Fliehenmüssens, des Vertreibens aus der Welt, vgl. ­Arendt 1943. 39  ­Arendt

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Marx’ Begriff der Weltentfremdung auseinander, nicht aber mit seinem Entfremdungskonzept insgesamt: „Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung, wie Marx meinte, ist das Kennzeichen der Neuzeit.“42 Dieser Satz lässt verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zu.43 Zum einen stellt sie sich Marx gegenüber und wirft ihm die Vernachlässigung der Weltentfremdung vor.44 Folgen wir dieser Lesart, ordnet sie ihn in die Traditionslinie der Selbstbewusstseinstheorien ein, die sie selbst aufs Korn nimmt. ­Arendt übersieht, dass sich Marx und Engels gerade von dieser Tradition deutlich abgrenzten.45 Neben ihrer Marxkritik bietet sich für ­Arendt die Möglichkeit, konzeptionell für den Zusammenhang von Selbst- und Weltentfremdung zu plädieren. So führt sie in ihrer Totalitarismusanalyse aus, dass die totale Herrschaft jene sei, durch die „Selbst und Welt […] zugleich zugrunde [gehen-UE].“46 Wenngleich ­Arendt darauf hinweist, dass Marx den Begriff der Weltentfremdung aufnimmt,47 vernachlässigt sie, dass er diese in sein Tätigkeitskonzept insgesamt integriert: „Das Verhältnis des Arbeiters zum Produkt der Arbeit als fremden und über ihn mächtigen Gegenstand […] ist zugleich das Verhältnis zur sinnlichen Außenwelt, zu den Naturgegenständen als einer fremden, ihm feindlich gegenüberstehenden Welt.“48 So gewinnt Marx aus der Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsordnung als entfremdeter Formulierungen wie die „bestehende Welt zu verändern“ oder „eine Welt zu gewinnen“. Dem Rebellen Marx hat ­Arendt ihre Bewunderung nicht versagt.49 Ihre Lesart des vergesellschafteten Menschen aber ist eindeutig: „Entscheidend ist, dass Marx die Welt nur verändern wollte, um den Menschen zu erlösen und zwar von der Welt.“50 In Marx’ Gesellschaftskonzept macht 42  ­Arendt

1960, S. 249. Jaeggi 1997, S. 102–106, und Jaeggi 2005, S.  13 f. 44  Vgl. ­Arendt 1993, S. 192. 45  Die Selbstbewusstseinstheoretiker haben „den ganzen, von uns entwickelten Prozess als den Entwicklungsprozess ‚des Menschen‘ gefasst, so dass den bisherigen Individuen auf jeder geschichtlichen Stufe ‚der Mensch‘ untergeschoben und als treibende Kraft der Geschichte dargestellt wurde. Der ganze Prozess wurde so als Selbstentfremdungsprozess ‚des Menschen‘ gefasst“. Marx/Engels 1845/46, S. 69. 46  ­Arendt 1955, S. 729. 47  ­Arendt schreibt unter Bezug auf den Artikel über das Holzdiebstahlsgesetz: „In den Marxschen Jugendschriften finden sich eine Reihe von Stellen, die darauf hinweisen, dass er sich bis zu einem gewissen Grade auch der Weltentfremdung in den kapitalistischen Gesellschaft bewusst war.“ Der Rückzug erfolgt prompt: „Aber solche gelegentlichen Bedenken spielen in Marx Gesamtwerk eine sekundäre Rolle; was sich immer durchsetzt ist der extreme Subjektivismus der Neuzeit.“ ­Arendt 1960, S. 363. 48  Marx 1844b, S. 515 (Hervorh. im Text). 49  Brief an Jaspers vom 4. März 1951: „Ich will ihn nicht retten als Wissenschaftler […] wohl aber als Rebellen und als Revolutionär.“, in: ­Arendt/Jaspers 1985, S. 204. 50  ­Arendt 1993, S. 192. 43  Vgl.



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sie auf einen Freiheitsverlust aufmerksam, der nicht nur die Welt überflüssig mache, sondern den Gesellschaftsprozess zugleich als einen notwendigen, als Naturprozess begreife und deterministisch verkürze.51 Sie sieht darin eine Reduzierung menschlichen Potenzials und hebt erstens die lediglich lebensdienliche Funktion der Gesellschaft hervor. Zweitens verwandelt die Flucht in das Leben den Modus menschlichen Zusammenlebens entscheidend. Drittens werden öffentliche Angelegenheiten zu sozialen und ihrer eigenen Dimension beraubt. Viertens betont ­Arendt die Veränderung der Gesellschaft zur Massengesellschaft, die zur Nivellierung des Einzelnen führt, das atomisierte Individuum generiert zum Niemand.52 Diese Kritik bezieht sie auch auf Marx’ Entwurf des Kommunismus: „Der ‚gesellschaftliche Mensch‘ in einer ‚vergesellschafteten Menschheit‘ deutet auf ein Endstadium der Gesellschaft, in dem es auch Klasseninteressen nicht mehr gibt, sondern nur das eine, alles dirigierende Interesse, dessen Subjekt erst die Klasse und dann die klassenlose Menschengesellschaft ist, aber niemals mehr der Mensch oder die Menschen.“53 Zugleich mahnt sie, es geht in der „Kritik an den gegenwärtigen Zuständen nur um eine mögliche Veränderung menschlicher Verhaltensweisen […], nicht aber um eine Veränderung der Welt, in der wir Menschen leben und uns bewegen.“54 Dieses Urteil gilt auch für Marx’ Gesellschaftstheorie: „dass Marx sich in eine Wissenschaft der Politik zur Beschreibung des äußeren Handelns rettet [e-UE].“55 Dann würde „man die Gesellschaft so handhaben und unter wissenschaftliche Kontrolle stellen […] wie die Technik der Naturwissenschaften die Natur.“56 Dagegen Marx: „Man sieht, […] wie die Lösung der theoretischen Gegensätze selbst nur auf eine praktische Art, nur durch die praktische Energie des Menschen möglich ist und ihre Lösung daher keineswegs nur eine Aufgabe der Erkenntnis, sondern eine wirkliche Lebensaufgabe ist, welche die Philosophie nicht lösen konnte, eben weil sie dieselbe als nur theoretische Aufgabe fasste.“57 Der Gedanke der Vermittlung von vita activa und vita contemplativa zur wirklichen Lebensaufgabe lässt sich präzisieren, wenn wir uns – und das mag überraschen – Marx’ Liebesbegriff zuwenden.

51  ­Arendt trennt Naturprozesse als notwendige strikt vom Handeln als freier Tätigkeit, Marx diskutiert deren Verbindung. Aber ­Arendts Naturbegriff ist variabler als er hier erscheint, vgl. das Verhältnis von Natur und Kultur bzw. das von Erde und Welt. ­Arendt 1978, S. 29: „Die Mehrzahl ist das Gesetz der Erde.“ 52  Vgl. ­Arendt 1960, S. 41–45. 53  Ebd., S. 313. 54  Ebd., S. 49. 55  ­Arendt 1946, S. 26. 56  ­Arendt 1960, S. 49. 57  Marx 1844b, S. 542 (Hervorh. im Text).

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III. Liebe zur Welt als Veränderung der Welt? Marx entwickelt sein Tätigkeits- und Gesellschaftskonzept aus dem des bedürftigen, immer schon gesellschaftlichen Individuums, er vermittelt es außerdem – anders als ­Arendt – durchgängig mit der Natur. Auch in Marx’ Analyse des Liebesbegriffs ist das natürliche Verhältnis der Geschlechter zueinander der Ausgangspunkt. Liebe als Verhältnis zwischen wirklichen Individuen betont die unmittelbare, die sinnliche Liebe, auf die schon Feuerbach sein Liebeskonzept zurückgeführt hat. Eine Parallele zu ­Arendt wird darin deutlich, dass auch Marx die Liebe zweier Menschen nicht an eine Institution wie die Ehe bindet.58 Darüber hinaus ist die Liebe zur Welt bei ­Arendt nicht durch Institutionen gestiftet, sie geht diesen voraus und kann durch diese nicht erhalten werden. Liebe überschreitet Institutionen generell. Gerade darin verweist sie auf uneingelöste Perspektiven. Dass Marx diesen Horizont im Blick hat, zeigt ein kleiner Abschnitt des IV. Kapitels der „Heiligen Familie“, einer Streitschrift, die er mit Engels verfasste. Die mit „Die Liebe“ überschriebene Passage stammt von Marx. Er grenzt sich hier vom abstrakten Verständnis der Liebe des Junghegelianers Edgar Bauer ab und zeigt zugleich seine Nähe zu Feuerbach. „Die Leidenschaft der Liebe ist des Interesses einer innern Entwicklung unfähig, weil sie nicht a priori konstruiert werden kann, weil ihre Entwicklung eine wirkliche ist, die in der Sinnenwelt und zwischen wirklichen Individuen vorgeht.“59 Weil Edgar Bauer das sinnliche Element der Liebe vernachlässigt, ihr „woher“ und „wohin“ allein in einen begrifflichen Zusammenhang stellt, nennt Marx diese abstrakt und in Verweis auf Schillers gleichnamiges Gedicht: „Das Mädchen aus der Fremde“. Auch wenn das Mädchen, wie in den Versen Schillers, Gaben verteilt, steht es nur in einem äußeren Verhältnis zu den Menschen, die es beschenkt, es hat keinen Platz in der Wirklichkeit. Was bleibt ihm dann? Marx karikiert, es wird „ohne dialektischen Pass […] von der kritischen Polizei des Landes verwiesen.“60 Er hält hier zugleich ein Plädoyer für „alles Lebendige, alles Unmittelbare, alle sinnliche Erfahrung, alle wirkliche Erfahrung überhaupt, von der man nie vorher weiß, ‚woher‘ und ‚wohin‘.“61 Der von Marx in diesem Zusammenhang hergestellte Bezug zu Schillers Gedicht eröffnet eine verblüffende Parallele. Das Mädchen, das vor den Verfolgungen der wirklichen Polizei im Nationalsozialismus aus Deutschland fliehen musste, wird Hannah ­Arendt sein, die sich selbst als „Das Mäd58  ­Arendt 2002, S. 49 f. Vgl. Marx zur Ehe als Form exklusiven Privateigentums, in: Marx 1844b, S. 534. Vgl. Marx 1842a, S. 148 ff. 59  Marx/Engels 1845b, S. 23 (Hervorh. im Text). 60  Ebd. 61  Ebd. (Hervorh. im Text).



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chen aus der Fremde“ bezeichnete und so genannt wurde.62 Damit betont sie ein Grundmerkmal der menschlichen Existenz, als Fremdling auf die Welt zu kommen: „dass der Mensch nicht weiß, woher er kommt, wenn er geboren wird, und nicht weiß, wohin er geht, wenn er stirbt.“63 In dieser Spanne liegt zugleich die Chance in der Welt heimisch zu werden. Wie betont, bindet Marx die gegenseitige Liebe an die Unmittelbarkeit wie an die Sinnlichkeit und geht zugleich darüber hinaus: „ […] in der Liebe, die den Menschen erst wahrhaft an die gegenständliche Welt außer ihm glauben lehrt, die nicht nur den Menschen zum Gegenstand, sondern sogar den Gegenstand zum Menschen macht!“64 In der Liebe wird ein Bedürfnis geweckt, das sich nicht auf die gegenständliche Welt, auf das Herstellen, reduzieren lässt, sondern eine besondere Beziehung zum Gegenstand ausdrückt, die vom Menschen selbst nicht getrennt werden kann. Damit wird auf einen zweiten Gedanken verwiesen, dass das Verhältnis zu den Gegenständen ein bestimmter Ausdruck des Menschlichen ist, der sich wandelt. In diesen Kontext ist Marxʼ Forderung nach Weltveränderung eingebettet, sie kann letztlich nur aus den Ermöglichungsbedingungen gewonnen werden, die den Menschen als Naturwesen ausmachen und die im natürlichen Verhältnis von Mann und Frau ein „normatives Paradigma“ haben.65 Dass Marx sich den menschlichen Entwicklungsprozess, der sich auch anhand des Verhältnisses der Geschlechter zueinander verstehen lässt, mehrdimensional vorstellt, zeigt sich, wenn auf die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ zurückgegriffen wird. „Das unmittelbare, natürliche, notwendige Verhältnis des Menschen zum Menschen ist das Verhältnis des Mannes zum Weibe. […] In diesem Verhältnis erscheint also sinnlich, auf ein anschaubares Faktum reduziert, inwieweit dem Menschen das menschliche Wesen zur Natur oder die Natur zum menschlichen Wesen des Menschen geworden ist. […] In diesem Verhältnis zeigt sich auch, in[wie]weit das Bedürfnis des Menschen zum menschlichen Bedürfnis, inwieweit ihm also der andre Mensch als Mensch zum Bedürfnis geworden ist, inwieweit er in seinem individuellsten Dasein zugleich Gemeinwesen ist.“66 Ohne auf Marx’ Bedürfnisbegriff weiter einzugehen, kann jedoch festgestellt werden, dass hier ein Bedürfnis herausgestellt wird, das sich auf den anderen Mensch selbst bezieht, das Marx deshalb ein menschliches Bedürfnis nennt. Offensichtlich unterscheidet er dieses Bedürfnis nach dem Menschen von anderen 62  Vgl. u. a. Brief von Jaspers an ­ Arendt v. 22.10.63, in: ­Arendt/Jaspers 1985, S. 562. 63  ­Arendt 1960, S. 61 (Hervorh. – UE). 64  Marx/Engels 1845b, S. 21. 65  von Magnis 1975, S. 148. 66  Marx 1844b, S. 535 (Hervorh. im Text).

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menschlichen Bedürfnissen, hebt es heraus. Dass der Mensch anderen Menschen unmittelbar zum Bedürfnis werden kann, ist in der Liebesbeziehung von Frau und Mann präsent, wenngleich in reduzierter Form. Marx spricht außerdem vom anderen konkreten Menschen als Menschen. In dieser Formulierung wird der konkrete Andere bejaht und erfolgt zugleich die eigene Bejahung als Gemeinwesen. In der doppelten Bejahung des Menschen als Einzel- und Gemeinwesen wird die Unmittelbarkeit der gegenseitigen Beziehung bestätigt und zugleich überboten. Die Formulierung – „inwieweit“ der Mensch „in seinem individuellsten Dasein zugleich Gemeinwesen ist“ – weist aus, dass der angesprochenen Beziehung eine Spannung immanent ist, ein Maß, dass dieser zugleich transzendent ist. Hier zeigt sich die unmittelbare Beziehung zum anderen als vermittelte. Damit drückt die gegenseitige Liebe ein mehrdimensionales Verhältnis aus, das als dreifacher Zusammenhang erläutert werden kann: (1) Am gegenständlichen, am sinnlich konkreten Menschen zeigt sich das gegenständliche Bedürfnis des Menschen als menschliches. (2)  Das Bedürfnis wird menschlich, wenn der andere Mensch selbst das Bedürfnis ist. (3) Dieses Bedürfnis lässt sich nicht auf den gegenständlichen, sinnlich konkreten Menschen reduzieren, weil es als Verhältnis zum anderen zugleich ein Maß enthält, – „inwieweit“ – der Mensch hier zum Menschen, zum Gemeinwesen geworden ist. An der gegenseitigen Liebe zeigt sich wie an einem Modell, dass, was der Mensch auch tut, er immer als Mensch überhaupt tut, indem er sich über sein Tun transzendiert und auf andere Menschen hin öffnet. Bereits die gegenseitige Liebe ist getragen von einer Öffnung zum anderen hin und weist über diesen hinaus. Sie enthält ein Maß, das anzeigt, inwieweit das Verhältnis zur gegenseitigen Ermöglichungsbedingung geworden ist. Marx konstatiert: „Aus diesem Verhältnis kann man also die ganze Bildungsstufe des Menschen beurteilen.“67 Der Unterschied zu ­Arendt tritt deutlich hervor, sie entfaltet weder die Pluralität noch den sensus communis aus der gegenseitigen Liebe, sie betont im Zusammenhang der beiden Liebesbegriffe die Trennung, während Marx in der Trennung den Zusammenhang betont. 1. Liebe als menschliche Wesenskraft Marx verwendet für die Vermittlung von Individuum und Gemeinwesen den Begriff „das menschliche Wesen“. Zweifelsohne kann man darin eine onto­logische Bestimmung sehen. Nicht weniger deutlich ist, dass er mit Hilfe 67  Ebd.



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des Wesensbegriffs ein Beziehungsgefüge zwischen Menschen zu bestimmen versucht, das gerade nicht festgelegt, sondern an einen Prozess, an eine Entwicklung gebunden ist. Hervorzuheben ist, dass Menschen sich über Gegenstände aufeinander beziehen, wobei die Beziehung zueinander die Beziehung zu den Gegenständen dominiert und nicht umgekehrt. Auch ­Arendt betont den Zusammenhang von Herstellen und Handeln, stellt jedoch den Selbstzweckcharakter des Handelns gegenüber dem Mittelcharakter des Herstellens heraus. Es ist diese Form der Umkehr im Verhältnis zu den Gegenständen, die Marx menschlich nennt. ­Arendt verwendet dafür die Ausdrücke weltbzw. sinnstiftend. Mit ihrem perspektivischen Weltbegriff versucht sie metaphysische Konnotationen in der Bestimmung des Menschen wie den des Wesens zu vermeiden. Auch bei Marx wandelt sich der Wesensbegriff, weil er ihn an einen Prozess der Bildung des Menschen zum Gemeinwesen bindet. ­ Arendt bemerkt diesen offenen Umgang mit dem Wesensbegriff bei Marx scheinbar nicht, sondern reduziert ihn auf den des Gattungswesens, das den einzelnen Menschen abwerte. Ihre durchgängige Kritik am Gattungswesen bezieht sich auf den biologischen Gattungsbegriff.68 Ihr Denkmuster, unter das sie sowohl Hegel als auch Marx subsumiert, trägt sie im Juni 1968 in ihr „Denktagebuch“ ein: „Die Welt ist potentiell unsterblich, der Mensch ist sterblich, die Gattung ist unsterblich.“69 Die von ­Arendt niemals in Frage gestellten Prämissen ihrer Marxkritik führen offensichtlich auch dazu, dass ihr die von Marx vollzogene Verbindung von Wesensbegriff und seiner Theorie vom reichen Individuum entgeht, „dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei“.70 Diese Formulierung zeigt erneut die Doppelbestimmung im Begriff des Menschen bei Marx. Wenn der Mensch überhaupt das höchste Wesen für den konkreten Menschen ist, dann ist der konkrete Mensch selbst noch nicht das höchste Wesen, in der Differenz von Mensch und höchstem Wesen verbergen sich Ermöglichungsbedingungen des Menschen und für den Menschen, verbirgt sich sein schöpferisches Potenzial. Die Differenz zwischen dem Menschen und ihm als höchsten Wesen eröffnet verschiedene Interpretationsmöglichkeiten: Als Zwischen ist diese Differenz der Raum, in dem sich der Mensch vor dem anderen und mit dem anderen Menschen zum Menschen bildet. Marx bezieht das „Inwieweit“ auf ein Fähigkeitskonzept, es ist an seine Auffassung vom reichen Individuum gebunden, das sich nicht auf die Tätigkeitsformen des Arbeitens und Herstellens reduzieren lässt. „Der reiche Mensch ist zugleich der einer Totalität der menschlichen Lebensäußerung bedürftige 68  Auf Marx’ und ­ Arendts Naturbegriff, auf dem u. a. die Debatte um den Gattungsbegriff beruht, kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. auch Anm. 51. 69  ­Arendt 2002, S. 686, vgl. ebd., S. 661 f. 70  Marx 1844a, S. 385 (Hervorh. im Text).

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Mensch, der Mensch, in dem seine eigene Verwirklichung als innere Notwendigkeit, als Not existiert.“71 Marx entfaltet seinen Bedürfnisbegriff in der Spannung von Reichtum und Armut. Armut erhält in seinem Ansatz, in gewandelter Form, wie er selbst betont, eine konzeptionelle Bedeutung, weil er damit weit über die sozialen Konnotationen, die der Begriff enthält, hinausgeht. So eng Marx seine philosophischen Argumente mit sozialen Fragen verknüpft hat, seine journalistische Tätigkeit72 und auch die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ geben zahllose Beispiele, so verbindet er mit Armut auch einen Anspruch, der nicht auf ökonomische Gesetze zurückzuführen ist: „Sie ist das passive Band, welches den Menschen, den größten Reichtum, den andren Menschen, als Bedürfnis empfinden lässt.“73 In diesem Bedürfnis, in der Spannung von Armut und Reichtum hat Marx’ Liebesbegriff seinen Platz. Damit lässt sich philosophiegeschichtlich ein Bogen zu Platons „Symposion“ schlagen. Penia und Poros zeugen den Eros, wodurch die Bedürftigkeit der Geschlechter ausgedrückt wird. Armut als passives Band hat ihr Bedürfnis im anderen Menschen, verweist auf Ergänzungsbedürftigkeit wie auf Unvollkommenheit, die sich positiv als Bedürfnis, als Leidenschaft, aber auch – als Forderung zur Behebung, als Imperativ – verstehen lässt. Für Marx sind Bedürfnis, Leidenschaft und begründete Forderung nach Weltveränderung untrennbar verbunden. Keines der beiden ist primär, sie sind verschränkt. Eine Forderung, die an alle Menschen gerichtet, universalisierbar ist, weil diese Form der Armut – die Not zu wenden – sie verbindet. Je verschieden aber bleibt, „inwieweit“ dem Menschen dieses Bedürfnis zur Not, zur Passion wird. Die Not zu wenden, ist zweifelsohne ein ökonomisches Problem, damit zugleich eine Reduzierung, denn sie betrifft den ganzen Menschen und verbindet Notwendigkeit mit Freiheit. Keine Theorie kann diese beiden Bedürfnisse zum Ausgleich bringen. Darin sind sich Marx und ­Arendt einig. Bei ­Arendt führt die Trennung der Tätigkeitsformen zur Trennung von Freiheit und Notwendigkeit, Freiheit als Anfang des Handelns wird streng von der Notwendigkeit geschieden und in der Pluralität verankert. Somit sind im Unterschied zu Marx bei ­Arendt Reichtum und Armut keine weltlichen Phänomene, sondern soziale. Armut zu beseitigen, darf nicht mit der Gründung von Freiheit verwechselt werden. Wohlstand bedeutet noch keine Freiheit. Dieser entscheidende Punkt führt ­Arendt zu der Schlussfolgerung, dass die Beseitigung von Armut keine politische Aufgabe ist, sondern auf der Grundlage technischen Fortschritts erreichbar wäre: „Denn die technischen Mittel im Kampf gegen 71  Marx

1844b, S. 544 (Hervorh. im Text). Marx 1842b, S. 109 ff. Zur Relevanz des Artikels für die gegenwärtige Armutsdiskussion: Bensaïd 2007. 73  Marx 1844b, S. 544 (Hervorh. im Text). 72  Vgl.



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die Armut könnten in völliger politischer Neutralität gehandhabt werden“.74 Anders Marx: Eine Verwirklichung des Menschen ist an sein Wirken, seine ständige Veränderung bzw. Verwirklichung, gebunden und in Verbindung zur Armut als Ergänzungsbedürftigkeit, damit als Not, als Leiden, als Äußerung und zugleich als Leidenschaft zu verstehen: „Passion ist die nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft des Menschen.“75 Damit ist diese auf kein Gattungswesen reduzierbar, über Nietzsches Formel vom Menschen als „nicht festgestelltem Tier“, eröffnet sich auch ein Weg zur modernen Anthropologiediskussion. Es ist die Frage, wie energisch – die Liebe – die Wesenskraft des Menschen bei Marx – oder mit ­Arendt zu sprechen – die Pluralität –weltbildend – wird, inwieweit der Mensch den Menschen bildet bzw. verändert. „Inwieweit“ der Mensch den Menschen bildet, kann nach Marx ohne gesellschaftstheoretische Analysen in ihrer Gesamtheit nicht erfasst werden, Weltbildung ist damit ein Problem des ganzen Menschen. Allerdings hat die Liebe in diesem Prozess ein Alleinstellungsmerkmal: In der Liebe ist der einzelne Mensch sich immer voraus, sie ist eine Tätigkeit, die er nicht stillen kann. Liebe, wird ­Arendt nicht müde zu behaupten, geht aus der Pluralität hervor.76 Liebe ist, wenn Metaphern bemüht werden sollen, Quelle, aber nicht Grund der Menschwerdung, sie entsteht zwischen Menschen. Marx fasst das menschliche Wesen gerade in der Rückbindung an die Pluralität, wenn er in den Mill-Exzerpten den Kommunismus als Modell freier Produktion zu erfassen versucht: „Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert: Jeder von uns hätte in seiner Produktion sich selbst und den andren doppelt bejaht. […] für dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine Ergänzung deines eignen Wesens und als ein notwendiger Teil deiner selbst gewusst und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen, […].“77 Sich in seiner Produktion doppelt zu bejahen, enthält u. a. folgende Elemente: (1) Für sich und für den anderen zu produzieren und darin die Trennung zum anderen nicht zu überwinden, sondern sich in der Bindung an den anderen zu bilden und damit erst selbst zu sein und darin Gattungswesen zu sein. (2) Die Spannung zwischen sich und dem anderen bleibt erhalten, weil die Bestätigung seiner selbst in der Produktion den Bezug zum anderen nicht insofern zur Voraussetzung hat, dass er mein Produkt abnimmt, sondern 74  ­Arendt

1962, S. 250. 1844b, S. 579. 76  Vgl. ­Arendt 2002, S. 459. 77  Marx 1844c, S. 462. 75  Marx

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insofern er ein Bedürfnis hat, das ich befriedigen kann und will, insofern ich damit mein Bedürfnis befriedigen kann und will. (3) Doppelt ist diese Bejahung des anderen auch in theoretischer und praktischer Hinsicht, in der Verbindung von Denken und Handeln oder mit Marx: als Liebe, als – eine empfundene – Bejahung, die ihre Bestätigung im Denken findet. Zusammenfassen lässt sich Marx’ Analyse des menschlichen Wesens in den Mill-Exzerpten unter Bezug auf die Spiegelmetapher: „Unsere Produk­ tionen wären ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich ent­gegen­leuch­ tete.“78 Damit folgt Marx nicht dem Modell der Selbsterkenntnis eines Wesens, das sich voraus liegt und sich durch Selbstentäußerung und Rückkehr zu sich selbst gewinnen kann. Marx hat nicht das Hegelsche Produktionsmodell des Geistes vor Augen, er bindet die Selbsterkenntnis an den anderen Menschen, unter Bezug auf den er sein eigenes Selbst in der Befriedigung seiner Bedürfnisse erst hervorbringt bzw. sich selbst übersteigt. Die Vermittlung zum anderen seiner selbst, in dem er sich wie in einem Spiegel als anderen sieht, erfolgt über den anderen. Den blinden Fleck uns selbst gegenüber können wir nur überwinden, indem wir uns in den Augen der anderen sehen. Deshalb ist die Selbsterkenntnis mit der sinnlichen Anschauung verwoben. Was wir sehen, sind weder wir selbst, noch die anderen, sondern etwas dazwischen. Unsere Produktionen als Spiegel zu verstehen, öffnet uns ein Gemeinsames, ein Drittes, die Welt, die unsere Verschiedenheit in der Weise spiegelt, dass wir sie in der Abhängigkeit vom anderen erfassen, aber nicht aufheben. Ohne den menschlichen Bezug zum anderen blieben uns der andere und die Welt verschlossen und zugleich eigene Perspektiven versperrt. Das Verhältnis zum anderen allein unter dem Aspekt der Zweck-Mittel-Produktion zu sehen, ist Weltentfremdung. Den anderen nur zum Mittel zu machen, zwingt ihn zur Weltflucht. Nun hat Hannah ­Arendt gerade die Spiegelmetapher als Steigerung der Weltentfremdung interpretiert: „Die von Marx ersonnene Idealgesellschaft hätte die Weltentfremdung sogar noch weitergetrieben als die kapitalistische Gesellschaft; denn in ihr sollten die Produzenten ihre Individualität ‚vergegenständlichen‘, also eine ‚Welt‘ erstellen, in denen ‚unsere Produktionen ebenso viele Spiegel wären, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtet“.79 Nur indem der Mensch sich im Bezug zum anderen verändert, sich in der Abhängigkeit vom anderen bestätigt und darin sich erst selbst erzeugt, entsteht zwischen beiden ein Zusammenhang, durch den sie die Welt verändern.

78  Ebd.,

S. 463. 1960, S. 363, Anm. 4. Vgl. Jaeggi 2005, S. 33 f. scheint in ihrer differenzierten Analyse dieser Stelle ­Arendt, nicht Marx zu folgen. 79  ­Arendt



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Schluss Gegenüber den freien Tätigkeitsformen des Denkens und Handelns und ihrem sinnstiftenden Charakter, den sie mit der Liebe teilen, treten bei ­Arendt Arbeiten und Herstellen als nicht freie Tätigkeiten zurück. Marx durchbricht dieses Schema: „also die Vergegenständlichung des menschlichen Wesens, sowohl in theoretischer als praktischer Hinsicht, gehört dazu, sowohl um die Sinne des Menschen menschlich zu machen als um für den ganzen Reichtum des menschlichen und natürlichen Wesens entsprechenden menschlichen Sinn zu schaffen.“80 Sinn entsteht, wenn die theoretischen und praktischen Ansprüche des Menschen ineinander greifen und damit nicht in die Hierarchie von Ziel und Mittel gebracht werden. ­Arendt würde Marx hier wohl zustimmen, dennoch trennt sie die Tätigkeitsformen hinsichtlich ihres „gegenständlichen“ oder sinnstiftenden Charakters.81 Mit seinem Konzept des reichen Individuums durchbricht Marx diesen Ansatz. Auch deshalb lässt sich festhalten: Der Begriff des menschlichen Wesens ist ohne den Liebesbegriff nicht zu verstehen. Das heißt aber nicht, dass der Begriff des menschlichen Wesens bei Marx aus dem Liebesbegriff zu gewinnen sei, zentral bleibt die gegenständliche menschliche Tätigkeit, in die die Liebe eingeschrieben ist. Marx hat sein Konzept der Veränderung der Welt nicht auf das der Liebe zur Welt gegründet, sondern an die gegenständliche Tätigkeit und damit an ein Bedingungsgefüge geknüpft, das in den ökonomischen Verhältnissen der Gesellschaft fundiert ist. Liebe gehört in dieses Gefüge, weil sie Grenzen jeder bloß theoretischen Begründung der Weltveränderung markiert. Liebe ist an eine Bejahung durch den anderen gebunden wie die Veränderung der Welt an ihre Bejahung gebunden ist. Die Bejahung der Welt ist Voraussetzung ihrer Interpretation und ihre Interpretation ist die Voraussetzung ihrer Veränderung. Wenngleich Weltveränderung ohne Interpretation nicht möglich ist, so führt die Interpretation nicht zur Weltveränderung. Darin wären sich Marx und ­Arendt wohl einig gewesen. Literaturverzeichnis ­Arendt, Hannah: Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, mit einem einleitenden Essay v. F. A. Kurbacher, Hildesheim u. a. 2006 (1929). ­Arendt, Hannah: Wir Flüchtlinge, in: Zur Zeit. Politische Essays, hrsg. v. M. L. Knott, Hamburg 1999 (1943). ­Arendt, Hannah: Was ist Existenzphilosophie?, Frankfurt a. M. 1990 (1946). 80  Marx 81  Vgl.

1844b, S. 542 (Hervorh. im Text). ­Arendt 2002, S. 283 f.

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­Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1993 (1955). ­Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 1989 (1960). ­Arendt, Hannah: Tradition und die Neuzeit, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hrsg. v. U. Ludz, München 1994 (1954), S. 23–53. ­Arendt, Hannah: Natur und Geschichte, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hrsg. v. U. Ludz, München 1994 (1957), S. 54–79. ­Arendt, Hannah: Revolution und Freiheit, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hrsg. v. U. Ludz, München 1994 (1962), S. 227–251. ­Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes 1, Das Denken, München 1993 (1978). ­Arendt, Hannah: Was ist Politik?, Fragmente aus dem Nachlass, hrsg. v. U. Ludz, München 2005 (1993). ­Arendt, Hannah: Denktagebuch 1950–1973, hrsg. v. U. Ludz u. I. Nordmann, München 2002. ­Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 2006. ­Arendt, Hannah/Jaspers, Karl: Briefwechsel 1926–1969, hrsg. v. L. Köhler u. H. Saner, München/Zürich 1985. Bensaïd, Daniel: Die Enteigneten. Karl Marx, die Holzdiebe und das Recht der Armen, Ulm 2007. Jaeggi, Rahel: Welt und Person. Zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftskritik Hannah ­Arendts, Berlin 1997. Jaeggi, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Phänomens, Frankfurt a. M. 2005. von Magnis, Franz: Normative Voraussetzungen im Denken des jungen Marx (1843– 1848), Freiburg/München 1975. Marx, Karl: Marx Engels Werke (MEW), Berlin 1956 ff. Marx, Karl (1842a): „Der Ehescheidungsgesetzentwurf“, in: Rheinische Zeitung vom 19. Dezember 1842, in: MEW, Band 1, S. 148–151. Marx, Karl (1842b): Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz, in: Rheinische Zeitung vom 25. Oktober 1842, in: MEW, Band 1, S. 109–147. Marx, Karl (1844a): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Band 1, S. 378–391. Marx, Karl (1844b): Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, S. 465–588. Marx, Karl (1844c): Auszüge aus James Mills Buch „Élémens d’économie politique“, in: MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, S. 445–463. Marx, Karl (1845a): Thesen über Feuerbach, in: MEW, Band 3, S. 5–7. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1845b): Die heilige Familie, in: MEW, Band 2.



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Marx, Karl/Engels, Friedrich (1845/46): Die deutsche Ideologie, in: MEW, Band 3. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1848): Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Band 4, S. 459–493. Scheler, Max: Wesen und Formen der Sympathie, hrsg. v. M. S. Frings, in: GW 7, Bern/München 1973 (1923). Scheler, Max: Ordo amoris, in: Schriften aus dem Nachlass Band I: Ethik und Erkenntnislehre, hrsg. v. Maria Scheler, in: GW 10, Bern 1957 (1914–16), S. 345– 376. Tömmel, Tatjana Noemi: Wille und Passion. Der Liebesbegriff bei Heidegger und ­Arendt, Frankfurt a. M. 2013. Vollrath, Ernst: Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, Stuttgart 1977.

Menschenrechte als Meta-Code – Von der Translation subjektiver Rechte Von Stefan Knauß und Christoph Haar Der Aufsatz ist der Offenlegung und Ausbuchstabierung der konstitutiven Struktur des modernen Rechts gewidmet. Diese Struktur besteht aus der empirischen Feststellung, dass sich Recht als Produkt von Aushandlung (Translation) verstehen lässt, und der normativen Forderung, dass diese Aushandlung selbst nach Kriterien der Gerechtigkeit in Form der Menschenrechte (Meta-Code) zu erfolgen hat. Menschenrechte als Meta-Code zu begreifen bedeutet hiernach zweierlei: Faktisch lassen sie sich als gesellschaftlich stabilisierende Einrichtung beschreiben (sozialwissenschaftliche Perspektive), und normativ müssen Menschenrechte keineswegs als ontologisch vorstaatlich begriffen werden, sondern können rein kriteriell als Maßstab gerechten Zwangs ausgewiesen werden (philosophische Perspektive). Wir argumentieren in drei Schritten. Zunächst wird I. Translation als Methode erläutert, sodann werden II. Modi der Translation subjektiven Rechts dargestellt. Schließlich werden III. Menschenrechte als Meta-Code in ihrer Funktion beschrieben und als Legimitätskriterien des Rechts gerechtfertigt. I. Translation als Methode Im folgenden Abschnitt wird Translation als Methode in den Geistesund Sozialwissenschaften dargestellt. Zunächst ist zu bemerken, dass Translationen über rein linguistische Übersetzungen hinausgehen. Der weiter gefasste Begriff der Trans­lation lässt sich nach Kaufmann und Rottenburg wie folgt verstehen: „Translation […] ­facilitates the travel of an objectified idea. In German, the word Übersetzen still carries the meaning of linguistic translation ‚and‘ of movement from one side (of a river etc.) to the other. We promote translation as a key concept for an adequate description of social change. Accordingly, translation is understood in a broad way, which includes the linguistic interpretation as a special case only. Translation modifies the agents and the objects involved. In that sense

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translation specifically relates to displacement, drift, invention, and media­ tion“.1 Buchenhorst hat argumentiert, dass die Translationsforschung den interkulturellen Vergleich ermöglicht und auf dessen Basis eine Modifikation bzw. Kritik der eigenen Kultur eröffnet: „Die kritische Analyse jener Wanderungsbewegungen führt also von vorneherein zwei Aufgabenstellungen mit sich: diejenige des interkulturellen Vergleichs von normgeleiteten Handlungs- und kommunikativ gesteuerten Darstellungsmustern und die Beantwortung der Frage, inwieweit interkulturelle Kommunikation und Normentransfers die eigenen Maßstäbe verschieben und ihre Machtpotentiale entlarven können“.2 Die sprachliche Übernahme oder Übersetzung stellt in vielen Fällen eher ein unwichtiges Randphänomen dar, weil dabei keine relevanten Veränderungen des Überzeugungsnetzwerks und der damit verbundenen Handlungsabläufe zu beobachten sind. Kaufmann gibt folgendes Beispiel: „Dass man das italienische latte auf Deutsch mit „Milch“ wiedergibt bleibt uninteressant, dass aber ein Getränk namens latte macchiato, welches zumindest in Süditalien niemand mehr nach dem Mittagessen, ja eigentlich nach dem Frühstück zu sich nähme, zum festen Bestandteil deutscher Restaurantkultur und da zu jeder Tageszeit konsumiert wird, ist der Ansatz eines Translationsvorgangs“.3 Es ergibt sich die Schlussfolgerung: „Zur Translation kommt es erst, wenn der transferierte Inhalt in seinem neuen sozialen Kontext positiv oder negativ oder in kreativer Veränderung aufgenommen wird und dort eine eigene Dynamik entfaltet“.4 Metaphorisch lässt sich Translation auch als „Wanderung von Ideen“ beschreiben. Was aber ist eine Idee? Ideen sind für Kaufmann und Rottenburg weder objektiv noch subjektiv, d. h. sie gehören weder lediglich dem Bewusstsein einer Einzelperson an, noch sind sie objektive Gehalte, die fernab der menschlichen Aneignung bestehen. Ideen sind vielmehr Begriffe, die innerhalb einer bestimmten sprachlichen Gemeinschaft und ihrem Überzeugungs- und Handlungszusammenhang eine Rolle spielen. Was erfordert diesbezüglich der Begriff der Wanderung? Eine Idee muss schon insofern objektiviert sein, als dass sie von einem Kontext in einen anderen übergehen kann. Dadurch werden Ideen mobil und gehen auf Reise. Zu beachten ist allerdings, dass der Clou des vorgestellten Translationsbegriffes gerade darin besteht, dass sich sowohl der soziale Kontext als auch die Idee in einer Wandlung befinden. Eine Idee ist immer Teil eines Netzwerkes. Es handelt sich 1  Kaufmann/Rottenburg

2013, S. 330. 2011, S. 35. 3  Kaufmann 2017, S. 148. 4  Kaufmann 2017, S. 147. 2  Buchenhorst



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dabei also keineswegs um singuläre Einheiten, die wie Monaden die Umgebung wechseln, sondern immer um Abschnitte von Netzwerken. Der sprachanalytische Philosoph Willard Van Orman Quine (1908–2000) hat dieses im Hintergrund aller Handlungen und Bedeutungen stehende Netzwerk in seinem Hauptwerk Word and Object als „web of beliefs“ bezeichnet.5 Ohne den Bezug auf das Netzwerk sei die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke unklar. Quine vertritt einen relativistischen Holismus, wonach einzelne Worte nur im Zusammenhang Sinn ergeben, der jeweilige Zusammenhang aber variabel ist. Zur Erläuterung von Translation geht Quine von einer radikal fremden Sprache aus. Die einzige Möglichkeit, die vollständig fremde Sprache zu erlernen, besteht laut Quine darin, das Verhalten der Sprecher der anderen Sprache zu beobachten. Die Beobachtung erlaubt es, Zusammenhänge zwischen Gegenständen und Ereignissen herzustellen, wenn die Sprecher in deren Gegenwart bestimmte Laute äußern. Die Übersetzungsversuche gleichen somit Hypothesen über die Bedeutung der fremden Sprache. Quine nimmt nun einerseits an, dass sich die Übersetzungs-Hypothesen „verbessern“ können, insofern sie mehr Beobachtungsdaten berücksichtigen, andererseits lehnt er den Gedanken ab, dass es so etwas wie eine letztgültige Interpretation gibt. Er hält es für notwendig, dass verschiedene gleichwertige Varianten der Übersetzung bestehen bleiben. „Die These lautet dann: Handbücher der Übersetzung von einer Sprache in die andere können auf voneinander verschiedene Weise eingerichtet sein, so daß sie alle mit der Gesamtheit der Rededispositionen in Einklag stehen und doch miteinander unverträglich sind“.6 Er geht dabei vom Prinzip der Unbestimmtheit der Interpretation aus, da seiner Meinung nach die Beobachtungen des Verhaltens der Sprecher nicht genügen um zu entscheiden, welche Übersetzung die richtige ist. Seine These der Indeterminiertheit der Übersetzung belegt er mit Hilfe des so genannten „Gavagai“-Beispiels. Er stellt sich einen Sprachforscher vor, der die Aufgabe hat, eine bisher völlig unbekannte Sprache eines Eingeborenenstammes zu verstehen. Mangels gemeinsamer Kultur verfügt der Forscher über kein Übersetzungsmanual, aus dem hervorginge, wie die Eingeborenen ihre Lautäußerungen mit Umweltreizen verknüpfen. Er muss also beginnen, sich selbst jenen Reizen auszusetzen und die verbalen Reaktionen der Anwesenden zu katalogisieren. Als ein Kaninchen vorbei läuft, äußert ein Eingeborener „Gavagai“. Obwohl der Linguist das Wort „Hase“ notiert, muss in einer Fülle von ähnlichen Reizsituationen, inklusive der Befragung des Eingeborenen, herausgefunden 5  Quine 6  Quine

1960. 1980, S. 60.

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werden, ob die Verwendung von „Gavagai“ im Wesentlichen der Verwendung des Wortes „Hase“ aus seiner eigenen Sprache entspricht. Aus der Reizsynonymität der Sätze folgt allerdings keineswegs, dass die Termini „Gavagai“ und „Hase“ dieselbe Extension und dieselbe Intension haben. „Gavagai“ könnte sich z. B. auch auf mehrere Hasen oder auf nicht abgetrennte Hasenteile oder auf Hasenphasen (zeitliche Hasenquerschnitte) beziehen. Diese Unklarheit lässt sich nach Quine auch nicht durch Zeigen beheben, da auch die Geste sich wiederum auf die unterschiedlichen Aspekte beziehen könnte. Es bleibt daher grundsätzlich unbestimmt, auf welche Entitäten „Gavagai“ tatsächlich referiert. Alle Übersetzungshypothesen passen gleichermaßen zu den Beobachtungssituationen. Die damit verbundene Unsicherheit bezeichnet Quine als Unerforschlichkeit der Referenz (inscrutability of reference). Kaufmann und Rottenburg umgehen Quines Beschränkung auf die moderne Naturwissenschaft und setzen stattdessen auf die weiter gefasste (und von Hegel inspirierte) Aufhebung der Subjekt-Objekt Dichotomie in der Reflexion. Es handelt sich dabei um „ein Beziehungsgeflecht innerhalb einer sozialen Gruppe […] dessen integraler Bestandteil der Umgang mit materialen Elementen der Wirklichkeit einerseits, die Einbindung der Gruppenmitglieder in größere soziale Strukturen andererseits ist. […] Translationsvorgänge sind somit durch die Wanderung und Veränderung von Elementen von web of beliefs, seien sie epistemischer, seien sie normativer Ordnung, in Verbindung mit an materiale Gegenstände gebundenen Formen sozialer Handlungszusammenhänge zu erfassen“.7 II. Modi der Translation subjektiven Rechts Im folgenden Abschnitt wenden wir die Methode der Translation zunächst auf die Ideengeschichte der Freiheit als Rechtsbegriff an. Anschließend erfolgt die Kontextualisierung dieser Überlegungen innerhalb des 20. Jahrhunderts, vor allem in Bezug auf John Rawls und Isaiah Berlin. Abschließend werden einige Anwendungsgebiete dargelegt. 1. Geschichte der Freiheit Die Methode der Translation kann am mittelalterlichen und frühneuzeit­ lichen Konzept des dominium veranschaulicht werden. Dieses Konzept spielt eine zentrale Rolle in der philosophischen und theologischen Diskussion um den Zustand vor und nach dem Sündenfall.8 Entscheidend ist dabei, dass es 7  Kaufmann/Rottenburg, 8  Haar

2019.

2009, S. 10–11.



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je nach Kontext verschiedene Bedeutungen annehmen kann, darunter das eines (subjektiv verwendeten) Rechts. So setzt der Franziskaner Jean Gerson (1363–1429) Recht oder ius mit facultas oder subjektiver Fähigkeit gleich, und spricht von einem dominium libertatis als der natürlichen Gabe Gottes, welche die Fähigkeit ist zu handeln oder nicht zu handeln, und die auch trotz Sünde erhalten bleibt. Conrad Summenhart (1450–1502) greift auf Gerson zurück, wenn er die freie Verfügung über sich selbst bestimmt durch die Verknüpfung von Rechtsanspruch mit Freiheit. Weiterhin formuliert er ein dominium über sich selbst zusammen mit einer Gleichsetzung von ius und dominium.9 Bei Gerson wird dominium in einem mystischen Zusammenhang gebraucht, während Summenhart damit kontraktualistisch argumentiert. Luis de Molina (1535–1600) nimmt in der Folge eine metaphysische Begründung des Konzepts vor, die sich bis hin zur nicht-religiösen Begründung eines unveräußerlichen Rechts bei Rousseau und Kant verfolgen lässt.10 Im strengen Sinn ist dominium dabei keine „ewige Idee“ des subjektiven Rechts, die durch Zeit und Raum konstant bleibt. Beschreibbar ist vielmehr die synchrone und diachrone Wanderung des Konzepts in verschiedenen Begründungszusammenhängen. Je nach Umgebung kann das Konzept verschiedene, auch nicht intendierte Bedeutungen annehmen. Aufgabe der Transla­ tionsanalyse ist es, jeweilige Veränderungen und Dynamiken der Begriffsverwendung innerhalb des ihn mitkonstituierenden Kontextes aufzudecken. Die Redeweise von subjektivem Recht wird demnach erst in den spezifischen Umfeldern sinnhaft. Die Besonderheit an Kaufmanns Ansatz liegt in der ideengeschichtlichen Rückführung des Freiheitsrechtes auf den Begriff des dominium, so wie er im scholastischen bzw. europäischen Mittelalter und Frühneuzeit als Terminus sowohl für Eigentum als auch Herrschaft verwendet wurde. Im sogenannten Armutsstreit verhandeln im 14. Jahrhundert die Kurie und die spirituale Gruppierung des Franziskanerordens wie das Armutsideal ihres Gründungsvaters Franz von Assisi (1181–1226) in Bezug auf die Besitztümer der Ordensgemeinschaft auszulegen sei: kann der Orden den Gebrauch der Dinge des Lebens legitim ausführen ohne Privateigentum zu besitzen? Am Höhepunkt der Auseinandersetzungen nutzt Papst Johannes XXII. (c. 1244–1334) die zwei Bedeutungen von dominium, einerseits als „Herrschaft“, andererseits als „Eigentum“, um zu argumentieren, dass es bereits im Zustand der Unschuld Privateigentum gegeben habe (nämlich das Adam zuerkannte dominium in Genesis 1:28). Mit dem Ziel, eine evangelische Armut ohne jegliches dominium zu verteidigen, antwortet der Franziskaner Wilhelm von Ock9  Kaufmann 10  Vgl.

2018b. Kaufmann 2005b.

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ham (ca. 1290–1347/9) auf dieses Argument mit der These, dass das prä- und postlapsarische dominium nicht miteinander vergleichbar seien, weil bloß letzteres vor einem Gericht eingeklagt werden könne. Demnach besitzen die Franziskaner bloß das unverzichtbare Recht auf das zum Leben Nötige, aber keinerlei dominium im Sinne von Eigentum.11 In der Rechtsgeschichte ist diese mittelalterliche Episode philosophisch bedeutend, weil sie einen Argumentationsstrang zu Tage brachte, der die Struktur subjektiver Rechte sowie unveräußerlicher Rechte aufzeigt. Innerhalb der spanischen Spätscholastik kommt es zu einer weiteren Verdichtung der Debatte. Der Jesuit Luis de Molina, ein Sympathisant der Ockhamschen Position, ist der sogenannten Schule von Salamanca zuzurechnen. In seiner Rechtslehre De Iustitia et Iure (1593–1609) verknüpft Molina die beiden Grundbegriffe ius (Recht) und dominium (Herrschaft) miteinander. In seinen Erörterungen der Sklavenproblematik spielt auch die Freiheit des Willens eine wichtige Rolle, die sich auf Molinas Willensmetaphysik aus seiner Abhandlung über die Vereinigung des freien Willens mit der Gnade, Concordia liberi arbitrii cum gratiae donis (1588) beziehen lässt. So gesteht Molina Sklaven dominium zu, da sie als Sklaven nicht ihre Willensfreiheit verlieren, und er spricht vom (subjektiven) Recht „qua homo et proximus“ im Unterschied zum Recht „qua servus“. Diese Theorie darf aber nicht – ebenso wenig wie das Recht im Armutsstreit – mit den Menschenrechten verwechselt werden, da die Einklagbarkeit vor Gericht nicht gewährleistet ist.12 Auch geht Molina nicht von der für das moderne Verständnis typischen Idee der Unveräußerlichkeit des Freiheitsrechtes aus, sondern zählt Freiheit zum dominium des Menschen, hier als Eigentum, das in einer Notlage verkauft werden kann.13 Demgegenüber lehnt sich später John Locke (1632–1704) an die dominikanische Tradition an, indem er die Freiheit als Gottes Eigentum und damit unverkäuflich deklariert, und Immanuel Kant (1724–1804) bewegt sich in dieser scholastischen Tradition, welche allgemein die Rechte auf Leben und Freiheit wie auch die Pflicht (gegenüber Gott) das eigene Leben zu schützen deklariert. Bezüglich dessen, was die Dominikaner (und Locke) mit den Jesuiten verhandelten, nämlich die Möglichkeit, die eigene Freiheit zu veräußern, positioniert Kant sich in der Folge von Rousseau auf einer nichtreligiösen argumentativen Grundlage, wenn er in seiner Rechtslehre die „innere Rechtspflicht“ benennt: es gilt, das Recht der Menschheit in der eigenen Person zu achten.14

11  Kaufmann

1996; Kaufmann 2005a. 2018. 13  Molina 1614. 14  Kaufmann 2018a. 12  Simmermacher



Menschenrechte als Meta-Code99

Der mittelalterliche Armutsstreit und die frühneuzeitliche Scholastik liefern historisches Quellenmaterial für subjektive Rechte. Inwieweit in diesen Fällen konkret von subjektiven Rechten gesprochen werden kann ist umstritten, und wir finden erst bei Gottfried Achenwall (1719–1772) den Begriff „ius subiective sumtum“.15 Es geht zunächst darum, anhand der Methode der Translation historisch wichtige konzeptionelle Entwürfe nachzuvollziehen. Eine mögliche Schlussfolgerung im Hinblick auf die subjektiven Rechte des Menschen und dem „der Theologie jener Zeit“ eigenen „Bedürfnis nach einer vernünftigen Rechtfertigung zentraler Positionen“, welche „zur Entwicklung einer der Theologie vorgeschalteten Metaphysik führt“ liegt darin, von einer „politischen Metaphysik“ statt einer „politischen Theologie“ zu sprechen.16 Eine solche Metaphysik steht mit liberalem Denken im Zusammenhang. So lässt sich beispielsweise wie bereits beschrieben John Lockes Auffassung von „life, liberty and estate“ durchaus in der Tradition des scholastischen dominium verorten.17 Terminologisch ist dabei aber allenfalls am Rande von „Menschenrechten“ die Rede.18 2. Gegenwart der Freiheit Die philosophiehistorische Untersuchung des dominium als einer in Translation befindlichen Chiffre, die dem heutigen Verständnis nach mit subjektivem Recht bezeichnet werden kann, verweist auf eine systematische Fragestellung. Wie lassen sich die Grenzen und Möglichkeiten legitimen Zwangs bestimmen? In Recht ohne Regel19 behandelt Kaufmann diese Fragestellung in Bezug auf Carl Schmitt (1888–1985). Kann die Setzung von Recht lediglich einem willkürlichen Akt des Souveräns entspringen, wie dies Schmitt scheinbar behauptet hatte, oder ist es möglich, Recht selbst durch Regeln zu legitimieren, die dessen Geltung von der unbegründeten Entscheidung einer Institution abkoppelt? In Aufgeklärte Anarchie20 bringt die „Intuition des Anarchismus“ den Gedanken zum Ausdruck, dass dem Individuum gegenüber der Gemeinschaft und dem Staat ausreichend individuelle Freiheit zu gewähren sei. Die Idee eines subjektiven Freiheitsrechts eignet sich als Prüfkriterium für politische Institutionen, um deren Regeln entweder als rechtlichen – und damit legitimen – Zwang auszuweisen oder aber als willkürliche Unterdrückung, und damit illegitimen Zwang zu identifizieren. Kaufmann versteht 15  Achenwall

1767.

16  Kaufmann/Schnepf 17  Schüßler

2007. 18  Delgado 2007. 19  Kaufmann 1988. 20  Kaufmann 1999.

2007.

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Menschenrechte demzufolge „als prägnante und wegen ihrer Handhabbarkeit erfolgreiche Formulierung der in jeder Kultur vorhandenen Differenzierung von guter und schlechter Herrschaft“.21 Eng verbunden mit der Idee, die individuelle Freiheit funktioniere als eine Art „Wahrheitskriterium“ politischer Institutionen, ist die Analyse des Freiheitsbegriffs, die der russisch-britische Philosoph Isaiah Berlin (1909–1997) geleistet hat. In Four Concepts of Liberty22 trifft Berlin die Unterscheidung zwischen „negativer Freiheit“ und „positiver Freiheit“, die im Deutschen als Unterschied zwischen der Freiheit von (einem Zwang von außen) und der Freiheit zu (einem selbstbestimmten Dasein) reformuliert wird. Hiernach müsse zunächst sichergestellt werden, dass die individuelle Freiheitssphäre des Einzelnen nicht zugunsten geschlossener gesellschaftlicher Ordnungsprinzipien aufgegeben wird, wie dies z. B. der Nationalsozialismus und der real existierende Sozialismus im 20. Jahrhundert taten. Das Prinzip des Rechtsstaats müsse als notwendiges Pendant zur Demokratie betrachtet werden, damit die Selbstbestimmung des Souveräns niemals die Autonomie des Einzelnen zunichtemachen könne. Der Sache nach ähnelt das dem liberalen Ideal der egalitären Freiheit, wie sie etwa der große Erneuerer der politischen Philosophie im 20. Jahrhundert, der amerikanische Philosoph John Rawls (1921–2002) in A Theory of Justice (1971) formulierte: „Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institu­ tionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen. Eine noch so elegante und mit sparsamen Mitteln arbeitende Theorie muß fallengelassen werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind. Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohls der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann. Daher läßt es die Gerechtigkeit nicht zu, daß der Verlust der Freiheit bei einigen durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht wird“.23 Neben diesem „liberty principle“ verankert Rawls ein egalitäres Moment in seinem „difference principle“. Ein solches egalitäres Moment in der liberalen Tradition verfolgt Kaufmann in Spätmittelalter, Frühe Neuzeit und bei Kant. Aufbauend auf Motiven, die Kant zwar möglicherweise nicht direkt vertraut waren, die aber das Vokabular der zeitgenössischen Schulphilosophie lieferten, und die sich verschiedentlich ausgeprägt vorfinden bei den Jesuiten Molina und Francisco Suárez (1548–1617), stellt Kaufmann die Besitzbegründung bei Kant in Bezug dazu, dass Kant „die Legitimität des Gemeinwillens darin sieht, dass jeder dabei 21  Kaufmann

2014. 1969. 23  Rawls 1979, S. 19. 22  Berlin



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auch über sich entscheidet und ‚keiner sich selbst Unrecht thun kann‘ “ – zu dieser Tradition gab es nämlich „historisch Alternativen für mögliche Besitzbegründungen […] die Kant nicht benutzt hat, vielleicht aus rein systematischen Gründen, vielleicht auch aus egalitär-moralischen Motiven“.24 Wenn man die historischen Diskussionskontexte berücksichtigt „erscheint […] der Zusammenhang von Erlaubnisgesetz und Besitz […] einleuchtender“, denn nun lässt sich Kants Enthusiasmus für beide, Adam Smith und Jean-Jacques Rousseau dahingehend auflösen (plakativ kann man sich hier die Positionen des Besitzindividualismus und des Gemeinwillens vorstellen), dass dem Status quo des empirischen Besitzes eine Legitimität zugesprochen wird, während jegliche Veränderung in Richtung gerechterer Verhältnisse zu geschehen hat. Die Veränderung muss also dergestalt sein, dass ein solcher peremptorischer Besitz nur zustande kommt unter der Kondition der Zustimmungs­ fähigkeit eines allgemeinen Willens.25 3. Facetten der Freiheit Die philosophiehistorischen und ideengeschichtlichen Reflexionen über subjektive Rechte werden von Kaufmann in einer Reihe von Debatten systematisch fruchtbar gemacht. Wir unterscheiden hier drei Dimensionen: Die staatliche Dimension betrifft den Zusammenhang zwischen subjektiven Rechten und politischer Ordnung, die subjektive Dimension beleuchtet jene Aspekte, die für das (private) Individuum relevant sind, und die interkulturelle Dimension fasst diejenigen Gesichtspunkte ins Auge, die den Status subjektiver Rechte im Vergleich der Kulturen betreffen. In der Debatte zu kulturellen Rechten fordert Kaufmann das Primat des liberalen Rechtsstaates gegenüber gruppenspezifischen Rechten.26 Entscheidend bei viel diskutierten Fällen wie dem der „First Nations“ Kanadas, der „cultural defense“ im Strafrecht sowie verschiedener Befugnisse bezüglich des Familienrechts, ist der Zweifel, „dass die soziale Welt sich in säuberlich getrennte Kulturen aufteilen lässt“, und es „ist obendrein keineswegs klar, wer sich erlauben darf im Namen einer Kultur, oder auch nur im Namen einer bestimmten kulturellen Minderheit zu sprechen“.27 In jedem Fall ist es sinnvoll dann von Kultur zu sprechen „wenn wir uns klar sind, dass es sich dabei nicht generell um einander ausschließende, fest gefügte Gebilde mit eindeutiger Zuordnung handelt“, denn der entscheidende Punkt für Kaufmann scheint uns darin zu liegen, „dass die Gruppenzugehörigkeit durchlässig bleibt, dass man sich we24  Kaufmann

2005b, S. 218–219. 2005b. 26  Kaufmann 2001, Kaufmann 2015. 27  Kaufmann 2010a, S. 133. 25  Kaufmann

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der gegen neue Mitglieder abschottet, noch den Wunsch von Mitgliedern, die Gruppe zu verlassen, wenn sie sich benachteiligt fühlen, ignoriert oder sogar verfolgt“.28 Auf dieser Grundlage verneint Kaufmann Forderungen nach einem Menschenrecht auf kulturelle Identität, da Persönlichkeitsrechte und soziale Rechte diese philosophische Begründungsarbeit leisten. Ein Menschenrecht auf kulturelle Identität wäre demzufolge entweder überflüssig, da es nicht über die liberale zugesicherte individuelle Identität hinausgeht oder aber gefährlich, wenn es die Suspendierung der Menschenrechte für Mitglieder bestimmter Gruppen fordert. Durch diesen letzten Punkt trennt sich Kaufmanns egalitärer Liberalismus von einigen kommunitaristischen Argumentationssträngen.29 Kaufmanns starkes Plädoyer für die Unveräußerlichkeit der Freiheit umfasst aber keineswegs bloß die Dimension der Kritik an politischen Bevormundungsstrukturen, um den Freiheitsspielraum der Individuen zu erweitern, sondern ebenfalls den Schutz dieser Integritätssphäre gegenüber Gefährdungen, die vom Individuum selbst ausgehen. Dies wird deutlich, wenn man sich den Sammelband Recht auf Rausch und Selbstverlust durch Sucht anschaut, in dem es darum geht, die Prinzipien eines liberalen Umgangs mit Drogen auszuloten.30 Hier gesteht er gerade kein Recht auf Rausch zu, wohl aber eine Straffreiheit für Konsumenten, um dem Selbstverlust keinen Vorschub zu leisten.31 Die interkulturelle Dimension der Menschenrechte wurde vor allem in Bezug auf politische Notwendigkeit bzw. moralische Legitimität humanitärer Interventionen diskutiert. Kaufmann hat dabei implizit eine interessante Mittlerposition vertreten, die sich aus den Argumenten zweier Aufsätze ergibt. Einerseits versucht er nachzuweisen, dass Kants generelle Ächtung des Krieges, die er in Zum ewigen Frieden (1795) vertritt, nicht unmittelbar im Widerspruch steht, zu dem Recht auf Krieg, das der Königsberger Philosoph im §56 der Metaphysik der Sitten (1797) einführt. Kaufmann plädiert nicht dafür, dies als eine Theorieveränderung oder gar als einen Widerspruch zu interpretieren, sondern als einen Perspektivwechsel innerhalb der kantischen Theorie. Die Einführung der Kategorie des „ungerechten Feindes“ in das Argument und die daraus folgende Möglichkeit des Präventivkrieges tragen, so Kaufmanns These, auf rechtsdogmatischer Ebene Kants Geschichtsphilosophie Rechnung, die eine Verbreitung der republikanischen Regierungsart im Sinne einer weltbürgerlichen Zustands als Hoffnung proklamiert.32 Der Sache nach denkt Kant damit die Möglichkeit humanitärer Interventionen 28  Kaufmann

2010a, S. 135. 2010a. 30  Kaufmann 2003a. 31  Kaufmann 2003b. 32  Kaufmann 2008. 29  Kaufmann



Menschenrechte als Meta-Code103

mit, also die Durchsetzung der Menschenrechte auf dem Gebiet eines anderen Staates, was nach dem klassischen Völkerrecht ein Verstoß gegen das Nicht-Interventionsprinzip darstellt, das mit dem Gedanken staatlicher Souveränität verbunden ist. Diese Argumentationsstruktur wendet sich implizit gegen Carl Schmitt, der im Nomos der Erde (1950) das klassische Völkerrecht als Ius Publicum Europaeum dergestalt beschrieben hatte, dass jeder souveräne Staat ein „ius ad bellum“ bzw. Kriegsrecht habe, das eine Intervention Dritter aus vermeintlichen Gerechtigkeitsgründen nicht zugesteht. Im Text Hegemonie, Militanter Liberalismus und das Bewusstsein von Verantwortung diskutiert Kaufmann explizit die Möglichkeit eines militanten Liberalismus, der auf Basis einer militärischen Überlegenheit weltweit die liberalen Werte etabliert.33 Auch wenn es in einzelnen Fällen geboten sein mag, Menschenrechte militärisch zu schützen, so hält Kaufmann deren kriegerische Verbreitung für unangebracht. Es zerstöre den Sinn für die Gleichheit unter den Menschen, wenn sich ein Teil der Staaten über die anderen stellt. Die Stärkung der Zivilgesellschaft in Staaten mit gravierenden Menschenrechtsverstößen sei eine bessere Möglichkeit, um sich für die Verbreitung der Menschenrechte einzusetzen. Der kriegerische Liberalismus gleicht letztlich einer imperialen oder kolonialen Weltordnung zu deren philosophischer Kritik und Beseitigung die Methode der Translation beitragen kann.34 Analog hierzu verhält sich Kaufmanns Analyse der Entwicklung des Widerstandsrechts, dessen historische Wurzeln er bei Thomas von Aquin (1224/5–1274), Molina und Thomas Hobbes (1588–1679) betrachtet: letztlich „nur humanitär begründete Rechtsbrüche“ werden als berechtigter Widerstand interpretiert, und „als Begründungen für derartige gegen das positive Recht gerichtete Handlungen taugen also nur solche, die mit der Existenz eines Rechtssystems in nicht kontingenter Weise verknüpft sind“.35 III. Menschenrechte als Meta-Code Die Methode der Translation geht von der Annahme aus, dass die Bedeutung von Begriffen wesentlich von ihrer Verwendung abhängt. Bedeutung ist hiernach historisch und geographisch variabel. Diese Variabilität führt laut Kaufmann und Rottenburg aber keineswegs zu einem „Relativismus der Beliebigkeit“, sondern eröffnet die „Perspektive eines pragmatischen Abgleichs zwischen verschiedenen Rationalitätskonzeptionen“.36 Die Verbindung der beiden Annahmen, die Menschenrechte seien Produkte von Aushandlungen 33  Kaufmann

2007. 2016, S. 116–121. 35  Kaufmann 2010b. 36  Kaufmann/Rottenburg 2009, S. 10, 12. 34  Knauß

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(im Sinne der Translation), zugleich aber regulatorische Prinzipien (im Sinne eines Meta-Codes), die die Bedingungen gerechter Aushandlungen festhalten, erscheint auf den ersten Blick möglicherweise widersprüchlich. Aufgabe des letzten Abschnitts soll es sein, eine Verhältnisbestimmung der Menschenrechte in ihrer Doppelrolle als Translationsprodukte und als Meta-Code vorzunehmen und kritisch zu überprüfen. Zur Veranschaulichung der Problematik wenden wir uns der Sozialanthropologie zu. Rottenburg spricht vom Gründungparadox der Ethnographie, das darin besteht, die Vereinbarkeit zwischen einer relativistischen und einer universalistischen These zu finden. Die relativistische These lautet, alle Kulturen seien als gleichberechtigte Referenzrahmen zu betrachten, bei denen es weder möglich sei, die Überlegenheit einer bestimmten Kultur zu behaupten und noch deren Dominanz über andere zu fordern. Die universalistische These hält (ethnographische) Erkenntnis für möglich, insofern sich die Anthropologie als Wissenschaft versteht und der Objektivität ihrer Ergebnisse verpflichtet ist. Die dazwischen bestehende Lücke kann wie folgt als Frage formuliert werden: Wie ist angesichts der Kontextabhängigkeit wissenschaftlicher Praxis Gegenstandserkenntnis möglich? Rottenburg geht davon aus, dass eine Lücke der Unbestimmtheit zwischen dem kulturellen Referenzrahmen und der angestrebten Eindeutigkeit besteht, mit der sich ein Gegenstand der ethnographischen Forschung bestimmen lassen soll. Das Konzept der Translation sei nun in der Lage, diese Lücke zu schließen, in dem sie die soziale Praxis in den Blick nimmt, innerhalb derer sich Kontext und Gegenstand wechselseitig bestimmen.37 Das interaktionistische Modell der Translation lässt sich in Abgrenzung zum dichotomen Schema von Subjekt und Objekt verstehen, das zur Strukturierung wissenschaftlicher Methoden immer wieder zur Anwendung kommt. Geopolitisch interpretiert dominierte das Schema die Zuordnung europäischer Erkenntnissubjekte, die sich außereuropäische Menschen als „Objekte“ zur Erforschung vornahmen. Ontologisch betrachtet speist das Schema auch die Unterscheidung zwischen Kultur und Natur. Phänomenologisch ist auch vom Selbst und dem Anderen die Rede, weshalb Rottenburg von Alterisierung spricht. Allgemein gesprochen ist damit wohl eine Praxis bezeichnet, die jemanden oder etwas zum „Anderen“ macht, wodurch der Andere meist einen Statusverlust erleidet, weil ihm wesentliche humane Qualitäten abgesprochen werden. Latent ist diese Tendenz zur Herabwürdigung bereits im rein erkenntnistheoretisch formulierten Subjekt-Objekt-Schema enthalten, obwohl damit vordergründig gar keine Diffamierung des Anderen verbunden zu sein scheint. Jedenfalls betrachtet Rottenburg Alterisierung als das 37  Rottenburg

2003, S. 33.



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„Problem“38 oder sogar die „Sünde“39 der Ethnologie, jedenfalls als etwas, das es zu vermeiden gelte.40 Dennoch weist Rottenburg darauf hin, dass eine übergeordnete Sprecherbzw. Erkenntnisperspektive zum notwendigen Repertoire diskursiver Strategien zählt. „Das Festhalten an einem Meta-Code, der für sich beansprucht, außerhalb aller kulturellen Rahmungen zu stehen, ist immer dann unvermeidbar, wenn Entscheidungen getroffen werden, die andere Menschen betreffen und Rechenschaftspflicht implizieren“.41 Die Notwendigkeit eines MetaCodes im Sinne „kontextunabhängiger Gütekriterien“ besitzt in vielen Handlungsfeldern einen „existenzielleren und politischeren Charakter“ zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung der jeweiligen Gesellschaft.42 Am Beispiel des Verhältnisses zwischen Menschenrechten und Menschenwürde kann dieser Zusammenhang erläutert werden. Menschenwürde erfasst einerseits „einen essentiellen Bereich menschlicher Existenz, den es zu schützen gilt“.43 Dieser Bereich wird als Menschenwürde gekennzeichnet, ohne dass man sich in einer „uferlosen Aufzählung von einzelnen Rechten“44 verlieren müsste. Ebenso betrachten wir die Verletzung einzelner Menschrechte nicht zwingend als Verstoß gegen die Würde eines Menschen. „Der Gedanke der Menschenwürde könnte damit als der Versuch angesehen werden, die Kernelemente des Menschenrechtsethos auch da abwägbar zu machen, wo wir in echte oder vermeintliche Dilemmasituationen geraten und wo wir den Menschen so viel an Rechten bewahren wollen, wie es in der konkreten Situation möglich ist“.45 Würde funktioniert also als ein unscharfer Begriff, der als ein den Menschenrechten übergeordnetes Prinzip herangezogen werden kann, um die an sich als unverhandelbar geltenden Menschenrechte zu verhandeln. Wie Kaufmann hier völlig zu Recht bemerkt, klärt sich dies normalerweise nicht „durch logische Deduktion, sondern durch den offenen politischen Diskurs, indem die Argumente auch von Interessen ‚getragen‘ sind, die es auf diesem offenen Weg miteinander auszutragen und auszugleichen gilt“.46 Angesichts des faktisch bestehenden Rechtspluralismus, der Recht weniger als einheitliches Gebäude betrachtet, das möglicherweise durch einen Welt38  Rottenburg

2008, S. 405. 2008, S. 404, 405, 416. 40  Rottenburg 2008, S. 420. 41  Rottenburg 2008, S. 421. 42  Rottenburg 2008, S. 421–422. 43  Kaufmann 2016, S. 120. 44  Kaufmann 2016, S. 120. 45  Kaufmann 2014, S. 20. 46  Kaufmann 2014, S. 20. 39  Rottenburg

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staat geschlossen werden kann, und stattdessen die Vielfalt der Kontexte und Kulturen anerkennt, schlägt Kaufmann vor, „den Gedanken der Rechtssetzung zu überwinden oder zumindest einzuschränken und durch den der Rechtsaushandlung zu ersetzen“.47 Eine Aushandlung des Rechts findet de facto ja innerhalb verschiedener Verhandlungsarrangements statt, in denen auch ungleiche Partner aufeinander treffen. „Um angesichts derartiger Asymmetrien die schwächeren Partner zu schützen, müssen neben die Fairness absichernden Prozeduren die Menschenrechte als allseits zu respektierender Minimalinhalt einer jeden Vereinbarung garantiert werden.“ Die gerechtigkeitstheoretische Begrenzung der Aushandlungen soll in erster Linie durch die Menschenrechte als „unverzichtbare Basis jeder Rechtsaushandlung“ gewährleistet werden.48 Beim genaueren Hinsehen wird klar, dass auch die Vorsätze des gerechten Verfahrens und die Menschenrechte als wiederkehrende Zielscheibe und angenommener Ausgangspunkt der Verhandlungen nicht einfach als formale bzw. inhaltliche Referenzpunkte etwa in Form eines als unveränderlich betrachteten Naturrechts in Stein gemeißelt sind. Sie selbst sind ebenfalls Produkte von Aushandlungsprozessen, die sich faktisch dadurch erweisen, dass sie von den verhandelnden Parteien innerhalb einer konkreten Situation als nicht verhandelbar angenommen werden. Es gelte nun den Verhandlungscharakter des Rechts zunächst als wesentlichen Charakter anzuerkennen und in einem zweiten Schritt daran zu erinnern, dass unter fairen Bedingungen verhandelt werde. Eine entscheidende kriterielle Funktion kommt bei dieser Verhandlung deshalb den Menschenrechten zu, die trotz der gelegentlich geäußerten Kritik an ihnen fünf Vorteile aufweisen. Sie seien von allen Staaten vertraglich anerkannt, zeigten nachvollziehbar den Unterschied zwischen moralisch verwerflichen und als vertretbar angesehenen Handlungen auf, der im Grunde in allen Kulturen vorhanden ist, sie seien weiterhin nicht religiös bzw. nicht von vorneherein daran gebunden, einer bestimmten Religion anzugehören. Schließlich sind sie selbst Gegenstand der Aushandlung, unterbreiten aber das Angebot, politische Konflikte zumindest der Idee nach ratio­ nal aufzulösen und friedlich zu kommunizieren. Auch wenn vielfach an der Rationalität der jeweiligen Akteure gezweifelt werden kann, so seien sie doch mit dem als positiv zu betrachtenden Ideal verbunden, Aushandlungen auf friedfertige Weise zu begehen. Wie wichtig hierbei die wiederholte und kontextgebundene Re-Thematisierung der Menschenrechte als inhaltliche Minimalforderung und die formale Vorgabe der fairen Verhandlung sind, wird deutlich wenn an dieser Stelle auf Seyla Benhabibs Ansatz eines „interaktiven“ Universalismus verwiesen wird.49 47  Kaufmann

2016, S. VI. 2016, S. VI. 49  Kaufmann 2016, S. 51, 146. 48  Kaufmann



Menschenrechte als Meta-Code107

Der Vorschlag, Menschenrechte als Meta-Code zu betrachten, nimmt nun einerseits den Gedanken der Translation auf, insofern auch Recht als Produkt der Aushandlung begriffen werden. Andererseits wird deutlich, dass Recht und insbesondere die Menschenrechte Gesellschaften nur stabilisieren können, wenn sie als Leitlinien der Aushandlung angesehen werden. „Weder finden wir das Recht in der Natur, noch können wir es uns einfach diktieren lassen. Wir müssen es aushandeln und dabei die Rechte der Menschen verteidigen.“50 Um dem Einwand zu entgehen, es handele sich um einen circulus vitiosus, wenn die selbst ausgehandelten Menschenrechte als nicht-verhandelbare Kriterien legitimer Rechtsaushandlung begriffen werden müssten, ließe sich von einem produktiven Selbstverhältnis des Rechts sprechen. Die Menschenrechte als Meta-Code formulierten dann die transzendentale Bedingung der Rechtsaushandlung (Translation) selbst. Luhmann hat einen solchen Zusammenhang als Paradoxie aufgefasst: „Logisch und historisch gesehen hat danach das Subjekt schon Rechte, bevor sich eine ‚objektive‘, allseits anerkannte Rechtsordnung bildet“.51 Gegen eine metaphysische Hypostasierung der Menschenrechte lässt sich Folgendes einwenden: „Die logische Vorstaatlichkeit bestimmter Rechte soll lediglich normativ festhalten, dass eine sich bildende oder bereits existierende Rechtsordnung Legitimitätsdefizite aufweist, wenn sie den Individuen dieses Recht verweigert. Es bedarf dafür keiner Annahme unbegrenzter vorrechtlicher Freiheit, nur des Grundsatzes, wonach man begründen muss, warum man Gehorsam beansprucht und wofür man ihn beansprucht. Eine Ontologisierung dieser Forderung erscheint unnötig und verwirrend“.52 IV. Fazit In diesem Aufsatz haben wir uns der Aufdeckung und Darstellung der grundlegenden Struktur des modernen Rechts gewidmet. Zunächst wurde Translation als Methode dargestellt, die Begriffe weder subjektiv im Geist der Individuen, noch objektiv im „Reich der Ideen“ verortet, sondern als besondere Bestandteile sozialer Interaktion ausweist. Angewendet auf die Ideengeschichte subjektiver Rechte erlaubt dies ein angemessenes Verständnis der begrifflichen Transformationen innerhalb historisch und geographisch distinkter Umfelder. Dabei sind deskriptive und normative Elemente herausgestellt worden. 50  Kaufmann

2016. 1993, S. 46. 52  Kaufmann 2016, S. 47, 48. 51  Luhmann

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Die Normativität des subjektiven Rechts wird oft mit dem Verweis auf vorstaatliche, moralphilosophisch rechtfertigbare individuelle Ansprüche erläutert, die paradigmatisch durch die Menschenrechte abgebildet werden. Wir haben aufgezeigt, dass die Menschenrechte als Meta-Code begriffen werden können und so Legitimitätskriterien der Rechtsaushandlung darstellen. Teilt man den methodischen Blick der Translation, dann ist Recht im Wesent­ lichen durch Aushandlungen zugänglich. Zur Frage steht dann freilich, wie Produkte der Aushandlung zugleich als Kriterien der Aushandlung gelten können. Es bleibt festzuhalten, dass Menschenrechte als Meta-Code anzunehmen zwar die Möglichkeit eröffnet, Prozesse der Translation kriteriengeleitet zu evaluieren, dazu muss aber keineswegs angenommen werden, dass Menschenrechte jenseits von Translationsvorgängen situiert sind. Sie sind ebenso Teil der sozialen Praxis. Auf diese Weise offenbart die Verbindung von Translation, Menschenrechten, und Meta-Code die gesellschaftlich stabilisierenden und gleichzeitig kulturell situierten Eigenschaften des Rechts. Historische wie philosophische Reflexion trägt zur Aufrechterhaltung dieser Einrichtung bei. Literaturverzeichnis Achenwall, Gottfried: Prolegomena iuris naturalis, Göttingen 1767. Berlin, Isaiah: Four Essays on Liberty, Oxford 1969. Buchenhorst, Ralph: Übersetzung. Ein neuer und unverzichtbarer Grundbegriff der Kulturwissenschaften, in: Musik & Ästhetik 58/2 (2011), S. 33–49. Delgado, Mariano: Die Rechte der Völker und der Menschen nach Bartolomé de Las Casas, in: Matthias Kaufmann/Robert Schnepf (Hrsg.): Politische Metaphysik. Die Entstehung moderner Rechtskonzeptionen in der Spanischen Spätscholastik, Frankfurt am Main 2007, S. 177–204. Haar, Christoph: Natural and Political Conceptions of Community. The Role of the Household Society in Early Modern Jesuit Thought, c. 1590–1650, Leiden/Boston 2019. Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten, 1797. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden, 1795. Kaufmann, Matthias: Recht ohne Regel? Die philosophischen Prinzipien in Carl Schmitts Staats- und Rechtslehre, Freiburg i. B./München 1988. Kaufmann, Matthias: Rechtsphilosophie. Freiburg i. B. 1996. Kaufmann, Matthias: Aufgeklärte Anarchie: eine Einführung in die politische Philosophie, Berlin 1999. Kaufmann, Matthias (Hrsg.): Integration oder Toleranz? Minderheiten als philosophisches Problem, Freiburg i. B./München 2001.



Menschenrechte als Meta-Code109

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Carl Schmitt oder Kant? Ein Versuch über Recht, Staat und Revolution1 Von Heiner F. Klemme I. Im Jahre 1929 feiert die Kant-Gesellschaft in Halle ihr 25-jähriges Bestehen mit einer Reihe von Veranstaltungen und Vorträgen. Edmund Husserl wird zum Ehrenmitglied der Gesellschaft ernannt. Im Rathaus werden die aus aller Welt angereisten Mitglieder der Gesellschaft prachtvoll empfangen; in der Oper wird Händel aufgeführt. Der wissenschaftliche Teil der Festlichkeiten findet im Löwengebäude der Universität statt, die damals noch den Namen „Vereinigte Friedrichs-Universität“ trägt. Die Kant-Gesellschaft ist 1929 vermutlich die größte philosophische Gesellschaft der Welt. Entsprechend wird der wissenschaftliche Teil des Programms nicht nur durch KantSpezialisten gestaltet. Zu den Referenten zählen unter anderem Hans Freyer, der zum Thema „Ethische Normen und Politik“ vorträgt, und Carl Schmitt, der über „Staatsethik und pluralistischer Staat“2 spricht. Beide, Freyer und Schmitt, waren meines Wissens keine Mitglieder der Kant-Gesellschaft, und auf dem Foto, das von den anwesenden Mitgliedern auf den Stufen des Löwengebäudes gemacht wird, sucht man sie vergeblich. Warum die Kant-Gesellschaft gerade Freyer und Schmitt eingeladen hat, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht ist es irgendwo in den Akten vermerkt. Merkwürdig ist es schon. Denn beide werden wenige Jahre später, nach dem 30. Januar 1933, einen Pakt mit dem Teufel schließen und zu den Wortführern der sogenannten „Konservativen“ oder „deutschen Revolution“ werden. Schmitts apologetische Tätigkeit für die Nationalsozialisten wird ihm den Titel des „Kron­ juristen des Dritten Reichs“ einbringen. Wer verstehen möchte, was inhaltlich mit dem Titel „Kronjurist des Dritten Reichs“ gemeint sein könnte, sei auf die Lektüre von Schmitts Schrift 1  Überarbeitete Fassung eines Vortrags, der im November 2017 auf einer Tagung der Academia Kantiana an der Baltischen Föderalen Immanuel-Kant-Universität in Kaliningrad gehalten wurde. – This project has received in its final stage funding from the European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme under the Marie Skłodowska-Curie grant agreement No 777786. 2  Schmitt 1929.

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Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit von 19333 verwiesen. In dieser Schrift versucht Schmitt den Nachweis zu führen, dass mit dem sogenannten „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1934 die Weimarer Verfassung von 1919 aufgehört hat zu bestehen. Schmitt schreibt: „Das gesamte öffentliche Recht des heutigen deutschen Staates steht heute auf eigenem Boden. Einzelne Bestimmungen der Weimarer Verfassung gelten noch, aber nicht anders wie die große Masse vorrevolutionärer Regelungen, also nur soweit sie der neuen Rechtslage nicht widersprechen, jedoch nicht als Grundlage und verfassungsmäßige Legitimation des heutigen Staates. […] Weder inhaltlich-materiell noch in ihrer formellen Verfassungsgesetzeskraft könnte die Weimarer Verfassung die Grundlage eines nationalsozialistischen Staates sein. Die Weimarer Verfassung gilt nicht mehr. Alle Grundsätze und Regelungen, die dieser Verfassung weltanschaulich und organisatorisch wesentlich waren, sind mit allen ihren Voraussetzungen beseitigt.“4 Das Besondere an der, wie sie Schmitt nennt, „deutschen Revolution“ von 1933 ist, dass sie „legal [war], d. h. gemäß der früheren Verfassung formell korrekt. Sie war es aus Disziplin und deutschem Sinn für Ordnung“5. Mit dem nationalsozialistischen Staat wird, so Schmitt, das „aus dem 19. Jahrhundert überkommene liberal-demokratische Staats­schema“6 überwunden. Der Staat wird nicht mehr als eine Institution begriffen, dessen Funktion es ist, zwischen den Interessen und Wertvorstellungen seiner Bürger zu vermitteln. Der Staat ist nicht mehr der Gesellschaft nachgeordnet. Der nationalsozialistische Staat ist vielmehr eine „politische Einheit“: „Die politische Einheit des gegenwärtigen Staates ist eine dreigliedrige Zusammenfassung von Staat, Bewegung, Volk.“7 Der Primat des „Politischen“ vor den drei Elementen „Staat“, „Bewegung“ und „Volk“ bedeutet, dass das eine Element für das andere steht. Das Politische kennt und akzeptiert keine Differenz und keine Distanz. Das Politische schafft und bedeutet „Einheit“. In seinem Aufsatz von 1929 schreibt Schmitt: „Richtigerweise bezeichnet das Politische nur den Intensitätsgrad einer Einheit.“8 Nicht Kant, Hegel ist der Autor, den Schmitt als Schutzheiligen eines Staatsverständnisses aufruft, das seiner Ansicht nach der „sozialen und politischen Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts“9 einzig und allein angemessen ist. Dieses Staatsverständnis stellt Schmitts Ansicht nach nicht nur die Grundlage 3  Schmitt 4  Schmitt 5  Schmitt 6  Schmitt 7  Schmitt 8  Schmitt 9  Schmitt

1933. 1933, 1933, 1933, 1933, 1929, 1933,

S. 5. S. 8. S. 11. S. 11. S. 36. S. 13.



Carl Schmitt oder Kant?113

des faschistischen Italiens und des nationalsozialistischen Deutschlands, sondern auch des kommunistischen Russlands dar. In diesen Staaten wird der Staat zum Staat, weil er vom Politischen und nicht von den Einzelinteressen der Bürger her verstanden wird. „Heute“, führt Schmitt aus, „kann das Politische nicht mehr vom Staate her, sondern muß der Staat vom Politischen her bestimmt werden.“10 Die Bedeutung des Politischen selbst erschließt sich durch die Differenz zwischen „Freund und Feind“, zwischen denen, die Elemente dieser Einheit sind, und solchen, die es nicht sind. Es bedeutet beispielsweise, dass es keine Differenz zwischen Regierung und Beamten geben kann und darf. „Der Beamte ist jetzt Volksgenosse in einer auf Artgleichheit beruhenden politischen Einheit, er ist als Parteigenosse ein Glied der Staatund Volkstragenden Organisation, und diese ist an entscheidenden Umschaltestellen des staatlichen Behördenorganismus mit politischen Führern aus der Staat- und Volktragenden Bewegung besetzt.“11 Schmitts Ausführungen in Staat, Bewegung, Volk legimitieren den nationalsozialistischen Staat, sie legitimieren das Gesetz zur „Widerherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 und sie legitimieren im Übrigen auch die ‚Gleichschaltung‘ und damit im Resultat die Vernichtung der KantGesellschaft durch das Amt Rosenberg. Wer als „Volksfeind“ identifiziert wird, der darf, der muss vernichtet werden. Schmitts politische Philosophie ist eine Philosophie, eine Theologie des „totalen Staats“, dessen Einheit der Zweck ist, der alle Mittel heiligt. Ein besonders markantes und abstoßendes Beispiel hierfür stellen Schmitts Ausführungen zur Differenz zwischen fides und confessio in seinem HobbesBuch von 1938 dar.12 Die zentrale These dieses Buches besagt, dass Hobbes mit dieser Unterscheidung dem absoluten Staat, dem er doch dienen wollte, den Todesstoß versetzt hat. Hobbes argumentiert bekanntlich, dass der Leviathan (der Fürst, der Staat, die Regierung, der Souverän) von seinen Bürgern verlangen kann, dass sie sich zur Wahrheit des Satzes „Jesus ist Christus“ bekennen. Aber der Leviathan kann nicht verlangen, dass sie an die Wahrheit des Satzes auch glauben. Die hiermit begründete Differenz zwischen Bekenntnis und Glaube wird Schmitts Auffassung nach von Philosophen wie Spinoza, Christian Thomasius und Moses Mendelssohn aufgenommen, um das Recht auf Gewissens- und Glaubensfreiheit zu fordern. Wird der Glaube zum öffentlichen Bekenntnis, ist es nach Schmitt um das Politische, um die Einheit (denn das Politische ist eine intensiv erfahrene Einheit) des Staates geschehen. 10  Schmitt

1933, S. 15. 1933, S. 17. 12  Schmitt 1938/1982. 11  Schmitt

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Das Perfide an Schmitts Ausführungen besteht nun in der Einführung des Begriffs der „jüdischen Existenz“.13 Hobbes’ Unterscheidung zwischen fides und confessio wird nach Schmitt von der „jüdischen Existenz“ dankbar zur Rechtfertigung des liberalen Verfassungsstaates aufgenommen. Unter Verweis auf Spinozas Tractatus Theologico-Politicus (1670) führt Schmitt aus: „Jetzt wird […] die individuelle Gedankenfreiheit der formgebende Grundsatz und die Notwendigkeiten des öffentlichen Friedens sowie das Recht der souveränen Staatsgewalt verwandeln sich in bloße Vorbehalte. Eine kleine, umschaltende Gedankenbewegung aus der jüdischen Existenz heraus, und in einfachster Folgerichtigkeit hat sich im Laufe von wenigen Jahren die entscheidende Wendung im Schicksal des Leviathan vollzogen.“14 Ähnlich wie zeitgleich Martin Heidegger in seinen Schwarzen Heften15 geht auch Schmitt davon aus, dass man kein Jude sein muss, um aus der „jüdischen Existenz“ heraus zu denken. Vielmehr wird diese Existenzform allen Personen zugeschrieben, die für den liberalen Verfassungsstaat eintreten. Selbstverständlich können, müssen sie nach Schmitt als Volksfeinde bekämpft werden. Das schreibt Schmitt 1938 nicht, aber genau das ist der tiefere Sinn seiner Worte. Der Liberalismus, die „jüdische Existenz“ muss bekämpft werden, weil sie keine unbedingte Loyalität gegenüber dem Staat entwickeln kann. Wenn erstens die „Leistung“ des Staates darin besteht, „daß er die konkrete Situation bestimmt, in welcher überhaupt erst moralische und rechtliche Normen gelten können“16, und zweitens das „Politische nur den Intensitätsgrad einer Einheit“17 beschreibt, dann bestimmt der Staat eben auch, wer nicht zu dieser „Einheit“ gehört, wer ihr Feind ist. II. Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Auffassung von Staat und Politik diametral der Kantischen Lehre von Recht und Politik zuwiderläuft. Und das, obwohl Kant – im Gegensatz zu John Locke – kein klassischer Theoretiker des liberalen Rechtsstaats ist. Das Politische gibt es bei Kant nicht. Es gibt nur Politik. Und der Zweck der Politik ist nicht primär die Einheit des Staates, sondern die Realisierung des Rechts, die Realisierung einer Freiheitsordnung also, die auf einem allgemeinen und gemeinsamen Willen beruht. Das Recht vermittelt zwischen Macht und Freiheit. Es beruht auf einem einheitlichen Willen, dessen Effekt eine Rechtsordnung für alle Personen ist, die unter die 13  Schmitt

1938/1982, S. 88. 1938/1982, S. 88–89. 15  Zu Heidegger siehe Klemme 2016a. 16  Schmitt 1929, S. 32. 17  Schmitt 1929, S. 36. 14  Schmitt



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Rechtsordnung fallen. Jeder Bürger muss sich als „Mitgesetzgeber“18 verstehen können. Das ist die Idee, die Kants Rechtsphilosophie leitet. Das primäre Subjekt des Rechts ist auch nicht das völkisch bestimmte „Volk“, wie bei Schmitt, sondern das Volk im Sinne „einer Menge von Menschen, oder für eine Menge von Völkern, die, im wechselseitigen Einflusse gegen einander stehend, des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio), bedürfen, um dessen, was Rechtens ist, teilhaftig zu werden.“19 Schmitts Auffassung, dass „philosophische und moralische Argument[e]“20 aus der empirischen Wirklichkeit folgen, dass der Staat aus eigener Machtvollkommenheit bestimmt, welche Normen soziale Wirklichkeit erhalten, unterschätzt die normative Kraft der Begriffe und Ideen, an denen sich Menschen orientieren. Insbesondere aber unterschätzt sie das normative Verhältnis, in dem sich Bürger zum Staat stehend betrachten. Die Menschen sind nicht für die Einheit des Staates da. Der Staat ist für die Menschen da und zwar für alle Menschen, die sich unter das Gesetz begeben. Auch wenn es kein Recht auf Widerstand gibt,21 wie Kant behauptet, gibt es doch bestimmte Rechte und Pflichten, auf die der Mensch als Bürger nicht verzichten kann. Schmitt verweist in seinem Hallenser Vortrag von 1929 auf Kants Widerstandsverbot, vermutlich um die Distanz, die zwischen seinen Ansichten und denen Kants liegt, nicht so groß erscheinen zu lassen, wie sie tatsächlich ist. Aber trotz Kants rechtlichem Widerstandsverbot steht Kant eindeutig auf Seiten eines pluralistischen Staatsverständnisses und eindeutig nicht auf der Seite eines völkischen, politischen Staatsbegriffs, wie er von Schmitt 1933 vertreten wird. Kants Negation eines Widerstandsrechts verdankt sich – in aller Kürze formuliert – der Verbindung eines auf Rousseau zurückgehenden Autonomiebegriffs mit einem durch Hobbes inspirierten Souveränitätsbegriff. Mit Rousseau nimmt Kant an, dass nur diejenigen Gesetze legitim sind, deren Ursprung der Wille der Bürger ist. Und mit Hobbes nimmt Kant an, dass die Souveränität unteilbar ist. Ergänzt um den neuzeitlichen Gedanken der Repräsentation bedeutet dies, dass der Wille des Volkes (als der Menge aller Einzelwillen) in einer Person repräsentiert werden muss. Nur wenn dieser Wille unteilbar ist, kann der Konflikt und damit der Naturzustand überwunden werden. Gäbe es ein Recht auf Widerstand, wäre der Naturzustand nicht überwunden. Es könnte zu einem Streit darüber kommen, ob der Fürst gegen die Verfassung verstößt – und es gäbe keine Instanz, die darüber entscheidet, auf welcher Seite das Recht ist. 18  AA

6: 335. 6: 311. 20  Schmitt 1929, S. 32. 21  „Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats gibt es also keinen rechtmäßigen Widerstand des Volks“ (AA 6: 320). 19  AA

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Das formalrechtliche Verbot des Widerstands ist jedoch nur die eine Seite der Kantischen Rechtsaufassung. Es gibt eine zweite Seite. Diese zweite Seite macht deutlich, dass die Parteinahme von Schmitt für den nationalsozialistischen Staat die Parteinahme für einen Zustand ist, in dem die Herrschaft des Rechts durch die Herrschaft der Willkür abgelöst worden ist. Wann ­genau diese Ablösung für alle erkennbar stattgefunden hat (und in diesem Sinne hat sie sicherlich nicht am 30. Januar 1933 stattgefunden), ist schwer zu sagen. Vielleicht hat sie, wie Schmitt meint, mit dem „Ermächtigungsgesetz“ (24. März 1933) stattgefunden. Vielleicht aber auch erst später. Darauf kommt es hier nicht an. Worauf es ankommt ist, dass der nationalsozialistische Führerstatt seinem Wesen nach nach kantischen Begriffen ein Unrechtsstaat ist. Und dies wird durch das Ziel deutlich, den dieser Staat verfolgt: Die Schaffung einer politischen Einheit nach dem Prinzip von Freund und Feind. Diese Einheit ermächtigt den Staat, Menschen den Status von Personen abzusprechen, deren Freiheit schutzwürdig ist. Wenn das Ziel des Staates jedoch nicht die Erhaltung der (äußeren) Freiheit sondern deren Vernichtung ist, bewegen wir uns nicht mehr auf dem Boden des Rechts – sondern auf dem der nackten Gewalt und der Willkür. Der Staat selbst hat durch seine Gesetzgebung seine Aufhebung bewirkt. Die „deutsche Revolution“ ist keine staatsrechtliche Revolution, keine Wende von einem Rechtssystem zu einem anderen Rechtssystem. Die „deutsche Revolution“ muss nach kantischem Verständnis vielmehr als Sprung in den Naturzustand gedeutet werden. Im Naturzustand bedarf es keines durch die Verfassung legitimierten Widerstandsrechts. Im Naturzustand hat jeder Mensch das Recht und die Rechtspflicht, sich auch durch Gewalt als Rechtssubjekt zu erhalten. „Der Führer schützt das Recht“ nicht, wie Schmitt in seinem gleichnamigen Buch von 1934 behauptet. Er vernichtet es vielmehr. Meine These lautet also: Nach kantischen Begriffen gibt es eine Form ‚politischer Einheit‘, die an sich betrachtet rechtswidrig ist. Die nationalsozialistische Machtergreifung stellt keine Revolution staatsrechtlicher Verhältnisse dar. Rechtlich betrachtet, handelt es sich bei ihr um eine (wie ich sie nennen möchte) negative Revolution, um die Vernichtung einer Rechtsverfassung, die durch die rechtsfreie Herrschaft des Politischen (im Sinne von Carl Schmitt) ersetzt wird.22

22  Dieser Befund wird durch das vergebliche Bemühen nationalsozialistischer Juristen bestätigt, einen Verfassungscharakter des Nazi-Regimes zu erkennen. Siehe dazu die Beiträge in dem Band von Pauer-Studer/Fink 2014.



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III. Kants Konzeption des bürgerlichen Zustands geht bekanntlich einher mit dem rechtlichen Verbot, Widerstand gegenüber einer bestehenden Rechtsordnung zu leisten.23 Ob eine positivrechtliche Norm dem Ideal einer bürgerlichen Gesellschaft und der republikanischen Regierungsart entspricht oder nicht, der Bürger muss gehorchen und auf bessere Zeiten hoffen. Angesichts der Erfahrungen mit totalitaristischen Gewaltherrschaften im 20. und 21. Jahrhundert scheint dies kein wirklich überzeugender Gedanke zu sein. Es stellt sich somit die Frage, ob es Grenzen der Rechtsbefolgung gibt, die Kant vielleicht nicht explizit formuliert, die aber mit einer gewissen Stringenz aus seiner Rechtskonzeption folgen. Meines Erachtens gibt es drei Möglichkeiten, diese Frage positiv zu beantworten: Zur ersten Möglichkeit. Positives Recht ist nach Kant Zwangsrecht. Kant muss daher zeigen, dass der Staat legitimiert ist, Personen zur Gesetzesbefolgung zu zwingen, obwohl diese Personen ein angeborenes Freiheitsrecht haben. Die Begründung erfolgt über die der positiven Rechtsordnung zugeschriebene Funktion: Weil die reine praktische Vernunft die Erhaltung und Realisierung der Freiheit auch in ihrem rein äußeren Gebrauche gebietet, ist der äußere Zwang gerechtfertigt. Er ist das einzige Mittel zur Realisierung dieses Zweckes.24 Es scheint paradox zu sein: Ich bin nur deshalb verpflichtet, das positive Gesetz zu befolgen, weil ich ein angeborenes Freiheitsrecht habe. Leiste ich Widerstand gegen eine rechtliche Verfassung, die ich für ungerecht beurteile, verletze ich jedoch die notwendige Voraussetzung, unter der meine äußere Handlungsfreiheit gewährleistet werden kann, nämlich das Gewaltmonopol des Staates. In welcher Weise sind diese Überlegungen zum Verhältnis von Zwang und Recht für unsere Frage nach einer Schranke für das positive Recht von Bedeutung? Die Antwort lautet: Diese Überlegungen zeigen, dass das Zwangsrecht die äußere Handlungsfreiheit von Personen nicht grundsätzlich negieren kann. Es muss für jede Person einen Spielraum ihrer Freiheit geben. Ganz in diesem Sinne schreibt Kant: „Durch einen Vertrag kann sich niemand zu einer solchen Abhängigkeit verbinden, dadurch er aufhört, eine Person zu sein; denn nur als Person kann er einen Vertrag machen.“25 Dies gilt auch für den Gesellschaftsvertrag. Das öffentliche Recht, das zwangsbe23  Zu dieser Thematik liegen eine Reihe von Studien und Beiträgen vor. Siehe zuletzt Ripstein 2009, S. 325 ff., und Byrd/Hruschka 2010, S. 181–184. – Ich übernehme im Folgenden Passagen aus Klemme 2016b und Klemme 2016c. Zur Thematik siehe auch Klemme 2013. 24  Vgl. AA 6: 231, § D. 25  AA 6: 330.

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währte Gesetz hat nicht die Vernichtung, sondern die Erhaltung der äußeren Freiheit zum Ziel. Besteht der Zweck der Rechtsordnung in der totalen und absoluten Vernichtung dieser Freiheit, handelt es sich um eine Gewaltordnung ohne Freiheit und ohne Gesetz. Was wie eine Rechtsordnung aussieht, ist tatsächlich Barbarei. In diesem Zustand stellt sich die Frage nach der Existenz eines Widerstandsrechts nicht, weil es überhaupt keine bestehende Rechtsordnung gibt. Obwohl der Eindruck entstehen könnte, als ob Kant wie später Hans Kelsen26 die Auffassung vertreten würde, dass jeder Inhalt zur positivrechtlichen Norm erhoben werden kann, ist dies gerade nicht der Fall. Denn es sind Akte der positivrechtlichen Gesetzgebung denkbar, deren Effekt die Aufhebung dieser Rechtsordnung ist. Die einzig rechtmäßige Verfassung der Republik, so schreibt Kant in der Rechtslehre, macht „allein die Freiheit zum Princip, ja zur Bedingung alles Zwanges“27. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, kann es keinen berechtigten Zwang geben. Dies ist auch der Grund, warum ich nach Kant keinen Vertrag in der Absicht schließen kann, meine Freiheit zu verlieren. Zwingt mich der Staat zur Befolgung von Gesetzen, deren Zweck nicht die Begrenzung und Bestimmung der äußeren Handlungsfreiheit sondern vielmehr die Vernichtung der Subjekte ist, die als Personen Freiheitsträger sind, befinde ich mich im Naturzustand. Der Staat hat aufgehört den Willen des Volkes zu repräsentieren. Leiste ich den Inhabern staatlicher Gewalt Widerstand, nehme ich für mich nicht ein (nicht existierendes) Vernunftrecht auf Widerstand gegen eine legitime Autorität in Anspruch. Eine derartige Autorität gibt es nicht mehr. Zur zweiten Möglichkeit. Kant definiert das Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.28 Dies ist eine formale, aber keine inhaltlich leere Rechtsdefinition. Sie ist inhaltlich schon deshalb nicht leer, weil es nicht schwer fällt, Alternativen zu ihr zu finden. Diese Alternativen formulieren einen Begriff der Verfassung eines Gemeinwesens, die dem Kantischen Verständnis nach an sich unrechtmäßig ist. Ein schlagendes Beispiel für einen derartigen Begriff der Verfassung findet sich in Ernst Rudolf Hubers Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches von 1939. Huber, ein Schüler von Carl Schmitt, hebt ganz im Sinne von Schmitt hervor, dass die „nationalsozialistische Revolution […] den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat vollends zerstört“ und an 26  In der Reinen Rechtslehre schreibt Kelsen zur „Kategorie des Rechts“: „Sie bleibt anwendbar, welchen Inhalt immer die so verknüpften Tatbestände haben, welcher Art immer die als Recht zu begreifenden Akte sein mögen. Keiner gesellschaftlichen Wirklichkeit kann wegen ihrer inhaltlichen Gestaltung die Vereinbarkeit mit dieser Rechtskategorie bestritten werden.“ Kelsen 2008, S. 36. 27  AA 6: 340, § 52; vgl. Dreier 2004, S. 748. 28  AA 6: 230, § C.



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sei­ ne Stelle „die neue Verfassungsform des völkischen Führerreichs ge­ schaffen“29 hat. Ein zentrales Element der neuen Verfassungsform besteht nach Huber darin, dass sich die „Führung“ dieses Staates, die sich im „Entscheid“30 des Führers materialisiert, zwar „der Gesetzgebung bedienen“ kann, „aber nicht notwendig an diese Handlungsform gebunden“31 ist. Schon aus diesem Grunde, dem Grunde des durch und durch politischen Charakters des (so Huber) „völkischen Führerreichs“32, befinden sich die Bürger des Reiches Kants Verständnis nach in einem „Zustande äußerlich gesetzloser Freiheit“33. Nach Kant stiftet diese Verfassung (die in Wahrheit gar keine ist) keinen status civilis, weil für sie die Ausübung von Herrschaft jenseits des Gesetzes konstitutiv ist.34 Weil das „völkische Führerreich“ nicht den Vorbehalt der Rechtsförmigkeit staatlichen Handelns und den Primat des positiven Rechts ankennt, sind beliebige politische Akte und Maßnahmen schlicht dadurch gerechtfertigt, dass sie gewollt werden – die Bestrafung Unschuldiger genauso wie die Androhung und der Vollzug grausamer Strafen oder psychische und physische Vernichtung von Personen. Aus diesem Grunde sind die unter diese Verfassung fallenden Menschen nach Kant nicht etwa nur befugt, sondern sie sind auch verpflichtet, dem „Begriff des Rechts“35 durch Gewalt Gültigkeit zu verschaffen. Das „völkische Führerreich“ ist nach Kant ein Reich der Barbarei. Die dritte Möglichkeit ist mit den beiden ersten inhaltlich verschwistert. Allerdings operiert sie nicht mit einer einzig und allein in Begriffen des Rechts formulierten Beweisführung. In ihr geht es um das Verhältnis von Recht und Ethik.36 Bemerkenswert ist eine Anmerkung in der Religionsschrift, in der Kant darauf hinweist, dass wir ethisch nicht nur nicht verpflichtet sind, staatliche Gesetze zu befolgen, die dem „Sittengesetz unmittelbar zuwider“ sind. Wir sollen diese Gesetze auch nicht befolgen. Das Zitat lautet vollständig: „Der Satz ‚man muß Gott mehr gehorchen, als den Men29  Huber

1939, S. 332. 2014, S. 339. 31  Huber 2014, S. 332. 32  Huber 2014, S. 346. 33  AA 6: 307. 34  Siehe Pauer-Studer 2014, S. 133–134. 35  AA 6: 308–309 Anm., § 42. 36  Bekanntlich ist Kant der Ansicht, dass es nur einen einzigen kategorischen Imperativ gibt, und dass alle Rechtspflichten auch Tugendpflichten sind (aber nicht alle Tugendpflichten sind auch Rechtspflichten): „Rechtslehre und Tugendlehre unterscheiden sich also nicht sowohl durch ihre verschiedenen Pflichten, als vielmehr durch die Verschiedenheit der Gesetzgebung, welche die eine oder die andere Triebfeder mit dem Gesetze verbindet.“ (AA 6: 220) Die „innere Gesetzgebung“ macht die Rechtspflichten „zu indirect-ethischen“ (AA 6: 221) Pflichten. 30  Huber

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schen‘ bedeutet nur, daß, wenn die letzten etwas gebieten, was an sich böse (dem Sittengesetz unmittelbar zuwider) ist, ihnen nicht gehorcht werden darf und soll.“37 Dieses Zitat ist bemerkenswert, weil es deutlich macht, dass wir aus ethisch-moralischen Gründen einem sittenwidrigen Gesetz nicht Folge leisten dürfen, obwohl wir kein formales Widerstandsrecht haben. Kant argumentiert in der Religionsschrift jedoch nicht im Widerspruch zu der Rechtslehre. Vielmehr sind die Argumente der beiden Schriften auf verschiedenen Ebenen angesiedelt: Obwohl es kein Recht auf Widerstand geben kann (dieses müsste ein Zwangsrecht sein), gibt es die ethische Pflicht, sittenwidrige Gesetze nicht zu befolgen. Die Ethik markiert demnach eine Schranke für die positivrechtliche Gesetzgebung. Fassen wir zusammen: Die Kantische Rechtsphilosophie sieht im Rahmen ihrer Konzeption des Öffentlichen Rechts drei Fälle vor, in denen die staatliche Herrschaft ihre Legitimität verliert, unter der ihre Anordnungen für den Bürger nicht oder nicht mehr länger verbindlich sind: Erstens, wenn der Staat Handlungen von mir verlangt, die mit dem Begriff der Rechtsperson (oder der Rechtssubjektivität) unvereinbar sind. Kein Gesetz kann verbindlich sein, das Personen zu bloßen Mitteln staatlicher Willkür macht oder die Vernichtung ihrer Rechtsfähigkeit zum Gegenstand hat. Zweitens ist jede rein politische Herrschaft rechtlich unverbindlich, weil in ihr der Naturzustand nicht überwunden ist. Die Willkür des Führerentscheids verstößt an sich gegen den Rechtsbegriff. Drittens werden bestimmte positivrechtliche Inhalte direkt durch das Moralgesetz ausgeschlossen. Werden diese Inhalte dennoch rechtlich positiviert, ist es den Bürgern untersagt, ihnen Folge zu leisten. Hierbei berufen sie sich nicht auf ein positivrechtliches Widerstandsrecht. Sie berufen sich direkt auf das Moralgesetz. IV. Carl Schmitt oder Kant? In seinem Vortrag von 1929 präsentiert Schmitt seine Konzeption des Politischen als einzig sinnvolle Alternative zu einem liberalen Verständnis des Staates, der sich als unfähig erweist, den Pluralismus zu bändigen und Loyalitäten gegenüber sich selbst zu stiften, ohne die er nicht existieren kann. Doch diese Alternative ist offenbar nicht alternativlos. Schmitts Idee des „totalen Staats“ und sein Begriff der politischen Theologie schließt den innerstaatlichen Pluralismus zum Preis der Vernichtung derjenigen Personen aus, die ihn einfordern. Der Staat setzt Normen und Werte und sieht sich berechtigt, zu bekämpfen und zu vernichten, was ihm zu bekämpfen und zu vernichten um seiner selbst willen probat erscheint. Bei Kant dagegen existiert der Staat nicht um des Staates willen. Der Staat 37  AA

6: 99 Anm.



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existiert um der Bürger willen, die zwar kein Recht auf Widerstand haben, aber sehr wohl verpflichtet sind, nur derjenigen Verfassung und denjenigen Gesetzen Folge zu leisten, deren Zweck nicht die Vernichtung des Menschen als Person ist. Das ist eben ein Vorzug der Kantischen Philosophie: Sie kann von totalitären Regimen nicht missbraucht werden. Diese Philosophie versucht erstens zu zeigen, dass alle Personen verpflichtet sind, der Freiheit einen gesetzlich bestimmten Ort in der Welt zu geben und sie geht zweitens zugleich davon aus, dass alle Menschen auch das Recht haben, einen Ort in der Welt einzunehmen. „Freund“ und „Feind“ sind nach Kant keine politischen Kategorien, weil es im Recht, dem die Politik zu folgen verbunden ist, weder Freunde noch Feinde gibt. Es sind Kategorien, die eine Rechtsordnung voraussetzen, keine, auf deren Schultern eine Rechtsordnung errichtet werden könnte. Literaturverzeichnis Byrd, B. Sharan/Hruschka, Joachim: Kant’s Doctrine of Right. A Commentary, Cambridge 2010. Dreier, Horst: Kants Republik, in: JuristenZeitung 59, Nr. 15/16 (2004), S. 745–756. Huber, Ernst Rudolf: Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 1939 – Auszug, in: Herlinde Pauer-Studer/Julian Fink (Hrsg.), Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus in Originaltexten, Berlin 2014, S. 245–250. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften (etc.), Berlin (etc.), 1900 ff. Sigle: AA. Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre. Studienausgabe der 1. Auflage 1934, hrsg. v. Matthias Jestaedt, Tübingen 2008. Klemme, Heiner F.: Das Recht auf Rechte und die Pflicht zur Staatlichkeit. Kants Antwort auf Hannah ­Arendts Menschenrechtskritik, in: Menschenrechte und Demokratie. Georg Lohmann zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Falk Bornmüller, Thomas Hoffmann und Arnd Pollmann, Freiburg 2013, S. 161–182. Klemme, Heiner F.: Unmündigkeit als Programm. Ein Versuch über Heidegger und seine Kritik der Moderne, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 70 Heft 800 (2016), S. 5–23. Zitiert als Klemme 2016a. Klemme, Heiner F.: Gewissen und Verbindlichkeit. Kants Idee eines „inneren Gerichtshofs“ zwischen Christian Wolff und Adam Smith, in: Gewissen und Verbindlichkeit. Kants Idee eines „inneren Gerichtshofs“ zwischen Christian Wolff und Adam Smith, in: Der innere Gerichtshof der Vernunft, hrsg. v. Saša Josifović und Arthur Kok, Leiden 2016, S. 63–83. Zitiert als Klemme 2016b. Klemme, Heiner F.: Der ungerechte Bundesgenosse. Über die inhaltlichen Grenzen des (Staats- und) Völkerrechts in Kants Rechtslehre, in: Join, or Die. The Philo­ sophical Foundations of Federalism, hrsg. v. Dietmar Heidemann und Katja Stoppenbrink, Berlin, Boston 2016, S. 113–130. Zitiert als Klemme 2016c.

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Ein Übungsbericht und eine Frage an Matthias Kaufmann1 Von Richard Rottenburg I. Wieso ein Übungsbericht? Ein unscharf konturiertes Programm, das unter den Namen postcolonialism, decolonization oder decoloniality bekannt ist, bekommt heute neue Aktualität. War Mitte des 20. Jahrhunderts mit „postkolonial“ zunächst „nach der Unabhängigkeit“ gemeint, verschob sich die Bedeutung des Präfixes „post-“ hin zu der, die es etwa in „post-traumatisch“ hat. Sofern von „Postkolonialen Studien“ die Rede ist, wird neben dem Fortbestehen kolonialer Strukturen in anderem Gewandt auch deren Kritik hervorgehoben. Ein gemeinsames Merkmal postkolonialer Ansätze ist ihr Verständnis von Kritik. Diese traut sich zu – wie etwa die „kritischen Soziologie“ Bourdieus oder die frühe „Frankfurter Schule“ –, jene Verblendungszusammenhänge, in denen Menschen leben, von einem Standpunkt außerhalb des Systems zu entlarven. Andererseits ist die Frage postkolonialer Kritik schon länger akut. Mir etwa ging es ab 1985 – nach Erfahrungen im damaligen Südafrika – darum, die Unterscheidung zwischen einer Soziologie, die für die eigene Gesellschaft und einer Ethnologie, die für die fremde Gesellschaft zuständig ist, ebenso als Hindernis aus dem Weg zu räumen, wie die Unterscheidung zwischen einer Expertise für die Moderne und einer für das, was man damals noch unbedarft Entwicklungsländer nannte. Ich war damit beschäftigt, techno-wissenschaftliche Wissenspraxen als anthropologische Untersuchungsgegenstände auch in Deutschland zugänglich zu machen.2 Bei dieser Umorientierung entdeckte ich etwa um 1990 den Wert der Wissenschafts- und Technikforschung – heute bekannt als STS, Science and 1  Denken ist ein kollektiver Prozess, der weniger in einem als zwischen mehreren Menschen stattfindet. In diesem Sinn gilt mein Dank für Anregungen zum Verfassen dieses Textes Matthias Kaufmann und den Mitgliedern des LOST Netzwerkes. Mein besonderer Dank gilt Estrid Sørensen und Jörg Potthast, die eine Vorversion dieses Textes kritisch kommentiert haben. Trotz dieser Verankerung des Denkens im Zwischenraum bleibt es bei der Konvention, dass der Autor für seine Fehler alleine verantwortlich ist. 2  Siehe dazu mein kurzes Manifest in fünf Thesen Rottenburg 2007.

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Technology Studies. Ich begann zu ahnen, dass das in den STS Debatten schon ab den späten 1970er Jahren eingeführte Symmetrie-Axiom zur Gleichbehandlung „richtiger“ und „falscher“ Überzeugungen der Argumentationsfigur von Kritik im oben genannten Sinn den Boden entzieht. Mich treibt seit damals die Frage um, wie man postkoloniale Kritik konzipieren müsste, um das Symmetrie-Axiom nicht zu verletzen. In dieser Situation lernte ich Matthias Kaufmann kennen, der mich 2001 mit einem Vortrag auf seine Tagung „Wahn und Wirklichkeit – Multiple Realitäten“ einlud. Wir waren von der Konvergenz der uns bewegenden Fragen angestachelt und stehen seit damals in einem engen Dialog und Austausch. Der größte gemeinsam Nenner besteht darin, dass Matthias als Philosoph empirische Arbeit nicht als niedere Tätigkeit der „Einzelwissenschaften“ zur Anhäufung von Material begreift, aus dem die Philosophie den rechten Sinn herausarbeitet, und ich als Empiriker die Begriffsarbeit der Philosophie nicht als weltfremde Systematisierung verstehe, der die tückischen Gemengelagen der Realität grundsätzlich entgehen. Ich werde im Folgenden über einen persönlich gefärbten und selektiven Rückblick versuchen einen Ausblick zu formulieren, der meine Argumentationen während der Gespräche mit Matthias Kaufmann in Halle als Übungen eines Seiltanzes darstellt. Es handelt sich um Übungen einer Kunstform insofern Gelingen oder Misslingen durch keine festen Regeln und Grundsätze vollkommen sichergestellt werden können. Über weite Strecken des Textes beobachte ich auch andere beim Seiltanz. Das Drahtseil ist zwischen unterschiedlichen Sinnprovinzen aufgespannt und manchmal stellen diese sich auch als das Besondere und das Allgemeine dar. Bei diesem Seiltanz kommt es darauf an, die Strecke in beiden Richtungen gehen und in der Mitte umkehren zu können. Das Seil ist hoch oben im Freien gespannt, so dass der Tanz Stürme ausbalancieren muss. Matthias Kaufmann ist mein philosophischer Seiltanzlehrer, der meine Balancearbeit korrigiert. Indem ich uns beide, Matthias und mich, als Drahtseilkünstler einführe, behaupte ich, dass wir weniger darauf aus sind, neue Stürme auszulösen als vorhandene auszubalancieren. Beim Seiltanz führt Sturm leicht zum Absturz, nur beim geschickten Segeln führt er schneller ans Ziel. Freilich dürfen die Leser nicht aus dem Auge verlieren, dass ein echter Drahtseilakt ein Spiel mit dem Tod ist, was man von den Übungen verbeamteter Professoren nicht sagen kann.



Ein Übungsbericht und eine Frage an Matthias Kaufmann125

II. Die Stürme „Handlanger“ und „Veranderung“ Es erscheint mir für den Zweck meines Übungsberichts hilfreich, den historischen Verlauf anthropologischer Drahtseilakte mit einer kurzen Erinnerung an den Sturm „Handlanger“ zu beginnen. Sofern Anthropologie in ihren Anfängen davon handelte, fremde Gesellschaften beschreibbar zu machen, war sie gegen Ende des Zeitalters des Kolonialismus in diesen verstrickt und war auf dem Drahtseil arg bedroht. Die Ausgleichversuche sind nur zum Teil gelungen, doch immerhin erwies sich einer davon für eine Weile als stichhaltig. Er berief sich darauf, dass es der Anthropologie schon ab Anfang des 20. Jahrhunderts eigentlich um etwas anderes ging. Im Kontext der Kolonisierung wurde nahezu die gesamte Menschheit außerhalb Europas des Irrationalismus angeklagt, und die Anthropologie habe die Rolle der Verteidigung gespielt.3 Schon etwa ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde man sich dessen gewahr, dass die anthropologische Kritik der europäischen Moderne über die Konstruktion eines Anderen nicht nur auf eine verfehlte Essenzialisierung und Homogenisierung von Kulturen, sondern auch auf deren Denunziation hinauslief. Der durch diese Anschuldigung ausgelöste Sturm wurde unter dem Namen „Veranderung“ (othering) bekannt. Indem die modernen Anthropologen sich für befugt erklärten, die Rationalität fremder Lebens- und Sinnwelten zu beglaubigen, wiesen sie sich eine überlegene Sonderposition zu. Während sie unterstellten, dass die Rationalität der zu rehabilitierenden Einheimischen von ihren Institutionen geprägt sei, setzten sie voraus, dass sie als Wissenschaftler außerhalb ihrer Institutionen denken könnten.4 In der Philosophie sowie in den Geistes- und Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts hatte sich in derselben Zeit indes das Verständnis durchgesetzt, dass menschliche Erkenntnis prinzipiell lebensverbunden zu sein habe.5 Allerdings gibt es im praktischen Vollzug des Wissenschaftsbetriebs deutliche Unterschiede zwischen disziplinären Feldern und Schulen. In manchen Bereichen wird kurz bestätigt, dass die Annahme einer grundsätzlichen Lebensverbundenheit zutreffend sei, doch der Forschungsprozess wird stillschweigend an der entgegengesetzten Annahme ausgerichtet. In anderen Bereichen konzentriert sich ein Großteil der Energie auf die 3  Asad

1973; Loizos 1977. werden hier verstanden als diejenigen Einrichtungen und Hilfsapparate, die das menschliche Denken erst auf den Weg bringen, also Sprache, Kategorisierungen, Kausalitätsvorstellungen, Gerätschaften und Verfahren, sowie all die Autorisierungen und Rechtfertigungen auf die unvermeidlich und unhinterfragt zurückgegriffen wird um etwas in Frage zu stellen oder zu behaupten. 5  Putnam 1987. 4  Institutionen

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Verarbeitung dieser paradoxen Ausgangslage. Zu diesen Bereichen gehört hauptamtlich seit jeher die Philosophie und seit dem Sturm „Veranderung“ ein Teil der Anthropologie. Dies liegt daran, dass in der Anthropologie die Inanspruchnahme einer ­ eobachterposition, die sich selbst frei von institutionellen Einflüssen wähnt, B nicht nur epistemologisch problematisch ist, sondern einer Herabsetzung jener Menschen gleichkommt, um deren Rehabilitation es gehen sollte. Spätestens im Zuge der Unabhängigkeitsbewegungen wurden viele sich gewahr, dass diese Argumentationsweise inakzeptabel ist, doch zu dem Sturm „Veranderung“ kam es hierzulande erst in den 1970er Jahren. Anfangs brachte er manche Seiltänzer zum Absturz, andere wurden zu mutigen Ausgleichbewegungen motiviert und einige nutzten den Sturm zum Segeln. Zwei Bücher haben die anthropologischen Balanceakte in Folge des Sturmes „Veranderung“ choreographisch auf den Punkt gebracht: Anthropology as Cultural Critique verfasst von George Marcus und Michael Fisher sowie Writing Culture herausgegeben von James Clifford und George Marcus.6 Die beiden Bücher markierten die Etablierung einer Denkfigur, die die Selbstthematisierung des Eigenen durch das Fremde nicht ersetzen, sondern reflexiv ergänzen sollte. 1986 konnte resümiert werden, wie die Instrumentalisierung der Kulturen anderer Menschen zur Homogenisierung, Essenzialisierung und Denunziation derselben führt, sofern ihnen die selbstkritische Kompetenz abgesprochen wird, die Lebensverbundenheit ihres eigenen Denkens skeptisch in Rechnung zu stellen. Als Alternative bot sich damals eine Definition von Anthropologie als cultural critique an, die sich unmittelbar auf die eigene Praxis, auf die eigene Positionalität sowie das eigene Überzeugungsnetzwerk bezog – diesmal ohne den Umweg über die Konstruktion von Alteritäten. III. Der Sturm „Asymmetrie“ Noch während die Anthropologie sich als cultural critique einrichtete, ­ ekam die Anklage „Veranderung“ eine neue Wendung. George Marcus und b Michael Fischer behaupteten 1986: „[Evans-Pritchard] boldly took such practices as witchcraft and magic, and compared them to western science

6  Marcus/Fischer 1986; Clifford/Marcus 1986. Einiges spricht dafür, bei Stürmen, die oft als turns gefeiert werden, Neuauflagen älterer Einsichten zu vermuten, die gerade eine gute Konjunktur haben. In diesem Fall etwa Wittengsteins Notizen zu Frazer, die als Vorstudien zu den Philosophischen Untersuchungen, also vor 1953 niedergeschrieben, aber erst 1967 veröffentlicht wurden; siehe Wittgenstein 1975 [1967].



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and common sense, on an equal footing.“7 Diese Behauptung ist allerdings schlicht unzutreffend. Vielmehr weist Evans-Pritchard sich die Rolle dessen zu, der entscheiden darf: Witches, as the Azande conceive them, clearly cannot exist.8 Evans-Pritchard hat zwar diverse Dinge treffend und mit bleibender Wirkung kritisiert – etwa die kolonial-europäische Vorstellung, afrikanische Stämme ohne Zentralinstanzen hätten keine politischen Institutionen – aber nicht die Epistemologie der eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Noch im selben Jahr, 1986, erschien aus anderer Richtung eine weitere bahnbrechende Sammlung, die indes an dieser Stelle ansetzte und für meine damaligen Fragen von größerem Interesse war. In dem von John Law herausgegeben Band Power, Action and Belief sind Aufsätze versammelt, die ein insbesondere ab den 1970er Jahren in England intensiviertes Interesse an der sozial- und geisteswissenschaftlichen Untersuchung von Wissenschaft und Technik einer größeren Leserschaft bekannt machte.9 Der Band feiert die kurz davor stattgefundene Etablierung der bereits erwähnten STS und bietet sie der breiten akademischen Öffentlichkeit im Rahmen des Themas Macht und Wissen an. Einige Autoren des Bandes haben sich als Ethnographen – man kann heute rückwirkend sagen: Praxeographen – mit Praxen und Dingen beschäftigt, in denen Technik und Wissenschaft eine zentrale Rolle spielen, ohne diese außerhalb sozialer Prozesse zu situieren. Alle Autoren des Bandes unterlaufen die damals noch weitgehend anerkannte Unterscheidung von Sozialstruktur und Überzeugungen bzw. von Institution und Wissen und stellen Praxen ins Zentrum, die nicht einseitig von Institutionen geprägt werden, sondern umgekehrt auch Institutionen prägen, was wiederum eine neue post-weberianische Herangehensweise an Macht erlaubt. Im Kontext dieses Ansatzes (und außerhalb des Bandes) hatte David Bloor schon 1976 aufgezeigt, in welcher Weise Evans-Pritchard die Wissenspraxen und Überzeugungen der Azande nicht „on equal footing“ behandelt, sondern sie als durch ihre Institutionen bestimmt darstellt.10 An dieser Stelle lässt sich besser begründen als vorhin, wieso sich ausgerechnet Anthropologie und STS in das Hauptgeschäft der Philosophie einbringen. Eine Anthropologin, die in einem Kontext kultureller Fremdheit arbeitet, in dem andere Überzeugungen gelten als ihre eigenen, kann sich nach dem Sturm „Veranderung“ nicht mehr wie Evans-Pritchard hinstellen und behaupten, dass die ontologischen Entitäten ihrer Gastgeber nicht existierten. Eine Anthropologin, die in einem Laboratorium irgendwo auf der Welt arbei7  Marcus/Fischer

8  Evans-Pritchard 9  Law

1986.

1986, S. 130. 1976 [1937], S. 18.

10  Evans-Pritchard

1976 [1937]; Bloor 1976.

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tet, würde sich aus analogen Gründen in die Brennnesseln setzen, würde sie behaupten, dass die dort bearbeiteten Entitäten sozial konstruiert seien. Sie würde sich in beiden Fällen aber auch unglaubwürdig machen, wenn sie sich die Existenz der Entitäten über einen naiven Realismus erklärte, an den weder die Azande noch die Wissenschaftler im Labor glauben. Wie erwähnt hatte das 1976 von Bloor aufgestellte principle of symmetry eine neue sozial- und geisteswissenschaftliche Analyse von Wissenschaft auf den Punkt gebracht. Auch wenn das Axiom nie unumstritten angenommen und später von anderen substanziell verändert wurde,11 hat es den Sturm „Asymmetrie“ ausgelöst. Für meinen Übungsbericht ist es wichtig auf eine Analogie zu verweisen, die selten thematisiert wurde, weil die Stürme „Veranderung“ und „Asymmetrie“ zunächst über unterschiedliche Gefilde wehten. In beiden Fällen geht es darum, für „richtig“ oder „falsch“ gehaltene Überzeugungen methodisch und theoretisch symmetrisch zu behandeln, um Annahmen nicht ungeprüft als „richtig“ in die Argumentation einzuschmuggeln. Genauer gesagt: wissenschaftlich daherkommende Überzeugungen müssen so behandelt werden wie Überzeugungen, die dem Bereich des gesunden Menschenverstandes und dem der Kultur zugeschrieben werden. Und wiederum in Anlehnung an David Bloor formuliert: nicht nur in der Lebenswelt, sondern auch in der Wissenschaft kann Logik Institution nicht ohne weiteres schlagen.12 Diese Feststellung lässt sich als Präzisierung der allgemeinen Diagnose verstehen, dass menschliche Erkenntnis prinzipiell lebensverbunden ist und nach dem Tod Gottes auch die Wissenschaft keinen Blick von Nirgendwo einnehmen kann.13 Das Kerngeschäft der frühen STS (damals meistens SSK genannt: Sociology of Scientific Knowledge) einschließlich damit zusammenhängender und anhaltender Kontroversen bestand darin, diese Annahme durch praxeographische Beschreibungen von Wissenschaft und Technik auf ihre Belastbarkeit zu prüfen. Die Annahme einer von allen institutionellen Einflüssen bereinigten Wissenschaft war nach diesen empirischen Studien obsolet.14

11  Bloor

1991 [1976]; Latour 1993 [1991]; Mol 2002. 1991 [1976], S. 141. 13  Für diese allgemeine Aussage gibt es viele Quellen, doch für den beschränkten Zweck meines Argumentes reicht es folgende zu nennen, die teils aus Matthias Kaufmanns und teils aus meinem Repertoire kommen: Putnam 1987; Merton 1985 [1949]; Kuhn 1961. 14  Einige der bahnbrechenden praxeographischen Studien der frühen STS waren: Knorr-Cetina 1981; Pickering 1984; Collins 1985; Shapin und Schaffer 1985; Pinch 1986; Latour und Woolgar 1986. Die Bezeichnung „Praxeographie“ wurde später eingeführt, als sich der Fokus stärker auf die materiale Seite richtete, siehe zur Erläuterung Clever und Ruberg 2014. 12  Bloor



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IV. Translation als Drahtseilakt In dieser Situation schienen mir ab ungefähr 1994 insbesondere Drahtseilübungen mit dem Konzept Translation hilfreich. Mein Ausgangspunkt war die Neudefinition des Konzeptes in der „sociology of translation“, wie sie von Michel Callon im vorhin erwähnten Sammelband von John Law vorgelegt wurden.15 Callon schlägt vor, wissenschaftliche wie politische Repräsentationen als Translationen und deren Verflechtungen als unaufhebbar zu begreifen. Sowohl Wissenschaftler als auch Politiker können als Sprecher von Kollektiven – also von Wählern bzw. Elementen der Natur –, die in den Verhandlungen unvermeidlich abwesend bzw. der menschlichen Sprache nicht mächtig sind, diesen keine Stimme geben, ohne zwei performative ­Effekte zu erzielen. Erstens können die vielen Stimmen wegen ihrer Heterogenität nicht getreu wiedergegeben, sondern müssen transformiert werden; zweitens bleiben die Vielheit bzw. das Kollektiv nach ihrer Repräsentation nicht das, was sie davor waren. Folglich werden diese Kollektive, so wie wir sie durch ihre Repräsentation kennen, durch letztere hervorgebracht. In diesem Sinn wird Repräsentation als Translation verstanden. In späteren Versionen der Akteur Netzwerk Theorie (ANT) mündete diese Einsicht in der Behauptung, dass alle Elemente des Netzwerkes einerseits als „Aktanten“ eine aktive Rolle spielen und andererseits sich erst in ihren Verflechtungen konstituieren. Entsprechend liegt die Handlungsfähigkeit bei den Verflechtungen, die zwar etwas bewirken können, aber keine für sich selbst genommen ausreicht, um ein Ergebnis zustande zu bringen. Die detaillierte Praxeographie dieses Vorgangs als Translation ermöglicht die Überprüfung des Verdachts, dass Wissenschaft nicht exterritorial zur Gesellschaft liegt und Politik sich folglich auch nicht restlos auf Wissenschaft berufen kann, da sie immer schon dabei ist. Ebenso wird auf diesem Weg darstellbar, wieso sich Natur nicht auf das reduzieren lässt, was im Laboratorium über sie herausgefunden wird. Eine solche Praxeographie ergibt schließlich auch, dass Technologie kein Mittel der Politik sein kann, weil sie selbst immer schon politisch ist. Während ich mit dieser Drahtseilübung und ihren Folgen für postkoloniale Kritik befasst war, hatte ich ab 2002 das Vergnügen mit Matthias Kaufmann arbeiten zu können. Die Rolle meines Seiltanzlehrers war ihm auf den Leib geschrieben, da er seinerseits an den Implikationen des Translationsbegriffs der Analytischen Philosophie bei Willard van Orman Quine und Donald Davidson arbeitete. Während Matthias in dieser Tradition an der sprachlichen Übersetzung anknüpfte, um deren epistemologische Voraussetzungen zu untersuchen, interessierte ich mich für Praxen der Vermittlung. 15  Callon

1986.

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Die gemeinsamen Überlegungen konvergierten zu der Überzeugung, dass die evidentielle Unterbestimmtheit wissenschaftlicher Theorien und das damit zusammenhängende Problem der Unbestimmtheit von Übersetzungen nicht notwendigerweise einen Relativismus zur Folge hat, der nicht mehr zwischen gelungenen und misslungenen Wirklichkeitsbezügen bzw. Übersetzungen unterscheiden kann. Für diese Position ist es wichtig anzunehmen, dass schon die Rede von Wirklichkeiten und Begriffsschemata Übersetzbarkeit im Prinzip voraussetzt, weil man andere Wirklichkeiten und Begriffsschemata ohne eine Sprache, die einen Zugriff darauf hat, gar nicht beschreiben und folglich nicht begreifen könnte.16 Während diese negativen Feststellungen auch in anderen Theorietraditionen Zustimmung genießen, bleibt die positive Unterscheidung von gelungenen und misslungenen Übersetzungen ein nicht vollständig lösbares Problem, das indes – wie hier behauptet wird – aus rechtlichen und ethischen Gründen in bestimmten Kontexten eine Lösung erfordert, die ihre Fallibilität im Hintergrund versteckt. Diese Behauptung impliziert, dass Recht und Ethik analog dem principle of charity nicht als von irgendwoher kommende moralische Gebote auftreten, auf die mit erhobenem Zeigefinger verwiesen werden muss. Vielmehr fungieren sie als notwendige konstitutive Bestandteile wiederum notwendiger Translationen. Im Rahmen dieses Ansatzes muss Kritik die unauflösbare Verflochtenheit von Translation mit Recht und Ethik in Rechnung stellen.17 V. Der Sturm „Multiple Ontologien“ Während ich mit der Unterstützung meines Seiltanzlehrers an dem Balanceakt die Figur Translation weiter übte, kam der Sturm „Multiple Ontologien“ auf. Das principle of symmetry hatte inzwischen die erwähnte Radikalisierung erfahren, die darin bestand, alle Elemente eines Netzwerkes als Aktanten zu begreifen, die erst über ihre Vernetzungen eine gestaltende Rolle bekommen.18 Latour hatte schon Anfang der 90er Jahre Bloor bezichtigt, dass er weiterhin asymmetrisch argumentiere, sofern er das, was er loswerden wolle, lediglich umkehre und folglich beibehalte. Vor Bloor schien es in Ordnung, konstruktivistisch zu argumentieren, sofern es um die von Menschen gemachte Gesellschaft ging, doch man musste realistisch begründen, sofern man es mit einer vermeintlich vorgefundenen Natur zu tun hatte. Dies beinhaltete, dass 16  Quine

1960; Davidson 1974; Kaufmann/Rottenburg 2012. siehe auch Boltanski 1990; Boltanski 1991; Boltanski 2009. 18  Siehe Latour 1993 [1991]; Haraway 1998 [1991]; Mol 2002; Barad 2003; skeptisch dazu Pinch 2008 und Pinch 2010; Jasanoff 2012; als Rückblick siehe Law 2009. 17  Hierzu



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vorverurteilte Irrtümer und Glaubensfragen sozial erklärt werden mussten, fraglos gegebene Wahrheiten jedoch als selbsterklärend durchgingen. In der Folge Bloors erschien die Umkehrung dieser Argumentation stimmig. Man konnte den Eindruck bekommen, externe Realität – etwa Natur – sei eine soziale Konstruktion, bei der Gesellschaft den festen Boden abgibt, auf dem man steht, während man sie konstruiert. Ohne eine Metaontologie mache es aber weder Sinn, die Existenz einer „externen Realität“ allein auf ihre menschliche Darstellung und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Machtspiele zurückzuführen, noch umgekehrt, die Existenz von Gesellschaft ausschließlich mit ihren Machtspielen durch vorgefundene externe Realitäten zu erklären.19 Sofern man Natur und Technik als Aktanten in Vernetzungen begreift, ruft man gleichwohl ein ontologisches Argument auf. Es wird versucht, mit einer Realität zu arbeiten, die unabhängig von ihren menschlichen Darstellungen existiert bzw. es sollen Gegenstände und Vernetzungen in Rechnung gestellt werden, bevor sie begriffen wurden. Wie aber soll man Realität in Rechnung stellen, bevor man sie dargestellt und begriffen hat? Die Argumentationsfigur geht so: Statt von einem Dualismus von Wort und Gegenstand bzw. einer vermeintlich vorgefundenen Trennung von einerseits Kultur und Gesellschaft als Vorstellung und andererseits Natur als Realität auszugehen, nimmt man an, zunächst vor lauter Quasi-Gegenständen zu stehen, die weder dem einen noch dem anderen Pol des Dualismus angehören, sondern in der Mitte liegen. Der cartesianische Dualismus von Subjekt und Objekt kann auf diese Weise nicht mehr unbeobachtet als Ontologie eingeschmuggelt werden, sondern es muss über Praxeographie erst aufgezeigt werden, wie er fabriziert wird bzw. wie man ihn vermeiden kann. Um diesen Balanceakt besser einordnen zu können, hilft ein Rückblick.20 Die Wissenschaftshistoriker Steven Shapin und Simon Schaffer haben in den 19  Latour

1993 [1991]: S. 94–96. einer umfassenderen Studie müsste man hier auf mehrere Ansätze eingehen. Es wäre zum Beispiel auf die Herangehensweise Heideggers zu verweisen (Hei­degger 2010 [1930]). Danach bezeichnet das „Sein“ das, was existiert, und nicht eine Vorstellung, die die Menschen sich von den Dingen machen, damit die Welt ihnen verständlich wird. Sein und Verstehen fallen indes zusammen und alles was existiert, ist auch verstanden. Die Welt ist eine sinnhafte Totalität, in der sich immer schon Bezüge unter den Dingen ausgebildet haben, und hinter diese kann man nicht zurückgehen. Die Welt ist durch ihre sinnhaften Bezüge bestimmt, die sich nicht aus den Dingen re-konstruieren lassen, weil sie dem Verständnis der Dinge vorausgehen müssen, damit man sie überhaupt als Dinge begreifen kann. Man müsste in einer umfassenderen Studie weiterhin auf die Debatten des Poststrukturalismus und der Hermeneutik verweisen sowie auf die Systemtheorie. In der Terminologie der Systemtheorie gesprochen geht es hier um das, was Niklas Luhmann Entparadoxierung nennt und damit einen Ausweg anbietet, sofern es keine Lösung geben kann. Keine Unterscheidung 20  In

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1980er Jahren herausgearbeitet, wie es in England zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert zur Erfindung des Experiments als Methode kam und wie dadurch Epistemologie und Ontologie (scheinbar) getrennt wurden.21 Als wissenschaftlich gültig zählte eine Aussage über die Realität fortan nur noch insofern, als die richtige Methode – man hatte sich auf Experiment und Vermessen geeinigt – eingehalten wurde und sich von Zeugen nachvollziehen ließ. Damit konnten nicht abschließbare metaphysische Kontroversen über Religion, Werte, Ethik und die Ontologie der Dinge ausgeklammert werden. Der englische und später der europäische Wissenschaftsbetrieb konnte seine Tatsachen produzieren und deren Wechselwirkungen untersuchen, ohne sich von ontologischen Fragen in unlösbare Konflikte ziehen zu lassen. Das zumindest ist die angestrebte und offiziell verkündete Wirkung einer Vorgehensweise, die auf die Ausklammerung der Ontologie aus der Produktion von Fakten abzielt, die sich öffentlich nicht mehr auf letzte Wahrheiten und Werte, sondern nur auf korrigierbare Fakten berufen möchte. Die politische Wirkung springt im Prozess der europäischen Kolonisierung der Welt eher ins Auge, obzwar sie von Anbeginn dabei war – doch darauf komme ich erst weiter unten zurück. Hier ist zunächst als Behauptung vorwegzunehmen, dass es sich bei der Bestimmung von Tatsachen dennoch um keine ontologisch neutrale Operation handeln kann. Es geht vielmehr um eine ontologische Bindung an das, was die Methoden zur Bestimmung von Tatsachen als Beleg für Tatsächlichkeit anerkennen. Mein Seiltanzlehrer ermahnt an dieser Stelle, dass der Drahtseilakt vermutlich besser gelänge, versuchte man ihn weniger aufgeregt anzugehen. Schließlich habe Quine im zweiten Kapitel von Word and Object zum Thema „Translation and Meaning“ den Punkt schon 1960 gemacht.22 Er führt dort in einem Gedankenexperiment einen fiktiven Linguisten ein, der bei einer ihm fremden Gruppe mit einer ihm vollkommen unbekannten Sprache gelernt hat, das Wort gavagai im richtigen Moment zu rufen, wenn er ein Kaninchen sieht. Damit weiß er aber noch nicht, ob das Wort in den Ohren seines Gesprächspartners Kaninchen, Teil eines Kaninchens, ein Kaninchenstadium oder einen Fall von Kaninität aufruft. Dies, so das Argument Quines, liege daran, dass er die Ontologie des Gesprächspartners (noch) nicht kenne. Damit ist dreierlei gesagt: Quine geht von multiplen Ontologien aus, negiert die Möglichkeit einer Metaontologie und versucht die Bedeutung eines Workann sich selbst als ihr blinder Fleck thematisieren, doch man kann mehrere Beobachter einführen, die mit verschiedenen Unterscheidungen operieren, die jeweils einen anderen blinden Fleck haben und sich als Beobachtungen zweiter Ordnung gegenseitig ausleuchten; siehe Luhmann 1990. 21  Shapin/Schaffer 1985. 22  Quine 1960. S. 26–79.



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tes nicht durch Übereinstimmung mit einem wirklichen Inhalt zu ermitteln. Er nimmt vielmehr an, dass die Bedeutung eines Wortes durch die Einbindung in das web of belief und das dazugehörige Begriffsschema der Beteiligten ermittelt werden könne. Es ist diese Einbindung eines Wortes in ein Netz von Überzeugungen, die man im Anschluss an Quine Übersetzung nennt. Er fasst das Netz als holistisch auf und unterstellt eine umfassende Theorie der Welt als Konstruktionsprinzip. Die Übersetzungstheorie Quine’s hat also nicht das Problem, von dem die Übersetzungstheoretiker der ANT sich so entschieden absetzen. Vielmehr scheint es eine Übereinstimmung zumindest darüber zu geben, dass das Verhältnis von Translation zu davon unabhängigen Realitäten unbestimmt ist bzw. auf Annäherungen beruht. Zugespitzt könnte man feststellen, dass für beide Positionen Ontologie keine Begründung, sondern ein Effekt der Translation ist. Dennoch scheint es mir bei meinen Drahtseilübungen ratsam, auf die Unterschiede zu achten, zumal wenn ich prüfen möchte, ob die oben benannte Festlegung auf eine einzige Methode zum Nachweis von Tatsächlichkeit sich als ontologische Politik erweist. Sobald die Methode des Experiments wandert und sich in Überzeugungsnetzwerke ausbreitet, in denen unhinterfragt andere ontologische Bindungen gelten und folglich andere Behauptungen als Irrtümer vorverurteilt sind, wird deutlich, dass sie nicht ontologieneutral ist. Vielmehr basiert die Methode des Experiments sowie alle Formen des Vermessens auf der ontologischen Bindung, dass real existierende Dinge lediglich res extensa sind oder doch zumindest messbare Wirkungen haben müssen.23 Wie in einem Trojanischen Pferd verbirgt sich in dieser Methodologie ihre unvermeidlich implizierte Ontologie und wird damit in andere Überzeugungsnetzwerke insofern eingeschmuggelt, als sie nicht zur Debatte gestellt wird. Gegen diese ontologische Politik richten die Übersetzungstheoretiker der ANT und später deutlicher die feministisch-postkoloniale STS ihre Kritik im Hinblick auf Auswege. Es erscheint nicht überraschend, dass die zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert methodisch ausgeklammerten Wertigkeiten, Moralitäten, Affekte, Praxen und Ontologien im Kontext dieser Kritik neu problematisiert werden.

23  In der Ausdrucksweise John Lockes geht es darum, sich auf die primären Qualitäten der Dinge zu beschränken – Ausdehnung, Gestalt, Festigkeit, Anzahl, Bewegung und Ruhe – und die sekundären auszuklammern, sofern sie sich von den primären ableiten würden; Locke 2004 [1690]. Die Folgen einer derartigen ontologischen Bindung hat Edmund Husserl 1936 in seinem Kapitel Galileis Mathematisierung der Natur als Realitätsverlust kritisiert; siehe Husserl 1996 [1934–37].

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Zunächst fällt auf, dass die Übersetzungstheoretiker der ANT ohne die Konzepte Holismus und Begriffsschema arbeiten. Stattdessen gehen sie von einer pragmatistischen Bedeutungstheorie aus, die die Verwendung eines Wortes gegenüber seiner Einbindung in ein logisch kohärentes Begriffsschema priorisiert. Des Weiteren interessieren sie sich für Semiotik hauptsächlich in ihrer Verbindung zu Materialität in sozialen Praxen. Insbesondere durch die Einbeziehung der sogenannten „feminist material semiotics“ verschob sich die Aufmerksamkeit darauf, wie soziale Praxen aus Elementen zusammengesetzt werden, die immer zugleich semiotisch und materiell sind. Dabei wird davon ausgegangen, dass weder eine äußere Realität noch eine einheitliche Sozialstruktur, geschweige denn ein einheitlich durch eine Gesamttheorie strukturiertes Begriffsschema vorgängig zur Verfügung stehen und zur Begründung der Praxen herangezogen werden könnten. Praxen stehen also in der Mitte und müssen sich notfalls selbst am Schopf aus dem Sumpf ziehen. Im Rahmen dieser Herangehensweise ist nicht mehr von webs of belief die Rede, sondern von material semiotic webs of practices und entsprechend werden andere Dinge problematisiert. Man fragt sich, wie diese webs (Netze) – nunmehr bevorzugt weavings (Gewebe) genannt – verschiedene Realitäten hervorbringen, interagieren, konfligieren, sich ignorieren oder sich gegenseitig kolonisieren sowie bestimmte Herrschaftsformen begünstigen bzw. gegen andere Widerstand fördern.24 Annemarie Mol hat im Feld der Medizin die Instabilität und Multiplizität epistemischer Objekte aufgezeigt und argumentiert, dass verschiedene medizinische Praxen ihre jeweils eigene Variante des Objektes „Körper“ hervorbringen. Auf diesem Weg kommt sie zu der Behauptung, dass es Ontologie nur im Plural als multiple Ontologien geben kann.25 Was genau ist also der Unterschied zu Quine? Beide Ansätze nehmen keine Metaontologie an, beide gehen von multiplen Ontologien aus, beide sehen Ontologie als Effekt und nicht als Begründung an. Schließlich gehen beide nicht davon aus, dass es bei differierenden Ontologien ein unüberwindbares Übersetzungsproblem gibt. Liegt der zentrale Unterschied also darin, dass Quine von der Existenz verschiedener, abgegrenzter webs of belief mit jeweils dazugehörigen und kohärent aufgebauten Begriffsschemata ausgeht, wogegen etwa Law und Mol (und andere Vertreter dieses Ansatzes) das bestreiten und stattdessen von der Existenz sich überlappender und saumloser material semiotic webs of practices ausgehen? 24  Law

2019. Mol 2002, die sich selbst als STS Autorin bekennt; aus der linguistischen Anthropologie siehe Chumley 2017. Tonangebend sind Haraway 1997 und Barad 2003. 25  Siehe



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Laut John Law geht es, wie gesagt, darum wie material semiotic webs of practices verschiedene Realitäten hervorbringen und wie sich Netzwerke von Praxen begegnen. Nun beruhen die von ihm aufgezählten Begegnungsformen Interagieren, Konfligieren, Kolonisieren und Ignorieren auf der Annahme von Abgrenzung sowie von prinzipieller Übersetzbarkeit – außer vielleicht dem Ignorieren. Nach Quine sowie nach Davidson setzen solche Übersetzungen das principle of charity voraus, wonach zuerst die jeweils eigene Logik unterstellt wird, statt als erstes anzunehmen, dass eine inkommensurable Differenz vorläge. Erst wenn verschiedene Übersetzungsversuche dieser Art scheitern, macht es Sinn, auf der anderen Seite eine unvertraute Ontologie zu vermuten. Aber auch das lässt sich überwinden, sofern Sätze ihren Sinn prinzipiell dadurch bekommen, dass sie untereinander vernetzt sind. Unter der Annahme, dass Sinnprovinzen holistisch konstituiert sind – dass also die Vernetzung von Worten und Sätzen über ein Begriffsschema verläuft, das wiederum eine Gesamttheorie enthält – lassen sich Sätze und Gesamttheorie in hermeneutischen Bewegungen vom Teil zum Ganzen und zurück rekonstruieren, auch wenn anfänglich einzelne Teile unbekannt sind.26 Ohne die Annahmen eines so definierten Holismus und der Existenz voneinander getrennter und kohärent aufgebauter Gesamttheorien von Welt stellt sich das Problem weniger scharf, was die Lösung allerdings nicht einfacher macht. Unter bewusstem Weglassen dieser Annahmen verschoben diejenigen Autoren, die mit Anleihen aus Pragmatismus, STS, ANT, Feminismus, Postkolonialismus, Linguistik und der material-semiotischen Methode arbeiten, die Aufmerksamkeit darauf, wie soziale Praxen als Gewebe gewoben werden: aus Fäden, die immer zugleich semiotisch und materiell sind. Die außerhalb dieses Zirkels befremdlich wirkende Metaphorik von „Gewebe“ und „Fäden“ ist bewusst provokant gewählt, um sich von der Dualität von Begriff und Begriffenem zu distanzieren. Bei dieser Herangehensweise ist die Verbindung von Translation und Begriffsschema insofern aufgelöst, als letzteres durch Wissenspraxen ersetzt wird. Diese bringen jeweils unterschiedliche Objekte hervor, die wiederum als multiple Versionen eines Objektes auch innerhalb ein und derselben Lebenswelt selbstverständlich nebeneinander existieren. Aus der Sicht Mol’s stellt sich damit das Problem, wie es Quine aufgeworfen hat, nicht mehr bzw. es stellt sich umgekehrt. Wie, unter welchen Umständen und in welchen Situationen kommt es dazu, dass sich die Vorstellung von einem einzigen Objekt oder gar einer einzigen Realität durchsetzt, auf die es verschiedene Perspektiven gibt? Mein Trainer wundert sich, wieso es zwischen saumlosen Geweben zu Begegnungsformen wie Konfligieren oder Kolonisieren kommt. Und er fragt 26  Davidson

1974.

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sich, nach welchen Kriterien man entscheidet, welche instabilen Objekte zusammengehören. VI. Der Sturm „Responsiveness“ In unseren Gesprächen über diese Fragen neigten Matthias und ich über Jahre dazu, unsere Aufmerksamkeit vor allen Dingen den rechtlichen und ethischen Anforderungen – genauer: Rechtfertigungen – zu widmen, die jede öffentliche und politische Entscheidungsfindung stellt bzw. braucht. Die Notwendigkeit einer Verständigung auf eine einzige Realität erscheint in dieser Argumentation dezidiert nicht als epistemologische und/oder ontologische Behauptung, sondern als rechtliche und ethische Konstruktion, die in öffentlichen Aushandlungen die Grundlage für die Unterscheidung gelungener und misslungener Translationen bietet. Um als Grundlage zu bestehen, muss sie als Grundlage evoziert und verteidigt werden. Dies ist insofern eine schwierige Gratwanderung, als in verschiedenen Kontexten unterschiedlich damit umgegangen wird. In politischen Kontexten werden Behauptungen in korrespondenztheoretischer Rhetorik als objektiv zutreffend evoziert – wenn es etwa in einem Parlament um Erderwärmung geht. In wissenschaftlichen Kontexten wird hingegen selbstverständlich von der Unmöglichkeit korrespondenztheoretischer Sätze ausgegangen und die prinzipielle Fallibilität aller Aussagen angenommen – wenn es etwa bei einer Tagung von Klimaforschern um die Simulation von Zukunftsszenarien durch Modellbildung geht. Allerdings gleiten diese Kontexte ineinander über. Unter Bedingungen von Demokratie geht es übergeordnet um Zurechenbarkeit, die Verpflichtung zu Rechenschaft und Verantwortung bzw. um den Versuch zu verhindern, dass Macht die letzte Ursache hinter allen Entscheidungen sein kann, sofern Kritik ohne festen Boden zahnlos bleibt. Ich hatte in Anbetracht der vorausgehenden Stürme zum Verständnis dieses Vorgangs das Konzept „Metacode“ vorgeschlagen. Damit ist gemeint, dass das für jede Translation notwendige Schema zur Bewerkstelligung von Kommensuration, Klassifikation, Qualifikation, Bewertung und Kalkulation von Äquivalenzen aus juristischen und ethischen Gründen konstruiert wird – und nicht weil es sich ontologisch nachweisen ließe. Mein Seiltanzlehrer gab rückwirkend seine Zustimmung.27 Nun haben aber die jüngsten Stürme „Multiple Ontologien“ und „Responsiveness“ den Drahtseilakt erneut aus dem Gleichgewicht gebracht. Auch wenn ein Metacode eine juristisch-ethische Konstruktion ist, wird inzwischen im Sinne einer closed controversy davon ausgegangen, dass die menschli27  Rottenburg

2002; Rottenburg 2014.



Ein Übungsbericht und eine Frage an Matthias Kaufmann137

chen Einrichtungen auf dem Planeten diesen aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Diese Einrichtungen haben sich seit dem 17. Jahrhundert maßgeblich auf die Metacodes des Experiments und der Vermessung verlassen, die zur Kontrolle der Natur eingesetzt wurden. Der Sturm „Responsiveness“ ruft nach einer Korrektur dieser Metacodes, die zur Beherrschung der Welt, aber auch zur Rechtfertigung von Entscheidungen bzw. zur Herstellung von Zurechenbarkeit und Verantwortung dienen. Responsiveness soll responsibility ergänzen. Im Kern geht es um die Infragestellung jener Beweisverfahren, die die moderne Wissenschaft über ihre proklamierte Loslösung von metaphysischen Grundfragen und Wertigkeiten auf den Weg gebracht haben, ohne dies jemals vollkommen schaffen zu können. Das ganze Dilemma der Notwendigkeit eines Metacodes und seiner nicht onto-epistemologischen, sondern juridisch-ethischen Fundierung lässt sich hier auf den Punkt bringen. Um überhaupt eine weltweite Übereinstimmung über alle webs of practices darüber zu erreichen, dass der Planet aus dem Gleichgewicht geraten ist, bedarf es eines Metacodes. Umgekehrt scheint erwiesen, dass die Metacodes des wissenschaftlich-technischen Apparats, der sich vom England des 16. und 17. Jahrhunderts über die ganze Welt ausgebreitet hat, auch Teil des Problems ist, zumal er sich mit den Mechanismen kapitalistischer Gewinnmaximierung verknüpft und über fünfhundert Jahre die europäische Kolonisierung der Welt legitimiert und angetrieben hat. Diese jüngeren Einsichten haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen Sturm ausgelöst, der den Drahtseilakt erneut erschwert, zumal er abwechselnd aus unterschiedlichen Richtungen weht.28 Mal ermahnt der Sturm zu vorsichtigen Reformen des techno-wissenschaftlichen Betriebs und zur Fortführung der Trennungsarbeit von Politik und Wissenschaft, mal ruft er zur radikalen Infragestellung wissenschaftlicher Beweisverfahren auf.29 Der Sturm „Responsiveness“ steht in der Tradition diverser Ansätze, die in Anbetracht der unhintergehbaren Fallibilität jedes wissenschaftlichen Wissens an optimale Aushandlungs- bzw. Kommunikationsbedingungen appellieren und dabei Solidarität, Anerkennung, Sorge, Care oder Agape aufru-

28  Diese Richtungswechsel hängen auch damit zusammen, dass das Problem der Verwobenheit von Politik und Wissenschaft in einen weiteren Strudel geriet, den das rezente Aufkommen nativistischer und teils faschistischer Politik rund um die Welt verursacht hat. Diese Gelegenheit wird von einigen missbraucht, die die Behauptung dieser Verwobenheit zurückwiesen und nun die Rede von der Verwobenheit dafür verantwortlich machen, dass post-truth politics oder sogar Faschismus wieder aufkommen konnte. Hier findet sich STS zusammen mit einigen philosophischen Tradition einer falschen Anklage ausgesetzt. 29  Zur ersten Position siehe Collins/Evans 2017; zur zweiten Position siehe Haraway 2016.

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fen.30 Im Unterschied zu den etablierten Positionen kommt mit der Aufforderung nach responsiveness ein radikalerer Vorschlag hinzu. Responsiveness gegenüber nicht-menschlichen Lebewesen, Dingen und deren Verflechtungen soll nicht mehr allein über die Methode des Experiments laufen. Diese zerlegt die Natur in ihre Elemente, um dadurch Wirkungszusammenhänge herauszufinden, um wiederum dadurch für den Menschen vermeintlich nützliche Interventionen zu entwickeln. Vielmehr soll responsiveness (wieder) ohne techno-wissenschaftliche Vermittlung als Achtsamkeit möglich werden.31 Mir scheint, dass der Sturm auch andere Seiltänzer in die Bredouille bringt, sowohl die, die ihn herbeigerufen haben, als auch die, die es mit alten Drahtseilnummern probieren. Man kann von ersteren nicht erfahren, wie man den Forderungen ihres Aufrufs dort Geltung verschaffen kann, wo man es mit Positionen zu tun hat, die man für ungerechtfertigt hält. Und man kann von letzteren nicht erfahren, wie man die ontologische Politik mit dem Trojanischen Pferd der wissenschaftlichen Beweisverfahren und ihre implizite Ontologie so ändern kann, dass sie andere Ontologien einzubeziehen vermag. VII. Der Sturm „Dekolonisierung“ und eine Frage an Matthias Kaufmann Zu dem Sturm „Multiple Ontologien“ kommt ein teilweise verwandter Sturm namens „Dekolonisierung“ hinzu. Habermas spricht von einem Dualismus von System und Lebenswelt und ordnet den techno-wissenschaftlichen Apparat dem System zu, das die Lebenswelt kolonialisiere.32 Mit einer ganz anderen Argumentation spricht John Law ähnlich davon, dass ein material semiotic web of practices ein anderes kolonisieren könne. In beiden Fällen scheint klar zu sein, dass Dekolonisierung sich im Kern darum drehe, die ontologische Politik der vorherrschenden techno-wissenschaftlichen Verfahren zu überwinden, ohne einerseits die Verpflichtung zu Rechenschaft und Verantwortung abzuschaffen und andererseits ohne hinter die Unterbestimmtheit wissenschaftlicher Theorien zurückzugehen. Damit müsste an der Möglichkeit festgehalten werden, Kritik ohne festen Boden zu üben, um zu verhindern, dass der Lauf der Dinge vor allem über Mechanismen der Macht entschieden werde, die einen festen Boden zwar nicht nachweisen aber ausrufen können. Nun bläst aber der Sturm „Dekolonisierung“ besonders aus dem Süden – einer Metapher für die ehemaligen europäischen Kolonien – und oft als Kri30  Siehe dazu Rorty 1989; Boltanski 1990; Boltanski/Thévenot 1991; Taylor 1992; Pickering 1992; Habermas 1996; Putnam 2002; Boltanski 2009. 31  Verran 2002; Haraway 2016. 32  Habermas 1985.



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tik, die auf festem Boden zu stehen meint. Im Licht der rekapitulierten Drahtseilübungen müsste man die Möglichkeit einer solchen Kritik infrage stellen. Fokussiert man aber die Ziele der Dekolonisierung, müsste man im Licht derselben Übungen zustimmen. Könnte man also im Rahmen des dargelegten Verständnisses multipler Ontologien behaupten, dass einige material semiotic webs of practices Ontologien evozieren, die als Metacodes Kritik auf festen Boden stellen, während andere webs of practices diese wieder aufheben? Müsste man hinzufügen, dass es in dem einen Typ von webs of practices um öffentliche Entscheidungen geht, in dem anderen um deren ­Kritik? Wie würde man diese Unterscheidung begründen, wenn Achtsamkeit eines der Kriterien sein soll? Und was genau wäre dann anders, neu und besser als die ältere Einsicht, dass überzeugendes Wissen korrigierbar ist? Matthias, können wir das in einem neuen Drahtseilakt auffangen? Literaturverzeichnis Asad, Talal: Anthropology & the Colonial Encounter, London 1973. Barad, Karen: Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 28, 3 (2003), S. 801–31. Bloor, David: Knowledge and Social Imagery, London 1991 [1976]. Boltanski, Luc: L’amour et la justice comme compétences. Trois essais de sociologie de l’action, Paris 1990. Boltanski, Luc: De la critique: précis de sociologie de l’émancipation, Paris 2009. Boltanski, Luc/Thévenot, Laurent: De la justification. Les économies de la grandeur, Paris 1991. Callon, Michel: Some Elements of a Sociology of Translation: Domestication of the Scallops and the Fishermen of St.Brieuc Bay, in: John Law (Hrsg.), Power, Action and Belief, London 1986, S. 196–233. Chumley, Lily: Qualia and Ontology: Language, Semiotics, and Materiality, in: Signs and Society 5 (2017), S. 1–20. Clever, Iris/Ruberg, Willemijn: Beyond Cultural History? The Material Turn, Praxiography, and Body History, in: Humanities 3, 4 (2014), S. 546–66. Clifford, James/Marcus, George (Hrsg.): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley 1986. Collins, Harry. M.: Changing Order: Replication and Induction in Scientific Practice, London und Beverly Hills 1985. Collins, Harry M./Evans, Robert: Why Democracies Need Science. Cambridge, UK und Malden, Massachusetts 2017.

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„Entfremdung“ vor der Entfremdung – Vorüberlegungen zu einer Nachgeschichte Von Robert Schnepf I. Der Entfremdungsbegriff hat sich als diagnostischer und gesellschaftskritischer Begriff lange Zeit einer erheblichen Beliebtheit erfreut. Er bot eine Möglichkeit, konzeptionell die Rekonstruktion konkreter historischer Gesellschaftsformationen mit ebenso konkreten Erklärungen individueller Leiderfahrungen zu verknüpfen, und dabei zugleich eine Perspektive auf Veränderung offen zu halten. Die Konjunkturen dieses Begriffs sind natürlich verbunden mit den Konjunkturen des Marxismus, und insbesondere mit denen eines tatsächlichen oder vermeintlichen Elements von Hegelianismus in ihm. Doch nicht nur historische Erfahrung, sondern auch die ganz simple Arbeit an Begriffen hat zur kritischen Reflexion des Entfremdungsbegriffs in marxistischen Diskussionskontexten selbst geführt, in denen eben immer auch das Erbe Hegels umstritten war. Der Weg von den Philosophischen-Ökonomischen Manuskripten hin etwa zu den Ansätzen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe ist kein direkter. Der vorliegende Beitrag will zu diesen Debatten einen indirekten Beitrag leisten.1 Will man die Bedenken gegen den Entfremdungsbegriff überblicksartig sortieren, kann man sie vielleicht in die Vorwürfe des Essentialismus einerseits und des (Rest-) Hegelianismus andererseits sortieren. Beides scheint bei der spezifischen Interpretation, die bestimmte Phänomene oder Erfahrungen – dass einem eigene Tätigkeiten als fremde erscheinen, dass einem gesellschaftliche Strukturen als obskure und irreversible Mächte gegenüberzutreten scheinen, dass man sich selbst in dem, was man ist und tut, nicht mehr wiedererkennt, aber auch, dass man die Verhältnisse zu anderen Menschen nicht mehr als lebendig und offen erfahren kann – in klassischen Entfremdungstheorien erfahren, vorausgesetzt zu werden. In die eine Gruppe fallen 1  Im Rahmen einer Ehrung von Matthias Kaufmann ist es vielleicht nicht unangemessen, in ebenso indirekter Weise ein Thema aufzugreifen, das zwischen uns kontrovers ist, nämlich die produktiven und freiheitsorientierten Potentiale der Theorien von Hegel und Marx. Es ist mir eine Freude, ihm hier meinen Dank für Vieles abstatten zu können.

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alle die Probleme, die sich daraus ergeben, dass die Redeweise von „Entfremdung“ vorauszusetzen scheint, etwas – ein „eigentliches“ Selbst – sei zunächst einmal da, so dass bestimmte Zustände eben als Entfremdung von dem gedeutet werden können, was da eigentlich da ist, also als Deformierung des eigentlichen Wesens. Dass dieser so abstrakt erscheinende Punkt recht massive, sehr konkrete politische Konsequenzen haben kann, liegt daran, dass dabei vorausgesetzt zu werden scheint, einige Experten hätten ein Wissen darum, was der (individuelle) Mensch eigentlich sei. Hier liegt der Schritt nahe, Menschen seien zu ihrer Freiheit zu befreien (vielleicht sogar unter Zwang). In die zweite Gruppe fallen Probleme, die sich aus dem spezifisch Hegelschen Erbe der Entfremdungstheorie zu ergeben scheinen. Damit ist eine Argumentationsfigur gemeint, die in zahlreichen Variationen durchgespielt werden kann, und die grob gesagt annimmt, dass ein Subjekt, um frei zu werden, etwas selbst hervorbringen muss, an das es sich verliert, um in einer Art und Weise der Wiederaneignung des so von ihm selbst Hervorgebrachten, es selbst Entfremdenden, sich selbst in einer Weise wieder zu gewinnen, die wahrhaft frei genannt werden kann. Hier liegt der Vorwurf nahe, es mit einem begrifflichen Taschenspielertrick zu tun zu haben, der einem noch dazu die Garantie auf potentielle Erlösung vorgaukelt: Indem Phänomene, unter denen der Mensch leidet, als vom Menschen selbst hervorgebracht verstanden werden, wird zugleich garantiert, dass es wenigstens begrifflich möglich ist, die Möglichkeit einer Überwindung des Zustands, unter dem man leidet, zu sichern. Auch hier liegen die massiven politischen Konsequenzen recht nahe: Denn wird aus der begrifflichen Möglichkeit, eine Überwindung zu konzipieren, eine reale Möglichkeit gemacht, mögen sich schnell die Experten der Realisierung dieser vermeintlichen realen Möglichkeit einstellen – die oft verhängnisvolle Avantgarde der Revolutionsexperten. Als Freund des Entfremdungsbegriffs sehe ich drei Richtungen, in die man angesichts dieser Probleme gehen kann. Man könnte – und das scheint mir aussichtsreich – durch exegetische Arbeit zu zeigen versuchen, dass diese Probleme sowohl in den Theorien von Hegel wie von Marx auflösbar sind, bzw. sich nicht stellen.2 Man könnte auch versuchen, klassische Entfremdungstheorien in einer Weise zu reformulieren, die auf die problematischen Annahmen verzichtet oder aber einen „Marxismus“ zu konzipieren, der den Entfremdungsbegriff (und damit auch den Begriff der Emanzipation) mehr oder weniger fallen lässt.3 Es droht dabei allerdings die Verbindung zwischen der Diagnose und Beschreibung individueller Leiderfahrungen einerseits und dazu Schnepf 2014a. ersten Weg lotete Jaeggi 2006 aus, den zweiten gehen Laclau/Mouffe 2006 und Laclau 2002 konsequent zu Ende. Er endet m. E. tatsächlich in einer Form von Dezisionismus. 2  Vgl. 3  Den



„Entfremdung“ vor der Entfremdung145

der Gesellschaftstheorie andererseits zu lose zu werden, und im extremen Fall ein Begriff von Politik unter Preisgabe von Theorie fast in dezisionistische Beliebigkeit abzugleiten. Schließlich könnte man die Frage zunächst suspendieren und auf einem Umweg nach Anregungen suchen, um später dann die Frage wieder aufzunehmen. Ich möchte dieser dritten Möglichkeit nachgehen, auch weil ich mir davon erhoffe, das Nachdenken über und die Arbeit am Entfremdungsbegriff so für jemanden plausibel und attraktiv zu machen, der allen diesen Fragestellungen bereits zutiefst skeptisch gegenüber steht. In gewissem Sinn suche ich also nach der Vorgeschichte des Entfremdungsbegriffs zu einer Zeit, als es den Entfremdungsbegriff noch nicht gab, um einen Beitrag zu einer produktiven Nachgeschichte der klassischen Entfremdungstheorien zu leisten. Der Umweg soll darin bestehen, dass einige Textstücke des 16. und 17. Jahrhunderts, die eigentlich nicht unter dieser Fragestellung gelesen werden, im Blick auf die Probleme des späteren Entfremdungsbegriffs interpretiert werden. Ich suche also gewissermaßen nach „Entfremdung“ vor der Entfremdung. Die Fundstücke entstammen einer längeren Suche nach literarischen Vorlagen einer Formulierung aus Spinozas Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes. Der erstaunliche Satz findet sich dort im Kontext einer scheinbar konventionellen Diskussion äußerer Glücksgüter: „Alle jene Dinge aber, denen man gewöhnlich nachjagt, bieten nicht nur keine Mittel zur Erhaltung unseres Seins, sondern stehen ihr sogar im Wege. Häufig sind sie die Ursache des Untergangs derer, die sie besitzen, immer aber die Ursache des Untergangs derer, die von ihnen besessen werden.“4

Diese Stelle ist wegen der kursivierten Formulierung interessant. In ihr findet sich der Gedanke, dass es Menschen gibt, die von demjenigen, das sie besitzen, besessen werden, also selbst in deren Besitz sind. Die lateinische Fassung macht das sehr deutlich („et frequenter sunt causa interitus eorum qui ea possident et semper causa interitus eorum qui ab iis possidentur“, Hervorh. R. S.).5 Das für die gegenwärtige Fragestellung Interessante an dieser Formulierung ist, dass in ihr eine Erfahrung so beschrieben wird, als befände man sich selbst im Besitz von etwas, das man selbst besitzt, und das man selbst hervorgebracht hat, so dass uns dieses als eine fremde Macht, die über uns herrscht, gegenübertritt. Damit ist ein Element von späteren Entfremdungstheorien präsent. 4  Spinoza, TIE, § 7, S. 11, Übersetzung von W. Bartuschat, Hervorh. R. S. – vgl. zur Interpretation des Satzes Schnepf 2014b. 5  Spinoza, TIE, Oeuvres I, S. 68. Zu dieser Stelle, die wohl auch früheren Lesern nicht entgangen ist, gibt es die Adnotation Spinozas „Haec accuratius sunt demostranda“, die niederländische Fassung betont den metaphorischen Charakter durch die Einfügung „indien men dus mag spreken“.

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Ein Punkt vorab: An den vielen klassischen Stellen, an denen man eine Vorlage für diese Formulierung finden möchte, also etwa in der Nikomachischen Ethik, wird man nicht fündig. Das ist ein Indiz dafür, dass es sich nicht um einen Traditionsbestand antiker und mittelalterlicher Güterlehren handelt, sondern um etwas Neues. Von den wenigen bisher bekannten Textstellen, die als Vorlage in Frage kommen, sollen hier nur drei betrachtet werden.6 − Erstens eine Passage aus dem Briefwechsel zwischen Descartes und Prinzessin Elisabeth: „Der große Reichtum verblendet und langweilt oft derart, daß er eher diejenigen, die ihn haben, besitzt, als daß er von ihnen besessen wird.“7 − Zweitens eine Passage aus Fernando de Rojas Tragikomödie La Celestina (die auf eine Passage in Petrarcas De remediis uitusque fortunae zurück­ geht)8: „Es gibt mehr Leute, die besessen sind von ihren Reichtümern, als solche, die das Ihrige besitzen. Vielen bringt ihre Habe Tod, allen raubt sie das Vergnügen; und nichts ist den guten Sitten so abträglich wie das Geld.“9 − Drittens eine Passage aus den Essais von Montaigne (die ein Zitat einer Passage aus Senecas De ira enthält)10: „Aristoteles behauptet, der Zorn diene manchmal der Tugend und der Tapferkeit zur Waffe. Wahrscheinlich stimmt das. Die Gegner dieser Meinung erwidern aber recht witzig, das sei wahrlich eine seltsame Verwendungsart: Gewöhnlich schwängen doch wir die Waffen, diese aber schwingt uns; sie werde nicht von unserer Hand geführt, sondern unsere Hand von ihr; sie haben also uns im Griff, nicht wir sie.“11 In den folgenden Abschnitten II bis IV soll jeweils ein kurzer Blick auf diese Textstellen geworfen werden, um zu schauen, ob und wie eventuell Erfahrungen, die heute als Entfremdungserfahrungen konzeptualisiert würden, dort interpretiert werden. Das Ziel dieser kurzen „Probebohrungen“ bei diesen 6  Neben den im Folgenden angeführten Stellen wird in den einschlägigen Kommentaren etwa noch verwiesen auf Diogenes Laertius 1988, Bd. 2, S. 110 („Ich besitze Lais, aber sie besitzt mich nicht“), Augustinus, De libero arbitrio I, 15, 33. S. 121. Die Descartes- und die De Rojas-Passagen sind den Kommentaren bisher entgangen. Einige der Zitate liegen auch thematisch eher fern. Näher eher im Sermo de lapsis von Cyprian: „Possidere se credunt, qui potius possidentur“ (Cyprian 1541, S. 97). 7  Descartes, Briefwechsel, Ep. 16, S. 93 ff. 8  Genauer dem 53. Kapitel „De divitiarum copia“ – „plures multo sunt, qui habentur, quam qui habent“, Petrarca 1610, S. 201. 9  De Rojas 1990, S. 99. In Schnepf 2014b habe ich angedeutet, warum ich diesen eher entlegenen Text als wahrscheinliche Vorlage der Formulierung Spinozas ansehe. 10  Vgl. Seneca, De ira I, xvii, S. 133. 11  Montaigne, Essais II, 31, 1998, S. 367a; französisch Montaigne 1969, vol. 2, S. 381.



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drei Autoren soll es sein, Anregungen für eine Anreicherung und Modifikation des Entfremdungsbegriffs zu gewinnen. Das ist methodisch kein ganz einfaches Unterfangen, nicht zuletzt, weil immer in Frage steht, ob es bei diesen Texten tatsächlich um etwas geht, das sich im heutigen Sinn als Entfremdung verstehen lässt. Gleichwohl erhoffe ich mir von diesem Vorgehen einen doppelten Lerneffekt, nämlich einmal im Blick auf Texte der frühen Neuzeit und zum anderen im Blick auf den Entfremdungsbegriff selbst. Erste, eher experimentelle Folgerungen sollen abschließend in Abschnitt V gezogen werden.12 II. Zunächst zu der Descartes-Stelle: Die gefundene Textstelle findet sich im Kontext von Briefen, bei denen es um eine gravierende Erkrankung von Elisabeth geht, die Descartes als psychosomatische diagnostiziert und zu therapieren versucht (der Briefwechsel ist dann Teil dieser Therapie).13 Im Kern klagt Elisabeth über ein langanhaltendes Fieber, als dessen „gewöhnlichste Ursache“ Descartes „die Traurigkeit“ (la tristesse) vermutet.14 Um hier den Bezug zur Entfremdungsproblematik herzustellen, muss man die Äußerungen Elisabeths, der Tochter von Friedrich V. von der Pfalz, des unseligen „Winterkönigs“, in ihrem niederländischen Exil genauer anschauen. Schon in einem früheren Brief konstatiert sie knapp, dass sie ein Leben führe, „das zu führen ich gezwungen bin“.15 Sie muss sich den Gepflogenheiten des Hofes unterwerfen, sich um Geschäfte kümmern, die Interessen ihrer Familie in einer überaus heiklen Situation wahren und verfolgen. In gewisser Weise führt sie ein Leben, das nicht ihres ist, und zwar, nach ihrer Erfahrung, gezwungener Maßen. Dabei ist es nun nicht so, dass sie etwa die Interessen ihres Hauses aus eigenem Interesse verfolgte. Descartes diagnostiziert: „Ich weiß auch, daß Ihre Hoheit nicht so sehr berührt wird von dem, was Sie persönlich angeht, als von dem, was die Interessen Ihres Hauses und der Personen betrifft, denen Sie geneigt sind; dies erachte ich als die liebenswerteste Tugend unter allen.“16 Damit wird die Situation vertrackt. Denn Elisabeth strebt nicht aus eigenem Antrieb oder aus eigenem Interesse etwa nach Reichtum, sondern im Interesse derer, um die sie sich sorgt. In diesem Sinn wird sie nicht vom Geld besessen. In den Augen von Descartes zeichnet sie sich durch diese „liebenswerteste Tugend“ aus. Das Problem entsteht viel12  Ich möchte betonen, dass es sich bei diesen Textinterpretationen und anschließenden Überlegungen um Probeerkundungen in einem für mich neuen Problemfeld handelt. Sie tragen Zeichen der Vorläufigkeit und Vergänglichkeit auf der Stirn. 13  Vgl. zum Folgenden auch die schöne Arbeit von Sibony-Malperto 2012. 14  Descartes, Briefwechsel, Ep. 10, S. 68. 15  Descartes/Elisabeth, Briefwechsel, Ep. 3. S. 15. 16  Descartes/Elisabeth, Briefwechsel, Ep. 12, S. 69.

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mehr daraus, dass sie sich zu sehr von dem, was sie (in den Augen von Des­ cartes zu Recht) für ihre Pflicht hält, vereinnahmen lässt, nämlich – so paradox es sich anhören mag – durch ihre Tugend. Entsprechend argumentiert Descartes auch in der Folge: Es gebe einen Unterschied zwischen „größten und den niedrigen bzw. gemeinen Seelen“ (les plus grandes âmes). Die gemeinen Seelen ließen sich „in ihren Leidenschaften gehen“, während bei den großen Seelen die Vernunft „trotzdem immer Herrin“ bleibe, „obwohl sie auch Leidenschaften haben und oft sogar heftigere als diejenigen der gewöhnlichen Seelen“.17 Tugenden werden erworben, durch Übung und Training. In diesem Sinn ist die Tugendhaftigkeit Elisabeths, ihre „liebenswerteste Tugend“, ein selbstgebautes Zwangssystem, das sie selbst ein fremdes Leben führen lässt, bei dem sie in entscheidendem Sinn zu kurz kommt. Wenn sich dieses Problem selbst bei der tugendhaften Elisabeth stellt, mag man von Selbstentfremdung durch Tugend sprechen.18 Strukturell handelt es sich dabei um ein ähnliches Phänomen wie beim verkehrten Besitzverhältnis im Fall des Geldes: Es sind bestimmte Leidenschaften oder affektive Bindungen, die diesen Herrschaftsverkehrungen zugrundeliegen. Mag es sich im einen Fall um Leidenschaften wie etwa für das Geld handeln, handelt es sich im anderen Fall um Leidenschaften, die sich der affektiven Bindung an die Personen verdanken, die Gegenstände der Sorge sind, oder sogar um eine Leidenschaft für die Tugend. Entsprechend fällt die Therapie in den Bereich der Übung im Umgang mit Passionen. Der Therapievorschlag, den Descartes der noch nicht restlos „größten Seele“ zur Erlangung der „vollkommenen Seligkeit, die sie bereits in diesem Leben genießen“ (la parfaite félicité), macht, ist nun konventionell und einigermaßen überraschend zugleich: Konventionell mutet es an, wenn er darauf verweist, die „größte Seele“ betrachte die Ereignisse der Welt „im Hinblick auf die Ewigkeit“ (au regard de l’éternité), „wie wir sie in den Komödien gestalten“.19 Überraschend wird die Passage, wenn man zweierlei bedenkt: 17  Descartes/Elisabeth,

Briefwechsel, Ep. 12, S. 69. wirft natürlich begriffliche Probleme auf. Wenn ich richtig sehe, findet sich die hier zwischen Descartes und Elisabeth diskutierte Problematik in klassischen Tugendethiken nicht. Wer Tugend hat, fühlt sich gemeinhin gut aristotelisch wohl dabei. Das Problem kann so begrifflich nicht auftreten. Natürlich ist auch Descartes Tugendbegriff so gebaut, dass er die uns in diesem Leben mögliche Glückseligkeit garantiert (und in diesem Sinn ist auch Elisabeth nicht im Besitz der höchsten cartesischen Tugend). Gleichwohl scheint mir hier ein wichtiger Punkt zu bestehen, der anzeigt, dass sich prinzipiell etwas in der Tugendkonzeption verschoben hat. In den Arbeiten von Rodis-Lewis 1967 und Kambouchner 2008, der stark vor einer kantischen Folie argumentiert, wird dieser Differenzpunkt nicht recht klar. 19  Descartes/Elisabeth, Briefwechsel, Ep. 12, S. 70 – mir ist nicht bekannt, ob dieses „au regard de la éternité“ in seiner Funktion für die praktische Philosophie von 18  Das



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Zum einen macht die Formulierung deutlich, dass wir die Ereignisse nicht nur (passiv) wie eine Komödie betrachten, sondern sie selbst machen, und dass das genau nicht kritisch gemeint, sondern hier positiv konnotiert ist. Zum anderen ist derjenige, der die Komödie macht, der Schauspieler also, nach Descartes nicht frei von den Passionen. Hier steht Descartes in einer langen Tradition: Er folgt nicht einer Interpretation der Position, die Seneca in De ira entwickelt hat, nach der ein Schauspieler nicht dann gut ist, wenn er den Gefühlsausbruch, den er darstellen soll, tatsächlich hat, sondern wenn er ihn nur gut imitiert. Hier besteht die Schauspielkunst in der Imitation von Affekten (imitatio affectuum).20 In die andere Richtung weisen Überlegungen von Horaz, die sich beispielsweise auch bei Quintilian finden. Hier wird ganz im Gegenteil betont, dass der Redner, der andere zum Weinen bringen möchte, selbst geweint haben muss.21 Der Schauspieler muss entsprechend selbst den Affekt zumindest gehabt haben, um daraus eine glaubwürdige und die nötige Affektübertragung wahrscheinlich machende Darstellung der Rolle zu entwickeln.22 Schließlich ist es schlicht überraschend, diese intrikaten, affekttheoretischen Fragen der Schauspielerei an einer systematischen Stelle anzutreffen, an der es darum geht, jemanden, der alle klassischen Tugenden hat (die für sich zur Glückseligkeit in diesem Leben hinreichen sollten), davor zu bewahren, sich selbst in der Praxis der selbsthervorgebrachten Tugenden einem solchen Zwang zu unterwerfen, dass das eigene Leben als fremdes erfahren wird – mit tiefer Tristesse als Folge. Überträgt man diese Überlegungen auf den Fall der affektiven Bindungen an Geld, die einen zum Besitz des Geldes machen, dann bestünde der Vorschlag nicht darin, keinerlei affektive Bindung an das Geld zu haben, sondern auch zu dieser affektiven Bindung eine bestimmte, durch die Analogie zur Schauspielkunst angedeutete Haltung einzunehmen. Descartes bei den Interpretationen des „sub specie aeternitatis“ bei Spinoza bereits berücksichtigt wurde. 20  Seneca, De ira II, xviii, S. 179 f. – In der Spinozaforschung ist m. E. noch nicht reflektiert, dass der für seine Sozialtheorie entscheidende Terminus „imitatio affectuum“ vermutlich zum ersten Mal in diesem Kontext bei Seneca auftritt. Man wird die rätselhafte Formulierung, dass der Mechanismus der imitatio affectuum einen „ähnlichen“ Affekt erzeuge (vgl. Spinoza, E3P27, insbesondere auch das zugehörige Scholium), wohl auch in diesem schauspieltheoretischen Kontext interpretieren dürfen. 21  Vgl. Horaz 1997, S. 11 – vgl. zum schauspieltheoretischen Hintergrund Roselt 2017. 22  Wie weit verbreitet diese Debatte im 16. und 17. Jahrhundert war, macht Herdt 2008 deutlich. Sie untersucht ausführlich die Frage, ob im Prozess der (aristotelischen) Einübungen der Tugenden die dissimulatio eines Schauspielers eine zentrale Rolle spielt, verortet die Debatte also im Streit um die dissimulatio und kommt dabei auf die Rolle des Theaters in der Didaktik und Unterrichtspraxis der Jesuiten zu sprechen. Descartes hatte diese Unterrichtspraxis erlebt.

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Im Kern wird hier eine scheinbar paradoxe Haltung von Descartes anvisiert, die nicht nur dazu führt, dass man Passionen vielleicht sogar intensiver hat und durchlebt, zugleich aber eben mit der Kontrolle und dem Rest an „Distanziertheit“ verbunden ist, die ein Schauspieler gegenüber dem Affekt haben muss, wenn er ihn glaubwürdig zur Darstellung bringen will. Das scheinbar Paradoxe dieser Haltung lässt sich durch einige Verlegenheitsformulierungen herausarbeiten: Ich soll den Affekt einerseits voll und ganz haben, zugleich soll ich ihn in gewisser Weise nicht haben (bzw. nicht durch ihn eingenommen sein). Anders formuliert, soll ich es sein, der den Affekt hat, und in gewisser Weise doch nicht ich. Schließlich spiele ich ja nur eine Rolle, und das Ich der Rolle bin nicht ich.23 Es ist übrigens Elisabeth, die mit ihren Überlegungen an einer Stelle die Schraube noch weiter dreht: Nachdem im Briefwechsel das Therapieprojekt der gemeinsamen kritischen SenecaLektüre in Gang gekommen ist, verwendet auch sie die Schauspielmetaphorik: „Als Epikur sich mit seinen Nierenkoliken herumschlug, und anstatt zu schreien wie das gemeine Volk, seinen Freunden versicherte, daß er keinerlei Schmerz empfand, da führte er das Leben eines Philosophen, und nicht dasjenige eines Prinzen, eines Feldherrn oder eines Höflings; er wußte, daß ihm nichts von außen widerfahren würde, was ihm seine Rolle vergessen und ihn 23  Um diesen Punkt noch von einer anderen Seite aus anzugehen, kann man die wenigen Bemerkungen zum Theater in den Leidenschaften der Seele zusätzlich he­ ranziehen: In II, Art. 94, widmet sich Descartes knapp der Frage, warum man im Theater Traurigkeit lustvoll empfinden kann. Das ist nicht so, weil man im Theater einfach nur in einer distanzierten Rolle dem Geschehen beiwohnt. Vielmehr empfände man dann, wenn uns die Ereignisse nicht schaden könnten, einen eigenartigen Kitzel in unserer Seele. Die Traurigkeit wird also nicht gemindert, sondern begleitet durch einen zusätzlichen Affekt. Ähnlich in Art. 147. Auch hier betont Descartes, dass es beim Lesen oder beim Anschauen eines Theaterstücks nicht darum geht, dass Affekte gemindert würden durch eine innere Distanz, sondern darum, dass sie durch eine „intellektuelle Freude“ begleitet würden. Das passt auch zu Art 187. Perler 2011 interpretiert hier: „Gleichzeitig können wir aber darüber nachdenken, dass wir selber uns durch das Lesen oder den Theaterbesuch in diesen emotionalen Zustand versetzt haben.“ Dadurch gerieten wir in die „intellektuale Freude“. Tatsächlich charakterisiert Descartes in Art. 147 diese Freude als eine, „sie von uns veranlasst zu sehen“. Doch ist von „Nachdenken“ nicht die Rede, vielmehr von „les sentir exciter en nous“ (S. 230, Hervorh. R. S.). Der „Kitzel“ in Art. 94 wird gar nicht als „intellektuelle Freude“ charakterisiert. Vielleicht ist es doch eine Versuchung, die „Ioye intelectuelle“ zu überintellektualisieren. Entsprechend skeptisch stehe ich auch der Interpretation von Charles Taylor gegenüber, der Descartes eine Theorie der „des­ engagierten Vernunft unterstellt (Taylor 1996, S. 262 ff.) und meint, Descartes fordere ein ausschließlich instrumentelles Verhältnis zu den eigenen Emotionen. Bestimmte Emotionen zu haben ist ja gerade das höchste Gut. Unangemessen erscheinen mir auch die Interpretationen und die Descartes-Kritik, die Nolte 1997 im Rückgriff auf Hei­deggers Konzept der Sorge und der Eigentlichkeit entwickelt – die hier und im Folgenden zu skizzierenden Positionen relativieren in meinen Augen eher die Analysen Heideggers.



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versäumen lassen würde, sich gemäß den Regeln seiner Philosophie davon zu lösen.“24 Der skeptische Einwand, den Descartes in seiner Antwort nicht aufgreift, besagt verkürzt gesagt, dass die praktische Philosophie mit ihren Anweisungen letztlich auch nur eine Rollenbeschreibung gibt, die letztlich mit allen Schwierigkeiten behaftet ist, eine Rolle zu spielen, und es unausgemacht lässt, wer man eigentlich ist. III. Damit nun zum zweiten Zitat, das keinem im engeren Sinn philosophischen Text entstammt, sondern einem aufregenden und hochkomplizierten Theatertext (wahrscheinlich ein Lesetext). Der Satz stammt aus dem Text, der 1499 unter dem Titel „Comedia de Calisto y Malibea“ erschien, 1507 unter dem Titel „Tragicomedia de Calisto y Malibea“, 1624 in lateinischer Übersetzung unter dem Titel „Pornoboscodidascalus Latinus“, und später oft nur unter dem Titel „La Celestina“, und der mal 16, mal 21 und einmal sogar 22 Akte hat.25 In dem Text äußert den zitierten Satz die später erst zur (dann titelgebenden) Hauptfigur avancierte Celestina. Sie ist eine alternde Kupplerin, Chefin eines im Abstieg befindlichen Bordellbetriebes, weise und erfahren in mannigfachen Tätigkeiten, die genausoviele Jungfrauen vermittelt, wie sie Jungfräulichkeiten mit Nadel und Faden wiederherstellt, der aber auch magische Techniken nachgesagt werden. Sie gilt als eine Art Hohepriesterin natürlicher Sexualität, die daraus ein einträgliches Geschäft macht, weil sie die natürlichen Begierden der Anderen aufzuspüren, zu manipulieren und zu kalkulieren weiß. In dem Stück, das bis 1700 mehr Auflagen als der Don Quichotte aufweist und als eines der frühesten „modernen“ Theaterstücke gilt, fädelt sie eine Intrige ein, um den Adligen Calisto mit der Adligen Malibea zu verkuppeln und dabei ihren Profit zu machen. Dafür spannt sie die beiden Diener Calistos und zwei ihrer Mädchen ein. Die Kuppelei gelingt, doch zerstreitet sie sich über den Lohn mit den beiden Gehilfen, Calistos Dienern, die sie erschlagen, aber auf der Flucht gefasst und später hingerichtet werden. Ihre Dienerinnen spinnen Rachepläne, Calisto und Malibea haben weiterhin ihre heimlichen Stelldicheins. Ein von den Dienerinnen engagierter Trupp soll Calisto überfallen. Auf der Gartenmauer zu Malibea stehend, meint er irrtümlich seinem Trupp zuhilfe kommen zu müssen, verfehlt die Sprosse der Leiter und stürzt sich zu Tode. Malibea – das ist vor dem Nachwort des trauernden Vaters – springt vom Turm des Familiensitzes und stirbt 24  Descartes/Elisabeth, Briefwechsel, Ep. 19, S. 109 ff. – Es fällt schwer, nicht zu glauben, dass Elisabeth hier Überlegungen der französischen Moralistik aufnimmt, beispielweise von Montaigne. 25  Vgl. Russell 2001, S. 16 ff.

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gleichfalls. Zur Modernität des Stückes gehört neben der außergewöhnlichen Individualität ihrer Figuren, dass sich der Gesamtverlauf nicht als Verwirklichung eines Schicksals oder einer Strafe Gottes deuten lässt, sondern Kontingenz waltet.26 Dazu gehören aber auch zahlreiche subversive Umstellungen oder Umwertungen, wie die, dass es in dem Stück gerade die „niedrigen“ Personen sind, deren Texte – wie im vorliegenden Fall bei Celestina – Montagen aus hochliterarischen und hochphilosophischen Texten sind. Nicht nur liegt darin eine ironische Distanzierung, sondern es wird auch vorgeführt, wie sich alle diese Sentenzen gegen ihren Sinn zu manipulativen Zwecken verwenden lassen, die mit „hohen moralischen Werten“ absolut nichts gemeinsam haben. Wie komplex dieser Text ist, zeigt sich auch daran, dass Celestina selbst ein Beispiel für die Wahrheit des von ihr geäußerten Satzes ist, stirbt sie doch, weil sie – aus welchen Gründen auch immer – in einer einzigen Szene ihre manipulativen Fähigkeiten verlassen und sie sich an ihren neu erworbenen Besitz nahezu panisch klammert. Man wird die Frage, worin genau die spezifische Modernität des Textes liegt, in sehr verschiedener Weise beantworten können. Ein Aspekt mag aber der Folgende sein. Betrachtet man beispielsweise das Dienerpaar, also Parmeno und Sempronio, so sind beide sehr verschieden charakterisiert. Das zeigt sich an ihrem Verhältnis zu Celestina. Während der eine gar kein Pro­ blem damit hat, gegen Gewinnbeteiligung mitzumachen, ja selbst Calisto einredet, auf Celestinas Kuppelkünste zu setzen, fühlt sich der andere zunächst durch Loyalität an seinen Herrn gebunden, und muss von Celestina erst zu dem für ihn gewinnträchtigen Handeln mit hochmoralischen und theologischen Argumenten verführt werden. Explizit werden hier zwei Rollenverständnisse des Dienerseins geschildert, nämlich ein auf Loyalität beruhendes Gefolgemodell und ein auf einen bloßen Arbeitsvertrag reduziertes Verständnis. Analoge Konstellationen und Konflikte können auch bei anderen Personen entdeckt werden.27 Alles das gewinnt an Bedeutung, wenn man zusätzlich registriert, dass dabei sehr präzise Veränderungen in der Sozialstruktur der spanischen Gesellschaft am Vorabend des Kapitalismus im Text präsent sind: dass die Geschäfte Celestinas schlechter laufen, lässt sich mit neuen Prostitutionsgesetzgebungen der Zeit assoziieren; dass Calisto meint, mit der Stadtwache rechnen zu müssen, ist plausibel erst, als die Städte eigene „Truppen“ hatten (und eben nicht nur die altadlige Stadtaristokratie); die ökonomische Situation des (neuadligen) Calisto und der (altadligen) Eltern von Malibea machen deutlich, in welchem Spannungsverhältnis eher 26  Vgl. hierzu Küpper 1998. Es ist der Kontext der Entwicklung des frühen Handelskapitalismus, in dem Investitionen riskanter werden und entsprechende Risikoversicherungen entwickelt werden, in dem der Fortuna-Begriff seine Konjunktur hat. 27  Vgl. dazu z. B. de Mikel 2001.



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handelsbürgerliche und eher aristokratische Verhaltensweisen und Überzeugungen stehen. Die Liste könnte fortgesetzt werden.28 Das legt die Vermutung nahe, dass die Rollenkonflikte, die die einzelnen Figuren von La Celestina bestimmen und die sie auf jeweils individuelle Weise auszutragen oder sogar aufzulösen versuchen, Rollenkonflikte sind, die sich zum Teil gerade den Transformationen der Sozialstruktur verdanken, die im Spanien des frühen Handelskapitalismus zu beobachten sind. Traditionelle Moralität trifft auf Handelskalkulation, selbst im Fall der Liebe, und alles das muss mit der Theologie irgendwie in „Übereinstimmung“ gebracht werden.29 Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher „Sphären“ führt zu Rollenkonflikten, die In­ dividuen zu gestalten und auszuhalten haben – um die Problematik in einer möglichen Weise konzeptualisiert anzudeuten. Wenn man will, sind damit alle Ingredienzien klassischer Entfremdungszenarien gegeben. Man wird bei der Frage nach der Modernität des Textes jedoch – neben seinem zunächst hanebüchenen Plot, der eher an heutige Netflixserien erinnert – auch an die Frage nach der Autorschaft des Textes denken können. Zum einen ist in der Forschung umstritten, welche Textteile eigentlich von de Rojas stammen.30 In dem ihm unkontrovers zugeschriebenen Textteilen wird angegeben, dass er auf einen kompletten fertigen ersten Akt eines Textes gestoßen sei, den er einfach fertig habe schreiben wollen. Die überwiegende Zahl der Forscher hält das mittlerweile für glaubwürdig. Anders sieht es mit den Ergänzungen des Textes von 16 auf 21 bzw. 22 Akte aus. Hier scheinen von Druck zu Druck andere anonyme Autoren am Werk zu sein. Das Eigentümliche ist, dass sich de Rojas dafür überhaupt nicht interessiert zu haben scheint. Von ihm ist auch kein weiterer literarischer Text überliefert. Er hat den Text während seines Jurastudiums geschrieben und danach schlicht weg als unauffälliger Jurist gearbeitet. Zum anderen wird in der Forschung kontrovers diskutiert, ob de Rojas einer Marranenfamilie entstammt (Verwandte waren Angeklagte in Inquisitionsprozessen, er selbst nicht) und inwieweit sein Text von genau den Erfahrungen und Überlebenstechniken der Marranen geprägt ist.31 Als „Marranen“ wurden früher Juden oder Nachdazu ausführlich die Studie von Barada 2004. ganze Reihe von Werken der spanischsprachigen Literatur können vor dem Hintergrund solcher Rollenkonflikte gelesen werden, etwa Quevedos La Hora de todos y la fortuna con seso, bei dem die Zuteilung von Gütern durch Fortuna auf einen Ratschluss der Götter nach wahrem Verdienst und Tugend in einer heftigen Satire korrigiert wird – ökonomische Verteilung und Tugendkonzepte sind nicht ohne weiteres in Deckung zu bringen (Quevedo 1987). 30  Vgl. hierzu und zum Folgenden Russell 2001. 31  Vgl. hierzu Zepp 2010, S. 31  ff., Zagorin 1990, S. 38 ff., und Yovel 1989, S. 85 ff. Hierbei geht es weniger um die Frage nach der Biographie des Autors, als vielmehr darum, ob bzw. inwieweit typische Schreibtechniken und typische Problematiken identifiziert werden können. Skeptisch bzgl. der Relevanz des Marranenkon28  Vgl.

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kommen früherer Juden bezeichnet oder verunglimpft, denen vorgeworfen wurde, heimlich ihr Judentum weiterhin zu praktizieren. Für die Interpretation des Textes wäre dieser Umstand insofern relevant, als oftmals darauf hingewiesen wurde, Marranen hätten eine eigentümliche Technik des indirekten, verbergenden Schreibens entwickelt, so dass in dem Text nach geheimen, radikalen Botschaften gesucht werden könne (etwa nach einem Plädoyer für einen hedonistischen Naturalismus in der Figur Celestinas).32 Man könnte diesen Umstand aber auch in eine weitere Richtung deuten: Die typische Marranen-Situation konnte durchaus sehr komplizierte individuelle Haltungen befördern, die auf den ersten Blick widersprüchlich anmuten, nämlich einen durchaus ernsthaften Katholizismus mit einem durchaus ernsthaftem Festhalten am Judentum irgendwie zu verbinden. Für die Bandbreite dieser Haltungen hat man den Ausdruck „split mind“ verwendet.33 Folgt man dieser Richtung ein wenig, dann zeichnet sich überraschender Weise ab, dass sich auch die Figuren der Tragikomödie durch „split mind“ auszeichnen, nun allerdings durch die Rollenkonflikte, die ein relativ präzises Abbild der Veränderungen in der Sozialstruktur der spanischen Gesellschaft sind. Von hier aus stellt sich die Frage, inwieweit eine Strukturähnlichkeit besteht zwischen den Rollenkonflikten und ihren Auflösungen im Kontext der Marranenerfahrung einerseits und (allgemeiner) den durch die gesellschaftlichen Veränderungen induzierten.34 Was diesen Fund bei der Sondierungsgrabung so spannend macht, ist nun schlicht der Umstand, dass gar nicht so klar ist, welche Lehren oder auch nur Fragen man aus ihm für die Entfremdungsproblematik ziehen sollte, und zwar gerade weil dieser hochkomplizierte Text mehrere Interpretationen zulässt: Natürlich kann man argumentieren, dass die Protagonisten der Tragikomödie texts Russell 2008, S. 33 ff. Mir scheint, einige der im Kontext der Marranen analysierten Konfliktlagen lassen sich – entsprechend modifiziert – auch in ganz anderen Kontexten wiederfinden. Greenblatts Shakespeare-Interpretation arbeitet beispielsweise mit der Annahme eines verfolgten Kryptokatholizismus. Medick 2018, S. 59 ff., arbeitet in seinem mikrohistorischen Ansatz die Konfliktlagen der einfachen Bevölkerung in der Situation am Vorabend des Dreißigjährigen Kriegs heraus. Die Liste der Beispiele ließe sich mühelos verlängern. Zugleich kann man vielleicht ergänzen, dass religiöse Konfliktlinien nur ein Strukturelement sind. Provisorisch würde ich gerne Konflikte in einer Sphäre (etwa der Religion) und Konflikte zwischen Sphären (etwa Religion und Wirtschaft) unterscheiden. 32  Das ist in etwa die Interpretation in Yovel 1989. 33  Das ist in etwa der Ansatz in Yovel 2009. 34  Es ist in diesem Zusammenhang eben nicht überraschend, dass S. Greenblatt im Kontext seiner Shakespeare-Interpretation – der mit der Marranenproblematik nichts zu tun hat – ebenfalls den Ausdruck „split mind“ verwendet (vgl. Greenblatt 2004). Das leuchtet umso mehr vor dem Hintergrund zu den Simulations- und Dissimulationsstrategien religiöser Minderheiten in England ein, die Zagorin 1990 bietet.



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unter ihren gesellschaftlichen Verhältnissen leiden, etwa wenn es darum geht, ihre natürliche Sexualität zu leben und zu erleben. Hier mag man etwa von der Entfremdung von der Natur, von anderen und von sich selbst reden und eine entsprechende Botschaft des subversiven Stücks annehmen. Man könnte aber auch in eine andere Richtung denken, in der freilich zunächst keine Antworten sondern eher Fragen zu finden sind: Betrachtet man eine Figur wie Celestina, dann resultiert ihre Komik weniger daraus, dass sie Normen verletzt (oder gar, dass sie am Ende scheitert), sondern auch daraus, dass sie durchaus mit Lust und Freude agiert. Ihre Fähigkeiten zur ironischen Distanzierung, zur Doppeldeutigkeit, zum manipulierenden Rollenspiel, das intime Vertrautheit mit dem jeweiligen Gegenüber und mit der Situation voraussetzt, unterscheiden sie von einigen anderen Protagonisten des Stücks. Anders gesprochen illustriert Celestina eine Figur, die in der komplizierten Situation der Frühmoderne Fähigkeiten, Weisen des Verhaltens zu sich und zur Welt, paradox anmutende Haltungen entwickelt hat, die nun auch zu ihr gehören. Mit dieser Überlegung wird die Frage nach Entfremdung komplizierter, weil sie annimmt, dass es eine Geschichte der Haltungen, Handlungen, Verhaltensweise zu sich und zur Welt gibt, die Subjektivität ausmachen. Das aber bedeutet, dass man an die Frage nach der Entfremdung – folgt man diesen Überlegungen – nicht ohne weiteres mit vorgegebenen Überlegungen, und seien sie theoretisch noch so fein expliziert, herantreten sollte zuungunsten von Selbstaussagen, die mit methodischer Sensibilität zu interpretieren wären. IV. Kurz zum angekündigten letzten Fundstück, dem Montaignezitat. Scheinbar passt es nicht so direkt in den vorliegenden Zusammenhang. Doch muss man sich dieses Fundstück nur genauer anschauen, um auch bei ihm einen Beitrag zu den bisherigen Überlegungen zu entdecken. Dazu ist es nötig, den zitierten Abschnitt mit seiner Vorlage, der zitierten Passage aus De ira von Seneca zu vergleichen. Zwei Punkte sind hierbei wichtig: Die Passage wird bei Montaigne nicht mit vorbehaltloser Zustimmung zitiert. Die Aristoteles zugeschriebene Meinung, der Zorn könne manchmal Tugend unterstützen, stimme „wahrscheinlich“. Die Überlegung, der Zorn sei wie eine Waffe, die man nicht führt, sondern die einen führe, gilt lediglich als „witzig“.35 Die Dinge liegen komplizierter. Senecas Argumentationsziel in De ira ist, dass eine aristotelische Position der „Mitte“ gegenüber dem Zorn nicht zu halten ist. Dazu muss gezeigt werden, dass der Zorn prinzipiell beherrscht werden 35  Montaigne 1998, S. 356. Perler 2011, S. 253, überliest diese Distanzierung. Seine Interpretation, dass jede Art von rationaler Kontrolle der Affekte für Montaigne eher „Selbsttäuschung“ sei, baut u. a. darauf auf.

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kann. Seneca unterscheidet deshalb eine Art natürlicher Regung, die dem Affekt des Zorns zugrundeliegt, von einem Aspekt der willentlichen und damit prinzipiell beherrschbaren Zustimmung, die erst aus dieser Regung den Affekt macht.36 Montaignes vorsichtig distanzierende Formulierung mag sich genau darauf beziehen, dass sich in seinen Augen eine solche Differenzierung bei der Einzelbetrachtung des Zorns verschiedenster Personen in den verschiedensten Situationen kaum sauber durchhalten lässt. Vielleicht mag ihm auch aufgefallen sein, dass Aristoteles und Seneca über nicht genau dieselben Phänomene reden (die deutsche Einheitsübersetzung mit „Zorn“ verdeckt, dass Seneca über nur eine Form spricht, nämlich so etwas wie „aggressive Wut“, auch deshalb, weil das Griechische hier mehr Differenzierungsmöglichkeiten bot als das Latein).37 An dieser Stelle zeigt sich – und das gehört zu den Gründen, warum Montaigne für die gegenwärtigen Überlegungen relevant werden kann –, dass die Unterscheidung „Natur/Kultur“ bei ihm günstigstenfalls in Anführungszeichen geschrieben werden kann. Prinzipielle Aussagen zur Kontrollierbarkeit oder Moderierbarkeit von Emotionen oder Affekten finden sich deshalb bei Montaigne nicht.38 Daran schließt sich ein zweiter Punkt an: Montaigne leugnet nicht die Möglichkeit weitestgehender Affektkontrolle (bis hin zur Kontrolle von Schmerzempfindungen). Vielmehr thematisiert er häufiger Beispiele von stoischen Weisen, gelegentlich auch von Epikureern, sowie von christlichen Märtyrern. Ein Beispiel dafür bietet das Ende des Essais über die Trunksucht (II,2). Sieht man sich solche Passagen an, dann ist das Problem nicht, ob so etwas möglich, sondern was davon zu halten ist. Im genannten Essai kommentiert Montaigne, „daß wir schon in diesen Seelen eine gewisse Verstörung, einen gewissen Furor sehen, so heilig er auch ist“.39 Die Passage ist schwer zu interpretieren, insbesondere weil „alteration“ (was Stillett mit „Verstörung“ übersetzt) mehrdeutig ist. Deutlich ist der Kommentar zu weiSeneca, De ira II, 2.1, S. 151 f. – dazu Maurach 2013, S. 82 ff. Maurach 2013, S. 82 – Montaigne war als Leser Bodins sehr vertraut mit den methodologischen Reflexionen einer sich der Geschichtlichkeit der Geschichte immer bewusster werdenden Geschichtsschreibung. Dass Gefühle eine Geschichte haben, ist in den letzten Jahren zunehmend in der Geschichtswissenschaft, weniger in der Philosophie, thematisiert worden – gerade am Beispiel des Zorns entwickeln dies Harbsmeier/Möckel 2009. Den Zusammenhang zwischen der Geschichte der Gefühle und der Geschichte von Gesellschaften untersucht an antiken Beispielen Konstan 2009. 38  Meine Interpretation weicht deshalb von der Perlers (2011) aber auch Wildts (2008, S. 257) ab, der in dem Sinn Montaigne eine These von der Autonomie der Emotionen zuschreibt, dass sie sich eben aufgrund der Autonomie prinzipiell nicht beherrschen ließen. Mir scheint, Montaigne ist hier sehr zurückhaltend mit solchen Thesen. 39  Montaigne, Essais II,2, S. 172. 36  Vgl. 37  So



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teren Beispielen stoischer Weiser, die mit der rhetorischen Frage kommentiert werden: „[…] wer würde da nicht sehen, daß dies Aufschreie eines völlig aus seinen Angeln gerißnen Gemütes sind?“.40 (d’un courage, eslancé hors de son giste)41 Die Mehrdeutigkeit der Formulierungen signalisiert das eigentliche Problem, nämlich ob derartige Zustände und Verhaltensweisen nicht etwas Pathologisches haben bzw. von pathologischen Zuständen unterschieden werden können. Hier findet sich bereits die Frage, inwieweit Formen von Tugend nicht Formen von Entfremdung sein können – die sich gemildert dann auch noch bei Descartes findet. Die von Montaigne an unzähligen Beispielen herausgearbeitete Plastizität und Diversität der menschlichen „Natur“ eröffnet auch den Raum, indem die Beispiele des Kapitels über den Zorn funktionieren. Sie geben Einzelfälle, in denen es geraten ist, den Zorn zu unterdrücken (um nicht ungerecht zu sein), oder ihn dosiert herauszulassen (um ihn nicht in sich hineinzufressen bis hin zu psychosomatischen Verkrampfungen) oder aber ihn schlicht zu spielen (etwa um eine Situation zu entschärfen). Wie weit dieses Spielen eines Affekts gehen kann, macht der Essay III,4 „Über die Ablenkung“ deutlich. Hier rekurriert Montaigne auf Quintilian, der berichtet, er habe einen Schauspieler gesehen, den das von ihm dargestellte (und das heißt selbst hervorgebrachte) Gefühl der Trauer völlig ergriffen habe, „daß er noch zu Hause geweint hätte“.42 Wie Descartes knüpft auch Montaigne hier nicht an die Konzeption des „kalten“ sondern des „heißen“ Schauspielers an.43 Bei Montaigne ist dabei allerdings ein zentraler Punkt erkennbar: Es ist möglich, Gefühle künstlich selbst hervorzubringen, die sich dann festsetzen, in die man sich verstrickt und unter denen man dann leidet. Die Fülle von Möglichkeiten, die Montaigne im Umgang mit dem Zorn erörtert, ist ein Indikator dafür, dass er auch essentialistischen Auffassungen vom Wesen des Menschen, davon, wie er „eigentlich“ oder „von Natur aus“ ist, misstraut.44 40  Montaigne,

Essais II,2, S. 172. 1979, vol. II, S. 19. 42  Montaigne, Essais III,4, S. 417. Montaigne bezieht sich auf Quintilian Inst. Orat. IV, 2. Hierzu und zum Folgenden vgl. die schönen Analysen von Pfeiffer 2018, S.  72 ff. 43  Natürlich kennt Montaigne, der ja in verschiedensten Kontexten als Politiker zu Zeiten der französischen Bürgerkriege aktiv war, auch die täuschende Form der Schauspielerei, die Dissimulation. Die Art und Weise, wie Montaigne die Erfahrungen, die er in seinen zahlreichen Aktivitäten während des Schreibens der Essais machte, in seinem Text unterschiedlich verarbeitet hat, rekonstruiert Nakam 1993. Vor dem Hintergrund dieser Analyse wird das Bild Montaignes, nachdem er sich in seinem Turm der Selbstbetrachtung ergeben habe, zutiefst fragwürdig. Ganz anders akzentuiert etwa das Montaigne-Bild bei Taylor 1996, S. 320 ff. 44  Vgl. dazu ausführlich Hartle 2013, S. 5 ff., die Montaignes Kritik des Aristotelismus gerade auch im Blick auf den Wesensbegriff herausarbeitet. 41  Montaigne

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Diese Figur, dass man selbst etwas hervorbringt, das einen dann beherrscht, findet sich in den Essais in verschiedensten Spielarten und unterschiedlichsten Zusammenhängen. Ein Beispiel dafür ist seine Behandlung der Gewohnheit an mehreren Stellen, etwa in dem wichtigen Essai „Über die Gewohnheit und daß man ein überkommenes Gesetz nicht leichtfertig ändern sollte“ (I, 23). Es gibt eine Tendenz, diesen Essai als Dokument eines konservativen politischen Programms zu lesen. Doch übersieht diese Lesart zentrale Spannungen in diesem ausgesprochen komplexen Text. Zunächst endet der Text mit Erwägungen zu einem ausgesprochen kreativen Umgang mit Gesetzen angesichts der Bürgerkriegssituation, in der Montaigne schreibt (nämlich sie nicht durchzusetzen).45 Dann setzt der Essai mit einer ausgesprochenen Kritik an den Gewohnheiten ein. Gewohnheiten, so notwendig sie sein mögen, sind zunächsteinmal fast übermächtig. Montaigne führt die Gewohnheit als allmächtige Tyrannin ein und er bemüht eine Fülle von Beispielen um zu zeigen, dass sie die menschliche Natur (falls von einer invarianten Natur die Rede sein kann) fast nach Belieben zu verändern und zu deformieren vermag. Gewohnheiten sind nun aber geradezu paradigmatisch etwas von Menschen Hervorgebrachtes.46 Montaigne analysiert hier also ein Beispiel dafür, dass etwas von den Menschen Hervorgebrachtes zu einem Zwangssystem werden kann, das einen unfrei werden lässt. Es ist vor diesem Hintergrund, dass Montaigne auf den „Rückzug aufs Innere“ zu sprechen kommt. Die genaue Formulierung ist dabei spannend: „Der Weise, meine ich, sollte sich zwar innerlich aus dem Menschengewühl zurück ziehen und in seinem Geist die Fähigkeit bewahren, die Dinge unvoreingenommen zu beurteilen, nach außen hin sich aber voll und ganz an die landläufigen Formen und Normen halten.“47 Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Aufruf zum Opportunismus.48 Der Rückzug dient aber nicht der Flucht vor der Welt, sondern dazu, ein ungetrübtes Urteil zu gewinnen, und zwar über die Dinge und Angelegenheiten der Welt. Das schließt an die Beobachtungen zur Tyrannei der Gewohnheit an. Denn eine der verderblichsten Wirkungen der Gewohnheit ist für Montaigne die Trübung der Urteilskraft gerade im Blick auf die Gewohnheiten, die sich eingenistet haben.49 Die primäre Funktion des hier empfohle45  Montaigne,

Essais I,23, S. 67 f. Montaigne, Essais I,23, S. 60, wo er davon spricht, die Gewohnheit habe die Macht, die Regeln der Natur zu „vergewaltigen“ – vgl. auch Pfeiffer 2018, S. 147 ff., die die Ambivalenz der Gewohnheit bei Montaigne herausarbeitet. 47  Montaigne, Essais I,23, S. 65. 48  Dieser Vorwurf ist Montaigne natürlich gemacht worden, ebenso natürlich auch Descartes, dessen „provisorische Moral“ diesen Punkt ziemlich getreu aufnimmt. Mir scheint aber, dass dieser Vorwurf in solchen Formulierungen eine Antwort auf eine Frage sucht, die mit ihnen gar nicht beantwortet werden sollte. 49  Vgl. Montaigne, Essais I,23, S. 62: „Die Gewohnheit hatte mir tatsächlich den Blick für die Absonderlichkeit unseres Verhaltens genommen“. 46  Vgl.



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nen Rückzugs ist nicht die exzessive Beschäftigung mit der Innerlichkeit, sondern die Angemessenheit des eigenen Umgangs mit der Welt und die ­eigene Souveränität im Umgang mit der Welt. Das erfordert, eine gewisse Distanz zu den Gewohnheiten, die man lebt, aufzubauen, ohne deshalb diese Gewohnheiten aufgeben zu müssen. Es ist aber klar, dass damit das Verhältnis zu den Gewohnheiten, die man lebt, nicht unkompliziert wird. Es lohnt sich deshalb, abschließend auch einen kurzen Blick auf die Überlegungen Montaignes zu werfen, die er beispielsweise seiner Tätigkeit als Bürgermeister von Bordeaux in dem Essai „Über den rechten Umgang mit dem Willen“ widmet. Allerdings besteht die Gefahr, diese Überlegungen isoliert genommen überzubewerten. Es gibt in den Essais eben auch zahlreiche Stellen, die zu diesen Überlegungen in einer gewissen Spannung stehen, etwa die Bemerkung im Essai „Über das Bereuen“: „Was ich tue, pflege ich ganz zu tun, und ich bin mit Leib und Seele dabei.“50 In direkter Spannung steht dann die Auskunft: „Wenn man mir manchmal die Führung fremder Geschäfte aufdrängte, versprach ich, sie zwar in die Hand zu nehmen, nicht aber in die Leber, in die Lunge; sie zu schultern, nicht aber, sie mir einzuverleiben.“51 Und entsprechend heißt es kurz darauf: „Der Bürgermeister von Bordeaux und Montaigne, das waren immer zwei, klar und säuberlich voneinander geschieden.“52 Es verwundert nicht, wenn Montaigne im unmittelbaren Umkreis dieser Passage die Theatermetapher aufgreift: „Die ganze Welt treibt nur ein Schauspiel. Wir müssen unsre Rollen darin gebührend übernehmen, aber eben auch als Theaterfigur. Aus Maske und Aufmachung sollte man nicht ein wirkliches Wesen machen, und aus Fremden nichts Eignes.“53 Mit der Formulierung „aus Fremdem eigenes machen“ sind die Überlegungen tatsächlich wieder ganz im Umkreis dessen, was man später die Entfremdungsproblematik genannt hat. Zugleich ist in dieser Formulierung nicht das Verhältnis des Einzelnen zu einer Rolle, sondern zu einer Pluralität von Rollen Thema. Es geht eben nicht nur darum, das richtige Verhältnis zu einer Rolle, die zu spielen aufgegeben ist, zu finden, sondern zugleich auch darum, die Rollen auszugleichen, Rollenkonflikte zu moderieren und unter ihnen nicht zu leiden. Dabei wird man – das macht der Essai über den Zorn deutlich – Montaigne nicht einfach das strikte Muster eines kalten Schauspielers unterstellen dürfen, sondern die ganze Bandbreite möglicher Haltungen zu Rollen, ohne dass er sich auf eine bestimmte festlegen müsste.54 Je nach Situation mag er an50  Montaigne,

Essais III,2, S. 402. Essais III,10, S. 505. 52  Montaigne, Essais III,10, S. 509. 53  Montaigne, Essais III,10, S. 509. 54  Betrachtet man die Essais insgesamt unter dieser Fragestellung, dann findet man schnell, dass die Rollenprobleme sowohl das Verhältnis zum Geldausgeben und Gelderwerb, die Landwirtschaft, die Freundschaft, die Politik, das Recht und die Re51  Montaigne,

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ders agieren. Allein der Rückzug auf das Innere ermöglicht es, in den Rollen souverän zu bleiben. Man wird den vermeintlichen Rückzug deshalb eher als eine besondere Art der Zuwendung zur Welt verstehen müssen, denn zugleich tut er das, was er tut, ganz und gar, „mit Leib und Seele“.55 Will man die von Montaigne anvisierte Haltung näher charakterisieren, wird man es schnell mit ähnlich paradoxen Formulierungen versuchen müssen, wie bei Descartes. Vielleicht noch deutlicher als bei Descartes mag dabei der Eindruck sich verstärken, dass paradoxe Haltungen und Inkonsistenzen nicht ohne weiteres als Ausdruck eines Leidens verstanden werden dürfen, und nicht nur wie bei Celestina als Ausdruck einer spezifischen Freude und Lust, sondern auch als ein Versuch, eine Art Souveränität und Freiheit zu gewinnen. V. Die Fundstücke, die bisher kurz betrachtet wurden, sind natürlich in gewisser Weise zufällig und nicht repräsentativ (etwa für eine „Epoche“). Sie sind eben Fundstücke. Als solche sind sie zunächst einmal stumm. Bedeutsam werden sie erst dann, wenn man mit Fragen an sie herantritt. Die Überlegungen und Beobachtungen zu den ausgewählten Fundstücken unter der Fragestellung, ob und wie sie Entfremdungsphänomene thematisieren, sind natürlich noch keine fertigen Interpretationen im kompletten Werkkontext. Gleichwohl lässt sich bereits jetzt weiterfragen, ob und inwieweit die Fundstücke umgekehrt einen etwas veränderten und auch fruchtbaren Blick auf die Diskussionen um den Entfremdungsbegriff gestatten. Um hier – diesen Beitrag abschließend – einige tastende Schritte weiter zu kommen, ist indessen eine weitere, kurze methodologische Reflexion hilfreich. Ausgangspunkt war die Suche nach Spuren eines bestimmten sprachlichen Ausdrucks, einer bestimmten sprachlichen Figur, nämlich der paradoxen Formulierung „durch etwas besessen werden, das man besitzt“. Es ist klar, dass ligion betreffen, also alle die Kreise oder Sphären, deren Ausdifferenzierung Modernisierungsprozesse kennzeichnet – und dass Montaigne in ihnen allen eine hochkomplexe, ausdifferenzierte und vielleicht paradoxe Haltung zu gewinnen sucht. Zepp 2010 interpretiert Montaigne als einen typischen Vertreter der Marranen-Kultur. Ansätze dieser Art stützen sich biographisch vor allem auf die Herkunft seiner Großmutter. Mir scheinen diese Ansätze möglich, aber nicht notwendig. 55  Starobinski 1986 scheint mir hier immer noch am weitesten gekommen zu sein. Um es nochmals zu betonen: In die Zeit des Schreibens der Essais fallen biographisch nicht nur die bedeutsame Italienreise, sondern auch verschiedenste, intrikate diplomatische Missionen vor dem Hintergrund der französischen Religionskriege. Montaigne war dabei kein Opportunist, der sein Fähnchen nach dem Wind gehängt hat, sondern klar positioniert und im Sinne und teils im Auftrag von Henri IV tätig – also durchaus nicht im Sinne eines schlichten Traditionalismus.



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dies ein Fall eines metaphorischen Sprachgebrauchs ist.56 Vermutlich sind die meisten sprachlichen Formulierungen, mit denen man Erfahrungen als Entfremdungserfahrungen sprachlich zu fassen versucht, metaphorisch. Aber nicht nur in den gefundenen Texten, sondern auch bei ihrer Kommentierung stellt sich zwanglos metaphorischer Sprachgebrauch ein, etwa die Rede von „Rollen“. Und noch mehr: Bei der vielleicht schwierigsten methodischen Frage, wie nämlich die Texte als Versuche lesbar werden, auf spezifische geschichtliche Erfahrungen zu reagieren, fallen fast zwangsläufig Ausdrücke, die zunächst ebenso metaphorisch sind, etwa der Ausdruck „Ausdifferenzierung verschiedener Sphären“, die zu „Rollenkonflikten“ führen.57 Nun kann solcher metaphorischer Sprachgebrauch zum Ausgangspunkt terminologischer Begriffsbildung werden, etwa im Fall des Rollenbegriffs und des Begriffs der sozialen Ausdifferenzierung in der Soziologie.58 Gleichwohl sind einige Vorsichtsregeln hilfreich: Zunächst muss man eben immer im Hinterkopf behalten, dass bei einem metaphorischen Begriffsgebrauch einige Bedeutungskomponenten zutreffen können, andere aber nicht. Metaphorischer Begriffsgebrauch akzentuiert. Das gilt nicht nur für den normalsprachlichen Gebrauch, sondern auch für den terminologisch verfestigten. Zugleich ergibt sich daraus, dass es auch ganz andere Weisen der Konzeptualisierung derselben Erfahrung geben mag. So kann es sprachliche Fassungen von Entfremdungserfahrungen geben, die etwa den Rollenbegriff gar nicht benutzen.59 Damit wird die methodische Situation heikel: Weder hat man in bestimmten Formulierungen zuverlässige Indizien dafür, dass Entfremdungserfahrungen konzeptualisiert werden, noch hat man in einem bestimmten Sprachgebrauch einen zuverlässigen Ausgangspunkt zur Bildung der Terminologien, in denen der Entfremdungsbegriff entwickelt werden müsste. Für die gegenwärtigen Überlegungen heißt das, dass sie offen bleiben müssen für andere Arten und Weisen, Erfahrungen sprachlich zu fassen, damit aber auch für andere Erfahrungen, in Anknüpfung an die der eigene Entfremdungsbegriff modifiziert werden kann. Mir scheint, die Arbeit mit dem Entfremdungsbegriff ist fruchtbar vor allem dann, wenn sie in der Arbeit mit ihm offen bleibt für seine Modifizierung und Korrektur. zum Folgenden Löwith 1958. hat 1958 eine rollentheoretische Interpretation des Entfremdungsbegriffs beim jungen Marx vorgelegt – vgl. dazu auch bereits Löwith 1932. Im Zentrum steht dabei insbesondere der Text Zur Judenfrage von Marx, in dem die Differenz zwischen politischer Sphäre und privater Sphäre eine zentrale Rolle spielt. 58  Vgl. z. B. Goffmann 1979, aber auch Popitz 1967. 59  Spinoza, von dessen Formulierung im TIE die Überlegungen ausgingen, ist m.W. ein Autor, der den Rollenbegriff nicht benutzt. Entfremdungstheoretisch orientierte Spinozainterpretationen haben z. B. Alexandre Matheron und Helmut Seidel vorgelegt. 56  Vgl.

57  Löwith

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Vor dem Hintergrund dieser Zwischenüberlegungen lassen sich, wie mir scheint, tastende Konsequenzen aus den kommentierten Fundstücken gewinnen, einige zur Verteidigung des Entfremdungsbegriffs und einige zu seiner Modifikation: Betrachtet man die Schauspielmetapher bei Descartes im Zusammenhang des Problems einer möglichen Entfremdung durch Tugend oder die Rollenmetapher bei Montaigne im Zusammenhang des Verhältnisses zu verschiedenen Bereichen menschlichen Lebens, dann lassen sich leicht und mühelos Textstücke aus der Antike finden, die als Vorlage in Frage kommen. So schreibt auch Epiktet: „Erinnere dich, daß Du ein Schauspieler in einem Drama bist; deine Rolle verdankst Du dem Schauspieldirektor.“60 Doch drohen solche ideengeschichtlichen „Herleitungen“ das Spezifische der Verwendungen dieser Metaphoriken bei Descartes und Montaigne zu verdecken. Ein Indiz dafür ist, dass der Gedanke Epiktets, die Rolle sei von einem Gott zugeteilt, bei Montaigne oder Elisabeth gar keine Rolle spielt, schlicht weil die Metaphorik dort auf ein anderes Problem reagiert. Die Frage ist nicht, warum man eine Rolle spielen sollte, sondern wie man sich zu ihr verhält und sie ausgestaltet. Diese spezifische Frage gewinnt ihre genaue Kontur erst, wenn man die spezifischen Konfliktlagen mitdenkt, in denen sich Montaigne und Elisabeth befinden. Es sind, wie mir scheint, Konflikte, die sich in dieser Form in der antiken Tradition nicht thematisiert finden, weil die antike Philosophie in einem anderen historischen Kontext steht. Der Text de Rojas ist ja gerade deshalb in diesem Kontext so hilfreich, weil sich in ihm gemäß dem hier verfolgten Interpretationsansatz Erfahrungen einer spezifischen Umbruchsituation zur Moderne niederschlagen. Nach den hier angestellten Überlegungen antwortet die Konjunktur der Rollenmetaphorik in den herangezogenen Texten auf das Problem von Rollenkonflikten, die erst durch die Transformation der Gesellschaftsstruktur in der frühen Neuzeit auftreten.61 Es geht dabei nicht mehr einfach nur um das Verhältnis eines Individuums zu seiner Rolle, sondern um die Konflikte, die daraus entstehen, dass sich ausdifferenzierende Gesellschaften unweigerlich zu Rollenkonflikten für den Einzelnen zu führen scheinen. Entsprechend scheint es mir methodisch zu kurz gegriffen, bei der Interpretation von philosophischen Texten des 16. und 17. Jahrhunderts die realgeschichtlichen Transformationsprozesse auszublenden. Epiktet, Handbüchlein der Moral, S. 25 f. gilt nicht für alle Fälle der Verwendung der Schauspiel- oder der Rollenmetapher im 16. und 17. Jahrhundert. Ein Beispiel dafür wäre die Funktion der Schauspielmetapher in Lipsius’ De constantia, Kap. 8, insbes. S. 55 ff. Lipsius wandelt hier Petronius Spruch „totus mundus exercet histrionem“ zu „totus universus exercet histroniam“ ab. In dieser Version zitiert auch Montaigne diesen Satz in Essai III, 10, S. 509, vermutlich aus Lipsius. Lipsius endet mit der Aufforderung, die Masken abzulegen, Montaigne macht daraus die Aufforderung, die Rolle zu übernehmen, aber ohne daraus allzuviel zu machen und sich über sie ausschließlich zu definieren. 60  Vgl. 61  Das



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Ein Vorteil des Entfremdungsbegriffs besteht darin, gerade diesen Zusammenhang herzustellen. Er wird damit aber nicht nur fruchtbar bei der Erschließung von Texten der Philosophiegeschichte, sondern hat gerade deswegen auch eine systematische Pointe. Es könnte nämlich sein, dass philosophische Fragen wie die nach dem guten Leben oder einer gerechten Ordnung, die suggerieren, gleichsam unmittelbar an noch die ältesten Texte der philosophischen Tradition anschließen zu können, zu unspezifisch gestellt sind. Wenn bestimmte Konflikte und Probleme, auf die die praktische Philosophie antworten will, dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen sind, dann kann man dem versuchen Rechnung zu tragen. Doch nicht nur die Texte der frühen Neuzeit können deshalb so in einem neuen Licht interpretiert werden. Mindestens ebensosehr können die dann zu Tage geförderten Theoriestücke für uns ein Angebot sein, uns selbst und unsere Gegenwart zu verstehen. Alle die an den drei Texten beobachteten Überlegungen zu Rollenverhalten und Dissimulation werfen ein ganz eigentümliches Licht auf ganz alltägliche Erfahrungen, die heute jeder machen kann, wenn er auch nur ein Bewerbungstraining über sich ergehen lässt.62 Analoge Probleme durchziehen das heutige private und gesellschaftliche Leben, sodass die Auseinandersetzung mit Texten des 16. und 17. Jahrhunderts unversehens an Relevanz gewinnen kann. Die Frage nach der Entfremdung zu stellen, kann ein Beitrag zu aktuellen Selbstverständigungsdiskursen sein.63 Nun scheint mir die Arbeit mit Begriffen – das sollte auch deutlich werden – nur sinnvoll, wenn sie zugleich eine Arbeit an diesen Begriffen ist. Gerade wenn man dem Entfremdungsbegriff eine gewisse Erschließungskraft im Umgang mit Texten auch der frühen Neuzeit zutraut, die selbst nicht für Entfremdungstheorien traditionsbildend wurden, ergibt sich die Chance, aus diesen Texten Hinweise zu möglichen Modifikationen oder gar Korrekturen des Entfremdungsbegriffs zu gewinnen, mit denen wir gegebenenfalls auch heute uns und unsere Gegenwart besser zu entschlüsseln vermögen. Und tatsächlich deuten bereits die drei kommentierten Fundstücke in zwei Richtungen, in die man weiterarbeiten kann. Bei allen drei Autoren finden sich Haltungen anvisiert, die sich zunächst als paradoxe beschreiben lassen. Allerdings sollte man vor dem Hintergrund der methodologischen Zwischenreflexion vorsichtig sein, aufgrund der paradoxen Beschreibung der Haltungen zu folgern, diese Haltungen seien selbst unhaltbar oder unmöglich oder Aus62  Von Erfahrungen, die jeder machen kann, der an Universitäten arbeitet und auch im akademischen Milieu unterwegs ist, ganz zu schweigen. 63  Dies ist der Punkt, in dem die vorliegenden Überlegungen an meine Versuche in Schnepf 2006, S. 170 ff. und Schnepf 2013 anknüpfen. Wie bei diesen früheren Versuchem handelt es sich allerdings auch hier eher um erste Schritte zur Problemerschließung. Wie ich beispielsweise meine früheren Versuche vor dem Hintergrund der hier gemachten Arbeitserfahrungen modifizieren müsste, ist noch völlig offen.

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druck eines Leidens. Entsprechend darf man eben nicht vorschnell diese Haltungen vor dem Hintergrund des einen oder anderen Entfremdungsbegriffs umstandslos als Ausdruck von Entfremdung interpretieren. Registriert man nicht, dass sich in der Sicht der Autoren in solchen Haltungen ein Moment von Freiheit und Lust realisiert, das gerade gegen die entfremdenden Bedingungen und in ihnen zur Geltung kommen kann, begibt man sich der Chance, den eigenen Entfremdungsbegriff zu modifizieren. Wenn ich richtig sehe, legt das zunächst einen wiederum methodologischen Punkt im Umgang mit dem Entfremdungsbegriff nahe: Will man Entfremdung diagnostizieren – bei Individuen oder bei Gruppen –, wird man viel systematischer an Selbstaussagen und Selbstverständnisse der Betroffenen anknüpfen müssen, als es weithin üblich ist.64 Mehr noch fragt sich, ob Entfremdungsdiagnosen tatsächlich von den Experten des Entfremdungsbegriffs getroffen werden können, oder sich nicht doch eher in individuellen oder öffentlichen Selbstverständigungsprozessen bewähren müssen. Ein Entfremdungsbegriff, der offen für seine Revision ist, scheint mir seine primäre Funktion dann zu erfüllen, wenn er eigene Selbstverständnisse und die Analyse der gesellschaftlichen Situation so zu verbinden vermag, dass er eine Chance auf Veränderung offenhält, die aber zugleich auch in der Chance der Selbstveränderung besteht. Gerade Montaigne bietet ein Beispiel dafür, dass solche Selbstverständigung keinem Essentialismus verpflichtet sein muss. Die zweite Überlegung schließt daran an: Die kurzen Kommentierungen zu den drei Texten geben Anlass, bei der Interpretation der Texte des 16. und 64  Mir scheint beispielsweise, dass Max Horkheimers Montaigne-Interpretation als Ausdruck des „bürgerlichen Geistes“ (Horkheimer 1938, S. 15) nicht nahe genug an den Selbstaussagen Montaignes bleibt. Dabei scheint mir seine Beschreibung des allgemeineren historischen Hintergrundes hilfreich: „Die spezifisch religiösen Inhalte und die besonderen Angelegenheiten, Sorgen und Zufälle des einzelnen treten auseinander, die Bereiche des bürgerlichen Lebens, der private und öffentliche, ebenso der geschäftliche, religiöse, politische grenzen sich gegeneinander ab.“ (S. 26) Doch scheint mir der Kern seiner Interpretation nicht haltbar: „Montaigne sieht dagegen einen Absolutismus heraufziehen, mit dem er sich identifizieren kann, weil er die Sicherung des bürgerlichen Eigentums garantiert. […] Die Ataraxie Montaignes besteht in der behaglichen Einrichtung des seelischen Inneren, in dem man vor jeder Unbill ausruht. […] In der bürgerlichen Ära sind die kulturellen Sphären, im einzelnen Menschen wie im sozialen Ganzen, von der Wirtschaft getrennt. Draußen in Wirtschaft und Beruf gebietet die Pflicht und das ökonomische Wertgesetz, das sich im Konkurrenzkampf durchsetzt. Im Reich der Kultur aber waltet ewige Harmonie.“ (S. 8) Mir scheint hingegen eine durchgängige Haltung des Moments der NichtIdentifikation bei aller Identifikation für Montaigne grundlegend (auch gegenüber dem Absolutismus), und diese Haltung, die alle von Horkheimer unterschiedenen Sphären betrifft, eröffnet für Montaigne gerade die Möglichkeit des sinnvollen Bezugs, des Anerkennens der Wirklichkeit und des verändernden Handelns. Man kann Starobinski 1986 geradezu als eine Gegeninterpretation zu Horkheimer lesen.



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17 Jahrhunderts übliche Entgegensetzungen zu hinterfragen. So scheint es mir unangemessen, etwa die herausgegriffenen Überlegungen von Descartes mithilfe unvermittelter Entgegensetzungen – etwa „engagiert“ versus „desengagiert“, „distanziert“ versus „anteilnehmend“ oder „Beobachterperspektive“ versus „Teilnehmerperspektive“ – zu interpretieren. Die Schauspielmetapher steht bei Descartes gerade nicht für bloß teilnahmsloses, distanziertes Beobachten. Ähnlich schwierig wird die Verwendung von Begriffen, die für Entfremdungskonzeptionen einschlägiger sind, etwa „sich mit etwas identifizieren“. Eine der Basisintuitionen klassischer Entfremdungskonzeptionen ist es ja, dass sich etwa der Arbeiter nicht mehr mit den Produkten seiner Arbeit und seinem Arbeiten zu identifizieren vermag. Hinter dem Entfremdungsbegriff stehen entsprechend oftmals Annahmen über das Selbst bzw. gelungene Identität. Montaignes Haltung etwa zu seinem Bürgermeisteramt lässt sich aber nur schlecht in der Alternative „… identifiziert sich mit …“ bzw. „… identifiziert sich nicht mit …“ beschreiben. Wenn, dann müsste man zu solchen sprachlichen Verrenkungen greifen wie „… identifiziert sich damit, sich teilweise mit … zu identifizieren und teilweise nicht mit … zu identifizieren“. Damit erschließt sich aber ein spannendes Problemfeld auch aktueller Diskussionen um den Entfremdungsbegriff neu: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno rekonstruieren in der Dialektik der Aufklärung ihrem Anspruch nach eine Art Genealogie eines Subjekts, dem sich in der Vielfalt seiner Gefährdungen „die Einheit des eigenen Lebens, die Identität der Person gehärtet“ hat, und zwar als eine Entfremdungsgeschichte.65 Sie fordern damit dazu auf, dem Entfremdungsbegriff nicht allzu rigide Identitätskonzepte zugrunde zu legen (auch nicht die Identifikation mit einer revolutionären Aufgabe oder einem „sozialistischen“ System). Auf eine Spurensuche nach Momenten einer nicht gehärteten, sondern „weichen“ Identität machen sie sich indessen nicht.66 Solche Spuren lassen sich nun aber finden, beispielsweise wenn man einige Texte der frühen Neuzeit mithilfe des Entfremdungsbegriffs interpretiert, und dabei bereit ist, den Entfremdungsbegriff selbst zu modifizieren. Arbeit an einigen Texten der frühen Neuzeit kann dann eine Art „Entfremdung“ vor der Entfremdungstheorie herauspräparieren, die zu einer produktiven, an den Entfremdungsbegriff anknüpfenden 65  Horkheimer,

Adorno 2014, S. 55. in neueren Diskussionen um die Begriffe „Selbst“ und „Identität“ finden sich solche Spuren eher selten wieder. So lässt sich beispielsweise fragen, ob Harry Frankfurts Konzept „wholeheartedness“ Spielraum für die hier anvisierten Haltungen lässt, oder ob es sich nicht gerade um eine Spielart einer, in der Sprache Horkheimers und Adornos „gehärteten“ Identität handelt – vgl. Frankfurt 2001, S. 116 ff. Entsprechend bin ich mir nicht sicher, ob der Ansatz von Jaeggi 2005, soweit er sich auf Frankfurt stützt, tatsächlich die hier skizzierten Spuren aufnehmen und integrieren kann – trotz der tragenden Rolle, die in ihm der Begriff der Rolle spielt. 66  Auch

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Nachgeschichte klassischer Entfremdungstheorien beitragen kann – auch indem sie sich auf die Suche nach „weichen“ Identitätskonzepten macht.67 Der zentrale Einwand gegen einen so flexiblen und modifizierbaren Begriff der Entfremdung besteht natürlich darin, dass er kein trennscharfer Begriff mehr zu sein scheint. Die Erwiderung könnte in dem Hinweis darauf bestehen, dass der Entfremdungsbegriff selbst nicht auf der Ebene einer Theorie aus bloßer Beobachtungsperspektive zu verorten ist, sondern es primär den individuellen und öffentlichen Selbstverständigungsprozessen der Betroffenen überlassen bleibt, die schwierige Frage, wie und wann man bei Individuen und Gruppen Entfremdung diagnostiziert, zu beantworten. Das scheint mir eher ein Gewinn zu sein und eine Versicherung gegen die Experten der Befreiung und der allzu hastigen Revolutionen. Literaturverzeichnis Primärliteratur Augustinus: De libero arbitrio/Der freie Wille (= Opera/Werke Bd. 2), hrsg. v. J. Brachtendorf, Paderborn u. a. 2006. Cyprian: Opera, Paris 1541. De Quevedo, Francisco: La Hora de todos y la fortuna con seso, hrsg. v. J. Bourg, P. Dupont u. P. Geneste, Madrid 1987. De Rojas, Fernando: La Celestina oder Tragikomödie von Callisto und Malibea, übersetzt v. F. Vogelgesang, Frankfurt a. M. 1990. De Rojas, Fernando: La Celestina. Comedia o Tragicomedia de Callisto y Malibea, hrsg. v. Peter E. Russell, Madrid 2008. Descartes, René: Der Briefwechsel mit Elisabeth von der Pfalz, hrsg. v. I. Wienand und O. Ribordy, Hamburg 2015. Descartes, René: Die Leidenschaften der Seele, übersetzt v. K. Hammacher, Hamburg 1974. Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übersetzt v. O. Apelt u. a., Hamburg 1998. Epiktet: Handbüchlein der Moral, in: Epiktet, Teles, Musonius: Ausgewählte Schriften, griechisch-deutsch, hrsg. v. R. Nickel, Zürich, 1994. Horaz: Über die Dichtkunst, Stuttgart 1997. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, in: M. Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M. 2014. 67  Dass ich hier das Konzept einer „weichen“ Identität so betone, reflektiert wiederum ein Gespräch mit Matthias Kaufmann, für das ich dankbar bin – und es freut mich, im Register der Fußnoten auch mit diesem Dank schließen zu können.



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Critical cosmopolitanism Beyond the opposition between a philosophical and a sociological one By Soraya Nour Sckell1 I. Introduction Professor Matthias Kaufmann has been consecrated as one of the most important political philosophers of our days. In fact, his work has become a mandatory reference not only in the studies of Carl Schmitt and Wilhelm von Ockham, but especially in systematic discussions in the philosophy of law, political philosophy, human rights, and even bioethics. In all his works, the philosopher analyzes with rare rigor and vast erudition the classics of social and political thought, to finally present his theses – always in an ori­ ginal and deeply argued way – on crucial contemporary issues in debate with the most known contemporary authors. We can thus find in his work a richly instructive material on the history of ideas as well as a critical view on the current discussion of central themes of social and political problems. It is this critical reflection that characterizes his writings on human rights.2 In order to decisively put an end to all the arguments that question the legitimacy of human rights, Matthias Kaufmann reconstructs the history of their central concepts and faces the most controversial issues of our times about them. Contrary to the idea that human rights are a capitalist creation, Matthias Kaufmann analyzes the history of human rights, showing that their primordial concepts go back to the canon law of the twelfth century and to the “poverty quarrel” of the 14th century; these concepts developed later in the sixteenth century, especially in the debates on natural law around the colonization of South America and slavery, and are resumed, acquiring new meaning, by the reflections on natural law and rational law in the seventeenth and eighteenth centuries. Since the Christian principle underlying hu1  CEDIS – NOVA Law School, New University of Lisbon. This text is part of the research project “Cosmopolitanism: Justice, Democracy and Citizenship Without Borders”, PTDC/FER-FIL/30686/2017, FCT – Fundação para a Ciência e a Tecnologia, I. P. 2  Kaufmann 1999, 2001, 2002, 2005, 2011, 2013.

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man rights in America and Europe can no longer aspire to universal validity, it is necessary to investigate the basis of human rights in the notion of human nature and human dignity, particularly today in bioethics. Above all, the relationship between human rights and human dignity is deeply analyzed by him. Matthias Kaufmann also criticizes other recurring arguments against human rights. One of them questions human rights because they would contradict democracy as the will of the majority and the common good. The argument of states that justify the violation of human rights, such as torture, for example, in the name of defending democracy and the common good, is what Kaufmann most resolutely rejects. The idea that human rights contradict democracy as the will of the majority also stems from the fact that human rights include the protection of minorities. Matthias Kaufmann then insists on a conception of democracy that includes both the legitimacy of the will of the majority and the protection of minorities. He also contests the thesis that human rights serve the maintenance of privileges and property, which is contradicted by the principle of equality. The thesis that human rights would be an ideological instrument of the West, a theory anchored in the idea that a human being can not understand the moral and juridical structure produced in another cultural context, is also discussed by him. Rights relating to cultural identity do not therefore conflict with human rights. On the contrary, Matthias Kaufmann argues, they should be interpreted as the right of every human being to the development of the own individuality and personality, becoming a risk when interpreted in the sense of justifying in the name of “culture,” which is generally the culture of a dominant group over violation of human rights. The reflection of Matthias Kaufmann is a manifest for justice and for the fulfillment of the right of everyone to a dignified life. But it is also a manifest of revolt and indignation at the offenses against human rights and the sufferings that result from these offenses. The scientific tone should not deceive us – his writings express a passion for humanity and a pungent desire to reduce its burdens by doing justice. Interdisciplinary in its approach, cosmopolitan in its references and its scope, Matthias Kaufmann raises his voice wherever he perceives a violation of human rights. With the vigor of those who participate in a struggle, he goes through the whole history of the concept and all contemporary debates on the subject in order to affirm the absolute superiority of human rights over any other criterion of justice or political justification. Matthias Kaufmann, cultivating the debate with the great thinkers, reveals that the defense of human rights is the synthesis of all the values of ​​ justice that have been searched for centuries. He thus wishes to remind all of us that human rights are the supreme goal to which all efforts of our thoughts and actions must converge. His work is an invitation to fight alongside him in defense of human rights.



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In this tribute to this great philosopher, I would like to start from his stu­ dies on human rights to reflect with him on the concept of “critical cosmopolitanism”. II. Critical cosmopolitanism in debate A theoretical problem of cosmopolitanism addressed by most of the literature on this topic is how to reconcile individual and communitarian freedom. Several authors addressed this question in critical analysis of the great debate between cosmopolitan liberalism and communitarianism in the 1980’ and 1990’, dealing with the systematic question of the relation between ­va­lues and norms. Liberalism can be questioned because it separates values and norms, ignoring identity issues.3 Communitarianism can also be questioned because it derives public norms from the values of a community, renouncing to universality (e. g. MacIntyre4 reconstruction of Aristotle’s political theory in the framework of contemporary philosophical hermeneutics). An alternative to surpass this opposition could be found in European republicanism (e. g. Apel5, Habermas6, Ricoeur7, Wellmer8) which has at the same time a conception of universalism and collectiveness (connected with the Aristotelian conception of community, developed in Germany in the framework of the hermeneutic of Schleiermacher9, Dilthey10 and Gadamer11) according to whom freedom is not a historical abstraction nor a fact of pure reason, but is based on the interpretation that people have of their own reciprocal relations. Republicanism considers justice above the general will (contrary to liberalism) and empirical consensus (contrary to communitarianism). In contrast to a nationalistic Republicanism, to which the adhesion to abstract principles does not stabilize a political community, the cosmopolitan republicanism considers that a political identity can be based on principles of the Rule of Law compatible with universal values (equality, freedom, autonomy, reciprocity, participation). This can be found in Habermas’ adhesion to Kant’s idea of a Cosmopolitan Law founded on human rights.12 The idea 3  Rawls

1993. 1981. 5  Apel 1988. 6  Habermas 2001. 7  Ricoeur 1990. 8  Wellmer 1993. 9  Schleiermacher 1838. 10  Dilthey 1910. 11  Gadamer 1960. 12  Höffe 1989; Kersting 2009. 4  MacIntyre

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of global13 or cosmopolitan justice could then be discussed in several lines: utilitarian14, rights-based accounts15, Aristotelian16, contractarian17, the tradition of republicanism which demand more political representation18, and that others which demand more deliberation (Habermas, Rawls). A first critique that has been made on cosmopolitan theories based on liberal premises is that, according to the non-discrimination principle, it is indifferent to particularities. Different to that, Charles Taylor19 developed with a concept of recognition, inspired by Hegel, a version of egalitarian liberalism that, instead of abstracting from any content, has a concept of an accepted public good. Kymlicka’s20 works on minorities and Honneth’s21 concept of recognition also. Some others reviewed the hermeneutic tradition. Although most cosmopolitan theories inspired the foundation of “a right of humanitarian intervention” and of “just war” (both inexistent in International Law) and of a World State, critical cosmopolitanism is most interested in reconstructing the cosmopolitan ideas to reflect on racism, nationalism, xe­ nophobia, and in issues related to migrants, refugees, asylum-seekers, and stateless and displaced persons as well as the rights of minorities and indi­ genous people.22 To overcome the opposition between a philosophical cosmopolitanism (what should be) and a sociological cosmopolitanism (what is), as formulated by Beck23, and other dualisms stemming from it, a profound interdi­ sciplinarity is necessary. In International Law, cosmopolitan theories explore authors who outlines the status of the human person as the most fundamental subject of international public life24, regardless of one’s affiliation to a state, in opposition to state-centered internationalists. In Theory of International Relations, cosmopolitan theories review many paradigms, such as the network-society25, globalization26, transnationality27, and economy-world 13  Sen

2009. 2002. 15  Jones 1999; Caney 2018; Pogge 2002; Shue 2014. 16  Nussbaum 2016. 17  Beitz 2009; Brock 2009; Moellendorf 2002; Pogge 2002. 18  Rosanvallon 2003. 19  Taylor 1994. 20  Kymlicka 1999. 21  Honneth 1998. 22  Derrida 1997; Balibar 2018. 23  Beck 2006. 24  Cassese 2008. 25  Castels 2012; Harvey 2009; Lash/Urry, 1987; Cox 2018. 26  Giddens 2011; Sassen 2014; Bell 2016; Toeffler 1991. 27  Levitt 2007; Smith 2017; Portes/Guarnizo/Landolt 2003. 14  Singer



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theories28, which do not consider the state as the main actor in the global scene (global politics instead of international and transnational relations), and to consider theories like “glocalisation” (the global in the local) and “multi-level analysis”, which try to understand the interconnectedness bet­ ween the global and the local. In sociology and political sciences theories, critical cosmopolitanism considers, besides the political logic of the state, the logic of economic, cultural and religious orders and that take in account how non-state actors challenge the prerogative of the state as main actor in the international scene29, and how citizenship across borders can be constructed.30 III. Dimensions of critical cosmopolitanism 1. Cosmopolitanism The first dimension of critical cosmopolitanism concerns the ethical horizon of building a cosmopolitan world view. As formulated in Antiquity, cosmopolitanism is the moral ideal of a universal community of human beings considered apart from their links to particular communities. Cosmopoli­ tanism, in this sense, has as ethical horizon the construction of a cosmopolitan self. But this ideal face within the psyche exclusive private bonds such as nationalism, racism, sexism, and all forms of discrimination implied in identity issues. It is then necessary to analyze the conditions of cosmopolitanism in a context where violence is produced by the imposition of exclusive identities to those considered to belong to a “we” and by the exclusion of all others considered not to belong to it. The underlying question is: does the personal identity concerns public life? This implies firstly a normative question: what are the just rights and what values are good? Secondly, a question of social theory: what permits the adherence of individuals to these principles and what just institutions correspond to them? Finally, a question of philosophical anthropology: what is the nature of personal identity in relation to collective belonging?31 As Balibar32 analyses, a first answer considers that public space must concern the universal values, and be neutral regarding identity issues, in order to guarantee plurality. The particular and contingente character of biographi28  Wallerstein

2016; Arrighi 1994. 2006; Held 2010; Archibugi 2008. 30  Falk 2016; Balibar 2018. 31  Renault 2004, p. 250. 32  Balibar 2010. 29  Beck

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cal, social and cultural elements of identity cannot define justice.33 A second answer considers such neutrality to be impossible, given that politics and justice always legitimize a certain conception of personal identity by making it invisible, devaluing or stigmatizing others. The recognition of particularities as a matter of justice would be necessary.34 A third answer focuses on “translation” as a prerequisite for effective universalism, which depends on the ability to establish successful communication without having pre-established common codes. It does not mean a relativism that could accept discrimination and inequality, but is legitimate only if it amplifies rights. While cosmopolitan liberalism is based on rationality devoid of affection,35 critical cosmopolitanism also considers the role of emotional motivation in moral and political deliberation, as discussed in history of philosophy and today by neuroscience. It also reviews theories that question the devaluation of lives that are dispensable, that we leave die, for which we do not cry.36 2. Cosmopolitism in local democracy A second issue addressed by critical cosmopolitanism is: how to give local democracy a cosmopolitan horizon? Critical cosmopolitanism expects to analyze the conditions by which even a territorially limited local policy considers its consequences for human beings (including future generations) seen as such and not as members of a certain state. It is especially local politics that must be cosmopolitan, respecting the environment and the civil, political, social, economic and cultural human rights of the inhabitants of a certain territory, regardless of their citizenship. Critical cosmopolitanism considers that a democratic state must not wait for the development of a cosmopolitan law outside it.37 The first goal of cosmopolitanism is the cosmopolitization of local democracy. The democratic government of a group by itself, according to the principle of popular sovereignty, should include the whole of humanity (including future generations) to be truly democratic. What is crucial is that a democracy respects the civil rights of political community members (such as the right to vote), that it respects the fundamental rights of all those living in their territory and the human rights of all people in the world, regardless of their citizenship. 33  Rawls

1993. 1994; Kymlicka 1999. 35  Rawls 1993; Habermas 2001. 36  Butler 2009. 37  Menke/Pollmann 2007. 34  Taylor



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This is the deep sense in which the interrelation between constitutional, international, and cosmopolitan law must be understood. Within contemporary democracies, most violations of human rights are caused because of identity issues. This can be seen in claims against demo­ cracies in forums like the Inter-American System of Human Rights (protection of cosmopolitan human rights, even with limited regional jurisdiction) and the European Court of Human Rights and the International Criminal Court. In the beginning of its operation in 1979, the Inter-American System of Human Rights (ISHR) was mainly concerned with systematic, mass violations of human rights by the militar dictators in Latin America. However, in its current phase, the priority of the ISHR is to monitor the demands of excluded groups who are affected in terms of rights to participation and expression, who suffer social or institutional violence, and who have difficulty accessing the public sphere, the political system, and social or legal protection. Most cases concern violence practiced by police against certain groups, violence against women tolerated by state authorities, deprivation of land and the political participation of indigenous people and communities, discrimination against the Afro-descendant population, and abuse on the part of bureaucracies against undocumented immigrants. Individual cases reveal structural discrimination (even through “neutral practices”) and violence against certain groups.38 It is important to note that most of the issues are brought to the court by civil associations and NGOs, and that the action of the court is monitored by these associations. The same happens in the European Court of Human Rights, where European democracies are accused of discrimination against gypsies and ethnical minorities, violation of social and economic rights of non-national individuals, expulsion of migrants, refugees and asylum-seekers who run the risk of having their human rights violated if expelled to their original country. 3. Cosmopolitics as democratization of the transnational relations A third issue addressed by critical cosmopolitanism is: how to democratize the global system? How to transpose principles and practices that have been created within the framework of the nation-state into this global system? How to develop new forms of democracy with something other than a territorial foundation? How to go beyond national citizenship if there is no formal cosmopolitan citizenship? Which plausible Conception of organization, praxis and historical transformation would then correspond to it? There 38  Abramovich

2009.

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is no democratic representation in the most influential international organizations and global institutions of governance. On the other hand, there are a number of forms of association in civil society that transcend borders, crea­ ting new forms of citizenship – citizenship in network, in contrast to territorial citizenship. Modern political theory conceived the exercise of democratic citizenship and legitimate representation as fully exercised only within the framework of local political institutions, but the theory of justice has been increasingly developing in the last years to conceive new forms of democracy and citizenship beyond the state as well. If the state still makes strong, imposing changes in the global order, in some domains the behavior of individual actors can decisively shape global politics Cosmopolitanism becomes then, as Balibar39 says, cosmopolitics. Cosmopolitan citizenship does not exist as a legal and political status but as a practice of cross-border associations of individuals in any form of organization (institutionalized or not). Critical cosmopolitanism provides a conception of cosmopolitan citizenship that differs from those of “world society”, “world public sphere”, or “collective conscience”, since it focuses on political participation and not on consensus. It also provides a reformulation of the li­ beral theory of democratic representation: transnational civil associations do not have the moment of “authorization”, but they do have the moments of “control” and “accountability”. Modern political theory conceived the exercise of democratic citizenship and legitimate representation as fully exercised only within the framework of local political institutions, but the theory of justice has been increasingly developing in the last years to conceive new forms of democracy and citizenship beyond the state as well. If the state still makes strong, imposing changes in the global order, in some domains the behavior of individual actors can decisively shape global politics As Gaille-Nikodimov40 analyses, most contemporary projects of transpositions of democracy to the global scence are based in a first meaning the term constitution, developed in the 18th century: a legal instrument that limits the power of the state in favour of the autonomy of the citizens. Democracy would not coincide with the people’s sovereignty, since the value of the universal principles knows no borders. Thus, in most contemporary projects of the transposition of democracy beyond the state, people’s sovereignty is weakened. However, the concept of constitution also has a second meaning, also tied to the concept of democracy, but which emphasizes the act that institutes the constitution-norm and, more necessarily, the constituent power 39  Balibar

2010.

40  Gaille-Nikodimov

2002.



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derived from the sovereignty of the people. Individual and group sovereignty, with their constituent power, are the only criteria to democratize the transnational relations. The democratization of the transnational relations must be on the basis of the self-affirmation of a political subject as well as on the basis of human rights. These two different conceptions should not be opposed, but united. The constituent power corresponds to the process of self-emancipation of the political subject. But the human rights are the criteria to impede a political subject from affirming itself as an identity that oppresses its integrants or excludes others41. According to it, a possibility of democratization of international, global, or cosmopolitan relations can be found in the practice of cross-border, extra-parliamentary associations of individuals. Several of them concern identity questions, e. g. issues concerning immigrants refugees and asylum-seekers42. 4. Cosmopolitan Law Critical cosmopolitan law concerns the consecration of the individual as a subject of international law, especially regarding human rights and international criminal law, but also in areas such as minority rights, environmental law and the common heritage of humanity. Some authors consider that the notion of international law would even be inappropriate for nominating relations in which the individual becomes the main subject of law: this is not only an international law governing relations between states, but a cosmopolitan law, which gives an individual a power against the state, or which confers power on international forums against individuals despite their states. In some respects, the individual’s status as a subject of international law is compatible with state-centered theories of international law. In the case of cosmopolitan rights and duties, in contrast, it is necessary to carry out a thorough review of all legal categories based on state sovereignty construc­ ted in the last two hundred years. This cosmopolitan law appears as autonomous, neutral, based on the rationality of morality and thus worthy of universal recognition, a transcendental principle standing above its historical forms. But it can be sufficiently explained neither as a product of universal reason nor as the imposition of a dominant ideology. It results from a long history of “cosmopolitan citizenship in exercise” as well as from a cumulative theoretical systematization. Cosmopolitan law is also, reciprocally, the criteria of legitimacy of the exer41  Gaille-Nikodimov 42  Caraus/Paris

2002. 2018.

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cise of cosmopolitan citizenship. This can delegitimize associations that claim a non-cosmopolitan identity, that oppress their members and exclude others. Many authors consider that individuals do not have the status of a subject of international law, since it is the state that is required to confer such rights on individuals and to impose obligations on individuals in their home system. Firstly, it’s necessary to explore the situations in which it is possible to consider in international law the individual as a subject of law – especially individual responsibility in international criminal law and individual petition in human rights – and how the traditional categories of international law should be completely transformed regarding this “cosmopolitan law”. Se­ condly, it is necessary to analyze a fundamental difference between international rules regarding international crimes and human rights treaties: 1.  The individual in international criminal law could be considered a subject of law as bearer of the obligation not to commit international crimes, such as genocide, crimes against humanity, war crimes, and terrorism. Rules regarding international crimes confer rights and obligations directly on individuals, even if the national system does not adopt them. Whoever violates such rules can be tried by the courts of any country in the world or, when applicable, an international criminal court. These obligations impose individual responsibility, in contrast to the collective responsibility that prevails in international law. 2.  Human rights treaties require states to confer such rights and enforce these obligations in the national system. If the state does not confer such rights and obligations, individuals have the right to individually petition international bodies. On one hand, this right is granted to individuals directly by international rules and exists independently of national legislation. It is a genuinely cosmopolitan law. But, on the other hand, those who violate these norms do not bear individual responsibility on the international level (only eventually on the national level). There is only an international collective responsibility on the part of the state to which such individuals belong. Critical cosmopolitanism aims firstly to develop a concept of cosmopolitan law, reformulating all the modern state-centered categories of international law. Secondly, it aims to construct the normative and legal justifications for the claim that violations of human rights should imply international individual responsibility (as in international criminal law). It also addresses the following questions: There is no precise concept about how to protect the human person against its own governments. What is the responsibility of the international community for individuals suffering in another place? What kind of intervention is possible, who can intervene and do what?



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5. Cosmocentrism A fifth issue of critical cosmopolitanism concerns the vision of the universe as a whole, about the place that each natural phenomenon occupies in this universe, about the relation of the parts between themselves and with the whole universe. This also implies discussing the place that the human being – as one being among others – occupies in this universe and the consequences of its actions, which can be translated into ecological and environmental concerns, and even into an aesthetic question. The concept of cosmopolitanism contains the concept of cosmos. But how to conceive the cosmos (organism, machine, network, system, chaos, set of forces) is a controversial issue. Equally controversial is how to conceive the relation of the human being to the cosmos: the cosmos is for some authors world of nature, “object”, of which the human being participates as a natural being among others, and not as “subject”. For others, the cosmos is unity between subject and object, and the way we say the world depends on how we think and feel. From these questions arise a series of other controversies about the understanding of our place in the universe. For some authors, to understand what the human being is depends on the place of the human being in the universe. Thus, cosmology implies an anthropology, and for some authors also an ­ethics and even an aesthetics. Several authors consider that the history of mankind can be explained only along with the history of the cosmos. For Kant and A.v. Humboldt, the notion of a common origin of all that exists in the cosmos is inseparable from a conception of humanity and a cosmopolitan worldview. Modern anthropocentrism, claiming a superiority of the human being over nature, legitimized a destructive mode of production and consumption of nature, considering nature as a mere means for the attainment of human ends. The ecological crisis today reaffirms the interdependence between all natural beings, and the insufficiency of a cosmopolitan theory that does not consider nature. Consumer accountability is often demanded. However, it is also ne­ cessary a socio-political structural transformation and the development of a new ecological consciousness. This presupposes another way of thinking about the relationship between the human being and nature. And this can imply also the possibility of imputation of individual criminal responsibility to leaders of legal entities by omission in case of environmental crimes. The conception of a superiority of the human being over nature implies as well the devaluation of “beautiful nature”. The restitution of the beauty of nature, an aesthetic question, has ethical and political consequences, as re­ stitution of respect and responsibility for nature.

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IV. Conclusion Contemporary cosmopolitan theories have very different aims and approaches43, but all of them try to respond to current developments in the global scene concerning the status of a human being considered as a citizen of the world (“cosmopolitan”) and not of a particular State. Most of the criticism against theories of cosmopolitanism, above all the “philosophical” ones, addresses their strong normative character, which characterizes them more as an aspiration, an ideal, with no much explanatory potential. Ulrich Beck44 even formulated an opposition between a philosophical cosmopolitanism (what should be) and a sociological cosmopolitanism (what is), considering that the first one would not be necessary to the second one. These are false oppositions, which should be overcome. Indeed, on the basis of Matthias Kaufmann’s studies on human rights, it is possible to justify the legitmacy of a critical cosmopolitanism which aims to provide a solid review of the moral presuppositions that found the cosmopolitan theories and situate them in more social, political frames. It aims also to surpass the opposition between “cosmopolitan methodology”, that focus on the individual in the global scene, and the “state-centered” and “territorial metho­ dology”, that focus on the local scene, combining both. It is informed by both theoretical and explanatory approaches, concerned with issues like ­racism, nationalism, xenophobia, and problems related to migrants, refugees, asylumseekers, stateless, displaced persons, ethnical minorities, and indigenous people. With Matthias Kaufmann is possible to justify the concept of a critical cosmopolitanism, which has five main dimensions, that can be found in authors of the most diverse theoretical traditions, and which demand a deep reformulation of state-centered modern theories of justice, democracy and citizenship. The first one is “the cosmopolitanism self”: critical cosmopolitanism is conceived as a world vision that considers the construction of a “cosmopolitan self” as a question of justice. Political theories that ignore identity issues cannot explain why the universal does not resist nationalism, racism and xenophobia.45 The second one is “the cosmopolitan democracy”: different to the model of a national democracy constructed by modern po43  See for instance Appiah 2006, Archibugi 2008, Balibar 2018, Beck 2006, Benhabib 2006, Brock 2009, Brown 2010, Caney 2018, Delanty 2012, Derrida 1997, Habermas 2001, Hayden 2005, Held 2010, Jones 1999, Kleingeld and Brown 2006, Kymlicka and Straehle 1999, Moellendorf 2002, Santos 2005, Scheffler 2008, Schuett/ Stirk 2015, Singer 2002. 44  Beck 2000, 2002, 2003, 2004a, 2004b, 2004c, 2006a, 2006b, 2007a, 2007b. Atkinson 2007, Gille 2007, Martell 2008, Poferl./Sznaider 2004, Smith 2008, Skrbis 2008. 45  Appiah 2006; Balibar 2018.



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litical democratic theory, critical cosmopolitan democracy conceives a local political-legal order as fully democratic only if it respects the environment and the human rights of all people of the world regardless of their citizenship.46 The third one is “the cosmopolitan cross-border citizenship”: the concept of critical cosmopolital citizenship reformulates the modern conception of citizenship and representation for not having a territorial referential and the dimension of authorization. This would explain the practice of cross border associations of individuals, institutionalized or not. The philosopher Etienne Balibar call it “cosmopolitics” instead of “cosmopolitanism”.47 The fourth one is “the cosmopolitan law”: critical cosmopolitan law reformulates the conceptions of modern international law centered on the state, conside­ ring individuals as subjects of international law. This would explain two legal developments: the rights to individual petition on human rights and the individual responsibility in international criminal law.48 And finally, the fifth one is “the cosmocentrism”: critical cosmocentrism implies a form of ecological consciousness based on the relationship between the self and the cosmos, which would imply a profound revision of modern anthropocentric conceptions.49 Literature Abramovich, Víctor: Das violações em massa aos padrões estruturais: novos enfoques e clássicas tensões no sistema interamericano de direitos humanos, in: SUR – Revista Internacional de Direitos Humanos 6 (2009), N. 11, p. 6–39. Apel, Karl-Otto: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral (1988), Berlin 2016. Appiah, Kwame Anthony: Cosmopolitanism – Ethics in a World of Strangers, New York 2006. Archibugi, Daniele: The Global Commonwealth of Citizens, Princeton 2008. Arrighi, Giovanni: The Long Twentieth Century, London 1994. Atkinson, Will: Beyond False Oppositions: A replay to Beck, in: British Journal of Sociology 58/4 (2007), p. 707–715. Balibar, Etienne: La crainte des masses, Paris 1997. Balibar, Etienne: Cosmopolitisme, internationalisme, cosmopolitique, in: Bertrand Ogilvie/Diogo Sardinha/Frieder Otto Wolf (ed.), Vivre en Europe. Philosophie, politique et science aujourd’hui, Paris 2010, p. 19–49. 46  Beitz

2009; Menke and Pollmann 2007; Pogge 2002. 2012; Falk 2016. 48  Cassese 2008; Kelsen 1952. 49  Giddens 2011. 47  Castells

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Vicos interkultureller Gemeinsinn Von Danaë Simmermacher Der Schöpfer hat Italien nach Entwürfen von Michelangelo gemacht. Mark Twain

Nicht zuletzt seine Affinität zu Italien und insbesondere zu Neapel dürfte der Grund sein, warum Matthias Kaufmann sich immer wieder mit dem neapolitanischen Geschichts- und Rechtsphilosophen Giambattista Vico (1668– 1744) beschäftigt. Seit über zehn Jahren ist er Mitglied in der Accademia di Scienze morali e politiche der Società Nazionale di Scienze, Lettere e Arti in Neapel. Mit den beiden neapolitanischen Philosophieprofessoren Giuseppe Cacciatore und Fabrizio Lomonaco verbindet ihn eine langjährige Zusammenarbeit und Freundschaft. Beide haben sich auch an dieser Festschrift für Matthias Kaufmanns 65. Geburtstag mit Beiträgen beteiligt. Ich habe für diesen Beitrag Vicos Konzept eines interkulturellen Gemeinsinns gewählt, ohne den die Erkenntnis des natürlichen Rechts und damit der Sittlichkeit nicht möglich ist. Der Gemeinsinn stellt also ein wichtiges Element in Vicos Neue Wissenschaft, seiner Scienza Nuova dar.1 Damit soll Matthias Kaufmanns „interkultureller Gemeinsinn“ über viele Jahre seiner akademischen Arbeit in der praktischen Philosophie gewürdigt werden, der sich auch im Autorenverzeichnis dieses Bandes niederschlägt. Es lassen sich zunächst ein paar Gemeinsamkeiten zwischen Matthias Kaufmann und Giambattista Vico feststellen: Keine Sorge, dabei denke ich nicht an Melancholie und Reizbarkeit, wodurch Vico selbst sein Gemüt beschrieben hat. Beides kann man Matthias Kaufmann nun wirklich nicht nachsagen. Natürlich handelt es sich um Gemeinsamkeiten methodischer und thematischer Art: Wie Cacciatore in seinem Beitrag „ ‚Meine‘ Vico“ in dieser Festschrift betont, muss „der Forscher, der sich mit Vicos Denken auseinandersetzt, eine Perspektive einnehmen, die von der Vermengung unterschiedli1  Die thematische Beschreibung der Scienza Nuova übernehme ich aus Cacciatore 2002, S. 192: „Vicos neue Wissenschaft macht sich die Analyse der historischen Auswirkungen und der anthropologischen und kulturellen Differenzen zur Aufgabe, welche mit den natürlichen und grundlegenden Prinzipien der menschlichen Gesellschaft in Verbindung stehen: Religion, Ehe, Recht (letzteres besonders im Licht der römischen Rechtsinstitutionen des Asyls und des Ackergesetzes gesehen).“

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cher Wissensbereiche ausgeht“.2 Diese Vielseitigkeit hat der Jubilar allemal mit Vico gemein. Nachdem er Mathematik, Philosophie und Politische Wissenschaft studierte, hat er sich in seiner akademischen Arbeit in unterschiedlichen Kontexten mit Themen der Rechtswissenschaft, Medizin, Psychologie, Theologie, Biologie, Geschichtswissenschaft und Ethnologie beschäftigt. Als Philosoph nimmt er dabei nicht selten eine vermittelnde Rolle ein, wie sie auch Vico zugesprochen wird.3 Auch Kaufmanns historische Arbeiten insbesondere zu Autoren des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sind oft geprägt von der Motivation, in der „Analyse derartiger Texte und der strukturellen Ähnlichkeiten und Unterschiede in den diskutierten Fragestellungen fruchtbare Anstöße für die Gegenwartsdiskussion [zu] liefern“4 und so zwischen Geschichte und Gegenwart zu vermitteln, ohne dabei direkte Antworten auf aktuelle Problemlagen zu erwarten. Darin und auch in einem achtenden Sinn für kulturelle Differenzen liegen weitere Gemeinsamkeiten zwischen Kaufmann und Vico. Der Neapolitaner versteht die Natur des Menschen nicht als festgelegt, unveränderlich und endgültig, sondern dem historischen Wandel unterworfen.5 Dieser Wandel macht sich nicht nur in den Veränderungen der menschlichen Sprache und in den Mythen, sondern auch in Beziehung auf das Recht bemerkbar, das man jeweils als der Natur des Menschen angemessen deutet. Dabei geht Vico dennoch von einem Naturrecht aus, das der menschlichen Rationalität konform, universal und dauerhaft ist. Allerdings wird es nicht immer überall gleich erkannt und entwickelt sich mit der Geschichte. In der Entwicklung seines Werkes von De Universi Juris Principio Uno et Fine Uno im Jahr 1721 zur dritten Auflage seines Hauptwerkes, der Scienza Nuova, von 1744 zeigt sich eine stärkere Akzentuierung der Veränderung menschlicher Natur und des ihr entsprechenden Rechts, doch bleiben kontinuierlich sowohl der Wandel, als auch die konstanten und universellen Elemente präsent. Peter Burke hat es als „eines der entscheidenden Merkmale von Vicos Denken [bezeichnet], daß er die innere Entwicklung einer Gesellschaft oder 2  Dass Vico unter vielen anderen Historiker wie Jules Michelet und Hayden White, Juristen wie Friedrich Carl von Savigny, Dichter wie Samuel Coleridge und James Joyce, Philosophen wie Wilhelm Dilthey, Isaiah Berlin und Alasdair MacIntyre, Nationalökonomen wie Josef Schumpeter faszinierte, mag als zusätzliches Indiz für die Vielschichtigkeit seines Denkens und seiner sprachlichen Darstellung dienen, die allerdings auch immer wieder als dunkel und inkohärent kritisiert wurde. 3  Berlin 2000, S. 14: „he wished to bring all the sciences of man and of his environment, his origins, his history into a single integrated whole. He regarded the frontiers between the human sciences as pedantic and artificial devices, irksome hindrances to self-understanding by human beings in all their illimitably variety and spiritual power, which the tidy categories of philosophers vainly sought to contain.“ 4  Kaufmann 2006, S. 62. 5  Berlin 2000, S. 61.



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Kultur so viel stärker betont als Veränderungen, die von außen bewirkt werden“.6 Vico geht trotz der Unbeständigkeit der menschlichen Natur und der Bedeutung innerer Entwicklungen in Gesellschaft und Kultur von stabilisierenden Elementen wie Ritualen und Institutionen aus, denen folgende Prinzipien zugrunde liegen: „Wir beschließen all das, was allgemein über die Grundlegung der Prinzipien dieser Wissenschaft bemerkt worden ist: daß, da ihre Prinzipien sind göttliche Vorsehung, Mäßigung der Leidenschaften durch die Ehe und Unsterblichkeit der menschlichen Seelen mit den Bestattungen und da das Kriterium, das sie gebraucht, dies ist, daß das, was von allen oder der Mehrzahl der Menschen als gerecht empfunden wird, die Regel des geselligen Lebens sein muss […], diese die Grenzen der menschlichen Vernunft sein müssen.“7

Daneben treten Ideen wie die einer mentalen Sprache, eines Gemeinsinns (senso comune) der Menschheit und das Konzept einer ewigen idealen Geschichte, mit der die göttliche Vorsehung die menschlichen Fügungen lenkt, wobei kulturellen Besonderheiten große Bedeutung zukommt. Laut Isaiah Berlin hat Vico eine klare Vorstellung von Kultur oder historischem Wandel wie kaum jemand zuvor. Er beschreibt Vicos Begriff der Interkulturalität wie folgt: „Für Vico besteht der individuelle Charakter jeder Gesellschaft, Kultur, Epoche aus Faktoren und Elementen, die sie mit anderen Perioden und Zivilisationen gemeinsam haben mag, von denen aber jedes einzelne Muster von allen anderen unterscheidbar ist; und als Folge davon bezeichnet das Konzept des Anachronismus das mangelnde Bewusstsein für eine verständliche, notwendige Nachfolgeregelung, der solche Zivilisationen gehorchen.“8 Geschichte ist für Vico das ordnende Verfahren, ein vertiefendes Verständnis der Welt zu bewahren, von Gefühls-, Handlungs- und Ausdrucksformen, von 6  Burke

1990, S. 71–72. Principi Scienza Nuova, 1744 (ND 2009), § 360, S. 157–158. Hervorhebungen im Original. 8  Ich habe übersetzt nach Berlin 2000, S. 10: „For Vico the individual character of every society, culture, epoch is constituted by factors and elements which it may have in common with other periods and civilisations, but each particular pattern of which is distinguishable from all others; and, as a corollary of this, the concept of anachronism denotes lack of awareness of an intelligible, necessary order of succession which such civilisations obey. I doubt if anyone before Vico had a clear notion of culture or historical change in this sense.” Bei aller Euphorie Berlins kann Vico „mit seinen Äußerungen über den schwachen Verstand früherer Kulturen sicherlich nicht als politisch korrekt“ eingestuft werden, Kaufmann 2006, S. 74. Dennoch bestehe die Besonderheit Vicos darin, „dass er die poetische, mythische und metaphorische Form der Äußerung politischer, ethischer und rechtlicher Auffassungen ohne Schwierigkeiten respektieren und ernst nehmen und ihren Inhalt zum Gegenstand politischer Diskussion machen kann.“ Ebd. 7  Vico,

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denen jede aus ihrem Vorgänger herauswächst und ihn ersetzt. Zu jeder Art oder Kultur gehören notwendigerweise einige Merkmale, die in keiner anderen vorkommen.9 Nach Vico sind Kulturen dabei nicht voneinander isoliert; eine Kultur kann eine andere beeinflussen, allerdings nur in dem Maße, wie es durch den jeweiligen Schritt in dem Zyklus ermöglicht wird, den sie zufällig erreicht hat; dabei kann eine Kultur durch eine Invasion oder eine andere Katastrophe zerstört werden, bevor sie ihren Zyklus beendet − die ewige ideale Geschichte wird sich nur dann vollenden, wenn es keine Einmischung gibt: Dies hängt von der Vorsehung ab, deren Wege letztlich unveränderlich sind.10 Die göttliche Vorsehung nimmt eine bestimmte, nicht zu unterschätzende Funktion ein und ist durch die Fähigkeiten der Menschen wirksam. Matthias Kaufmann hat darauf hingewiesen, dass die Vorsehung nicht nur Ausdruck des Katholizismus in Vicos Denken sei, sondern auch eine funktional erklärende Rolle einnähme.11 Der Rückgriff auf die Vorsehung habe in einigen Aspekten eine institutionentheoretische Komponente, insofern menschliches Verhalten in den geschaffenen Institutionen hinter dem Rücken der Akteure, unabhängig von ihren Alltagsplänen reguliert wird, wie später noch deutlich wird. Zunächst sei betont, dass Vico sich als Wegbereiter für einen interkulturellen Dialog auszeichnet, der alle Beteiligten mit ihren Sprachen, ihren Formen des Gemeinsinns und ihren Institutionen ernst nimmt und zugleich nach einem universellen Gemeinsinn und einem Weg zu humaneren Formen des Rechts sucht – ein Charakteristikum, das ihn für unsere gegenwärtigen politischen Diskussionen zu einem interessanten „Gesprächspartner“ macht und nachvollziehen lässt, warum Kaufmann ihn zum Gegenstand seiner oben beschriebenen Analyse gewählt hat. Insbesondere Vicos Begriff des Gemeinsinns eignet sich als Gegenstand einer solchen Untersuchung. Zu Beginn seiner Scienza Nuova bestimmt er die Geselligkeit als Haupteigenschaft der menschlichen Natur, die sich gemäß der göttlichen Vorsehung in der Gerechtigkeit bestätigt: „[Die Philosophen] haben ihn noch nicht von jener Seite betrachtet, die den Menschen eigentümlicher ist, zu deren Natur als Haupteigenschaft gehört, gesellig zu sein. Aus Vorsorge für diese Eigenschaft hat Gott die menschlichen Dinge derart geordnet und eingerichtet, daß die Menschen, durch den Sündenfall von der vollkommenen Gerechtigkeit abgefallen und darauf erpicht, fast immer etwas ganz Verschiedenes und häufig genug geradezu ganz Entgegengesetzes zu tun (weswegen sie, um ihren Vorteil zu erreichen, wie wilde Tiere einsam lebten), gerade auf diesen ihren verschiedenen und entgegengesetzten Wegen durch ihren Vorteil selbst 9  Berlin

2000, S. 55. S. 98. 11  Kaufmann 2006, S. 67. 10  Ebd.,



Vicos interkultureller Gemeinsinn193 dahin gebracht wurden, als Menschen mit Gerechtigkeit zu leben, sich in Gesellschaft zu erhalten und auf diese Weise ihre gesellige Natur zu bestätigen; diese wird in vorliegendem Werk als die wahre politische Natur des Menschen erwiesen werden, so daß auf diese Weise bewiesen werden kann, daß es von Natur aus ein Recht gibt. Dieses Vorgehen der göttlichen Vorsehung ist eines der Dinge, mit dessen Erörterung sich diese Wissenschaft vornehmlich befaßt; wegen dieses Gesichtspunktes wird sie daher zu einer rationalen politischen Theologie der göttlichen Vorsehung.“12

Vico zeichnet zunächst kein positives Bild der Menschen, aber die göttliche Vorsehung führt den Menschen zu seiner wesentlichen Bestimmung, zu seiner geselligen Natur: Auch wenn die Menschen postlapsal auf verschiedene Weise ihren eigenen Vorteil verfolgen, führt sie gerade dieses nahezu zwanghafte Streben nach dem individuellen Vorteil zur Gerechtigkeit, da sie innerhalb der Grenzen ihrer Vernunft erkennen, nur in geselliger Gerechtigkeit ihren Vorteil verfolgen zu können. Daher kann Vico die Vorsehung als rational und politisch bestimmen, die ohne Abfall der menschlichen Natur durch den Sündenfall wirkungslos bliebe, da der Mensch ansonsten keine Gelegenheit hätte, seine gesellige Natur zu bestätigen. Dieser liegt die göttliche Gerechtigkeit zugrunde, die dem Menschen durch die Vorsehung zuteil wird. So wird auch deutlich, warum Vico seine „neue Wissenschaft“ als rationale politische Theologie der göttlichen Vorsehung bestimmt, die die gesellige Natur eines auf den ersten Blick ziemlich ungeselligen Wesens analysiert: „Aber da die Menschen wegen ihrer verderbten Natur von der Selbstsucht tyrannisiert werden, vermöge deren sie hauptsächlich nur ihren eigenen Vorteil verfolgen, und da sie daher allen Nutzen für sich und nichts für ihren Nächsten wünschen, so können sie nicht ihren Leidenschaften den Impuls geben, der sie auf die Gerechtigkeit hin ausrichten würde. Daher legen wir fest, dass der Mensch im tierischen Zustand allein seine Wohlfahrt liebt; hat er eine Frau genommen und Kinder gezeugt, so liebt er seine Wohlfahrt zugleich mit der Wohlfahrt der Familien; ist er zu politischem Leben gelangt, so liebt er seine Wohlfahrt zugleich mit der Wohlfahrt der Städte […]; sind die Völker durch Kriege, Friedensschlüsse, Bündnisse, Handelsverkehr geeint, so liebt er seine Wohlfahrt zugleich mit der Wohlfahrt des ganzen Menschengeschlechts: der Mensch liebt in all diesen Umständen hauptsächlich den eigenen Vorteil. Daher kann er von niemand anderem als der göttlichen Vorsehung innerhalb solcher Institutionen gehalten werden, um mit Gerechtigkeit in der familiären, der politischen und schließlich der menschlichen Gesellschaft zu leben; durch diese Institutionen wird der Mensch, da er nicht erlangen kann, was er will, dazu geführt, wenigstens den Vorteil erlangen zu wollen, der ihm zukommt: dies ist das, was man ‚gerecht‘ nennt. Daher ist die Gerechtigkeit, die alles, was unter den Menschen gerecht ist, regelt, die göttliche Gerechtigkeit, die uns durch die göttliche Vorsehung zuteil wird, um die menschliche Gesellschaft zu erhalten. 12  Vico, Principi Scienza Nuova, 1744 (ND 2009), Einleitung, S. 4. Hervorhebungen im Original.

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Daher muß diese Wissenschaft nach einem ihrer Hauptgesichtspunkte eine rationale politische Theologie der göttlichen Vorsehung sein.“13

Diese funktional erklärende Rolle der Vorsehung innerhalb Vicos rational politischer Theologie der göttlichen Vorsehung fasst Kaufmann neben der bereits genannten institutionentheoretischen Komponente, die durch das letzte Zitat deutlich geworden ist, nun darin zusammen, „dass Menschen sich trotz völlig anderer Motive sozialverträglich, ja zum Nutzen der Gemeinschaft verhalten“.14 Damit ist laut Vico der Beweis für die Existenz eines Rechts, das von Natur aus besteht, und das jedem gibt, was ihm zusteht, erbracht. Dieses auf göttlicher Gerechtigkeit fußende Recht schafft Institutionen, die den Menschen zu seiner geselligen Natur führen. Man könnte Vico auch so verstehen, dass die göttliche Vorsehung den seiner verdorbenen Natur folgenden Menschen austrickst, indem sie sein Vorteilsstreben durch die Institutionen sozialverträglich macht, in gerechte Bahnen lenkt und ihn somit in seiner Haupteigenschaft, seiner geselligen Natur bestätigt. Zwar glaubt der Mensch, Institutionen für den Zweck der Verfolgung seines Vorteils zu schaffen, doch ist genau dieses Zusammenkommen der Menschen, quasi kollektiv Interessen zu verfolgen, Teil der göttlichen Vorsehung, die damit den Menschen in seiner Geselligkeit bestätigt. Laut Kaufmann gewinnt Vicos ­ Konzept der ewigen idealen Geschichte als ordnendes Verfahren durch die gött­liche Vorsehung Stabilität, „unabhängig von den Intentionen der darin handelnden Menschen“.15 Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass Vico die Geschichte als von Menschen gemacht auffasst. Kaufmann erklärt es als konstitutives Prinzip von Vicos Erkenntnislehre, dass der Mensch nur erkennen könne, was er selbst gemacht habe.16 In der Erkenntnis der ewigen idealen Geschichte zeigt sich Vicos Interkulturalität, die integraler Bestandteil der rationalen politische Theologie ist, nun sehr deutlich: Die von Menschen gemachte Geschichte besteht aus den unterschiedlichen Geschichten der verschiedenen Völker. In der so bestimmten Geschichte „entdeckt der menschliche Geist die ewige ideale Geschichte, welcher er sich in seiner Erkenntnis jedoch stets nur annähern kann, da sie ihrerseits von Gott gemacht wurde“.17 Geschichte wird also als Summe der interkulturellen Geschichten bestimmt, durch die der Mensch zu einem Verständnis der Welt gelangen kann. 13  Vico, Principi Scienza Nuova, 1744 (ND 2009), §§ 341−342, S. 149−150. Hervorhebungen im Original. 14  Kaufmann 2006, 67 mit Bezug auch auf §§ 132, 629, 1108 und 953 der Scienza Nuova. 15  Ebd., S. 68. 16  Ebd. 17  Kaufmann 2006, S. 69 mit Bezug auf Cacciatore 2002, S. 109−139.



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Dem vichianischen Gemeinsinn als zentralem Element der rationalen politischen Theologie der göttlichen Vorsehung muss einerseits diese Interkulturalität inhärent sein, andererseits muss er sich als menschlicher Gemeinsinn durch Universalität auszeichnen, wenn alle Kulturen ihn teilen können sollen. Und mit Bezug auf die göttliche Vorsehung stellt sich die Frage, welche Funktion ein solcher Gemeinsinn in Vicos Konzept erfüllt, wenn doch die göttliche Vorsehung, durch die den Menschen die göttliche Gerechtigkeit zuteil wird, die gesellige Natur des Menschen bereits bestätigt. Um diese Punkte zu klären, muss Vico zunächst (etwas ausführlicher) zum Gemeinsinn zitiert werden: „Dieser Gemeinsinn ist ein Urteil ohne jede Reflexion, allgemein empfunden von einem ganzen Stand, einem ganzen Volksstamm, einem ganzen Volk oder dem ganzen Menschengeschlecht. […] Entstehen gleichförmige Ideen bei ganzen Völkern, die miteinander nicht bekannt sind, so müssen sie einen gemeinsamen wahren Hintergrund haben. Dieser Grundsatz ist ein großes Prinzip, das festlegt, daß der Gemeinsinn des Menschengeschlechts das Kriterium ist, das die göttliche Vorsehung die Völker gelehrt hat, um das Gewisse bezüglich des natürlichen Rechtes der Völker zu bestimmen; dessen vergewissern sich die Völker, indem sie die wesentlich einheitlichen Aspekte dieses Rechts erkennen, in denen sie, mit verschiedenen Modifikationen, alle übereinstimmen. Daraus geht das geistige Wörterbuch hervor, das all den verschiedenen artikulierten Sprachen ihre Ursprünge gibt; in ihm ist die ewige ideale Geschichte abgefaßt, die uns die Geschichte aller Völker in der Zeit gibt; […]. Eben dieser Grundsatz stürzt auch alle Vermutungen um, die man bisher über das natürliche Recht der Völker gehabt hat; man glaubte, es sei von einem ersten Volk ausgegangen, von dem die anderen es übernommen hätten; dieser Irrtum wurde zum Ärgernis durch die Ägypter und die Griechen, die sich eitlerweise rühmten, die Humanität sei von ihnen in die Welt gesät worden; dieser Irrtum musste natürlich das Zwölftafelgesetz von den Griechen zu den Römern kommen lassen. Aber auf diese Weise wäre es ein Zivilrecht, das durch menschliche Vorkehrung anderen Völkern mitgeteilt, und nicht ein Recht, das zusammen mit den menschlichen Sitten auf natürliche Weise von der göttlichen Vorsehung in allen Völkern eingeführt wurde. Dies wird eine der ständigen Anstrengungen sein, die in diesen Büchern unternommen werden wird: zu beweisen, daß das natürliche Recht der Völker gesondert bei allen Stämmen entstand, und daß es später, bei Gelegenheit von Kriegen, Gesandtschaften, Bündnissen und Handelsbeziehungen, als dem ganzen Menschengeschlecht gemeinsam erkannt wurde.“18

Vicos Ausführungen über den Gemeinsinn lassen sich wie folgt zusammenfassen. Der Gemeinsinn •• ist ein intuitives Urteil aller Menschen; •• bringt gemeinsame Ideen bei einander nicht bekannten Völkern hervor, die daher einen gemeinsamen wahren Hintergrund haben müssen; 18  Vico, Principi Scienza Nuova, 1744 (ND 2009), §§ 142−146, S. 93−94. Hervorhebungen D. S.

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•• ist das Kriterium, das die göttliche Vorsehung die Völker gelehrt hat, um das Gewisse bezüglich des natürlichen Rechtes der Völker zu bestimmen und somit die menschlichen Sitten auf natürliche Weise von der göttlichen Vorsehung in allen Völkern einzuführen; •• bringt den Völkern die Erkenntnis wesentlicher Aspekte des natürlichen Rechts, in denen sie alle übereinstimmen. Diese Erkenntnis wird von allen Völkern gleichermaßen geleistet. Das natürliche Recht geht daher aus der Interkommunikation der Völker hervor; •• schafft ein geistiges Wörterbuch, das trotz verschiedener Sprachen die ewige ideale Geschichte beinhaltet; •• bringt letztlich die Humanität hervor als Erkenntnis des natürlichen Rechts. (Das natürliche Recht der Völker ist für Vico also nicht nur Teil des Naturrechts − etwas als Völkerrecht (ius gentium) −, sondern ist das Naturrecht.) Der Verdacht, dass dem Gemeinsinn die Interkulturalität inhärent ist, hat sich bestätigt: der Gemeinsinn ist das Kriterium zur Erkenntnis der naturrechtlichen Grundsätze, zu der die Völker nur im interkulturellen Austausch gelangen. Die Universalität liegt dabei der Interkulturalität zugrunde, da diese Erkenntnis nur vollzogen wird, indem alle Völker sie leisten und so das natürliche Recht (wie die ewige ideale Geschichte) schaffen, das als für alle verbindlich aufzufassen ist. Cacciatore beschreibt dieses Verhältnis treffend als „reziproke Verknüpfung zwischen der Ordnung der Gemeinschaft und dem Gemeinsinn der Differenz“.19 Der Gemeinsinn erfüllt in rechtlicher oder politischer Hinsicht die Funktion „einer moralischen Orientierungs- und Entscheidungshilfe, der Stabilisierung der moralischen Gewissheiten und der Vermeidung von sozialschädlichen Exaltiertheiten“.20 Diese Funktion resultiert aus der Funktion des Gemeinsinns als eines Mediums zwischen göttlicher Vorsehung und der Vielfalt menschlicher Erkenntnis der Völker,21 wobei diese Erkenntnis auf einem al19  Cacciatore 2002, S. 194, Hervorhebungen im Original und weiter dazu: „Die natürlichen Prinzipien der Soziabilität und der Politizität verbleiben nicht unveränderlich in der Vollkommenheit der universalen Vernunft, sie müssen immer von neuem erkannt und in der historischen Differenz des Gemeinsinns wieder aufgefunden werden, in dem, was in der Geschichte gewöhnlich in der anthropologischen, geistigen und linguistischen Verschiedenheit der Menschen wiederkehrt.“ 20  Kaufmann 2006, S. 73. 21  In der Bestimmung des Gemeinsinns als Medium weiche ich von Cacciatore 2002, S. 194 ab: „Der Gemeinsinn gestattet es also, im Medium der historischen Erfahrung die allgemeinen Prinzipien und Formen der Gemeinschaft, des sprachlichen, sozialen und ethischen Wesens der menschlichen Welt zu erkennen.“ (Hervorhebungen im Original.) Meine Bestimmung des Gemeinsinns als Mediums „direkt“ (und nicht der historischen Erfahrung als Medium) scheint mir aufgrund des oben genann-



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len Völkern gemeinsamen „Instinkt der Sozialisierung“22 beruht. Die göttliche Gerechtigkeit bietet dabei den gemeinsamen wahren Hintergrund, wenn der Gemeinsinn unterschiedliche Völker mit verschiedenen Kulturen die gleichen Ideen haben lässt. Damit bietet der Gemeinsinn „der Wissenschaft die Möglichkeit, sich einen Zugang zur Welt des Wahrscheinlichen zu schaffen“, wie Cacciatore betont.23 Hierbei trete der politische Charakter der Philosophie Vicos klar hervor, „da der Prozeß der Vergewisserung der Differenzen, der durch den Gemeinsinn möglich wurde, uns zu den ursprünglichen politischen und gemeinschaftlichen Ordnungen (den Prinzipien) der Menschen führt“.24 Doch übernimmt der Gemeinsinn noch eine weitere Funktion, auf die Kaufmann hinweist und die Vico von dem Verdacht befreit, den Menschen in seiner geselligen Natur mit göttlicher Vorsehung und Gemeinsinn in unnötig doppelter Weise zu bestätigen: „Es ist demnach gerade die Vielfalt, in welcher die Menschen die grundlegenden Prinzipien ihres Zusammenlebens herausbilden, die trotz des Wirkens der göttlichen Vorsehung ihren freien Willen beweist.“25 Mit anderen Worten: Im Gemeinsinn wirkt die göttliche Vorsehung und somit wird den Menschen die göttliche Gerechtigkeit zuteil, wobei der Mensch daran durch seine Erkenntnis einen eigenen, freien Anteil hat. Die durch den Gemeinsinn erkannten Grundsätze des natürlichen Rechts sind Teilhabe des Menschen an der göttlichen Gerechtigkeit,26 die der Mensch durch seine Erkenntnis aus dieser schafft. Vico vollzieht so also eine Harmonie zwischen menschlicher Erkenntnis und göttlicher Vorsehung, die nur vor dem Hintergrund seiner Interkulturalität zu verstehen ist, da Erkenntnis ohne den Gemeinsinn aller Menschen nicht möglich ist. Im Anschluss an Matthias Kaufmann, der vorschlägt, bei Vico von „Ge­ mein­sinnen“27 anstatt „Gemeinsinn“ zu sprechen, lässt sich die These aufstellen, dass Vico „Mensch“ immer schon interkulturell denkt, als Mensch-en verschiedener Kulturen, die einen gleichwertigen Beitrag an der menschliten Vico-Zitats treffender, indem der „Gemeinsinn des Menschengeschlechts das Kriterium ist, das die göttliche Vorsehung die Völker gelehrt hat, um das Gewisse bezüglich des natürlichen Rechtes der Völker zu bestimmen“ und welches „das geistige Wörterbuch hervor[bringt], das all den verschiedenen artikulierten Sprachen ihre Ursprünge gibt; in ihm ist die ewige ideale Geschichte abgefaßt, die uns die Geschichte aller Völker in der Zeit gibt.“ 22  Cacciatore 2002, S. 191. 23  Ebd., 205. Hervorhebung im Original. 24  Ebd. Hervorhebung im Original. 25  Kaufmann 2006, S. 73. 26  So bestimmt Kaufmann 2006, S. 72 den Gemeinsinn bei Vico „in erster Annäherung als kollektive moralische Intuition“. 27  Ebd.

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chen Geschichte und Natur tragen. Solange die Gleichheit der Menschen als Grundlage menschlicher Gemeinschaften betrachtet wird, dürfte Vico als Gesprächspartner attraktiv bleiben. Literaturverzeichnis Berlin, Isaiah: Three Critics of the Enlightenment. Vico, Hamann, Herder. Henry Hardy (Ed.), Princeton, New Jersey 2000. Burke, Peter: Vico. Philosoph, Historiker, Denker einer neuen Wissenschaft, Frankfurt am Main 1990. Cacciatore, Giuseppe: Metaphysik, Poesie und Geschichte. Über die Philosophie von Giambattista Vico. Matthias Kaufmann (Hrsg.), Berlin 2002. Kaufmann, Matthias: Giambattista Vicos Gemeinsinn als Vermittler zwischen Universalismus und kultureller Differenz, in: Axel Rüdiger/Eva-Maria Seng (Hrsg.), Dimensionen der Politik: Aufklärung – Utopie – Demokratie. Festschrift für Richard Saage zum 65. Geburtstag, Berlin 2006, S. 61–77. Vico, Giambattista: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (Principi di una scienza nuova d’intorno alla communa natura delle nazioni 1744), übersetzt von Vittorio Hösle/Christoph Jermann, Hamburg 2009 (Vico, Principi Scienza Nuova).

Domingo de Soto: Vom ius peregrinandi zum Recht auf Migration Von Jörg Alejandro Tellkamp I. Einleitung Es kommt nicht allzu häufig vor, dass ein philosophiehistorisches Thema intuitiv aktuelle Problemlagen evoziert. Ein solches ist die Armutsdebatte, die in Spanien Mitte des 16. Jahrhunderts kontrovers geführt wurde und die, aus der sozialtheoretischen Perspektive, auf die Frage nach der Legitimität von Migrationsbewegungen bezogen wird. Mittelamerikaner, die durch Mexiko in die USA gelangen wollen, bestimmen die Nachrichten ebenso wie Schwarz- und Nordafrikaner, die, indem sie das Mittelmeer überqueren, nach Europa gelangen. Doch genauso bestimmen die Nachrichten die Reaktionen darauf, die besonders dann für Diskussionen sorgen, wenn den Migranten der Zugang zu einem bestimmten Staat verweigert wird.1 Die Ausgrenzung von Migranten scheint im Allgemeinen demselben Muster zu folgen, wobei eine ansässige Bevölkerung auf nationale, kulturelle, religiöse und sonstige Identifikationsmerkmale und daher auf Rechte pocht, die ihnen, aber nicht den Migranten zustünden. Dementsprechend hat sich Migration zu einem der bedeutendsten sozialen und politischen Phänomene des beginnenden 21. Jahrhunderts entwickelt, das auf Druck einer polarisierenden Diskussionsführung teils bewusst, teils gewollt am Rande der Grenzen argumentativer Rationalität geführt wird. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass dies im 16. Jahrhundert nicht viel anders war und dass die Frage danach, ob Migranten aufgenommen werden sollten oder ausgegrenzt werden müssen, kontrovers geführt wurde. Vieles hing, so wie heute, von einer Definition der Gründe, die zu Migration führen, ab. Zum einen scheint der wirtschaftlich-soziale Aspekt von Mi1  Ich werde im Folgenden von Migranten und nicht von Flüchtlingen sprechen, da, wie die Erörterung von Domingo de Sotos Theorie ergeben soll, der größte Anteil der Menschen, die ihren Wohnort verlassen, dies aus wirtschaftlichen Gründen tun, während von Flüchtlingen dann die Rede ist, wenn jemand vor Krieg und Gewalt flieht. Dass sich beide Kategorien überschneiden können, scheint hierbei selbstverständlich zu sein.

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gration ausschlaggebend zu sein. Wer arm ist, zieht in andere Gebiete, wenn es ihm dort in materieller Hinsicht besser gehen könnte.2 Das heißt natürlich nicht, dass jede arme Person dies auch tut. Zum anderen sind die normativen Vorstellungen, die auf Aufnahme oder Ausgrenzung abzielen, zu beachten. Gibt es eine moralische Pflicht zur Aufnahme? Gibt es ein Recht auf Ausgrenzung? In den folgenden Überlegungen werde ich mich hauptsächlich diesen beiden Fragen widmen, um nachzuweisen wie, ausgehend von Francisco de Vitoria (1486–1546) und Domingo de Soto (1494–1560) eine Theorie entsteht, die, am Leitfaden des ius peregrinandi, eine Pflicht zur Aufnahme von Armen formuliert. Der in diesem Beitrag relevante Zeitraum erstreckt sich von 1535 bis zum Beginn der Armendebatte zwischen Domingo de Soto und Juan de Robles (1492–1572) im Jahr 1545, wobei es mir in erster Linie um die terminologischen Grundlagen geht, auf denen sie beruht und nicht so sehr um den geschichtlichen Kontext, auf den ich allerdings kurz eingehen werde. Aus diesem Grund werde ich zunächst die Standpunkte Sotos und Francisco de Vitorias charakterisieren und das Grundmodell einer moraltheologisch inspirierten Theorie der Migration am Beispiel des ius peregrinandi versuchen herauszuarbeiten. In einem zweiten Schritt werde ich auf Domingo de Sotos Schrift In causa pauperum deliberatio eingehen, um die Grundelemente seiner durchaus moralisch libertären Theorie der Migration von Armen nachzuzeichnen. Auch wenn Soto in diesem Zusammenhang zu den Verlierern einer überaus kontroversen Debatte gehört, so soll sich zeigen, dass Teile seines Denkens im 21. Jahrhundert immer noch zum Denken anregen können. II. Ius peregrinandi und dominium commune bei Vitoria und Soto Die Grundidee des ius peregrinandi wurde von Francisco de Vitoria in prägnanter Weise ausgearbeitet. Er stellt fest, die Gründe einer Zuwanderung von Spaniern in zuvor nicht besetzte Gebiete Amerikas müsse gewissenhaft geprüft werden, in erster Linie, um sicher zu gehen, dass die politische Ausweitung des spanischen Imperiums auf dem amerikanischen Kontinent rechtens und richtig ist. In diesem Zusammenhang führt er den Begriff des ius peregrinandi ein, das man als ein fundamentales Recht zur Freizügigkeit verstehen kann und welches Vitoria zufolge vom Völkerrecht (ius gentium) 2  Wie noch zu sehen sein wird, lag in der Diskussion des 16. Jahrhunderts viel an der Frage, wer überhaupt als genuin arm bezeichnet werden kann und nicht nur vorgibt, arm zu sein. Im Allgemeinen kann man feststellen, dass Armut nicht nur durch quantitative Merkmale bestimmt wird (bspw. wie viel Geld nötig ist, um zu leben), sondern auch qualitative, auf eine adäquate Lebensführung bezogene materielle und immaterielle Güter, etwa Erziehung, Arbeit usw.



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begründet wird. Dieses Recht ist freilich in dem Sinn einzuschränken, als die Freizügigkeit die bereits bestehenden Rechte der indigenen Bevölkerung nicht einschränken dürfe und ihnen aus dem Zuzug von Spaniern kein Schaden entstehen dürfe. Vitoria war also daran gelegen, moralisch-theologische Richtlinien zu benennen, nach denen die imperiale Ausweitung Spaniens letztlich dem Seelenheil der Urbevölkerung dienen müsse und nicht, oder zumindest nicht in erster Linie, wirtschaftlichen Interessen untergeordnet werden dürfe. Sollte aber dieses Recht auf Freizügigkeit auf gewalttätigen Widerstand treffen, so wären die Spanier durchaus darin gerechtfertigt einen gerechten Krieg zu führen, dessen Ausgang wiederum mit der politischen Einverleibung jener Territorien einhergeht. Domingo de Soto, der üblicherweise als Schüler Vitorias angesehen wird, scheint in wesentlichen Aspekten von dessen Lehren abzuweichen, nämlich insofern er zwar den völkerrechtlichen Grundlagen des ius peregrinandi zustimmt, sie aber, wie noch zu sehen sein wird, umdeutet. Die theoretischen Grundlagen hierfür werden in seiner Relectio de dominio vorgezeichnet und finden in der Abhandlung In causa pauperum deliberatio eine konkrete Anwendung auf den Fall der Migration von Armen und Bettlern in Spanien. Die Auseinandersetzung mit diesem konkreten Problem wurde in der Folge des sogenannten Tavera-Gesetzes von 1540 nötig, in welchem politische und soziale Kontrollen der Migration von Armen eingefordert wurden. In einer Art Ferndebatte mit Juan de Robles führt Soto in erster Linie moralische Argumente an, um den Armen in ihrer Not zu helfen und ihnen Zugang zu wohlhabenderen Orten zu verschaffen, ohne der ansässigen Bevölkerung Nachteile zu verschaffen. In seiner vielleicht bekanntesten Vorlesung, der Relectio de indis vom 1. Januar 1539, setzte sich Francisco de Vitoria bekanntermaßen mit den Gründen auseinander, nach denen die Spanier einen Rechtsanspruch auf politische Herrschaft in den von ihnen entdeckten Gebieten Amerikas geltend machen können und zwar in der Art, dass dieser auch im Gewissen (conscientia) als sicher gelten kann.3 Nachdem er zunächst die Legitimität der privaten und territorialen Besitztümer der Urbevölkerung am Leitbegriff des dominium herausgearbeitet und deren Rechtmäßigkeit festgestellt hat, geht er anschließend dazu über, sieben Rechtstitel (tituli) zu diskutieren, nach denen die politische Hoheit der Spanier in Amerika möglich sein soll. Er lehnt sämtliche Gründe ab, etwa, dass das Vergehen gegen das Naturrecht eine Übertragung politischer Gewalt legitimieren kann oder, beispielsweise, dass der Kaiser Herr der Welt (totius orbis dominus) sei. Da allerdings Vitoria 3  Über die Theorie des ius peregrinandi siehe ausführlicher Allemann 2019, S. 35–55, Salamanca 2015, S. 14–21, Añaños Meza 2012, S. 525–596 und aus der postkolonialen Perspektive Anghie 2005, S. 13–31.

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davon auszugehen scheint, dass die de facto Machtausübung der spanischen Könige auf amerikanischem Boden grundsätzlich legitim ist, sieht er es als erforderlich an, auf allgemeine Prinzipien zurückzugreifen, nach denen diese Machtausübung eben quasi ex post begründet werden kann und somit das Gewissen des Herrschers beruhigt werden kann.4 In diesem Zusammenhang führt er die Idee legitimer Rechtstitel ein, die Vitoria schlicht als tituli bezeichnet. Im dritten Abschnitt der Relectio de indis führt er den ersten und, wie es scheint, grundlegenden Rechtstitel in Form einer zu begründenden conclusio ein, der auf „der natürlichen Gesellschaft und [des natürlichen] Austauschs (titulus naturalis societatis et communicationis)“ beruht.5 Er scheint davon auszugehen, dass – ganz aristotelisch – der Mensch die in seiner Natur angelegte Ausrichtung hat, mit anderen zu leben.6 Doch nicht nur dies ist in der menschlichen Natur angelegt, sondern auch das aktive Überbrücken von Entfernungen, um so die Gemeinschaft auszuweiten, zum Beispiel durch Handel. Diese aktive Ausrichtung auf andere Menschen oder Völker siedelt Vitoria im Rückgriff auf die Institutiones im Völkerrecht an: Der Schluß wird erstens mit dem Völkerrecht bewiesen, das entweder natürliches Recht ist oder aus dem natürlichen Recht hergeleitet wird: Was die natürliche Vernunft unter allen Völkern festgesetzt hat, heißt Völkerrecht. Bei allen Nationen gilt es als unmenschlich, Fremde und Reisende ohne besonderen Grund schlecht zu behandeln, andererseits aber als menschlich und pflichtmäßig, sich gegenüber Fremden gut zu verhalten.7

Das ius peregrinandi hat also einen allgemeinen, normativen Charakter, der durch die Regelmäßigkeiten sozialen Verhaltens unter Menschen gewährleistet wird. Es ist hierbei wichtig darauf hinzuweisen, dass Vitoria es zum Prinzip erhebt, ohne dabei auf bestehende Grenzen oder Territorien zu ach4  In der Einleitung zu De indis stellt Vitoria fest, die Diskussion wäre „nutzlos und müßig“, schließlich hätten die „Herrscher [die Gebiete] im guten Glauben besetzt behalten“ (S. 373). Dennoch erachtet er eine Diskussion über die Rechtstitel insofern für nötig, als aus der moralischen Perspektive Zweifel angebracht sind, selbst wenn die Gründe an sich legitim sind: „Wenn daher jemand ohne den Rat der Weisen (sine consilium doctorum) einen Vertrag abschlösse, über dessen Erlaubtheit unter den Menschen Unklarheit besteht, würde er zweifellos sündigen, auch wenn ein solcher Vertrag ansonsten erlaubt wäre und der Betreffende nicht auf der Grundlage der Autorität eines Weisen, sondern kraft eigenen Gefühls und Urteils dieser Meinung wäre“ (S. 377). Die hier benutzte Ausgabe ist Vitoria 1997. 5  Hier folge ich der Übersetzung Stübens und Justenhovens nicht, die eher an Tönnies denken lässt als an Vitoria. Mit communicatio ist vielmehr ein aktiver Austausch zwischen Individuen und Völkern gemeint. Siehe auch Añaños Meza 2012, S. 574–577. 6  Dies ist auch ganz deutlich in der Relectio de potestate civili von 1529 zu sehen. 7  Vitoria 1997, S. 461.



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ten.8 Es ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass diese anscheinend undifferenzierte Sichtweise zur Rechtfertigungsstrategie imperialer Ausweitung benutzt worden ist. Ob dem so ist, sei dahingestellt, relevant ist aber die normative Grundstruktur von Migrationsbewegungen, verbürgt durch das ius gentium, nach dem jeder sich frei in fremden Territorien bewegen kann, solange dadurch der ansässigen Bevölkerung kein Schaden zugefügt wird. Auch wenn das Kurzformat einer Relectio keine ausschweifenden Erläuterungen zu den theoretischen Grundlagen der Behauptungen freier Migrationsbewegungen zulässt, so kann man zumindest festhalten, dass bei Vitoria diese auf gewissen Mindestanforderungen beruhen, vor allem aber auf der Annahme, dass Wege, Flüsse und Meere iure naturali keiner politischen Gewalt untergeordnet sind, sondern vielmehr aufgrund allgemein akzeptierter Prinzipien (ius gentium) von allen ungehindert genutzt werden können: […] Aufgrund des natürlichen Rechts [ist] allen gemeinsam die Luft, das fließende Wasser, das Meer, ferner Flüsse und Häfen. Und nach dem Völkerrecht dürfen Schiffe von jeder beliebigen Richtung her anlegen. Aus demselben Grund sind die Wege öffentlich. Also darf man niemanden von ihnen fernhalten.9

Es scheint also definitionsgemäß zum Begriff von Transportwegen zu gehören, dass sie keiner politischen Hoheit unterstehen und deswegen von allen genutzt werden können. Ob dies noch den zu Vitorias Zeit üblichen Bräuchen entspricht, ist anzuzweifeln, dennoch ist diese vormodern anmutende Theorie insofern attraktiv, als sie mit wie auch immer zu begründenden Ideen der Migration als Menschenrecht kompatibel zu sein scheint. Dennoch ist bei Vitoria ein implizites Ungleichgewicht auffällig: Seine Theorie bezieht sich nur auf Spanier, die sich auf amerikanischem Boden niederlassen wollen, nicht aber auf Völker, die etwa in Spanien nach neuen Möglichkeiten suchen. Diese Asymmetrie wird bei Domingo de Soto in seiner Schrift De causa pauperum deliberatio zurechtgerückt. Um allerdings seinen Standpunkt von 1545 besser würdigen zu können, ist es nötig auf seine Relectio de dominio von 1535 zurückzugreifen, in der er sich mit den begrifflichen Grundlagen von Besitz und Eigentum auseinandersetzt. Die Relectio ist insofern von Belang, als Soto in ihr eine erste detaillierte Standortbestimmung der Begriffe ius und dominium vornimmt, indem er danach fragt, was dominium eigentlich ist und wer als dominus bezeichnet werden kann.10 8  Bei Luis de Molina sieht das 40 Jahre später schon anders aus; siehe Bach 2012, S. 191–217. 9  Vitoria 1997, S. 463. 10  Da in seinem Hauptwerk De iustitia et iure von 1556 die Lehre des dominium weitgehend unverändert bleibt, werde ich auf diese Schrift nicht eingehen. Ich werde zudem den generischen Terminus dominium verwenden, der als Sammelbegriff für etliche mit Eigentum und Besitz verknüpfte Rechte steht. Soto 1995.

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Das Wesen vom dominium hängt Soto zufolge wesentlich von der Frage nach dem Subjekt ab, von dem gesagt wird, dass es Eigentum u. ä. innehat, wenn es dieses unter dem Gesichtspunkt der Vernünftigkeit aktiv geltend machen kann. In diesem Sinn sind nur Menschen wahre domini.11 Es ist in erster Linie die aktive Ausrichtung auf dominia, verstanden als Rechte, die für die Diskussion relevant wird; Soto greift hierbei auf die juristische und theologische Tradition des 15. Jahrhunderts zurück, nach der dominium als Vermögen (potestas) und Recht (ius) in Bezug auf etwas verstanden wird, nämlich insofern über es ungehindert und aktiv verfügt werden kann.12 Hierbei handelt es sich, um mit Worten Richard Tucks zu sprechen, um aktive ­Rechte.13 Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der bei der Definition von dominia eine Rolle spielt, besteht im ungleichen Verhältnis zwischen Subjekt, dem dominus, und Objekt, von dem gesagt wird, es konstituiere ein dominium. In essenzialistischer Weise wird davon ausgegangen, dass es ontologische Hierarchien gibt und dass aus diesen Rechte abgeleitet werden können, wie dies im Übrigen bereits bei Aristoteles der Fall ist. Ontologisch Höherstehendes kann demnach ein dominium über Niederes entfalten, etwa über Gegenstände. Diese erste Annäherung ist noch unvollständig und deshalb versucht Soto eine genaue Definition von dominium zu formulieren. (a)  Indem er auf die juristische und theologische Tradition des späten Mittelalters zurückgreift, stellt er fest, dass „dominium ein Vermögen oder eine naheliegende Fähigkeit ist, irgendwelche Dinge den vernünftigerweise eingesetzten Gesetzen und Rechten entsprechend auf legitime Weise zu nutzen“.14 Die Bedeutung dieser Definition liegt in der Annahme, dass alle dominia Rechte implizieren, nicht aber, dass alle Rechte auch dominia sind. (b) Dominium kann ergänzend auch folgendermaßen definiert werden: „Es ist zureichend bei der Definition zu sagen, dass es ein Vermögen oder eine Fähigkeit ist, eine Sache zu unserem Gebrauch (usus) zu nehmen“.15 Diese aktive Bedeutung von dominium als Gebrauch wird für Soto in Bezug auf das dominium commune von Verkehrswegen ausschlaggebend sein. (c) Des Weiteren fügt Soto eine Einschränkung eben dieses Gebrauchs ein, indem er feststellt: „Dominium ist ein Vermögen oder das eigene Recht eine Sache zu jedem 11  Soto

1995, S. 102. 1995, S. 102: „At vero theologi e iurisconsulti aliter usurpant hoc nomen, nempe pro potestate seu iure quis habet in aliquam rem“. 13  Tuck 1979, S. 5 ff. 14  Soto 1995, S. 104: „Dominium est potestas vel facultas propinqua assumendi res aliquas in sui usum licitum secundum leges et iura rationabiliter institutas“. 15  Soto 1995, S. 106: „Igitur satis est si definientes dicamus quod est potestas seu facultas assumendi rem aliquam in usum nostrum […]“. 12  Soto



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Gebrauch zu nehmen, der durch das Gesetz nicht verboten wird“.16 Die Verknüpfung mit dem Gesetz besagt, dass beispielsweise ein Dieb nicht deshalb zum Besitzer gestohlenen Eigentums wird, weil er es benutzt. Daher ist das im dominium enthaltene Recht ein „licit subjective power“, dessen Inhalt, wie Soto in De iustitia et iure feststellt, die Substanz der Sache ist und nicht ihre akzidentellen Eigenschaften.17 Es ist insbesondere die Verknüpfung der Begriffe dominium und ius mit dem Vermögen, es geltend zu machen und zu nutzen, was in diesem Zusammenhang hervorgehoben werden muss.18 Die aktive Inanspruchnahme von Rechten und daher von dominia hängt laut Soto wesentlich von der Fähigkeit ab, sie freien Willens geltend zu machen, aber auch auf einen Anspruch zu verzichten. Darin besteht der Unterschied zwischen Menschen und Tieren, denn letztere haben nicht die Fähigkeit zu freien Entscheidungen und folglich ist ihr Verhältnis zu den Dingen, auf die sie sich beziehen, von einer einheitlichen Naturordnung vorgegeben.19 Nur wenn ein Subjekt die Fähigkeit zur freien Willensentscheidung hat, indem es Gründe dafür geltend machen kann, wird es zu einem Inhaber von Rechten. Hier ist es der Gebrauch von etwas, der im Vordergrund steht: Ein dominium, sei es Besitz, Nutznießung einer Sache oder dominium iurisdictionis im Sinne politischer Herrschaft, wird nur durch aktive Nutzung gerechtfertigt. Dies bedeutet aber auch, dass Anhäufung von Gütern, die keinen regelmäßigen, aktiven Gebrauch nach sich ziehen, die Legitimität von dominium in Frage stellen. Aus diesem Grund sagt Soto: „Der Zweck von dominium ist der Gebrauch und dominium wäre sinnlos, wenn er fortwährend keinen Gebrauch hätte; folglich wird dominium am besten in Hinblick auf den Gebrauch definiert […]“.20 All dies heißt freilich nicht, dass der rechtmäßige Gebrauch an sich bereits dominium impliziert, anderenfalls wären Leihgeschäfte und Nutznießung unmöglich; was allerdings erforderlich ist, ist die Fähigkeit dasjenige, worüber man verfügt und es gebraucht, veräußern, aber auch einfordern zu können.21 16  Soto 1995, S. 110: „[…] Dominium est potestas seu ius proprium assumendi rem ad quemcumque usum qui non est prohibitum lege“. Siehe hierzu auch Brett, Annabel: Liberty, Right and Nature: Individual Rights in Later Scholastic Thought, Cambridge 1997, S. 141. 17  Brett 1997, S. 150 und Soto 1968, S. 281a. 18  Soto 1995, S. 124 ff. 19  Soto 1995, S. 128. 20  Soto 1995, S. 108. 21  Soto 1995, S. 118: „Et per usum intelligo iustam licentiam seu ius comedendi et bibendi, quod certe potest vocari usus iuris quantum ad illum actum; itaque habent ius per modum habitus, licet non sit domini. Ubi notandum est quod ad verum dominium non sufficit quod quis possit consumer rem, sed requiritur quod possit ipsam alienare, vindicari in iudicio etc.“.

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Die Verknüpfung von dominium und usus zeigt, dass von Eigentum nur dann sinnvollerweise die Rede sein kann, wenn es tatsächlich verwendet wird. Soto zeigt dies am Beispiel des Geldes auf, dessen Funktion darin besteht, aufgebraucht zu werden.22 Noch bedeutungsvoller ist aber eine knappe Bemerkung hinsichtlich der Herrschaft über den gesamten Erdkreis, denn Soto zweifelt an, dass diese Form von dominium, die sich ja wesentlich auf den Gebrauch bezieht, überhaupt möglich ist: Dominium gibt es aufgrund des Gebrauchs; […] es ist moralisch gesprochen (moraliter loquendo) nicht möglich, dass jemand seine Herrschaft gebrauchend (usus dominii) über den gesamten Erdkreis ausübt, schließlich kann niemand, auch nicht durch Gesandte, in den gesamten Erdkreis gelangen; also wäre ein solches dominium sinnlos (frustra esset).23

In einer Art Umkehrschluss ließe sich behaupten, dass der Gebrauch einer ungenutzten Sache, die zugleich von keiner Einzelperson rechtlich eingefordert wird, zulässig ist. Dies trifft vor allem auf Verkehrswege (Flüsse, Wege, usw.) zu, die „durch das Naturrecht allgemein (communia) sind“.24 Darüber hinaus ist eine allgemeine Benutzung auch dann gestattet, wenn eine Besitznahme (appropiatio) festgestellt wurde und zwar in Fällen äußerster Not (extrema necessitate).25 Existenzbedrohende Armut gehört zweifelsfrei dazu, weswegen, wie Soto in seiner Schrift von 1545 nahelegt, die Freizügigkeit von Armen gerechtfertigt werden kann. Sowohl für Francisco de Vitoria als auch für Domingo de Soto wurzelt also die Legitimität der Freizügigkeit in den Prinzipien des Völkerrechts (ius gentium), was zu bedeuten scheint, dass es eine allgemein anerkannte normative Sprache gibt, die von allen Völkern, unabhängig von ihren kulturellen und religiösen Umständen, im Inneren und im Verhältnis zu anderen Völkern als praktisch-politischer Leitfaden akzeptiert wird. Im folgenden Abschnitt soll dieser Idee im Zusammenhang der Armutsdebatte von 1545 weiter nachgegangen werden. III. Soto und die Armutsdebatte Die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts ist in Spanien geprägt von vielfältigen sozialen Spannungsfeldern, wie etwa der Aufstand der Comuneros (1519–1521) oder immer wiederkehrende Hungersnöte. Auch verändert die 22  Soto 1995, S. 112: „Res usu consumptibiles sunt quarum usus est consumptio, ut pecunia; usu enim pecuniae est ipsam consumere, id est, a se alienare […]“. 23  Soto 1995, S. 160. 24  Soto 1995, S. 144. 25  Soto 1995, S. 146.



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stetig wachsende Stadtbevölkerung das soziale Gefüge, dadurch dass, so wie heute, die Konzentration wirtschaftlichen Wohlstands marginalisierte Gruppen anzieht.26 Der spanische Humanist Juan Luis Vives ist 1526 einer der ersten Philosophen, der mit der Schrift De subventione pauperum während seines Aufenthalts in Brügge auf die entstehenden Notstände rea­giert.27 Das Grundmodell einer kommunalen und nicht ausschließlich individuellen Fürsorge für die Armen würde bei Sotos Widersacher Juan de Robles wieder in Erscheinung treten. Ebenso wird bei Vives und Robles die Frage aufgegriffen, was einen wahrhaft Armen ausmacht, was deshalb wichtig ist, weil ja verhindert werden soll, dass sich jemand unter Vortäuschung von Elend Vorteile erschwindelt. Was bereits 1526 in Erscheinung tritt, ist gewissermaßen das Eingeständnis, dass Armut und Migration zu einem Thema geworden ist, für welches ein sozialtheoretisches, freilich an den christlichen Idealen der misericordia und caritas orientiertes, Vokabular vonnöten ist. Als Domingo de Soto 1545 mit seiner zweisprachig (lateinisch-spanisch) veröffentlichten Schrift In causa pauperum deliberatio in die Armutsdebatte eingreift, tut er dies zum einem auf der Grundlage seiner moraltheologischen Überlegungen, wie sie etwa in einer verloren gegangenen Relectio de eleemosyna zum Ausdruck gekommen sein müssen,28 doch in erster Linie als Reaktion auf eine vom Stellvertreter Karls 5., dem Kardinal Juan de Tavera, verfassten pragmática von 1540, der sogenannten Ley Tavera.29 Hauptgegenstand des Gesetzestexts ist es, den Armen das Betteln weitab von ihren Wohnorten zu untersagen, es sei denn Hungersnöte oder Epidemien ließen dies rechtfertigen.30 Soto gesteht denn auch nach einer Unterredung mit Tavera ein, dass ihm der Sinn und Zweck des Gesetzes nicht in den Kopf wolle und dass deswegen eine vernunftgeleitete Diskussion dieses Problems angeregt werden sollte.31

26  Für einen Überblick über die geschichtlichen Zusammenhänge der Armutsdebatte siehe die sehr hilfreiche Arbeit von Arrizabalaga 1999, S. 151–175. Siehe auch Brett 2011, S. 10–36. 27  Vives 2002. 28  Siehe Brufau Prats: Introducción, in: Soto 2011, S. 190. 29  Siehe zum geschichtlichen Kontext u.  a. Ramos Vázquez 2009, S. 220–221. Auch Martz 1983, S. 16–22. 30  Soto paraphrasiert das Tavera-Gesetz in Soto 2011, S. 215: „[…] Que aunque sea pobre, nadie pida sino en su naturaleza, dentro de ciertos límites, salvo si fuese en caso de pestilencia o de grave hambre“. Ich zitiere hier den spanischen Text mit der im 16. Jhd. üblichen Rechtschreibung. Es gibt natürlich Unterschiede zwischen der lateinischen und der spanischen Fassung, worauf bereits Brett 2011, S. 30 Fußnote 76 hingewiesen hat. Siehe auch Beltrán de Heredia 1960, S. 85. 31  Soto 2011, S. 217: „[…] Dixe que no me cabia bien en el entendimiento todo lo que se hazia“.

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Nachdem dieses Gesetz 1543 veröffentlicht wurde, ließ Soto nicht lange auf eine Antwort warten, die er an den Prinzen und späteren König Philipp richtete. Es handelt sich hierbei, so Soto seines Einflusses bewusst, um eine äußerst wichtige Angelegenheit, die auch deshalb mit einem spanischen Pa­ ralleltext verfasst wurde, damit „das Volk und die Leute, die kein Latein können“, wissen worum es sich handelt.32 Es geht ihm dabei um mehr als eine ausschließlich gelehrte Diskussion der entsprechenden Gesetze, sondern vielmehr um eine moraltheologische Standortbestimmung des Armenpro­ blems, in dessen Mittelpunkt die Frage nach der Migration von Armen steht. Zunächst jedoch liegt Soto daran zu klären, wer eigentlich als arm bezeichnet werden kann. Der Mangel an materiellen, zum Leben unabdinglichen Gütern gehört zweifelsohne zu einer Definition von Armut, doch als mindestens ebenso wichtig erweist sich die Frage, wie der Mangel gelindert werden kann. Existenzbedrohender Mangel an Nahrung, Kleidung usw. ist allerdings gewissen epistemischen Bedingungen unterworfen. Das soll heißen, dass derjenige, der durch das Geben von Almosen Abhilfe schaffen möchte, die Gewissheit haben sollte, dass der Empfänger sie tatsächlich benötigt. Aus diesem Grund unterscheidet Soto, wie andere vor ihm, wahre Arme (pobres verdaderos) und solche, die Armut nur vorgeben (pobres fingidos; vagabundos). Die zweite Gruppe derjenigen, die Armut vortäuschen, stößt bei Soto naturgemäß auf wenig Wohlgefallen, denn hierbei handelt es sich um Menschen, die sich durch Betrug einen materiellen Vorteil verschaffen möchten und greifen so auf Güter zu, die den wahrhaft Armen eigentlich zustehen würden.33 Aus diesem Grund muss kein Gemeinwesen vorgetäuschte Armut dulden, auch weil vagabundos zu Müßiggang neigen und folglich moralisch verwerfliche Verhaltensweisen an den Tag legen.34 Die erste Gruppe, also die der wahrhaft Armen besteht wiederum aus zwei Untergruppen, nämlich den Armen, die dies auch öffentlich sind, indem sie betteln, und denen, die sich ihrer Armut schämen und aus diesem Grund nicht betteln, die sogenannten envergonzantes. Ein Merkmal von wahrhaft Armen besteht darin, dass sie für ihre Rechte nicht aktiv eintreten können, sei es, weil sie keine Kraft dazu haben, sei es, weil sie im sozialen Gefüge dazu die Gelegenheit nicht haben.35 Ausgrenzung, und nicht nur körperliche 32  Soto

2011, S. 211. 2011, S. 229: „Que quiere dezir de los hombres que, siendo sanos y teniendo bastantes fuerças para trabajar, andan so color de pobres a mendigar, quitando el alimento y poniendo en necessidad a los verdaderos pobres; que es otro nuevo mal sin los que emos contado que haze este linage de hombres“. 34  Soto 2011, S. 231: „Y ansí resta la primera conclusión que aquí pretendemos: Que los que no son legitimamente pobres no se han de suffrir en la República“. 35  Soto 2011, S. 283: „[…] Es también de mirar que este menospreciado vulgo de gente pobre no tiene fuerças ni poder para defender sus causas“. 33  Soto



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und psychische Gebrechlichkeit, zeigen Armut an, was man etwa dann erkennt, wenn jemand wegen seiner sozialen Randlage auf der Arbeitssuche glücklos bleibt. In diesem Fall sieht es Soto als gerechtfertigt an, Arbeit und Unterhalt auch außerhalb des Wohnortes zu suchen.36 Dies wäre auch dann gerechtfertigt, wenn nicht alle Zweifel bezüglich der Armut einer Person ausgeräumt wurden, denn es wäre letzten Endes grausamer vier wahrhaft arme Menschen auszuschließen, um eventuell zwanzig Menschen abzuweisen, die ihre Armut nur vorspiegeln.37 Soto geht also davon aus, dass die Armut dazu berechtigt weitab vom eigenen Wohnsitz zu betteln, vor allem, wenn dort die Lebensgrundlagen prekär sind. Im 4. Kapitel seiner Deliberatio widmet er sich dem Thema der armen Ausländer (pobres estrangeros), um genau die Punkte zu erläutern, die er an der Ley Tavera für problematisch hält, insbesondere die Frage, ob wahrhaft Arme darin gehindert werden können, woanders ihr Glück zu suchen. Sowohl das Gesetz als auch Sotos Widersacher, der Benediktiner Juan de Robles,38 bejahen diese Frage, während Soto die scheinbar liberalere These aufstellt, dass im Allgemeinen die Freizügigkeit von wahren Armen den bestehenden Gesetzen nicht widerspricht und deshalb durchaus erlaubt sein sollte, weil der Geltungsbereich des Tavera-Gesetzes sowohl Einheimische als auch Fremde umfasst und explizit nur auf die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Armen abzielt.39 In der Frage nach der Legitimität des Zuzugs und des Verbleibs von Armen und Bettlern geht Soto auf Prinzipien des Völkerrechts zurück, bei denen die Theorie des dominium commune implizit herangezogen wird. Es sei daran erinnert, dass Verkehrswege, Wälder, Seen usw. definitionsgemäß keiner privaten oder öffentlichen Obrigkeit unterstehen und dass deshalb ihre Benutzung rechtens ist, solange dies in friedfertiger Weise geschieht. Dies ist der Grund weshalb Soto den Verbleib von Armen und Bettlern in Einklang mit dem Natur- und Völkerrecht sieht, da sie von einem dominium commune in legitimer Weise Gebrauch machen: „Es wird angenommen, dass niemand nirgendwo verbannt werden kann, es sei denn er ist schuldig oder hat ein Verbrechen verübt […]. Der Grund hierzu ist, dass aufgrund des 36  Soto 2011, S. 285: „[…] Aun que sea un hombre sano y de fuerças, por ventura no halla amo o no halla lavor o officio y, si en su tierra no lo halla, tiene derecho de yrlo a buscar por todo el Reyno“. 37  Ebd. 38  Siehe Robles 1545. Robles legt großen Wert auf die Gewissheit des Armenstatus und begrenzt das Geben von Almosen auf Fälle größter Not. Für ihn geht das Betteln mit dem Verlust von Scham einher und muss deshalb vermieden werden. 39  Soto 2011, S. 235: „Por manera que las leyes comunes jamás hizieron differencia entre pobres naturales y no naturales, sino entre pobres verdaderos y fingidos pobres“.

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Naturrechts und Völkerrechts jeder die Freiheit hat dort umherzugehen, wo er will […]“.40 Diese Anwendung des ius peregrinandi auf die Lage innerhalb Spaniens verdeutlicht wie Soto die zuvor beschriebene asymmetrische Auslegung Vitorias ausgleicht. Zudem gelingt es der Deliberatio ein Problemfeld, das im Zusammenhang mit der Eroberung Amerikas zuerst angesprochen wurde, auf einen innereuropäischen Zusammenhang zu beziehen.41 Vitoria scheint davon auszugehen, dass die Freizügigkeit in erster Linie auf die Spanier zutrifft, die sich auf dem amerikanischen Kontinent niederlassen möchten; die Möglichkeit, dass Azteken oder Mayas nach Spanien unter Berufung auf eben dieses Prinzip umsiedeln könnten, wird von Vitoria überhaupt nicht in Betracht gezogen. Soto hingegen betrachtet die Gründe, die zu Migrationsbewegungen führen differenzierter, weil es zum einen nötig ist, ortsspezifische Gegebenheiten in Rechnung zu stellen, weil es etwa regionale Unterschiede bezüglich der Fruchtbarkeit der Böden gibt. Zum anderen werden soziale und wirtschaftliche Kriterien insofern normativ abgewertet als aus Reichtum und Armut keine unterschiedlichen Legitimitätskriterien für Migration abgeleitet werden können: „Den Armen soll man nicht nach mehr Gründen fragen als den Reichen, der sich nicht in seinem Land befindet“.42 Zum ius peregrinandi gesellt sich ein weiteres Prinzip, nämlich das der Gastfreundschaft (ius hospitalitatis), dessen Ursprung Soto nicht nur in der philosophischen Tradition seit Platon sieht, sondern zuvörderst im christlichen Aufruf, sich der Armen anzunehmen.43 IV. Ist dies überhaupt noch relevant? Man könnte versucht sein, Sotos libertäre Theorie der Migration aus wirtschaftlichen Gründen als niedlichen Anachronismus abzutun, der aus einer Zeit stammt, in der Grenzen und souveräne Staaten weitgehend noch nicht in der Form existierten wie seit dem 17. Jahrhundert.44 Auch wurden Zweifel geäußert, ob Sotos Ideen die sozialen Phänomene seiner Zeit, insbesondere die Ursachen von Armut, akkurat durchschaut haben.45 Auch ist es wohl 40  Soto

2011, S. 237. Brett 2011, S. 28–32. 42  Soto 2011, S. 243. 43  Cavallar 2016 und Chetail 2017, S. 901–922. 44  Mit dem Ausdruck „libertär“ folge ich hier der Terminologie von Heath Wellman und Cole 2011, S. 79–92. Siehe auch Carens 1987, S. 251–273. Freilich hängt die Theorie beider im Wesentlichen von einer Lehre des Privateigentums und der ausgleichenden Gerechtigkeit ab und ist deshalb nicht exakt auf Sotos Lehre zu übertragen, in deren Mittelpunkt die Idee des dominium commune steht. 45  Siehe Brufau Prats 2011, S. 197. 41  Siehe



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richtig zu sagen, dass Soto auf nachfolgende Debatten keinen nachhaltigen Einfluss hatte.46 Trotzdem ist die In causa pauperum deliberatio ein eigentümlich aktueller Text. Nicht etwa, weil wir mit Begriffen der christlichen Nächstenliebe viel anfangen können, sondern weil das vormodern anmutende Staatsverständnis, das aus dem Text spricht, das gegenwärtige Problem offener Grenzen durchaus evoziert. Soto scheint zu denken, dass wesentliche Bestandteile des Gemeinwohls in den Bereich individueller Fürsorge fallen und dass staatliche Hoheit über Grenzen und Gebiete insofern begrenzt ist, als just öffentliche Räume, wie beispielsweise Wege, Straßen und Plätze, der Allgemeinheit dienen und deshalb von allen benutzt werden können, wenn dies legitimiert werden kann und niemandem ein Schaden daraus entsteht. Durch Betteln das eigene Überleben zu sichern scheint zweifelsohne legitim zu sein und deswegen ist es ebenso gerechtfertigt das dominium commune eines beliebigen Gemeinwesens zu nutzen. Die Betreuung von Armen und Bettlern (misericordia und caritas) scheint darüber hinaus eine Angelegenheit des Gewissens derer zu sein, die die Armut der Bettler lindern können und deshalb ist die Armenfürsorge eine Angelegenheit individueller Verantwortung, die durch das ius gentium in Form des ius peregrinandi und ius hospitalitatis theoretisch abgestützt wird. Gegen Robles und Tavera, die den Zugang von Armen aus der Perspektive der Respublica rechtlich erschweren wollten, tritt Soto eindeutig für offene Grenzen ein, wenn ein triftiger Grund vorliegt, wie etwa lebensbedrohende Armut. Sotos Lehre des dominium als Bestandteil des ius gentium wird mit der individuellen Gewissheit allgemeiner Normen verzahnt und leitet daraus eine individuelle Fürsorge ab, die allerdings nicht der jeweiligen Subjektivität anheimfällt, sondern nach objektivierbaren Standards argumentativ erarbeitet werden muss. Gerade dies ist heute noch genauso relevant wie vor nahezu 500 Jahren. Literaturverzeichnis Allemann, Daniel: Empire and the Right to Preach the Gospel in the School of Salamanca, 1535–1560, in: The Historical Journal 62 (2019), S. 35–55. Añaños Meza, María Cecilia: El título de ‚sociedad y comunicación natural‘ de Francisco de Vitoria. Tras la huella de su concepto a la luz de la teoría del dominio, in: Anuario Mexicano de Derecho Internacional 12 (2012), S. 525–596.

46  Siehe Schwartz 2019, S. 67–71. Kapitel 3 (Keeping Out the Foreign Poor: The City as a Private Person, S. 58–77) dieses lesenswerten Buchs ist eine Abhandlung der begrifflichen Grundlage der Migration von Armen und ihrer philosophiegeschichtlichen Auswirkung bzw. des Mangels an Auswirkung.

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Anghie, Anthony: Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law, Cambridge, 2005. Arrizabalaga, Jon: Poor Relief in Counter-Reformation Castile: An overview, in: Ole Peter Grell/Andrew Cunningham/Jon Arrizabalaga (Hrsg.), Health Care and Poor Relief in Counter-Reformation Europe, London 1999, S. 151–175. Bach, Oliver: ‚At nobis contrarium videtur verum‘. Das Recht auf freie Einreise als grundlegendes Völkerrecht bei Francisco de Vitoria und Luis de Molina, in: Norbert Brieskorn/Gideon Stiening (Hrsg.), Francisco de Vitorias De Indis in interdisziplinärer Perspektive. Interdisciplinary views on Francisco de Vitoria’s De Indis, Stuttgart 2012, S. 191–217. Beltrán de Heredia, Vicente: Domingo de Soto. Un estudio biográfico documentado. Salamanca 1960. Brett, Annabel: Liberty, Right and Nature: Individual Rights in Later Scholastic Thought, Cambridge 1997. Brett, Annabel: Changes of State. Nature and the Limits of the City in Early Modern Natural Law, Princeton/Oxford 2011. Carens, Joseph: Aliens and Citizens: The Case for Open Borders, in: The Review of Politics 49 (1987), S. 251–273. Cavallar, Georg: The Rights of Strangers. Theories of International Hospitality, the Global Community and Political Justice since Vitoria, London 2016. Chetail, Vincent: Sovereignty and Migration in the Doctrine of the Law of Nations: An Intellectual History of Hospitality from Vitoria to Vattel, in: European Journal of International Law 27 (2017), S. 901–922. Heath Wellman, Christopher/Cole, Phillip: Debating the Ethics of Immigration. Is there a Right to Exclude?, Oxford 2011. Martz, Linda: Poverty and Welfare in Habsburg Spain. The Example of Toledo, Cambridge 1983. Ramos Vázquez, Isabel: Policía de vagos para las ciudades españolas del siglo XVIII, in: Revista de Estudios Histórico-Jurídicos 31 (2009), S. 220–221. Robles, Juan de: De la orden en algunos pueblos de España se ha puesto en la limosna para remedio de los verdaderos pobres, Salamanca 1545. Salamanca, Beatriz: Early Modern Controversies of Mobility within the Spanish Empire: Francisco de Vitoria and the Peaceful Right to Travel, in: Tropos 1 (2015), S. 14–21. Schwartz, Daniel: The Political Morality of the Late Scholastics. Civic Life, War and Conscience, Cambridge 2019. Soto, Domingo de: De iustitia, et iure, libri decem, Salamanca 1556 (Nachdruck Madrid 1968). Soto, Domingo de: Relecciones y opúsculos: Introducción general, De Dominio, Sumario, Fragmento An liceat, Bd. 1, Jaime Brufau Prats (Hrsg.), Salamanca 1995. Soto, Domingo de: In causa pauperum deliberatio, in: Relecciones y opúsculos II-2, Jaime Brufau Prats (Hrsg.), Salamanca 2011.



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3. Rechtsphilosophie

„Meine“ Vico Von Giuseppe Cacciatore Zunächst möchte ich den seltsamen Titel meines Beitrags erklären. Vico ist kein systematischer Philosoph und auch nicht nur Philosoph. Seine Werke reichen von der Dichtung bis zur Oratorik, von der Autobiographie bis zur Rhetorik, von der Mythologie bis zur klassischen Literatur und von der Rechtswissenschaft zur Philosophie. Mit diesem vielseitigen Schaffen befassen sich seit langer Zeit Forscher, die das gesamte Gebiet der humanistischen Disziplinen abdecken. Dies ist die objektive Tatsache der umfassenden Forschungstätigkeit des neapolitanischen Philosophen, während der subjektive Aspekt darin besteht, dass der Forscher, der sich mit Vicos Denken auseinandersetzt, eine Perspektive einnehmen muss, die von der Vermengung unterschiedlicher Wissensbereiche ausgeht. Es handelt sich hier um eine Vorgehensweise, die sich im Lauf der Jahre perfektioniert und erweitert, und der stets das Merkmal einer ‚immerwährenden Unvollständigkeit‘ anhaften muss. Der Plural im Titel meines Beitrags bezieht sich auf mein langjähriges „Verweilen“ bei Vico und auf meine Suche nach Schlüsselmomenten einer Philosophie, die durchaus Antworten auf zeitgenössische Fragen geben kann. Meine erste Begegnung mit Vico wurde durch die Mitarbeit am „Bollettino del Centro di Studi Vichiani“ (im Folgenden mit der Sigle BCSV abgekürzt) gefördert, zu der mich Pietro Piovani und Fulvio Tessitore, die Gründer des „Centro di Studi Vichiani“ eingeladen hatten. Meine Aufgabe bestand anfangs darin, für den „Avvisatore bibliografico“ Steckbriefe mit bibliographischen Angaben zu verfassen, die im Anhang zu dieser Zeitschrift erschienen. Der Zufall wollte es, dass eine meiner ersten Veröffentlichungen nach dem Studienabschluss auf Anregung von Piovani entstand, der mir die Aufgabe gab, sämtliche Initiativen und Projekte, die weltweit zum dreihundertjährigen Geburtstag von Vico organisiert wurden, aufzuspüren, wobei es damals weder Computer noch Suchmaschinen gab. Meine erste tiefergehende Auseinandersetzung mit Vico entsprang jedoch der Absicht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Grundlinien des deutschen Historismus (ausgehend von Dilthey, dem ich Mitte der siebziger Jahre zwei Bände gewidmet hatte) und dem Historismus „der Ursprünge“ des neapolitanischen Philosophen aufzuzeigen. Die Nähe Vicos zum kritischen Historismus liegt, laut Habermas und Paci, die in diesem Zusammenhang wertvolle Hinweise geben, in

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der Zentralität der menschlichen Geschichtserfahrung als Bezugspunkt allen Erkennens und Handelns. Mein Aufsatz zu dieser Thematik ist 1979 im BCSV erschienen. In der Zwischenzeit intensivierten sich meine Kontakte zu deutschen Philosophen und Vicoforschern: Manfred Riedel, Ferdinand Fellmann, Helmut Viechtbauer, Matthias Kaufmann, Jürgen Trabant und im Besonderen Stephan Otto, der den Liber metaphysicus übersetzt und daneben zahlreiche Aufsätze und auch eine Monographie über Vico geschrieben hatte, die auch ins Italienische übersetzt wurde. Die Veröffentlichung der Materialien zu „Vico in Germania“, mit einer Einleitung von mir und Giu­seppe Cantillo, und Aufsätzen von Stephan Otto, Günther Wohlfart und Ferdinand Fellmann im BCSV von 1981 war ein weiteres Ergebnis dieser fruchtbaren Auseinandersetzung zwischen deutschen und italienischen Forschern. Nach zahlreichen Rezensionen zu Artikeln und Büchern über Vico und zur Vico-Rezeption in Italien (zur Vico-Interpretation von Ottavio Colecchi, einem süditalienischen Philosophen des 19.Jahrhunderts und von Pietro Piovani im posthum erschienenen Buch Scandagli critici) habe ich mich Ende der achtziger Jahre wieder mit der deutschen Vico-Interpretation befasst. Im Besonderen mit einigen neueren Studien zum De Antiquissima von Stephan Otto und seiner Schule, denen ich in meiner Analyse einerseits zustimmen konnte, aber andererseits auch widersprechen musste. Es handelt sich hierbei um einen originalen, mehr theoretisch ausgerichteten als philologisch fundierten Versuch, im vichianischen Denken eine transzendentalphilosophische Grundstruktur aufzuzeigen. Das zunehmende Interesse an Vico in der philosophischen Kultur Deutschlands zeigt sich auch in der Debatte über die erste vollständige Übersetzung der Scienza Nuova von Vittorio Hösle und Christoph Jermann. Die einzelnen Beiträge zu dieser Diskussion (von Donatella di Cesare, Ferdinand Fellmann, Gonsalv Meinberger, Jürgen Trabant und mir selbst) sind 1991 in der Nr. XXI des BCSV erschienen. In der gleichen Nummer erschien meine Rezension – auf Anregung von Piovani – zu einer Monographie des damals noch jungen Forschers José M. Sevilla (Giambattista Vico: metafisica de la mente e historicismo antropplógico. Un estudio sobre la concepción viquiana del hombre, de su mundo y de su ciencia). Vom gleichen Autor waren schon einige Jahre zuvor mehrere Aufsätze im BCSV erschienen. Unter anderem erfolgte 1991 auf Anregung von Sevilla und anderen Kollegen die Gründung des „Centro de Inverstigaciones sobre Vico“ an der Universität von Siviglia, was – wie ich in einem Artikel schrieb, der 1994 in Spanien veröffentlicht wurde – deutlich zeigte, dass sich die spanische Vico-Forschung durchaus mit der italienischen und europäischen Historiographie messen konnte. Damit begann eine neue Etappe in meiner Auseinandersetzung mit Vico und seinen Forschern: Die breite „Resonanz“ des Verfassers der Scienza



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Nuova in der gegenwärtigen spanischen (und später auch lateinamerikanischen) Philosophie. Im Jahr 1994, in dem auf Vorschlag meines Lehrers Fulvio Tessitore meine Ernennung zum Direktor des „Centro di Studi Vichiani“ erfolgte, das ich bis 2002 leitete, erschienen im BCSV die Beiträge der Tagung über Vico in der spanischen Kultur, die 1991 in Valencia stattfand und von Josep Martínez Bisbal, einem weiteren bedeutenden Forscher und Verleger Vicos herausgegeben wurden. In meinem Beitrag zu dieser Tagung geht es um Ortega und Vico, da Ortega, auch wenn er nur vereinzelt Bezug auf Vicos Werk nimmt, meines Erachtens wesentlich zur Verbreitung des vichianischen Denkens in Spanien beigetragen hat. Unter anderem bezeichnet er Vicos Philosophie als eine „mediterrane Philosophie“, die mit ihren Schatten und Kontrasten im diametralen Gegensatz zum Licht und zur begrifflichen Klarheit der „nordischen Philosophie“ von Kant und Hegel stehe. Es ist daher kein Zufall, dass Vico in Ortegas Arbeiten über Dilthey Anfang der dreißiger Jahre wieder erscheint. Denn Ortega ist der Überzeugung, dass Vico die „große Literatur“ des 19. und 20. Jahrhunderts über die Genese der historischen Vernunft, die „Eroberung des neuen Landes“ vorwegnimmt, d. h. über die neue Bedeutung einer historischen Kritik, die dem inhaltsreichen Leben des Menschen und seiner Geschichte Rechnung tragen kann. Bezeichnend ist die wirklichkeitsnahe Aussage, die in der Geschichte als System von 1935 zu lesen ist: „Der Mensch hat nicht Natur, sondern er hat … Geschichte. Oder, was dasselbe ist: was die Natur für die Dinge ist, ist die Geschichte – als res gestae – für den Menschen“. Mitte der neunziger Jahre begann sich ein „anderer“ Vico abzuzeichnen, dem ich dank der kulturellen und wissenschaftlichen Initiative einer der größten deutschen Sprachforscher und Semiotiker begegnet bin: Jürgen Trabant, der in Berlin eine von der Freien Universität finanzierte Tagung über Vico und die Zeichen organisiert hatte. Auf dieser Tagung hielt ich einen Vortrag zum Thema Symbol und Geschichte zwischen Vico und Cassirer, der 1995 in einem Tagungsband veröffentlicht wurde. Das, was an Vicos artikulierter und komplexer Philosophie eine besondere Anziehungskraft auf mich ausübte, war das mythisch symbolisierende und metaphorische Vermögen der Phantasie, das anhand der Philosophie der symbolischen Formen gedeutet wird. Cassirers Begriff der „symbolischen Form“ erschien mir als systematische Darstellung einiger im Magma verstreuten Ideen des vichianischen Werks, wie die Ausarbeitung einer Geschichtstheorie, die vom transzendentalen Idealismus Abstand nimmt. Da der Phantasie und dem mythischen Denken eine Selbständigkeit zugewiesen wird, wird die Beziehung zwischen den metaphysischen Prinzipien und der Empirizität der menschlichen Welt möglich. Während meiner Leitung des Centro di Studi Vichiani habe ich dank der wertvollen Mitarbeit der dort tätigen Forscher, insbesondere von Manuela

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Sanna und Maurizio Martirano, aber auch dank einiger mit Vanna Gessa Kurotschka von der Universität Cagliari durchgeführten Forschungsprogramme eine Reihe von Tagungen organisiert, an denen namhafte italienische und ausländische Vico-Forscher teilgenommen haben. Die Tagungsmaterialen wur­ den jeweils in einem Sammelband veröffentlicht, unter denen ich hier nur einige erwähnen möchte: La filosofia pratica tra metafisica e antropologia nell’età di Wolff e Vico von 1999 (mit meinem Beitrag zur Filosofia „civile“ e filosofia „pratica“ bei Vico); Il sapere poetico e gli universali fantastici. La presenza di Vico nella riflessione contemporanea von 2004 (mit meinem Vortrag Vico: narrazione storica e narrazione fantastica). Es ist nicht schwer zu erkennen, dass hier die konstitutiven Aspekte der „dualistischen Philosophie“ Vicos den „roten Interpretationsfaden“ bilden, den ich mehrmals wieder aufgegriffen und eingehender begründet habe. In diese Forschungsrichtung reihen sich einige meiner Beiträge zur komplexen Beziehung zwischen Dichtung und Geschichte, zwischen Geschichte und Phantasie bei Vico und zur Fundierung einer „anderen Rationalität“ ein (wie einem Aufsatz von 2012 zu entnehmen ist, der in einer Festschrift zu meinem 70. Geburtstag mit dem bezeichnenden Titel In dialogo con Vico neu veröffentlicht wurde). Mit diesem Thema hatte ich mich schon in meiner Monographie (Metaphysik, Poesie und Geschichte. Über die Philosophie von Giambattista Vico) befasst, die 2002 im Akademie Verlag mit einer Einleitung von Matthias Kaufmann erschienen war. Daraus entwickelten sich eine fruchtbare und erfolgreiche Zusammenarbeit sowie regelmäßige Studientagungen über Vico, die sowohl in Neapel als auch in Halle stattfanden. In dieser Monographie werden die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten und -wege herausgestellt, die das vichianische Werk bietet: Das einleitende Kapitel behandelt Die Geschichte als philosophisches Problem. Metaphysik, Zeit, Wahrheit und Faktizität; weitere Themen sind die Beziehung zwischen Philosophie und Philologie, die Erziehung als notwendige Voraussetzung für eine „Justitia aequatrix“, der Zusammenhang von Politik und praktischer Philosophie und schließlich die Ordnung der Gemeinschaft und der „Gemeinsinn“ der Differenz. Einige Jahre später, 2009, erschien mein Band über L’infinito nella storia. Saggi su Vico. Dieses Buch entstand auf Anregung meines Kollegen und Freundes Vincenzo Vitiello, eines namhaften Philosophen aus Neapel, der mich darum bat, für die von ihm herausgegebene Reihe einen Beitrag zum engen Zusammenhang zwischen theoretischem und geschichtlich-praktischem Moment in der Philosophie Vicos zu verfassen. Ausgehend von diesem Ziel bin ich – in intensiver Auseinandersetzung mit Vitiello, wie sowohl die Veröffentlichung zwei meiner Rezensionen zu seinen Vico-Studien im Anhang als auch ein Nachwort, das er beifügen wollte, zeigen – einem Leitgedanken gefolgt, der von Anfang an, wenn ich so sagen darf, meine ganze philosophische Betrachtung gekennzeichnet hat. Ich beziehe mich einerseits auf meine überzeugte Zustimmung zum kritischen und problematischen (nicht idealistischen



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und antifinalistischen) Historismus und die theoretische Vertiefung des Pro­ blems der Historizität in ihrer Beziehung zwischen Zeitlichkeit und Faktizität und andererseits auf die historiographische Forschung über die Genese und Entwicklung des Historismus und seiner Varianten in der europäischen Philosophie. Es handelt sich um Themen, die ich im Laufe meiner Karriere aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachtet habe und die mich auch heute noch dazu veranlassen, immer wieder zu Vicos Schriften zurückzukehren. In der mir zu meinem 70. Geburtstag gewidmeten Festschrift spiegelt die Abfolge der behandelten Themen die Annäherungsphasen an „meine Vico“ wider: die Beziehung zwischen Metaphysik, „ziviler“ Philosophie und Geschichte; den Zusammenhang zwischen Philologie und poetischer Vernunft und schließlich Vico als Philosoph, der auf die ethisch-politischen Fragen unserer Zeit noch immer Antworten zu geben vermag; im letzten Teil sind hingegen die einzelnen Phasen meiner Forschung über Vico in der iberischen Welt dargestellt, darunter ein Aufsatz über Forme e figure dell’ingegno tra Cervantes e Vico, der meiner Ansicht nach ein Unicum darstellt, wobei ich mich hier gern eines Besseren belehren lasse. Vicos Werk stellt für mich wie jeder Klassiker des Denkens eine unerschöpfliche Schatztruhe dar, der man, nach einer treffenden Formulierung der Herausgeber meines Dialogo con Vico, Anregungen, Begriffe und Analysen „in Perspektive“ entnehmen kann. „Perspektive“ bedeutet hier, Reflexionselemente und thematische Anregungen zu finden, die abgesehen von ihrer Entstehung und geschichtlichen Verwurzelung in der Philosophie und ihren „Praktiken“ „neue Wege“ aufzeigen können, wie beispielsweise Vico mit seinem Begriff civitas, der ein grundlegendes Thema meiner Schriften von 2001 ist und mich 2016 inmitten der dramatischen Flüchtlingskrise und zunehmenden Xenophobie erneut beschäftigt hat. In der civitas, in der menschlichen Gemeinschaft konkretisiert sich für Vico die Justitia aequatrix, die nicht nur eine formaljuristische, sondern auch anthropologisch-geschichtliche Grundlage bildet. Nicht mehr die Nützlichkeit, die „Mutter des Rechts“, wie sie Hobbes und Macchiavelli vertreten, steht hier im Vordergrund, sondern die „Gelegenheit der menschlichen Gesellschaft“, womit Vico zur Definition einer politischen und „zivilen“ Gesellschaft als „umfassendster Allgemeinheit von Rechten“ gelangt. Vico sieht die Funktion eines „anderen Weges“ in der Konstruktion des Menschlichen und seiner Lebensformen und zeigt darin Methoden, Theorien und Praktiken im ursprünglichen Wesen des Menschlichen auf: Die Dichtung und das Ingenium als Instrument, das Vernunft, Sinn, Leidenschaften und Willen in eine richtige Beziehung zu setzen vermag. Vicos Auffassung der cittadinanza und die Frage nach der Aktualität seines politischem Denken stehen im Mittelpunkt meines Beitrags über La facoltà della mente „rintuzzata“ dentro il corpo, erschienen 2005 in „Il Laboratorio dell’ISPF“ und meines Artikels

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Giuseppe Cacciatore

über Universalismo etico e differenza, erschienen 2008 im BCSV. Seine theoretische Fundierung und zugleich historisch-dokumentarische Grundlage erhält dieser Weg „in Perspektive“ in Per una critica della ragione poetica: l’„altra razionalità“ di Vico, einem Aufsatz, der 2012 in einem Band erschienen ist, der die Beiträge sammelt, die auf der Tagung zum Thema Razionalità e modernità in Vico an der Universität Mailand-Bicocca im Juni 2011 gehalten wurden. Ausgangspunkt ist hier die Kritik an einer These des amerikanischen Philosophen und Politologen Mark Lilla, an seiner Darstellung Vicos als eines antimodernen und antiaufklärerischen Philosophen, die auf der Überzeugung beruht, dass das Werk des neapolitanischen Philosophen nicht mit den Ideen von Freiheit und kritischer Vernunft vereinbar ist, sondern vielmehr eine Ideologie von Ordnung und Autorität bekräftigt. In Übereinstimmung mit einigen der jüngsten Forschungen über die Genese des aufklärerischen Denkens (insbesondere der von Daniel Roche und Vincenzo Ferrone) habe ich vertreten, dass ein wesentliches Merkmal der Aufklärung die „Verbreitung einer kulturgeschichtlichen Anthropologie ist, die die andere Humanität beleuchtet“ und dass diese bei Buffon, Rousseau, Voltaire, Smith und Vico explizit zum Ausdruck kommt. Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die ersten Zeilen der Widmung, die am Anfang der Scienza Nuova von 1725 zu lesen sind: „Alle Accademie dell’Europa/ le quali/in quest’età illuminata in cui/nonché le favole/e le volgari tradizioni/ della storia gentilesca/ma ogni qualunque autorità/de’ più riputati filosofi/alla critica di severa ragione/si sottomette […] questi principi di altro sistema/i quali ne ha meditato/con la discoverta/d’una nuova scienza della natura delle nazioni […] Giambattista Vico […] riverentemente indirizza“. Hier endet die kurze Erzählung meiner Begegnungen mit Vico, und wenn ich auf diese fünfzigjährige Bekanntschaft zurückblicke, finde ich Höhen und Tiefen, mehr oder weniger überzeugende Deutungen und Schlussfolgerungen und manche originelle Intuition. Aber ich bin mir sicher, dass ich „in prospettiva“ noch einen anderen Vico finden werde.

Zur Aufklärungspflicht des behandelnden Arztes im Hinblick auf den Einsatz von Außenseitermethoden bei einer eventuellen Reoperation1 Eine Nachlese zum „Zitronensaftfall“ des BGH Von Jan C. Joerden Die nachfolgenden Zeilen widme ich Matthias Kaufmann mit herzlichen Glückwünschen zum 65. Geburtstag. Mit dem Jubilar verbindet mich eine private und berufliche Freundschaft, die bis in das vorige Jahrtausend zurückreicht. Wir sind beide an der Universität Erlangen wissenschaftlich sozialisiert, er an der Philosophischen und ich an der Juristischen Fakultät. Unsere „Schnittstelle“ war und ist die Rechts­philosophie. Matthias Kaufmann ist einer der wenigen Philosophen unserer Generation, der sich bereits seit der Promotion intensiv mit Fragen der Rechtsphilosophie auseinandergesetzt hat.2 Seit den Tagen in Erlangen treffen wir uns in unregelmäßigen Abständen bei zumeist von einem von uns beiden (mit-) veranstalteten Tagungen, Kolloquien oder Workshops an so unterschiedlichen Orten wie Buckow (Brandenburg), Northampton (Massachussetts), Frankfurt an der Oder, Memphis (Tennessee), Erlangen, Bellagio (Italien), Lutherstadt Wittenberg, Luxemburg und Halle an der Saale. Mir bleibt zu hoffen, dass sich diese Reihe noch lange fortsetzen möge. I. Der Zitronensaftfall des BGH Der Bundesgerichtshof (BGH) hat im Jahre 2010 über einen Fall entschieden, in dem einmal mehr die Grenzen der ärztlichen Aufklärungspflicht abgesteckt wurden. Dabei ging es insbesondere um den genauen Zeitpunkt des 1  Der Text beruht in Teilen auf zwei Vorträgen, die ich am 6.12.2012 in Osaka (Japan) und am 13.1.2013 in Poznań (Polen) zu dieser Thematik gehalten habe. Sie sind in polnischer Sprache (übersetzt von Prof. Dr. Joanna Długosz) in: Elżbieta Hryniewicz, Maciej Małolepszy (Hrsg.), Karne aspekty spowo­dowania uszczerbku na zdrowiu w prawie polskim, niemieckim i austriackim, Poznań 2013, S. 31–41, und in japanischer Sprache (übersetzt von Prof. Dr. Yuri Yamanaka) in: Kansai University, Hogaka Ronshu, Bd. 64, Osaka 2015, S. 250–264, erschienen. 2  Vgl. vor allem Kaufmann 1988; Kaufmann 1996; Kaufmann 2016.

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Entstehens der Aufklärungspflicht, wenn im Laufe einer längeren Behandlung auch ungewöhnliche Behandlungsmethoden – hier die Verwendung von unsterilisiertem Zitronensaft zur Behandlung von Wundheilungsstörungen – zum Einsatz kommen sollen. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde, der hier im Wesentlichen ungekürzt wiedergegeben wird, weil es durchaus auch auf Details dieser Fallschilderung ankommen soll.3 „Nach den Feststellungen der Strafkammer war der Angeklagte Eigentümer und Geschäftsführer des Krankenhauses W. sowie dessen Chefarzt der Chirurgischen Abteilung. Am 10. März 2006 unterzog sich die 80-jährige M. in der Inneren Abteilung des Krankenhauses einer Darmspiegelung. Die Untersuchung ergab im Bereich des Dickdarms einen größeren Polypen, der sich im Rahmen der Koloskopie nicht vollständig entfernen ließ. Aufgrund der mittelfristig bestehenden Gefahr eines Darmverschlusses hielten der Chefarzt der Inneren Abteilung und ein Arzt der Chirurgischen Abteilung eine Operation für sinnvoll bzw. angezeigt. Allerdings war eine sofortige Operation nicht erforderlich. Es hätte damit ohne erhebliche Risiken noch etwa ein halbes Jahr zugewartet werden können. Die Patientin war der Operation eher abgeneigt und zögerte, ihre Einwilligung zu erteilen. Sie verblieb allerdings im Krankenhaus und führte in der Folgezeit mehrere Aufklärungsgespräche mit zwei im Krankenhaus tätigen Ärzten. Im Rahmen dieser Unterredungen wurde sie ordnungsgemäß über den Grund der Operation und die mit der geplanten Entfernung eines Teils des Dickdarms verbundenen Risiken aufgeklärt. Schließlich willigte die Patientin am 12. März 2006 in den Eingriff ein. Am 13. März 2006 führte der Angeklagte die Operation durch. In der Folgezeit entzündete sich die Operationswunde erheblich. Da sich trotz der ab dem 18. März 2006 vorgenommenen Gabe von Antibiotika der Zustand der Patientin verschlechterte, entschloss sich der Angeklagte am 20. März 2006 zur Durchführung einer Reoperation, der die zu diesem Zeitpunkt kaum mehr ansprechbare Patientin durch Nicken zustimmte. Am Ende dieser Operation legte der Angeklagte in die Wunde einen mit Zitronensaft getränkten Streifen ein und vernähte die Wunde darüber. Der Angeklagte war aufgrund persönlicher beruflicher Erfahrungen der Überzeugung, Zitronensaft sei ein geeignetes Mittel zur Behandlung schwerwiegender Wundhei3  Das in der Literatur (Kraatz, NStZ-RR 2017, 329 ff., 332) bereits als „moderner Klassiker“ bezeichnete Urteil des BGH vom 22.12.2010 – 3 StR 239/10 (LG Mönchengladbach) wird hier zitiert nach NJW 2011, 1088 ff.; grundsätzlich zustimmend besprochen wurde das Urteil von Hardtung, NStZ 2011, 635 ff.; Jahn, JuS 2011, 468 ff.; Widmaier, FS Roxin zum 80. Geb., Berlin 2011, S. 439 ff.; Schiemann, NJW 2011, 1046 ff.; Ziemann/Zieten, HRRS 2011, 394 ff.; Zöller, ZJS 2011, 173 ff., 176; im Ansatz kritisch zu dem Urteil dagegen Paeff­gen/Zabel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 228, Rn. 75b („Merkwürdigkeiten, zu denen die justizielle und in der Literatur gebilligte Zurechnungsdogmatik führt“) und Paeff­ gen/Böse, ebd., § 223, Rn. 26 (Fn. 166) („Groteskfall“); Wasserburg, NStZ 2013, 267 ff., 268 („Eine schwerlich anders als bizarr zu nennende Entscheidung“). – Zur medizinischen Grundaufklärung bei „Neulandmethoden“ unlängst ausführlich Gödicke, MedR 2017, 770 ff.



Zur Aufklärungspflicht des behandelnden Arztes225 lungsstörungen. Weil er allgemein von einer keimtötenden Wirkung des Zitronensaftes ausging, hielt er die Einhaltung von sterilen Bedingungen bei dessen Gewinnung nicht für erforderlich. Er ließ den Zitronensaft daher in der Stationsküche durch Pflegekräfte aus handelsüblichen Früchten mit einer Haushaltspresse gewinnen, ohne besondere Vorkehrungen zur Gewährleistung der Sterilität des Saftes zu treffen. Tatsächlich barg der Einsatz des so hergestellten Zitronensaftes die Gefahr einer (weiteren) bakteriellen Verkeimung der Wunde. Dem Angeklagten war klar, dass das Einbringen von Zitronensaft in Wunden nicht dem allgemein üblichen medizinischen Standard entsprach und dessen Wirkung sowie allgemeine Verträglichkeit bislang nicht wissenschaftlich untersucht worden waren. Ihm war auch bewusst, dass eine Behandlung mit Zitronensaft der Einwilligung des Patienten bedurfte und zwar auch dann, wenn der Saft nur zusätzlich zu der üblichen medizinischen Wundbehandlung eingesetzt wurde. Darüber, dass im Fall des Auftretens von Wundheilungsstörungen an der Operationswunde – der Praxis des Angeklagten entsprechend – (auch) unsteril gewonnener Zitronensaft in die Wunde eingebracht werden würde, war die Patientin jedoch zu keinem Zeitpunkt aufgeklärt worden. Wäre sie hierüber informiert worden, so hätte sie schon in die Durchführung der ersten Operation nicht eingewilligt. Der Angeklagte wiederholte die Behandlung der Operationswunde mit Zitronensaft in der Folgezeit noch zweimal. Am 30. März 2006 verstarb die Patientin an septischem Herz-Kreislauf-Versagen. Fachliche Fehler bei Durchführung der Operationen am 13. und 20. März 2006 ergaben sich nicht. Dass das Einbringen von Zitronensaft in die Operationswunde diese zusätzlich bakteriell kontaminiert hatte oder dass diese Behandlung für den Tod der Patientin ursächlich war, konnte das Landgericht nicht feststellen. Vielmehr war todesursächlich die – typischerweise bei großen Bauchoperationen auftretende – Entzündung der bei dem ersten Eingriff entstandenen Opera­tionswunde. Das Landgericht hat die am Abend vor dem 13. März 2006 erteilte Einwilligung in die erste Operation aufgrund eines Aufklärungsfehlers als unwirksam angesehen. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch unklar gewesen sei, ob es zu Wundheilungsstörungen und infolgedessen zu einem Einsatz von Zitronensaft komme, hätte die Patientin bereits vor der ersten Operation darüber aufgeklärt werden müssen. Eine Aufklärung sei auch deshalb erforderlich gewesen, weil diese Methode derart ungewöhnlich sei, dass allein der Umstand ihres Einsatzes durch den Angeklagten dazu geeignet war, das Vertrauen der Patientin in eine sachgerechte Behandlung durch ihn zu erschüttern. Zudem habe von vornherein die Gefahr bestanden, dass im Fall des späteren Auftretens von Wundheilungsstörungen zum Zeitpunkt der Entscheidung des Angeklagten über den Einsatz von Zitronensaft der Zustand der Patientin so schlecht gewesen wäre, dass sie nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr ohne Einschränkungen dazu in der Lage gewesen wäre, die Sachlage zu erfassen und sachgerecht über die Erteilung ihrer Zustimmung zu dieser Behandlungsmethode zu entscheiden. So sei es hier auch geschehen. Dem Angeklagten sei bewusst gewesen, dass seine Methode der Behandlung von Wundheilungsstörungen unüblich und ungetestet war, auch wenn er von ihrem Nutzen überzeugt gewesen sein mag. Er habe daraus den richtigen Schluss gezogen, dass vor größeren Operationen, bei welchen die erhöhte Gefahr des späteren Auftretens von Wundheilungsstörungen der Operationswunde bestand, von vornherein eine Aufklärung des Pa­

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tienten über seine ungewöhnlichen Methoden zur Behandlung derartiger Störungen erforderlich ist. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu der Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Hiergegen richtete sich die auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel führte zur Aufhebung des Urteils und Zurückweisung der Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts.“

II. Rechtliche Voraussetzungen der Fallbeurteilung Der BGH nahm den Fall zum Anlass, einmal mehr seine ständige Rechtsprechung zu bekräftigen, dass auch eine ärztliche Heilbehandlung, selbst wenn sie nach den Regeln der ärztlichen Kunst (also lege artis) vorgenommen wird, eine den Tatbestand der Körperverletzungsdelikte verwirklichende Maßnahme darstellt.4 Die gegen diese Konzeption von weiten Teilen der Literatur vorgebrachten Argumente5 konnten den BGH bisher nicht von diesem Weg abbringen. Die Kritik der Literatur entzündet sich u. a. schon an dem Wortlaut des § 223 StGB. Denn zumindest auf den ersten Blick und im Lichte des nullum crimen sine lege-Satzes, der in Art. 103 Abs. 2 GG immerhin verfassungsrechtlich abgesichert ist und auch am Anfang des StGB in § 1 aufgegriffen wird, scheint § 223 StGB auf ärztliche Heilbehandlungen, die lege artis ausgeführt werden, nicht anwendbar zu sein. In dieser Vorschrift sind zwei Alternativen der Körperverletzung erfasst, zum einen die körperliche Misshandlung und zum anderen die Gesundheitsbeschädigung. Ärztliches Handeln, das lege artis durchgeführt wird, scheint nun schon gar keine körperliche Misshandlung zu sein, sondern vielmehr eine Behandlung; und weiterhin dient ärztliches Handeln nicht der Gesundheitsbeschädigung, sondern vielmehr deren Wiederherstellung bzw. der Gesundheitsverbesserung. Gleichwohl gibt es gute Gründe dafür, dass der BGH – trotz der Friktionen mit dem nullum crimen sine lege-Grundsatz – weiter an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält, wonach jeder ärztliche Eingriff den Tatbestand des § 223 StGB erfüllt, allerdings mit der Möglichkeit einer Rechtfertigung dieses Eingriffs, vor allem durch eine wirksame Einwilligung des Patienten. Zum einen geht es dabei darum, sogenannte „aufgedrängte Heileingriffe“ in den Bereich der Strafbarkeit zu rücken. Denn wäre der ärztliche Heileingriff, sofern er lege artis vorgenommen wird, nicht tatbestandsmäßig, wäre er auch ohne Einwilligung des Patienten ggf. nicht tatbestandsmäßig. Damit ließe 4  Vgl. etwa BGHSt 11, 111; 12, 379; 16, 303; weitere Nachweise zur Rechtsprechung bei Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., München 2014, § 223, Rn. 29. 5  Vgl. etwa Eser, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 223, Rn. 30 ff.



Zur Aufklärungspflicht des behandelnden Arztes227

sich in bestimmten Fällen, in denen der Patient die Heilbehandlung trotz medizinischer Indikation (aus von ihm selbst zu verantwortenden Gründen) nicht über sich ergehen lassen möchte, kein Weg mehr zu einer Strafbarkeit qua Körperverletzung finden. Dies ist in der Praxis etwa im Kontext von sog. Operationserweiterungen6 von Belang, wenn an sich noch ausreichend Zeit und Gelegenheit bestünde, den Patienten dazu zu befragen, ob er in die Erweiterung des Eingriffs einwilligen möchte, dies aber mit dem Argument überspielt werden soll, der erweiterte Eingriff sei nach den Regeln der ärztlichen Kunst ohnehin vorzunehmen. Die Problematik des aufgedrängten Heileingriffs ist allerdings letztlich nicht der Kern des Problems, weil man für diese Fälle immer noch den Rückgriff auf die Vorschrift über die Nötigung (§ 240 StGB) zur Verfügung hätte. Zwar sieht der Gesetzgeber bei diesem Delikt ausnahmsweise eine positive Feststellung der Rechtswidrigkeit vor, indem in § 240 Abs. 2 StGB normiert ist, dass die Nötigung nur dann rechtswidrig ist, „wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.“ Doch wenn ein Arzt sich über den erklärten Willen des Patienten hinwegsetzen würde, wäre diese Klausel wohl erfüllt. Denn man hätte jedenfalls in diesem Kontext den Eingriff auch als Gewaltanwendung zu qualifizieren, bei deren Einsatz in aller Regel auch die in § 240 Abs. 2 StGB geforderte Verwerflichkeit der Zweck-Mittel-Relation gegeben ist. Schwieriger wird es insofern aber schon mit Eingriffen, die nicht gegen den expliziten Willen des Patienten vorgenommen werden, sondern schlicht ohne seinen Willen. Hier liegt auch der Grund dafür, dass viele derjenigen, die in Deutschland für eine Tatbestandslosigkeit des ärztlichen Heileingriffs plädieren, flankierend dazu die Einführung einer entsprechenden neuen, auf die aufgedrängte Heilbehandlung zugeschnittenen Strafvorschrift vorschlagen.7 Solange es indes diese Vorschrift nicht gibt, spricht weiterhin einiges für die Ansicht des BGH. Es kommt hinzu, dass durch die Konzeption des BGH erheblicher Nachdruck darauf gelegt wird, dass die Heilbehandlung einer dem Eingriff vorhergehenden wirksamen Einwilligung bedarf, um gerechtfertigt werden zu können. Denn auf diese Weise kommen die Wirksamkeitsbedingungen einer Einwilligung ganz anders in das Blickfeld als dann, wenn man für die grundsätzliche Tatbestandslosigkeit qua Körperverletzung des lege artis vorgenommenen ärztlichen Heileingriffs plädiert. Hier trägt es auch nicht wesentlich zur Problemlösung bei, wenn man nur dann von einem Eingriff lege 6  Vgl. 7  Vgl.

etwa BGHSt 35, 246. näher dazu Eser, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 223, Rn. 31.

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artis spricht, wenn eine Einwilligung des Patienten erteilt wird. Denn damit macht man im Grunde genommen genau das, was der BGH auch macht, nur eben schon auf der Tatbestandsebene und ohne eine durchaus sinnvolle Differenzierung zwischen Tatbestandsebene (Regelfall) und Rechtfertigungsebene (Ausnahmefall). Deshalb hat der BGH auch noch das Argument der systematischen Klarheit auf seiner Seite. III. Notwendigkeit der Aufklärung Mit der Forderung des BGH nach einer wirksamen Einwilligung zur Rechtfertigung jeden ärztlichen Eingriffs kommt zugleich die zentrale Bedeutung der Aufklärung des Patienten deutlicher zur Geltung. Denn eine Einwilligung ist (abgesehen von anderen Wirksamkeitsbedingungen, wie etwa der Einwilligungsfähigkeit des Rechtsgutsinhabers) nur dann wirksam, wenn der Patient ordnungsgemäß aufgeklärt worden ist (sog. informed consent). Ohne adäquate Aufklärung weiß ein Patient überhaupt nicht, was mit ihm geschehen soll; das aber bedeutet, dass er auch gar nicht wirksam einwilligen kann. Denn auf etwas, von dem man gar nichts oder nichts Genaues weiß, kann man seinen Willen auch nicht beziehen und damit nicht wirksam einwilligen. Die weiterführende Debatte dreht sich nun allerdings nicht um diesen allgemein akzeptierten Grundsatz, sondern um die Reichweite der Aufklärungspflicht. Auch in dem oben zitierten Urteil betont der BGH zu Recht, dass der Patient aufgeklärt werden muss über: „den Verlauf des Eingriffs, seine Erfolgsaussichten, Risiken und mögliche Behandlungsalternativen mit wesentlich anderen Belastungen“.8 Und weiter heißt es in dem Urteil:9 „Inhaltlich ist der Patient über die Chancen und Risiken der Behandlung im ‚Großen und Ganzen‘ aufzuklären, ihm muss ein zutreffender Eindruck von der Schwere des Eingriffs und von der Art der Belastungen vermittelt werden, die für seine körperliche Integrität und seine Lebensführung auf ihn zukommen können. Eine solche ‚Grundaufklärung‘ hat regelmäßig auch einen Hinweis auf das schwerste, möglicherweise in Betracht kommende Risiko zu beinhalten; eine exakte medizinische Beschreibung all dessen bedarf es jedoch nicht.“

Die Konzeption des BGH, die Wirksamkeit der Einwilligung von einer angemessenen Aufklärung und die Straflosigkeit des ärztlichen Heileingriffs wiederum von der Wirksamkeit der Einwilligung abhängig zu machen, führt 8  BGH NJW 2011, 1089. – Mittlerweile sind die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Aufklärung bei medizinischen Behandlungen noch näher, aber inhaltlich weitgehend übereinstimmend mit der vorangehenden Rechtsprechung, im Zuge der Einfügung des sog. Patientenrechtegesetzes in §§ 630a ff., 630d Abs. 2, 630e BGB normiert worden. 9  BGH ebd. m. w. N.



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nun allerdings auf ein Problem, wenn der Eingriff im Hinblick auf die Heilung des Patienten erfolgreich war. Denn dann könnte es so sein, dass der Patient geheilt nach Hause entlassen wird (etwa nach erfolgreich durchgeführter Blinddarmresektion) und anschließend wegen eines Aufklärungsmangels Strafanzeige gegen den behandelnden Arzt erstattet. Nimmt man die These des BGH auch hier beim Wort, wonach eine fehlende oder nicht adäquat durchgeführte Aufklärung des Patienten die Einwilligung unwirksam macht, müsste der Arzt wegen Körperverletzung verurteilt werden. Versuche, dieser Konsequenz durch geeignete juristische Restriktionen zu entgehen, gibt es natürlich, etwa den Vorschlag von Ausnahmen bei fehlender Betroffenheit des „Schutzzwecks“ der Körperverletzungsnorm.10 Aber diese Ausnahmen sind nicht unumstritten und auch wegen ihrer Unbestimmtheit (worin liegt genau der „Schutzzweck“ einer Norm?) durchaus problematisch. Immerhin wird man sagen können, dass in solchen Fällen das inkriminierte Verhalten im Grunde in einer falschen oder versäumten Aufklärung, nicht aber mehr in einer Körperverletzung liegt. Man kommt damit allerdings unweigerlich wieder in die Nähe der vom BGH abgelehnten These, eine lege artis durchgeführte ärztliche Heilbehandlung sei schon von vornherein keine Körperverletzung. Deshalb wird man sich in solchen Fällen, die freilich eher akademisch sind, wohl mit einer teleologischen Reduktion des Körper­verlet­ zungs­tatbe­stan­des behelfen müssen. Dies führt zurück zu dem hier im Mittelpunkt stehenden Zitronensaftfall des BGH. Denn auch dort geht es vor allem um die Frage, ob die Einwilligung in die 1. Operation wegen mangelhafter Aufklärung unwirksam war. Dass die 2. Operation, also die sog. Reoperation zur Behebung der aufgrund der 1. Operation entstandenen Wundheilstörungen, nicht durch Einwilligung gerechtfertigt ist, nimmt (neben dem Landgericht) auch der BGH an. Denn insofern ist die Aufklärung schon deshalb nicht vollständig gewesen, weil der Arzt die Patientin – einmal hier ganz davon abgesehen, dass sie zum Zeitpunkt der Aufklärung vor der 2. Operation kaum noch ansprechbar war – nicht über die im Rahmen der 2. Operation geplante Behandlung mit nicht sterilisiertem Zitronensaft aufgeklärt hatte. Die 2. Operation war daher eine 10  Auch könnte eine vom BGH neuerdings auch für das Strafrecht ins Spiel gebrachte sog. hypothetische Einwilligung in Betracht kommen, wenn der Patient, der nicht oder nicht ordnungsgemäß aufgeklärt wurde, bei ordnungsgemäßer Aufklärung eingewilligt hätte; vgl. BGH NStZ 96, 34. Eine Zusammenstellung der Rechtsprechung und der inzwischen kaum noch überschaubaren Literatur zur hypothetischen Einwilligung vgl. etwa bei Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl., München 2018, § 228, Rn. 17a; Eser, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 223, Rn. 40g-h. Vgl. auch § 630h Abs. 2 S. 2 BGB; dort ist der Gedanke allerdings nur als zivilrechtliche Beweislastregelung konzipiert; zur eventuellen hypothetischen Einwilligung im vorliegenden Fall auch noch unten VII.

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rechtswidrige und auch schuldhafte Körperverletzung.11 So hatte das Landgericht als Tatsacheninstanz u. a. festgestellt, dass der Arzt daraus, dass seine Methode des Einsatzes von unsterilisiertem Zitronensaft zur „Behandlung von Wundheilungsstörungen unüblich und ungetestet war, … den richtigen Schluß gezogen [habe], dass vor größeren Operationen, bei welchen die erhöhte Gefahr des spätere Auftretens von Wundheilungsstörungen der Operationswunde bestand, von vornherein eine Aufklärung des Patienten über seine ungewöhnlichen Methoden zur Behandlung derartiger Störungen erforderlich ist.“12

IV. Zur Wirksamkeit der Einwilligung in die 1. Operation im Zitronensaftfall Zwischen dem Landgericht und dem BGH strittig war demnach letztlich nur, ob auch schon die 1. Operation rechtswidrig war, weil sie nicht von einer hinreichend aufgeklärten Ein­­willigung gedeckt wurde. Für die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, ob eine Aufklärung über den möglichen (späteren) Einsatz der Zitronensaftmethode schon zum Zeitpunkt der 1. Operation erforderlich war. Das Landgericht hat diese Frage bejaht, der BGH hat sie verneint. Gunter Widmaier hat sich in einer Besprechung dieses Falles in der Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag in dieser Frage auf die Seite des BGH gestellt und u. a. von einer „erfrischenden Entdra­ma­tisierung“ des Falles durch den BGH gesprochen.13 Die Beantwortung der gestellten Frage ist für den vorliegenden Fall vor allem deshalb brisant, weil das Landgericht an die Bejahung einer rechtswidrigen (gefährlichen) Körperverletzung zum Zeitpunkt der 1. Operation noch die Qualifikation als eine Körperverletzung mit Todesfolge gem. § 227 StGB geknüpft hatte – eine Möglichkeit, die sich bei Anknüpfung an die 2. Operation mangels Kausalität zwischen dieser 2. Operation und dem Tod der Patientin nicht ergeben hätte. Denn die Erfüllung der Vorschrift über die Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) setzt insbesondere voraus, dass der Todeserfolg durch die Körperverletzung verursacht wurde.14 Schließlich bedarf es nach der Rechtsprechung, der weite Teile der Literatur (zumindest insoweit) im Grundsatz zustimmen, für eine Anwendung von 11  Zu der Frage, ob diese Körperverletzung nach § 223 StGB zudem eine gefährliche Körperverletzung gem. § 224 StGB war, weil der Arzt bei der Reoperation ein Skalpell verwendet hat (so anscheinend im vorliegenden Fall der BGH NJW 2011, 1090), näher Hardtung, NStZ 2011, 635 ff., 637 m. w. N. 12  Zitiert nach BGH NJW 2011, 1089. 13  Widmaier 2011 (Fn. 3), S. 439 ff., 442. 14  Weiterhin fordert das Gesetz (vgl. § 18 StGB), dass hinsichtlich der Todesfolge „zumindest Fahrlässigkeit“ des Täters gegeben ist.



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§ 227 StGB einer den weiten Tatbestand dieser Vorschrift einschränkenden Voraussetzung, und zwar eines sogenannten „spezifischen Gefahrzusammenhangs“ zwischen Körperverletzung und Todesfolge.15 Obwohl die Details einer adäquaten Anwendung dieser Formel stark umstritten sind, ist doch ein Kern dieser These relativ unstrittig. Es genügt nicht der bloße Kausalzusammenhang zwischen dem Grunddelikt (also der Körperverletzung) und der Todesfolge, sondern die Körperverletzung muss gewissermaßen die Gefahr eines tödlichen Ausgangs schon in sich getragen haben. Strittig ist dabei insbesondere, ob es auf die Todesgefährlichkeit des bewirkten Körperverletzungserfolges ankommt oder ob schon die Todesgefährlichkeit der Körperverletzungshandlung ausreicht.16 Für den Zitronensaftfall muss diese letztere Streitfrage allerdings nicht geklärt werden, weil es hier nur auf Folgendes ankommt: Die 1. Operation barg durchaus im Kontext des schweren operativen Eingriffs die Gefahr eines tödlichen Ausgangs dieser Operation, so dass im Hinblick auf sie – sofern die übrigen Voraussetzungen von § 227 und § 18 StGB gegeben waren – eine Qualifikation der Körperverletzung wegen der Todesfolge, die ja in dem Fall tatsächlich eingetreten ist und auch von der 1. Operation verursacht wurde, durchaus in Betracht kam, sofern man die Einwilligung in die 1. Operation als unwirksam ansah. Zumindest wäre diese Qualifikation insoweit nicht an dem für § 227 StGB geforderten spezifischen Gefahrzusammenhang gescheitert. Eine entsprechende Anknüpfungsmöglichkeit der schweren Folge (Tod der Patientin) an die 2. Operation (also an die Reoperation zur Behandlung der Wundheilungsstörung) bestand demgegenüber erkennbar nicht. Denn die Reoperation wurde ja zu einem Zeitpunkt vorgenommen, als die Todesfolge in ihrem Kern schon (durch die 1. Operation) verursacht war; und es konnte offenbar nichts darüber festgestellt werden, dass die 2. Operation etwa den Zeitpunkt des Eintritts des Todeserfolges vorverlagert hätte. Vielmehr hat sie allenfalls den Todeszeitpunkt weiter nach hinten verschoben, was die Feststellung eines Kausalzusammenhangs zwischen der Körperverletzung durch die 2. Operation und einer Beschleunigung des Todeseintritts (also einer Lebenszeitverkürzung) hindert. Für die mögliche Verwirklichung einer Körperverletzung mit Todesfolge im Sinne von § 227 StGB kommt es im vorliegenden Fall demnach wesentlich darauf an, ob man die 1. Operation als rechtswidrig einstuft oder nicht. Dies jedenfalls vorbehaltlich der Feststellung weiterer bisher nicht festge15  Vgl. dazu etwa Stree/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 227, Rn.  3 ff. m. w. N. 16  Näher dazu Stree/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 227, Rn. 6.

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stellter Umstände, aus denen hervorgeht, dass bei der 1. Operation oder danach in medizinischer Hinsicht Fehler gemacht wurden – wie der BGH dies zu Recht im Rahmen der Zurückverweisung des Falles an das Landgericht als nicht allzu fernliegende Möglichkeit in den Raum gestellt hat.17 Im Unterschied zu der schon erwähnten Apostrophierung des BGH-Urteils durch Widmaier als „erfrischende Entdramatisierung“ scheint mir nun die Entscheidung allerdings eher Elemente einer bedenklichen Verharmlosung der Situation aufzuweisen. Denn meines Erachtens hatte das Landgericht Recht damit, schon im Hinblick auf die Einwilligung in die 1. Operation eine Aufklärung über die ggf. bei einer notwendig werdenden Nachbehandlung einzusetzende Zitronensaftbehandlung zu fordern. Gegen die These des Landgerichts, dass schon bei der 1. Operation eine Aufklärung über die Behandlung der Wundheilungsstörungen mit Zitronensaft erforderlich gewesen sei, wendet der BGH in seinem Urteil allerdings insbesondere ein:18 „Zwischen der Darmoperation und den Risiken der gegebenenfalls notwendig werdenden Folgehandlung einer Wundheilungsstörung unter Verwendung auch von (unsteril gewonnenem) Zitronensaft bestand kein derart erhöhter Gefahrzusammenhang, dass der Angeklagte die Patientin ausnahmsweise schon vor dem Ersteingriff über Art und Risiken einer etwa erforderlichen Nachbehandlung informieren musste. Die der ersten Darmoperation spezifisch anhaftende Gefahr war allein der Eintritt einer Wundinfektion. Deren Behandlung war aber gerade nicht notwendig mit einem schweren Risiko verbunden, dessen Realisierung die künftige Lebensführung der Patientin in besonders belastender Weise – wie etwa der Verlust eines Organs – beeinträchtigt hätte. So war die zusätzliche Verwendung von Zitronensaft schon nicht die einzige, alternativlose Möglichkeit zur Behandlung einer nach der Darmoperation auftretenden Wundinfektion. Vielmehr hätte diese – wie es hier zunächst auch geschehen ist – allein in der allgemein üblichen Weise durch die Gabe von Antibiotika bekämpft werden können. Nach dem Auftreten der Wundinfektion stand auch noch ausreichend Zeit zur Verfügung, um mit der Patientin ein die Frage der einzusetzenden Behandlungsmethode betreffendes Aufklärungs­gespräch zu führen und sie über die Wahl der Behandlungsalternative entscheiden zu lassen. Insoweit darf – entgegen der Ansicht des Landgerichts – nicht ausschließlich auf den Zeitpunkt unmittelbar vor Durchführung der Reoperation abgestellt werden, in dem die Patientin in ihrem gesundheitlichen Zustand bereits erheblich reduziert war. Vielmehr ist der Zeitpunkt in den Blick zu nehmen, in dem sich erstmals die Notwendigkeit der Behandlung einer Wundheilungsstörung ergab. Nach den Feststellungen entwickelte sich diese nach dem ersten Eingriff indes über mehrere Tage und führte nach fünf Tagen zu einer Behandlung mit Antibiotika. Weitere zwei Tage später nahm der Angeklagte den zweiten Eingriff vor, über den die Patientin unmittelbar davor – trotz ihres kaum mehr ansprechbaren Zustandes – aufgeklärt werden konnte. Sie hätte daher schon Tage zuvor über den geplanten zusätzlichen Einsatz von Zitronensaft unterrichtet werden können.“ 17  BGH 18  BGH

NJW 2011, 1090. NJW 2011, 1090.



Zur Aufklärungspflicht des behandelnden Arztes233

V. Einwände gegen die Argumentation des BGH zur Wirksamkeit der Einwilligung in die 1. Operation Gegen die Argumentation des BGH zu diesem Punkt ist insbesondere Folgendes einzuwenden. Meines Erachtens kann man das gesamte Operationsgeschehen, das diese Patientin über sich ergehen lassen musste, nicht einfach in eine 1. Operation und eine 2. Operation aufspalten, wie dies der BGH gemacht hat. Man mag dabei eine Formulierung des BGH heranziehen, die dieser zwar in anderen Fällen – wo sie oftmals gar nicht so gut passt – einsetzt, aber leider im vorliegenden Fall nicht verwendet. Und zwar liegt in dieser Aufteilung in zwei Operationen (und jetzt kommt der terminus technicus des BGH) „eine unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Le­bens­ vorganges“.19 Denn auch der BGH geht (mit dem Landgericht) davon aus, dass schon bei der 1. Operation die nicht fernliegende Gefahr bestand, dass es zu Wundheilungsstörungen kommen und deshalb eine Reoperation erforderlich werden könnte. Über dieses Risiko war die Patientin anlässlich der 1. Operation ja auch durchaus ordnungsgemäß aufgeklärt worden. Wenn aber die Notwendigkeit einer solche Reoperation schon bei den Aufklärungs­gesprächen zur 1. Operation durchaus im Raum stand, erscheint es auch erforderlich, über die Art und Weise aufzuklären, in der diese Reoperation von dem Arzt bzw. dem Krankenhaus bewerkstelligt werden würde. Es war nach den Feststellungen des Landgerichts in diesem Krankenhaus durchaus üblich, unsteril gewonnenen Zitronensaft zur Behandlung von Wundheilungsstörungen einzusetzen, und der behandelnde Arzt, also der Angeklagte, verwendete diese Methode jedenfalls zusätzlich zu der Gabe von Anti­biotika in solchen Fällen (wie man wohl sagen muss:) routinemäßig. Das Landgericht formuliert: „[…] der Praxis des Angeklagten entsprechend“.20 „Tatsächlich barg“ – nach den Tatsachenfeststellungen des Landgerichts, an die der BGH gebunden war – „der Einsatz des so hergestellten Zitronensaftes die Gefahr einer (weiteren) bakteriellen Verkeimung der Wunde.“21 Zwar „konnte das Landgericht nicht feststellen“, „[d]ass das Einbringen von Zitronensaft in die Operationswunde diese zusätzlich bakteriell kontaminiert hatte oder dass diese Behandlung für den Tod der Patientin ursächlich war.“22 Aber darauf kommt es auch gar nicht an. Denn im Rahmen einer ordnungsgemäßen Aufklärung muss auch über die Risiken des Eingriffs und 19  Der BGH verwendet diesen terminus technicus im Allgemeinen im Kontext der Feststellung einer prozessualen Tat im Sinne von § 264 StPO; vgl. z. B. BGHSt 13, 21 ff.; 23, 141 ff.; 23, 270 ff.; BGH NStZ 2006, 350; BGH NStZ RR 2009, 289. 20  Zitiert nach BGH NJW 2011, 1089. 21  Zitiert nach BGH NJW 2011, 1088. 22  Ebd., 1089.

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über mögliche Folgen der Behandlung einschließlich der eventuellen Notwendigkeit einer Nachbehandlung und damit sinnvollerweise auch deren Risiken und die Möglichkeiten zur Risikobegrenzung aufgeklärt werden. Denn anderenfalls kann der Patient die sich durch die 1. Operation für ihn ergebenden Folgen und Risiken überhaupt nicht adäquat einschätzen.23 Auch die Risiken der möglichen zusätzlichen bakteriellen Kontamination durch den Einsatz des nichtsterilisierten Zi­ tro­ nen­ saftes waren daher schon jetzt zur Sprache zu bringen und im Kontext der möglichen Chancen darzustellen. Das Vorliegen eines Risikos ist bekanntlich immer aus einer nachträglichen ex ante-Perspektive zu beurteilen, und ein solches Risiko kann dabei unabhängig davon gegeben sein, ob es sich dann später auch realisiert oder nicht. Dies natürlich umso mehr, als es sich bei der Behandlung mit Zitronensaft um eine (wie auch der BGH hervorhebt) „nicht dem medizinischen Stand entsprechende Außenseitermethode“24 handelt, die ja etwa auch – weil noch nicht adäquat getestet – unbekannte Nebenwirkungen haben kann. Um es an einem parallelen Beispiel aus einem anderen Kontext zu erläutern: Wer sich bei einer Wanderung im Hochgebirge einem Bergführer anvertraut, wird mit diesem im Vorhinein die Route besprechen. Dazu wird es auch gehören, dass man sich über die möglicherweise auftretenden Gefahren austauscht. Dabei sollte man auch besprechen, dass dann, wenn ein eventueller, durchaus in Betracht kommender Erdrutsch die übliche Route versperren sollte, man über ein Gletscherfeld wird gehen müssen. Warum sollte der Bergführer nun eigentlich nicht verpflichtet sein, rechtzeitig vor Antritt der Wanderung auch darüber aufzuklären, dass er bei der Überquerung dieses Gletscherfeldes darauf bestehen werde, dies in Abweichung von den allgemeinen Regeln des Bergwandersports mit Turnschuhen zu tun, weil ihm diese bessere Haftungseigenschaften zu versprechen scheinen als die üblichen Bergwanderschuhe, obwohl bisher niemand diese Eigenschaften von Turnschuhen feststellen konnte? Dieser Vergleich hinkt natürlich – wie eigentlich alle Vergleiche – aus mehreren Gründen, die ich hier gar nicht im Einzelnen thematisieren möchte. Aber er zeigt meines Erachtens doch Folgendes: Eine schwere Operation ist durchaus mit einer längeren Hochgebirgswanderung vergleichbar, wobei letz23  Das hebt der BGH in seiner Entscheidung auch zutreffend für andere Fallkonstellationen hervor, in denen das in Frage stehende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet; vgl. BGH NJW 2011, 1089 auch zu den Einzelheiten solcher Fälle; für den vorliegenden Fall bestreitet der BGH indes eine solche „spezifische Anhaftung“; vgl. BGH ebd., 1090. 24  BGH NJW 2011, 1090. – Zu den gesteigerten Aufklärungspflichten bei der Anwendung medizinischer Außenseitermethoden vgl. ausführlich Tamm 2007; Gödicke, MedR 2017.



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tere noch insofern erheblich harmloser ist, als der Wanderer sich zumeist nicht in einem körperlichen und seelischen Ausnahmezustand befindet. Jedenfalls aber kann der geführte Laie in beiden Fällen erwarten, dass man ihn über entstehende Gefahren, möglicherweise erforderlich werdende Umwege und den ggf. geplanten Einsatz unkonventioneller Methoden schon zu Beginn der Wanderung unterrichtet und nicht erst abschnittsweise und überraschend je nach weiterer Entwicklung der Wanderung, insbesondere dann nicht, wenn der Bergführer den eventuellen Einsatz bestimmter ungewöhnlicher (Fortbewegungs-) Methoden von vornherein plant. Nur bei einer solchen vollständigen Aufklärung gerade auch über die geplante Verwendung von Außen­seiter­ methoden ist für denjenigen, der diese schwere Wanderung antritt, entscheidbar, ob er sich überhaupt auf diesen Weg, insbesondere mit diesem Bergführer, einlassen will. VI. Zum zeitlichen Ablauf des Geschehens Wenn der BGH, um wieder zu dem Zitronensaftfall zurückzukehren, in seiner Argumentation gegen die Gründe des Landgerichts hervorhebt, dass ja auch nach der 1. Operation noch die Möglichkeit bestanden habe, ein Aufklärungsgespräch über die notwendig werdende 2. Operation durchzuführen, um dann bei dieser Gelegenheit die Zitronensaftmethode zur Sprache zu bringen, erscheint mir das doch einigermaßen weltfremd. Der BGH geht mit dem Landgericht durchaus einhellig davon aus, dass sich die Patientin, als die Reoperation schließlich wegen der schon über sieben Tage andauernden Wundheilungsstörung, die erst nach fünf Tagen mit Antibiotika behandelt worden war, notwendig wurde, in einem „kaum mehr ansprechbaren Zustand“ befand und der 2. Operation nur noch „durch Nicken zustimmte“.25 Man kann schon daran zweifeln, ob dieses Nicken überhaupt noch als Einwilligungserklärung aufgefasst werden kann. Letztlich kommt es für die Beurteilung der 2. Operation darauf allerdings nicht an, weil insofern ja nach übereinstimmender Ansicht von Landgericht und BGH wegen der nicht erfolgten Unterrichtung über die Zitronensaftmethode ohnehin keine wirksame Einwilligung vorlag. Problematisch an der Argumentation des BGH ist vielmehr, dass er den Angeklagten hinsichtlich der 1. Operation damit entlastet, dass dieser ja bei rechtzeitiger Kommunikation mit der Patientin diese gleich oder kurz nach dem ersten Eingriff über die geplante Zitronensaftmethode hätte unterrichten können und deswegen die Aufklärung über die Zitronensaftmethode nicht schon vor der 1. Operation notwendig war, sondern erst nach der 1. Opera25  BGH

NJW 2011, 1089.

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tion, also vor der Reoperation. Diese Argumentation ist schon deshalb weltfremd, weil es durchaus nicht untypisch ist, dass man nicht gleich nach einer 1. Operation schon wieder eine – den Organismus der im vorliegenden Fall immerhin 80-jährigen Frau ja nicht unerheblich beeinträchtigenden – 2. Operation durchführen wird. Man wird vielmehr sinnvollerweise möglichst eine gewisse Zeit zuwarten, um zu sehen, wie sich der Wundheilungsprozess entwickelt und erst im Notfall wieder zum Mittel der Operation greifen. Schon um die Patientin zu schonen, würde man daher auch kaum mit ihr gleich nach der 1. Operation schon über Details der Behandlung bei eventuell fehlschlagender Wundheilung sprechen, etwa über den Einsatz von unsterilisiertem Zitronensaft zur Behandlung nach einer Reoperation. Wer würde zudem erwarten, dass eine 80-jährige Frau, nachdem sie sich in einem Krankenhaus einer lebensgefährlichen Operation unterzogen hatte, sich noch erfolgreich gegen die Eröffnung würde zur Wehr setzen können, dass nunmehr eine Reoperation anstehe, bei der man gern auch einmal die innovative Methode einer Behandlung mit unsterilisiertem Zitronensaft würde ausprobieren wollen? Dass es insofern sogar noch schlimmer kam, weil die Patientin überhaupt nur noch durch Kopfnicken zustimmen oder ablehnen konnte, kann sich dabei kaum zugunsten des Angeklagten auswirken. Selbst dann, wenn man einmal mit dem BGH davon ausgeht, dass nach der 1. Operation noch Zeit genug war, um über die im Zuge der 2. Operation geplante Anwendung der Zitronensaftmethode aufzuklären, muss doch von vornherein klar gewesen sein, dass die Aufklärungssituation insgesamt für die Patientin jetzt ungleich belastender sein würde als vor der 1. Operation. Denn vor dieser 1. Operation hätte sie noch relativ problemlos das Krankenhaus wechseln können (es bestand, um dies noch einmal in Erinnerung zu rufen, keine akute Operationsnotwendigkeit; vielmehr hätte man mit der 1. Operation noch ca. ein halbes Jahr problemlos warten können).26 Vor der 1. Operation hätte sich die entsprechend aufgeklärte Patientin bei relevantem Unbehagen gegenüber der Zitronensaftmethode nämlich ohne allzu große Mühe in ein Krankenhaus begeben können, in dem sie statt u. a. mit Zitronensaft ausschließlich (und dann eventuell auch rechtzeitig und in zureichender Dosierung) mit Antibiotika behandelt worden wäre. VII. Hypothetische Einwilligung? Diesem Ergebnis kann auch nicht die jüngst von der Rechtsprechung entwickelte Argumentationsfigur der sog. hypothetischen Einwilligung entgegengehalten werden. Nach dieser – allerdings in Begründung und Reichweite 26  Vgl.

BGH NJW 2011, 1089.



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durchaus umstrittenen – Argumentationsfigur27 wirkt eine mangelhafte Aufklärung sich nur dann nicht negativ auf die Wirksamkeit der Einwilligung aus, wenn die Einwilligung auch bei ausreichender Aufklärung erklärt worden wäre. Dies ist – wie der Name dieser Argumentationsfigur schon aussagt – eine hypothetische Vorgehensweise, die gewissermaßen nach der Kausalität der mangelhaften Aufklärung für die Einwilligungserklärung fragt. Es bedarf für den hier vorrangig diskutierten Zitronensaftfall allerdings letztlich keiner Beantwortung der schwierigen Frage, ob die hypothetische Einwilligung, die schon deshalb problematisch ist, weil sie statt einer realen (aufgeklärten) Einwilligung gewissermaßen eine Hypothese zur Rechtfertigung für ausreichend erklärt, letztlich eine überzeugende Argumentationsfigur ist oder nicht. Denn das Landgericht hatte festgestellt – und an diese tatsächliche Feststellung war der BGH als Revisionsinstanz gebunden –, dass die Patientin, wäre sie über den Plan der Zitronensaftbehandlung „informiert worden, […] schon in die Durchführung der ersten Operation nicht eingewilligt“ hätte.28 Damit war im vorliegenden Fall gerade kein Raum mehr für die Figur der hypothetischen Einwilligung; zu Recht haben sich daher auch weder das Landgericht noch der BGH in ihren Urteilen auf diese Figur bezogen, und zwar weder bezüglich der 1. noch der 2. Operation.29 Demnach wird man entgegen der Auffassung des BGH, aber mit der Ansicht des Landgerichts, davon ausgehen müssen, dass die Einwilligung der Patientin schon im Hinblick auf die 1. Operation wegen mangelhafter Aufklärung unwirksam war. Damit lag schon zu diesem Zeitpunkt eine rechtswidrige Körperverletzung vor, für die es auch nicht an der subjektiven Tatseite mangelte. Denn dem Angeklagten war nach den Feststellungen des Landgerichts durchaus bewusst, dass „seine Methode der Behandlung von Wundheilungsstörungen unüblich und ungetestet war“; und er habe (so das Landgericht) „daraus den richtigen Schluss gezogen, dass vor größeren Operationen, bei welchen die erhöhte Gefahr des späteren Auftretens von Wundheilungsstörungen der Operationswunde bestand, von vornherein eine Aufklärung des Patienten über seine ungewöhnlichen Methoden zur Behandlung derartiger Störungen erforderlich ist.“

27  Vgl. dazu den Überblick über die Diskussion etwa bei Eser, in: Schönke/ Schröder (Fn. 4), § 223, Rn. 40g-h sowie die weiteren Literaturhinweise in ob. Fn. 10. 28  BGH NJW 2011, 1089; woraus das LG dies geschlossen hat, wird allerdings in der ausschnittsweisen Sachverhaltsdarstellung des BGH nicht wiedergegeben. 29  Entgegen Schiemann, NJW 2011, 1047 bestand für den BGH angesichts der entsprechenden klaren Tat­­sachenfeststellung durch das LG auch kein Anlass, für die 2. Operation diese Möglichkeit einer hypothetischen Einwilligung im Hinblick auf den Satz in dubio pro reo zu erörtern.

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VIII. Zur Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) Erkennt man schon in der 1. Operation eine rechtswidrige Körperverletzung wegen unwirksamer Einwilligung, dann ist auch der Weg zu § 227 StGB (Körperverletzung mit Todesfolge) eröffnet. Denn, wenn die (unwirksame) Einwilligung die in der 1. Operation liegende Körperverletzung nicht zu rechtfertigen vermag, dann trägt sie auch nicht die Rechtfertigung der Lebensgefährdung, die darin bestand, dass die Operation zum Tode der Patientin führen konnte (was ja dann auch tatsächlich geschah). Zwar beruhte diese Todesfolge kausal weder auf der 2. Operation noch auf der Behandlung mit Zitronensaft. Doch wenn man die Einwilligung in die 1. Operation mit dem Landgericht für unwirksam erklärt, ist auch die im Todeserfolg realisierte Lebensgefährdung, die zweifellos von der 1. Operation hervorgerufen wurde, nicht gerechtfertigt. Man muss allerdings noch fragen, inwieweit es für die Strafbarkeit des Angeklagten aus § 227 StGB eine Rolle spielt, dass das Landgericht nicht feststellen konnte, „dass das Einbringen von Zitronensaft in die Operationswunde diese zusätzlich bakteriell kontaminiert hatte oder dass diese Behandlung für den Tod der Patientin ursächlich war“.30 Hier wäre zu überlegen, ob in entsprechender Weise wie in der oben schon erwähnten Konstellation eines Falles, in dem zwar die Aufklärung unzureichend war, aber der medizinische Eingriff gelungen ist, aus teleologischen Gründen („Schutzzweck der Norm“) eine Haftungsbegrenzung zu fordern ist. Die strafrechtliche Haftung für den Tod des Patienten träte im Rahmen von § 227 StGB danach nur noch dann ein, wenn sich in dem Tod des Patienten gerade diejenige Gefahr realisieren würde, über die nicht genügend aufgeklärt worden ist. Eine solche Folgerung dürfte aber unzulässig sein.31 Denn dies würde einer Mentalität Vorschub leisten, gerade beim Einsatz von alternativen Behandlungsmethoden – wie im vorliegenden Fall – nicht sorgfältig über eventuelle Risiken aufzuklären und darauf zu hoffen, dass sich der Kausalzusammenhang zwischen den verschwiegenen Risiken und dem eventuellen Tod des Patienten später ohnehin nicht werde nachweisen lassen. Dies wäre insbesondere dann abzulehnen, wenn von vorn­herein klar ist, dass es sich um eine zumindest latent gefährliche Behandlungsmethode handelt. Insofern erscheint eine Bezugnahme auf die allgemeine Risikoerhöhungslehre32 erwägenswert, selbst wenn man in anderen Fallkonstellationen, für 30  BGH

NJW 2011, 1089. gegenüber einer vergleichbaren Argumentation in ähnlichem Kontext auch Eser, in: Schönke/Schröder 2014, § 223, Rn. 40i a. E. 32  Grundlegend Roxin 2006, § 11, Rn. 88 ff. 31  Kritisch



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die sie bekanntlich vorgeschlagen wird, an ihr zweifeln mag. Im vorliegenden Fall aber hatte das Landgericht ja immerhin festgestellt: „Tatsächlich barg der Einsatz des so hergestellten Zitronensaftes die Gefahr einer (weiteren) bakteriellen Verkeimung der Wunde.“33 Wenn man zudem in Rechnung stellt, dass es bei einer Entzündung, an der die Patientin nachweislich zu Tode gekommen ist, stets auch um die Quantität der im Entzündungsherd vorhandenen Keime geht, lässt sich daher eine Erhöhung des Risikos für einen tödlichen Ausgang der Operation beim Einsatz der Zitronensaft-Methode nicht von der Hand weisen. Wobei es an dieser Risikoerhöhung als solcher nichts ändert, dass sich ein direkter Kausalzusammenhang nicht nachweisen ließ. Da der Angeklagte die tatsächlichen Voraussetzungen dieser Risikoerhöhung auch durchaus kannte bzw. zumindest kennen musste, ist auch die von § 18 StGB geforderte subjektive Beziehung („wenigstens Fahrlässigkeit“) des Täters in Bezug auf die Todesfolge gegeben. Man wird deshalb daran festhalten müssen, dass die Aufklärung der Patien­ tin im vorliegenden Fall schon vor der 1. Operation unzureichend war und deshalb die Einwilligung in die 1. Operation nicht wirksam sein konnte. Damit hat der Angeklagte eine rechtswidrige Körperverletzung begangen, durch die die vorhersehbare Todesfolge ebenso rechtswidrig verursacht wurde. Deshalb ist der Qualifikationstatbestand des § 227 StGB anwendbar und seine Anwendbarkeit ist zumindest im vorliegenden Fall auch nicht im Wege teleologischer Reduktion dahingehend zu begrenzen, dass sich in der Todesfolge gerade das Risiko realisiert haben müsste, über das nicht zureichend aufgeklärt wurde. Literaturverzeichnis Gödicke, Patrick: Medizinische Grundaufklärung bei Neulandmethoden. Zur gebotenen Abgrenzung von Grundaufklärung und Aufklärung im Großen und Ganzen und ihren Haftungskonsequenzen im Zuge klinischer Studien – zugleich Besprechung von OLG Hamm, Beschlüsse vom 15.2.2016 und 18.4.2016 (Az. 3 U 59/15), in: MedR 2017, 770 ff. Hardtung, Bernhard: Ärztliche Aufklärung über Außenseitermethode – „Zitronensaftfall“, in: NStZ 2011, 635 ff. Jahn, Matthias: Einwilligung bei Operation und Folgeoperation, in: JuS 2011, S.  468 ff. Kaufmann, Matthias: Recht ohne Regel? Die philosophischen Prinzipien in Carl Schmitts Staats- und Rechtslehre, Freiburg/München 1988. Kaufmann, Matthias: Rechtsphilosophie, Freiburg/München 1996. 33  BGH

NJW 2011, 1088.

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Kaufmann, Matthias: Recht, Berlin/Boston 2016. Kindhäuser, Urs/Neumann, Ulfrid/Paeffgen, Hans-Ullrich (Hrsg.): StGB, Kommentar, 5. Aufl. 2017 [zitiert nach Bearbeitern, Paragraphen und Randnummern]. Kraatz, Erik: Aus der Rechtsprechung zum Arztstrafrecht 2016/2017 – 1. Teil, in: NStZ-RR 2017, 329 ff. Lackner, Karl/Kühl, Kristian: StGB, Kommentar, 29. Aufl., München 2018 [zitiert nach Paragraphen und Randnummern]. Roxin, Claus: Strafrecht AT, 4. Aufl., München 2006. Schiemann, Anja: Der „Zitronensaftfall“ – Die ärztliche Aufklärungspflicht bei der Anwendung von Außenseitermethoden, in: NJW 2011, 1046 ff. Schönke, Adolf/Schröder, Horst: StGB, Kommentar, 29. Aufl., München 2014 [zitiert nach Bearbeitern, Paragraphen und Randnummern]. Tamm, Burkhard: Die Zulässigkeit von Außenseitermethoden und die dabei zu beachtenden Sorgfaltspflichten, Berlin 2007. Wasserburg, Klaus: Rechtsprechung zum Arztstrafrecht, NStZ 2013, 267 ff. Widmaier, Gunter: Der Zitronensaft-Fall – Zum Risikozusammenhang nach Aufklärungsmängeln bei der ärztlichen Heilbehandlung, in: Manfred Heinrich/Christian Jäger/Bernd Schünemann (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, Berlin 2011, S. 439 ff. Ziemann, Sascha/Zieten, Jörg: Der ärztliche Heileingriff als „Heilangriff“ – die medizinische Außenseitermethode als gefährliche Körperverletzung. Zugleich eine Besprechung des Urteils des 3. Strafsenats des BGH vom 22. Dezember 2010 = HRRS 2011 Nr. 284 („Zitronensaft-Fall“), in: HRRS 2011, 394 ff. Zöller, Mark A.: Wirksamkeit der Einwilligung bei ärztlichem Heileingriff und medizinischer Außenseitermethode (Entscheidungsanmerkung), in: ZJS 2011, 173 ff.

Ein Plädoyer für den Rechtspositivismus Von Jean-François Kervégan Vor etwa dreißig Jahren hatte ich einen Aufsatz veröffentlicht, dessen These war, dass der deutsche Idealismus, noch bestimmter Hegels Rechtsphilosophie durch eine gewisse Strategie der Rekonstruktion Argumente für den Rechtspositivismus schaffen konnte.1 Ich war mir damals völlig bewusst, dass eine solche These paradox klingt. Kant und seine Nachfolger haben nämlich das moderne naturrechtliche Programm nicht nur nicht aufgegeben, sondern vielmehr mit der Feststellung verschärft, dass das „Vernunftrecht“, anders gesagt das „philosophische Recht“, die einzige legitime Grundlage des positiven Rechts ausmacht. Die in der Rechtsphilosophie Hegels gegen die Wortführer der historischen Rechtsschule Hugo und Savigny ausgelöste Polemik ist ein Vorzeichen einer Trennung von Philosophie und Rechtswissenschaft, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der Entwicklung des „wissenschaftlichen“ Rechtspositivismus vollziehen sollte. Wenn aber die verschiedenen Varianten des Rechtspositivismus etwas gemeinsam haben, dann ist es die Ablehnung des Naturrechts, worüber Bernhard Winscheid gegen Mitte des 19. Jahrhunderts folgende Beurteilung äußern konnte: „Der Traum des Naturrechts ist ausgeträumt, und die titanenhaften Versuche der neueren Philosophen haben den Himmel nicht gestürmt“.2 Was meines Erachtens jedoch erlaubt, in gewisser Hinsicht Hegel als einen Vorläufer des Rechtspositivismus, also einer stark „antiphilosophischen“ Konzeption des Rechts darzustellen, ist der Umstand, dass Hegels Konzeption der Rationalität auf einem völlig anderen Begriff der Vernunft als demjenigen der vorigen, „empirischen“ sowie „formalistischen“ naturrechtlichen Lehren beruht. Die spekulative (nicht empirisch beweisbare) Behauptung, dass „die Vernunft gegenwärtig“ ist, die These, dass das Gesetz als „Vernunft der Sache“ eine Hauptmanifestation der Präsenz der Vernünftigkeit in der Wirklichkeit ist,3 bringen meines Erachtens das Konzept eines erneuerten Verhältnisses zwischen der „metapositiven“ philosophischen Rationalität und der Positivität rechtlicher Normen, sowie zwischen der kognitiven und der normativen Funktion der Vernunft, mit sich. 1  Kervegan

1989, S. 47–68. 1904, S. 9. 3  Hegel 2009, S. 11. 2  Windscheid

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Jean-François Kervégan

Da meine damalige Argumentation die klassische deutsche Philosophie und den deutschen Rechtspositivismus des 19. und anfangenden 20. Jahrhunderts (mit Ausnahme der Lectures on Jurisprudence von J. Austin) fast ausschließlich berücksichtigte, war sie unvollständig; sie war übrigens dem massiven Einwand ausgesetzt, dass der Rechtspositivismus im Allgemeinen der Philosophie, ganz besonders der Art von Philosophie, die ich im Sinn hatte, stets misstraute. Ich glaube nun, dass die Demonstration vervollständigt und verbessert werden kann. Der deutsche Idealismus vermag nämlich dem Rechtspositivismus nicht nur wegen seiner extensiven Konzeption der Rationalität Stoff liefern, sondern auch deshalb, weil er als erste philosophische Strömung sich dem Problem der Differenzierung der Normensysteme gestellt hat, die meines Erachtens eine wesentliche Voraussetzung jeder Art von Rechtspositivismus darstellt. Die vormodernen Gesellschaften waren kulturell, religiös und sozial homogen, so dass die in ihnen wirksamen Normengefüge als grundsätzlich einheitlich und aus einer einzigen Quelle ausströmend erscheinen konnten. Die klassische Naturrechtslehre, wie sie von Grotius, Pufendorf oder Wolff dargestellt wurde, veranschaulicht diese einheitliche Auffassung der Normativität, wonach in letzter Instanz die in der menschlichen Vernunft als moralische Normen übersetzten göttlichen Gebote die Grundlage der Rechtsregeln sowie der Maximen der politischen Kunst sind. Kurzum, in modernen Naturrechtslehren (mit wenigen Ausnahmen, wie z. B. bei Thomasius), ist das Naturrecht insgesamt identisch mit der Gesamtheit der durch menschliche Vernunft erkennbaren moralischen Regeln. Das positive Recht beruht daher auf einem Korps moralischer Wahrheiten, die die Quelle und den Geltungsgrund seiner Normen ausmachen. I. Die „Trennungsthese“ im Rechtspositivismus Der deutsche Idealismus ist, neben dem Utilitarismus, die erste philosophische Strömung, die vom Prozess der Ausdifferenzierung normativer Systeme Rechenschaft zu geben versuchte. Dieser Prozess führt die modernen Gesellschaften dazu, den von Max Weber noch als beunruhigende Perspektive evozierten Polytheismus der Werte im Alltag zu leben. Die klassische deutsche Philosophie, insbesondere bei Kant, Fichte und Hegel, versucht nämlich, die Spezifizität der Rechtsnormen angesichts der moralischen, bzw. ethischen Normen näher zu bestimmen. Trotz ihrer starken These der Einheit der theoretischen und der praktischen Vernunft hat sie eine Hauptrolle in diesem Prozess der Entkoppelung gespielt, da ihre Hauptvertreter feststellen, die Geltung der Normen des äußeren Verhaltens sei unabhängig von der inneren (moralischen) Zustimmung der Subjekte zu jenen Normen; mit anderen Worten, die Rechtsprinzipien sind unabhängig von denjenigen der Moral (bzw. Ethik) und haben eine gleiche Würde. Dieser Grundposition entsprechen bei



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Kant die Einteilung der Metaphysik der Sitten in Rechtslehre und Tugendlehre (Ethik) und bei Fichte die Quasi-Parallelität von Naturrecht und Sittenlehre. Nach Fichte, z. B., soll die „philosophische Rechtslehre“ kein „Kapitel der Moral“, sondern „eine eigene, für sich bestehende Wissenschaft“ sein.4 In der Tat steht solche Entkoppelung von Recht und Moral im Zentrum der üblichen rechtspositivistischen Konstruktion. Vom rechtspositivistischen Standpunkt aus sind Recht und Ethik zwei unabhängige Normensphären, die jeweils über eigene Geltungskriterien und autonome Konsistenz (normative Schließung) verfügen. Unter ihnen besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied: in der Ethik gibt es keine „positiven“ Normen, weil keine einzige erkennbare Grundnorm oder Anerkennungsregel, daher keine einzig gültige selbstständige Normenordnung bestimmt werden kann. Dem Recht liegen verschiedene ethische Normensysteme gegenüber, unter denen ein jedes einen (relativen) Geltungsanspruch erheben kann. Recht und Ethik sollen also strikt getrennt werden. In einem bekannten Aufsatz, dessen substantielle Ansichten in The Concept of Law wiederholt sind, bemerkt aber Herbert L. A. Hart, dass diese Position mindestens zu zwei unterschiedlichen Thesen Anlass gibt, und zwar: 1. es gibt keinen notwendigen Zusammenhang zwischen Recht und Moral, das heißt zwischen dem bestehenden Recht und unseren Wunschvorstellungen über das Recht; 2. man kann keine moralischen Urteile aufgrund einer rationalen Argumentation, bzw. Demonstration fällen (ethischer Nicht-Kognitivismus).5 Kelsen z. B. vertritt die beiden Thesen: er be­ hauptet nämlich einerseits, dass das Recht als Zwangsordnung von der Moral strukturell unterschieden ist,6 und andererseits, dass der ethische Relativismus unvermeidbar ist.7 Bei ihm hat man es also mit einer Radikalisierung der Trennungsthese (hard positivism) zu tun. Seinerseits verkörpert Hart eine mäßige Fassung des Rechtspositivismus (soft positivism), wonach weder die erste, noch die zweite These unbedingt gelten.8 Was die Unbeweisbarkeit der moralischen Urteile betrifft, bemerkt er, dass die Ablehnung der nichtkognitivistischen These die Trennung von Recht und Moral keineswegs abschwächt: „laws, however morally iniquitous, would still be laws“.9 Er gesteht aber die Existenz eines „partial overlap“ von rechtlichen und moralischen Normen ein.10 Selbstverständlich beinhalten die Regeln der Moral ge4  Fichte

1971, S. 10. 1983, S. 49–87, insbesondere S. 56–58; Hart 1994, S. 302. 6  Kelsen 2000, S. 64; Kelsen 1945, S. 20. 7  Kelsen 2000, S. 65–66. 8  Hart 1994, S. 250–254; Hart führt diese nähere Bestimmung ein, um die Einwände Ronald Dworkins zu widerlegen. 9  Hart 1983, S. 84. 10  Hart 1983, S. 81; Hart 1994, S. 171. 5  Hart

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wisse formelle Eigenschaften, die sie von den Rechtsregeln unterscheiden. Es gibt jedoch darunter eine graue Zone, die es erlaubt, von einem „minimum content of natural law“ zu sprechen.11 Innerhalb des rechtspositivistischen Lagers betrifft die Uneinigkeit nicht die zweite, skeptische These, die den Wahrheitsanspruch ethischer Aussagen bestreitet, sondern eher die Trennungsthese als solche. Selbst in rechtspositivistischer Hinsicht kann nämlich diese Trennung unterschiedlich interpretiert werden, so dass der auf den ersten Blick unüberbrückbare Abstand von Rechtspositivismus und Naturrechtslehre sich unter diesem Gesichtspunkt bedeutsam einschränken lässt. Die Trennungsthese kann nämlich z. B. in Kantianischer Hinsicht übernommen und begründet werden. Dass bei Kant alle Rechtsnormen eo ipso ethische Pflichten sind, bedeutet keineswegs, dass sie deswegen aufhören, Normen des Rechts zu sein; dies bedeutet nur, dass es eine allgemeine ethische Regel ist, dass die Vorschriften des Rechts zu befolgen seien.12 Es stimmt zwar, dass die These, wonach es keine „ethischen Wahrheiten“ gibt, mit Kants praktischer Philosophie auf den ersten Blick unvereinbar ist. Habermas hat sogar geltend gemacht, dass jede kognitivistische Ethik mit derjenigen Kants verknüpft ist.13 Wenn jedoch der Umstand berücksichtigt wird, dass die Kritik der praktischen Vernunft irgendwelche „materielle Ethik“ verwirft und ein „formales“ oder prozedurales Prinzip (das „Prinzip U“ von Apel und Habermas) bevorzugt,14 scheint eine Form von Nicht-Kognitivismus, daher auch eine ziemlich starke Variante des Rechtspositivismus, vom Kantianischen Standpunkt akzeptabel. Eine vorsichtige Annäherung von klassischer deutscher Philosophie und Rechtspositivismus sagt uns also vieles über den theoretischen Ort des letzteren, jedenfalls mehr als das, was er selbst einsehen würde. II. Widerlegung des Positivismus: gestern und heute Obwohl der Rechtspositivismus die Rechtstheorie und Jurisprudenz seit zwei Jahrhunderten dominiert, ist er bis heute bestritten worden. Traditionelle Gegner sind die Vertreter eines neo-aristotelischen oder christlich-thomistischen Naturrechts (wie Alasdair McIntyre oder Michel Villey) sowie die Kritiker der modernen Perversion des klassischen Naturrechts (Leo Strauss 11  Hart

1994, S. 193. Kant 1914, S. 219: „Hieraus ist zu ersehen, dass alle Pflichten bloß darum, weil sie Pflichten sind, mit zur Ethik gehören; aber ihre Gesetzgebung ist darum nicht allemal in der Ethik enthalten, sondern von vielen derselben außerhalb derselben“. 13  Habermas 1983, S. 53 und 87 ff. 14  Siehe Kant 1913, S. 39–40. Vgl. mit Apel 1988; Habermas 1983, insbes. Kap. 3; Habermas 1991, S. 11 ff., 185 ff. 12  Siehe



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und seine Schule). Im deutschen Raum haben während der Weimarer Zeit prominente Staatsrechtler wie Carl Schmitt und Rudolf Smend die „herrschende Lehre, also den unter anderen von G. Anschütz, R. Thoma und G. Radbruch vertretenen Rechtspositivismus“, heftig bestritten. Der amerikanische legal realism (O. W. Holmes, K. Llewellyn u. a.) kann auch als eine Reaktion gegen den im angelsächsischen Sprachraum von Jeremy Bentham und John Austin vertretenen Gesetzespositivismus betrachtet werden. Die antipositivistische Reaktion hat sich doch erst nach dem zweiten Weltkrieg völlig entwickelt. Die Erfahrung der Massenverbrechen, die das Hitler-Regime auch unter der Flagge der Legalität begangen hat, belebte die alte, vom Rechtspositivismus als Illusion denunzierte Vorstellung wieder, die Legalität könne illegitim, das Recht könne ungerecht sein. In einem bedeutenden Aufsatz aus dem Jahre 1947 erklärt der reumütige Positivist Gustav Radbruch den Krieg gegen den Rechtspositivismus, dessen Schlagwort „Gesetz ist Gesetz“ die legale Kriminalität des national-sozialistischen Staates teilweise ermöglicht hätte. Vom rechtspositivistischen Standpunkt aus, schreibt er, sind Begriffe wie „gesetzliches Unrecht“ und „übergesetzliches Recht“ ein „Widerspruch in sich“.15 Der Positivismus hat folglich die Juristen „wehrlos gemacht gegen Gesetze verbrecherischen Inhalts“, weil er glaubte, „die Geltung eines Gesetzes schon damit erwiesen zu haben, dass es die Macht besessen hat, sich durchzusetzen“; aber „auf Macht lässt sich vielleicht ein Müssen, aber niemals ein Sollen und Gelten gründen“.16 Lassen wir die Tatsache außer Acht, dass die meisten Rechtspositivisten, beispielsweise Kelsen und Radbruch selbst, entschiedene Gegner des Nationalsozialismus waren, während manche Antipositivisten (wie Carl Schmitt u. a.) sich daran eifrig angeschlossen haben. Noch bedeutender ist der theoretische Umstand, dass trotz Radbruchs Behauptung der Rechtspositivismus keineswegs wehrlos ist gegen die Terrorordnung totalitärer Staaten, da er implizit davon überzeugt ist, dass die Herrschaft des Gesetzes nur insofern berechtigt ist, als das Gesetz eine „öffentliche Vernunft“ verkörpert. Eine öffentliche Vernunft, die wie im Nazi-Regime weder öffentlich, noch vernünftig sei: das ist für einen konsequenten Vertreter des Rechtspositivismus unvorstellbar. Der Rechtspositivismus erfordert also keine blinde Verehrung der Macht; er trägt vielmehr die nüchterne Überzeugung mit sich, dass in Ermangelung von unbestreitbaren ethischen und politischen Wahrheiten (bzw. Normen) die abstrakte und formale Prozeduralität des Rechts der unumgängliche Weg zum friedlichen Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft ist. Das hat Herbert Hart in seiner Diskussion mit Lon Fuller auf Musterweise demonstriert.17 15  Radbruch

1990, S. 83. 1990, S. 88. 17  Hart 1983, S. 49–87. 16  Radbruch

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Die Frage der Konsistenz des Rechtspositivismus ist dennoch auf dem Tisch geblieben und ist von bedeutenden Rechtstheoretikern und Philosophen des 20. Jahrhunderts wiederum gestellt worden. Kann man die Geltung rechtlicher Normen und der Rechtsordnung insgesamt festlegen, ohne auf überrechtliche Normen und Argumente zu rekurrieren? Ist eine Rechtsgesellschaft wirklich unabhängig von der Annahme gewisser moralischer und politischer „substantieller“ Wahrheiten? Ist ein wertneutraler Positivismus fähig, die nicht nur sittliche, sondern rechtliche Kohärenz einer pluralen Gesellschaft zu garantieren? Diese Fragen sind z. B. 1958 in der „Reply to Professor Hart“ von Lon Fuller gestellt, der die „internal morality of law“ mit Nachdruck betont.18 Sie sind auch u. a. von Ronald Dworkin und Jürgen Habermas unlängst gestellt worden. Solche Fragen und die von diesen Autoren vorgeschlagenen Antworten setzen meines Erachtens einen naturrechtlichen Rahmen voraus, der selbstverständlich anders als die Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts und ihre Neugestaltung durch Kant, Fichte und Hegel aussieht. Habermas z. B. geht es darum, die Vernunftrechtlehre in der Gestalt einer prozeduralen Theorie des Rechts zu rekonstruieren; es handelt sich zwar um keine Neugestaltung eines „übergeordneten Vernunftrechts“, aber doch um eine Rekonstruktion der „moralischen Grundlagen des positiven Rechts“.19 Dworkin stellt seinerseits fest, dass die Menschen „moralische Rechte gegen den Staat“ haben.20 Beide Autoren setzen die naturrechtliche Tradition wenigstens darin fort, dass sie ein starkes Band zwischen Recht und Moral aufrechterhalten möchten. Deshalb ist es nicht überraschend, dass sie den Rechtspositivismus kritisch beurteilen. Hier werden die Hauptlinien der Argumentation Dworkins kurz dargestellt und kritisch erörtert, bevor ich zu Kants Begründung der Abkoppelung von Recht und Moral zurückkomme. Ronald Dworkin hat in Taking Rights seriously und weiteren Veröffentlichungen einen „allgemeinen Angriff auf den Positivismus“ unternommen,21 sei es in der klassischen Gestalt der utilitaristisch-imperativistischen Theorie Benthams und Austins oder in der raffinierten Gestalt des Regelmodells Herbert Harts. Dworkin zufolge beruht nämlich der Rechtspositivismus auf der Grundüberzeugung, dass „law exists only in virtue of some human acts or decisions“;22 tatsächlich entspricht diese Aussage dem ersten Hartschen Kriterium des Rechtspositivismus.23 Diese Überzeugung ist für Dworkin deshalb 18  Fuller

1958, S. 630–672. 1998, S. 594. 20  Dworkin 1984, S. 248. 21  Dworkin 1984, S. 54. 22  Dworkin 1985, S. 131. 23  Hart 1994, S. 302; Hart 1983, S. 57, Fn. 25. 19  Habermas



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falsch und gefährlich, weil sie „die Vorstellung, dass juristische Rechte vor irgendeiner Form der Gesetzgebung existieren könnten“, ausschließt.24 Dagegen beruft sich Dworkin vorsichtig auf die naturrechtliche Tradition, um seine eigene rights thesis zu verstärken. Die Grundrechte als „moralische Rechte gegen den Staat“ sind nämlich „in diesem Sinn natürlich, dass sie nicht das Ergebnis einer Gesetzgebung, Konvention oder eines hypothetischen Vertrags sind“.25 Diese Art von Widerlegung des Rechtspositivismus führt also zu einer „Verschmelzung“ von rechtlichen und moralischen Fragen, also zur Relativierung des positivistischen Dogmas der Abgrenzung von Recht und Moral.26 Dworkins Widerlegung des Positivismus unterstreicht seine Ohnmacht, die sogenannten hard cases zu lösen. Eine solche Lösung soll die rights theory dank der Unterscheidung zwischen Regeln (rules) und Prinzipien (principles) leisten. Die schwierigen Fälle sind nämlich „a matter of principle“, weil sie nur dann lösbar sind, wenn man nicht nur auf rechtliche Regeln oder auf politisch-soziale Zielsetzungen (policies) rekurriert, sondern auf Prinzipien, deren Befolgung „ein Gebot der Gerechtigkeit oder Fairness oder einer anderen moralischen Dimension ist“.27 Solche Prinzipien sind offensichtlich moralischer Natur. Darf man sie jedoch als Rechtsprinzipien betrachten? Es hängt davon ab, wie das Recht definiert ist. In positivistischer Hinsicht spiegeln die Prinzipien moralische oder religiöse Überzeugungen wider; sie sind deshalb keineswegs rechtlicher Natur. Für Dworkin hingegen sind die Prinzipien notwendige, überpositive Bestandteile einer rechtstheoretischen Rekonstruktion der „besten“ richterlichen Entscheidung schwieriger Fälle, wie sie ein „philosophischer Richter“ treffen würde. Diese (notwendige) Berücksichtigung von überpositiven Prinzipien führt zur Erweiterung des Rechtsbegriffs: „das ‚Recht‘ schließt Prinzipien ebenso wie Regeln ein“.28 Dieser erweiterte Rechtsbegriff überschreitet die Grenze zwischen Recht, Moral und Politik. Die Prinzipienfragen sind nämlich Fragen der political morality, die selbstverständlich kontrovers sind. Es handelt sich nun darum, die bestmögliche Kombination von moralischen Prinzipien zu erstellen, die die Entscheidung der hard cases in Kohärenz mit dem positiven Gesetz und der Rechtsprechung rechtfertigen kann. Jenseits der Rehabilitierung überpositiver Prinzipien zielt Dworkin darauf, die „semantischen“ Rechtstheorien durch eine hermeneutische Auffassung desselben zu ersetzen. Eine semantische Rechtstheorie im Sinne Dworkins 24  Dworkin

1984, 1984, 26  Dworkin 1984, 27  Dworkin 1984, 28  Dworkin 1984, 25  Dworkin

S. 13. S. 245 u. 292. S. 323. S. 55. S. 65.

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ist eine solche, nach welcher „lawyers all follow certain linguistic criteria for judging propositions of law“.29 Die Tatsache, dass er darin die klassische Naturrechtslehre sowie den Rechtspositivismus einschließt, zeigt meines Erachtens, dass er substantielle Theorien meint, die die Geltung der Rechtsnormen von der inhaltlichen Bestimmung der Oberbegriffe der Rechtstheorie abhängen lassen. Die hermeneutische Rechtsauffassung begreift dagegen die Rechtstheorien nicht als substantielle Definitionen der Rechtsbegriffe, sondern als „a satisfactory foundational interpretation of our own legal practice“.30 Diese „interpretative“ Rechtstheorie gipfelt in der bekannten Analogie von Recht und Literatur.31 Die richterliche Entscheidung über die schwierigen Fälle, die den heutigen Zustand der Gesetzgebung sowie der Rechtsprechung berücksichtigen muss, hat etwas zu tun mit der Teilnahme an einem literarischen Spiel, in dem verschiedene Schriftsteller die Fortsetzung einer Erzählung schreiben sollen, die von einem anderen angefangen wurde; und die rechtstheoretische Beschäftigung selbst ist gewissermaßen derjenigen des Literaturkritikers ähnlich, der versucht, unter den verschiedenen Fortsetzungsmöglichkeiten derselben Erzählung die beste auszuwählen. Die „narrative consistency“,32 nicht die syntaktische Folgerichtigkeit oder die semantische Exaktheit, ist hier das Hauptkriterium. In diesem „complex chain enterprise“ darf selbstverständlich der einzelne Akteur nicht willkürlich handeln: er soll die „integrity and coherence of law as an institution“ bevorzugen.33 Mit anderen Worten handelt es sich darum, den „Geist der Gesetze“ oder, mit Dworkins Worten, „the law as integrity“ zu berücksichtigen.34 Eine Mutmaßung über den Namen des philosophischen Richters Dworkins sei nun gewagt: er heißt nicht nur deshalb Herkules, weil er übermenschliche Kapazitäten besitzt, sondern weil er klug und scharfsinnig ist wie Hercule Poirot, Agatha Christies Detektiv. Er ist nämlich derjenige, der eine zerbrochene, lückenhafte, teils lügnerische Erzählung sinnvoll rekonstruiert. Aber darin steckt die Schwierigkeit jener antipositivistischen Konstruktion. Bekanntlich schlägt Hercule Poirot verschiedene Deutungen der kriminellen Erzählung vor, bevor er zur Wahrheit gelangt und den wirklichen Täter entlarvt: ähnlich geht Dworkins Superrichter vor. Ich fürchte nun, die Berufung auf das „moral reading“ des Rechts könne die Tür zur vollen literarischen Willkür und Fantasie öffnen. Um die richtige (d. h. rechtlich, politisch und 29  Dworkin 30  Dworkin 31  Dworkin 32  Dworkin 33  Dworkin 34  Dworkin

1986, 1986, 1985, 1985, 1985, 1986,

S. 32. S. 100. S. 134 ff. u. 146 ff. S. 139 ff. S. 159, 161. S. 225–275.



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moralisch vertretbare) Lösung zu treffen, darf z. B. Dworkins Herkules „einen bestimmten Teil der institutionellen Geschichte [d. h. der Rechtsprechung] als Irrtum außer Betracht lassen“.35 Er darf auch manchmal einschätzen, dass „die Moral der Gemeinschaft in diesem Fall inkonsistent ist“ und dagegen eine „politische Entscheidung“ nehmen.36 Der Richter darf sogar lügen, „wenn er entscheidet, dass die Gründe, welche die moralischen Hintergrundsrechte liefern, so stark sind, dass er eine moralische Pflicht hat, alles in seiner Macht Stehendes zur Stützung [eines Rechtsanspruchs] zu tun“!37 Es scheint also, dass Herkules einzige feste „Metaregel“ ist, dass er jedenfalls auf seine „innere Überzeugung“ vertrauen soll. Das ist eine ziemlich riskante Rechtstheorie, welche übrigens mit einer Rechtsauffassung kohärent ist, die „the purer form of law within and beyond the law we have“ sucht.38 III. Kants Votum für die Ausdifferenzierung des Rechts als indirekte Legitimierung des Rechtspositivismus Den Irrungen gegenüber, wozu die (sehr) freie antipositivistische Rechtshermeneutik Dworkins führen könnte, scheint es geeignet, an Kants Auffassung der Autonomie der rechtlichen Normativität zu erinnern. Kant als einen Wegbereiter des Rechtspositivismus darzustellen, steht natürlich außer Frage; ich möchte vielmehr nahe legen, dass ein philosophisch reifer Positivismus nicht nur zu utilitaristischen Argumenten (wie es in der gegenwärtigen englischsprachigen Rechtsphilosophie meistens der Fall ist), sondern auch zur Begrifflichkeit greifen darf, die aus der Kantianischen Tradition stammt. Es ist durchaus klar, dass Kant sich selbst als ein Fortsetzer eher als ein Totengräber der naturrechtlichen Tradition betrachtet. Er will nämlich dem Naturrecht die bisher mangelnde Grundlage einer normativen Konzeption der reinen Vernunft verschaffen. Die Vernunft wird als ein „autonomes“ (d. h. auch: von der sozialen und politischen „Normalität“ unabhängiges) Vermögen begriffen, Handlungsnormen vorzuschreiben, deren Geltung von irgendwelchem empirischen Kontext unabhängig und (unter der Garantie des „Faktums der Vernunft“) universell akzeptabel ist. Es ist für Kant wie für die naturrechtliche Tradition durchaus klar, dass das positive („statutarische“) Recht erst dann gültig ist, wenn es sich auf Vernunftprinzipien gründet, die den Inhalt des „Naturrechts“ (bzw. Vernunftrechts) ausmachen. Wie nach ihm Fichte und Hegel ist also Kant kein „Positivist“, weil er die begriffliche Un35  Dworkin

1984, 1984, 37  Dworkin 1984, 38  Dworkin 1986, 36  Dworkin

S. 203. S. 214, 216. S. 522. S. 407.

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abhängigkeit des positiven Rechts verneint: „alles Recht [muß] blos auf Vernunftprincipien beruhen, selbst das statutarische, dessen Gesetze den Rechtsprincipien auch gemäß seyn müssen“.39 Dennoch ist es sinnvoll, bei ihm Argumente gegen den heutigen antipositivistischen Trend der Rechtsphilosophie auszumachen. Für ihn (wie für seine Nachfolger Fichte und Hegel) ist nämlich das Naturrecht keine abstrakte Idealität mehr: die nachrevolutionäre Welt hat die Aufgabe, seine Prinzipien zu verwirklichen, also das Vernunftrecht nicht nur als idealen Maßstab des positiven Rechts zu betrachten, sondern es nach und nach positiv zu machen.40 Natürlich bedeutet das nicht, dass Kant ein Positivist ist; man darf aber mutmaßen, dass bei ihm ein neues Verständnis des Verhältnisses von Rationalität und Positivität entsteht, das der spätere Rechtspositivismus sich implizit aneignen wird. Dazu kommt, dass Kant starke Argumente für eine rechtspositivistische Kernthese erstellt, und zwar für das, was ich die Trennungsthese nenne. Kelsen betont, dass die Absonderung von Recht und Ethik eine wesentliche Komponente des rechtspositivistischen Ansatzes ist: „eine Theorie des positiven Rechts erhebt die Forderung, Recht und Moral im allgemeinen und Recht und Gerechtigkeit im besonderen von einander zu unterscheiden“.41 Auch Anhänger des soft positivism betrachten die Unterscheidung beider Arten von Normativität als wünschenswert, selbst wenn sie (wie Hart) eine gewisse Unbestimmtheit ihrer Grenzen zugeben. Wie sieht es bei Kant aus? Man muss darauf aufmerksam machen, dass die in der Metaphysik der Sitten vertretene Position sich von der Problematik der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft wesentlich entfernt. In diesen Werken führt die Unterscheidung von Moralität und Legalität zu einem klaren Ausschluss des Rechts aus der Sphäre der rein vernünftigen Normativität: der reine Teil der Moralphilosophie war daher identisch mit der Ethik oder Sittenlehre.42 Die Metaphysik der Sitten hingegen nimmt eine klare Aufwertung der rechtlichen Normativität vor: ihre Struktur ist zwar von derjenigen der sittlichen Normativität unterschieden, aber sie gehört vollkommen zum Feld der rein vernünftigen Normativität, also zur Metaphysik der Sitten. Es gibt nunmehr zwei gleichrangige Arten der moralischen Normativität, deren Unterschied nicht so sehr die Objekte der Normierung, als vielmehr die „Art der Verpflichtung“ betrifft.43 Es ist durchaus möglich, ein sittliches Verhältnis der inneren Zustimmung zur Rechtsnorm, sowie ein nur rechtliches, „äußeres“ Verhältnis zur sittlichen Norm zu haben. 39  Kant

1934, S. 237. Habermas 1980. 41  Kelsen 2000, S. 68. 42  Kant 1913, S. 71, 81, 118, 151 ff. 43  Kant 1914, S. 220. 40  Siehe



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Diese Umdeutung des Verhältnisses von Recht und Ethik bzw. von rechtlicher und sittlicher Normativität führt zur Autonomisierung der Rechtssphäre innerhalb des Feldes der praktischen Vernunftgesetzgebung. Die sittliche Gesetzgebung macht „eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder“; daher kann sie keine „äußere“ sein.44 Die rechtliche Gesetzgebung hingegen ist eine solche, die „eine andere Triebfeder als die Idee der Pflicht selbst zulässt“, und zwar eine „äußere“ Triebfeder, wie z. B. die Furcht vor der Strafe.45 Die Unterscheidung von Legalität und Moralität stimmt demnach mit derjenigen von rechtlicher und sittlicher Gesetzgebung nicht mehr überein: sie betrifft nämlich die Handlungen selbst, nicht die Modalität der damit verknüpften Verpflichtung. Die Legalität bezeichnet „die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben“, während die Moralität eine Lage kennzeichnet, „in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist“.46 Es folgt daraus, dass ein Individuum einen bloß „legalen“ (äußeren) Gebrauch an sich selbst sittlicher Normen haben kann, z. B. wenn es aus purem Konformismus oder Heuchelei Vorschriften befolgt, die ein sittliches Engagement an sich erfordern. Dasselbe Individuum jedoch kann oder soll auch ein „sittliches“ Verhältnis mit den Rechtsnormen haben, d. h. ihre Befolgung nicht aus Furcht der Strafe, sondern aus innerer Achtung für die Norm als eine Pflicht betrachten. Die Fruchtbarkeit solcher Unterscheidung zwischen der (sittlichen oder rechtlichen) Natur der Norm und der (legalen oder moralischen) Kennzeichnung der Handlung erhellt sich im Fall des sogenannten „Recht zu lügen“. Im kleinen dazu gewidmeten Aufsatz in der Einleitung der Metaphysik der Sitten betont Kant mit Nachdruck, dass das Verbot der Lüge und die damit verknüpfte Pflicht zur Wahrhaftigkeit nicht zur Ethik (Tugendlehre), sondern zum Recht gehört: „nicht in der Ethik, sondern im Ius liegt die Gesetzgebung, dass angenommene Versprechen gehalten werden müssen“.47 Daher folgt, dass die Unterscheidung von rechtlicher und sittlicher Normativität keine Hierarchie der betroffenen Bereiche, sondern eine Koordination von zwei Arten der Beziehung zwischen Subjekt und Norm erfordert. Die Rechtsnormen sind keine Halbnormen, sie sind ebenso verpflichtend wie die sittlichen Normen, aber beide setzen ein spezifisches Verhältnis von Subjektivität, Norm und Handlung aufs Spiel. Das Recht schreibt Handlungen vor (verbietet, erlaubt), während die Ethik (Tugendlehre) Pflichtzwecke vorschreibt (verbietet, erlaubt). Mit einer solchen Beschreibung der Koordination von 44  Kant 45  Ebd. 46  Ebd.

47  Kant

1914, S. 219. 1914, S. 220.

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Rechtspflichten und Tugendpflichten bietet Kant eine starke Rechtfertigung der „Trennungsthese“ an, die Kelsen und Hart zufolge ein Hauptmerkmal des Rechtspositivismus ausmacht. IV. Schlussbetrachtung Der Rechtspositivismus macht darauf aufmerksam, dass die rechtliche Argumentation sich nicht auf „Prinzipien“ im Sinne von Dworkin gründet, wenn sie zu einer anderen Normensphäre und zu einem anderen Argumentationstyp als denjenigen des Rechts gehören. Die aktuelle, zeitgemäße Anfechtung des Rechtspositivismus stützt sich explizit (Dworkin) oder implizit (Habermas) auf die Zurückweisung der Trennungsthese. Es gibt selbstverständlich sehr gute Gründe, den Vorrang der ethischen („moralischen“ im üblichen Sinne des Wortes) Normativität geltend zu machen. Es ist ebenso kaum zu bestreiten, dass die Rechtspraxis selbst in diese Richtung zu gehen scheint, wie das überall festgestellte Phänomen der „Verrechtlichung“ und der Konstitutionalisierung der Menschenrechte es bezeugt. Dieser Trend ist jedoch umso zwielichtiger, als der Dissens über die ethischen Normen und ihre möglichen Rechtsfolgen auch in Westeuropa, also im Geburtsort des Rechtspositivismus zunimmt. In der gegenwärtigen Lage des kulturellen und moralischen Pluralismus scheint mir der positivistische Ansatz immer wertvoll; er sollte aber mit starken philosophischen Argumenten verteidigt werden. Literaturverzeichnis Apel, Karl Otto: Diskurs und Verantwortung, Frankfurt a. M. 1988. Dworkin, Ronald: Bürgerrechte ernst genommen, übersetzt von Ursula Wolf, Frankfurt a. M. 1984. Dworkin, Ronald: A matter of principle, Cambridge, Mass. 1985. Dworkin, Ronald: Law’s Empire, Cambridge, Mass. 1986. Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke, hrsg. von I. H. Fichte, Band III, Nachdruck Berlin 1971. Fuller, Lon L.: Positivism and Fidelity to Law – A Reply to Professor Hart, in: Harvard Law Review, Vol. 71-4 (1958). Habermas, Jürgen: Naturrecht und Revolution, in: Ders., Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt a. M. 1980. Habermas, Jürgen: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983. Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991.



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Habermas, Jürgen: Recht und Moral (Tanner Lectures 2006), in: Ders., Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 1998. Hart, Herbert Lionel Adolphus: Positivism and the separation of law and morals, in: Ders., Essays in Jurisprudence and Philosophy, Oxford 1983. Hart, Herbert Lionel Adolphus: The Concept of Law, Oxford 1994. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Ders, Gesammelte Werke [GW] 14–1, Hamburg 2009. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, in: Ders., Kants gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Band V, Berlin 21913. Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten, in: Ders., Kants gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Band VI, Berlin 21914. Kant, Immanuel: Nachlass, in: Ders., Kants gesammelte Schriften (Akademie Aus­ gabe), Bd. XIX, Berlin 1934. Kelsen, Hans: General theory of law and state, Cambridge (Mass.) 1945. Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre, 2. Ausgabe, Wien 2000. Kervégan, Jean-François: Raison philosophique et positivisme juridique, Cahiers de Philosophie politique et juridique 13 (1989), S. 47–68. Radbruch, Gustav: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Ders., Rechtsphilosophie III, Heidelberg 1990. Windscheid, Bernhard: Über Recht und Rechtswissenschaft, in: Ders., Gesammelte Reden und Abhandlungen, Leipzig 1904.

Über den Rechtscharakter von Menschenrechten als „moralische Rechte“ Von Georg Lohmann I. Einleitung Matthias Kaufmann hat in beeindruckenden Studien die Vorgeschichte, Geschichte und Theorien der Menschenrechte analysiert. Dabei zeichnet er erhellend und informativ die Bedeutungswandlungen einer Reihe von Begriffen in ihren jeweiligen Kontexten seit der römischen Antike auf (ius, dominium), die er als „Vorboten“1 des die Menschenrechte als Rechte bestimmenden Begriffs des „subjektiven Rechts“ versteht. Dieser wird nicht schon im römischen Recht, sondern erst relativ spät, vorbereitet bei den Bologneser Juristen (seit ca. 1100) und in der wissenschaftlichen Jurisprudenz des Privatrechts des 16. Jahrhunderts in Ansätzen entwickelt.2 Aber erst Wandlungen in den Konzeptionen von (objektivem) „Recht“ (Rechtsordnungen), beispielsweise die Trennung des Prozessrechts vom Privatrecht, die Differenzierung von Privatrecht und öffentlichem Recht und die Differenz zwischen Naturecht und positivem Recht, haben auf komplizierten Wegen, initiiert und legitimierend unterstützt durch das neuzeitliche rationale Naturrecht, die Grundbestimmungen eines „subjektiven Rechts“ im modernen Sinne entwickelt. Auf diese Wandlungsprozesse stützen sich in unterschiedlicher Weise und selektiv die Begriffsverwendungen von „Menschenrecht“, wenn Ende des 18. Jahrhunderts die ersten politischen Erklärungen der Menschenrechte in den revolutionären Verfassungen der neu gegründeten Demokratien (Amerikanische Unabhängigkeitserklärung und Virginia Declaration of Rights, 1776; Französische Revolution und die Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers, 1789)3 „Menschenrechte“, wenn auch unvollständig und mit Mängeln, institutionalisieren. Wichtig für die folgenden Überlegungen ist, dass sich jene begriffliche Vorgeschichte nicht im Bereich begrifflicher

1  Kaufmann 2016, S. 92 ff. Siehe hier auch die Literaturangaben zu einer Reihe seiner historischen Studien, S. 257, und gewissermaßen eine Zusammenfassung seiner Sicht der „Geschichte der Menschenrechte“, S. 91–109. 2  Hierzu und zum Folgenden auch Coing 2007, S. 33–50. 3  Siehe zu beiden Brunkhorst 2012, S. 91–105.

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Bestimmungen der Moral, sondern, wenn auch in Beziehung dazu, im Bereich des Rechts abspielte. Kaufmann stützt sich, in seiner erzählten, weiteren Geschichte der Menschenrechte (19. Jahrhundert bis heute),4 weitgehend auf Bestimmungen von „Status, Struktur und Begründung der Menschenrechte“,5 die er den Menschenrechtsdokumenten, den wichtigsten Theorien der Menschenrechte und Diskussionen von Problemen der Menschenrechtspolitik eher indirekt entnimmt. Dabei schildert er die „kontingente geschichtliche Entwicklung der Menschenrechte“6 und die unterschiedlichen Auffassungen und auch Streitpunkte erhellend und anregend. Letztlich sind Menschenrechte für ihn allgemeine „Legitimations­ bedin­ gungen“7 staatlicher oder politischer Herrschaft, die angesichts des faktischen gegenwärtigen Rechtspluralismus eher durch Aushandlungsprozesse denn durch demokratische Setzung8 geschaffen werden. Begrifflich implizieren sie, „dass sie erstens dem Menschen, insofern er ohne jede weitere Qualifikation Mensch ist, und zwar jedem Menschen ohne Rücksicht auf Geschlecht, Hautfarbe, Rasse, Stand zustehen, dass sie zweitens nicht willkürlich aufgegeben werden können und unverzichtbar sind“.9 Dabei setzen und schützen sie die Freiheit und Gleichheit aller Menschen erst nach „drastischen Bedeutungswandel“10 von „Freiheit“ und „Gleichheit“, und Kaufmann lässt auch offen, ob „effektive Einklagbarkeit“ und „Justiziabilität“11 notwendige Merkmale von Menschenrechten als „subjektive Rechte“ sind oder sein müssen.12 Die sich entwickelnde und offene, inhaltliche Bestimmung der einzelnen, unterschiedlichen Menschenrechte13 beschreibt er nach der (misslichen) Einteilung einer Abfolge von „Generationen“ von Menschenrechten.14 Insgesamt hält ihn die Einsicht in die Wandlungsfähigkeit, Kontingenz und Offenheit der historischen Begriffs- und Bedeutungsentwicklungen wohl davon ab, hier eine abschließende Definition von „Menschenrechte“ zu geben. 4  Kaufmann

2016, S. 110–143. 2016, S. 110. 6  Kaufmann 2016, S. 111. 7  Kaufmann 2016, S. 115. 8  Dazu Kaufmann 2016, S. 44–52 und öfter. 9  Kaufmann 2016, S. 110. 10  Ebd. 11  Kaufmann 2016, S. 111. 12  Ebd. 13  Lohmann 2000. 14  Kaufmann 2016, S. 110–113. Zur Problematik der Rede von „Generationen“ von Menschenrechten, insbesondere der sogenannten „dritten Generation“, siehe Weiß 2012; Riedel 1989. 5  Kaufmann



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Darum soll es auch im Folgenden nicht gehen. Aber ich möchte doch versuchen, angeregt durch die vorbildhaften Untersuchungen Kaufmanns, genauer zu klären, wie denn der Rechtscharakter der Menschenrechte unter den heutigen Umständen zu verstehen ist. Das ist sicherlich nur ein Teilaspekt einer umfassenden Theorie der Menschenrechte, und zudem gehe ich von der These aus, dass uns Menschenrechte in historisch und systematisch unterschiedlichen Konzeptionen15 gegeben sind. Ich beschränke mich auf die gegenwärtig dominierende, internationale Konzeption der Menschenrechte, die in einer gegenüber den Erwartungen von 1948 erstaunlich erfolgreichen Weise im Rahmen des internationalen Rechts, nationalen Verfassungen und auch regionalen Rechtssystemen institutionalisiert ist.16 In der gegenwärtigen (philosophischen) Literatur zu den Menschenrechten verstehen viele17 „Menschenrechte“ als „moralische Rechte“, die manchmal auch nur als „moralische Ansprüche“ und bei einigen letztlich nur als „moralische Pflichten“ verstanden werden. Zwar geben viele zu, dass die Menschenrechte als „moralische Rechte“ dann in „juridische Rechte“ überführt werden müssen oder sollen, doch soll diese „Verwandlung“ den wesentlichen Charakter der Menschenrechte nicht tangieren. Alles, was den Philosophen/ die Philosophin hier interessiert oder interessieren muss – im Wesentlichen „die“ Begründungsfrage – lasse sich an der Vorstellung von Menschenrechten als „moralischen Rechten“ verdeutlichen. Dieser philosophische „Begrün­ dungs­tunnelblick“18 verengt freilich die Erkenntnis der Menschenrechte und beschränkt sie auf ein, wenn auch unverzichtbares Moment ihrer Bedeutung. Insbesondere lässt sie oftmals unklar oder offen, was denn genau mit dem Ausdruck „Recht“ im Begriff eines „moralischen Rechts“ gemeint ist und wie sich das auf die Konzipierung der Menschenrechte auswirkt. Eine Auseinandersetzung mit diesem moralischen (in meinen Augen: moralisch verengten) Verständnis der Menschenrechte erfordert eigentlich eine ausführliche Diskussion der „Menschenrechte zwischen Moral und Recht“.19 15  Ich unterscheide nationale Konzeptionen der Menschenrechte am Ende des 18. Jahrhunderts von einer internationalen Konzeption seit der Gründung der Vereinten Nationen 1945 und einer sich entwickelnden oder zu fordernden transnationalen Konzeption, siehe Lohmann 2015. 16  In den letzten zehn Jahren freilich gerät sie immer mehr unter Druck, und es droht eine Rückentwicklung und Gefährdung der Menschenrechte, ausführlicher Lohmann 2019b. 17  So z. B. Gewirth 1982; Tugendhat 1993; Gosepath 2008; Griffin 2009; Tasioulas 2012; Ladwig 2014 und viele andere. 18  So habe ich diese Perspektive genannt, siehe Lohmann 2017, S. 184. 19  Das war der Titel meines ersten Aufsatzes zu den Menschenrechten, Lohmann 1998. Ich habe diese Problematik noch mehrmals aufgenommen, aber, wie ich nun glaube, immer noch nicht, und wohl auch hier, „endgültig“ gelöst.

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Moral und Recht unterscheiden sich in vielen Hinsichten.20 Es ist wohl klar, dass schon begrifflich „Pflichten“ und „Rechte“ nicht auf einer systematischen Ebene liegen: „Rechte“ korrespondieren zwar immer begrifflich mit „Pflichten“, „Pflichten“ aber nicht immer begrifflich mit „Rechten“. Meine schon früher verfolgte These ist, dass die Rede von „Rechten“, auch von „moralischen Rechten“, dabei immer eine andere, sich von einer rein moralischen Gemeinschaft unterscheidende, institutionelle Rechtsgemeinschaft voraussetzt.21 Um diese Unterschiede zu verdeutlichen, will ich hier genauer explizieren, was mit „moralischen Pflichten“, „moralischen Ansprüchen“, „moralischen Rechten“ und „juridischen Rechten“ als Bestimmungen des Rechtscharakters der Menschenrechte jeweils gemeint oder impliziert sein kann. Dazu will ich, vor dem Hintergrund eines differenzierten Verständnisses von Moral, „moralische Pflichtengemeinschaften“ (2) von einer „moralischen Anspruchsgemeinschaft“ (3) unterscheiden. Ein „moralisches Recht“ müsste sich von einem „moralischen Anspruch“ durch die mit Begriff des Rechts verbundene „Befugnis zu zwingen“ unterscheiden (4), und um diesen „Rechtszwang“ zu klären, müssen die Verhältnisse von subjektiven Rechten und Rechtsordnung zumindest skizziert werden (5). Erst dann kann abschließend der Rechtscharakter der Menschenrechte, wenn man sie als „moralische Rechte“ verstehen will, diskutiert werden (6). Das Ganze ist eher eine kritische Revision einer Bedeutungsdimension der „Menschenrechte“. Eine weitere (endgültige?) Klärung des Rechtscharakters der Menschenrechte ist damit, in ähnlicher Weise wie bei Matthias Kaufmann, noch ausstehend. Insbesondere sind wesentliche Fragen zum Verständnis der Menschenrechte noch offen: ob sie als privatrechtlich konstituierte, subjektive Rechte oder als „subjektive Rechte des öffentlichen Rechts“ zu verstehen sind.22 II. Moral und moralische Pflichtengemeinschaften Wir finden uns in mit anderen gemeinsam geteilten, moralischen Praxen vor und eine Moralphilosophie rekonstruiert und kritisiert die Strukturen moralischer Praxen. Die Gesamtheit solcher Praxen bildet eine moralische Gemeinschaft. Dabei kann man zwei Arten moralischer Gemeinschaften unterscheiden: In einer weiten moralischen Gemeinschaft sind nicht nur Menschen, sondern auch Tiere Teilnehmer an diesen Praxen, in einer engen moralischen Gemeinschaft sind es nur Menschen. Es ist eine offene Frage, ob nur Menschen genuin moralische und Tiere nur moralanaloge Verhaltenswei20  Siehe dazu mit Bezug auf die Menschenrechte z. B. Habermas 1992, S. 135– 151, 541–599; Sandkühler 2010. 21  Lohmann 1998, S. 83 ff. 22  Dazu Lohmann 2019b.



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sen praktizieren, für unsere Fragestellung reicht es aber aus, unter moralischen Verhaltensweisen die Praktizierung von moralischen Rücksichtnahmen oder Wohlwollen23 zu verstehen. Moralische Rücksichtnahmen sind Handlungen (und Unterlassungen) und affektive Einstellungen, die dem Inhalt nach Aufforderungen (in einem weiten Sinne) sind, Wohlwollen und Rücksichten, bezogen auf das „Wohl und Wehe“ anderer (und ggf. uns selbst gegenüber) zu praktizieren. Der sprachlichen Form nach drücken wir dies in Sollsätzen aus. Dabei können wir auf Rückfragen immer antworten, dass das und das gesollt ist, weil es (moralisch) gut oder schlecht ist, und das kann man so verstehen, dass wir dafür jeweils gute Gründe angeben können, d. h., dass unser moralisches Verhalten sich auf moralische Urteile oder begründete Überzeugungen24 stützt oder stützen kann. Die komplexe Praxis moralischen Verhaltens ist dabei nicht nur durch eine Art moralischer Rücksichtnahmen, sondern durch eine Vielzahl, nicht aufeinander reduzierbarer Verhaltensweisen und Handlungen bestimmt.25 Sie stellen sich dar in Handlungen (und Unterlassungen) des Respektes, der Hilfe und Sorge, der Schadensvermeidung, der affektiven Wertschätzung und anderer mehr, die sich auf die als moralisch relevant bestimmten Eigenschaften von Wesen beziehen.26 Die Rücksichtnahmen werden moralisch durch bestimmte Gefühle und Dispositionen motiviert (wie bei Hume und Adam Smith) und/oder durch unterschiedliche rationale Gründe ihres Gutseins begründet. Erst im letzteren Fall spreche ich von moralischen Verpflichtungen, d. h. Verpflichtungen sind rational begründete und gefühlsmäßig motivierte, moralisch „gute“ Rücksichtnahmen. Handelt jemand nicht so, wie er moralisch soll, so kann er dafür getadelt werden, und die moralischen Gefühle wie Empörung oder Schuld- und Schamgefühle sind die typischen affektiven Reaktionen in diesen Fällen.27 Ernst Tugendhat spricht hier von „inneren Sanktionen“, da der affektive Vorwurf eines moralischen Tadels oder Missbilligens, der mit diesen moralischen Gefühlen zum Ausdruck gebracht wird, nur dann „trifft“, wenn die 23  Ich gebrauche im Folgenden den Ausdruck „Rücksichtnahme“ so, dass er auch „Wohlwollen“ miteinschließt. 24  „Begründete Überzeugungen“ unterliegen dabei selbst noch einmal einem rationalen moralischen Begründungsprinzip, vgl. Mackie 1981, Kap. 2 u. 3; Tugendhat 1993, S.  14 ff.; Habermas 1997; meine Position: Lohmann 2001a. 25  Zu dieser und den folgenden Bestimmungen ausführlicher siehe Lohmann 2001a, 2001b. 26  Ob eine Eigenschaft als moralisch relevant gilt, und ebenso die Frage, welche Wesen sie wie besitzen, ist selbst Resultat historischer kulturell vermittelter Lernprozesse und Wertungen. 27  Dazu Smith 1976; und (im nicht eingestandenen Bezug auf Adam Smith) Strawson 1962; Tugendhat 1993, S. 37–38, 58–61.

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getadelte Person die entsprechenden moralischen Überzeugungen teilt, und, wie er formuliert, sich „als [gutes] Mitglied der [moralischen] Gemeinschaft verstehen will“.28 Eine solche moralische Gemeinschaft ist durch gemeinsam geteilte Wertungen in Bezug auf das, was eine moralische Praxis „gut“ macht, und in Bezug auf die Bestimmung moralisch relevanter Eigenschaften und durch gemeinsam geteilte und praktizierte Überzeugungen charakterisiert, die regeln, welche Rücksichtnahmen gegenüber wem wie motiviert und begründet sind. Mitglied in einer moralischen Gemeinschaft ist daher ein Wesen, wenn es im Lichte der gemeinsamen Konzeption des Gutseins über die anerkannten moralisch relevanten Eigenschaften verfügt und den praktizierten gemeinsamen Überzeugungen entspricht oder sie entsprechend ausübt. Unter Bedingungen einer universellen Moral kann eine moralische Gemeinschaft nur solche Bedingungen für die Mitgliedschaft stellen, die sich ohne weitere zusätzliche Bedingungen auf bestimmte, moralisch relevante Eigenschaften von Wesen beziehen: Empfindungsfähigkeit oder Schmerzfähigkeit zu besitzen und/oder zu einer überlegten Selbstbestimmung fähig zu sein.29 Diese Eigenschaften „machen“ ein betreffendes Wesen zu einem Mitglied, d. h. entweder zu einem genuinen Objekt moralischer Rücksichtnahme (das Wesen, auf das Rücksicht genommen wird) oder zu einem Subjekt moralischer Rücksichtnahme (das Wesen, das Rücksicht nimmt). Letzteres muss über die Eigenschaften überlegender Selbstbestimmung verfügen, d. h. es kann Motive und Gründe für eine moralische Rücksichtnahme überlegen und sich frei dazu entscheiden. Es sind dabei symmetrische, wechselseitige Relationen möglich, in denen moralische Subjekte zugleich auch moralische Objekte sind (enge moralische Gemeinschaft), oder aber auch asymmetrische Relationen, in denen ein Wesen nur moralisches Objekt ist (weite moralische Gemeinschaft). Wenn in diesen Beziehungen aus der Sicht eines moralischen Subjektes nicht nur Motive, sondern auch Gründe für eine Rücksichtnahme sprechen, dann ist es zur Rücksichtnahme verpflichtet. Der Verpflichtungsbegriff wird aus der Perspektive des Subjekts, dass sich auf Grund einer überzeugenden Begründung verpflichtet weiß, konzipiert, nicht aus der Perspektive des Objektes, demgegenüber eine Rücksichtnahme praktiziert wird. Von einer rein kantianischen Moralkonzeption unterscheidet sich diese „weite“ Moralauffassung, da sie nicht nur vernunftfähige Wesen, sondern Menschen und Tiere, und auch Wesen, die diese Eigenschaften „prinzipiell“, aber nicht aktuell besitzen (wie z. B. Säuglinge, komatöse Patienten etc.), 28  Tugendhat

1993, S. 60. traditionalen oder autoritären Moralkonzeptionen werden diese nichtexkludierenden Bedingungen durch weitere kulturell, religiös oder politisch vermittelte Bedingungen eingeschränkt, siehe dazu Tugendhat 2001. 29  In



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umfasst.30 Mit Kant aber geht sie davon aus, dass eine moralische Verpflichtung durch eine rationale Begründung und affektive Motivation „geschaffen“ wird, die nur in ihrem besonderen inhaltlichem Charakter (bei Kant „Achtung“, „Hilfe in Not“, etc.) Bezug nimmt auf besondere, moralisch relevante Eigenschaften des moralischen Objekts.31 Weil Kant daher als moralisch relevante Eigenschaft in der Begründungshinsicht nur Vernunftfähigkeit berücksichtigt, kann er nur von wechselseitigen Verpflichtungen sprechen, in denen die möglichen Unterschiede zwischen moralischem Subjekt und Objekt ignoriert werden können. III. Moral und moralische Anspruchsgemeinschaft Für Kant ändert es daher in der Sache nichts, wenn man die Situation wechselseitiger Verpflichtungen auch so beschreibt, dass ein moralisches Subjekt mit seinem Verpflichtetsein auf einen moralischen Anspruch eines anderen moralischen Subjekts antwortet. Diese Antwort, d. h. die Verpflichtung, ist bei Kant allein aus der gemeinsamen überzeugenden Begründung (dem Test gemäß des kategorischen Imperativs) begründet, nicht aus dem Umstand, sie als Antwort auf einen Anspruch eines anderen zu beschreiben oder zu verstehen. Reden wir aber vom Anspruch auf eine korrespondierende moralische Verpflichtung allein aus der Sicht des moralischen Objekts, so müsste es eine Eigenschaft des moralischen Objektes geben, die wie der kategorische Imperativ die moralische Verpflichtung „unbedingt“ begründen kann. Kant weist den Versuch, diese Eigenschaft „aus der besonderen Eigenschaft der menschlichen Natur ableiten zu wollen“32, vehement zurück und sucht „für alle vernünftigen Wesen“33 und nicht nur Menschen eine solche Eigenschaft. Bekanntlich findet er sie dann in der postulierten34 Selbstzweckhaftigkeit vernünftiger Wesen, die er aber gar nicht anders erläutern kann, als mit Bezug auf die (unterstellte) vernünftige Natur (besser: Existenzweise!) des Men30  Auf die mit dieser Auffassung verbundenen Probleme kann ich hier aber nicht eingehen. 31  Da der kategorische Imperativ ja nur ein Testprinzip der Verallgemeinerbarkeit einer Maxime darstellt, generiert er auch nicht die besonderen Inhalte moralischer Verpflichtungen, sondern „erfordert“, wie Kant in der Vorrede zu „Grundlegung“ sagt, dazu „die freilich durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 389. 32  Kant, Grundlegung, AA IV, S. 425. 33  Kant, Grundlegung, AA IV, S. 426; rein vernünftige Wesen wären z. B. Engel. Die Moral der Engel wäre aber die langweiligste Sache über dem Erdengrund, wäre nicht der Teufel ein gefallener Engel … . 34  Siehe die Fußnote in Kant, Grundlegung, AA IV, S. 429.



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schen: „Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst“.35 Dieser Annahme entspricht bekanntlich die „ZweckFormel“ des „kategorischen Imperativs“. Und mit Bezug auf sie kann man nun in der Tat sagen, dass eine moralische Verpflichtung als begründeter Anspruch aus einer besonderen Eigenschaft des moralischen Objektes verstanden werden kann – allerdings, das ist die kantianische Einschränkung, nur mit Bezug auf die Vernunftfähigkeit des Menschen. Rein empfindungsfähige Wesen fallen damit aus dem genuinen Bereich dieser Moral heraus. Will man diese starken, und zugebenerweise metaphysischen Unterstellungen Kants nicht teilen, und auch den Bereich der Moral nicht auf vernunftfähige Wesen einschränken, so muss man, wie Kant, die möglichen moralischen Objekte „subjektivieren“. Denn nun wird auch dem moralischen Objekt ein Subjektcharakter zugeschrieben, da einen Anspruch erheben eine Vollzugsweise von Subjektivität ist.36 Versteht man moralische Verpflichtungen als Antworten auf moralische Ansprüche, so ist das eine Uminterpretation der Struktur der oben genannten „weiten“ moralischen Gemeinschaft, die, obwohl in den konkreten Verpflichtungen und auch in der Begründungsweise (!) gleich, nun zu einer „neuen“ Weise einer „engen“ moralischen Gemeinschaft führt: Allen Mitgliedern wird nun ein Subjektcharakter unterstellt, auch wenn sie, wie bei rein empfindungsfähigen Wesen, keine entsprechenden subjekthaften Fähigkeiten haben, um frei, d. h. begründet, Ansprüche stellen zu können. Normalerweise behilft man sich in solchen Fällen mit der Unterstellung oder Annahme, tutorisch oder stellvertretend, „nach bestem Wissen und Gewissen“, für die Wesen Ansprüche zu stellen. Aber das bleibt, weil man ja nicht sicher sein kann, wirklich für ein anderes Subjekt wie dieses zu entscheiden, eine problematische Unterstellung. Verstehen wir daher moralische Verpflichtungen als Antworten auf begründete moralische Ansprüche eines moralischen Objekts, so „subjektivieren“ wir die Mitgliedschaften in einer moralischen Gemeinschaft. Mitglied ist jetzt ein Wesen nicht nur, wenn und weil es moralisch relevante Eigenschaften (z. B. Empfindungsfähigkeit) hat, sondern weil es im Prinzip oder stellvertretend als Subjekt anerkannt wird. Diese durch Anerkennungsverhält35  Kant,

Grundlegung, AA IV, S. 428. dieser Stelle könnte man auch auf die Diskussion zwischen der sogenannten „Interessen-Theorie“ und „Willens-Theorie“ subjektiver Rechte eingehen, vgl. statt anderer Stepanians 2007, S. 13 ff. u. ö. „A hat oder verfolgt ein Interesse X“ ist vergleichbar mit „A erhebt einen Anspruch X“, was man bekanntlich von „X ist im Interesse von A“ unterscheiden muss. Ich glaube, dass in beiden Fällen daraus nicht unmittelbar ein Recht auf X erwächst, sondern, wie im Fahrwasser der „Willenstheoretiker“, dass hierfür erst komplexe Anerkennungsprozesse und die Konstitution einer objektiven Rechtsordnung von Nöten sind, siehe unten. 36  An



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nisse kompensatorisch konstituierten Subjektivierungen erzeugen damit eine neue Art von moralischer Gemeinschaft. Das wird auch an den affektiven Reaktionen deutlich, mit denen moralische Subjekte reagieren, wenn moralische Verpflichtungen nicht erfüllt werden. Ein nur empfindungsfähiges Wesen, das ein genuines Objekt moralischer Rücksichtnahmen ist, wird bei Ausbleiben solcher Rücksichtnahmen zwar affektiv reagieren, z. B. Schmerzen empfinden oder „Angstverhalten“ zeigen, aber nicht die für wechselseitige moralische Beziehungen typischen moralischen affektiven Reaktionsweisen wie moralische Empörung und moralische Schuld- und Schamvorwürfe zeigen können, bzw. mit ihnen antworten können. Sie können jetzt nur stellvertretend durch andere Mitglieder (moralische Subjekte) der moralischen Gemeinschaft wahrgenommen werden. Während also die Mitgliedschaft in einer moralischen Gemeinschaft, die allein durch moralische Pflichten charakterisiert ist, asymmetrische Beziehungen zwischen moralischen Subjekten und moralischen Objekten zulässt, verändert das Verständnis von moralischen Pflichten als Antwort auf moralische Ansprüche die Bedingungen der Mitgliedschaft und damit auch den Charakter einer moralischen Gemeinschaft: Jetzt werden alle Mitglieder „subjektiviert“ und ihnen die (prinzipielle) Fähigkeit, Ansprüche zu stellen, unterstellt oder für sie advokatorisch wahrgenommen. IV. Ein „Recht“ „mit der Befugnis zu zwingen“ Was aber verändert sich, wenn wir, statt von moralischen Ansprüchen, von moralischen Rechten sprechen? Zunächst könnte man „moralische Rechte“ als gutbegründete „moralische Ansprüche“ verstehen. Dann würde sich gegenüber der zuletzt erläuterten moralischen „Anspruchsgemeinschaft“ nichts ändern und „moralisches Recht“ nur ein anderes Wort für „moralischer Anspruch“ sein. Leider verstehen viele, die Menschenrechte schlicht als moralische Rechte verstehen, den Ausdruck „Recht“ hier nur als „Anspruch“. Obwohl sie von „Rechten“ reden, verlassen sie dadurch nicht den Bereich der Pflichtenmoral und sprechen, sachlich gesehen, nur von moralischen Verpflichtungen. Man kann natürlich den Ausdruck „moralisches Recht“ als „moralischer Anspruch“ definieren und, wenn man ihn dann in dieser (moralischen) Bedeutung konsequent verwendet, ist das nicht falsch,37 aber meines Erachtens ungeeignet oder irreführend, wenn man damit juristische Bedeutungsaspekte verbindet. 37  Weil Begriffsdefinitionen, wie mein Lehrer Ernst Tugendhat sagte, nicht wahr oder falsch, sondern geeignet oder ungeeignet sein können.

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Der Ausdruck „Recht“ im Begriff „Menschenrechte“ ist aber ein Ausdruck, der im Kontext des objektiven Rechts anzusiedeln ist. Selbst in der Vorgeschichte der Menschenrechte werden die einzelnen späteren Bedeutungselemente immer in begrifflichen (Weiter-)Bestimmungen objektiver Rechtsordnungen entwickelt, und die Menschenrechte existieren, historisch und systematisch, erst dann, wenn sie politisch deklariert und als Bestandteile von Rechtsordnungen (Verfassungen oder internationalen Verträgen) institutionalisiert worden sind.38 Es ist daher nicht ganz uneinsichtig, wenn ich zunächst versuche, die Bedeutung von „Rechte“ im Ausdruck „Menschenrechte“ an Hand der juristischen Bestimmungen und mit Bezug auf den Kontext objektiver Rechtsordnungen zu erläutern. Ich gehe daher davon aus, dass sich die Bedeutungen von „Recht“ (right) und von „Anspruch“ unterscheiden. Selbst einen „berechtigten Anspruch“ erheben macht diesen Anspruch noch nicht zu einem „Recht“. Was also sind die Unterschiede? Für beide gilt, dass sie sich als eine dreistellige Relation erläutern lassen: A erhebt einen Anspruch/hat ein Recht auf X-en gegenüber B,39 wodurch B verpflichtet wird, X-en durch A nicht zu verhindern (negative Pflichten) oder zu ermöglichen (positive Pflichten). Vielleicht lassen sich nicht alle „Rechte“ als Ansprüche verstehen,40 aber bei der Rede von Menschenrechten gehen wir nicht fehl, wenn wir „Rechte“ als „Ansprüche“ verstehen. Aber Menschenrechte stellen dann, im Unterschied zu reinen Ansprüchen, den weitergehenden Anspruch, erzwingbar zu sein, d. h. ein Recht zu erheben, ist, wie man mit Kant sagen kann, mit der „Befugnis zu zwingen“41 begrifflich verbunden. Kant erläutert diesen Begriff von (subjektivem) „Recht“ im Kontext seiner „Rechtslehre“, also als eine begriffliche Bestimmung des „Rechts“ (law, objektive Rechtsordnung). Und auch für den Begriff der Menschenrechte gilt ja, dass er im Kontext des objektiven Rechts zu situieren ist. Wir können daher zunächst den Kantischen Erläuterungen folgen. Wenn A ein Recht auf X-en gegenüber B hat, dann kann A von B die Einhaltung der korrespondierenden Verpflichtungen „erzwingen“. Dieser Zwang ist aber, wie Kant zu Recht betont, im objektiven Recht nur ein äußerlich wirkender Zwang, der allein ein äußeres, beobachtbares Verhalten von Personen betreffen kann, nicht ihre inneren Einstellungen und Überzeugungen. Dementsprechend sind auch die Pflichten von B, die sich aus einem Recht von A herleiten, „Rechts38  Lohmann

2015a. statt anderer Koller 2007, S. 87 ff. 40  Ob alle Rechte als Ansprüche zu verstehen sind, wird seit Wesley N. Hohlfeld intensiv diskutiert, siehe Stepanians 2007. 41  Kant, Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe (AA), Band VI, S. 231. Ähnlich für viele andere Koller 2007, S. 91–92. 39  Siehe



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pflichten“, die sich auf äußerlich erzwingbares Verhalten von B, nicht auf ihre inneren Einstellungen etc. beziehen. Weil aber mit einem „Recht“ die „Befugnis“ verbunden ist, die Einhaltung der korrespondierenden (Rechts-)Verpflichtung zu erzwingen, ist diese mehr als nur die pure faktische Macht, über einen entsprechenden Zwang zu verfügen, sondern eine legitime, gerechtfertigte oder rechtfertigbare Macht. Für Kant versteht sich ein legitimer Rechtszwang als „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“,42 die mit der Freiheit aller anderen „nach einem allgemeinen Gesetz“ zusammenstimmt. D. h. Kant bindet den mit einem (subjektiven) Recht begrifflich verbundenen berechtigten Zwang an seine normative Bestimmung von Recht: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.43 Ein subjektives „Recht“ ist damit, auch unabhängig von Kant, begrifflich an eine legitime Rechtsordnung gebunden, in Bezug auf die erst der begriffliche Rechtszwang verstanden und gerechtfertigt werden kann. Wird daher ein (subjektives) Recht von A nicht erfüllt, d. h. die korrespondierende Verpflichtung von B nicht eingehalten, so kann A B dazu zwingen. Das geschieht aber in der Regel nicht durch den Rechteinhaber A selbst, sondern durch (legitime und legale) Maßnahmen und Institutionen der Rechtsordnung, die versuchen, das Recht von A durchzusetzen. Um diese Durchsetzungsmacht oder -maßnahmen kann A im Falle einer Verletzung seines Rechtes vor Institutionen seiner Rechtsordnung (z. B. Gerichte) klagen.44 Der mit einem (subjektiven) „Recht“ begrifflich verbundene Rechtszwang lässt sich so als Ansprüche auf eine legitime Durchsetzungsmacht der Rechtsordnung und auf Klagebefugnis erläutern.45 Ich glaube daher und fasse das Bisherige so zusammen, dass der Begriff „Recht“ (right) mit legitimer Durchsetzungsmacht und Klagebefugnis im Sinne eines Rechtszwanges begrifflich verbunden ist, und sich in diesen Hinsichten vom Begriff eines (bloßen) „Anspruchs“ unterscheidet.46 Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von „Recht“ können nun auch die Unterschiede zwischen einem „moralischen Anspruch“ und einem „moralischen Recht“ und dann „juristischem Recht“ verdeutlicht werden. 42  Kant,

Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 231. Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 230. 44  Das hat insbesondere Kelsen 2007, S. 104 ff. betont. 45  Ich lasse an dieser Stelle noch offen, wie dieser Rechtszwang genauer zu bestimmen ist, siehe dazu unten. 46  Das sind, wie wir sehen werden, noch nicht alle begrifflichen Unterschiede, aber diese können hoffentlich ausreichen, das Folgende verständlich zu machen. 43  Kant,

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V. Subjektive Rechte und Rechtsgemeinschaft Im Fall eines juristischen „subjektiven Rechts“ ist es klar, dass sich die dafür nötige Rechtsordnung als juristische Rechtsgemeinschaft verstehen lässt, in der ein möglicher Träger subjektiver Rechte einen besonderen juristischen Rechtsstatus benötigt. Und es ist auch klar, dass eine moralische Gemeinschaft nicht automatisch auch eine Rechtsgemeinschaft ist; eine objektive Rechtsordnung ist daher eine von einer moralischen Gemeinschaft unterschiedene, andere Institution. Aber besteht dieser Unterschied auch dann, wenn statt von „moralischen Ansprüchen“ von „moralischen Rechten“ die Rede ist? Das kommt sicherlich darauf an, wie stark man den Ausdruck „Recht“ hier versteht. Verbindet man damit eine „Befugnis zu zwingen“, und das hieße dann eine legitime Durchsetzungsmacht und Klagebefugnis im oben erläuterten Sinne, so wird sich eine solche moralische „Rechts“-gemeinschaft von einer moralischen Pflichten- oder Anspruchsgemeinschaft unterscheiden, denn letztere sind nicht mit äußeren, sondern mit „inneren“ Zwangsmöglichkeiten verbunden, wenn die korrespondierenden Pflichten nicht erfüllt werden. Der Träger eines moralischen „Rechts“ mit Zwangsbefugnis verfügte daher in einer „Rechts“-gemeinschaft begrifflich über anerkannte Kompetenzen, die mit einer Mitgliedschaft in einer rein moralischen Gemeinschaft nicht gegeben sind. Deshalb bedürfte es besonderer Anerkennungsprozesse, durch die einem Mitglied diese (oder vergleichbare?) Zwangsbefugnisse oder -kompetenzen zugesprochen werden könnten. Diese Anerkennungsprozesse sind zugleich Konstitutionsprozesse einer Rechtsgemeinschaft. Damit freilich verkomplizieren sich die hiermit anzusprechenden Probleme, auf die ich aber nur sehr skizzenhaft (sicherlich höchst unzureichend) eingehen kann. Nimmt man keine externen Quellen für die Schaffung einer Rechtsordnung an (wie in den Konzeptionen eines heteronom gesetzten Rechts durch Gott, die Tradition oder durch Königsgewalt, oder aber auch wie in bestimmten Varianten des Naturrechts „von Natur aus“), dann sind die Rechtsordnung und die entsprechenden Mitgliedschaften eine Sache komplexer Anerkennungsverhältnisse zwischen den Rechtsgenossen, durch die in unterschiedlicher Weise „Recht“ (law) gesetzt wird, und das Recht ist gemachtes, positiviertes Recht. In egalitären Rechtsgemeinschaften kann das nur durch alle anderen Mitglieder geschehen, und zugleich müssen diese Anerkennungsprozesse wechselseitig und unparteilich sein, weil nur so der implizite Gerechtigkeitsanspruch auch des positiven Rechts: Gleichheit vor und im Recht,47 eingelöst werden kann. 47  Auch

dazu müsste ich mehr sagen, siehe Osterkamp 2004.



Menschenrechte als „moralische Rechte“267

Hier gibt es nun miteinander konkurrierende und aufeinander bezogene Auffassungen, wie diese Rechtssetzungsprozesse vonstattengehen sollen: durch Verfassungsgebung, durch Vertrag oder durch allgemeine Gesetzgebung. Die Idee einer Verfassungsgebung erlaubt, ein Vor und Nach einer konstituierten Rechtsordnung zu denken, und beantwortet die irritierende Frage, wie denn die Rechtsgenossen ein Recht setzen können, in dessen Rahmen sie erst zu Rechtsgenossen werden, mit einer Differenzierung ihrer Rollen und mit einer Differenzierung zwischen Moral, Politik und Recht. Als Mitglieder einer verfassungsgebenden Versammlung oder Teilnehmer eines verfassungsgebenden Prozesses haben sie einen politisch und ggf. moralisch bestimmten, aber rechtlich noch ungesicherten Status, der mit der verabschiedeten Verfassung sich in einen wechselseitig anerkannten Rechtsstatus als Bürger wandelt. In der Tradition der Gesellschaftsvertragstheorien sind diese Prozesse zugleich Konstitutionsprozesse des Staates und der politischen Bürgerschaft. In der durch Thomas Hobbes und John Locke bestimmten Tradition überwiegen (privatrechtlich gefasste) vertragstheoretische Modi der Konstitutionsprozesse, in der an Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant anknüpfenden Tradition Modi öffentlicher allgemeiner Gesetzgebung. Mit diesen Differenzierungen verbinden sich liberale oder republikanische Auffassungen von Rechtsstaat und Demokratie,48 die auch für die Konzipierung subjektiver Rechte von Bedeutung sind. In der liberalen Tradition sind subjektive Rechte vorstaatliche (oftmals naturrechtlich begründete) Rechte, die den Menschen schon vor, während und nach der Verfassungsgebung zustehen, und an denen sich dann der legitime Charakter staatlicher Herrschaft messen lassen muss. In der republikanischen Tradition befinden sich die Menschen vor der Konstitution des Rechtsstaates in einem Zustand ungesicherter Rechtverhältnisse (Naturzustand), der erst durch die allgemeine Gesetzgebung in einen rechtlich sicheren Zustand verwandelt wird, durch die die Bürger zugleich ihre vorstaatlichen, „natürlichen“ Rechte in subjektive Rechte des nun öffentlichen Rechts verwandeln. In beiden Traditionen aber ist der Rechtsstaat, in dem nun die Bürger mit subjektiven Rechten versehen sind, durch die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative bestimmt. Vor diesem Hintergrund kann jetzt auch der legitime Rechtszwang, der mit einem Recht begrifflich verbunden ist, genauer erläutert werden. Der Zwang, den ein Rechtsstaat zur Durchsetzung oder Sicherung eines subjektiven Rechts ausüben kann, beruft sich auf die legitime Herrschaftsmacht der Exekutive, und ist äußerlich wirkender Zwang, der letztlich auch mit legitimer Gewaltanwendung, und deshalb äußerlich bleibend, angewendet werden kann. Dafür sind eine Reihe von Organisationen und Institutionen notwen48  Siehe

Habermas 1997.

268

Georg Lohmann

dig, die legal geregelt und kontrolliert werden müssen, und um deren Ausübung ein Inhaber von subjektiven Rechten, bei Verletzungen seiner Rechte, vor Institutionen der Judikative klagen kann. „Naturgemäß“ müsste man hier noch viel mehr ausführen, doch müssen diese Hinweise reichen, um die Komplexität eines Rechts, dass mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist, zu erläutern.49 VI. Menschenrechte als „moralische Rechte“ Redet man daher von Menschenrechten als „moralischen Rechten“ mit Zwangsbefugnis, so würde das eine, gegenüber einer moralischen Gemeinschaft neue Institution, eine irgendwie „moralische“ „Rechts- und Zwangsgemeinschaft“ implizieren, die mit den oben angeführten rechtsstaatlichen Charakteristika ausgezeichnet sein müsste. Das scheint schwer vorstellbar und deshalb (und auch aus weiteren Gründen) wird der Begriff eines „moralischen Rechts“ und die Rede von Menschenrechten als „moralische Rechte“ von vielen als unsinnig (Jeremy Bentham), leer (Hans Kelsen), wirkungslos (Hannah ­ Arendt), widersprüchlich oder falsch abgelehnt.50 Das ist, wenn man Menschenrechte rein als moralische Rechte verstehen will, auch richtig! Ich glaube aber, dass man in einigen Hinsichten schwächere oder abgewandelte Analoga finden kann, und dann dem Verständnis von Menschenrechten als „moralischen Rechten“ eine, nun freilich nicht umfassende, sondern nur partielle Bedeutung geben kann, mit der man bestimmte Fragestellungen und Probleme der Menschenrechte sehr wohl zum Ausdruck bringen kann. Menschenrechte unterscheiden sich von sonstigen subjektiven Rechten, dass sie nicht durch besondere Leistungen etc. erworben werden müssen, sondern dass sie allen Menschen, individuell und in der gleichen Weise, nur weil sie Menschen sind, zustehen. Menschenrechte sind universell, egalitär, individuell und kategorisch und beziehen sich auf fundamentale Belange des einzelnen Menschen. Sie sind historische Antworten auf besonders gravierende Unrechtserfahrungen und Gefährdungen; sie werden durch politische Akteure deklariert und in rechtlichen Ordnungen institutionalisiert und sind hinsichtlich ihrer normativen Implikationen moralisch begründbar. Sie enthalten daher politische, rechtliche und moralische Dimensionen, die miteinander in komplexer Weise in Beziehung stehen, sich aber nicht auf eine reduzieren lassen.51 49  Zu den Verhältnissen von Macht, Herrschaft, Gewalt und Zwang siehe auch Lohmann 2018a. 50  Siehe besonders prägnant Mohr 2010. 51  Zu diesem Verständnis der Menschenrechte siehe Lohmann 2015b.



Menschenrechte als „moralische Rechte“269

Verstehen wir daher die Menschenrechte als „moralische Rechte“, so beziehen wir uns auf eine, die moralische Dimension ihres Rechtscharakters, und das ist auch solange unproblematisch, wie wir nicht beanspruchen, sie damit als ganze erfasst und bestimmt zu haben. In Situationen, in denen die Menschenrechte noch nicht (vollständig) rechtlich institutionalisiert sind, z. B. weil ein politisches Machtregime das verhindert oder weil ein angemessenes Rechtssystem noch nicht entwickelt ist, aber auch in Situationen, in denen in einem demokratischen Rechtsstaat (einige) Menschenrechte noch nicht oder unzureichend rechtlich gefasst und politisch beachtet werden, können wir uns auf die moralische Dimension der Menschenrechte berufen, sie als „moralische Rechte“ verstehen und ihre politische und rechtliche Beachtung und Verwirklichung einfordern. Die damit vorauszusetzende (oben erläuterte) Subjektivierung moralischer und rechtlicher (Anspruchs-)Gemeinschaften erlaubt es nun jedem Mitglied der Gemeinschaft die ausstehenden Pflichterfüllungen mit Bezug auf Rechte eines jeden Mitglieds zu fordern. Dadurch werden die Mitgliedschaftsrollen gegenüber reinen Pflichten- oder Tugendgemeinschaften, in denen alle nur einer herrschenden Moral gehorchen müssen, verändert. Das Bewusstsein, als Träger von subjektiven Rechten Grund für die Einforderungen von Verpflichtungen anderer zu sein, ermöglicht die Herausbildung eines individuierenden Freiheitsbewusstseins, das jedem einzelnen die Stärkung von Selbstachtung und letztlich von engagierten Bürgersinn ermöglicht.52 Autoritäre Regime, religiös oder politisch verbrämt, fürchten daher diese, schon mit einem moralischen Verständnis der Menschenrechte gegebenen Möglichkeiten. Was aber ist mit der, mit einem subjektiven Recht verbundenen „Befugnis zu zwingen“? In rein moralischer Hinsicht steht ein „äußerer Rechtszwang“ nicht zu Verfügung, wohl aber können die moralischen affektiven Sanktionsmöglichkeiten als „innere“ Zwangsmöglichkeiten genutzt und angewendet werden. Statt also staatlich organisierte Durchsetzungsmacht zu „aktivieren“, können aus diesem moralischen Verständnis der Menschenrechte heraus Schuld- und Schamvorwürfe gegenüber Menschenrechtsverletzern erhoben werden. Und statt gegenüber einer institutionalisierten Gerichtsbarkeit zu klagen, können durch moralische Empörung Appelle an eine sensibilisierte Öffentlichkeit gerichtet werden, Menschenrechtsverletzungen zu ahnden und abzustellen. Beeindruckende Beispiele für solche Ausschöpfungen der moralischen Sanktions- und Appellmöglichkeiten sind die Aktivitäten von NichtRegierungs-Organisationen (NGOs), die durch naming, blaming and shaming gegen Menschenrechtsverletzungen ankämpfen. Sie können, wenn auch oft 52  Lohmann

1998, S. 87–88.

270

Georg Lohmann

nur ereignishaft und selektiv, einen wirksamen und oft beachtlichen und entscheidenden, öffentlichen Druck ausüben.53 Ferner teilt ein rein moralisches Verständnis der Menschenrechte mit der Moral überhaupt, Fälle moralischer Trittbrettfahrerei u. ä. nicht wirklich korrigieren zu können,54 und kann daher ungleiche Rechtsanwendung nicht angemessen kompensieren. Des Weiteren ist es gefährdet durch einen Hang zur Moralisierung von Menschenrechtsverletzungen, die einmal die in Menschenrechtsverträgen und rechtlichen Verfassungen festgelegten korrespondierenden Rechtspflichten überfordert und damit schwächt, zum anderen durch (vorschnelle) Moralisierung der Beurteilungen die errungenen Vorteile rechtlicher Verfahren wieder aufhebt. Wenn eine moralische Sicht der Menschenrechte die für ein angemessenes Menschenrechtsregime notwendige rechtsstaatliche Gewaltenteilung und entsprechende rechtsstaatliche Verfahren glaubt ignorieren zu können, dann verspielt sie, vielleicht im moralischen Überschwang, die notwendigen Beiträge und Leistungen eines angemessenen, moralischen Verständnisses der Menschenrechte. Diese ist unverzichtbar für die Einlösung und Begründung der Universalität, Egalität, Individualität und auch Kategorizität der Menschenrechte, und zwar gerade auch dann, wenn man sie, wie in diesem Beitrag, als politisch gesetzte, rechtlich verfasste, aber moralisch begründbare Rechte versteht.55 Menschenrechte, rein als „moralische Rechte“ verstanden, sind daher rechtlich „schwache Rechte“, in dem Sinne, dass sie, statt über Durchsetzungsmacht und Klagebefugnis, nur über moralische affektive Sanktionen und Appelle verfügen. Sie sind aber nicht unsinnig und leerlaufend, sondern als Verständnis einer Dimension der Menschenrechte politisch außerordentlich entscheidend und stark, und notwendig, weil nur so die positiv-rechtlichen, normativen Ansprüche des Rechts und der Menschenrechte kritisch überprüft und eingelöst werden können. Literaturverzeichnis Alexy, Robert: Die Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Stefan Gosepath/Georg Lohmann (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt/Main 1998, S. 244–264. Brunkhorst, Hauke: Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Virginia Declaration of Rights von 1776, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hrsg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2012, S. 91–98. 53  Mihr

2012; Lohmann 2016. ist für viele, z. B. Robert Alexy ein Grund, warum die Menschenrechte rechtlich institutionalisiert werden sollen, siehe Alexy 1998, S 254 ff. 55  Lohmann 2015b. 54  Das



Menschenrechte als „moralische Rechte“271

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Niklas Luhmann: Gerechtigkeitstheorie des Rechtssystems Von Lukas K. Sosoe (Aus dem Franz. übersetzt von Sven Seidenthal)

„Ursprünglich bedeutet Gerechtigkeit lediglich die Übereinstimmung mit dem geltenden Recht. […] Ohne die enge Beziehung zum Recht aufzugeben, hat die Gerechtigkeit aber seit langem eine umfassendere und stärker moralische Bedeutung“1. Seitdem wurde die Gerechtigkeit mehrheitlich als „das grundlegende normative Prinzip des äußeren Zusammenlebens in seinen Kooperations- und Konfliktaspekten“2 aufgefasst. Sie wurde somit zu dem „sittlichen Ideal und Kriterium von individuellen Handlungen, von Institutionen, selbst der Grundordnung einer politischen Gemeinschaft“3 erklärt. Diese als normativ zu bezeichnende Definition könnte sich auf alle traditionellen ethischen und politischen Theorien von Plato oder Aristoteles, bis hin zu John Rawls und dem modernen politischen Denken beziehen. Kaum gibt es eine politische oder Rechtstheorie, die diese Definition ablehnen würde. Sie überlebte sogar den von Benjamin Constant hervorgehobenen „querelles des ­Anciens et des Modernes“. Unabhängig von jeglicher Begründung hat die Gerechtigkeit, als Prinzip, nie ihre normative Dimension als Kriterium des individuellen und kollektiven Handelns, des Rechts und des Staates verloren. Nicht einmal haben positivistische Theorien an diesem normativen Charakter Zweifel gehegt, selbst dort, wo sie Gerechtigkeitsansätze in Frage stellten. Noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lesen wir in John Rawls Theorie der Gerechtigkeit, dass die „Gerechtigkeit die erste Tugend sozialer Institutionen (ist), so wie die Wahrheit bei Gedankensyste­ men“4. Daraus folgt, dass jede „noch so elegante und mit sparsamen Mitteln arbeitende Theo­rie […] fallengelassen oder abgeändert werden (muss), wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind“5. Diese Auffassung der Gerechtigkeit galt für lange Zeit als 1  Höffe

2007, S. 9.

2  Höffe/Forschner/Schöpf/Vossenkuhl 3  Ebd.

4  Rawls 5  Ebd.

1975, S. 19.

1997, S. 91.

276

Lukas K. Sosoe

überzeugend und wurde fast von allen wichtigen philosophischen Strömungen angenommen. Hans Kelsen und Niklas Luhmann bilden eine Ausnahme. Sie haben diese Konzeption der Gerechtigkeit angezweifelt und so radikal zurückgewiesen und dies aus zwei unterschiedlichen Gründen. Der erste, Kelsen, wegen der vermeinten Irrationalität der Gerechtigkeit; der zweite deswegen, weil die Gerechtigkeit in den modernen Gesellschaften anders als die anderen Gerechtigkeitstheorien überhaupt angesetzt werden soll. Einerseits spricht Luhmann der Gerechtigkeit den sittlich-praktischen Charakter ab, andererseits behauptet er aber, Gerechtigkeit sei das normative Kriterium des Rechtssystems, was schon irgendwie, wie wir sehen werden, zu einem gewissen Widerspruch führt. Während Kelsen aus epistemologischen Gründen behauptet, dass ein vernünftiger Diskurs über die Gerechtigkeit unmöglich und die Gerechtigkeit nur ein irrationaler Traum oder eine Illusion der Menschheit sei, spricht Luhmann von einem normativen Super-Code des Rechtssystems6. In dem folgenden Beitrag möchten wir Luhmanns weniger bekannten Ansatz der Gerechtigkeit vorstellen, indem wir ihn präzisionshalber der bekannteren Theorie Kelsens gegenüberstellen. Im Gegensatz zu positivistischen Theorien, in denen jene Handlungen als gerecht bezeichnet werden, die im Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers geschehen, oder zu der Theorie von Thomas Hobbes, in der Gerechtigkeit mit dem Willen des Souveräns identifiziert wird, nimmt Kelsen die Gerechtigkeit aus dem Rechtssystem heraus. Obwohl er die Unterscheidung von Recht und Moral akzeptiert und sich auf diese Weise teilweise den Vertretern der Naturrechtslehre anschließt, verwirft er deren Schlussfolgerung, dass es sich bei der Gerechtigkeit um eine rein moralische Frage handelt7. Somit unterscheidet sich Kelsens Ansatz von Luhmanns Denken. Für Luhmann stellt die Gerechtigkeit einen integralen Bestandteil des Systems des positiven Rechts dar. Für die Vertreter der Naturrechtslehre fungiert die Gerechtigkeit als das Legitimationskriterium des Rechtes. Gemäß Kelsens Reine Rechtslehre ist eine objektive Erkenntnis der Gerechtigkeit unmöglich, denn als moralischer Begriff oder als Wert kann sie mehrfachem Glauben unterliegen, nicht aber als objektives Wissen gelten. Kelsen nimmt somit eine nonkognitivistische Haltung ein, wenn es um die Frage der Gerechtigkeit geht. Unter Nonkognitivismus verstehen wir jene philosophische Position, die behauptet, dass Urteile und Sätze, die nicht logisch-mathematisch oder empi6  Vgl.

Luhmann 1993, S. 221, sowie ebenfalls Teubner 2008. 1960, S. 357.

7  Kelsen



Niklas Luhmann: Gerechtigkeitstheorie des Rechtssystems277

risch sind, nicht zu einer wahren und objektiven Erkenntnis führen können. Auf die Gerechtigkeit als moralischen Wert bezogen, bedeutet dies, dass eine objektive, wahre oder rationale Erkenntnis von moralischen Urteilen und Sätzen unmöglich ist. Nur Tatsachen oder Fakten können Gegenstand rationalen Wissens sein. Jedoch ist die Gerechtigkeit keine Tatsache oder ein Faktum, sondern eine Einschätzung oder eine Bewertung. Als solche kann sie nicht als Objekt einer rationalen Argumentation gelten. Kelsen vertritt somit eine These, die sehr stark an den logischen Positivismus erinnert. Logische Positivisten nämlich behaupten, dass nur Elemente sinnlicher oder empirischer Erfahrung sowie logisch-mathematische Wahrheiten zum Bereich der Erkenntnis zählen8. Dies erklärt auch das folgende Bekenntnis Kelsens: „Ich muß mich mit einer relativen Gerechtigkeit begnügen und kann nur sagen, was Gerechtigkeit für mich ist. Da die Wissenschaft mein Beruf ist und sohin das wichtigste in meinem Leben, ist es jene Gerechtigkeit, unter deren Schutz Wissenschaft, und mit Wissenschaft Wahrheit und Aufrichtigkeit gedeihen können“9. Getrennt vom Recht wird die Gerechtigkeit zu einer persönlichen Präferenz. In diesem Fall die des Wissenschaftlers, der sich ihrer bedient, um seine eigenen Interessen und die seiner Anhänger zu verteidigen und emotional zur Geltung zu bringen. Man spricht vom Emotivismus. Unter Emotivismus versteht man die Funktion eines Ausdrucks oder eines Begriffs, mithilfe dessen wir unsere Emotionen, Gefühle zum Ausdruck bringen: „Wenn die Geschichte der menschlichen Erkenntnis uns irgend etwas lehren kann, ist es die Vergeblichkeit des Versuches, auf rationalem Wege eine absolut gültige Norm gerechten Verhaltens zu finden, d. h. aber eine solche, die die Möglichkeit ausschließt, auch das gegenteilige Verhalten für gerecht zu halten“10. So können wir immer unsere Emotionen, die wir gegenüber dem Verhalten anderer verspüren, ausdrücken. Der Ausdruck unserer Emotionen bleibt jedoch, wie jeder Ausdruck von Emotionen, nicht rational. Kelsen geht in seinen Überlegungen noch weiter. Laut ihm ist die Gerechtigkeit irrational. Jedoch bleibt sie „ein großer Traum der Menschheit“, die jedem einzelnen Individuum „die Illusion (gibt), dass die Gerechtigkeitsnorm, die es wählt, von Gott, der Natur oder der Vernunft stammt“ und „daher absolut gültig ist […]. Und für diese Illusion bringen viele jedes sacrificium intellectus“11. Im Gegensatz zu den Werken Hobbes’, Harts und Kelsens ist der aufmerksame Leser der Werke Luhmanns darüber überrascht, wie oft oder, besser Ayer 1993. 2000, S. 52. 10  Op.cit., S. 91, übersetzt von Sven Seidenthal. 11  Kelsen 1960, S. 441. 8  Vgl.

9  Kelsen

278

Lukas K. Sosoe

gesagt, wie wenig auf das Wort „Gerechtigkeit“ verwiesen wird12. Sogar in seinem Werk Grundrechte als Institution13, in dem Luhmann seine Dogmatik der Grundrechte, das heißt der Gleichheit und der Freiheit, entwickelt, ist nur sehr selten vom Konzept der Gerechtigkeit die Rede14. In anderen dem Recht und der Politik gewidmeten Schriften wie zum Beispiel Legitimation durch Verfahren15 oder Die Politik der Gesellschaft16 wird das Konzept der Gerechtigkeit ebenfalls als Thema nicht erwähnt. Deshalb ist es umso erstaun­ licher, dass Luhmann die Gerechtigkeit in einem ganzen Kapitel des Werkes Das Recht der Gesellschaft17 abhandelt. Im oben genannten Werk definiert Luhmann die Gerechtigkeit als Kontingenzformel18. In seinem Aufsatz Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft19, der genau 20 Jahre vor seinem Opus Magnum über das Recht erschien, scheint sich Luhmann näher mit dem Gerechtigkeitsbegriff zu beschäftigen. Erstaunlicherweise räumt Luhmann dort ein, dass es im Rechtssystem einen Platz für den Gerechtigkeitsbegriff gibt, auch wenn ihm eine leicht (?) modifizierte Bedeutung als in der Tradition der Naturrechtslehre zukommt. In der Tat hat Luhmann seit seinen ersten politischen Schriften die Werte der Freiheit, der Gleichheit, der Würde, kurz gesagt die Prinzipien der Menschenrechte oder der Grundrechte soziologisch uminterpretiert und somit „entwertet“. Sie wären keine Werte, sondern soziale Mechanismen zum Schutz des Individuums in der modernen Gesellschaft. Im Gegensatz zu Kelsen wäre aber das, was man unter Gerechtigkeit versteht, schon kognitiv, nicht als Werte der Erkenntnis zugänglich, würde aber seinen normativen Charakter verlieren. In dieser Hinsicht wäre von einer praktisch-normativen Auffassung von Gerechtigkeit nicht mehr die Rede. Im Gegensatz zu Kelsens Rechtstheorie würde der Funktion dessen, was man irrtümlich als normativ 12  Luhmann entwickelt hier zum ersten Mal die Elemente seiner Theorie, die sich später in seinem Werk Das Recht der Gesellschaft wiederfinden. 13  Luhmann 2009. 14  Luhmann lehnt die klassische Konzeption der Menschenrechte, in der die Würde des Menschen, die Freiheit und die Gleichheit als Werte angesehen werden, ab. Luhmann versucht eine soziologische Erklärung zu erarbeiten und behauptet, dass sie vielmehr als soziologische Mechanismen zu verstehen seien, die von der Gesellschaft selbst während des Übergangs von einer stratifikatorisch aufgegliederten zu einer funktional differenzierten Gesellschaft geschaffen wurden. Vgl. Verschraegen 2002, S. 258–281; Menke 2011. 15  Luhmann 2001. 16  Luhmann 2000. 17  Luhmann 1993. 18  Vgl. Op.cit., S. 218. 19  Luhmann 1974, S. 131.



Niklas Luhmann: Gerechtigkeitstheorie des Rechtssystems279

ansieht, ein positiver Platz eingeräumt. Eine praktisch-normative Bedeutung verlöre die Gerechtigkeit, wie Luhmann selber schreibt. Damit wird die Gerechtigkeit als normatives Kriterium des Rechtssystems aus dem System ausgeschlossen. Luhmann hätte eine Rechtstheorie ohne den Gesichtspunkt der Gerechtigkeit entwickelt. Der Gerechtigkeit käme sozusagen der Status eines des systemtheoretischen Rechtssystems fremden Elements zu. In der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung des Rechtssystems aber hätte sie keinen Platz. Die Selbstbeschreibung des Rechtssystems, welche außerrechtliche Elemente, das heißt Elemente, die dem System fremd sind, mit einbezieht, würde das Risiko der Inkohärenz eingehen. Außerrechtliche Elemente oder Werte sind in Luhmanns Augen eher ein Hindernis für die Autonomie des Rechtssystems20. Dass aber das Konzept der Gerechtigkeit jedoch verstärkt in Luhmanns späterem Werk auftaucht und darüber hinaus noch eine zentrale Rolle spielt, zeigt, dass es eine Entwicklung in Luhmanns Denken gegeben haben muss. Es stellt sich somit folgende Frage: Welchen Platz hat die Gerechtigkeit in der positivistischen Rechtstheorie Luhmanns, die Recht und Moral streng voneinander getrennt sieht? Berücksichtigt man die „konditionale(n) Programme“ und den binären Code des Rechtssystems (Recht/Unrecht), so verliert „die traditionelle Frage nach der Gerechtigkeit des Rechts […] jede praktische Bedeutung21. Sie kann weder als dritter Wert neben Recht und Unrecht hinzugefügt werden, noch bezeichnet sie eines der Programme des Systems – so als ob es neben dem Baurecht und dem Straßenverkehrsrecht, dem Erbrecht und dem Urheberrecht auch noch gerechtes Recht gäbe. Die Konsequenz ist: dass man Fragen der Gerechtigkeit des Rechts nur noch als ethische Fragen ansieht, nur noch als Fragen der Begründung des Rechts im Medium der Moral; und dass man dann mit größter Mühe nach einem Platz für die Ethik im Recht Ausschau hält“22. Laut Luhmann hat die Gerechtigkeit keine praktische Bedeutung. Sie kann kein dritter Wert sein, denn aufgrund seines binären Codes entscheidet das Rechtssystem nur, ob eine gewisse Handlung rechtlich relevant oder irrelevant ist, beziehungsweise ob eine gewisse Handlung legal oder illegal ist. Ist eine Handlung rechtlich relevant, so fällt sie sofort unter eine Kategorie des Rechts, wie zum Beispiel dem Strafrecht, dem Eherecht oder dem Erbrecht. 20  Vgl. Luhmann, Verfahren als soziales System, in: Luhmann 1983, S. 38–55. Luhmanns Vorbehalt gegenüber der Gerechtigkeit lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass er befürchtet, dass die Behandlung dieses Themas wieder zu dem Diskurs des Naturrechts, das er zu widerlegen versucht, zurückführt. 21  Hervorhebung von LKS. 22  Luhmann 1993, S. 216.

280

Lukas K. Sosoe

Da die Gerechtigkeit kein dritter Wert sein kann und es keinen Bereich für die Gerechtigkeit des Rechts zu geben scheint, sehen naturrechtliche ­Theorien in ihr ein normatives Mittel, das es ermöglicht, das Recht selbst zu bewerten und somit zwischen gerechtem und ungerechtem Recht zu unterscheiden. Diese Lösung wird von Niklas Luhmann verworfen, denn wer den Gerechtigkeitsbegriff aus dem Rechtssystem herausnimmt, der hat schon das rechtstheoretische Terrain verlassen. Außerdem ignoriert er die Autonomie oder die operative Geschlossenheit des Rechtssystems, indem er ein außerrechtliches Element auf das Rechtssystem oder auf dessen Operationen anwendet, um sie angeblich zu legitimieren oder neutraler ihre Gültigkeit zu begründen. Aus der Sicht Luhmanns ist das Konzept der Gerechtigkeit dafür jedoch nicht notwendig, denn die Rekursivität der Operation der sozialen Systeme und somit auch des Rechtssystems übernimmt diese Funktion. Da sich Systeme nur durch ihre eigenproduzierten Elemente von ihrer Außenwelt unterscheiden und sich somit konstituieren, muss sich das Rechtsystem mit seinen selbstproduzierten Elementen, das heißt seinen Urteilen, Entscheidungen und anderen Operationen befassen. Damit würde die Gerechtigkeit im Hinblick auf die Gültigkeit der Rechtsnormen bzw. des Rechtssystems aus systemtheoretischer Sicht ihre Funktion verlieren. Der Lösungsansatz der Naturrechtslehre besteht darin, die Gerechtigkeit aus dem Bereich des Rechts zu entnehmen und aus ihr ein moralisches Kriterium des Rechts zu machen. Auch wenn man sich darauf verständigen könnte, dass das Recht sich moralischen Normen unterwerfen kann, wäre die Gerechtigkeit immer noch in den Kompetenzbereich der Ethik und nicht des Rechts anzusiedeln. Die Gerechtigkeit würde demnach auf einer Wertschätzung oder der Zustimmung des Rechts beruhen. Aber die Ethik oder der Bereich der Wertschätzung gehört nicht in das Rechtssystem. Somit stellt sich die Frage, ob es sich bei der Gerechtigkeit um eine überflüssige Kategorie im Rechtssystem handelt. Wenn nicht, welchen Platz hat die Gerechtigkeit im Rechtssystem systemtheoretisch gesehen? Kommt sie dem Willen des Gesetzgebers gleich? Soll man sie aus dem Rechtswesen herausnehmen oder ist sie irrational, wie manche Philosophen meinen? Für Kelsen ist die Gerechtigkeit eine Frage der Präferenz, so wie es auch andere positivistische Theorien vermuten. Lässt man diese Haltung jedoch für einen Moment beiseite – wie kann man die Gerechtigkeit im Kontext eines autopoietischen Rechtssystems denken? Oder anders gefragt, wie kann man die Gerechtigkeit rein rechtlich denken? So lautet die Ausgangsfrage von Niklas Luhmann. Für Luhmann muss der Platz des Gerechtigkeitsbegriffs im Rechtssystem neu bestimmt werden, damit er ein Element des Rechtssystems bleiben kann. Es stellt sich somit die Frage, wie man Gerechtigkeit so definieren kann, dass sie nicht mehr der Ethik angehört oder zu irgendeinem Sozialsystem



Niklas Luhmann: Gerechtigkeitstheorie des Rechtssystems281

gehört, sondern zu einem Teil des Rechtssystems wird. Was wäre dort die Funktion der Gerechtigkeit? Platziert man die Gerechtigkeit in den Kontext einer systemtheoretischen Rechtstheorie, so verliert die Gerechtigkeit ihre moralische Bedeutung und erhält bei Luhmann eine neue Funktion. Sie stellt die Einheit des Rechtssystems dar. Es geht darum „in der Verschiedenheit der Operation die Einheit23 des Systems zu wahren und zu reproduzieren“24. Zu fragen wäre, ob dies nicht mit einer praktischen Bedeutung identisch ist, die Luhmann abzulehnen scheint. Im Gegensatz zur Gültigkeit, das heißt einer Operation, handelt es sich bei der Gerechtigkeit um die Selbstbeschreibung oder die Selbstbeobachtung des Systems. Als Beobachtung befindet sie sich nicht auf der Ebene des Codes legal/illegal, sondern auf der der Konditionalprogramme. Sie zeigt sich nicht unter der Form einer Theorie, sondern als Norm, die nicht erfüllt werden kann. Da die Gerechtigkeit auf der Ebene der Programme angesiedelt ist, kann es ungerechte Rechtssysteme geben. Jedoch können die Selbsterhaltung und der Code nie ungerecht sein, da diese unveränderlich sind. Der theoretische Rahmen Luhmanns führt zu einer Reihe von Fragen, die sich der Bielefelder Soziologe auch selbst stellt: „Was genau ist damit positiv bestimmt? Wie kann diese Selbstkonfrontation mit einer selbstreferentiellen Norm spezifiziert werden? Wie kann das System die Einheit in einem normativen Programm zum Ausdruck bringen, das zugleich im System anwendbar, und zwar überall anwendbar ist?“25 Für Luhmann kann die Idee der Gerechtigkeit von Rechtssystemen als Kontingenzformel begriffen werden. Definiert man die Gerechtigkeit jedoch in diesem Sinn, so scheint es, als ob jedes Rechtssystem die Gerechtigkeit anders definieren könnte. Hinzu kommt, dass die anderen Systeme einer historischen und kulturellen Entwicklung ausgesetzt sind. Somit scheint es, als ob jeder Versuch, eine Definition der Gerechtigkeit vorzuschlagen, kontingent wäre, das heißt, die Definition wäre veränderlich und an historische oder kulturelle Kontexte gebunden. Dies erweckt beim Leser den Anschein, als würde sich Luhmann dem Rechtsrelativismus Kelsens anschließen. Das ist aber keineswegs der Fall, denn diese Interpretation würde Luhmanns These nicht gerecht werden. Indem Luhmann die Gerechtigkeit als Kontingenzformel definiert, erhebt er sie zugleich auf eine fast transzendentale Ebene, denn „ohne dass wir den Wertbegriff (dieser Formel) näher bestimmen müssten, ist sie auf eine Ebene 23  Hervorhebung

im Originaltext. 1993, S. 98. 25  Op.cit., S. 218. 24  Luhmann

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der Vergleichbarkeit mit andersartigen Kontingenzformeln anderer Funk­ tionssysteme“ zu rücken26. Als Kontingenzformel des Rechtssystems erfüllt die Gerechtigkeit die gleiche Funktion wie das „Prinzip der Limitationalität […] im Wissenschaftssystem“27, das „Prinzip der Knappheit im Wirtschafts­ system“28, die „Idee eines einzigen Gottes im Religionssystem“29 oder aber die „Ideen wie Bildung und Lernfähigkeit im Erziehungssystem“30. Ohne die jeweiligen Kontingenzformeln könnten die jeweiligen Systeme nicht als solche thematisiert werden. Die Gerechtigkeit wird somit zu der Bedingung der Möglichkeit des Rechtssystems und somit zur Bedeutung eines einzigen sozialen Systems: des Rechts. Die Gerechtigkeit muss zum Rechtssystem gehören und nicht in seiner Umwelt angesiedelt werden. Im Gegensatz zu der Grundnorm Kelsens oder zu den moralischen Kriterien des legitimen Rechts bzw. Rechtssystems existiert die Kontingenzformel nicht außerhalb des Rechtssystems als Kette von logischen Deduktionen, die dort ihre Rolle als logische transzendentale Gültigkeitsbedingung erfüllen. Wie Luhmann jedoch selbst hervorhebt, liegt „das Sonderproblem der Norm Gerechtigkeit […] im Verhältnis von Generalisierung und Respezi­ fikation“31. Die Norm der Gerechtigkeit unterscheidet sich von den anderen Normen in dem Punkt, dass „keine einzelne Operation des Systems und erst recht keine Struktur von der Erwartung ausgenommen sein (darf), gerecht zu sein; denn sonst ginge der Bezug der Norm auf die Einheit des Systems verloren“32. In ihrer Funktion als Kontingenzformel wird die Gerechtigkeit in der ­Systemtheorie zum externen Beobachter. Um uns einer Metapher zu bedienen, ist sie die Schulinspektorin oder die Aufsichtsperson in einer Verwaltung, die zwar als Teil am Erziehungssystem oder an der Verwaltung teilnimmt, ohne direkt am Klassenleben, an der Verwaltungstätigkeit teilzu­ nehmen. Ihre Funktion besteht darin, den guten oder gerechten Ablauf des Ganzen zu überprüfen und zu bewahren. Wenn die Gerechtigkeit einzig und allein die Bedingung der Möglichkeit des Rechtssystems ist, was genau wird dann zum Gegenstand ihrer Beobachtungen? An dieser Stelle seiner Überlegungen wird Luhmann etwas konkreter und nimmt das Beispiel der Kontingenzformel der Gleichheit. Laut Luhmann ent26  Luhmann 27  Ebd.

1993, S. 218.

28  Ebd. 29  Ebd. 30  Ebd.

31  Op.cit., 32  Ebd.

S. 222.



Niklas Luhmann: Gerechtigkeitstheorie des Rechtssystems283

hält die Gleichheit alle erdenklichen Konzepte der Gerechtigkeit, denn sie steht auf formaler Ebene eigentlich nur für Regelhaftigkeit oder Beständigkeit. Als Prinzip bedarf die Gleichheit keinerlei Rechtfertigung, denn, wie jede Kontingenzformel, rechtfertigt sie sich selbst. Sie ist autologisch wie sogar manche Grundbegriffe. Sie wird, so Jean Clam, „als etwas Unbestreitbares in das System hineingesetzt und ohne dass sich das System selbst beobachten kann, orientiert es sich ununterbrochen daran und versucht sich ihm gegenüber zu positionieren“33. Als Kontingenzformel bezieht sich die Gerechtigkeit auf die Gleichheit. Sie ist nur ein Schema auf der Suche nach Grundlagen oder Werten, die nur unter der Form von Programmen ihre rechtliche Gültigkeit erlangen können. Die Gleichheit bezieht sich implizit auf die Ungleichheit und nimmt sie in sich auf. Das Prinzip der Gleichheit besagt nur, dass gleiche Fälle gleich behandelt werden müssen und ungleiche Fälle per implicationem anders behandelt werden müssen. Die Gerechtigkeit wird somit zur Wächterin des gesamten Rechtssystems. Sie soll untersuchen, ob alle Operationen des Systems kohärent und der Komplexität des Systems angemessen sind und nicht politischen, wirtschaftlichen oder ideologischen beziehungsweise religiösen Interessen folgen. Die Stichworte heißen: adäquate Komplexität und konsistentes Entscheiden. In modernen, das heißt komplexen und hoch differenzierten Gesellschaften, so Luhmann, muss sich jedes Funktionssystem und damit auch das Rechtssystem in „anspruchsvollen, gleichsam artifiziellen Situationen zu­ rechtfinden“34 können. In anderen Worten, rechtliche Entscheidungen müssen an die hohe Ausdifferenzierung der Gesellschaft angepasst werden. Die Ausdrücke „adäquate Komplexität“ und „konsistentes Entscheiden“ ergänzen sich gegenseitig. Da die Gesellschaft im Laufe der Zeit immer komplexer geworden ist, ist das rechtliche System durch die Anfragen, die aus seiner Umwelt stammen, überlastet. Um den Anforderungen der Stabilisierung von Erwartungen gerecht zu werden, muss das rechtliche System seine eigene Komplexität anpassen. Um dies zu tun, kann das rechtliche System drei Variablen verändern: die Menge der Informationen, seine interne Differenzierung und das Vermögen, Information zu verarbeiten. Wie Ralf Dreier in seinem Kommentar zu Luhmann hervorhebt, hat die Komplexitätssteigerung ihre Grenzen, denn „die Variablen, die die interne Komplexität des Rechtssystems definieren, lassen sich nicht unbeschränkt steigern; sie müssen, wenn anders das Rechtssystem nicht auseinanderfallen und damit seine Funktionsfähigkeit verlieren soll, miteinander kompatibel bleiben und 33  Clam

1996, S. 33. 1993, S. 235.

34  Luhmann

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dem Gebot konsistenten (d. h. auch gleichen) Entscheidens genügen“35. Ein Entscheidungssystem funktioniert nur dann gut, wenn es an seine Umwelt angepasst ist, das heißt, wenn es die externe Komplexität reproduzieren und somit angemessene Entscheidungen treffen kann. Das Rechtssystem, so Luhmann, „kann in seiner eigenen Komplexität zwar nicht allen gesellschaftlichen Sachverhalten Rechnung tragen. Es muss, wie jedes System im Verhältnis zur Umwelt Komplexität reduzieren und den eigenen Komplexitätsaufbau durch hohe Mauern der Indifferenz schützen“. Wenn also das rechtliche System eine interne Komplexität entwickelt, die den Anforderungen seiner Umwelt gerecht wird, dann kann man von einer adäquaten Komplexität reden. Eine solche adäquate Komplexität des rechtlichen Systems wird nur dann erreicht, wenn das System die äußere Komplexität im Rahmen des Möglichen, das heißt im Rahmen seiner internen Funktionen wiederspiegeln und behandeln kann36. Ein rechtliches System ist nur dann adäquat und damit gerecht, wenn es mit konsistenten Entscheidungen im sozialen System vereinbar ist. Somit sind es nicht mehr die einzelnen rechtlichen Entscheidungen, wie Beschlüsse, richterliche Urteile, die gerecht sind, sondern das gesamte rechtliche System37. Luhmanns Definition der Gerechtigkeit unterscheidet sich also von der ­aturrechtlichen Definition, denn sie ist im rechtlichen System enthalten. n Luhmann beruft sich nicht mehr auf supra-positive Normen oder Erklärungsversuche, die außerhalb des rechtlichen Systems und seiner internen Funk­ tionsabläufe liegen. In den modernen Gesellschaften lassen sich weder in der Natur, noch in der Vernunft unveränderliche supra-positive Normen mehr finden und somit ist die Gesellschaft dazu gezwungen, ihre eigene Gerechtigkeit zu erzeugen. Und genau darin besteht die Funktion eines ausdifferenzierten Rechtssystems. Das System, so Luhmann, muss „selbst Gerechtigkeit in einer Weise bezeichnen, die deutlich macht, dass Gerechtigkeit geboten ist und das System sich mit ihr als Idee, Prinzip, Wert identifiziert“38. Auf dem ersten Blick bleibt es unklar, warum aber Luhmann behauptet, Gerechtigkeit hätte keine praktische Bedeutung. Es sei denn, er versteht unter praktisch nur eine sittlich-moralische Bedeutung. Denn zum Praktischen gehört in der Regel auch das Rechtliche, würde man meinen. Vielleicht wollte Luhmann damit die Autonomie des Rechtssystems betonen und sich von der klassischen bzw. naturrechtlichen Terminologie distanzieren. Jeden35  Dreier

1981, S. 171–172. Op.cit., S. 172. 37  Dreier 1981. Vgl. Hansen 1999. 38  Luhmann 1993, S. 219. 36  Vgl.



Niklas Luhmann: Gerechtigkeitstheorie des Rechtssystems285

falls haben wir es nicht mehr mit einer „rechtsdefinierenden Gerechtigkeit“ zu tun, wie es Otfried Höffe in seiner Umformulierung der politischen Gerechtigkeit nennt, sondern mit einem gerechtigkeitsdefinierenden Recht, denn es ist das Rechtssystem, das seine Gerechtigkeit definiert. Die Frage, warum eine bestimmte Handlung oder eine bestimmte Operation nicht gerecht sein kann, bleibt jedoch unbeantwortet. Wenn sich die Gerechtigkeit aber auf die gesamten konsistenten und kohärenten Entscheidungen bezieht, warum könnte man dann nicht behaupten, dass ein Urteil, das zu der Gesamtheit der gerechten Operationen des Systems zählt, auch gerecht sei, wohlwissend, dass wir nicht von verschiedenen Stufen von Gerechtigkeit reden können? Würde eine derartige Behauptung überhaupt gegen eine Anforderung der Systemtheorie verstoßen? Der Versuch, die Idee der Gerechtigkeit bei Luhmann nachzuzeichnen, hat zu vielen kritischen Anmerkungen geführt. Dabei wurde vor allem der sys­ teminterne Charakter der Gerechtigkeit sowie auch die Ablehnung einer moralischen, beziehungsweise eine philosophisch-naturrechtliche Konzeption der Gerechtigkeit hervorgehoben. Luhmanns Prämissen sind klar: die Entwicklung des Rechts hat dazu geführt, dass eine absolute Definition der Gerechtigkeit unmöglich geworden ist. Um seine Unabhängigkeit zu bewahren, musste das Rechtssystem eine eigene Definition der Gerechtigkeit aufstellen. Die Entscheidung, ob eine Operation gerecht ist oder nicht, hängt nun von den vom System im Voraus ausgewählten Programmen ab39. Der Gerechtigkeitsgehalt einer Operation wird in Bezug auf die Erfüllung der Bedingungen des Programms ermittelt. Doch wenn, wie bereits erwähnt, jede Selbstbeschreibung der Gerechtigkeit gleichwertig ist, gibt es keine ungerechte Operation, es sei denn, alle Operationen hätten die Ziele des Programms systematisch verfehlt. In diesem Fall hätten wir es nicht mehr mit einem autopoetischen Rechtssystem zu tun. Zudem wurde hervorgehoben, dass Luhmann unter anderem „die immanenten Rahmen des Gesetzes der strukturellen Verallgemeinerung des Rechtssystem“ untersuchen wollte. Die systemtheoretische Rekonstruktion des Begriffs der Gerechtigkeit ist eine Reaktion auf den exponentiellen Anstieg von Informationen in modernen Gesellschaften. Diese Situation fordert technische Lösungsansätze für die der geeignete Rahmen noch nicht gefunden wurde. Aus diesem Grund behauptet Dreier, dass der Luhmannsche Ansatz auf eine Zusammenarbeit von Systemtheorie und Entscheidungstheorien verweise. Was den traditionellen Begriff der Gerechtigkeit angeht, so hätte Luhmann die Notwendigkeit der Rechtfertigung einzelner konkreter Entschei39  King/Thornhill

2005, S. 64.

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dungen und Normen sowie ihrer Hierarchie unterschätzt. Dreier verweist in diesem Zusammenhang auf Luhmanns Werk Grundrechte als Institution, wo Luhmann sich dieses Problem bewusst gewesen wäre, als er das Prinzip der Gleichheit untersuchte. Da das Prinzip der Gleichheit besagt, dass gleiche Fälle gleich behandelt und unterschiedliche Fälle unterschiedlich behandelt werden sollen, muss für jede ungerechte Behandlung eine Erklärung gegeben werden. Luhmann hätte sicherlich hinzugefügt, dass jede Ungleichheit begründet sein muss. Die angegebenen Gründe müssen verallgemeinert werden. Die Gründe für eine ungerechte Behandlung dürfen also nicht spezifisch oder unbestimmt sein. Das Prinzip der Gleichheit verbietet es, inkonsistente Entscheidungen zu treffen und jede Art von Ungerechtigkeit zu begründen. Zudem verhindert es, dass die Eigeninteressen des Richters mit in Betracht gezogen werden. Dieser Einwand erlaubt uns aber, auf die Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Recht im Rechtssystem einzugehen. Unabhängig von den sozialen Kritiken hat die Gerechtigkeit etwas mit dem Recht zu tun, denn ohne sie hätte das Rechtssystem keinen Sinn. Gerechtigkeit lässt sich durch den Begriff der Gleichheit ausdrücken. Gleichheit bedeutet jedoch auch immer Entscheidungen, die einer gewissen Regelmäßigkeit folgen und in sich schlüssig oder konsistent sind. Diese beiden Eigenschaften lassen sich auf die Gleichheit vor dem Gesetz und die Idee, dass Gleiches gleich und Unterschiedliches unterschiedlich behandelt werden soll, reduzieren. So formuliert gibt uns das Gleichheitsprinzip keine konkreten Angaben. Es sagt uns zum Beispiel nicht, was in einer bestimmten Gesellschaft als gleich beziehungsweise ungleich anzusehen ist. Weder die Gerechtigkeit noch die Gleichheit können als Norm im Rechtssystem fungieren, denn sie sind als Ausgangspunkt ungeeignet. Sie erlauben es nicht, den Wert zu finden, der uns erlauben würde, darüber zu entscheiden, was denn nun gleich oder ungleich ist. Soll dies etwa bedeuten, dass Luhmann eine Theorie der Gerechtigkeit ohne Gerechtigkeit vertritt?40 Dieser Einwand wurde von Otfried Höffe vor der Veröffentlichung von Luhmanns Werk Das Recht der Gesellschaft formuliert. Dies zeigt, dass sich nicht genügend mit der Anwendung von Luhmanns Systemtheorie im Bereich des Rechts auseinandergesetzt wurde. Dazu kommt, dass Luhmann sich inzwischen mit den Einwänden auseinandergesetzt und eine Theorie erarbeitet hat, die 1) ein autonomes Konzept der Gerechtigkeit zulässt und sogar systemtheoretisch fordert, 2) den Rechtspositivismus sowie die Naturrechtsphilosophie überschreitet und 3) die Selbstkontrolle des Rechtssystems ermöglicht und erklärt. Dreier fasst dies wie folgt zusammen: „Das Element der Richtigkeit wird im Kontext einer Theorie der immanenten Gerechtigkeit des Rechts ausgearbeitet, die beansprucht, die Dichotomie zwischen 40  Höffe

2007, S. 38.



Niklas Luhmann: Gerechtigkeitstheorie des Rechtssystems287 positivistischen und nicht-positivistischen Positionen durch die Betonung system­ interner Mechanismen der Selbstkontrolle des Rechtssystems zu unterlaufen“41.

An dieser Stelle bietet es sich an, daran zu erinnern, dass obschon alle sozialen Systeme Komplexität reduzieren, das Rechtssystem dies auf eine andere und systemeigene Art und Weise tut: nämlich durch die Gerechtigkeit. Die Theorie sozialer Systeme ist nicht nur eine Theorie über die Einheit des rechtlichen Systems in dem Sinn, dass es interne Operationen des rechtlichen Systems gibt, noch ist sie ein Vorschlag einer neuen und weiteren Theorie der Gerechtigkeit. Die Luhmannsche Theorie ist ein Programm von vielen Programmen, dessen Parameter eine spezifische Argumentationskultur, eine unabhängige Justiz, die Menschen- und Bürgerrechte und die Demokratisierung des politischen Systems wären, führt Dreier fort. Sich auf die von Dreier vorgeschlagene Interpretation der Kontingenzformel berufend, behauptet Teubner, dass eine andere Interpretation möglich ist und diese „die soziale Dimension der Gerechtigkeit“ enthalten könnte. Die Kontingenz bezieht sich nämlich nicht nur auf die geschichtliche Veränderung, sondern auch auf die Abhängigkeit des Rechts von seiner sozialen Umgebung. Die zeitlich-räumliche Veränderlichkeit wurde bereits von Kelsen in seiner Kritik der verschiedenen Ansätze der Gerechtigkeit hervorgehoben. Die Veränderlichkeit, die Teubner hervorhebt, bezieht sich auf das System selbst und beinhaltet materielle Kriterien, die neben der internen Konsistenz des Systems noch den Aspekt der sozialen Angemessenheit der Gerechtigkeit hinzufügt. In anderen Worten, „es geht nicht einfach um Konsistenz recht­ licher Entscheidungen, sondern um die größtmögliche Konsistenz des Rechts und zudem um die höchstmögliche Erfüllung von extrem divergierenden Umweltanforderungen“42. Wird die Gerechtigkeit als Kontingenzformel definiert, geht sie über das Recht hinaus, indem sie durch eine operationelle Öffnung, zwar in ihren eigenen Worten, die großen Organisationsprinzipien der Gesellschaft miteinbezieht und dabei immer noch ein rechtliches Produkt bleibt. Das Konzept der Gerechtigkeit, wie wir es in der systemischen Rechtstheorie Luhmanns wiederfinden, eröffnet einen ganz neuen Horizont an Möglichkeiten. Nimmt man Luhmanns Beobachtungen an, so scheint der ewige Streit zwischen Naturrecht und positivem Recht beendet zu sein und wir haben eine neue Konzeption der Gerechtigkeit, die dem Rechtssystem innewohnt. Indem sich das Rechtssystem selbst beschreiben und selbst beobachten kann, kann es nur gerecht sein. Die Behauptung, dass das System gerecht ist, hängt jedoch von den ausgewählten Kriterien des externen Beobachters ab. Das heißt jedoch nicht, dass jeder Beobachter die gleichen Kriterien wählen muss. 41  Dreier

2002, S. 321 (Anmerkung 1). 2005, S. 201.

42  Teubner

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Lukas K. Sosoe

Im Gegensatz zu der rechtspositivistischen Tradition unterstreicht Luhmann die Wichtigkeit der Gerechtigkeit. Anders als bei Naturrechtstheorien und deren Neuaufarbeitung liegen die Kriterien des gerechten Rechtssystem nicht außerhalb, sondern innerhalb des Rechtssystems. Gegenüber den beiden Traditionen zeigt Luhmann eines: der Endzweck des Rechtssystems liegt in der Gerechtigkeit. Mit anderen Worten, ohne Gerechtigkeit gibt es kein Recht. Literaturverzeichnis Ayer, Alfred J.: Language Truth and Logic, Victor Gollacz, 1936, trad. fr. J. Ohana, Language, vérité et logique, Paris 1993. Clam, Jean: Une nouvelle sociologie du droit? Autour de „Das Recht der Gesellschaft“ de Niklas Luhmann, in: Droit et Société, Vol. 33 (1996). Dreier, Ralf: Recht-Moral-Ideologie. Studien zur Rechtstheorie, Frankfurt am Main 1981. Dreier, Ralf: Luhmanns Rechtsbegriff, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 88 (2002), S. 305–317. Hansen, Ralf: Beobachtungen des Rechtssystems (I), Rezension von Niklas Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt am Main 1999. Höffe, Otfried: Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München 2007. Höffe, Otfried/Forschner, Maximilian/Schöpf, Alfred /Vossenkuhl, Wilhelm (Hrsg.): Lexikon der Ethik, München 1997. Kelsen, Hans: Das Problem der Gerechtigkeit?, in: Reine Rechstlehre (Anhang), Wien 1960, S. 355–444. Kelsen, Hans: Was ist Gerechtigkeit?, Stuttgart 2016. King, Michael/Thornhill, Chris: Niklas Luhmann’s Theory of Politics and Law, London 2005. Luhmann, Niklas: Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, in: Rechtstheorie, Band 4, Berlin 1974. Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt am Main 1983. Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993. Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000. Luhmann, Niklas: Légitimation par la procédure, franz. übersetzt v. Lukas K. Sosoe et Stéphane Bouchard, Presses Universitaires de Laval, Québec, Éditions du Cerf, Paris 2001. Luhmann, Niklas: Grundrechte als Institution: ein Beitrag zur politischen Soziologie. Schriften zum öffentlichen Recht, 5. Auflage, Berlin 2009. Menke, Christoph: The Self-reflection of Law and the Politics of Rights, in: Constellations, Vol. 18 (2011).



Niklas Luhmann: Gerechtigkeitstheorie des Rechtssystems289

Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975. Sosoe, Lukas: Kelsen et Luhmann sur la justice, in: Le Droit – Un système social/ Law as Social System, Hildesheim, New York, Zürich 2015, S. 279–300. Teubner, Gunther: ‚Dreiers Luhmann‘, in: Integratives Verstehen. Zur Rechtsphilo­ sophie Ralf Dreiers, hrsg. v. Robert Alexy, Tübingen 2005, S. 199–226. Teubner, Gunther: Selbstsubversive Gerechtigkeit. Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, 29, N°1 (2008), S. 37–51, und in: G. Teubner (Hrsg.), Nach Jacques Derrida und Niklas Luhmann. Zur (Un-)Möglichkeit einer Gesellschaftstheorie der Gerechtigkeit, Stuttgart 2008, S. 9–36. Verschraegen, Gert: Human Rights and Modern Society: A Sociological Analysis from the Perspective of System Theory, in: Journal of Law and Society, Vol. 29 (2002), S. 258–281.

Beantwortung der Frage: Was ist kritische Philosophie? Von Kenneth R. Westphal I. Einleitung Kant hat seine Philosophie „kritische Philosophie“ genannt, insofern sie aus den drei kritischen Hauptwerken sowie den beiden damit begründeten Zweigen der kritischen Metaphysik besteht. Die letztgenannten Zweige enthalten die Anfangsbegriffe und -prinzipien der Naturwissenschaft und der Moral. Er behauptet, durch seine Philosophie aufgrund seiner Methodik des „Kritizismus“ die Rahmenbedingungen, Leistungen und Grenzen rationaler Urteilskraft und rationaler Rechtfertigung innerhalb dieser philosophischen Themenbereiche eindeutig und endgültig bestimmt zu haben.1 Kant hat wohl erkannt, dass seine kritische Philosophie eine epochale Leistung darstellt, mit der weder Dogmatiker noch Skeptiker zufrieden sein würden. In der Vorrede zur Metaphysik der Sitten gesteht Kant: „Es klingt arrogant, selbstsüchtig und für die, welche ihrem alten System noch nicht entsagt haben, verkleinerlich, zu behaupten: dass vor dem Entstehen der kritischen Philosophie es noch gar keine gegeben habe. – Um nun über diese scheinbare Anmaßung absprechen zu können, kommt es auf die Frage an: ob es wohl mehr als eine Philosophie geben könne. Verschiedene Arten zu philosophiren und zu den ersten Vernunftprincipien zurückzugehen, um darauf mit mehr oder weniger Glück ein System zu gründen, hat es nicht allein gegeben, sondern es mußte viele Versuche dieser Art, deren jeder auch um die gegenwärtige sein Verdienst hat, geben; aber da es doch, objectiv betrachtet, nur Eine menschliche Vernunft geben kann: so kann es auch nicht viel Philosophieen geben, d. i. es ist nur Ein wahres System derselben aus Principien möglich, so mannigfaltig und oft widerstreitend man auch über einen und denselben Satz philosophirt haben mag. […] – Wenn also jemand ein System der Philosophie als sein eigenes Fabrikat ankündigt, so ist es eben so viel, als ob er sagte: vor dieser Philosophie sei gar keine andere noch gewesen. Denn wollte er einräumen, es wäre eine andere (und wahre) gewesen, so würde es über dieselbe Gegenstände zweierlei wahre Philosophieen gegeben haben, welches sich widerspricht. – Wenn also die kritische Philosophie sich als eine solche ankündigt, vor der es überall noch gar keine Philosophie gegeben habe, so thut sie nichts anders, als was alle gethan haben, thun werden, ja thun müssen, die eine Philosophie nach ihrem eigenen Plane entwerfen.“ (MdS, 6:207–7) 1  Vgl.

KrV A xiv, B xxix, 107, 884; Prol. §§ 26, 50b, 4:383; 12:371.

292

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Allerdings lässt sich die Frage nicht umgehen: Was heißt genau „kritische Philosophie“ bei Kant? Die Antwort ergibt sich nicht aus einer bloßen Bibliographie der Hauptwerke Immanuel Kants. Die Antwort wäre eher in einer Kritik der menschlichen Vernunft und ihren Prinzipien zu suchen. Gibt es eine solche „kritische Philosophie“? In der philosophischen Literatur wird diese Frage und ihre Beantwortung mit der Bestimmung und Vertretbarkeit des transzendentalen Idealismus verständlicherweise verflochten. Dieser Zusammenhang ist aber eher abwegig. Denn tatsächlich können wir Kants kritische Philosophie ganz und gar unabhängig von seinem Idealismus begreifen und vertreten, und zwar durch Berücksichtigung von drei Punkten, in denen Kant Position bezieht: Fünf konstitutive Beschaffenheiten menschlicher Urteilskraft (II.), zwei Grundthesen der kritischen Philosophie (III.) und, darauf bauend, eine Tafel der Grundfragen und Systematik der kritischen Philosophie (IV.). Diese Übersicht ist deshalb philosophisch von Belang (V.), weil sie Kants kritische Methode und Überlegungen klar herausstellt, die immer noch in der philosophischen Methodologie viel zu wenig Aufmerksamkeit findet. Selbst das neue Kant-Lexikon berücksichtigt sie nicht.2 II. Kants Kritik der menschlichen Urteilskraft 1.  Kants Kritik der menschlichen Urteilskraft stellt fünf konstitutive, aber wenig beachtete Beschaffenheiten derselben heraus: Erstens fordert der Gebrauch von Begriffen, Regeln und Prinzipien unweigerlich die Ausübung von Urteilskraft zur Regulierung ihrer passenden Anwendung auf den betreffenden Sachverhalt (KrV A130–6/B169–75). Auch würden Regeln zu solcher Anwendung ihrerseits ebenfalls Urteilskraft zu ihrem richtigen Gebrauch erfordern. Zweitens ist die rationale Beurteilung konstitutiv normativ, insofern sie sich von bloßem Reagieren auf Umstände durch Hervorbringung bzw. Revidierung eines Fürwahrhaltens abhebt. Diese Normativität liegt gerade darin, dass man durch rationale Beurteilung überlegt, ob, wie und inwiefern diejenigen Überlegungen, die man aktuell bedenkt und als Materialien zur Bildung eines möglichen Urteils berücksichtigt, auf genau die Weise zusammengebracht werden können, und wie sie am Besten zu integrieren sind, um ein sachgemäßes, rechtfertigungsfähiges Urteil zu fällen (KrV A261–3/ B317–9, 219; KU Einl., 5: 182.26–32). Drittens ist die rationale Beurteilung 2  In Mohr et al. 2015 finden sich Artikel zur „Kritik“ (1302 ff.), zum „Kritizismus“ (1349 ff.), sowie kurze Angaben zur „Reflexion“ sowie „Reflexion, logische/transzendentale“ (1915 ff.), aber diese gehen an den gerade vorgetragenen Merkmalen vorbei. Philosophische Methodologie wird wieder zum Thema (vgl. Daly 2015, RinofnerKreidl/Wiltsche 2016, D’Oro/Overgaard 2017), aber gerade Kants Methodologie bleibt außen vor, ebenso wie die von Hegel, der Kants kritische Methodologie beerbt (Westphal 2018).



Beantwortung der Frage: Was ist kritische Philosophie?293

in derselben Hinsicht auch wesentlich selbstkritisch: Die rationale Beurteilung eines Sachverhalts erfordert eine Selbsteinschätzung, ob, wie und inwiefern man diesen Sachverhalt so beurteilt, wie er am besten zu beurteilen ist (KrV A261–3/B317–9, 219). Viertens ist die rationale Beurteilung wesentlich sozial orientiert, sowie kommunizierbar (KU § 40), insofern eine rationale Beurteilung die Berücksichtigung der prinzipiellen Unterscheidung fordert zwischen der bloßen Überzeugung einerseits, dass man einen Sachverhalt passend beurteilt, und andererseits dem Wissen, dass ein wirklich passendes Urteil gefällt wird. Fünftens gilt es stets, die eigene Fehlbarkeit, die möglicherweise unvollständigen Informationen bzw. Unvollständigkeit der eigenen Analyse, sowie die eigenen theoretischen und praktischen Vorurteile und Vorlieben zu berücksichtigen. Das erfordert die Überprüfung der eigenen Urteile. Dies beinhaltet zum einen, dass wir möglichst genau beurteilen, ob und inwiefern diejenigen Evidenzen, Analysen und Betrachtungen, die wir nun in unserem Urteil zusammenziehen, so überlegt worden sind, dass sie von allen anderen Denkern so geteilt werden können, dass auch sie unsere Beurteilung verstehen, nachvollziehen und bestätigen können (KrV A829/B857, KU § 40, Anth. § 2); es beinhaltet außerdem, dass wir Anderen unsere Urteile kommunizieren, damit wir ihre Überprüfung unserer Urteile mitberücksichtigen können und auch wirklich mitberücksichtigen (Anth. § 2; DO, 8: 145–7). 2. Prinzipien sind urteilsleitend. Jenseits bloß formaler Axiomatik, sind Prinzipien keine bloß algorithmischen Rechenregeln zum eindeutigen Berechnen eines Endergebnisses (Schluss). Obwohl die Suche nach klaren, eindeutigen und hinreichenden Entscheidungsmethoden nur innerhalb streng monotoner Bereiche sinnvoll ist, außerhalb solcher Bereiche – also in der Erkenntnis- und Moraltheorie insgesamt – jedoch zutiefst fehlerhaft und irreführend ist, ist diese Suche im 20. Jahrhundert ganz und gar vorherrschend gewesen (vgl. Erickson et alia, 2013). 3.  Gerade dadurch, dass wir als Individuen der Spezies homo sapiens sapiens zwar allzu endliche, fehlbare Denkende sind, um genuine Vernunftwesen zu sein, aber gleichzeitig doch rationaler Beurteilung – also Einschätzung – und Rechtfertigung fähig sind, müssen wir sorgfältig zwischen bloß „subjektiven“ und „objektiven“ Überzeugungen unterscheiden, und zwar prinzipiell wie auch in der Praxis (KrV B848–9). Das bedeutet, dass wir zwischen folgenden Überzeugungsarten unterscheiden können und müssen: a) Davon überzeugt zu sein, dass man eine Wahrheit erfasst hat, wodurch nur die Überzeugung entsteht, diese angebliche Wahrheit begriffen zu haben. b) Eine Wahrheit erfasst zu haben, wodurch allein die Überzeugung entsteht, diese begriffen zu haben.

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Aller anscheinenden Selbstverständlichkeit zum Trotz hat Hume erkannt, dass keine substantielle Wahrheit – weder moralische noch empirische – logisch wahr ist, da alle substantiellen (oder „materialen“) Wahrheitsansprüche (Sätze, Urteile, Aussagen) logisch kontradiktorische Negationen zulassen. Substantielle Wahrheiten ergeben synthetische, nicht analytische Sätze. Das Identifizieren und Rechtfertigen von grundlegenden synthetischen Wahrheiten in allen möglichen nicht-formalen Sachbereichen fordert als conditio sine qua non, dass wir genau herausstellen, ob unsere Evidenzen, Prinzipien und Analysen zur Rechtfertigung eines Urteils so beschaffen sind, dass sie sich allen anderen kommunizieren lassen. Letztere müssen unsere Urteile und Rechtfertigungen so verstehen und nachvollziehen können, dass sie diese gleichermaßen als hinreichend genau und gerechtfertigt zu beurteilen im Stande sind, und zudem sollen sie im Stande sein, dieselben Urteile im Denken und in der Praxis konsistent zu übernehmen und ausführen zu können, genauso wie wir es selber in unsrem eigenen Denken und Handeln tun. 4. Die Auslegung von Kants Bedingung dieser Kommunizierbarkeit als conditio sine qua non der rationalen Rechtfertigung in nicht-formalen Bereichen erhellt, wie eng diese Bedingung mit Kants Universalisierungstests des kategorischen Imperativs bzw. des allgemeinen Rechtsprinzips zusammenhängt. Kants Verallgemeinerungstests prüfen, ob eine von Maximen geleitete Handlung nur dann zweckvoll ausgeführt werden kann, wenn man einen anderen entweder betrügt oder überwältigt, also dadurch, dass man eine Person bloß als Mittel aber nicht zugleich als Person, als Vernunftwesen, also als „Zweck an sich selbst“ behandelt. Kants Verallgemeinerungstests prüfen, ob eine Handlung gemäß der geprüften Maxime nur dann gelingen kann, wenn man das Vermögen Anderer, sich aufgrund hinreichender Rechtfertigungen zu entschließen und demgemäß zu handeln, entweder umgeht oder überwältigt. Und so untersagen Kants Verallgemeinerungstests jegliche Maximen des Diebstahls, Betrugs, Verführens, Verfälschens, Bedrohens, Erpressens sowie Angreifens, denen gemeinsam ist, dass Personen bloß als Mittel, aber nicht zugleich als vernunft-begabte Handelnde behandelt werden. III. Zwei substantielle Leistungen der kritischen Philosophie Die dargestellte Kritik rationaler Urteilskraft und Rechtfertigungsfähigkeit führt in Kombination mit einigen sparsamen anthropologischen Grundannahmen auf direktem Wege zu zwei substantiellen Grundleistungen der kritischen Philosophie, die erste auf dem Gebiet der theoretischen, die zweite auf dem der praktischen Philosophie. 1. In der Kritik der reinen Vernunft stellt Kant heraus, dass wir sowohl unsere Grundbegriffe, die Kategorien, als auch alle besonderen, abgeleiteten oder empirischen Begriffe nur auf Einzelnes (ob nun einzelne Gegenstände,



Beantwortung der Frage: Was ist kritische Philosophie?295

Ereignisse, Personen, Strukturen, Prozesse, jeglicher Art bzw. Größe), die wir im Raume und in der Zeit lokalisiert, d. h. aufgezeigt haben, beziehen und nur dadurch überhaupt zur Bildung von Erkenntnissen gebrauchen können. Auf diese Weise arbeitet Kant die These Tetens (1777) weiter aus, dass wir einen Begriff nur dann legitimerweise kognitiv gebrauchen können, wenn wir ihn dadurch „realisieren“, dass wir mindestens eine relevante Instanz dieses Begriffs aufweisen; anders gesagt, dass wir sie demonstrativ (deiktisch) aufzeigen. Diese These bildet bei Kant das gemeinsame Endergebnis zweier Kapitel, nämlich der transzendentalen Ästhetik und der Amphibolie der Reflexionsbegriffe.3 Implizit entwickelt Kant hiermit die folgenden, erkenntnistheoretisch entscheidenden, semantisch-kognitiven Unterscheidungen: a) Beschreibung: die Bildung eines logisch konsistenten Gedankens über einen (mutmaßlichen) Gegenstand. b) Zuschreibung: Die Beilegung von in jener Beschreibung vorkommenden Prädikaten zu einem lokalisierten, ostensiv aufgezeigten Gegenstand. c) Hinreichend genaue bzw. wahrhafte Zuschreibung: die Beilegung nur von zutreffenden Prädikaten zum aufgezeigten Gegenstand. d) Kognitiv gerechtfertigte wahrhafte Zuschreibung: die Beilegung von, auf den Gegenstand zutreffenden Prädikaten aufgrund kognitiv relevanter Rechtfertigungsgründe. e) Hinreichend kognitiv gerechtfertigte Zuschreibung: Die Beilegung von, auf den Gegenstand zutreffenden Prädikaten aufgrund hinreichender kognitiver Rechtfertigungsgründe. Diese fünf proto-kognitiven Leistungen lassen sich in Bezug auf unterschiedliche Bereiche weiter präzisieren. Klar ist jedenfalls, dass nur die fünfte als echte, gelungene Erkenntnis zählt. Durch diese Unterscheidungen unterminiert Kant antizipierend die bekannten Thesen Russells zum Unterschied von Erkenntnis durch Bekanntschaft und Erkenntnis durch bestimmte Beschreibung. Kant sieht, dass im Prinzip keine grammatisch bestimmte Beschreibung genügt, um zu spezifizieren, ob die Beschreibung logisch (also referenziell) leer, eindeutig oder mehrdeutig sei, also entweder keine, oder genau eine, oder aber mehrere Instanziierungen hat. Schon durch diese spezifisch kognitive Semantik – eine Semantik von spezifisch kognitiver Gegenstandsbezogenheit – erreicht Kant die erzielte Position eines Verifikationsempirismus, aber dies ohne Heranziehung einer bloß begrifflichen Bedeutungstheorie (bezüglich „Intension“ bzw. semantischem Gehalt), und auch ohne Empirismus in Kauf nehmen zu müssen. Kants bedeutende erkenntnistheoretische Leistung möchte ich als die These der singulären kognitiven Gegenstandbezogenheit zusammenfassen: 3  Ferner

hierzu siehe Westphal 2014, § 3.

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Wörter bzw. Sätze sind bedeutsam, und Begriffe als Klassifikationen sind gehaltvoll, als Prädikate möglicher Urteile (bzw. Forderungen, Aussagen oder Behauptungen), d. h., als bestimmbare semantische Träger. Außerhalb bloß formaler, also innerhalb substantieller Sachbereiche, erhält ein Begriff, ein Satz bzw. eine Aussage eine spezifisch kognitive Bedeutung genau dann, wenn jemand sie auf ein von der Person räumlich und zeitlich (mindestens ungefähr) lokalisiertes Einzelnes (bzw. lokalisierte Einzelne) bezogen hat. So verstanden ist kognitive Bedeutung für jeglichen kognitiven Status (inklusiv angeblicher oder vermeintlicher Erkenntnisse) erforderlich.

Schon diese These der singulären kognitiven Gegenstandbezogenheit genügt Kant, um die vormalige Metaphysik zu widerlegen, da sich diese einer bloßen Beschreibungstheorie der Referenz (wenn überhaupt) bediente und bedienen musste. Kants These unterminiert gleichermaßen den Rechtfertigungsinfallibilismus bezüglich aller nicht-formalen, also substantiellen Sachbereiche, weil nun allen bloß logisch möglichen „Alternativen“ (darunter auch sogenannte „Hypothesen“ eines globalen Wahrnehmungsskeptizismus) prinzipiell kein kognitiver Status zukommt. Im Prinzip genügen bloß logisch mögliche Sätze nur für die erste der oben angeführten proto-kognitiven Leistungen, nämlich als bloße Beschreibungen. Als solche fehlt ihnen allesamt ein Wahrheits- bzw. Annäherungswert und damit auch jede kognitive Rechtfertigung. Als solche bieten sie noch gar keinen Grund für kognitive Urteile, die mindestens der zweiten Unterscheidung genügen müssen, damit ihnen irgendein Wahrheits- bzw. Annäherungswert überhaupt zukommen kann. Also geben sie überhaupt keinen Grund, der kognitive Urteile zu unterminieren vermöchte, die mindestens auf der zweiten angeführten proto-kognitiven Leistung aufbauen, usw. Nicht zuletzt untermauert Kants These der singulären kognitiven Gegenstandbezogenheit die These der kognitiven Unentbehrlichkeit des referentiellen, also demonstrativen (deiktischen) Aufweisens von angeblich erkannten Einzelnen, sowie die These der spezifisch kognitiven Rechtfertigung. Beide Thesen fallen weder bloß in den Bereich der Sprachphilosophie noch in den der „philosophy of mind“. Also können letztere zwar die Erkenntnistheorie ergänzen, können sie aber keineswegs ersetzen, obwohl genau das heute vielfach versucht wird (Westphal 2017b).4 2. Die im § 2 zusammengefassten Überlegungen zur rationalen Beurteilung rechtfertigen auch das laut Kant einzige angeborene Recht auf Freiheit, sobald wir zwei Grundbeschaffenheiten der Gattung Mensch hinzunehmen, 4  Hier muss unerwähnt bleiben, wie Kant seine Methodik der „transzendentalen Überlegung“ entwickelt, um seine Kritik menschlicher Urteilskraft durchzuführen; hierzu siehe Westphal 2004. Vom „Einzelnen“ so zu reden wie hier lässt absichtlich ganz offen, ob Gegenstände, Ereignisse, Personen, Strukturen, Prozesse oder Systeme in Frage stehen, wie auch ihre Größe und Anzahl. Es geht nur darum, dass diese mindestens ungefähr sich aufzeigen lassen und aufgezeigt worden sind, ob in direkter oder indirekter Weise mittels Mess- oder Beobachtungsinstrumenten.



Beantwortung der Frage: Was ist kritische Philosophie?297

die zu Kants ungeschriebener „praktischen Anthropologie“ (Gr 4: 388, 412; MdS 6: 216–7, 469) gehören, nämlich: dass wir als Individuen der spezies homo sapiens überhaupt nichts aus dem Nichts (ex nihilo) wollen, also zu tun streben (anstatt bloß wünschen) können; und, dass wir nebeneinander die endliche Fläche des Erdballs bewohnen, so dass wir uns gegenseitig nicht meiden können. Aus diesen Gründen sind uns Menschen öffentliche, öffentlich anerkannte, legitime sowie autorisierte Prinzipien, Institutionen und Praktiken des rechtmäßigen Erwerbs, Besitzes und Gebrauchs von Sachen schlicht unentbehrlich. Mit anderen Worten: das gesamte Sachenrecht ist uns Menschen unentbehrlich (Westphal 2015). Nun können die Prinzipien, Institutionen und Praktiken des Sachenrechts nur soweit legitim sein, wie sie sich durch Beachtung, Aufrechterhaltung und Beförderung des einzigen angeborenen Rechts der Freiheit rational rechtfertigen lassen. Zurecht schreibt Kant hierzu: „Das angeborne Recht ist nur ein einziges. Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht. – Die angeborne Gleichheit, d. i. die Unabhängigkeit nicht zu mehrerem von Anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann; mithin die Qualität des Menschen sein eigener Herr (sui iuris) zu sein, imgleichen die eines unbescholtenen Menschen (iusti), weil er vor allem rechtlichen Act keinem Unrecht gethan hat; endlich auch die Befugniß, das gegen andere zu thun, was an sich ihnen das Ihre nicht schmälert, wenn sie sich dessen nur nicht annehmen wollen; dergleichen ist ihnen bloß seine Gedanken mitzutheilen, ihnen etwas zu erzählen oder zu versprechen, es sei wahr und aufrichtig, oder unwahr und unaufrichtig (veriloquium aut falsiloquium), weil es bloß auf ihnen beruht, ob sie ihm glauben wollen oder nicht; – alle diese Befugnisse liegen schon im Princip der angebornen Freiheit und sind wirklich von ihr nicht (als Glieder der Eintheilung unter einem höheren Rechtsbegriff) unterschieden.“ (RL Einl., 6:237–8)

Dieses einzige angeborene Recht ist keine bloße Behauptung, kein bloßes Postulat. Es ist ein zur Autonomie der rationalen Urteilsbildung (oben § 2) erforderliches Prinzip, und zugleich gerade durch diese Autonomie, den „oberste Probierstein der Wahrheit“ (DO, 8: 146 Anm.) gerechtfertigt. Gerade diese Autonomie rationaler Urteilsbildung ist zur wechselseitigen und allseitigen Anführung, Einschätzung, Revidierung, und ggf. Aufnahme von Rechtfertigungsgründen notwendig, die allesamt zur Prüfung und Rechtfertigung der eigenen Prinzipien, Maximen, Behauptungen und Handlungen unumgänglich sind, damit man die eigenen Beurteilungen, Maximen und deren Rechtfertigungsgründe allen Betroffenen so mitteilen kann, dass sie dieselben verstehen, beurteilen und ggfs. sowohl in der Theorie als auch in der Praxis (d. h. auch im eigenen Handeln) nachvollziehen können, und zwar gleich einem selbst. Diese conditio sine qua non der rationalen Rechtfertigung in jed-

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wedem substantiellen Sachbereich, zusammen mit elementaren, grundsätzlichen (und vom Meinen unabhängigen) Tatsachen unserer endlichen, von Gegenseitigkeit abhängigen, verkörperten Vernunftform – Kants „praktische Anthropologie“ – genügen zur Identifizierung und Rechtfertigung von bedeutsamen Rechten und Pflichten mit Bezug auf Besitzrecht, Versprechen und Vertragsrecht, wie auch Grundrechte und -pflichten der republikanischen Bürgerrolle, des republikanischen Staatrechts, und des kosmopolitischen Rechts – Rechte, die sich an dieser Stelle nur aufzählen lassen.5 3. Insgesamt sind diese Ergebnisse schon allein durch Kants Kritik des Vermögens rationaler Urteilsbildung und -rechtfertigung ­­ in nicht-formalen Sachbereichen gerechtfertigt. Keines dieser Ergebnisse verlangt die Heranziehung des transzendentalen Idealismus oder die Idee einer inkommensurablen Würde der Person als Vernunftwesen.6 Lassen wir dahingestellt, wie gut sich diese zwei Lehrstücke Kants verteidigen lassen. Jedenfalls sind sie weder als Prämissen noch als Beweisgründe für die besagten Ergebnisse erforderlich. Sie sind auch nicht erforderlich für Kants Verallgemeinerungskriterien für gebotene, verbotene und zulässige Handlungen (seien diese Kriterien prospektiv oder retrospektiv, und in der Position der ersten, zweiten oder dritten Person angewandt). Alle genannten Ergebnisse sind schlüssig gerechtfertigt, ohne dass wir von „Werten“ oder Wertungsstandpunkten (bei Max Weber 1917: „Wertungen“) reden müssen, und sie kommen ohne Bezug auf Metaphysik aus. Aus Kants Kritik des menschlichen Vermögens rationaler Urteilsbildung und Rechtfertigung folgt allerdings so etwas wie ein „Grundwert“: die grundlegende Pflicht, Tugend und eindeutige Wichtigkeit der Bescheidenheit. Gerade insofern wir endliche, fehlbare, nur teilwissende Vernunftwesen sind, sind wir zu solcher Bescheidenheit uns selbst sowie allen anderen gegenüber gehalten. Diese Grundpflicht und dieser Grundwert sind durchweg kosmopolitisch, überregional, interkultuerell und transhistorisch, allem Fehlverhalten in der bisherigen und gegenwärtigen Geschichte zum Trotz. Diese Bescheidenheit ist von uns gefordert, weil wir nur mit ihr unserer Grundpflicht gewahr werden und diese befolgen können, die darin besteht, das einzige angeborene Recht auf Freiheit in unserer eigenen Person und in der Person eines jeden Anderen aus Pflicht zu achten. Das einzige angeborene Recht auf Freiheit ist das Menschenrecht auf „Nicht-Beherrschung“ (oder „non-domination“ bei Pettit 1997, 2012); es ist auch Rousseaus „Unabhängigkeitsbedingung“ (oder „Independence Requirement“ bei Neuhouser 2000, S. 64–9). Es werden von mir andernorts untersucht: Westphal 2015, 2016a. und wie Kant auch die moralische Freiheit des Menschen rechtfertigt, ohne Rekurs auf seinen Idealismus, habe ich an anderer Stelle zu explizieren versucht, siehe Westphal 2017b. 5  Diese 6  Dass



Beantwortung der Frage: Was ist kritische Philosophie?299

besagt, dass kein Mensch in der Lage sein soll, Reichtum, Macht oder Privilegien dafür einzusetzen, das Entscheiden und Handeln anderer Personen einseitig zu bestimmen (Westphal 2016b). Kants einziges angeborenes Recht auf Freiheit bildet, mit anderen Worten, den Grundstein republikanischer Freiheit. Diese wird durch Kants Kritik des Vermögens rationaler Beurteilung und Rechtfertigung auf direktem Wege schlüssig gerechtfertigt. Diejenigen, die solche Bescheidenheit nicht pflegen bzw. aufweisen, zeigen gerade hierdurch, dass sie dogmatisch oder parteiisch verfahren. Wir haben hier wohlgemerkt kein Problem eines kontingenten Grundwertes bzw. Grundprinzips. Ein Problem haben eher diejenigen Individuen, die ihr (vermeintes) Eigeninteresse auf Kosten anderer verfolgen. So verbreitet solches Verhalten auch ist, sowenig muss es doch toleriert werden, auch wenn wir es uns sozialpsychologisch (oder ggf. auch psychopathologisch) verständlich machen können. Um den deontischen Status einer Handlung zu bestimmen, verwendet Kant das Prinzip hypothetischer Imperative und den kategorische Imperativ in Kombination. Wie schon für Rousseau, ist es auch Kants Anliegen, zu beweisen, dass der einseitige Zwang eines anderen keinen bloß ökonomischen Preis hat. Abgesehen von legitimen Strafen, behandelt jeder, der andere einseitig zu etwas zwingt, Personen bloß als Mittel zum eigenen Zweck; gleichzeitig aber behandelt man auch sich selber bloß wie einen Sklaven der eigenen faktischen Zwecke, anstatt gerade diejenige Autonomie auszuüben, die darin bestehen würde, diejenigen Zwecke aufzugeben, die nur erreichbar sind durch Behandlung einer Person (inklusiv der ersten Person) bloß als Mittel zur eigenen Befriedigung, statt eine jede Person gleichermaßen als rationale Handelnde zu betrachten, die für sich selbst überlegen, beurteilen und aufgrund hinreichender Rechtfertigungsgründe entscheiden können, wie zuverlässig zu denken und zu handeln sei. Keine „Wertphilosophie“ kann dieses Resultat rechtfertigen, denn in ihrem Rahmen lässt sich nicht scharf unterscheiden zwischen dem, was Menschen faktisch wollen und wünschen, d. h., wie und was sie faktisch bewerten, und dem, was an sich als „wertvoll“ zu betrachten ist, was also zu Recht wertvoll und schätzbar ist. Dies ist das Problem des Psychologismus von „Werten“, „Wertungen“ oder „Wertungsstandpunkten“. Die „Inkommensurabilität“ verschiedener „Werte“ oder „Wertungen“ beschränkt nämlich keineswegs den Bereich gültiger Moralprinzipien (bzw. moralischer Geltungsansprüche). Die umgekehrte Annahme setzt explizit oder stillschweigend voraus, dass die Vernunft nur zweckrational sein kann. Nur eine Kritik der Tragweite und Leistungsfähigkeit rationaler Beurteilung und Rechtfertigung in nicht-formalen Sachbereichen kann jenes Resultat rechtfertigen. Kant hat darin Recht, dass die einzige richtige Alternative zum „Egoismus“ in Bezug auf Erkennt-

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nis, Moral und Geschmack der kosmopolitische Universalismus ist (Anth. § 2), zu dem uns verpflichtet, dass wir endliche, auf Gegenseitigkeit angewiesene, nur halbwegs vernünftige, verkörperte Handelnde sind. Kants kritische Explikation der Leistungsfähigkeit rationaler Beurteilung und Rechtfertigung in allen substantiellen Sachbereichen liefert aussagekräftige Kriterien für die Unterscheidung von Sinn und Unsinn in Bezug auf moralische Fragen, darunter auch solche der Politik. Seine theoretische Leistung löst jedoch die praktischen Meinungsverschiedenheiten oder sogar Streitereien unter konkurrierenden Gruppen nicht auf, auch dann nicht, wenn einige über andere leicht (oder leichtsinnig) herrschen mögen. Aber Kants Kriterien grenzen den Bereich legitimer Debatten ein und stärken hierdurch unsere Fähigkeit, illegitime Interessen zu erkennen, so sehr auch in der Politik gegenwärtig die Kunst des Möglichen verlassen und stattdessen Manipulation oder nackte Realpolitik betrieben werden mag. Diesbezüglich formuliert Kant ein zweites, affirmatives Kriterium der öffentlichen Gerechtigkeit, nämlich: „Alle Maximen, die der Publicität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen.“ (ZeF, 8: 386)7

Für Gerechtigkeit und Moralität öffentlich einzutreten erfordert nicht nur Klarheit, Bescheidenheit und Rücksicht auf andere, sondern auch Standhaftigkeit. Weder ruft rechtmäßige Bescheidenheit zu Demonstrationen auf, noch besänftigt sie die Fanatiker. Aber nicht von ungefähr hat Sokrates darin Recht, dass für uns das Leben gänzlich wertlos ist, wenn der Anteil unserer Seele, der durch Rechtschaffenheit ernährt, stattdessen durch selbstverschuldetes Unrecht beschädigt wird (Kriton 47–8). IV. Kants kritisches System der Philosophie im Überblick Im Licht der bisherigen Ausführungen lässt sich Kants kritisches System der Philosophie wie folgt umfassend nachvollziehen. 1.  Kants kritische Hauptwerke: GS  Kants Gesammelte Schriften, 29 Bände. Königlich Preußische (jetzt Deutsche) Akademie der Wissenschaften. Berlin: G. Reimer, jetzt de Gruyter, 1902–. Band: Seiten KrV Kritik der reinen Vernunft, 1. Auflage 1781 „A“, bis A405: 4:3–251 2. rev. Auflage 1787 „B“ 3 KprV Kritik der praktischen Vernunft. 1788 § 5:3–163 KU Kritik der Urteilskraft. 1790 § 5:171–485 MAN Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. 1786 § 4:467–565 Gr Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 1785 S. 4:387–463 MS Metaphysik der Sitten. § 6:203–493   RL   Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre 1797, 1798 § 6:203–372



7  Zur

Diskussion siehe Westphal 1992, §III.



Beantwortung der Frage: Was ist kritische Philosophie?301

  TL   Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre 1798 § Rel. Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. 1793, 1794 S. Anth. Anthropologie vom pragmatischen Standpunkt. 1798, 1800 §

6:373–493 6:1–202 7:119–333

2.  Kants kritische Hauptfragen (KrV A 805–6/B 832–3; Logik 9:25): Was kann ich wissen? KrV, MAN Was soll ich tun? (KrV, tr. Dialektik), KprV, Gr, MS Was darf ich hoffen? KprV, KU, Rel. Was ist der Mensch? alledem + Anthropologie, Aufsätze zur Politik & Geschichte

3.  Kants kritische Hauptprobleme: Empirie: Wie sind für uns Menschen empirische Erkenntnisse überhaupt möglich?  Skeptizismus:   Sextus Empirikus:  Das Kriteriumsdilemma.   Ob sich unsere sinnlichen Vorstellungen auf Gegenstände beziehen?    Hume:   Kausalität = 1:1 Korrelationen + eingewöhnte Erwartungen.   Das Induktionsproblem. Mathematik: Wie ist Mathematik als System von a priori erkannten synthetischen   Sätzen für uns möglich? Naturwissenschaft: Wie ist newtonische Physik als Wissenschaft überhaupt für uns möglich?  Der Raum:  absoluter vs bloß relationaler Raum.   Späterhin zudem:   Wie ist Naturwissenschaft des Organisierten – z. B. Kristallbildung,   organisches Leben – überhaupt möglich? Sittlichkeit: Wie ist moralische Verpflichtung überhaupt menschenmöglich?   Moralischer Empirismus, Utilitarismus, Eudaimonismus.   Der „naturalistische Fehlschluss“ vom „Sein“ auf „Sollen“ (Hume,  Moore).   Moralische Pflichten sind kategorisch, universal sowie notwendig;   diese Bestimmungen lassen sich nicht bloß empirisch nachweisen.  Handlungsfreiheit vs Kausaldeterminismus.8 Ästhetik (Geschmack)  Wie sind uns universal-gültige Geschmacksurteile überhaupt möglich,   da sie auf keinem objektiv gültigen Begriff des Gegenstandes basie ren? Metaphysik:  Wie ist Metaphysik als System von a priori erkannten synthetischen   Sätzen überhaupt für uns möglich? 1.  Rationale Psychologie: Die Seele ist eine Substanz. Die Seele ist einfach. Die Seele ist numerisch einheitlich, selbst-identisch.  Die Seele nimmt möglicherweise physische Gegenstände um sich   herum wahr.9     Z.z.:10   Keine von diesen Thesen ist beweisbar (rational rechtfertigungsfähig). 2.  Rationale Kosmologie: Der Ursprung der Welt im Raume und in der Zeit. Die unendliche Teilbarkeit der materialen Substanz. Der Kausaldeterminismus der Natur vs Handlungsfreiheit. Es gibt ein notwendig Seiendes (kosmologischer Beweis). 8  Nämlich, ob folgende Schlusskette stichhaltig sei: Kausaldeterminismus der ­Natur  (~ Handlungsfreiheit)  (~ Zurechnung)  (~ moralische Verantwortung)  (~ Sittlichkeit); Siglen: „“: „impliziert“, „ ~ “: Negation. 9  Nämlich: Cartesianische bzw. Hume’sche Skepsis, oder auch subjektiver Idealismus, mit der Konsequenz, dass zwar unsere Apperzeption sicher, aber unsere Perzeption physischer Gegenstände problematisch wird. 10  „Z.z.“ = „zu zeigen sei“ = zu beweisen sei.

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    Z.z.:  Es gibt gleichstarke Beweisführungen für beide Seiten dieser Thesen bzw. für ihre Verneinungen; ein unvermeidlicher, notwendiger Selbstwiderstreit der Vernunft (wenn sie versucht, übersinnliches transzendentes Wissen zu erlangen). 3.  Rationale Theologie: Der ontologische Beweis  Der kosmologische Beweis    des Daseins Gottes. Der teleologische Beweis      Z.z.: Keiner dieser Beweise ist prinzipiell schlüssig. Kants Hauptthese: Alle diese metaphysischen Fragen sind für unsere Vernunft prinzipiell unbeantwortbar, und zwar aus systematischen Gründen, deren Ausarbeitung auch die Hauptfragen der vorigen vier Gebiete – Skeptizismus & Naturwissenschaft, Sittlichkeit & Moraltheorie, Ästhetik & Geschmack sowie Theologie – endgültig beantwortet. 4.  Kants kritisches System der Philosophie. I. Vernunftkritik: Erkenntnisse a priori aus Begriffen & Prinzipien Methode: „transzendentale Überlegung“. Kritik der reinen theoretischen Vernunft KdrV Elementarlehre   Transzendentale Ästhetik: Raum (sowie der Begriff des Raumes) Zeit (sowie der Begriff der Zeit)   Transzendentale Analytik: Analytik der Begriffe Analytik der Grundsätze   Transzendentale Dialektik: Transzendentale Ideen Die Antinomie der reinen theoretischen Vernunft Das Ideal der reinen theoretischen Vernunft Von dem regulativen Gebrauch der reinen theoretischen  Vernunft Methodenlehre: Disziplin der reinen theoretischen Vernunft Kanon der reinen theoretischen Vernunft Architektonik der reinen theoretischen Vernunft Geschichte der reinen theoretischen Vernunft

Kritik der reinen praktischen Vernunft

Kritik der reflektierenden Urteilskraft   Hinsichtlich der Systematisierung unserer Naturkenntnisse   Hinsichtlich der Zweckmäßigkeit    in Bezug auf das Schöne, Geschmacksurteile & das Erhabene    in Bezug auf organisierte Naturgebilde     nicht-lebendige selbst-organsierte Natur: Kristalle, Chemie    Das organische Leben    in Bezug auf die Natur als Ganzes bzw. als Schöpfung

KprV KU KrV, Dialektik KU KU I: Ästhetik KU II: Teleologie

KU, Methodenlehre

II. Kritische Metaphysik  (KdrV B873–6; vgl. Meiner 1998, S. 959.)   A priori Explikation eines logisch kontingenten Grundbegriffs eines Wesens (von zwei Arten):   Ein vernunftbegabter Akteur:     Kritische Metaphyik der Sitten Gr, MS      Rechtslehre MS I      Tugendlehre MS II   Die Materie als das Bewegliche im Raume:     Kritische Metaphysik der Natur      Transzendentalphilosophie (statt Ontologie) KrV, Grundsätze      rationale Physiologie der reinen Vernunft       immanente        rationale Physik MAN        rationale Psychologie [leer]



Beantwortung der Frage: Was ist kritische Philosophie?303

       rationale Lehre des Organisierten (Kristalle, Leben):        rationale Religion       transzendente        transzendentale11 Welterkenntnis (Kosmologie)        transzendentale Gotteserkenntnis (Theologie)

KU II: Teleologie KprV, Rel. [leer] [leer]

V. Schlussbetrachtung Kant schließt seine Kritik der reinen Vernunft mit der folgenden Betrachtung: „Was nun die Beobachter einer scientifischen Methode betrifft, so haben sie hier die Wahl, entweder dogmatisch oder sceptisch, in allen Fällen aber doch die Verbindlichkeit, systematisch zu verfahren. Wenn ich hier in Ansehung der ersteren den berühmten Wolff, bei der zweiten David Hume nenne, so kann ich die übrigen meiner jetzigen Absicht nach ungenannt lassen. Der kritische Weg ist allein noch offen. Wenn der Leser diesen in meiner Gesellschaft durchzuwandern Gefälligkeit und Geduld gehabt hat, so mag er jetzt urtheilen, ob nicht, wenn es ihm beliebt, das Seinige dazu beizutragen, um diesen Fußsteig zur Heeresstraße zu machen, dasjenige, was viele Jahrhunderte nicht leisten konnten, noch vor Ablauf des gegenwärtigen erreicht werden möge: nämlich die menschliche Vernunft in dem, was ihre Wißbegierde jederzeit, bisher aber vergeblich beschäftigt hat, zur völligen Befriedigung zu bringen.“ (KrV A856/B884)

Hier habe ich versucht, klar darzulegen, dass Kant einen genuin kritischen Weg einschlägt und dass er in diesem Unterfangen durchaus Recht hat: Nur dieser Weg ist allein noch offen, allen heutigen Versuchen, grundlegend anders zu philosophieren zum Trotz.12 Literaturverzeichnis Daly, Chris (Hrsg.): The Palgrave Handbook of Philosophical Methods, Houndsmills, Basingstoke Hampshire 2015. D’Oro, Giuseppina/Overgaard, Søren (Hrsg.): The Cambridge Companion to Philosophical Methodology, Cambridge 2017.

11  In diesem Zusammenhang verwendet Kant „transzendental“ im herkömmlichen metaphysischen Sinne statt in seinem besonderen, kritischen Sinne; vgl. KrV A 720/B 748; GS 3: 473.19–20. 12  Es ist mir eine Ehre und eine Freude, mit diesem Text zur Festschrift von Matthias Kaufmann beizutragen, des wegen seiner vielfältigen Tätigkeiten, bedeutsamen Leistungen und seiner großartigen Menschlichkeit von mir überaus geschätzen Kollegen. ­− Matthias Kettner danke ich herzlich für seine glänzende sprachliche Hilfeleistungen. Diese Forschung wurde freundlicherweise zum Teil  durch den Boğaziçi Üniversitesi Forschungsfond (BAP; grant code: 18B02P3) gefördert.

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Erickson, Paul/Klein, Judy/Daston, Lorraine/Lemov, Rebecca/Sturm, Thomas/Gordin, Michael: How Reason almost lost its Mind: The Strange Career of Cold War Rationality, Chicago 2013. Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft, 1. und 2. rev. Auflagen, Riga 1781, 1786. Kant, Immanuel: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, 1783; GS 4: 255–363. Kant, Immanuel: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, 1785; GS 4: 387–463. Kant, Immanuel: Was heißt es, sich im Denken zu Orientieren?, 1786; GS 8: 133– 147, Abk.: „DO“. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, 1788; GS 5: 3–163. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, 1790; GS 5: 171–485. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden, 2. überarbeitete Aufl., 1796; GS 8: 343–386, Abk. „ZeF“. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten, 1798; GS 6: 203–493. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 2. überarbeitete Aufl., 1800; GS 7. Kant, Immanuel: Kants Gesammelte Schriften. Berlin, 1902–; Abk. „GS“. Kant, Immanuel: Jens Timmermann (Hrsg.), Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1998. Kant, Immanuel: Karsten Worm/Susanne Boeck (Hrsg.), Kant im Kontext III – Komplettausgabe, 2. Aufl., 6, Berlin 2009. Mohr, Georg/Stolzenberg, Jürgen/Wilaschek, Macus (Hrsg.): Kant-Lexikon, Berlin 2015. Neuhouser, Frederick: The Foundations of Hegel’s Social Theory. Cambridge, Mass. 2000. Pettit, Philip: Republicanism: A Theory of Freedom and Government, Oxford 1997. Pettit, Philip: On the People’s Terms: A Republican Theory and Model of Democracy, Cambridge 2012. Platon: Sämtliche Werke, „Platon im Kontext PLUS“ – Griechisch-deutsche Parallelausgabe auf Grundlage von Burnet und Schleiermacher, Karsten Worm et al. (Hrsg.), Berlin 1998–2000. Rinofner-Kreidl, Sonja/Wiltsche, Harald (Hrsg.): Analytic and Continental Philosophy: Methods and Perspectives. Proceedings of the 37th International Wittgenstein Syposium, Berlin 2016. Tetens, Johann N.: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, Leipzig 1777; Wiederabdruck: Wilhelm Uebele (Hrsg.), Berlin 1913. Weber, Max: Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Logos 7 (1917); Wiederabdruck in: ders. (1922), S. 451–502. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922.



Beantwortung der Frage: Was ist kritische Philosophie?305

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4. Sprachphilosophie

Ockham und Sellars über Begriffe Von Johannes Hübner Theorie der Intentionalität, Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie sind bei Ockham in der Konzeption der mentalen Sprache innig miteinander verknüpft. Das zeigt, neben vielen anderen Dingen, Matthias Kaufmann in seiner Studie Begriffe, Sätze, Dinge. Referenz und Wahrheit bei Wilhelm von Ockham. Ockham entwickelt nicht zunächst eine isolierte Theorie der Bezugnahme, auf der dann Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie aufbauen könnten, sondern seine Theorien der Intentionalität und der Erkenntnis sind von Anfang an sprachphilosophisch. Es ist wohl diese Theorieanlage, in der die Übereinstimmungen zwischen Ockham und dem Amerikaner Wilfrid Sellars ihre Wurzel haben. Der vorliegende Essay ist dem Verhältnis der beiden Philosophen gewidmet und versteht sich als Beitrag zu dem gerade durch Matthias Kaufmann beförderten Projekt, Ockham im Licht von oder im Kontrast zur zeitgenössischen Philosophie zu betrachten. Ein systematischer Vergleich steht noch aus, ich werde mich auf Begriffe konzentrieren und dabei zwei Aspekte herausgreifen. Die erste Hälfte legt dar, inwiefern Ockham und Sellars in parallelen Weisen den Rekurs auf Begriffe nutzen, um das Universalienproblem zu behandeln. Die zweite Hälfte möchte zeigen, dass Ockham und Sellars in ihren Erklärungen der Intentionalität gleichermaßen eine reale Ähnlichkeit zwischen Begriffen und Sachen postulieren. I. Vorbemerkungen Ockham und Sellars stimmen darin überein, dass zwischen dem – mehr oder weniger – lauten Sprechen und dem inneren Denken (wenigstens) eine tiefgreifende Analogie besteht; exemplarisch sind dabei weniger Sprechakte wie Witze zu erzählen und Reime aufzusagen als vielmehr Tatsachenberichte und faktische Urteile. Die Analogie schließt Folgendes ein: Akte des Denkens und insbesondere des Urteilens sind zunächst Produktionen von mentalen Sätzen. Wie Äußerungen von Sätzen werden auch komplexe Akte des Denkens durch die Verknüpfung von Termen gebildet; die mentalen Terme werden von Ockham als Begriffe oder Intentionen der Seele bezeichnet. Die

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mentalen haben wie die gesprochenen Terme und Sätze sowohl syntaktische als auch semantische Eigenschaften. Die inhaltlichen Übereinstimmungen sind kein Zufall. Sellars war ein Kenner der mittelalterlichen Philosophie und auch mit Eigentümlichkeiten von Ockhams Denken vertraut; das zeigt sich in einer Fußnote, in der er an die Auffassung von Ockham erinnert, eine Intuition könne auch ohne ihr Objekt existieren, wenn Gott das wolle.1 Besonders wichtig ist für Sellars Ockhams metasprachliche Strategie: Rede über Universalien und abstrakte Entitäten wird als Rede über Begriffe, Rede über Begriffe wird als metasprachliche Rede interpretiert. Wenn Sellars diese Strategie aufnimmt, verweist er dabei auf mittelalterliche Logiker im Allgemeinen und auf Ockham im Besonderen.2 Zunächst sind einige skizzenhafte Bemerkungen zu gesprochenen und mentalen Termen bei Ockham erforderlich. Die grundlegenden semantischen Eigenschaften von Termen betreffen bei Ockham das Bezeichnen. Die kategorematischen Terme bezeichnen Sachen, die synkategorematischen Terme (z. B. ‚jeder‘) bezeichnen keine weiteren Sachen, sondern modifizieren in Verbindung mit anderen Termen die Weisen, in denen andere Terme bezeichnen.3 Die Supposition setzt das Bezeichnen voraus; ein Term supponiert für alle Sachen, auf die er zutrifft, wenn er als Subjekt oder Prädikat eines Satzes gebraucht wird (vgl. SL I 63/OP I, 193). Die mentalen Terme gelten als natürliche Zeichen und genießen gegenüber den gesprochenen begriffliche und kausale Priorität. Ein gesprochener Term verdankt sein Vermögen zum Bezeichnen der Unterordnung (Subordination) unter einen Begriff. Ein gesprochener Term wird untergeordnet, indem er konventionell zur Bezeichnung dessen eingesetzt wird, was der Begriff bezeichnet (vgl. SL I 1/OP I, 7–8). Und der Produktion von gesprochenen Termen im Sprechen gehen die entsprechenden mentalen im Denken voraus. Die mentalen Terme ihrerseits bezeichnen aufgrund ihrer Natur. Sie werden, wenn alles seinen natürlichen Gang geht, ohne willentliches Zutun der Menschen in einem kausalen Abstraktionsprozess gewonnen. Der Ausgangspunkt im grundlegenden Fall ist (wenigstens) eine rein sinnliche, also nicht begriffliche Wahrnehmung eines Einzeldings (eine intuitive sinnliche Erkenntnis), 1  Vgl. Sellars 2002, S. 406/Fn. 3 [KTI § 10]. Bei Verweisen auf Sellars stehen die üblichen Abkürzungen der Werke von Sellars in eckigen Klammern. – Für Ockhams Auffassung vgl. z. B. Sent. I, prol., q. 1/OT I, 38–39. 2  Vgl. Sellars 2002, S. 276 [KTE § 29]; S. 326–329 [TTC §§ 17, 19, 23]. 3  Vgl. SL I 4/OP I, 15. Der Einfachheit halber beschränke ich mich im Folgenden auf kategorematische absolute Terme wie ‚Mensch‘, ‚Wasser‘ und ‚Wärme‘; absolute Terme haben nur eine Bezeichnungsdimension, vgl. SL I 10/OP I, 35–36. Außerdem vernachlässige ich die geschriebenen Zeichen.



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die durch das Einzelding bewirkt wird;4 und der Endpunkt eine intellektuelle, abstraktive Erkenntnis, die identisch mit einem allgemeinen Begriff ist. II. Metasprachlicher Konzeptualismus Ockhams Ontologie befriedigt vielleicht nicht alle Vorlieben für Wüstenlandschaften, ist aber doch recht karg: Was immer existiert, ist seiner Ansicht nach ein Einzelding. Zwei Einteilungen kommen dazu, die aus heutiger Sicht eigentümlich anmuten. Zum einen gibt Ockham der Qualität unter den neun nichtsubstanziellen Kategorien des Aristoteles einen Sonderstatus, indem er Qualitäten als „absolute Dinge“ klassifiziert, die Gott für sich existieren lassen könnte (vgl. Sent. I, prol., q, 1/OT I, 38). Zum anderen ist Ockham ein Dualist, da er immaterielle Dinge neben den materiellen anerkennt. So finden sich nach Ockham unter den Einzeldingen nicht nur Substanzen, sondern auch Qualitäten, z. B. die Röte eines bestimmten Apfels, und unter den Substanzen und Qualitäten wiederum auch immaterielle, z. B. der Intellekt eines bestimmten Menschen oder eines Engels sowie ein bestimmter Urteilsakt, der als Qualität des Intellekts verstanden wird (vgl. z. B. Quodl. II q. 10/OT IX, 158–159). Die Ontologie diktiert Ockhams Haltung zum Universalienproblem. Das mittelalterliche Universalienproblem ist die Frage, wovon Allgemeinheit eine Eigenschaft ist, ob nur von sprachlichen Zeichen oder auch von nichtsprachlichen Sachen. Während der Realismus Allgemeinheit als Eigenschaft von nichtsprachlichen Sachen außerhalb des Geistes gelten lässt, weisen Nominalismus und Konzeptualismus das gemeinschaftlich zurück. Der Nominalismus versteht Allgemeinheit primär als Eigenschaft von Namen der gesprochenen Sprache (insofern ist der Ausdruck „Vokalismus“ passend),5 der Konzeptualismus primär als Eigenschaft von mentalen Konzepten. Ontologisch gesehen sind der Name ‚Mensch‘ sowie der Begriff [Mensch] und der Eigenname ‚Sokrates‘ sowie der Begriff [Sokrates] gleichermaßen Einzel­ dinge.6 Der Unterschied besteht für die Universalien-Antirealisten auf der semantischen Ebene: Erstere sind generelle Terme, die auf alle Menschen zutreffen, während letztere singuläre Terme sind, die für ein einziges Einzelding wie Sokrates stehen.7 4  Vgl. SL III-2, 29/OP I, 557. Im nicht grundlegenden Fall geht die Abstraktion von einer Erkenntnis von Termen aus. Vgl. Quaest. var., q. 5/OT VIII, 175. 5  Zur Geschichte der Bezeichnungen „nominales“ und „vocales“ vgl. Marenbon 1992. 6  Die eckigen Klammern sollen Bezüge auf Begriffe anzeigen. 7  Vgl. SL I 14–15/OP I, 47–54. Genauer: Ein singulärer Term steht in der personalen Supposition für genau ein Einzelding; vgl. SL I 64/OP I, 195.

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Wie jeder Antirealist in Bezug auf Universalien sieht sich Ockham mit der Herausforderung konfrontiert, den vielfältigen Merkmalen von Sprechen und Denken Rechnung zu tragen, ohne auf allgemeine Sachen zu rekurrieren. Eine Teilaufgabe in diesem Zusammenhang ist es, den semantischen Beitrag zu erklären, den abstrakte singuläre Terme leisten. Prima facie bezeichnen z. B. ‚Länge‘ und ‚Gewicht‘ sowie ‚Mutterschaft‘ und ‚Ähnlichkeit‘ Quantitäten und Relationen, die verschiedenen Dingen oder Paaren von Dingen gemeinsam sein können. Wie mit dem Anschein umgehen? Das hängt, wie Ockham klar macht, von der Ontologie ab, die man vertritt. Denn die ontologischen Festlegungen haben Vorrang, dann kommen die semantischen Erklärungen; und vor den ontologischen Annahmen kommen eventuell theologische Autoritäten.8 Ockham bietet zwei Erklärungsstrategien an. (1)  Die erste besteht in Paraphrase auf der objektsprachlichen Ebene; hier ist Ockham Quine näher als Sellars.9 In einer Passage, die ein Plädoyer für Kontextdefinitionen im Sinn von Quine ist, beklagt Ockham eine Praxis, die zur maximalen Wahrheitsferne führe, nämlich „Entitäten gemäß der Vielheit von Termen zu vervielfältigen“ (SL I 51/OP I, 171). Nicht für jeden Term gibt es eine Sache, so erklärt Ockham, sondern gewisse Terme entsprechen, was das Bezeichnen angeht, einem längeren Ausdruck. „Deshalb sind Sätze, in denen sie [solche Terme] auftreten, aufzulösen und auseinanderzunehmen, indem man manchmal eine Beschreibung anstelle eines Namens gebraucht, weil Worte und Begriffe täuschen können.“ (ebd.). Ockham lässt potenziell problematische abstrakte Terme zwar auf dieselben Sachen zutreffen wie die entsprechenden konkreten, macht aber zugleich klar, dass die abstrakten Terme nicht in derselben Weise auf dieselben Dinge zutreffen müssen wie die konkreten (und damit nicht Ockhams Kriterium für Synonymie von Termen erfüllen). Die abstrakten Terme sollen nämlich versteckt synkategorematische Ausdrücke oder Adverbien enthalten und deshalb in einer anderen Weise bezeichnen als die konkreten (vgl. SL I 8/OP I, 29). Die Paraphrase führt längere, äquivalente Ausdrücke an und macht die versteckt enthaltenen Ausdrücke damit explizit. (2)  Die zweite Strategie besteht in metasprachlicher Interpretation;10 hier ist Ockham Sellars näher als Quine. In einem antirealistischen Rahmen darf die Anwendung der Kategoriewörter, die von Aristoteles stammen, und von 8  Die Begründungsreihenfolge zeigt sich immer wieder im ersten Teil der Summa Logicae; exemplarisch ist z. B. SL I, 6–8. 9  Sellars 1963, S. 634 [AE] äußert Vorbehalte gegen objektsprachliche Paraphrasen der Art, wie Ockham sie vorschlägt; sie trügen nicht der impliziten Normativität von abstrakten singulären Termen Rechnung. 10  Vgl. Loux 1998, S. 69–79 für eine Darstellung des metasprachlichen Ansatzes in Bezug auf das Universalienproblem.



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Ausdrücken wie ‚Spezies‘ und ‚Gattung‘ nicht als Klassifikation von nichtsprachlichen allgemeinen Dingen verstanden werden. Die metasprachliche Idee ist, sie stattdessen als Klassifikationen von Termen zu interpretieren (als zweite Intentionen). Ockham ist Konzeptualist und nicht Nominalist im erklärten Sinn. Die durch die genannten Ausdrücke klassifizierten sprachlichen Zeichen sind für ihn zunächst mentale Begriffe, nicht gesprochene Terme. Der Konzeptualismus hat einen wichtigen Vorzug, den man durch einen Vergleich mit einem simplen Nominalismus deutlich machen kann. Ein simpler Nominalismus interpretiert Universalien als generelle Terme. Klassifikationen im Deutschen wie (1) Der Mensch ist eine Spezies, (2) Mutterschaft ist eine Relation werden etwa so wiedergegeben: (1N) ‚Mensch‘ ist ein Artwort, (2N) ‚Mutter‘ ist ein Relationswort. Die Paraphrasen handeln von deutschen Ausdrücken. Klassifikationen im Englischen müssten in den entsprechenden Paraphrasen auf englische Wörter bezogen werden. Aber wenn eine Engländerin und eine Deutsche über Mutterschaft sprechen, dann sollten sie über dasselbe sprechen. Der simple Nominalismus interpretiert sie allerdings so, dass sie über Verschiedenes sprechen, die eine z. B. von dem englischen ‚mother‘ und die andere von dem deutschen ‚Mutter‘. Das ist ein unerfreulicher Befund. Der Konzeptualismus von Ockham vermeidet die Bindung an bestimmte Sprachen, denn mentale Konzepte gehören ja, wie Ockham sagt, zu keinem „Idiom“. Sprecher verschiedener Sprachen sind in der Lage, dieselben Begriffe von etwas zu haben, auch wenn sie die jeweils andere Sprache nicht sprechen. Wenn man Klassifikationen wie ‚Mutterschaft ist eine Relation‘ auf mentale Konzepte bezieht, entfällt daher das Problem, dass die Klassifikationen in unterschiedlichen Sprachen von Unterschiedlichem handeln. Ockhams Strategie involviert die einfache Supposition: Dieselben Aus­ drücke können im Kontext eines Satzes unterschiedlich gebraucht werden oder supponieren. In der einfachen Supposition steht ein (nicht bezeichnend gebrauchter) Ausdruck nach Ockham für das mentale Konzept, dem er untergeordnet ist (vgl. SL I 64/OP I, 196). Z. B. supponiert ‚Mensch‘ in dem ­wahren Satz ‚der Mensch ist eine Spezies‘ für den Begriff [Mensch] und ‚Mutter‘ in ‚Mutter ist ein Relationswort‘ für den Begriff [Mutter]. Die Beispielsätze (1) und (2) werden entsprechend so interpretiert: (1O) [Mensch] ist ein mentales Artwort. (2O) [Mutter] ist ein mentales Relationswort.

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Da der Begriff [Mutter] (art-)identisch mit dem Begriff [mother] ist, erlaubt der Konzeptualismus eine Interpretation, in der Engländerin und Deutsche im Gespräch über Mutterschaft über dasselbe sprechen. Ein zweiter Vorzug des Ansatzes von Ockham besteht darin, unschwer mit den Bedeutungsangaben zu generellen Termini umgehen zu können, die ein weiteres potenzielles Einfallstor für einen Universalienrealismus sind. Sätze wie (3) ‚Mensch‘ bedeutet Mensch werden im Rahmen des Realismus so verstanden, dass sie sprachliche Ausdrücke in Beziehung zu ihren Bedeutungen setzen, z. B. das allgemeine Wort ‚Mensch‘ zu der allgemeinen Spezies Mensch. Dagegen kann Ockham (3) so wiedergeben: (3O) ‚Mensch‘ ist [Mensch] subordiniert. Und der Inhalt von [Mensch] lässt sich weiter damit erklären, dass [Mensch] für alle Menschen supponieren kann. Sellars kann die metasprachliche Paraphrase Ockhams nicht eins zu eins übernehmen, entwickelt aber ein Äquivalent. Er ist semantischer Funktionalist und versteht sprachliche Bedeutung von Ausdrücken mit Bezug auf die Funktionen oder Rollen, die sie in ihrer Verwendung übernehmen und die sich durch Regeln explizieren lassen.11 Wesentlich sind inferenzielle Rollen; sofern ein Ausdruck keinen Beitrag zu irgendwelchen inferenziellen Zusammenhängen leistet, handelt es sich nicht um einen sprachlichen Ausdruck. Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks anzugeben heißt entsprechend, seine funktionalen Rollen anzugeben. Für Bedeutungsangaben benutzt Sellars eine besondere Form des Zitierens, die „Punktzitierung“ („dot-quotation“). In der Punktzitierung wird ein Ausdruck in einer Sprache gebraucht, um die funktionale Rolle zu illustrieren, die der Ausdruck in seiner Sprache hat. Mit Hilfe von •Mensch• klassifiziert man die Rolle, die im Deutschen durch ‚Mensch‘ realisiert wird und die mehr oder weniger übereinstimmend auch in anderen Sprachen durch anderes Zeichenmaterial übernommen werden kann. Zu sagen, dass das lateinische ‚homo‘ ein •Mensch• ist, heißt zu sagen, dass ‚homo‘ im Lateinischen (mehr oder weniger) dieselbe Funktion hat, die ‚Mensch‘ im Deutschen hat. ‚•Mensch•‘ illustriert die Rolle von ‚homo‘ so ähnlich, wie ‚unser Besteck‘ in ‚die chinesischen Stäbchen sind unser Besteck‘ die Rolle der chinesischen Stäbchen illustriert. Auch der mentale Begriff [Mensch] ist 11  Für die am besten zugängliche Darstellung von Sellars’ semantischen Funktionalismus vgl. Sellars 1974 [MFC].



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ein •Mensch•, denn er funktioniert in der mentalen Sprache (in etwa) wie ‚Mensch‘ im Deutschen. Die Punktzitierung ist Sellars’ Gegenstück zur einfachen Supposition. Mit ihrer Hilfe kann er semantische Aussagen analog zu Ockham interpretieren, ohne auf Bedeutungen zu rekurrieren. Z. B. wird Satz (3) so verstanden: (3S) ‚Mensch‘ ist ein •Mensch•. Dass ein Ausdruck Bedeutung hat, heißt für Sellars ebenso wenig wie für Ockham, dass er in einer bestimmten Beziehung zu einer Bedeutung steht, sondern dass er im Sprachgebrauch bestimmte Funktionen übernehmen kann. Dass Ausdrücke dieselbe Bedeutung haben können, heißt für Ockham, dass sie demselben mentalen Term subordiniert sein können, und für Sellars, dass sie mit denselben Funktionen gebraucht werden können. Schließlich verfährt Sellars mit Klassifikationen wie unseren Sätzen (1) ‚der Mensch ist eine Spezies‘ und (2) ‚Mutterschaft ist eine Relation‘ nach der metasprachlichen Manier von Ockham; er macht daraus (1S) Ein •Mensch• (d. h. jeder Ausdruck, der so funktioniert, wie ‚Mensch‘ im Deutschen) ist ein Sortale. (2S) Ein •Mutter• (d. h. jeder Ausdruck, der so funktioniert, wie ‚Mutter‘ im Deutschen) ist ein Relationswort.12 III. Ähnlichkeit von Begriff und Sache Was die Natur der mentalen und sprachlichen Intentionalität betrifft, weicht Sellars von Ockham in wesentlichen Hinsichten ab. Am grundlegendsten ist wohl, dass in Ockhams Bild von Intentionalität die Intersubjektivität keine Rolle spielt. Ein möglicherweise einsames geistbegabtes Subjekt, solange es mit Wahrnehmungsfähigkeit und Intellekt ausgestattet ist, kann in diesem Bild Begriffe erwerben, ohne eine andere äußere Hilfe außer der Konfrontation mit den wahrnehmbaren Dingen zu benötigen. Sellars bezeichnet das als „Robinson Crusoe Konzeption“ und sieht erst bei Hegel die Rolle der Gemeinschaft als Mittlerin zwischen dem Realen und den Konzepten berücksichtigt.13 Sprachliches oder mentales Verhalten ist nach Sellars nur dann intentional, wenn es Regeln unterworfen ist, deren Normativität mit Bezug auf eine Gemeinschaft verstanden werden muss. Die folgenden Thesen von Sellars markieren weitere Unterschiede: •• Mentale Akte haben nach Sellars keine „natürlichere“ Bedeutung als sprachliche Episoden. Spracherwerb und Begriffsbildung gehen vielmehr 12  Vgl. 13  Vgl.

Sellars 2002, S. 327 [TTC § 19]. Sellars 1991, S. 16 [PSIM].

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Hand in Hand.14 Die semantischen Eigenschaften von gesprochenen Zeichen können deshalb nicht mit der Subordination unter natürliche Zeichen erklärt werden. •• Rein sinnliche Akte sind nicht intentional, sondern jede Intentionalität ist begrifflich vermittelt. Damit entfällt die Voraussetzung, auf der die Theorie der Abstraktion auch bei Ockham aufbaut.15 •• Die Intentionalität von sprachlichen Äußerungen ist nicht von mentalen Akten geliehen. Sehr allgemein gesprochen, beruht sie darauf, dass die Akte in regelkonformen Weisen in unser Verhalten eingebunden sind. Wesentlich sind drei Typen von Verhalten, nämlich spontane Reaktionen auf die Welt (Beobachtungsberichte), Reaktionen auf andere sprachliche Akte (Inferenzen) und Auslösungen von Handlungen (Absichten). Ein „laut-­ heraus-Denken“ ist ein Denken;16 man könnte von ‚Intentionen der Zunge‘ sprechen. •• Was unseren Begriff von Intentionalität betrifft, sind sprachliche Episoden sogar vorgeordnet. Man kann einen Begriff der Intentionalität haben, ohne einen Begriff des inneren Denkens zu haben. Und man kann einen Begriff des inneren Denkens haben, der abgeleitet vom Begriff der Intentionen der Zunge ist. Äußerungen mit ihrer Intentionalität dienen als Modell, an dem Akte des inneren Denkens konzipiert werden. Das soll durch den berühmten „Mythos von Jones“ veranschaulicht werden.17 •• Sellars ist auf einen vergleichsweise starken semantischen Holismus festgelegt, weil Ausdrücke und Begriffe seiner Ansicht nach in inferenzielle Zusammenhänge eingebettet sein müssen, um intentionalen Inhalt zu haben.18 Trotz dieser Unterschiede gibt es Übereinstimmungen in einer zentralen Hinsicht. Für Ockham wie für Sellars spielen Wahrnehmungen eine zentrale theoretische Rolle bei der Erklärung der Intentionalität. Wesentlich für die Sellars 1991, S. 188 [EPM § 58]. Sellars 1991, S. 49–50 [BBK §§ 27–30]. Sellars 2002, S. 429–430 [IKTE § 52] räumt aber ein, dass von richtig verstandenen Anschauungen, nämlich von begrifflich verfassten Anschauungen, eine Abstraktion kategorialer Begriffe möglich ist. 16  Vgl. Sellars 1969, S. 516–527 [LTC]. 17  Vgl. Sellars 1991, S. 186–189 [EPM §§ 56–59]. Die synkategorematischen Begriffe sind eine harte Nuss für die Theorie der Abstraktion. Der frühe Ockham schlägt vor, die Abstraktion in diesem Fall von den gesprochenen Termen ausgehen zu lassen; vgl. Sent. I. d. 3 q. 8/OT II, 285. Synkategorematische mentale Terme sollen durch Abstraktion von gesprochenen gewonnen werden. Was immer von diesem Vorschlag zu halten ist, er impliziert, dass der Begriff gewisser mentaler Terme von dem Begriff gesprochener Terme abgeleitet ist. Diese Implikation stimmt mit Sellars überein. 18  Vgl. z. B. Sellars 1991, S. 147–148 [EPM § 19]. 14  Vgl. 15  Vgl.



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Bezugnahme im Sprechen und Denken auf die Welt, von der ein körperliches Wesen ein Teil ist, sind bei Ockham die intuitiven Akte des sinnlichen Erfassens einzelner Dinge und bei Sellars Anschauungen, d. h. demonstrative Wahrnehmungsakte (z. B. ‚dieser gelbe Fleck da‘), die bereits begrifflich verfasst und typischerweise in Wahrnehmungsurteile integriert sind.19 Hier haken, wie Sellars sagt, Repräsentationen in die Welt ein. Damit verbunden ist die grundlegende Bedeutung, die sowohl Ockham als auch Sellars der Kausalität und der Ähnlichkeit für Intentionalität und Wissen zusprechen. Ockham ist hier näher an Sellars, als der meint. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist die Art von Ähnlichkeit, auf die Ockham setzt, um zu erklären, was Begriffen ihren Bezug gibt, reale Ähnlichkeit zwischen Begriffen und Sachen. Das ist genau die Art von Ähnlichkeit, die Sellars postuliert. Sellars, der mentale Akte als neurophysiologische Prozesse auffasst, moniert wiederholt an früheren Philosophen, sie hätten den Umstand vernachlässigt, dass mentale Akte Teil der Natur seien und in faktischen Beziehungen zu anderen Dingen in der Natur stünden.20 Er attestiert das Versäumnis insbesondere den mittelalterlichen Denkern.21 So erklärt er: „It is a most significant fact that the classical conception of thought as ‚inner speech‘ (Mentalese) draws no such clear distinction between the conceptual functions of Mentalese symbols, and the materials which serve as the vehicle of these functions. […] the idea that there must be inner-linguistic vehicles (materials) would seem to be a reasonable one.“ (Sellars 1974, S. 425 [MFC])

Die Idee materieller Träger der mentalen Zeichen ist für Sellars nicht nur wichtig, um Intentionalität naturalistisch verorten zu können, sondern auch dafür, Intentionalität überhaupt zu verstehen. Intentionale Akte könnten ihre charakteristischen Funktionen nicht übernehmen, wenn sie nicht real wären und in kausalen Beziehungen stünden; um real zu sein, müssen sie nach Sellars materiell realisiert sein. Sellars postuliert ferner eine reale Isomorphie der intentionalen Akte mit den Bezugsobjekten. Damit meint er nicht, dass beim Denken an ein Haus ein kleines Hausmodell im Gehirn ist. Vielmehr zielt er auf eine systematische Kovarianz von Eigenschaften, die man so verständlich machen kann: Man denke sich ein beobachtendes Wesen, das durch seine Umgebung navigiert und dabei fortwährend, ob laut oder still, Beobachtungsberichte macht.22 Die Merkmale, in z. B. Sellars 2002, S. 431–441 [SRPC]. Sellars 2002, S. 276/Fn. 7 [KTE § 27] ist es das „basic flaw in the Kantian system“, diesem Umstand nicht gerecht werden zu können. 21  Sellars 1991, S. 50–59 [BBK §§ 31–59] wirbt dafür, den Thomistischen Gedanken einer Isomorphie zwischen Denken und gedachten Dingen durch eine reale Isomorphie zwischen repräsentierenden Systemen und repräsentierten Sachen zu ergänzen. 22  Vgl. Sellars 1991, S. 51–54 [BBK §§ 36–42]. 19  Vgl.

20  Nach

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denen sich die Beobachtungsberichte in ihren materiellen Realisierungen unterscheiden, werden mit den Merkmalen der Umgebung variieren, so dass man, eine avancierte Neurophysiologie vorausgesetzt, an ihnen sollte ablesen können, welche Dinge in der Umgebung sind. So ungleichartig die neurophysiologischen Merkmale und die Eigenschaften von makroskopischen Dingen sein mögen, sie bilden Familien von kovariierenden Eigenschaften. Nun kann man fragen, ob die Diagnose, die Sellars gibt, auf Ockham zutrifft. Einerseits sind mentale Akte für Ockham immateriell. Andererseits unterscheidet er erstens sehr strikt zwischen dem repräsentationalen Inhalt eines mentalen Aktes (er entspricht den begrifflichen Funktionen, von denen Sellars spricht) und den Akten, welche Träger der Inhalte sind. Zweitens gilt für Ockham nicht weniger als für Sellars, dass mentale Akte in kausalen Beziehungen zu extramentalen Dingen und zueinander stehen müssen, um Bezug haben zu können. Drittens nimmt Ockham wie Sellars eine Kovarianz von Eigenschaften der mentalen mit den extramentalen Dingen an – das soll jedenfalls im Folgenden plausibel gemacht werden. Kausalität und Ähnlichkeit sind die beiden Beziehungen, mit denen Ockham erklären möchte, was mentalen Akten und insbesondere Begriffen ihren Bezug gibt. Relevant sind kausale Beziehungen zwischen mentalen Akten und extramentalen Sachen, kausale Beziehungen zwischen mentalen Akten untereinander, reale Ähnlichkeiten zwischen extramentalen Sachen untereinander und Ähnlichkeiten zwischen mentalen Akten und den Sachen. Das ist unstrittig. Notorisch schwierig ist es aber, die Art von Ähnlichkeit zu verstehen, die Ockham den Begriffen im Verhältnis zu den bezeichneten Sachen zuspricht. Ockham steht in einer langen aristotelischen Tradition, die Begriffsbildung als Angleichung versteht. Es gibt gute Belege dafür, dass auch der reife Ockham die Ähnlichkeit als konstitutiv dafür ansieht, dass Begriffe supponieren können. Diese Belege werfen auch Licht darauf, wie die Ähnlichkeit verstanden werden soll. Die einschlägige Art von Ähnlichkeit ist sicher nicht Ähnlichkeit im strikten Sinn. Ähnlichkeit im strengen Sinn ist bei Ockham Übereinstimmung in Qualitäten, „aber wenn man ähnlich oder unähnlich in einem sehr weiten Sinn auffasst, kann irgendetwas gemäß irgendetwas anderem ähnlich oder unähnlich genannt werden“ (Expos. Praedic. 15, 3/OP II, 292). Die fragliche Ähnlichkeit muss Ähnlichkeit in einem weiteren Sinn sein. Ockham rechnet mit ungewöhnlichen Typen von Ähnlichkeit, wie sich in seiner frühen fictum-Theorie zeigt, in der er Begriffe als intentionale Inhalte auffasst, die als solche ein bloß objektives Sein haben, also bloße Objekte des Denkens und nicht real sind. Diese Begriffe sind mentale Bilder und den äußeren Sachen ähnlich, wie Ockham erklärt: „Es ist eine Art Gedachtes (fictum), das ein solches Sein im



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objektiven Sein hat wie die äußere Sache im subjektiven Sein.“ (Sent. I d. 2, q. 8/OT II, 272). Ein Begriff ist danach so etwas wie ein gedachter Bauplan oder Entwurf. Z. B. kann sich ein Baumeister einen solchen Plan durch Betrachtung eines Hauses bilden und ihn dann wieder durch Bautätigkeit realisieren, so dass der Nachbau eine exakte Kopie des Vorbilds wäre. Ockham spricht aber nicht nur dem Nachbau (reale) Ähnlichkeit mit dem Vorbild zu, sondern erkennt auch dem Plan eine Art von Ähnlichkeit zum Vorbild zu – man kann von einer intentionalen Ähnlichkeit sprechen. Indem er an Augustinus anknüpfend den Fall des Baumeisters verallgemeinert, erklärt er die intentionale Ähnlichkeit des Begriffs zur Sache damit, dass der Intellekt, würde sein produktives Vermögen mit dem Denkvermögen Schritt halten, anhand des Begriffs eine weitere Sache produzieren würde, die der Sache realiter ähnlich wäre (vgl. ebd.). Die Erklärung ist instruktiv, auch wenn sie bei generischen und universalen Begriffen wie [Artefakt] und [seiend] an ihre Grenzen stößt, denn wie sähe eine Artefakt-Kopie aus, die nicht die Kopie eines spezifischen Artefaktes wäre, und wie die Kopie eines Seienden, das nicht die Kopie einer bestimmten Art von Seiendem wäre?23 Wie auch immer, man kann festhalten, dass es sich um eine ungewöhnliche Art von Ähnlichkeit handelt. Der nächste wichtige Punkt ist, dass die Ähnlichkeit die Fähigkeit zur Supposition begründet: „Aufgrund der Ähnlichkeit im objektiven Sein kann es für äußere Dinge supponieren, die ein ähnliches Sein außerhalb des Intellekts haben.“ (ebd.). Die Idee ist, dass Begriffe auf verschiedenen Stufen der Allgemeinheit jeweils für alle Dinge supponieren können, denen sie im gleichen Grad ähnlich sind. Z. B. kann der Begriff der Rohrdommel deshalb für Rohrdommeln supponieren, weil er jeder Rohrdommel gleich ähnlich ist und er nichts, was keine Rohrdommel ist, ähnlicher als einer Rohrdommel ist.24 Ockham gibt in späteren Werken die fictum-Theorie zugunsten der sogenannten Akt-Theorie auf, wonach Begriffe Akte des Intellekts sind. Damit werden Begriffe in den Bereich der Kausalität geholt und können als Ursachen und Wirkungen verstanden werden. Trotz dieser Änderung bleibt Ock23  Nach Schierbaum 2014, S. 169–170 besteht intentionale Ähnlichkeit im Sinn von Ockham zwischen Relata, die ein Subjekt für ähnlich hält. Dass ein Begriff einer Sache ähnlich ist, z. B. [Fliege] einer Fliege, wird durch einen Vergleich erläutert, den ein Subjekt anstellen könne, indem es den repräsentationalen Inhalt des Begriffs mit dem Inhalt einer Anschauung (einer Intuition) der Sache vergleiche. – Das mag Ockhams Auffassung von intentionaler Ähnlichkeit treffen, stößt aber an dieselbe Grenze wie Ockhams eigene Erklärung. Denn auch hier müsste man sich den einschlägigen Inhalt von sehr allgemeinen Begriffen wie [Lebewesen] oder [seiend] vergegenwärtigen können – was wenigstens mir nicht gelingen will. 24  Vgl. Adams 1987, S. 109–141 für eine Serie von Vorschlägen, mit Ockham exakt zu definieren, wie Supposition auf Ähnlichkeit beruht.

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ham der Idee treu, semantische Eigenschaften der Begriffe auf Ähnlichkeit zu gründen. Er bezeichnet weiterhin Begriffe als „Ähnlichkeiten“ und erklärt die Fähigkeit zur Supposition weiterhin mit der Ähnlichkeit. Tatsächlich gewinnt er in seinem Physik-Kommentar aus der erforderlichen Ähnlichkeit der Begriffe ein Argument dafür, Begriffe eher mit Akten als mit ficta gleichzusetzen: Weil sich ein fictum weniger einer Sache angleichen könne als ein Akt, sei das fictum weniger geeignet, für die Sache zu supponieren.25 Ähnlichkeit mit den Sachen bleibt also eine theoretische Grundforderung an das, was immer als Begriff fungiert. Damit stellt sich die Frage, wie die Ähnlichkeit des Begriffs zur Sache im Rahmen der Akt-Theorie zu verstehen ist. Man könnte vermuten, dass ein begrifflicher Akt den Sachen, für die er supponieren kann, wenigstens in derselben Weise und in demselben Maß wie sein Inhalt ähnlich sein müsse, weil der begriffliche Akt ja einen bestimmten Inhalt haben und aufgrund des Inhalts intentionale Ähnlichkeit mit den Sachen besitzen müsse. Dann könnte es dabei bleiben, dass Akte den Sachen in der Weise ähnlich sind, in der ein Porträt der porträtierten Person ähnlich sein kann. Aber das ist nicht das, was Ockham sagt. Ockham macht vielmehr, wie gesehen, eine Konkurrenz zwischen den Ähnlichkeiten auf, die Begriffe qua ficta und Begriffe qua Akte zu den Sachen haben können. Eine interessante Stelle findet sich in seinem Kommentar zu Aristoteles De Interpretatione, wo Ockham die Vorzüge und Nachteile der fictum-Theorie und der Akt-Theorie diskutiert, ohne sich auf eine von beiden festzulegen. Auf den später als schlagend bewerteten Einwand gegen die fictum-Theorie, dass ein fictum als Entität des Verstandes von einer beliebigen Sache stärker unterschieden sei als irgendeine Sache von einer anderen und ein fictum deshalb im Vergleich zu einem intellektuellen Akt weniger geeignet sei zu supponieren, antwortet Ockham hier folgendermaßen: „Zu dem anderen Punkt kann gesagt werden, dass ein solches fictum oder Idol sich stärker von jeder äußeren Sache unterscheidet als eine Sache von einer anderen; dennoch gleicht es sich ihr im intentionalen Sein mehr an, insofern es dann, wenn es in Realität produziert werden könnte, wie es erdacht werden kann, in der Realität der äußeren Sache wahrhaft ähnlich wäre. Und aus diesem Grund ist es geeigneter, für die Sache zu supponieren, ihr gemeinsam zu sein und dasjenige zu sein, wodurch die Sache verstanden wird, als ein intellektueller Akt oder irgendeine andere Qualität.“ (Expos. Perih., pr. 10/OP II, 370–371)

Es ist bemerkenswert, dass Ockham die Konkurrenz in diesem Punkt zugunsten des fictum entscheidet. Wenn die Ähnlichkeit, in der das fictum zu einer Sache steht, mit der Ähnlichkeit, die der Akt besitzt, kontrastiert und 25  Vgl. Quaest. in Phys., q. 1/OP VI, 398; vgl. ferner Quodl. IV, q. 35/OT IX, 474; Quodl. I q. 13/OT IX, 74; Quodl. V q. 7/OT IX, 506. Für diese und weitere Stellenangaben vgl. Panaccio 2004, S. 120–122; Perler 2004, S. 370/Fn. 111.



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ihr sogar überlegen ist, muss die intendierte Ähnlichkeit des Aktes von anderer Art sein als intentionale Ähnlichkeit. Ein Akt, der ein Begriff einer Rohrdommel ist, muss als Akt den Rohrdommeln ähnlich sein, d. h. es muss sich um reale Ähnlichkeit handeln. Es ist unter anderem deshalb schwer zu verstehen, was es mit dieser Ähnlichkeit auf sich hat, weil mentale Akte für Ockham nicht Zustände oder Episoden im Gehirn sind, sondern immaterielle Qualitäten immaterieller Intellekte. Insofern ist es verlockend, mit Matthias Kaufmann (2003, 128) anzunehmen, dass die Ähnlichkeit in der späteren Konzeption wie ein Rädchen einer Maschinerie ist, das nach einer Überholung noch mitläuft, aber keine Arbeit mehr verrichtet. Allerdings weist Ockham, wie gesehen, der Ähnlichkeit auch im Rahmen der Intellekt-Theorie eine theoretische Funktion zu. Claude Panaccio (2004, 122–133) schlägt vor, die Ähnlichkeit des Begriffs mit der Sache mit Hilfe eines Vergleichs zu erklären, mit dem schon die Stoiker das Erkennen als Erfassen oder Begreifen erläutert haben. Ein Begriff sei so etwas wie eine Haltung („posture“), die der Intellekt annehme. Wenn man einen Ball oder einen Stift ergreife, nehme die Hand jeweils eine bestimmte Haltung oder Form an, die dem Ergriffenen in gewisser Weise ähnlich sei. Analog nehme der Intellekt im Begreifen jeweils eine bestimmte Haltung an, die demjenigen ähnlich sei, was immer begriffen werde. Das ist suggestiv – allerdings bricht die Analogie rasch zusammen. Eine Haltung ist immer die Haltung von etwas, das aus Teilen besteht, und involviert gewisse räumliche Verhältnisse der Teile zueinander. Da der Intellekt immateriell ist, heißt von einer Haltung des Intellekts zu sprechen, von einer Haltung ohne räumliche Verhältnisse der Teile zu sprechen, und eine Haltung ohne räumliche Verhältnisse von Teilen ist eine Haltung ohne Haltung. Gleichwohl scheint mir der Vorschlag in die richtige Richtung zu weisen. Dominik Perler (2004, 371) plädiert dafür, die Ähnlichkeit als Isomorphie zu verstehen. Im Vergleich zu Panaccios Deutung ist das eine Verallgemeinerung, denn Übereinstimmung in der Haltung ist der Spezialfall einer Isomorphie.26 An diesen Vorschlag möchte ich anknüpfen. Der Begriff der Spur im Sinn von Ockham erweist sich als hilfreich, um die einschlägige Ähnlichkeit von Begriffen zu Dingen zu verstehen. Spuren zählen zusammen mit Bildern zu 26  Zur Stützung der Isomorphie-Deutung führt Perler eine Aussage aus Expos. Perih., pr. 6/OP II, 355–356 an. Hier erklärt Ockham, dass sich ein mentaler Satz aus Akten zusammensetze, z. B. [der Mensch ist ein Lebewesen] aus einem Akt, durch den man alle Menschen erfasse, einem zweiten Akt, durch den man alle Lebewesen erfasse, und einem dritten, welcher der Kopula entspreche. Das belegt die Komplexität des mentalen Satzes nach Ockham, zeigt aber nicht, dass nach Ockham die Begriffe dem Begriffenen isomorph sind, dass also z. B. der Teilakt, durch den die Menschen erfasst werden, den begriffenen Menschen isomorph ist.

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den repräsentierenden Zeichen. Die Erkenntnis repräsentierender Zeichen erlaubt es, das zu erkennen, wovon sie Zeichen sind, aber die Zeichen selbst sind keine Erkenntnisse dessen, wovon sie Zeichen sind.27 Während Bilder von Ockham mit Bezug auf Ähnlichkeit definiert werden, liegt das zentrale Merkmal einer Spur in ihrer Bewirkung: Die Spur eines G wird durch ein G verursacht. Ockham erklärt den weiten Sinn von ‚Spur‘ so: „In diesem Sinn ist eine Spur eine Wirkung, die von einer der Art oder nur der Gattung nach bestimmten Ursache hinterlassen worden ist, an diese erinnert und nach einem allgemeinen Gesetz zum Glauben an einen kontingenten Satz führt, der besagt, dass etwas mit dieser Ursache präsent ist oder war oder dergleichen.“ (I Sent. d. 3 q. 9/OT II, 548; Übersetzung nach Kaufmann 1994, 12)

Spuren sind natürliche Zeichen. Sieht man Rauch, meint man, da sei Feuer; hört man eine Kranke stöhnen, wird einem klar, dass sie Schmerzen hat;28 fühlt man einen Hufabdruck im Boden, schließt man, ein Tier sei vorbeigegangen. Spuren in engeren Sinnen sind Abdrücke, die bleiben, nachdem der Spurauslöser verschwunden ist, also z. B. eine Scheuerspur im Unterschied zu einem Stöhnen. Es ist wichtig, dass Spuren beobachterrelativ sind: Wenn ein F eine Spur ist, dann ist es eine Spur für jemanden. Spurenleser müssen erstens eine Erkenntnis des F haben, zweitens mit dem spezifisch oder generisch bestimmten G vertraut sein, wofür es eine Spur ist, und drittens die anhaltende oder vorangegangene Präsenz eines G assoziieren oder erschließen. Auch wenn Ähnlichkeit nicht das Definiens von Spuren ist, müssen Spuren den auslösenden Dingen ähnlich sein. Man denke sich einen Hufabdruck, den der Fuß eines gemächlich schreitenden Tapir im weichen Boden hinterlassen hat; für Ockham ist das eine Spur im engsten Sinn von ‚Spur‘. Man benötigt wenig Übung im Spurenlesen, um (günstige Bedingungen vorausgesetzt) am Durchmesser und der Form des Abdrucks den Durchmesser und die Form des Hufs zu erkennen. Anspruchsvoller ist es, an der Tiefe des Abdrucks die Masse des Tiers zu erkennen, denn die Tiefe hängt unter anderem auch von der Bodenbeschaffenheit und der Geschwindigkeit der Bewegung ab. Und nur Tapirexperten werden an der Spur ablesen können, dass sie von einem Tapir stammt. Für Spuren gilt, dass Eigenschaften eines Dings im Verursachen der Spur sich in Abhängigkeit von Parametern, die mit den Arten von Dingen und Arten von Spuren (Scheuerspuren, Geruchsfahnen, Biss­ 27  Das gilt für den zweiten Sinn von ‚repräsentieren‘ aus Quodl. IV q. 3/OT, 310–311; dieser Sinn ist in unserem Kontext relevant. 28  Für das Beispiel vgl. SL I 14/OP I, 49. Auch der Ausruf ‚es tut so weh!‘ ist eine Spur des Schmerzes, sofern er nicht gespielt, sondern durch den Schmerz verursacht ist. Ein solcher Ausruf ist ein natürliches Zeichen, wie Ockham in SL I 1/OP I, 9 sagt: „Und so bezeichnet der Laut in natürlicher Weise, wie jede Wirkung wenigstens ihre Ursache bezeichnet.“



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spuren) variieren, in Eigenschaften der Spur übersetzen. Nur deshalb können die Spuren gelesen werden. Die Spuren sind den auslösenden Dingen realiter ähnlich. Teilweise besteht die Ähnlichkeit schlicht in Übereinstimmung von Eigenschaften, denn der Hufabdruck stimmt in seiner Form und seinem Durchmesser mit dem Huf des Tapirs überein. Das muss aber nicht so sein, denn man kann z. B. nicht sagen, dass der Abdruck in seiner Tiefe mit dem Huf oder dem ganzen Tapir übereinstimmt. Das Verhältnis zwischen der Tiefe des Abdrucks und den Eigenschaften des Tapirs ist nicht einfach Übereinstimmung, sondern die einschlägige Eigenschaft, die Masse, drückt sich kausal in einer bestimmten Tiefe des Abdrucks aus. Ähnliches gilt für den Rauch, der eine Spur des Feuers ist. Hier besteht eine kausal vermittelte, systematische Kovariation von Eigenschaften. Je schwerer der Tapir, desto tiefer (ceteris paribus) der Hufabdruck; je heißer das Feuer, desto rußfreier der Rauch. Da sich Eigenschaften der verursachenden Dinge in Eigenschaften der verursachten Spuren übersetzen, kann man von Ähnlichkeit im Sinn einer Kovarianz von Eigenschaften sprechen, auch wenn nicht unbedingt Übereinstimmung von Eigenschaften vorliegt. Ich schlage vor, die Ähnlichkeit, die Begriffe zu den Signifikaten haben, im Sinn einer kausal vermittelten Kovarianz von Eigenschaften zu verstehen. Dabei stammen die Eigenschaften auf der Seite der Begriffe und die auf der Seite der Signifikate (sofern nicht die Begriffe zweite Intentionen und die Signifikate Begriffe erster Intention sind) aus sehr ungleichartigen Familien, weil die Begriffe immer immateriell sind, die Signifikate dagegen nicht.29 Um Missverständnissen vorzubeugen: Begriffe sind keine Spuren im Sinn von Ockham, insofern Spuren repräsentierende Zeichen und als solche keine Erkenntnisse des Bezeichneten sind. Dagegen ist der Begriff von G als solcher eine Erkenntnis von G. Der Begriff [Tapir] ist eine Tapirerkenntnis, die Spur eines Tapirs aber nicht, sondern sie führt jemanden, der Tapire kennt, unter passenden Umständen zur Tapir-Erkenntnis. Spuren müssen erkannt und gelesen werden, die Begriffe im eigenen Geist nicht. Das ändert aber nichts daran, dass Begriffe sich insofern wie Spuren verhalten, als sie nach Ockham Wirkungen sind, deren Eigenschaften durch die Eigenschaften der verursachenden Dinge bestimmt sind. Ferner, so, wie jede Wirkung ein natürliches Zeichen ihrer Ursache ist, kann jede beliebige Wirkung Spur ihrer Ursache sein, sofern es geeignete Spurenleser gibt. Hier ist an die Beobachterrelativität der Spuren zu erinnern. Statt zu sagen, dass Be29  Die Rede von Eigenschaften der Begriffe soll nicht implizieren, dass Ockham Qualitäten der Begriffe annehmen würde. Begriffe sind Qualitäten und haben nicht nochmals Qualitäten. Unterschiede zwischen den Akten beruhen darauf, dass der Geist unterschiedlich verfasst ist, wenn er in dem einen oder anderen Akt ist.

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griffe keine Spuren sind, müsste man genauer etwa sagen: Der Begriff [Tapir] im Geist von Willi ist für Willi keine Spur von Tapiren, sondern eine Tapirerkenntnis. Wenn eine andere Person den Geist von Willi lesen könnte und mit den Dingen vertraut wäre, von denen Willis Begriffe herrühren, dann müsste sie an den Begriffen im Geist von Willi die Dinge erkennen können, für welche die Begriffe stehen und die (in der Abstraktion) letztlich die Begriffe verursacht haben. Für eine Gedankenleserin könnten die Begriffe von Willi Spuren sein, auch wenn die eigenen Begriffe für sie selbst keine Spuren der bezeichneten Dinge wären. Wenn das richtig ist, dann haben Begriffe nach Ockham eine reale Ähnlichkeit zu den Sachen, die nicht in schlichter Übereinstimmung in Eigenschaften besteht, sondern kausal vermittelt ist und in einer Kovarianz von Eigenschaften besteht. Ockhams Erklärung dafür, warum ein Begriff diese und nicht jene Dinge bezeichnet, beruft sich auf Ähnlichkeit in diesem Sinn, grob gesagt: Dinge der einen Art hinterlassen andere reale Eindrücke im Geist als Dinge einer anderen Art. Deshalb bezeichnet der eine Begriff andere Dinge als ein anderer. Nach der vorgelegten Deutung findet Sellars in Ockham einen Vorgänger für seine Annahme einer realen Isomorphie, d. h. Kovarianz von Eigenschaften zwischen Begriffen und Dingen. Ein Unterschied bleibt freilich: Es besteht keine Hoffnung, die von Ockham unterstellte Kovarianz von Eigenschaften empirisch zu erforschen, während Sellars’ Annahme einer wissenschaftlichen Untersuchung zugänglich ist. Literaturverzeichnis Adams, Marilyn McCord: William Ockham, Notre Dame, IN 1987. Kaufmann, Matthias: Begriffe, Sätze, Dinge. Referenz und Wahrheit bei Wilhelm von Ockham, Leiden u. a. 1994. Kaufmann, Matthias: The Discussion on the Nature of the Concept in Ockham’s Perihermeneias-Commentary, in: Henricus A. G. Braakhuis/Corneille H. Kneepkens (Hrsg.), Aristotle’s Peri Hermeneias in the Latin Middle Ages. Essays on the Commentary Tradition, Groningen 2003, S. 119–133. Loux, Michael: Metaphysics. A Contemporary Introduction, London/New York 1998. Marenbon, John: Vocalism, Nominalism, and the Commentaries on the Categories from the Earlier Twelfth Century, in: Vivarium 30 (1992), S. 51–61. Panaccio, Claude: Ockham on Concepts, Aldershot/Burlington 2004. Perler, Dominik: Theorien der Intentionalität im Mittelalter, Frankfurt a. M. 22004. Schierbaum, Sonja: Ockham’s Assumption of Mental Speech. Thinking in a World of Particulars. Leiden/Boston 2014.



Ockham und Sellars über Begriffe325

Sellars, Wilfrid: Abstract Entities, in: Review of Metaphysics 16 (1963), S. 627–671. Sellars, Wilfrid: Language as Thought and as Communication, in: Philosophy and Phenomenological Research 29 (1969), S. 506–527. Sellars, Wilfrid: Meaning as Functional Classification, in: Synthese 27 (1974), S. 417–437. Sellars, Wilfrid: Science, Perception and Reality, Atascadero 21991. Sellars, Wilfrid: Kant’s Transcendental Metaphysics, Atascadero 2002. Wilhelm von Ockham: Opera Philosophica et Theologica (= OP und OT), hrsg. v. Gedeon Gál u. a., St. Bonaventure 1967–1988.

Überlegungen zum Suppositionsbegriff des Petrus Hispanus Von Andrej Krause Die Suppositionstheorie des Petrus Hispanus ist ein Teil der mittelalterlichen terministischen Logik. Diese Logik untersucht Eigenschaften der Termini.1 Eine dieser Eigenschaften ist die Supposition. In seinen Summulae logicales bestimmt Petrus diese Eigenschaft als den Gebrauch eines substantivischen Terminus für etwas: „Suppositio vero est acceptio termini substantivi pro aliquo.“2 Im Folgenden soll diese Bestimmung expliziert und diskutiert werden, wobei insbesondere dasjenige, für das die Termini gebraucht werden, näher beschrieben werden soll.3 Ein Terminus ist, so Petrus, ein sprachlicher Ausdruck, der etwas aufgrund einer Festsetzung bezeichnet.4 Das, was er – unverbunden – bezeichnet, ist eine Substanz oder ein Akzidenz.5 Da jedes Ding universell oder partikulär ist,6 sind auch die bezeichneten Substanzen und Akzidentien universell oder partikulär. Sprachliche Ausdrücke, die weder Universelles noch Partikuläres bezeichnen, sind keine Termini. Zu ihnen gehören die signa universalia, wie z. B. „omnis“ oder „nullus“, und die signa particularia, wie z. B. „aliquis“. Sie können jedoch gemeinsam mit einem Terminus etwas bezeich-

1  Kaufmann 1994, S. 119–125, gibt einen historischen Überblick über diese Logik bis zum frühen 14. Jahrhundert. 2  Der Beitrag beschränkt sich auf die Ausführungen in den Summulae logicales, vor allem auf Abhandlung VI, die speziell die Supposition zum Thema hat. Beim Zitieren werden Abhandlung und Abschnitt der Ausgabe von de Rijk 1972 angegeben. Vgl. jetzt also SL VI 3. Es gibt auch eine deutsche Übersetzung: Petrus Hispanus 2006. 3  Zur Suppositionstheorie bei Petrus Hispanus vgl. etwa Dinneen 1990, S. 69–85, Klima 2003, S. 526–531, Peter of Spain 2014, S. 42–46, 81–83, 241–255 (Kommentar), sowie allgemeiner Parsons 2008, S. 157–280. 4  SL VI 2: „Significatio termini […] est rei per vocem secundum placitum representatio.“ 5  SL VI 1: „Terminorum autem incomplexorum unusquisque aut significat substantiam, aut quantitatem, aut qualitatem, aut ad aliquid, aut facere, aut pati, et sic de aliis.“ Vgl. zum Folgenden SL VI 1–4. 6  SL VI 2: „[…] omnis res aut sit universalis aut particularis […]“.

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nen, sie sind konsignifikativ.7 Wird ein Ding durch einen Terminus bezeichnet, so wird dieses Ding repräsentiert. Dies gilt nach Petrus für jeden bezeichnenden sprachlichen Ausdruck, insbesondere für Sätze.8 Petrus unterscheidet substantivische Termini (substantivische Nomen), z. B. „homo“, und adjektivische, z. B. „albus“. Ein substantivischer Terminus – und nur er – bezeichnet nicht nur, er supponiert auch, er wird also, wie eingangs gesagt, für etwas gebraucht. Jedenfalls ist das, wofür er gebraucht wird, universell oder partikulär, da es nur Universelles und Partikuläres gibt. Wird der Terminus für etwas Partikuläres gebraucht, ist er diskret (terminus discretus), wird er für etwas Universelles gebraucht, ist er allgemein (terminus communis).9 Jeder allgemeine Terminus (z. B. „homo“) ist außerdem geeignet, von mehreren prädiziert zu werden, nicht aber ein diskreter Terminus. Letzterer ist singulär (terminus singularis) – dann ist er geeignet, von einem einzigen prädiziert zu werden, wie bei „Sortes“ („Sokrates“) – oder ein Ausdruck, der aus einem Demonstrativpronomen und einem allgemeinen Terminus besteht, wie bei „iste homo“.10 „iste“ und „homo“ bezeichnen in „iste homo“ nur zusammen etwas, getrennt bezeichnen sie hier nichts, denn der Terminus „iste homo“ ist nicht nur diskret, sondern ein substantivisches Nomen, er soll ja supponieren. Kein Teil irgendeines Nomens aber soll bezeichnen können.11 I. suppositio discreta und suppositio communis Wird ein Terminus für ein partikuläres Ding gebraucht, liegt die suppositio discreta vor, wird er für ein allgemeines Ding gebraucht, liegt die suppositio communis vor. Letztere wird weiter eingeteilt. Deren unterste Arten sind die suppositio naturalis, die suppositio simplex, die suppositio determinata und die suppositio confusa. Petrus legt folgendes Schema zu Grunde, wobei die Unterteilung der suppositio confusa in suppositio confusa necessitate signi und suppositio confusa necessitate rei von ihm als ungültig zurückgewiesen wird:12

7  Vgl.

SL I 5. SL I 3–6. 9  Vgl. SL VI 4. 10  Vgl. SL I 8. 11  SL I 4: „Nomen est vox significativa […] cuius nulla pars significat separata […].“ 12  Vgl. SL VI 4–9, 12. 8  Vgl.



Überlegungen zum Suppositionsbegriff des Petrus Hispanus329 suppositio suppositio discreta

suppositio communis

suppositio naturalis

suppositio accidentalis

suppositio simplex

suppositio personalis

suppositio determinata

suppositio confusa

s. confusa necessitate signi

s. confusa necessitate rei

Zu den partikulären Dingen zählt Petrus die ersten Substanzen, also etwa einen bestimmten Menschen, beispielsweise Sokrates oder Platon, oder auch ein bestimmtes Pferd usw. Jede solche Substanz ist ein Individuum, ein τόδε τι bzw. ein hoc aliquid.13 Die zweiten Substanzen sind dies nicht, sie sind universell. Bei ihnen soll es sich um die Arten der ersten Substanzen und um die Gattungen dieser Arten handeln, also etwa um die Art Mensch und die Gattung Sinnenwesen.14 Wird ein substantivischer Terminus für eine Substanz gebraucht, muss man folglich unterscheiden, ob es sich bei dieser Substanz um eine erste oder um eine zweite Substanz handelt. Im ersten Fall liegt die suppositio discreta, im zweiten Fall die suppositio communis – genauer: ein Einteilungsglied der suppositio communis – vor. Nun sollen Termini nicht nur für Substanzen, sondern auch für Akzidenzien gebraucht werden können. Daher nennt Petrus später für die suppositio accidentalis, die eine Art der suppositio communis ist, unter anderem folgende Sätze als ­Beispiele: „risibile est proprium“, „rationale est differentia“, „album est accidens“.15 Die Termini „risibile“, „rationale“ und „album“ werden hier nicht für Substanzen, sondern für Akzidenzien gebraucht, wobei Petrus individuelle Akzidentien (idem accidens in numero) und allgemeine Akzidentien (idem accidens in specie) unterscheidet.16 Daher umfassen die partikulären Dinge nicht nur erste Substanzen, sondern auch individuelle Akzidentien, und die universellen Dinge nicht nur zweite Substanzen, sondern auch allgemeine Akzidentien. Ein Terminus supponiert gemäß der suppositio discreta 13  Vgl.

SL III 10. SL III 6. 15  Vgl. SL VI 5. 16  Vgl. SL VIII 16. 14  Vgl.

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folglich auch dann, wenn er für ein individuelles Akzidens gebraucht wird, und er supponiert gemäß der suppositio communis auch dann, wenn er für ein allgemeines Akzidens gebraucht wird. Die suppositio discreta wird nicht weiter eingeteilt, während bei der suppositio communis die suppositio naturalis und die suppositio accidentalis unterschieden werden, wobei letztere ihrerseits mehrere Einteilungsglieder hat. Zu diesen gehört die suppositio simplex. Bei der Erörterung dieser suppositio wird die Frage zu erörtern sein, ob die Termini nicht auch für partikuläre abstrakte Dinge, etwa für Mengen oder Klassen gebraucht werden können, etwa der Terminus „homo“ für den partikulären abstrakten Gegenstand der Menge der Menschen. Dann umfasste die suppositio discreta nicht nur einen, sondern zwei Fälle. Im ersten wäre der partikuläre Gegenstand ein raum-zeitliches Ding – eine erste Substanz oder ein individuelles Akzidens –, im zweiten ein abstraktes Einzelding. Dazu später mehr. II. suppositio naturalis und suppositio accidentalis Bei der suppositio naturalis wird ein allgemeiner Terminus insofern für ein universelles Ding gebraucht, als er für alle diejenigen partikulären Dinge gebraucht wird, die an diesem Namen seiner Natur gemäß teilhaben können.17 Hierbei spielt es keine Rolle, ob diese Dinge im Moment des Gebrauchs existieren oder nicht, etwa dann, wenn „homo“ für alle Menschen gebraucht wird, die gewesen sind, die jetzt sind und die sein werden. Das andere Einteilungsglied der suppositio communis, die suppositio accidentalis, soll genau dann vorliegen, wenn der allgemeine Terminus für ein universelles Ding in Abhängigkeit davon gebraucht wird, was das im jeweiligen Satz Beigefügte verlangt.18 So soll der Terminus „homo“ im Satz „homo est“ nicht für alle Menschen gebraucht werden, sondern nur für die gegenwärtigen, während er im Satz „homo fuit“ nur für die gewesenen Menschen gebraucht wird. Bei der suppositio communis gibt es also zwei Varianten des Gebrauchs eines allgemeinen Terminus, je nachdem, ob er in Abhängigkeit davon, was das im jeweiligen Satz Beigefügte verlangt, gebraucht wird oder nicht. Es ließe sich fragen, warum es dann nicht auch für die suppositio discreta zwei entsprechende Varianten geben könnte, gemäß der der jeweilige partikuläre Terminus gebraucht wird. Warum sollte etwa der partikuläre Terminus „Sortes“ nicht zum einen für genau dasjenige partikuläre Ding ge17  SL VI 4: „Suppositio naturalis est acceptio termini communis pro omnibus a quibus aptus natus est participari, ut ‚homo‘ per se sumptus de natura sua supponit pro omnibus hominibus qui fuerunt et qui sunt et qui erunt.“ Vgl. zum Folgenden SL VI 4. 18  SL VI 4: „Accidentalis autem suppositio est acceptio termini communis pro eis pro quibus exigit adiunctum.“



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braucht werden, das an diesem Namen seiner Natur gemäß teilhat, wobei es keine Rolle spielt, ob dieses Ding – Sokrates – im Moment des Gebrauchs des partikulären Terminus existiert oder nicht, zum anderen aber nur in Abhängigkeit davon, was das im jeweiligen Satz Beigefügte verlangt, etwa im Satz „Sortes est“ nur für den gegenwärtig existierenden? Petrus könnte diese Frage womöglich zurückweisen mit der Bermerkung, dass es keine individuellen Naturen gibt. Jedenfalls teilt er weder die suppositio discreta noch die suppositio naturalis weiter ein. Es soll folglich auch nur eine Variante geben, in der ein allgemeiner Terminus für ein universelles Ding nicht in Abhängigkeit davon gebraucht wird, was das im jeweiligen Satz Beigefügte verlangt. Im Gegensatz dazu nennt er für die suppositio accidentalis zwei Fälle, suppositio simplex und suppositio personalis, wobei er die suppositio personalis weiter einteilt. III. suppositio simplex und suppositio personalis Bei der suppositio simplex wird der allgemeine Terminus für ein allgemeines Ding gebraucht,19 und zwar gerade für eine zweite Substanz oder ein allgemeines Akzidens. Ersteres trifft etwa auf den Terminus „homo“ im Satz „homo est species“ bzw. auf den Terminus „animal“ im Satz „animal est genus“ zu, letzteres für die Termini „risibile“, „rationale“ und „album“ in den Sätzen „risibile est proprium“, „rationale est differentia“ und „album est accidens“. Der allgemeine Terminus soll hierbei an verschiedenen Stellen stehen können, (1) an Subjektstelle, wie „homo“ in „homo est species“, (2) an affirmativer Prädikatstelle, wie „animal“ in „omnis homo est animal“, und (3) hinter einem ausschließenden Ausdruck, wie „homo“ in „omne animal preter hominem est irrationale.“ In diesem Zusammenhang verweist Petrus auf mögliche Trugschlüsse. So sei es falsch, aus „omne animal preter hominem est irrationale“ auf „omne animal preter hunc hominem est irra­ tionale“ zu schließen. Im ersten Satz wird „homo“ gemäß der suppositio simplex gebraucht, im zweiten Satz gemäß der suppositio personalis, wobei letztere dann vorliegen soll, wenn ein allgemeiner Terminus für die Glieder eines Allgemeinen gebraucht wird.20 Aus demselben Grund seien dann folgende Schlüsse ungültig: „homo est species; ergo aliquis homo est species“ und „omnis homo est animal; ergo omnis homo est hoc animal“. Im ersten Beispiel wird „homo“ im ersten Satz gemäß der suppositio simplex gebraucht, im zweiten Satz gemäß der suppositio personalis, im zweiten Beispiel gilt 19  SL VI 5: „Simplex suppositio est acceptio termini communis pro re universali significata per ipsum.“ Vgl. zum Folgenden SL VI 5–7. 20  SL VI 7: „Personalis suppositio est acceptio termini communis pro suis inferio­ ribus.“

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entsprechendes für den Terminus „animal“. Petrus ist nun der Auffassung, dass ein allgemeiner Terminus an Prädikatstelle immer gemäß der suppositio simplex verwendet wird.21 Er argumentiert hierfür, indem er einen beliebigen Satz betrachtet, in dem der allgemeine Terminus an Prädikatstelle steht, etwa den Satz „omnium contrariorum eadem est disciplina“.22 Der allgemeine Terminus ist „disciplina“. Dieser wird, so Petrus, allerdings nicht gemäß der suppositio personalis gebraucht, weil es kein partikuläres Ding – keine einzelne Wissenschaft – gibt, das bzw. die zur Wissenschaft im Allgemeinen gehört und jeglichen konträren Gegensatz behandelte. Vielmehr haben die einzelnen Wissenschaften jeweils verschiedene konträre Gegensätze zum Gegenstand, so die Medizin den Gegensatz „Gesunder – Kranker“ und die Grammatik den Gegensatz „Passendes – Unpassendes“.23 Wenn aber der Terminus „disciplina“ im oberen Satz nicht gemäß der suppositio personalis gebraucht wird, muss er gemäß der suppositio simplex gebraucht werden, da, so müsste man Petrus noch ergänzen, die anderen beiden jeweils „letzten“ Arten der oben skizzierten Einteilung – suppositio discreta und suppositio naturalis – nicht vorliegen können, weil der Terminus „disciplina“ in „omnium contrariorum eadem est disciplina“ weder diskret (sondern vielmehr allgemein) ist, noch ohne Beifügung gebraucht wird. An dieser Stelle nun einige Worte zu dem bereits aufgeworfenen Problem, ob denn, wenn der Terminus „homo“ in „homo est species“ gebraucht wird, er nicht nur für ein universelles Ding gebraucht werden könnte, und zwar für die zweite Substanz Mensch, für den Menschen im allgemeinen (pro homine in communi), sondern auch für einen abstrakten Gegenstand, etwa für die Menge der Menschen. In der modernen Sprachphilosophie werden konkrete generelle und abstrakte singuläre Termini unterschieden.24 Gemäß dieser Terminologie ist der Terminus „homo“, wenn er in „homo est species“ gemäß der suppositio simplex gebraucht wird, ein konkreter genereller Terminus, er kann auf mehrere, konkrete Dinge angewendet werden. Würde er für ein abstraktes Ding gebraucht, wäre er ein abstrakter singulärer Terminus. Nun nimmt Petrus bekanntlich allgemeine Gegenstände an, eben die zweiten Substanzen oder die allgemeinen Akzidenzien, es findet sich bei ihm aber keine ausdrückliche Formulierung der Annahme auch abstrakter Gegenstände. Weder verwendet er explizit einen Abstraktionsbegriff noch spricht er etwa von der Idee des Menschen. Außerdem bestreitet er, wie gesagt, dass die zweiten 21  Parsons 2008, S. 188, betont, dass diese Ansicht grundsätzlich von den frühen Autoren auf dem Gebiet der Supposition vertreten wurde. 22  Vgl. SL VI 6. 23  Bei den genannten Gegensätzen gibt es nichts Mittleres, obwohl sie konträre Gegensätze sein sollen. Petrus hält das für möglich. Vgl. SL V 29. 24  Vgl. Stegmüller 1956.



Überlegungen zum Suppositionsbegriff des Petrus Hispanus333

Substanzen ein hoc aliquid wären. Allgemeine Akzidenzien sind dies noch viel weniger. Wäre „homo“ in „homo est species“ ein diskreter Terminus im Sinne der Summulae logicales, so würde er gemäß der suppositio discreta gebraucht, so dass es dann zwei Fälle der suppositio discreta gäbe. Im ersten Fall wäre das partikuläre Ding konkret, im zweiten abstrakt. Eine derartige Situation könnte man womöglich mit Hilfe des von Paul Lorenzen formulierten Abstraktionsbegriffes bereinigen.25 Lorenzen zufolge findet eine Abstraktion gerade durch eine Beschränkung auf sogenannte invariante Aussageformen statt. Eine Aussageform A(…) ist hierbei genau dann invariant bezüglich einer gegebenen Äquivalenzrelation R, wenn für alle x, y aus xRy folgt, dass A(x) genau dann gilt, wenn A(y) gilt. Bei einer Abstraktion beschränkt man sich auf diejenigen Aussagen, deren Gültigkeit sich nicht ändert, wenn man die relevante Konstante durch eine zu ihr bezüglich R äquivalente Konstante ersetzt. Dadurch werden scheinbar neue – abstrakte – Dinge erschaffen. Wenn sich das für das Verhältnis der beiden unterstellten Varianten der suppositio discreta entsprechend formulieren ließe, so müsste sich die zweite insofern als überflüssig erweisen, als das, was sie leisten soll, durch gewisse Beschränkungen bei der Anwendung der ersten Variante erreicht werden könnte. Dies könnte geschehen, indem man bei dieser Anwendung nur solche Sätze zulässt, die bezüglich einer dann noch anzugebenden Äquivalenzrelation invariant sind, also nur solche Aussagen, deren Gültigkeit sich bei der Ersetzung eines partikulären Terminus, der für ein gewisses partikuläres Ding gebraucht wird – etwa „Sokrates“ –, durch einen partikulären Terminus, der für ein anderes partikuläres Ding gebraucht wird – etwa „Platon“ – nicht ändert. Beschränkt man sich auf solche Aus­sagen – also auf solche Fälle der „üblichen“ suppositio discreta –, dann sieht es nur so aus, als ob man über neue Dinge, in diesem Fall über den abstrakten Gegenstand der Menge der Menschen spricht, obwohl man in Wirklichkeit nur in neuer Weise über die einzelnen Menschen spricht. Verbietet man beispielsweise einen Satz wie „Sokrates ist sterblich“, wenn damit etwas anderes gesagt wird als mit dem Satz „Platon ist sterblich“, so scheint man gerade etwas über die Menge der Menschen auszusagen. Auf diese Weise ließe sich die zweite ­(unterstellte) Variante der suppositio discreta auf die erste reduzieren. IV. suppositio determinata und suppositio confusa Die Einteilungsglieder der suppositio personalis und somit die letzten Einteilungsglieder der Supposition überhaupt sind die suppositio determinata und die suppositio confusa. Es sei daran erinnert, dass bei der suppositio personalis ein allgemeiner Terminus für die partikulären Dinge, die zu einem 25  Vgl.

Lorenzen 1987, S. 161–169.

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Allgemeinen gehören, gebraucht wird. Das gilt dann also gerade für die suppositio determinata und die suppositio confusa. Bei der suppositio determinata wird der allgemeine Terminus indefinit oder mit einem Partikulärzeichen gebraucht.26 Ersteres ist beispielsweise bei dem Terminus „homo“ im Satz „homo currit“ der Fall, letzteres im Satz „aliquis homo currit“, wo „homo“ verbunden mit dem Partikulärzeichen „aliquis“ gebraucht wird. Beim Vorliegen der suppositio determinata scheint der allgemeine Terminus also für ein beliebiges partikuläres Ding oder mehrere partikuläre Dinge, die jeweils einem universellen Ding untergeordnet sind, gebraucht zu werden, jedoch nicht für alle. Letzteres soll erst durch die suppositio confusa erfolgen. Bei ihr wird ein allgemeiner Terminus mit einem Universalzeichen gebraucht,27 wie etwa im Satz „omnis homo est animal“. In diesem Satz wird „homo“ mit dem Partikularzeichen „aliquis“ gebraucht. Petrus stellt zu Recht fest, dass die sogenannten Universalzeichen, zu denen „omnis“ und „nullus“ gehören, ausschließlich mit allgemeinen Termini verbunden werden können, eine Verbindung mit singulären Termini wäre „ungrammatisch“.28 Wird ein allgemeiner Terminus mit einem Universalzeichen verbunden, so wird er distribuiert, das Zeichen selbst ist dann distributiv. Einige der Universalzeichen sind distributiv bezüglich der Substanz, wie etwa „omnis“ und „nullus“, andere bezüglich der Akzidentien, wie „qualiscumque“ und „quantuscumque“. Universalzeichen, die distributiv bezüglich der Substanz sind, sind distributiv bezüglich der Teile eines Ganzen (distributiva partium integralium), wie bei „totus“, oder bezüglich der untergeordneten Dinge eines Übergeordneten (distributiva partium subiectivarum), wie bei „omnis“ und „nullus“. Dass z. B. „totus“ distributiv bezüglich der Teile ist, soll besagen, dass aus dem Satz „totus Sortes est albus“ („Der ganze Sokrates ist weiß“) folgt, dass jeder beliebige Teil des Sokrates weiß ist, „quelibet pars Sortis est alba“.29 Dieser Schluss ist natürlich insofern problematisch, als es Teile des Sokrates gibt, die sicher nicht weiß sind, etwa sein Herz. Jedes Ganze hat Eigenschaften, die zwar dem Ganzen, nicht aber jedem Teil dieses Ganzen zukommen, und die Eigenschaft eines Menschen, weiß zu sein, ist ganz offensichtlich eine solche Eigenschaft. Jedes Ganze hat sogar immer auch Eigenschaften, die keinem einzigen seiner Teile zukommen, etwa die Eigenschaft, aus genau diesen Teilen zusammengesetzt zu sein. Petrus selbst gibt das zu.30 Daher scheint er, wenn er behauptet, dass, wenn Sokrates weiß ist, auch jeder 26  SL VI 8: „Determinata suppositio dicitur quam habet terminus communis indefinite sumptus vel cum signo particulari […]“ Vgl. zum Folgenden SL VI 8–9. 27  SL VI 9: „Confusa suppositio est acceptio termini communis pro pluribis mediante signo universali.“ 28  Vgl. zum Folgenden SL XII 1 ff. 29  Vgl. SL XII 27. 30  Vgl. SL XII 29.



Überlegungen zum Suppositionsbegriff des Petrus Hispanus335

Teil von ihm weiß ist, vorauszusetzen, dass nicht jeder räumliche Teil des Sokrates ein „echter“ Bestandteil des Sokrates ist. Etwas ist nur dann ein Bestandteil des Ganzen, wenn es unter der Form des Ganzen („sub forma totius“) ist, so dass das Herz des Sokrates eben deswegen nicht weiß ist, weil es nicht unter der Form des ganzen Sokrates fällt. Jedes Ganze soll dennoch aus Teilen zusammengesetzt sein, die eine Quantität haben.31 Diese Teile können jeweils eine gemeinsame Grenze haben und insofern ein „Kontinuum“ bilden, sie müssen eine derartige Grenze aber nicht haben, sie sind dann insofern diskret.32 Zumindest für die „kontinuierlichen“ Ganzen (für Petrus sind dies Linie, Fläche, Körper, Zeit und Ort) gilt nun gewiss, dass jeder Teil eines Teiles des Ganzen seinerseits Teil des Ganzen ist. Diese Teilrelation ist somit transitiv und sicher auch reflexiv sowie antisymmetrisch. Sie erfüllt daher wichtige mereologische Bedingungen. Im Gegensatz zu „totus“, das distributiv bezüglich der Teile eines Ganzen sein soll, sollen die Zeichen „omnis“ und „nullus“ distributiv bezüglich der untergeordneten Dinge eines Übergeordneten sein. Durch „omnis“ in „omnis homo“ soll bewirkt werden, dass der allgemeine Terminus „homo“ für jeden Menschen gebraucht wird, nicht für den ganzen.33 Modern gesprochen, liegt ein Unterschied zwischen einem Satz mit „totus“, wie in „totus Sortes est albus“, und einem mit „omnis“, wie in „omnis homo est animal“, darin, dass im zweiten Satz, anders als im ersten, eine Teilmengenbeziehung ausgedrückt wird, da dort jedenfalls gesagt wird, dass jedes Element der Menge der Menschen ein Element der Menge der Sinnenwesen ist, so dass die Menge der Menschen eine Teilmenge der Menge der Sinnenwesen ist. Es wurde aber bereits deutlich, dass man Petrus die Annahme von Mengen nicht ohne weiteres unterstellen darf. Fassen wir zusammen: Ein Terminus supponiert gemäß der suppositio discreta genau dann, wenn er für ein partikuläres Ding (für eine erste Substanz oder für ein individuelles Akzidens) gebraucht wird. Der gebrauchte Terminus ist dann ein partikulärer Terminus. Ein Terminus supponiert gemäß der suppositio communis genau dann, wenn er für ein universelles Ding gebraucht wird. Der gebrauchte Terminus ist dann ein allgemeiner Terminus, wobei es zunächst zwei Möglichkeiten gibt: Er supponiert (a) gemäß der suppositio naturalis, also unabhängig von anderen Redeteilen, oder (b) gemäß der suppositio accidentalis, also abhängig von anderen Redeteilen, wobei es hier wiederum zwei Möglichkeiten gibt: Supponiert er gemäß der suppositio simplex, so wird er unmittelbar für ein allgemeines Ding – für eine zweite Substanz oder ein allgemeines Akzidenz – gebraucht, supponiert 31  Vgl.

SL V 14. SL III 14. 33  Vgl. SL XII 5. 32  Vgl.

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er gemäß der suppositio personalis, wird er für die partikulären Dinge, die zu einem Allgemeinen gehören, gebraucht, wobei dies gemäß der suppositio determinata oder gemäß der suppositio confusa geschehen kann. Bei der suppositio determinata wird der Terminus für ein Ding oder mehrere, nicht jedoch für alle partikulären Dinge des Allgemeinen gebraucht, bei der suppositio confusa für alle partikulären Dinge dieses Allgemeinen. Abschließend sei noch erwähnt, dass Petrus die kategorischen Sätze in universelle, partikuläre, indefinite und singuläre Sätze einteilt, je nachdem was für ein Terminus an Subjektstelle steht.34 Wird ein allgemeiner Terminus mit einem Universalzeichen (z. B. „omnis“) verwendet, handelt es sich um einen universellen Satz, wird er mit einem Partikulärzeichen (z. B. „aliquis“) verwendet, um einen partikulären Satz, und wird er ohne weiteres Zeichen verwendet, um einen indefiniten Satz. Bei einem singulären Satz wird ein singulärer Terminus oder ein allgemeiner Terminus mit einem Demonstrativpronomen verwendet. Beschränkt man sich auf Termini an Subjektstelle, so hat man es bei der suppositio confusa also mit einem universellen, bei der suppositio determinata mit einem partikulären oder indefiniten und bei der suppositio discreta mit einem singulären Satz zu tun. Die suppositio naturalis wird von der genannten Einteilung der kategorischen Sätze nicht erfasst, da bei dieser Supposition mögliche Beifügungen irrelevant sind. Wie sieht es aber mit der suppositio simplex aus? Betrachten wir den Satz „homo est species“, in dem der Terminus „homo“ gemäß der suppositio simplex gebraucht wird, und zwar weder mit einem Universal- noch mit einem Partikulärzeichen. Dann dürfte „homo est species“ weder ein universeller noch ein partikulärer Satz sein. Dieser Satz ist freilich auch nicht indefinit. Folglich müsste er, da die genannte Einteilung der kategorischen Sätze vollständig sein soll, ein singulärer Satz sein, so dass der Terminus „homo“ nicht allgemein, sondern partikulär wäre, was dem Kriterium für das Vorliegen einer suppositio simplex widerspricht, die ja eine Art der suppositio communis sein soll. Diese Inkonsistenz scheint sich nicht auflösen zu lassen, es sei denn, man sagt, dass „homo“ in „homo est species“ zwar als allgemeiner Terminus supponiert, aber als singulärer Terminus subjiziert. Dann jedoch wäre „homo“ womöglich doch nicht nur konkret allgemein, sondern abstrakt singulär. Literaturverzeichnis Dinneen, Francis P: Suppositio in Petrus Hispanus. Linguistic Therories and Models, in: Geoffrey L. Bursill-Hall/Sten Ebbesen/E. F. K. Koerner (Hrsg.), De Ortu Grammaticae: Studies in Medieval Grammar and Lingustic Theory in Memory of Jan Pinburg, Amsterdam/Philadelphia 1990. 34  Vgl.

SL I 8.



Überlegungen zum Suppositionsbegriff des Petrus Hispanus337

Kaufmann, Matthias: Begriffe, Sätze, Dinge. Referenz und Wahrheit bei Wilhelm von Ockham, Leiden/New York/Köln 1994. Klima, Gyula: Peter of Spain, in: Jorge Gracia (Hrsg.), A Companion to Philosophy in the Middle Ages, Malden, Mass. 2003. Lorenzen, Paul: Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie, Mannheim/Wien/ Zürich 1987. Parsons, Terence: The Development of Supposition Therory in the Later 12th through 14th Centuries, in: Dov M. Gabbay/John Woods (Hrsg.), Handbook of the History of Logic. Vol. 2. Mediaeval and Renaissance Logic, Amsterdam 2008, S. 157–280. Peter of Spain: Tractatus called afterwards Summule logicales, hrsg. v. L. M. De Rijk, Assen 1972. Peter of Spain: Summaries of Logic, hrsg. v. Brian P. Copenhaver/Calvin Normore/ Terence Parsons, Oxford 2014. Petrus Hispanus: Logische Abhandlungen, hrsg. v. Wolfgang Degen und Bernhard Pabst, München 2006. Stegmüller, Wolfgang: Das Universalienproblem einst und jetzt, in: Archiv für Philosophie 5 (1956), S. 192–223, und 7 (1956), S. 45–81.

Cartesianism, Philological Criticism and Philosophy of Language: Jean Le Clerc By Fabrizio Lomonaco I. Cartesianism and Historical Criticism With his Oratio de fide historiarum contra pyrrhonismum historicum (1702), Jakob Voorbroek, better known as Perizonius, expressed concerns and motives that were widespread throughout the Republic of Letters at the end of the 17th century. Some years before, amid the polemical climate following the publica­tion of Marten Schoock’s small-scale work De figmento legis regiae Epistola dated 1661, Ulrik Huber had exposed Pyrrhonism first in his Disputationes iuris fundamentales and then in the Digressiones Justinianeae (1670, 1688, 1696) as a dangerous obstacle from the critico-philological and historico-political viewpoint for understanding the Corpus Iuris and the modern ius civitatis. This was a well-worn path in the years just before Johann Friedrich Gronow and Gerard Noodt, who in dealing with the Roman lex regia, albeit in highly personal forms and overtones, had reproposed and examined with thorough critical rigour the theme of auctoritas and the obligatio ex consensu in the light of contemporary political and religious debate, not without becoming fully aware of the dangerous developments of the radically sceptical interpretations of Roman historiography.1 Although in a completely different cultural setting, Jean Le Clerc, too, looked for responses to the vexed questions regarding the value of tradition and its moral content. It is precisely from this viewpoint that some motives may be reconstructed that mark his philosophical development, including the gradual refinement of his critico-philological method, which was meant to offer a new interpretation of the Old and New Testament tradition, in the years of the repeal of the Edict of Nantes, on the basis of the reconsidered relationships between philosophy and theology, metaphysics and religion in the important polemical writings of 1685 (Entrétiens sur diverses matières de théologie composed with the collaboration of Le Cène, especially in the

1  Perizonius 1702 (1992). Cf. Lomonaco 1990, Chapt. 1, 2. For the updated literature on the subject, please see Lomonaco 2011, Chapt. 3, 4.

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Sentiments de quelques théologiens de Hollande sur l’Hi­stoire Critique du Vieux Testament, composée par le père Simon de l’Oratoire). Having fled Geneva on account of the severe impositions exercised by the triumphant Calvinism,2 the five years he spent travelling (1678–1683) through France, England and Germany represents a delicate and decisive moment in Le Clerc’s cultural development. First a tutor in Grenoble, he later went to Saumur, whose Academy, a centre for the diffusion of Irenistic conceptions and tolerant in the religious ambit, demonstrated through its activity the close relationship and the reciprocal influence which was established in the 17th century between Arminianism and French culture, in contrast with the rigid orthodoxy defended by the Academy of Sedan. The interpretation of the Arminian writings, and the scholastic (theological and philosophical) disputes, would have convinced the young Genevan scholar of the erroneous use of metaphysics in approaching theological questions.3 In developing this rejection of metaphysics (a rejection that he regularly encountered in his correspondence with John Locke), Le Clerc did not fail to revise his orginal critical confrontation with Cartesianism – the methodological claims of which he was prepared to accept, yet rejecting its metaphysical premises and conclusions on philosophical and theological grounds. However, the Ar­ minian theologian Etienne de Courcelles, who in 1650 published a Latin edition of the Discours sur la Méthode in Amsterdam,4 helped promote his conversion to the remonstrating doctrine. Yet he had accustomed to this confrontation by the memory of his old master Jean-Robert Chouet in Geneva, whose missives were filled not only with affectionate sympathy but also criticism regarding the anticartesian developments of his pupil’s thought – effectively revising the ancient teachings at a much later time and place.5 From his point of view, the learned Dutch thinker fled from the opposite position; however, he risked committing the same basic dogmatic acceptance of all testimonies and the radical Pyrrhonistic rejection of their reliability, theorising the need to reintroduce the significance of critico-philological research as an indispensable instrument for arriving at a valid form of certainty within the field of chance human events. Hence the search for new rules (the criterion of probability, the use of common sense and reason) and empirical instruments also to ascertain the eventual factual evidence, the outcome of 2  Leti

1686. Clerc to Papin, Amsterdam, 18 December 1684. In Le Clerc 1987, p. 276. Cf. Simonutti 1982, pp. 269–358, cf. Sina 1987, pp. VII–XXVII and Lomonaco 1990 (b). 4  Des Cartes 1650. 5  See Sina 1984, pp. 3–14, Sina 2008 and Lomonaco 1990, p. 157–168. On Le Clerc, Limborch and Locke about „New Theological Strategies“ and „the Collapse of Cartesianism“, see Israel 1995, p. 464 and p. 477. Cf. also Simonutti 1984. 3  Le



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long and tiring investigations aimed at overcoming the bias of modern historians, conditioned by their prejudices, being prisoners of radical ignorance. Yet, all this – in Le Clerc as in Bayle – did not mean that the exercise of criticism and historico-philological work proved outside the contemporary philosophical debate. A theoretical contribution to Leclerchian discourse was offered by Cartesianism – albeit weak – form of Cartesianism essentially reduced to furnishing methodological indications to be used in historical research, with a view to arriving even at factual, and not necessarily at just mathematical, evidence. Precisely the search for a happy medium between absolute scepticism and dogmatico-traditional apologetics might lead to an original attempt at an opening to the historical world, the understanding of which only apparently seemed to be precluded from Cartesian philosophy.6 The moderate criticism of Perizonius’ philological analyses, claimed against Le Clerc’s ‘philosophical’ criticism, albeit within a similar cultural context, the rights of the erudite professional philologist to reconstruct the normative value of ancient tradition, far removed from the absolute certainty. In the closing section of the third act of the Ars Critica (1697) about „De iudicio de stylo et charactere scriptoris ferendo“, the author had offered a detailed historico-philological analysis of Quinto Curtius Rufus’ work. He defended the instruments and rules of criticism indicating a more rigorous way towards historical knowledge, susceptible of arriving at results to some extent certain, albeit limited.7 And it was this analysis that attracted ruthless attacks from the Leyden philologist who, considering analysis a sort of philo­sophical interference by incompetent critics, claimed the solution to the complex critical problems associated with the theme under examination for the exclusive competence of philologists. Alongside the masters of historic Pyrrhonism, including La Mothe le Vayer and Bayle, Le Clerc’s theses seemed to provide arguments for Pyrrhonist and Libertine radicalism. They contributed to the annihilation of the fides historica as well as the respect due to antiquity in deference to a perverse ratio philosophandi which, ­passing beyond its limits, had claimed apodyptic demonstrations where only the authority of the testimonies could be found.8 Le Clerc’s response, ­inspired by his intention to give a positive reply to the same questions as Perizonius had posed, did not avoid the querelle’s main themes, which were of a historico-critical character. The pages of the 1704 „Bibliothèque ­Choisie“ relaunched the contrast, and by revealing the significance of his 6  On Cartesianism, scepticism and history – after Hazard and Laporte, Momigliano and Sestan – cf. Watson 1966, Lissa 1973, espec. Chapt. 1, pp. 9–108, Popkin (1979) 2008, Ricuperati 1982, pp. 275–386 and Borghero 1983. 7  Le Clerc 1697–1700, III, sectio III, pp. 419–552: „De Judicio de Stylo et Charactere Scriptoris ferendo“. See Lomonaco 1990, Chapt. 3. 8  Perizonius 1703. Cf. Lomonaco 1997, pp. 103–111.

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critical interventions in detail, defended their merit from his adversary’s reser­ vations of rendering the implications clear at the historico-historiographical level of reflection. Perizonius was able to attack some of the examples put forward, yet agreeing indirectly on the basic terms of the question: Toute la dispute consiste en quelques exemples particuliers, où il pretend que je me suis trompé. Mais quand je me serois trompé dans ces exemples, ce que je ne croi pas, nous sommes d’accord dans le fonds de la chose; et je [pourrais] toûjours [conclure] que Quinte-Curse n’a sû ce que c’étoit qu’Astronomie, que Géographie et que Chronologie; et que par consequent Il a été destitué des secours nécessaires, pour bien écrire l’Histoire d’Alexandre […]. Enfin j’ai soûtenu qu’il avoit exprimé les choses d’une manière, qui, sentoit plûtôt son Déclamateur que son Historien.9

However, the Genevan’s interest in the Dutch philologist’s review was not occasional, being dictated by external editing requirements, by mere exigencies of erudite divulgation, since the analysis of the work in question was coherent with his research and study programme on Antiquity in the light of a new, rigorous critical method. Through Le Clerc’s efforts, this method was continually refined, especially through the interpretation of the sacred texts, not to mention his influential contact with John Locke, who had been introduced to him by Van Limborch. Locke – who in Tome VIII of the „Bibliothèque universelle et historique“ (1688) had published the Extract (translated by Le Clerc himself) of An Essay concerning Human Understanding – would have obtained the integrated edition only after the author’s return to his ­fatherland. In a letter dated July 1688, reasoning on the rules and restrictions of real ‘criticism’, Le Clerc declared explictly the dependence of the s­ tudies – that appeared in Tome X (1688) of the same „Bibliothèque“ – on the Règles de Critique. Pour l’intelligence des Anciens Auteurs from the „philosophy of language“ contained in the 3rd Book of Locke’s Essay: Je me persuade que pour être bon critique, il faut avoir considéré les langues d’une manière bien plus philosophique que lui ne [sauraît] faire […]. Vôtre troisième Livre m’a beaucoup confirmé en diverses pensées que j’avais eues touchant la manière d’expliquer les écrits des Anciens, et m’a ouvert l’esprit pour faire attention […] des choses où je n’avais pas assez pensé. Vous verrez dans le X Tome de la Bibliothèque, que je dois composer moi seul, si j’ai profit, de vos idées, car il se trouve qu’il y a des livres qui me donnent occasion de m’étendre sur cette matière, ce que je fais volontiers, parce que je vois qu’elle est presque inconnue.10

In the subsequent missive of 14 October 1688, sending the above-­ mentioned tome to the English philosopher, he confirmed such a relationship of dependence and defined its meaning from the methodological viewpoint: 9  „Bibliothèque choisie“, 1704, III, p. 180. Regarding this theme, see Barnes 1938, pp. 148, 152. 10  Le Clerc to Locke, Amsterdam, 23 July 1688. In Le Clerc 1987, p. 494.



Jean Le Clerc343 […] Vous avez examiné les principes les plus abstraits de la science que j’entreprends de traiter. Je suis obligé de supposer tout ce que vous avez dit dans vôtre troisième livre comme démontré; parce que mon dessein n’est pas tant de donner les principes Métaphysiques de la Critique, que de réduire ces principes en pratique. C’est ce que j’ai tâché de faire dans le petit Discours que vous verrez dans ce volume. Voilà mon dessein …].11

On the basis of this project – an authentic synthesis of the significance of Le Clerc’s method – the author of the Ars Critica compared himself with the results reached by the most inured of historians and philologists on the study of Antiquity. It was a lucid and concise comparison which took shape not only among the works written in Latin, full of notes, annotations and quotations, but also in a series of observations. These were published in French, in the tomes of the „Bibliothèques“ with a style that had the merit of a discursiveness capable of resolving, in simple and, at the same time, comprehensive terms, the theoretical, critical and at times extre­mely complicated thorny issues of the questions faced. Precisely in the pages dedicated to exami­ning the Règles de Critique. Pour l’intelligence des Anciens Auteurs erudition and philology, on the one side, biblical exegesis, remonstrating ­rationalism and Lockian empiricism on the other, were brought together to provide a most unsatisfactory critical picture of traditional approaches. Le Clerc’s criticism, albeit incisive and radical, is not meant to be destructive. In demolishing the arbitrary historical reconstructions, he tends, on the one side, to elaborate a method of research founded on reliable principles and, on the other, to liberate historical investigation from all dogmatic and prejudicial constraints that impede a correct interpretation of the facts. The radically Pyrrhronistic developments on which the subtle conceptual analyses of certain Cartesian premises were based ended by frustrating the scholar’s attempts to provide a basis of certainty to historical knowledge, at the same time, ascribing to it a less abstract, more empirical method, founded on the instruments of criticism and capable of achieving results to some extent certain, albeit limited. Abandoning traditional schemes of knowledge never means for Le Clerc denying the very possibility of knowing, but rather it means opening up the way to a correct interpretation of the facts, the outcome of a positive, progressive process of approximation to the authentic reality of language, far from the prejudice that distorts and transfigures the datum of fact. Le Clerc’s criticism is a historico-philological criticism, and the principles which it adopts are hidden within linguistic research, in direct contact with the realistic history of the words to be analysed and interpreted:  Les idées, qui sont attachées aux mots et aux phrases, changent si fort selon les occasions où les emploie, et les manières de parler auxquelles on les joint, qu’il n’y a point de dictionnaire qui puisse marquer toutes ces significations et tous les 11  Le

Clerc to Locke, Amsterdam, 14 October 1688. In Le Clerc 1987, p. 500.

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[changements] qui y arrivent [… ]“. At the same time,  „[… ] chaque Auteur a des manières de parler, qui ne sont pas simpIement fondées sur les maximes générales de la Langue dont il se sert, mais sur ses opinions, sur ses coûtumes, et qui coulent, pour ainsi dire, de sa manière d’étudier, et d’un certain génie qui le distingue de tous les autres.12

It is thus advisable to make a careful distinction between the facts con­ sidered in themselves and the manner in which they are recounted, comparing several historians to see what they agree on and then assuming this what to be the truth of history. Once the facts have been ascertained, other particular aspects may be judged without running the risk of straying too far from the truth. Through the incontestable facts and the general knowledge of the ‘interests’ and ‘intentions’ of the different forces examined, at the very least the general motives that make them act can be recognised. A historian is not obliged, in fact, to recount everything or to affirm only that which he is perfectly sure of; he is only required not to recount anything false as though it were true, and not to assert with assurance what is uncertain.13 The exaltation of the critique is translated into implementing a complex of ­positive procedures aiming at a reliable historical reconstruction, appositely rooted in the language which, inasmuch as a privileged way of access to the historical world, exalts the respect for the truth of the fact to be ascertained with a rigorously analytical discipline far removed from all empty, authoritarian superstitions. With this particular theoretical and methodological project being thus justi­fied, Le Clerc’s interest in the themes examined controversially with Perizonius, likewise showing that it went well beyond the boundaries of the personal clash, was destined, amid responses and counter-responses to occupy the protagonists for more than five years. The fact that this was not simply a matter of a mere personal academic dispute is well documented by contemporary reviews. In its 19 January 1705 issue, the „Journal des Savants“ published a laudatory extract of Penizonius’ Curtius restitutus et vindicatus, openly taking up a position against Le Clerc’s principles of revision and interpretation of antiquity, against which the Dutch philologist’s analysis aimed at keeping the value of tradition unaltered was opposed. Aware of the implications of a historico-philosophical order relating to the problem of the revision of ancient historiography, the reviewer exposed serious doubt about its pedagogical value from the pages of the Ars Critica, observing conclusively that: 12  Le

Clerc 1688, p. 327, 346. Clerc 1688, pp. 354–356. Cf. Locke (1690) 1975 [reprint in 1988], Book III, Chapt. 10 and 11, p. 505, 506, 509, 514, 522. See Cantelli 1971, Chapt. 2, pp. 31–54; Cantelli 1972 and Sina 1978, pp. 19–33, 49–67. 13  Le



Jean Le Clerc345 Au reste, M. Perizonius n’est pas de ceux qui croyent que la Critique est un art dangereux; au contraire il prétend qu’il n’ y a rien de plus utile dans la République des Lettres, qu’une judicieuse et exacte Critique; mais il veut qu’elle soit faite avec discennement, et par d’habiles gens. Il convient que M. Le Clerc a beaucoup d’habileté, mais il ne [sauraît], dit-il, souffrir sa vanité, et l’orgueil qu’il fait [paraître] dans les [jugements] qu’il porte sur les écrits des meilleurs Auteurs, sans épargner même les Pères de l’Eglise.14

II. Towards the ‘philosophical history’ of the XVIIIth century Through Perizonius’ participation, the discussion on the possibilities of knowledge in the historical field took on the form of a querelle between opposing positions and experiences, which now moved in the direction of impairing the cultural unity that the European Republic of Letters had thitherto demonstrated and vaunted. And yet such a contrast was in fact able to prove schematic. The polemic had, in fact, shown that those involved in the dialogue were nearer than they realised, devoted as they all were to preserving the value of historic knowledge from absolute Pyrrhonism, non-critical and indifferent to the peculiarity of the facts and their evidence. On several accounts Perizonius showed he had indeed received the methodological in­ heritance of Bayle and Le Clerc’s constructive critical work. The correct response to the latter’s theses did not in fact leave the question unanswered regarding the value to be attributed to the techniques employed in historiography and tradition as a source of historical knowledge of the past. For ­Perizonius, as well, the real problem connected with historiographic investigation concerns the testimonies which history is made. Even if reference is continually made to events, it is nevertheless the judgement about the reli­ ability of the sources that enables a legitimate reconstruction of the past that, rather than presenting itself immediately to the historian, is always the result of a process of critical analysis of the relative testimonies. Thus the fact in and of itself is not essential, but rather the relationship between the fact and the testimonies that introduce it. The reading and study of traditional historical sources attracted the critical commitment to Roman history – a history incapable of being converted into universal history, precisely because of its continuous self-comparison with facts and documents. The study of anti­ quity, inasmuch as it centres on the research and analysis of documents, is not conducive towards constructing an exhalted perfect ideal model and toward a periodisation of universal history, but rather it lends itself to gathering the various testimonies of the exemplum and pluralising the same sample 14  „Journal des Savants“, 1705, XXXIII, p. 58. See also „Acta Eruditorum“, 1704, V, pp. 216–221. On this journal cf. Barnes 1938, p. 194 and Lomonaco 2016, pp. VII– XLIX.

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examined. Supported by the fides historica, that is to say by the confidence of being able to define the conditions of ascertaining truth, the study of the individual facts obliges the historian to avoid every abstract conceptual supe­rimposition. Instead, the historian’s task is to safeguard the rules of critique by conferring special importance to philological work, operating as an increasingly aware component of the theoretical-historiographical discourse, as an informant of the relationship between tradition and criticism, between knowledge of the past and the science of history. This was the progressive affirmation of the updated critical discourse – a discourse aimed at founding a specific logic of historical knowledge, a reaction against the impasse brought about by the affirmation of absolute mathematical-based evidence. The aim was also to react to the consequent sceptical negation of every form of certainty, according to theoretical-historiographical schemes and myths of dogmatic Cartesianism, especially of a Malebranchian tone, in which a great part of Dutch culture of the seventeenth century had taken refuge.15 With the Perizonius-Le Clerc polemic in Holland, the seventeenth-century querelle regarding ancient history and its sources may be said to be over. However, when the learned philologist breaks with the positions of Bayle and the Genevan critic, and shows his awareness of such a rupture at the historico-historiographical organisational level, he is in the presence of a more comprehensive awareness that is not wrapped up in a sterile counterposition of theses (e. g. the certainty and utility of history vs. the uncertainty and uselessness of history). Perizonius brings to completion earlier critical experiences, summing up in his own work the instances, the exigencies of erudition and historica through polemical, but not modern, references to historiography and philosophy. Having enjoyed a considerable level of authority toward the end of the seventeenth century, thanks above all to the work of the Maurini, the Jan­ senists and then the erudite Italians (Muratori and Maffei, in particular), philo­logy and antiquity studies had reached a crisis after the early decades of the eighteenth century, proving to be an expression only of puritanical trends of primitive Christianity, yet neutral and pedantic from every other point of view. Erudite research, nurtured primarily by historico-juridical investigation, was itself unable to provide an effective basis for the struggle against the subversive action of doubt. The theoretical ‘strong’ model – though subject to elaborate critical revision – still remained basically the Cartesian one – a model neither conducive to nor capable of providing a logic for historical knowledge as an acceptable theoretical solution. Its vaunted indifference towards philological thoroughness and exalted impartiality also re15  Cf.

Lomonaco 1990, Chapt. 1, p. 60 and notes.



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sponded in many cases to defence strategies employed by the ancient Reason of State. Behind such impartiality, everything that the scientific revolution had attempted to demolish could be accepted: the idea of considerable immobility of the human condition as well as respect for and acceptance of the past and present sanctioned by the action of perennial providentialism with the consequent rejection of the new.16 Of the seventeenth-century Reason of State, it was none other than Pyrrhonism that basically revealed the deep crisis as the causal link between facts and their motives. Having been called into question, it undermined the necessary traditional correspondence between intuition and events and had obscured divine intentions themselves. As a result, it meant a re-dimensioning of providentialism, the idea, that is to say, of predicted and guided history. The doubt exerted on the link b ­ etween actions and aims, on the finalistic and providentialistic aspect of acting, was not resolved, therefore, only in a negation of the fides historica. In fact, criticism directly affected the problem of the possible reconstruction of the sense of the history of man who returned hence to be responsible from the ethico-religious viewpoint. Under the threat of Pyrrhonism, history ceased to be an interpretation of human escatological destinies and became an exact and certain narration of facts, enriched by trustworthy testimonies, by sure and unquestionable documents. Besides mystifying the historian’s language, the wave of polemics was also destined to enhance its theoretical depth by forcing it through methodical doubt to ascertain the complex relationship between truth and certainty. Seen from such a point of view, Pyrrhonism and erudition appeared identical – prisoners of the same limit in their final convergence on a conception of history that deals de singularibus but is not fundamentally devoid of the characteristics of the ars attributed to it by the humanistic school.17 In the central decades of the eighteenth century, subversive criticism of Pyrrhonism was to lose a great part of its incisiveness, since it already dealt with overcoming the converging conclusions of erudition and doubt involved in solving the problem – namely, that of the direction and destiny of human history – which was insoluble as much within the ambit of Cartesianism as within that of anti-Cartesianism. To provide a possible solution to this problem, Enlightenment historiography was then obliged to intervene, which first defined the limits of an all-retrospective erudition. As such, it was incapable of recognising the dynamic action of the new and later levelled an attack against Pyrrhonism. This critique consisted of the equal and opposite charge 16  On this point, see Bertelli 1955. For the relationship between Maffei and Brenkman cf. Momigliano (1962) 1966, I, pp. 179–196 and for the relationship b ­ etween Perizonius-Brenkman cf. Stolte 1981, pp. 7–9, 47, 92, 114, 126, 128. 17  Cf. Giarrizzo 1954, p. 51 and Giarrizzo [1962] 1981, pp. 9–51.

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of incapacity as leveled against that of erudition – of which it was a symbolic expression – against that of understanding the authentic meaning of the being of modern man in history, in a history that he himself is called on to produce. A new and different synthesis came into being that went beyond the „intrigues“, „powers“ and „calculations“ of the ancient Reason of State. Rooted in action and praxis, this synthesis was accompanied by a completely new trust in the self-governing capacities of man in the world: a recognition that things needed to change and that it was no longer permissible to continue to investigate insignificant details. It was the new philosophical orientation of eighteenth-century historiography, from Vico to Montesquieu and Voltaire, from Hume to Robertson, up to Winckelmann and Gibbon, that was destined to elaborate a new combination between ‘philosophical history’ and the ancient method of erudition and philosophy. These historian-philosophers posed problems related to their own present, as well as questions regarding the comprehensive developments of the human race, which took on such proportions that the exactness of the details that had been painstakingly achieved and extolled by seventeenth-century erudition might now appear gratuitous or at any rate irrelevant. The idea of civilisation became, instead, the main theme, the favourite objective of the task of history, art, religion and customs; hitherto specialised areas of antiquary commitment now became permeated and dominated by the interests of eighteenth-century historian-philosophers.18 Thus it came about that Perizonius’ analysis of sources as essential vehicles of information and historical knowledge was barely touched upon by the new antiquity studies of the eighteenth century. Other authors as well as other problems rendered the theory developed by the main representative of late seventeenth-century obsolete Dutch culture, archiving their works away once and for all. It was necessary to await the new cultural climate that opened from the nineteenth century onward for the complex Perizonian philological criticism to be re-appraised by the rediscovery of what Niebuhr’s genius had made of it at the beginning of the nineteenth century.19 Bibliography Ajello, Raffaele: Ercolano tra Antiquari e Filosofi, in: Le Antichità di Ercolano, Naples 1988, pp. 39–60. Barnes, Annie: Jean Le Clerc (1657–1736) et la République des Lettres, Paris 1938. Bertelli, Sergio: La crisi dello scetticismo e il rapporto erudizione-scienza agl’inizi del secolo XVIII, in: „Società“, 11 (1955) 3, pp. 435–456. 18  Momigliano (1950) 1984, pp. 3–45; Momigliano (1958) 1984, pp. 86–88 and Hay (1977) 1981, pp. 141–195. Above all cf. Sartori 1980 and Ajello 1988, pp. 39–60. 19  Cf. Momigliano (1957) 1960, pp. 72–73, notes.



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Theologisch-philosophische Erklärungsversuche mittelalterlicher Weltvorstellungen Von Günter Schenk Philosophische, theologische und weltanschauliche Fragen nach den letzten Dingen, dem Übervernünftigen, rational Unerklärbaren und Absoluten wurden in allen Zeiten aufgeworfen. Die Debatten darüber fanden zwangsläufig immer im Kontext jeweiliger Kulturen, Ideologien und Glaubenslehren statt. Das Leben der Menschen im Mittelalter (medium aevum) vollzog sich auf zwei Zeitebenen, nämlich auf der der empirischen Ereignisse des irdischen Daseins und der der Verwirklichung der göttlichen Vorsehung. Die christlich-mittelalterliche Weltanschauung war durch ein ganzheitliches Denken geprägt. Das Ganze – das Corpus Christianum – war nach dem Willen Gottes gegliedert. Nur im Rahmen dieser Ganzheit, die wir als mittelalterliche Kultur bezeichnen, können die einzelnen Teile, Komponenten etc. richtig verstanden werden. Die Klammer, die alles zusammenhält, ist der Glaube an Gott, an Christus, seinen Sohn, und an den Heiligen Geist. Wir müssen heute mit dieser Erkenntnis ebenso ernst machen, wie die Menschen des Mittelalters mit ihrem Glauben ernst gemacht haben. Mittelalterliches Bewusstsein ist religiöses Bewusstsein, Wirklichkeit ist die Christenheit. Die ‚Welt’ führt immer zu Gott. Die einzige Sicherheit ist die Religion. In dieser Welt gilt die Theologie als höchste Verallgemeinerung der sozialen Praxis des Menschen, sie lieferte ein allgemeingültiges Zeichensystem, in dessen Termini die Mitglieder der feudalen Gesellschaft sich und ihre Welt wiedererkannten sowie ihre Begründung und Erklärung fanden. Ähnlich ist die Herangehensweise bei der Auslegung der Bibel. Eine angemessene Erklärung der in ihr enthaltenen Texte kann nur im Kontext einer allgemeinen Theorie über Gott und die Welt erfolgreich sein, also mittels einer holistischen Hermeneutik, wie sie Thomas von Aquin in seinen Vorlesungen über das Johannes-Evangelium praktiziert hat. Im Mittelpunkt der folgenden Erörterungen stehen die Angelologie, Analysen des Sprachmaterials und Argumentationsstrukturen zur Erklärung des Weltbildes.

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I. Zur Rolle der Angelologie 1. Denken in Symbolen Im Philippus-Evangelium ließ der Apostel Christus sagen: „Die Wahrheit kam nicht nackt in die Welt, sondern sie kam in Sinnbildern und Abbildern. Die Welt kann die Wahrheit nicht anders empfangen.“1 Die göttliche Wahrheit kann nur durch ihr Abbild hervorgebracht werden, denn es sei „wahrhaft angemessen, durch das Abbild wiedergeboren zu werden“. Das Abbild steht hier synonym für das Symbol. Das Symbol wurde im Mittelalter gebraucht, um „das Unsichtbare und verstandesmäßig zu Erfassende durch das Sichtbare und Materielle [auszudrücken]. Die sichtbare Welt befindet sich mit ihrem Archetyp – der Welt des höchsten Daseins (archetypus mundus) – in Harmonie. Auf dieser Grundlage wurde es für möglich gehalten, neben dem buchstäblichen und faktischen Verständnis einer beliebigen Erscheinung auch eine symbolische oder mystische Erklärung für sie zu finden, die die Geheimnisse des Glaubens aufdeckt.“2 Nach der pansemiotischen Sicht des Mittelalters gab es eine significatio rerum, eine Zeichenhaftigkeit aller Phänomene der natürlichen Welt. Alle Dinge der Natur konnten als Zeichen eines göttlichen Zeichengebers interpretiert werden. Andererseits galt die Natur als Symbol der unsichtbaren Welt. Karl Jaspers schreibt: „Das Zeichen läßt sich in seiner Bedeutung durch einen anderen Gegenstand erklären, da das Bezeichnete auch selber ein Gegenstand ist. Das Symbol kann nur durch sich selbst vertieft, sprechender werden. Im Zeichen wird ein Anderes gemeint, aber dieses Andere ist auch ohne Zeichen da. Im Symbol ist ein Anderes gegenwärtig, das ohne dieses Symbol überhaupt nicht für uns sprechen würde.“3 Das Denken im Mittelalter ist wesentlich ein Denken in Symbolen. Für die Philosophie, Religion und Kunst ist das Symbol ein wichtiges Ausdrucksmittel. Vor allem wird in der Philosophie deutlich, dass die „Grundgegebenheiten von Welt und Leben rational nicht ausschöpfbar sind“.4 Bei der Übertragung in die Sprache der Begriffe bleibt immer ein unübersetzbarer Rest übrig. Das Symbol ist „Verhüllung und Offenbarung zugleich“.5 Es „kann eine tiefe innere Wahrheit zum Ausdruck bringen, die sich einer unmittelbaren Wiedergabe verschließt“.6 1  Auszug aus dem 67. Spruch einer wahrscheinlich valentinianischen (gnostischen) Spruchsammlung des 3. Jahrhunderts. Siehe Schenke 1997 (Übersetzung und Erläuterungen). 2  Gurjewitsch 1978, S. 61. 3  Jaspers 1991, S. 257. 4  Lurker 1991, S. 720. 5  Ebd. 6  Fontana 1994, S. 8.



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Auch der visuelle Charakter des mittelalterlichen Geistes zielt immer auf eine höhere Wirklichkeit. Die Form umfasst immer einen Gedanken. „Es ist, als ob sich der Gedanke aus dem Inneren des behandelten Materials herausarbeitet und ihm Form verliehe. Der Gedanke schafft die Form; Form und Gedanke sind nicht voneinander zu trennen.“7 Um den Gegenstand der Sinnenwelt erkennen zu können, muss man die begriffene Erkenntnisform (ratio, Begriff) ergreifen. Das Denken verbindet die Erkenntnisform mit der sinnlichen Wahrnehmung. Ebenso gilt es, die empirischen Formen, die in der Sprache durch rationale Strukturen dargestellt werden, aufzuspüren. Auch für die Angelologie ist die mittelalterliche Symbolwelt Ausgangspunkt und Basis aller Dispute geistiger Erscheinungen. Die Welt der Engel ist wie alles Geschaffene Teil des Corpus Christianum. Anders formuliert: Man hat die Vorstellung vom Urbild der Welt im göttlichen Verstande; die Entfaltung dieser Vorstellung wird über die Idee von Ganzheiten ermöglicht. Das Wesen einer Ganzheit ist durch ihre Struktur bestimmt; der Sinn ergibt sich durch die Erkenntnis der umfassenden Ganzheit, zu welcher alle Teile in Beziehung stehen. In der christlichen Dogmatik unterscheidet man vier grundsätzliche Symbolfunktionen in der Angelologie. In der Botenangelologie verkörpern die Engel die Kontaktaufnahme Gottes mit den Geschöpfen. In Gen 16 des AT ist vom Engel des Herrn die Rede, der zu einem Menschen spricht. Durch den Engel tritt Gott gezielt mit einem Menschen in Beziehung. Gottes Gegenwart in dem Engel bedeutet eine Selbstzurücknahme. Gott konzentriert sich in dieser Offenbarung auf eine geschöpfliche Situation. „Diese Selbstverendlichung Gottes wird nie auf Dauer gestellt und nie konkret wiederholt. Deshalb ist es den Engeln wesentlich zu verschwinden und nicht wiederzukommen. […] Ihre Realität ist die des einmaligen Ereignisses. Mit dem Auftreten eines Engels werden die Grenzen der sog. natürlichen Sicht der Dinge verschoben. Der Engel Gottes erscheint immer inmitten von Schwierigkeiten, Spannungen in natürlichen Lebensverhältnissen, inmitten von Bedrohungen, Verrat, Hoffnungslosigkeit […]. Er ermöglicht eine Infragestellung und Ablösung der alten Wirklichkeitswahrnehmung durch eine neue, die dann mehr oder weniger direkt zu einer Wirklichkeitsveränderung führt […]; oder er begleitet in Situationen ständiger Gefahr und unsicherer Erwartung.“8 (z. B. Ex 14.19, 23.20) Gegenwart und Zukunft werden nun neu sichtbar und anders gestaltet. Die Hofstaatangelologie symbolisiert die Analogie der Hierarchie des Feudalstaates und des Engelregimes. So gibt es folgende Parallelitäten: 1. weltliche Geistlichkeit – himmlische Berater; 2. weltliche Herren – himmlische 7  Mâle

1994, S. 12. 1988, S. 288 f.

8  Drehsen

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Verwalter; 3. Vasallen – himmlische Boten. Der soziale und ideologische himmlische und wirkliche Raum werden hierarchisch begriffen. Aus dieser Hierarchie ergibt sich die Unzugänglichkeit Gottes. Es ist eben für den Menschen unmöglich, eine direkte Annäherung an die himmlische Präsenz Gottes zu vollziehen. Schließlich gibt es noch eine Verbindung von Boten- und Hofstaatangelologie (Luk 2), denn die Engel versinnbildlichen, als begleitende Wesen, den Übergang von der himmlischen in die irdische und von der irdischen in die himmlische Wirklichkeit. Entsprechend der Vermittlerrolle der Engel zwischen Gott und Mensch wird das Weltall auf verschiedene Weise in konzentrische Sphären eingeteilt. Im 12. Jahrhundert unterschied der Mönch Honorius Augustodunensis († um 1137) in seinem Elucidarium zwischen drei Himmelssphären: 1. Irdische bzw. sichtbare Sphäre, 2. Geistige bzw. Engelssphäre und 3. Intellektuelle Sphäre, von wo aus die auserwählten Seligen die heilige Dreieinigkeit schauen können, um sie den anderen Menschen vermitteln zu können.9 Wenn jemand die Dreieinigkeit für sich „nicht erwirbt, wird ihm auch der Name (Christ) weggenommen werden.“10 Mit dieser Strukturierung des Alls verliert aber die irdische Welt ihren selbständigen Wert. Diese drei Sphären unterscheiden sich auch durch das jeweilige Zeitverständnis, welches durch folgende Termini zum Ausdruck gebracht wird: Ewigkeit (aeternitas), Zeitalter (aevum) und zeitliches Leben (tempus). Die Ewigkeit ist ein Attribut Gottes, der außerhalb der Zeit existiert, also weder Anfang noch Ende hat; die Zeit des menschlichen Daseins bedeutet im Vergleich zur Ewigkeit nichts, sie gewinnt lediglich Sinn als eine Vorstufe zum Übergang in das ewige Leben, sie besitzt Anfang und Ende; mit dem Term Zeitalter wird ein Zeitraum gemeint, der zwischen Ewigkeit und Zeit liegt, dies ist eine geschaffene Ewigkeit, die einen Beginn, aber kein Ende hat,11 es ist die Zeit der Engel und anderer Geistwesen. Für Thomas von Aquin ergibt sich die Existenz der Engel aus Gründen der natürlichen Vernunft. Der menschliche Intellekt wird aus den leiblichen Sinneswahrnehmungen gespeist, unterhalb des Menschen gibt es Lebewesen ohne Intellekt, also muss es oberhalb des Menschen intellektuelle Wesen ohne Leib geben. Die jeweilige Unvollkommenheit einer Sphäre verweist immer auf ein Vollkommeneres der folgenden Sphäre, bis die absolute Vollkommenheit (perfectissima) durch Gott erreicht ist. Wesentliche den Engeln zugesprochene Eigenschaften sind: sie existieren als rein geistige Formen; ihre Fähigkeiten sind von rein geistiger Natur; ihr Intellekt ist auf das imma9  Vgl.

Honorii Augustodunensis Elucidarium. Spruch 67 des Philippus-Evangeliums. 11  Vgl. Borst 1983, S.  530 f. 10  Aus



Erklärungsversuche mittelalterlicher Weltvorstellungen355

terielle Sein ausgerichtet; wie der Mensch können die Engel Gott auch nicht unmittelbar erkennen. Sie erkennen durch Erleuchtung mittels der Bilder von Dingen oder durch Offenbarungen Gottes. Auch in der späteren Zeit wird der Term Engel als Symbol des reinen Geistes oft genutzt. So stellt z. B. 1729 der Arzt, Dichter und Gelehrte Albrecht von Haller den Menschen in die Mitte von Engeln und von Vieh (Symbol der Unbildung), denn der Mensch sei in seinen Uranlagen ein „Unselig Mittel-Ding von Engeln und von Vieh!“.12 Der Mensch wurde vom Schöpfer zwischen den reinen Geist und den Ungeist gestellt, er habe beide Anlagen in sich. Ihm wurde aber die Möglichkeit zur Entwicklung nach einer der beiden Seiten mitgegeben, welche realisiert wird, liegt wesentlich am Willen des jeweiligen Individuums. 2. Philosophische Deutungen der Angelologie Im Kontext der mittelalterlichen Welterklärung kam der Philosophie die Aufgabe zu, die Phänomene der Welt zu erklären, dabei spielte die Aufklärung des Verhältnisses von Wissen und Glauben eine zentrale Rolle. Es galt letztlich Glauben und Wissen in ein einheitliches System zu verschmelzen, wollte man doch eine weitgehende Übereinstimmung von wissenschaftlicher Erkenntnis und dem Glauben der Kirche nachweisen.13 Bereits im zweiten nachchristlichen Jahrhundert bemühte sich der Afrikaner Tertullian (150–220) zur Klärung dieses Verhältnisses. Er war der Meinung, dass das Göttliche über das beschränkte menschliche Denken so erhaben sei, „daß es auf den ersten Blick dem Menschengeiste als unmöglich, als undenkbar, ja töricht erscheint und erst bei tieferen Eindringen als etwas Erhabenes, unvergleichlich Weises, als etwas Gottes und des Menschen Würdiges sich offenbart.“14 Ihm wurde das Diktum „Credo, quia absurdum“ („Ich glaube, weil es absurd ist“) zugeschrieben. Tertullian stellte den Offenbarungsinhalt über die Vernunft menschlichen Denkens und hebt das scheinbar Paradoxe des Übernatürlichen und Unbegreiflichen hervor. Das kommt dem paulinischen Gedanken nahe: „Quod stultum est Dei, sapientius est hominibus“ („Denn die göttliche Torheit ist weiser, denn die Menschen sind“).15 Das Übernatürliche wird als etwas höchst Vernünftiges angesehen. Bei Tertullian liegen bereits Proben von methodischen Erörterungen dogmatischer Fragen vor.16 12  Haller

1965, S. 24. Paulsen 1902, S. 35 f. 14  Becker 1903, S. 504. 15  1. Kor. 1, 25. 16  Vgl. Grabmann 1988, S. 117 ff. 13  Vgl.

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Das methodische Fundamentalprinzip der Scholastik „Credo, ut intelligam“ („Ich glaube, um zu verstehen“) wird später Anselm von Canterbury (1033–1109) formulieren. Dieses Prinzip fordert von der Unmittelbarkeit des Glaubens zu den verschiedenen Stufen der Einsicht fortzuschreiten. Die Vernunfttätigkeit soll eine rationale Einsicht in die Glaubensinhalte ermöglichen. Damit wird der Glaubensinhalt der Vernunfteinsicht als Basis vorausgesetzt. Schließlich heißt es bei Petrus Abaelardus (1077–1142) „Intelligo, ut credam“ („Ich verstehe, um zu glauben“), d. h. die Vernunft soll erhellen, woran man glauben soll. Solche rationalen Prinzipien kamen natürlich auch in der Angelologie zur Anwendung. Von philosophisch-theologischen Positionen her wurden Probleme erörtert, die das Wesen des Menschen und des Engels zum Gegenstand hatten. Die Auflösung solcher Probleme erforderte eine Aufklärung darüber, was Denken, Geist oder Seele sei. Damit rückten also erkenntnistheoretische Fragestellungen in den Vordergrund. Man kann die sich daraus ergebende Entwicklung als eine „Philosophie des Geistes“ bezeichnen, die ihren Anfang bei Johannes Scotus Eriugena (um 810 bis nach 877) nahm. Symbolisch kann man diesen Prozess auch als Aufstieg des Menschengeistes in den Bereich der Engel bezeichnen. Der in Laon lehrende Hofgrammatiker Karls des Kahlen und Vorsteher von dessen schola palatina Johannes Scotus Eriugena verfasste zwischen 865 bis 870 sein philosophisch-theologisches Hauptwerk De divisione naturae (Über die Einteilung der Natur). Hierin teilt er alles geschaffene Leben als ein vierfach unterschiedenes ein: „das denkende bei den Engeln, das vernünftige bei den Menschen, das sinnliche bei den Tieren, das sinnlose bei den Pflanzen und übrigen Körpern. […] Der Mensch heisst demnach nicht mit Unrecht die Werkstätte aller Creaturen, weil in ihm die gesammte Creatur enthalten ist. Er denkt nämlich wie ein Engel, hat als Mensch Vernunft, empfindet wie das vernunftlose Thier, lebt wie der Keim und besteht aus Körper und Seele, indem er keiner Creatur untheilhaftig ist; denn ausser den hier erwähnten giebt es keine Creatur.“17 Für Scotus erscheint der Mensch als ein aus Leib, Seele und Engel zusammengesetztes Wesen. Die Analogie von Mensch und Engel bezieht sich auf den Geist, der in jener Zeit noch nicht als individueller Menschengeist gedacht wird. Diese Analogie lässt zwei Sichtweisen zu: der Mensch ist ein seelisches Wesen, wenn er unabhängig vom Engel gedacht wird; wird der Mensch aus der Sicht des Engels gedacht, stellt er sich als geistiges Wesen 17  Johannes

Scotus Eriugena 1983, III, 37, S. 406.



Erklärungsversuche mittelalterlicher Weltvorstellungen357

dar. Man könnte auch sagen, dass der Engel dem Philosophen als Vorbild des menschlichen Geistes gilt. Was in dem Menschen denkt, ist die geistige Existenz des Engels im Menschen bzw. das geistige Wesen des Menschen ist der Engel, mittels welchem erkannt wird. Etwas deutlicher werden die Beziehungen zwischen Mensch und Engel in einer späteren Textstelle, wo der Lehrer dem Schüler erklärt: „Wenn du die wechselseitige Verbindung und Einheit der geistigen und vernünftigen Naturen aufmerksam betrachtest, so wirst du in der That finden, dass sowohl die engelsche Wesenheit in der menschlichen, als auch die menschliche in der engelschen mitbegründet ist. In jeder vollzieht sich, was der reine Verstand auf das Vollkommenste erkennt, und wird in jeder eins und dasselbe bewirkt. So gross nämlich war die Gemeinschaft der engelschen und menschlichen Natur und würde es auch geblieben sein, wenn der erste Mensch nicht gesündigt hätte, dass aus beiden Eines wurde, was auch bei den hervorragendsten Menschen, deren Erstlinge unter den Himmlischen sind, bereits zu geschehen beginnt. Denn der Engel entsteht im Menschen durch den Begriff des Engels, der im Menschen ist, und der Mensch entsteht im Engel durch den im Engel gegründeten Geist des Menschen. Wer nämlich […] den reinen Begriff hat, wird in dem, was er begreift. Die geistige und vernünftige Engelnatur ist also in der geistigen und vernünftigen menschlichen Natur ebenso geworden wie die menschliche in der engelschen durch gegenseitiges Begreifen, worin der Mensch den Engel und der Engel den Menschen begreift. Dies ist auch gar nicht wunderbar: denn auch wir selbst werden, indem wir uns miteinander unterreden, gegenseitig in einander verwandelt. Indem ich nämlich begreife, was du begreifst, werde ich dein Begriff und bin auf unaussprechliche Weise in dich aufgenommen geworden. Ebenso wenn du rein begreifst, was ich durchaus begreife, wirst du mein Begriff, und aus den beiden Begriffen wird einer, welcher aus dem, was wir beide lauter und unverweilt begreifen, gebildet ist. […] Denn wir sind nicht etwas Anderes, als unser Begriff, und unsere wahre und höchste Wesenheit ist ein Begriff, welcher sich in der Betrachtung der Wahrheit beurkundet. […] In solchem Sinn wird also ganz sachgemäss gesagt, dass in gegenseitigem Begreifen der Mensch im Engel und der Engel im Menschen geschaffen werde, und dass auch der Engel dem Menschen in keinem Verhältnis irgendwie vorangehe, wird gleichfalls richtig geglaubt und eingesehen […].“18

Der Vergleich zwischen dem Engel als reiner Geist und dem menschlichen Geist, den Scotus im Text anstellt, offenbart uns, dass zwischen dem Subjekt des Denkens (= der denkende Mensch) und dem Objekt des Denkens (= der Engel) noch nicht unterschieden werden kann. Zwischen dem Subjekt des Denkens und dem Objekt des Gedachten bestehen interessante Wechselbeziehungen. Der denkende Mensch ist der Engel selbst und dieser wiederum ist das menschliche Bewusstsein von dem Engel (dem Geist), mit dem der Mensch den Engel denkt. Der menschliche Geist, der den Engel erkennt, ist der Engel, den er denkt. Der Engel steht für das menschliche Denken, mit 18  Ebd.

IV, 9, S. 62.

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dem erkannt wird. Ergo: Wenn der Mensch wesenhaft erkennt, so erkennt der Engel in ihm.19 Die gesetzte Analogie (eine Ähnlichkeitsrelation) zwischen Engel und Mensch besitzt neben den benannten Gemeinsamkeiten auch Verschiedenheiten. Die Lebenszeit des Engels hat einen Anfang aber kein Ende. Damit besitzt er eine größere Erkenntnisfähigkeit gegenüber dem Menschen. Er weiß um Zukünftiges, der Mensch muss solche erst erwerben. Damit deutet Scotus bereits eine Entwicklungsmöglichkeit menschlichen Denkens an, die sich dem Geist des Engels annähert. Nach Eriugena denkt der Engel so, „wie im Moment schon bestimmte Menschen im Zustand des Entrücktseins und wie später einige Menschen im nachtodlichen Dasein Erkenntnis besitzen werden. Einige fortgeschrittene Menschen bilden also während ihres Lebens in der geistigen Welt oder auch in Entrückungen während des irdischen Lebens Geistesfähigkeiten aus, die sie als dem Engel gleich erscheinen lassen. Wir können heute sagen: Der Engel steht hier für eine Entwicklungsaufgabe des menschlichen Geistes.“20 Waren im 6. Jahrhundert die Zusammengehörigkeit des menschlichen Geistes und des Engelgeistes Konsens, so steht im 13. Jahrhundert bereits die Frage nach der Individualität des menschlichen Geistes im Zentrum philosophischer Debatten. Insbesondere ist es Thomas von Aquin, der sich im Zeitraum von 1266 bis in die Mitte der 70er Jahre mit der Individualität des menschlichen Denkens befasst, neue Akzente in der Angelologie setzt und mit der Seelentheorie beschäftigt. In der Schrift De unitate intellectus contra Averroistas (Über die Einheit des Geistes gegen die Averroisten) stellt er die Frage: Wie kann der Geist, das Allgemeine und Umfassende, in den einzelnen Menschen individuell werden? Die von Aristoteles begründete Philosophische Psychologie als eine eigenständige Disziplin, die uns mit dessen Abhandlung De anima gegeben ist, war für Thomas Ausgangspunkt für seine Seelentheorie. Ohne auf Texte der Bibel einzugehen, greift Thomas die aristotelische These auf, dass das, was wir als Seele ansehen, jenes ist, wodurch wir leben, wahrnehmen und denken, also als Begriff (ratio) und Erkenntnisform (species) eines Leibes.21 Bei der Frage, wie es möglich sei, dass der einzelne Mensch durch den möglichen Geist denkt, antwortet Thomas, dass der Geist mit dem menschlichen Leib vermittels einer innewohnenden Kraft (virtus) verbunden sei, die man als Form des Leibes ansehen muss. Aber als Kraft der Seele kann der Geist nicht in allen Menschen derselbe sein. Thomas beschreitet damit einen 19  Klünker 20  Ebd. 21  Vgl.

1989, Einführung, S. 12.

Aristoteles: De anima, 414a 12–14.



Erklärungsversuche mittelalterlicher Weltvorstellungen359

Weg, der zum eigenständigen Denken des Menschen führt, d. h. den Weg zur Individualität des Geistes. Kein Engel führt jetzt die Geistestätigkeit des Menschen aus, sondern der individuelle Mensch denkt selbst. Der Geist sei nach Thomas ein Vermögen der Seele, die als Form mit uns vereinigt wird. Nur in Verbindung mit dem Körper und als Teil der Seele kann der Geist im Menschen individuell sein.22 Die damals oft diskutierte Frage, ob sich der Menschengeist ohne Bezugnahme auf den Engel denken lasse, bejaht Thomas aus eben genannten Gründen. Wolf-Ulrich Klunker zeigt nun in seiner Einführung in die Schrift De substantiis separatis seu de angelorum natura (Vom Wesen der Engel), wie aus dem Gegenstand der Engellehre ein Gegenstand der menschlichen Selbsterkenntnis sich herausbildete, welche letztlich zur Anthropologie führte. „Auf diese Weise wird der Zusammenhang von Engellehre und menschlicher Selbsterkenntnis nicht durch eine theologische Konstruktion, sondern durch bewußtseinsgeschichtliche Beobachtung deutlich. […]. In der Engellehre des Mittelalters liegen Gegenwarts- und Zukunftsgestaltungen des menschlichen Geistes verborgen. Den Gedanken des Engels zu denken, heißt immer auch, den Blick für den menschlichen Geist zu schärfen. Ohne die Bemühung, den Geist des Engels zu begreifen, kann auch nicht verstanden werden, woher der Menschengeist bewußtseinsgeschichtlich gekommen ist und wo seine Entwicklungsmöglichkeiten in der Zukunft liegen.“23 In seiner Polemik gegen einige Averroisten, die der Meinung waren, dass sich die Ergebnisse des philosophischen Denkens von den Glaubenswahrheiten unterscheiden würden, votiert Thomas für deren Vergleichbarkeit und argumentiert: „[…] der Glaube habe etwas zum Gegenstand, dessen Gegenstand mit Notwendigkeit nachgewiesen werden kann. Weil aber ausschließlich das notwendig Wahre, dessen Gegenteil das nicht mögliche Unwahre ist, mit Notwendigkeit bewiesen werden kann, folgt aus [deren] Behauptung, daß der Glaube nicht mögliches Unwahres zum Gegenstand hat, was sogar Gott nicht erschaffen kann – das können die Ohren der Glaubenden nicht ertragen.“24 Damit fordert Thomas eine vernünftig-gedankliche Nachprüfung, Rekonstruktion und Aneignung der christlichen Überlieferung.25 In seiner Summa theologiae geht Thomas von der Mittelstellung der Engel zwischen Gott und den Menschen aus und begründet dies mit dem Argument, dass solche geistigen Wesen für die Vollendung des Universums nötig 22  Vgl. Thomas von Aquin: Über die Einheit des Geistes gegen die Averroisten, S. 71. 23  Klünker 1989, S. 17. 24  Thomas von Aquin: Über die Einheit des Geistes gegen die Averroisten, Artikel 267. 25  Klünker 1989, Übersicht über die Hauptgedanken, S. 137.

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waren (ad perfectionem universi requiritur). Damit ergibt sich eine Rangfolge: Gott-Engel-Mensch-unintellektuelle Wesen. Mit der Engellehre gewinnt Thomas eine nähere Bestimmung des menschlichen Seins, insofern es eher eine imago Dei als geistiger Natur ist. Die Grenzen zwischen dem Sein der Engel und der Menschen sind: die Materielosigkeit der Engel, die unterschiedliche Erkenntnisart und der Wille der Engel. Die Materielosigkeit ist der Grund ihrer Unsterblichkeit, weshalb sie keine Individuen sein können; jeder Engel ist eine eigene Spezies, sie unterscheiden sich durch unterschiedliche Grade ihrer intellektiven Natur. Der Mensch gilt als eine Ausnahme innerhalb der „intellektuellen Substanzen“. Aus dem Zusammenhang von Seele und Körper beim Menschen folgt auch, dass die menschliche Seele nicht dieselbe Form (species) wie die der Engel haben kann (ST I q. 75 a. 7). Engel sind weder höhere Menschen noch niedrige Götter. Die Materielosigkeit erfordert auch eine spezielle Bestimmung ihres „Im Raum- und-in-der-Zeit-Seins“. Im Unterschied zu Gott können die Engel nicht gleichzeitig überall sein. Als körperlose Wesen werden sie nicht vom Raum erfasst, sie sind nicht in ihm enthalten (continentur), sie umfassen ihn gewissermaßen (ut continens). Thomas unterscheidet zwischen dem ubique des göttlichen Im-Raum-Seins, dem ut continens der Engel und dem circumscriptive, also der körperlichen Einnahme des Raums. Da die Engel nicht vom Raum erfasst sind, sind ihre Bewegungen diskontinuierlich (motus non continuus), d. h. sie können, müssen aber nicht einen Ort als Ganzes verlassen. Also ist die Zeit der reinen Geister eine diskrete, die sich Thomas als Kette von einzelnen aneinandergrenzenden ‚Jetzt‘ denkt. Ein jedes ‚Jetzt‘ entspricht einem einzelnen Denkakt. Ein ‚Jetzt‘ und ein Denkakt sind unteilbar. Die Zeit enthält ein doppeltes Moment: ihre ‚Sukzession‘, die ihr Wesen ausmacht, und das ‚Jetzt‘. Die Zeit hängt für Thomas vom Maß der Bewegung ab, eine körperliche Bewegung ist immer eine kontinuierliche. Er deutet die Zeit „als das durch die Zahl bestimmte Maß der Bewegung in Bezug auf das Vorher und Nachher“.26 Er interpretiert aevum wie auch aeternitas als auf einmal, als ganz gegeben (totum simul), wiewohl es eine Aufeinanderfolge besitzt. Das aevum gilt als Maß alles Unveränderlichen in der Schöpfung und „bedeutet eine stets gleiche und vollkommene Gegenwart; es ist aber nicht etwa mit seinem ‚Jetzt‘ identisch. Denn das ‚Jetzt‘ mißt das Wesen des Dinges, das aevum sein Dasein; Wesen und Dasein sind aber im Geschöpf immer tatsächlich verschieden.“27 Thomas diskutiert philosophisch und behauptet, dass jede Substanz, auch die geschaffene, in bestimmtem Sinn außerhalb der Zeit existiere. Denn das 26  Thomas

von Aquin: Summa Theologiae I q. 10 a. 1. 1914, S. 51.

27  Beemelmans



Erklärungsversuche mittelalterlicher Weltvorstellungen361

unter dem Aspekt seiner Substanz untersuchte Wesen kann nicht mit der Zeit gemessen werden. Die Substanz besitzt keinerlei Aufeinanderfolge und entspricht nicht der Zeit, sondern dem gegenwärtigen Moment (nunc temporis). Bei einer Untersuchung in der Bewegung wird das Wesen durch die Zeit gemessen. Das Wesen, welches der Veränderung unterliegt, entfernt sich von der Ewigkeit, und diese Veränderlichkeit ist der Beweis für die Unvollständigkeit der Schöpfung.28 Die Erkenntnisart der Engel unterscheidet sich sowohl von der göttlichen als auch der menschlichen. Die göttliche Erkenntnisart ist zugleich Gottes Sein und Handeln, die der Engel ist der tätige Intellekt, der am göttlichen in verschiedener Weise partizipiert. Menschliche Erkenntnis ist endlich, sie ist teils sinnlich, teils rational. „Die Engel sind ihren erkennbaren Gegenständen (intelligibilia) gegenüber immer ‚in actu‘ “29. Da sie keinen Körper haben, haben sie auch kein Gedächtnis und keine Einbildungskraft. Der Engel hat keinen intellectus possibilis, er ist eine „endlich intuitive Intelligenz“.30 Die Menschen bedürfen der Erinnerung, weil sie vergessen können, den Engeln als körperlos Wesen ist das Wissen stets präsent. In seiner Summa theologiae diskutiert Thomas, der „Doktor Angelicus“, die Seinsweise von Geschöpfen von rein geistigem Wesen am Beispiel der Engel. Der Mensch geht von der geschöpflichen Seinsweise aus, die ihm allein durch die Erfahrung bekannt ist. Er kann z. B. einen unvollkommenen Begriff (analogen Begriff) bilden, der nur von den Engeln aussagbar ist, wie geistig Seiendes. Man spricht hier von der Analogie des Seienden (analogia entis). Gott bestimmt die Unterordnung der Engel unter Gott und den Abstand zu den Menschen bezüglich des Seins und Erkennens adäquat. So haben Engel und Menschen also Gemeinsamkeiten, sie existieren, können erkennen und sind Geschöpfe Gottes. Aber Analogie bedeutet, dass es neben den Gemeinsamkeiten auch Verschiedenheiten gibt. Diese bestimmt Thomas, d. h. er klassifiziert Eigenschaften der Engel, die den Menschen nicht zukommen. Die in Klöstern diskutierte Frage „Besitzen die Engel und Menschen ein gleiches Wesen oder eine gleiche Natur?“ verneint Thomas. Er argumentiert u. a., dass Engel und Menschen verschieden seien bezüglich ihres Seins und der Erkenntnis. Engel existieren im aevum (hier in der Bedeutung von geschaffener Ewigkeit), in einer rein geistigen Welt, sind rein geistige Wesen und besitzen nur reine Vernunftkräfte. Sie erkennen durch Erleuchtungen vermittels der Bilder von den Dingen und den Offenbarungen Gottes. 28  Zawirski

1936, S. 55 ff. Capurro 1988, S. 13. 30  Vgl. Rahner 1937, S. 248. 29  Vgl.

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Welche Funktion kommt bei Thomas dem Engel noch zu? Der Engel offenbart jetzt dem Menschen „was zu seiner Lenkung gehört“, ein Erzengel nimmt Einfluss auf die Willensentscheidungen des Menschen. Er verkündet, was die Vernunft übersteigt, er übernimmt sozusagen jene Erkenntnisse, wo der Mensch überfordert ist.31 In der Summa theologiae I q. 113 a. 4 behandelt Thomas die Frage, wie der Mensch durch einen Engel geführt wird. So führt er u. a. aus: „Wie den Menschen, die einen unsicheren Weg durchwandern, Beschützer mitgegeben werden, so wird auch jedem Menschen, solange er ein Wanderer [auf Erden] ist, ein Schutzengel (custos angelus) zugewiesen. Wenn er aber an das Ende des Weges gelangt sein wird, wird er keinen Schutzengel mehr haben; vielmehr wird er im Reich Gottes einen mitregierenden Engel (angelus conregnans), in der Hölle aber einen strafenden Dämon (daemon puniens) bei sich haben.“32 Über die 113. Frage führt Klunker aus: „Der bewußtseinsgeschichtlichen Betrachtung ergibt sich also eine Aussage über die geistige Entwicklung des Menschen in der Neuzeit, wo Thomas noch in mittelalterlicher Weise unhistorisch von einem Leben nach dem Tode spricht. Ob eine Geistwesenheit für den Menschen als Schutzengel oder als Dämon wirkt, hängt davon ab, ob es dem Menschen gelingt, dieser Geistwesenheit ebenwürdig zu werden. Denn es handelt sich doch offenbar um ein und dasselbe Geistwesen, das im Menschen entweder als Schutzengel oder als Dämon wirken kann – seine Tätigkeit ist also von der geistig-seelischen Entwicklung des Menschen abhängig.“33 Das bildhafte bzw. symbolische Verständnis von Engeln wird später durch die philosophische Abstraktion abgelöst oder, wie Alfons Rosenberg formuliert, die feurige Geistleiblichkeit wird durch die leblose Geistigkeit verdrängt.34 Die philosophische Bearbeitung der Angelologie führte zur Erkenntnis, dass die Engel keine ewigen göttlichen Intelligenzen, sondern kreatürliche Wesen seien. Im Zusammenhang mit den Engelvorstellungen wurde die antik-griechische Vorstellung von der Geschlossenheit des Kosmos aufgegeben. Die mittelalterliche Angelologie wird nun in der Gegenwart nicht als historische Begebenheit abgetan. Im Zusammenhang mit Themen wie „Engel, Menschen und Computer“ oder „Geist, Hirn und Wissenschaft“ wird kontrovers eine mögliche Analogie zwischen „reinen Intelligenzen“ und „künstlicher Intelligenz“ debattiert. So bemerkt Rafael Capurro, dass sich eine Analogie zu den gegenwärtigen (Wunsch-)Vorstellungen der KI-For31  Thomas

von Aquin: Compendium theologiae, cap. 26. Klünker 1989. 33  Klünker 1989, Einführung, S. 15. 34  Vgl. Rosenberg 1967, S. 59. 32  Übersetzung



Erklärungsversuche mittelalterlicher Weltvorstellungen363

schung35 bzw. zu den Träumen unserer technologischen Vernunft herausbilde. Es läge nämlich der Herstellbarkeit von künstlicher Intelligenz die Annahme zugrunde, dass das ‚biologische Substrat‘ nicht notwendigerweise zu diesem Phänomen gehöre.36 In der Literatur wird eine solche Annahme kontrovers diskutiert. So lehnt John R. Searle diese ab, während Douglas R. Hofstadter der Meinung ist, dass „Geister in Gehirnen und vielleicht einmal in programmierten Maschinen existieren werden“.37 Capurro resümiert, dass die „Entleiblichung der menschlichen Intelligenz […] die Vorstellung einer von der menschlichen sich unterscheidenden und vielleicht sie auch überbietenden Intelligenz“38 voraussetze. Die Annahme, dass „eine solche Intelligenz eine ‚künstliche‘ also (von uns) hergestellt sein soll, stellt eine Analogie zur Kreatürlichkeit der Engel dar“.39 1743 stellt Georg Friedrich Meier die Frage „Was denkt in mir?“ und argumentiert zeitgemäß: „Ich denke. Das, was in einem Ding denken kann, heißt die Seele. Ich bin eine Seele. Kein zusammengesetztes Ding kann denken. Insofern ich demnach eine Seele bin, bin ich kein zusammengesetztes Ding, keine Materie, kein Körper. Ich bin mir meines Körpers bewußt, den ich den meinigen nenne. Dieser Körper kann nicht denken. Insofern ich ein Körper bin, kann ich nicht denken. Ich muß demnach außer diesem Körper noch ein Wesen besitzen, welches meine Seele und das in mir denkendes Ding ist.“40 Die Seele, die als aktiv angesehen wird, steht in harmonischer Wechselbeziehung zum Körper. Die innere Bestimmung der Seele ist der Gedanke, welcher entsteht, wenn man sich einer Sache bewußt wird oder aus einer Vorstellung, welche zu einem Gedanken wird, wenn das Bewusstsein als Licht der Seele hinzukommt. Bis heute gibt es zu diesem Problem bezüglich der natürlichen Intelligenz keine vollständige Erklärung. In der Neuzeit kann man die Frage analogisch umwandeln in „Was denkt in einer künstlichen Intelligenz?“ Auch diese Frage findet bis heute keine wissenschaftlich befriedigende Antwort. II. Aufbereitung des sprachlichen Materials Eine zentrale Aufgabe der Scholastiker war es, die von Gott gegebene mentale Sprache und die menschliche Namengebung zu erforschen. So macht Thomas von Aquin „tatsächlich in der Gotteslehre, in der Trinitätslehre, in 35  Künstliche-Intelligenz-Forschung. 36  Capurro

1991, S. 10. 1986, § 66. 38  Ebd., S. 11. 39  Ebd. 40  Meier 1743, § 35. 37  Hofstadter/Dennet

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der Christologie und auch sonst, wo terminologische Schärfe und Klärung für den Theologen erwünscht ist, von der Sprachlogik einen Gebrauch, und zwar in der Weise, daß eine theologisch und logisch korrekte und sprachlich durchsichtige Ausdrucksweise geschaffen ist.“41 Die Scholastiker analysierten umfangreich jenes Material, welches sie benötigten, um ihre Gedanken und Vorstellungen in diesem Material korrekt abbilden zu können – gemeint ist die lateinische Sprache, in welcher das Wissen jener Zeit gespeichert wurde. Die mittelalterliche Latinität kann man als ein umfassendes Zeichensystem verstehen, „welches jedesmal auf besondere Art in Abhängigkeit von jener Sphäre der menschlichen Tätigkeit dechiffriert wird, auf die es angewandt wird“.42 Dieser polysemantische Wesenszug bestimmte wesentlich die Themen der Grammatica speculativa und der Dialectica, nämlich die Forschungen zur logischen Semantik und die Thematisierung der Sprache auf heuristische Fragestellungen der Theologie und Metaphysik, denn die Lehre vom göttlichen Wort bindet sprachphilosophische Probleme in die Theorie einer theologischen Deutung der Wirklichkeit ein. So stellt Thomas von Aquin fest: „Sofern die Theologie beherrschend ist unter allen Wissenschaften, hat sie etwas in sich von allen Wissenschaften, und daher behandelt sie nicht nur Sachen, sondern die Bedeutung der Namen.“43 Die symbolhafte Bedeutung des „göttlichen Wortes“ besteht darin, dass in den Formen der menschlichen Rede ein gedanklicher Gehalt, die göttliche Selbstmanifestation offenbar wird. Aus Sicht der Trinitätslehre gilt, dass 1. Gott das ewiginnere Wort (der Logos) selbst ist (= Identität von Wort und Sache, absolute Wahrheit)44; dass 2. das lebendige Wort im inneren Denken des Menschen wohnt (die gedachte Wahrheit), denn durch die Vernunft hat der Mensch am göttlichen Logos teil; dass 3. die Mitteilung des fleischgewordenen Logos ihren Niederschlag im gepredigten Wort und 4. im geschriebenen göttlichen Wort der heiligen Schriften findet. Aus der Annahme, dass die Sprache eine Schöpfung Gottes sei, leitet sich für die Scholastiker die Aufgabe ab, diese Schöpfung aus dem sermo aeternus, d. h. aus dem exemplar, dem Archetyp des göttlich Geschaffenen abzuleiten und schließlich wieder darauf zurückzuführen. Den Zusammenhang von sermo aeternus (= exemplar als summa veritas), res (= exemplum) und sermo humanus (= imitatorische Namengebung) erklären die meisten Scholastiker folgendermaßen: Die res (in unserem Falle die mentale Sprache) als exemplum bildet das exemplar (sermo aeternus) ab. Die Abbildung ist eine 41  Grabmann

1926, S. 144. 1978, S. 16. 43  Thomas von Aquin: I. Sent. d. 22. Expos. Textus. 44  Oft wird auf Joh. 1, 1–18 verwiesen: Im Anfang war das Wort (der Logos), und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. 42  Gurjewitsch



Erklärungsversuche mittelalterlicher Weltvorstellungen365

veritas als conformitas rationi bzw. veritas creata. Das bedeutet, dass zwischen sermo aeternus (dem Schöpfer bzw. Urbild) und der res (der Schöpfung) eine Ähnlichkeitsrelation im Sinne „ist und ist doch nicht“ besteht. Wo Ähnlichkeit besteht, gibt es auch immer Unähnlichkeit (Verschiedenheit). Daraus folgt, dass zwischen schöpferischem Ursprung und Schöpfung prinzipielle Unterschiedenheit besteht, die als Dualität begriffen wird. Ein Dualitätsdenken ist immer ein Denken in gegensätzlichen Begriffspaaren. Die ursprüngliche Einheit (= Kontinuität) erfährt durch das Ähnlichkeitsdenken eine Teilung, d. h. das Denken der Diskontinuität erfolgt auf der Basis von Kontinuität (= Kontinuität ergibt sich aus der Offenbarung). Ein solches Denken hat immer eine trinitarische Struktur: mensura-numerus-pondus, materia-forma-compositio etc. Eine jede Trinitätsstruktur enthält ein duales Kategorienpaar und eine vermittelnde Kategorie, die das Duale in Bezug auf ein Ganzes zur Einheit zurückführt. Die hierarchische (semantische) Anordnung der Sprache findet zunächst ihren Ausgangspunkt bei Paulus im 2. Korinther (3.6) des NT, wo er uns mitteilt, dass der Buchstabe tötet, aber der Geist lebendig macht, was schließlich zu einer vertikalen Anordnung der Sprache führte, nämlich in eine 1. gedachte (mentale), 2. gesprochene und 3. geschriebene Sprache, wobei der Wahrheitswert von 1. nach 3. abnimmt. Die gedachte Sprache, die der Wahrheit am nächsten ist, intendiert etwas, was man nicht zum Ausdruck bringen kann. Um dieses Gemeinte hörbar oder sehbar gestalten zu können, benötigt man die „tönenden Worte“ bzw. „sichtbaren Zeichen“ als materielle Träger der gewonnenen Informationen. Bereits Augustinus45 unterscheidet zwischen einer inneren Sprache, die die Einsicht in die Welt der Formen wortlos, d. h. schweigend vollzieht, und einer äußeren Sprache, die die gewonnenen Einsichten an den Laut oder an das Zeichen bindet. In der Semantik der Scholastiker hängen diese drei Sprachbereiche wie folgt zusammen: 1. die gedachte Sprache bezeichnet die Entitäten unmittelbar, und zwar durch den Begriff (terminus), die Aussage (propositio) und den Schluss (syllogismus); 2. die gesprochene Sprache, die die Entitäten der gedachten Sprache durch die entsprechenden korrespondierten Ausdrücke Wort (dictio, terminus vocalis), Rede (oratio, propositio vocalis) und Schluss (consequentia vocalis) bezeichnet und 3. die geschriebene Sprache, die die gesprochene Sprache bezeichnet durch das geschriebene Wort (terminus scriptus), die geschriebene Aussage (propositio scripta) und den geschriebenen Schluß (consequentia scripta). Nach der Art des Bezeichnens werden die Termini folgendermaßen geordnet: 45  Vgl. Augustinus:

De trinitate l. XI, cap. XI, 20.

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1. Mentale Termini bezeichnen die Entitäten natürlich (naturaliter), d. h. ein solcher Term steht repräsentativ für dasselbe Einzelne im Denken. Eine solche Denotation beruht auf einer allgemeinen Latinität einer Sprachgemeinschaft. 2.  Gesprochene bzw. geschriebene Termini bezeichnen konventionell (ad placitum), d. h. solche Termini stehen nicht repräsentativ für dasselbe Einzelne, es gibt keine einheitliche Notation; die Wörter „Mensch“, „homo“, „man“, „homme“ … sind unterschiedliche Zeichen für ein und dasselbe Denotat „rationales Lebewesen“. Bei den Namengebungen im Bereich der gesprochenen und geschriebenen Termini ist der Mensch als Namengeber in seinen Entscheidungen frei, sie erfolgt ad placitum. Durch die Namengebung wird die significatio eines Wortes festgelegt. Die Scholastiker entwickelten dafür die Theorie der Impositionen (impositio – auflegen). Man unterscheidet entsprechend zwischen Namen der ersten und zweiten Imposition. Es gelten folgende Zuordnungen: Namen für die erste und zweite Intension gehören der ersten Imposition an, das sind gesprochene Namen (Worte). Namen der zweiten Imposition sind Namen der ersten Imposition, somit die geschriebenen Namen. Ein geschriebener Term bezeichnet einen gesprochenen Term der einen gedachten Term bezeichnet. Ein gedachter Term (Begriff) ist der ‚göttlichen‘ Wahrheit näher als ein gesprochener usw. Weiterhin wäre zu beachten, dass die mentalen Termini auf unterschiedliche Weise bezeichnen können: meint z. B. ein solcher Term eine Entität, die sich außerhalb unseres Denkens befindet (extramental), so gehört er der ersten Intention an, d. h. er bedeutet die Entitäten nicht unter dem Aspekt, unter welchen sie selbst Zeichen sind. Versteht man z. B. den Term „Mensch“ in der ersten Intention, dann bezeichnet er konkrete Individuen wie Sokrates, Platon. Andererseits kann ein mentaler Term eine Entität meinen, die im Denken vorkommt, dann gehört er der zweiten Intention an, d. h. er bezeichnet Entitäten, die Zeichen sind. So bedeutet der Terminus „Mensch“ in der zweiten Intention den Gattungsbegriff „Mensch“, also die „Klasse der Menschen“. Die Scholastiker befassen sich vor allem mit den Termini der zweiten Intension, sie agieren auf der Ebene einer Metasprache (Metasemantik). In der semantischen Metatheorie werden die Phänomene der Sprache, vor allem Sätze, detailliert analysiert und erklärt. Kernstück dieser Theorie ist die Suppositionslehre, in der eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen einer suppositio propria (ein Term steht für das Eigentliche) und einer suppositio impropria (ein Term steht für das Uneigentliche) vorgenommen wird. Allgemein lässt sich eine Supposition so beschreiben: Ein Wort steht für ein Objekt (Entität) in einem Satz, gleichgültig ob dieses Wort eine Bedeutung hat oder keine Bedeutung hat (denn ein Wort wie „Chimäre“ hat auch eine Sup-



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position). Unter Berücksichtigung der Bezeichnung (Signifikation) kann man sagen: Das gesprochene Wort steht als Subjekt in einem Satz für einen Gegenstand, wenn dieses Wort gleichzeitig diesen Gegenstand in unserem Bewusstsein repräsentiert und wenn dieses Wort einen entsprechenden Begriff assoziiert.46 Die uneigentlichen Bedeutungen geben einem Ausdruck Sinn, ohne dass er direkt mit der Objektwelt korrespondiert. Meistens wurden semantische Figuren diskutiert, die sich mit den Figuren Teil-Ganzes, Besonders-Allgemeines u. Ä. beschäftigen: Antonomasien, Ironie, Synekdochen, Metaphern und Metanomien. III. Argumentationsformen zu Erklärungen Innerhalb ihres Bildungssystems entwickelten die Scholastiker parallel zur theoretischen Logik (logica) eine Sprachlogik, die sie dialectica nannten. Diese behandelte auch Lehr- und Darstellungsformen der Argumentation, die einerseits wahre Gymnastik für den menschlichen Geist war und den Intellekt stärken und andererseits Instrumente für die polemische Ausgestaltung der Rede entwickeln sollte, die auch „zum Kampfe gegen die Anmaßungen Neuroms in der Kirche und im Staate“ genutzt werden konnten.47 Die Lehrformen im frühen 12. Jahrhundert waren vor allem lectio, quaestio und disputatio. In der lectio wurden vor allem Autoritäten und Kommentierungen erläutert. Petrus Cantor († 1197) bezeichnete die lectio als das Fundament des geistigen Gebäudes, bezog sie sich doch nicht allein auf das Vortragen von Inhalten, sondern auch auf das Verstehen, die intelligentia textus, derselben. Bei der Auslegung von Bibeltexten tauchten des Öfteren verschiedene Erklärungen einer Textstelle durch Autoritäten auf, bzw. widersprüchliche Aussagen, die Anlass zu Fragen (quaestiones) seitens der Hörer gaben. Quaestiones galten als zweifelhafte Aussagen, die mehrere Verstehensmöglichkeiten ermöglichten. Aufgabe des Lehrers war es, schriftlich oder mündlich eine quaestio zu lösen. Dies geschah oft durch Vermittlung unterschiedlicher Autoritätsauffassungen oder durch das Fällen einer Entscheidung durch den Lehrer, der dann als Autorität agierte. Eine quaestio hatte die logische Struktur „utrum … an“ [ob das eine … oder das andere] und wurde meist in die Mitte zwischen gegensätzlichen Auffassungen gesetzt. Diese Struktur verdeutlichte einerseits das Anliegen, die Thematik gegensätzlicher Auffassungen umfangreich zu analysieren und andererseits die Ergebnisse im Sinne eines sic et non (Für-und-Wider) zu unterbreiten. Thomas von Aquin entwickelt die Quaestio in seiner Summa theologiae als literarische Form. Martin Grabmann stellt diese Gesamtdarstellung der Theolo46  Vgl.

Enders 1975, S. 43 und Boehner 1958, S. 241. 1836, S. 215.

47  Weber

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gie als eine Höchstleitung „architektonischer Didaktik“48 dar. Als Veranschaulichung sei q. 52 De comparatione angelorum ad loca (Vom Verhältnis der Engel zum Ort) ausgewählt, die in drei Einzelfragen aufgeteilt wird. Die erste Einzelfrage (a. 1): Ist der Engel an einem Ort? Es folgt eine Aufgliederung nach „Ob das eine … oder das andere“; „Dicit enim Boethius … Sed contra est quod in collecta dicitur“; Die Antwort des Thomas erfolgt in Form einer argumentativen Begründung und endet mit der Feststellung: „Et per hoc patet responsio ad obiecta.“ Dann geht er analog zur zweiten Einzelfrage „Kann der Engel an mehreren Orten zugleich sein“? Und folgerichtig lautet die dritte Frage: „Können mehrere Engel am selben Orte sein“? Q. 52 wird durch drei von Thomas vertretene Thesen beendet. Im Folgenden argumentiert er dafür, dass jeder Engel in gewisser Weise an einem körperlichen Ort ist, dass er nicht überall, noch an mehreren Orten, sondern nur an einem Ort ist und dass an einem Ort immer nur ein Engel ist. Um 1289 war an der Pariser Universität ein Streit entbrannt über die Anzahl der Engel, die auf einer Nadelspitze Platz haben, was in nachfolgenden Zeiten weitere Debatten auslöste. Christian Morgenstern parodierte diesen Streit in dem Gedicht Scholastikerprobleme, wo der erste Vers mit dem Satz endet: „Keiner! – Denn die nie Erspähten / können einzig nehmen Platz auf / geistlichen Lokalitäten.“ Benutzt man eine universelle freie Logik, die keine Existenz voraussetzt, kann man mit Termini kommunizieren, die in der realen Welt keine Bedeutung, wohl aber Sinn haben. Im Kontext der Bibel erhält z. B. der Name Engel eine gewisse Konnotation, die es ermöglicht zu sagen, dass die Behauptung ‚Ein Engel ist körperlos‘ wahr ist. Die Ontologie des aevums ist eben von der der begrenzten Zeit (tempus) verschieden.49 Petrus Abaelardus (1077–1142) veröffentlichte unter dem Titel Sic et Non (1122/23) eine Schrift, in welcher er Texte von 150 kirchlichen Autoritäten anführte, die sich gegenseitig paralysierten bzw. widersprachen. Die Lösung der Widersprüche überließ er dem Leser selbst – Scito te ipsum – („Entscheide dich selbst“). Zur Lösung gab er entsprechende Regeln an, wie zwischen den Gegensätzen von Autoritäten zu vermitteln sei. Das Für und Wider diente auch als Vorarbeit einer harmonisierenden Tätigkeit, denn die vorhandenen Widersprüche ergaben sich oft aus terminologischen, zeitlichen und örtlichen Gründen. Die Methode des pro et contra wurde für die Scholastiker eine Grundlage für die Art und Weise mit quaestiones und disputationes umzugehen. Im Allgemeinen will die scholastische Methode nach Martin Grabmann „durch Anwendung der Vernunft, der Philosophie auf die Offenbarungswahrheiten möglichste Einsicht in den Glaubensinhalt gewinnen, um so die über48  Grabmann 49  Es

wiesen.

1931, S. 275. sei auf philosophische Anwendungen einer freien Logik (Free Logic) ver-



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natürliche Wahrheit dem denkenden Menschengeiste inhaltlich näher zu bringen, eine systematische, organisch zusammenfassende Gesamtdarstellung der Heilswahrheit zu ermöglichen und die gegen den Offenbarungsinhalt vom Vernunftstandpunkte aus erhobenen Einwände lösen zu können. In allmählicher Entwicklung hat die scholastische Methode sich eine bestimmte äußere Technik, eine äußere Form geschaffen, sich gleichsam versinnlicht und verleiblicht.“50 Die quaestio regte den Schüler zum Nachdenken an, der „Fragen stellte und die Texte nur noch als Unterlagen benutzte.“51 Die quaestio disputata wurde als methodisch institutionalisierte Schulung praktiziert und gehörte als rationale Methode zum wesentlichen Bestandteil der Scholastik.52 Ein hervorragendes Beispiel für die drei Ontologien (die göttliche, engelsche und menschliche) und ihr Verhältnis zueinander demonstriert Thomas in seinen 11 Vorlesungen über den Prolog des Johannes-Evangeliums, Verse 1–18.53 Die Narratio der Bibel gilt ihm als unbezweifelbar, die Wahrheit kann nach Thomas durch vernünftige Überlegungen gefunden werden, ohne jedesmal die Heilige Schrift zu bemühen. Thomas geht es in seinem Kommentar um Aufklärung des Verhältnisses von erleuchteter Erkenntnis und gedanklich-argumentativer Vernunfterkenntnis. Sorgfältig unterscheidet er zwischen den Semantiken der Termini verschiedener Ontologien, zwischen eigentlichen und uneigentlichen Bedeutungen sowie Sinn- und Abbildern. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen wird die ‚Macht des gesprochenen Wortes‘ herausgestellt, die dem göttlichen Wort innewohnt. Die vier ersten Aussagen des Evangeliums lauten: 1. Im Anfang war das Wort – In principio erat Verbum; 2. und das Wort war bei Gott – et Verbum erat apud Deum; 3. und Gott war das Wort – et Deus erat Verbum. 4. Dieses war im Anfang bei Gott. – Hoc erat in principio apud Deum. Ihre Analyse bestimmen die erste Vorlesung. Der thematische Bogen des Prologes spannt sich von „das Wort, der Sohn Gottes“ bis zur Kennzeichnung „der vollkommene Lehrer.“ Die Struktur folgt der natürlichen Ordnung Sein – Leben – Denken. Das Sein sei ein Vierfaches: 1. „wann das Wort (verbum) war“ (Im Anfang war das Wort); 2. „wo das Wort war“ (bei Gott); 3. „was es war“ (Gott) und 4. „auf welche Weise es war“ (im Anfang bei Gott). Die ersten 50  Grabmann

51  Ebd. 52  Ebd.

1988, S. 36 f. S. 150.

53  Thomas von Aquin: Super Evangelium S. Joannis Lectura (Caput I., Lectio I– XI). Der von Klünker herausgegebene Prolog des Johann-Evangeliums, Stuttgart 1986, basiert auf der lateinischen Ausgabe Parma 1860/61. Thomas legte für seinen Johannes-Kommentar die Vulgata zugrunde.

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beiden Aussagen antworten auf die Frage „Ob das Wort ist?“ und die beiden letzten auf die Frage „Was das Wort ist?“. Thomas geht bei der Bestimmung des Wortes vom Erfahrungsbereich des Menschen aus und unterscheidet zwischen innerem und äußerem Wort. Das innere Wort wird vom Menschen im Denken hervorgebracht und ist die Ursache des äußeren Wortes, auf welches man hören muss, um das innere kennen zu lernen. In dem inneren Wort verbirgt sich das Wesen (natura) des gedachten Objekts. Denkt der menschliche Geist (intellectus) sich selbst, spricht Thomas vom Begriff (ratio) bzw. vom Abbild (similitudo) der Vernunft selbst. Um das wahre Wort in sich selbst zu finden, muss der Mensch nachdenken; der Begriff von einem Gegenstand muss durch eine innere Selbstbewegung erst gefunden werden. Das Göttliche Wort ist vollkommen, hat dieselbe Natur wie Gott, denn Denken und Sein sind bei Gott identisch, das Wort ist wesenhaft (substantialis) Gott und ein Sein in der Gottheit (in hypostasi ens), sein Wort ist immer Wirklichkeit; das menschliche ist unvollkommen, es ist nicht von derselben Natur wie der Mensch, menschliche Worte sind Kräfte (virtutes) der Seele, es hat ein Sein in der Seele. In der mittelalterlichen Kultur war man darum bemüht, neben dem buchstäblichen und faktischen Verständnis beliebiger Erscheinungen auch eine symbolische oder mystische Erklärung für sie zu finden, „die die Geheimnisse des Glaubens aufdeckt.“54 Wenn auch unser heutiges Verhältnis zur Welt ein anderes als die Weltempfindung und Weltanschauung der Menschen in der Epoche des Mittelalters ist, so haben wir auch heute sogenannte Geheimnisse aufzuklären, worunter auch das Verhältnis von natürlicher und künstlicher Intelligenz sowie Geist und Seele zählt. Wenn es zutrifft, dass die menschliche Natur, insbesondere die Psychologie, eine Konstante in der geschichtlichen Entwicklung darstellt, dann dient ein Rückgriff auf Problemstellungen der Vergangenheit oft dazu, eine ähnliche Problemstellung in der Gegenwart mit den vergangenen analogisch zu vergleichen und mit modernen Möglichkeiten erneut zu analysieren. Literaturverzeichnis Aristoteles: De anima. Augustinus, Aurelius: De trinitate, in: Migne, Patrolologia Latina, t. XLII, Paris 1886. Becker, J. B.: Credo quia absurdum, in: Katholik (1903). Beemelmans, Friedrich: Zeit und Ewigkeit nach Thomas von Aquino, in: Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, Bd. XVII, Heft 1, Münster 1914. 54  Gurjewitsch

1978, S. 61.



Erklärungsversuche mittelalterlicher Weltvorstellungen371

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Günter Schenk

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Wenn Sätze Eigennamen wären Von Christian Thiel Eine der Eigentümlichkeiten der von Frege 1892 eingeführten terminologischen Unterscheidung von „Sinn“ und „Bedeutung“ sprachlicher Ausdrücke ist es, dass zu den sprachlichen Ausdrücken auch ganze Sätze zählen und einem ganzen Satz als Sinn ein „Gedanke“ und als Bedeutung ein „Wahrheitswert“ zugeordnet wird, nämlich im Falle der Wahrheit des Satzes der Wahrheitswert „das Wahre“ und im Falle seiner Falschheit der Wahrheitswert „das Falsche“1. Frege ist sich der Problematik dieses Vorgehens bewusst. Er betrachtet zu dessen Rechtfertigung die Ersetzung eines in einem Satz enthaltenen Eigennamens durch einen anderen von gleicher Bedeutung. Während dies keinen Einfluss auf die Bedeutung des Gesamtsatzes haben könne, verändere die Ersetzung eines in einem Satz enthaltenen Wortes durch eines von anderem Sinne im allgemeinen den Sinn des ganzen Satzes. Daher komme der von einem Satz ausgedrückte Gedanke nicht als dessen Bedeutung in Frage. So deutet sich ein „Kontextprinzip“ an, durch dessen Erörterung Frege zeigen will, dass wir nach der Bedeutung eines Satzes immer dann fragen, „wenn es auf die Bedeutung der Bestandtheile ankommt, und das ist immer dann und nur dann der Fall, wenn wir nach dem Wahrheitswerthe fragen“2. Durch diese Reflexion fühlt sich Frege „dahin gedrängt, den Wahrheitswerth eines Satzes als seine Bedeutung anzuerkennen“3. Freilich wird die Plausibilität des Vorschlags nicht unbedingt erhöht durch die damit verbundene Folge, dass dann „einerseits alle wahren Sätze dieselbe Bedeutung [haben], andrerseits alle falschen“4. Freges Erweiterung des Bedeutungsbegriffs ist in der Sekundärliteratur auf Bedenken und Ablehnung gestoßen und hat zum Teil heftige Kritik erfahren. Baker und Hacker, denen zufolge die Angleichung allgemein als „a disastrous mistake“5 gilt, sehen in ihr „an unmitigated disaster“6. Auch Dummett 1  Vgl.

SuB, S. 32–34. S. 33. 3  SuB, S. 34. 4  SuB, S. 35. 5  Baker/Hacker 1984, S. 9. 6  Ebd., S. 125. 2  SuB,

374

Christian Thiel

spricht von dem „disastrous step which Frege took of assimilating sentences to proper names“7 und diagnostiziert einen „fatal effect upon Frege’s theory of meaning“8, sympathisiert allerdings mit dem durch den problematischen Schritt angesteuerten Ziel: einer „great simplification in Frege’s ontology, at the price of a highly implausible analysis of language“9. Dummetts zwiespältiges Urteil wird dadurch verständlich, dass sich die „Analyse der Sprache“ hier nicht nur auf die natürliche Sprache bezieht, der sich der Aufsatz „Über Sinn und Bedeutung“ fast ausschließlich gewidmet hatte, sondern auch auf die von Frege als „Begriffsschrift“ bezeichnete formale Sprache seiner Grundgesetze der Arithmetik. Da dies nicht nur eine abermalige Erweiterung der Überlegungen darstellt, sondern Zweifel aufwirft, ob die sogenannten „Sätze“ der Mathematik überhaupt Sätze im Sinne der natürlichen Sprache sind, ist ein genauerer Blick auf das begriffliche Instrumentarium der Grundgesetze der Arithmetik unvermeidlich. In diesem Magnum Opus will Frege die in seinen Grundlagen der Arithmetik 1884 vorgetragene Vermutung, dass die Sätze der Arithmetik sämtlich analytisch seien, durch ihre lückenlose Herleitung aus rein logischen Prinzipien bestätigen. Ob zu diesen auch Gesetze der Begriffsumfänge (nach neuerer Auffassung also der Mengen) gehören, soll uns hier nicht interessieren, umso mehr dagegen, dass auch Freges Erweiterung der Sinn-BedeutungUnterscheidung auf seine formale Sprache hier in einem umfassenden Kontext erfolgt. Bei diesem geht es nicht nur um eine „einheitliche Theorie von Sinn und Bedeutung“ (Thiel 1965, S. 102, auch von Dummett 1973 auf S. 401 als „uniform semantic treatment for all contents“ betrachtet), sondern um nichts Geringeres als einen lückenlosen und durchgehend sicheren Aufbau von Arithmetik und Analysis. Diesen soll eine akribische, über die Ansprüche der zeitgenössischen Mathematik weit hinausgehende Definitionslehre garantieren, indem sie dafür sorgt, dass jedem „rechtmäßig gebildeten“ Ausdruck der verwendeten formalen Sprache eine (und auch nur eine) Bedeutung zugewiesen wird. Ist dies der Fall, so heißt das für den Aufbau verwendete formale System bedeutungsvollständig. Ließe sich die Bedeutungsvollständigkeit der Fregeschen Grundgesetze der Arithmetik nachweisen, so wäre damit auch deren Widerspruchsfreiheit bewiesen – jedenfalls nach Meinung u. a. von Thiel 1975, Sluga 1980 und Dummett 1995. Rechtmässig gebildet nennt Frege nämlich einen Namen, „wenn er nur aus solchen Zeichen besteht, welche ursprünglich oder durch Definition eingeführt sind, und wenn diese Zeichen nur als das verwendet sind, als was sie eingeführt sind, also Eigennamen als 7  FOP,

S. 242. S. 184. 9  Ebd., S. 183. 8  FOP,



Wenn Sätze Eigennamen wären375

Eigennamen, Namen von Functionen erster Stufe mit einem Argumente als solche u. s. w.“10. Insbesondere gehören zu den ursprünglichen Funktionen (in heutiger Terminologie) die Gleichheit, die Subjunktion, die Allquantifikation erster und zweiter Stufe, aber auch die Waagerechten-Funktion – ξ und die Negation ┬ ξ. Dabei soll der Wert – Δ das Wahre sein, wenn Δ das Wahre ist, das Falsche aber, wenn dies nicht der Fall ist; der Wert der Funktion ┬ ξ dagegen soll „für jedes Argument das Falsche sein, für das der Werth der Function – ξ das Wahre ist, und soll für alle andern Argumente das Wahre sein“11. Wäre das System der Grundgesetze der Arithmetik widerspruchsvoll, wären also z. B. zwei Sätze, deren einer das Fregesche Negat des anderen ist, mit Hilfe des ex contradictione quodlibet, der beiden Hälften der ZermeloRussellschen Antinomie als Prämissen und der Abtrennungsregel herleitbar, so hätten sie die Gestalt „– A“ und „┬ A“ und wären daher Namen entgegengesetzter Wahrheitswerte, obwohl sie doch beide als herleitbare Sätze das Wahre bedeuten müssten12. Freges Überlegungen in den §§ 29–31 der Grundgesetze der Arithmetik waren freilich keineswegs aus der Luft gegriffen. Beispielsweise nennt er einen einstelligen Funktionsnamen erster Stufe bedeutungsvoll (schreibt ihm also eine Bedeutung zu), „wenn der Eigenname, der aus diesem Functionsnamen dadurch entsteht, dass die Argumentstellen mit einem Eigennamen ausgefüllt werden, immer dann eine Bedeutung hat, wenn dieser eingesetzte Eigenname etwas bedeutet“13. Auf vergleichbare Weise soll jeder aus bedeutungsvollen Namen gebildete Name etwas bedeuten. Frege will damit nicht erklären, was mit „eine Bedeutung haben“ und „bedeutungsvoll sein“ gemeint ist; man müsse ja stets „einige Namen schon als bedeutungsvolle erkannt haben“14. Doch könne man den Kreis solcher Namen allmählich erweitern, und mit dieser Absicht geht Frege zu Beginn des § 31 „davon aus, dass die Namen von Wahrheitswerthen etwas bedeuten, nämlich entweder das Wahre oder das Falsche. Wir erweitern dann den Kreis der als bedeutungsvoll anzuerkennenden Namen, indem wir nachweisen, dass die aufzunehmenden mit den schon aufgenommenen bedeutungsvolle Namen bilden, indem die einen an passende Argumentstellen der andern treten“15. Für unsere Thematik erscheint nun aber gerade Freges Ausgehen von den Sätzen als Namen der Wahrheitswerte der Haken an der Sache, wenngleich mit Sicherheit kein einfacher Zirkelschluss vorliegt. Dennoch dürften weitere 10  GGA

I, S. 45. I, S. 10. 12  Vgl. Thiel 2003, S. 63. 13  GGA I, S. 46. 14  Ebd. 15  GGA I, S. 48. 11  GGA

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Christian Thiel

Überlegungen dazu ebenso müßig sein wie solche zur Änderung der Regeln für die rechtmäßige Bildung von Ausdrücken, da entscheidende Schritte in Freges Beweisversuch für die Bedeutungsvollständigkeit seiner Grundgesetze der Arithmetik als missglückt gelten müssen. Über die Gründe dieses Scheiterns sind sich die Experten nicht einig, jedenfalls ist nicht Freges Erweiterung des Bedeutungsbegriffs auf „Sätze“ formaler Systeme dafür verantwortlich; für Thiel 1975 und 1979 liegt die Schuld bei den zu Freges Regeln der rechtmäßigen Bildung gehörenden „Lückenbildungsprinzipien“. Diese Regeln müssten demnach abgeändert werden, reparaturbedürftig wäre das System der Grundgesetze. Ob nach einer solchen Korrektur ein Beweis der Bedeutungsvollständigkeit möglich wäre, ist reine Spekulation. Diese könnte aber auch entfallen, wenn sich nämlich herausstellte, dass es für einen solchen Beweis nicht mehr nötig wäre, Wahrheitswerte als Bedeutungen der „Sätze“ heranzuziehen (was dann den Gedanken zumindest nahelegen würde, auf sie auch als Bedeutungen von Sätzen der natürlichen Sprache zu verzichten). Einigen Aspekten dieser Idee soll mit Blick auf das Titelthema noch weiter nachgegangen werden. Frege hat seine Leserschaft an vielen Stellen durch ungewöhnliche Vorschläge verstört und vielleicht von der weiteren Lektüre seiner ohnehin nicht einfachen Schriften abgehalten. Das Tertium non datur scheint ihm die scharfe Begrenzung aller Begriffe zu erfordern und führt ihn dazu, für die Ergebnisse aller Einsetzungen in die Leerstellen ihrer Ausdrücke unabhängig von der Kategorie der eingesetzten Argumente eine Bedeutung festzulegen. So verlangt Frege 189116 und erneut 1896/97 für Ausdrücke wie „☉ > 2“ eine Bedeutung, weil es eine solche für jeden in „ξ > 2“ eingesetzten Eigennamen geben muss, der selbst eine Bedeutung hat (wie in unserem Fall ☉, die Sonne). Ebenso verlangt Frege in GGA II, dass erklärt werde, was die Hälfte des Mondes sei, damit die Bedeutung des Wertes von „½ ξ“ bei Einsetzung eines Zeichens für den Mond in die Leerstelle „ξ“ feststehe. Mehr noch irritiert Frege in unserem Zusammenhang die Leser und Leserinnen seiner Grundgesetze der Arithmetik durch zwei unscheinbare Hinweise. Nach der Erklärung des Waagerechten17 bedeutet „– 2“ das Falsche und „┬ 2“ das Wahre, so dass sogar ├┬─ 2 gilt18, obwohl das Zeichen „2“ gar keinen Gedanken ausdrückt. Aber § 32 macht klar, dass durch die getroffenen Festsetzungen bestimmt sei, unter welchen Bedingungen (irgend)ein Name das Wahre bedeute, und „der Sinn dieses Namens, der Gedanke ist der, dass diese Bedingungen erfüllt sind“19. Somit „haben wir in jedem rechtmässig 16  FuB,

S. 19. GGA I, S. 10. 18  GGA I, S. 11. 19  GGA I, S. 50 f. 17  In



Wenn Sätze Eigennamen wären377

gebildeten Begriffsschriftsatz ein Urtheil, dass ein Gedanke wahr sei, und ein Gedanke kann nun gar nicht fehlen“20 – was zumindest bei dem Beispiel ├┬─ 2 verblüffen dürfte. Welche Folgen hätte es, wenn Sätze wirklich Eigennamen wären, wir sie also als solche behandelten? Frege schiene gerechtfertigt mit seiner Annahme, dass Sätze Eigennamen von Wahrheitswerten seien, und somit auch mit seinem Verfahren, in den Grundgesetzen der Arithmetik Aussagen als spezielle Gegenstandsnamen auch für Gegenstandsvariable in Begriffsschriftformeln einzusetzen21. Man könnte dann zwar darüber staunen, dass dieses stark veränderte und offenbar verbesserte System der Grundgesetze überhaupt funktioniert, ohne binnen kurzem auf Widersprüche oder zumindest Ungereimtheiten zu stoßen. Insofern müsste man dann Dummetts Bewunderung für die Eleganz des durch den erweiterten Bedeutungsbegriff ermöglichten formalen Systems teilen. Andererseits hat Dummett sicher Recht mit dem Hinweis auf Implausibilitäten und Verstöße gegen überzeugende natürlich-sprachliche Intuitionen, die sich Frege mit seiner einheitlichen Semantik einhandelt. Hatte sich noch in den späten 1930er und den 1940er Jahren Alonzo Church um eine umfassende Semantik von Sinn und Bedeutung im Geiste Freges bemüht, wird sich heute kaum noch jemand finden, der sich ein solches Ziel setzt. Muss man sich also der zwiespältigen Haltung Dummetts anschließen? Wollen wir beurteilen, ob Frege die Rolle von Sätzen und Eigennamen in der Sprache verkannt hat, müssen wir uns deren Rollen selbst vor Augen führen – unabhängig davon, wie Michael Dummett darüber gedacht hat. Man vergegenwärtige sich dazu, dass wir bei der Eingewöhnung in den Gebrauch unserer natürlichen Sprache auch die Verwendung von Indikatoren, Prädikatoren, Eigennamen und Kennzeichnungen erlernen – nicht nacheinander in irgendeiner Reihenfolge, sondern durch das schlichte Vertrautwerden mit ihrer in der Sprachgemeinschaft akzeptierten Rolle in Aussagesätzen. Es ist dabei gleichgültig, ob wir z. B. Eigennamen als Kurzformen für Kennzeichnungen kennenlernen (wie Frege in „Über Sinn und Bedeutung“ nahelegt) oder als Situationsunabhängigkeit bringenden Ersatz für Indikatoren (wie einst die Erlanger Logische Propädeutik vorschlug). Zugleich werden wir aber auch mit der Unterschiedlichkeit der Rollen vertraut, die Eigennamen einerseits, Aussagesätze andererseits in der sprachlichen Kommunikation spielen. Wir gebrauchen Eigennamen und Kennzeichnungen, um uns auf (evtl. abwesende, insbesondere schon historische) Personen und andere Gegenstände (wie Bauten, astronomische Objekte etc.) zu beziehen. Unverzichtbar ist auch der Erwerb der Einsicht, dass wir mit Aussagesätzen nicht 20  Ebd. 21  Vgl.

Thiel 1979, S. 484.

378

Christian Thiel

nur Situationen beschreiben können, sondern vielfach auch einen Wahrheitsanspruch für deren Bestehen stellen. Meist sehr viel später kommt noch die Erkenntnis hinzu, dass wir mit einer solchen Behauptung gegenüber den Partnern in unserer Kommunikation eine Begründungspflicht übernehmen – also nicht nur den Wahrheitswert „das Wahre“ bezeichnen, wie es bei Frege zu sein scheint, sondern eine (gemeinsame oder individuelle) „Verifikation“ der in unserem Aussagesatz beschriebenen Situation in Aussicht stellen. Es versteht sich, dass es die unterschiedlichsten Kommunikationszusammenhänge gibt, in denen dies verwirklicht wird. Dummett hatte Freges Einführung der Wahrheitswerte als Bedeutungen von Sätzen der natürlichen Sprache für gänzlich verfehlt gehalten, zugleich aber die Anwendung des Sinn-Bedeutung-Schemas auf die Begriffsschrift der Grundgesetze fast leidenschaftlich verteidigt. Hier nämlich habe Frege eine formale Sprache konstruiert, „the senses of whose formulas were to depend solely on his stipulations in Part I. These formulas were therefore not responsible to anything. They were not meant to serve a pre-assigned purpose, and so did not need to be shown to achieve it: they meant whatever Frege’s stipulations laid down what they were to mean. And, for that reason, there could be no question of justifying those stipulations, or the terms employed to express them; the formal language has just that interest which Frege’s stipulations confer on it“22. Unbefriedigend an diesem Plädoyer ist, dass Dummett in beiden Fällen eine Anwendung des technischen Vokabulars der Fregeschen „theory of ­meaning“ sieht. Im Fall der formalen Sprache ließe sich der Wahrheitsanspruch der Sätze des Systems ja auch anders kenntlich machen als durch ihre Erhebung zu Namen des Wahren. In der Gesamtheit aller im Fregeschen Sinne „bedeutungsvollen“ Ausdrücke könnten z. B. solche wie „3 > 2“ gegenüber „☉ > 2“ ähnlich ausgezeichnet werden wie die korrekt erklärten Terme in Booles logischen Umformungen gegenüber den von ihm unerklärt gelassenen Termen, oder wie die konstruktiv deutbaren Formeln gegenüber den so nicht deutbaren, nur klassisch gültigen Formeln in Hilberts Metamathe­ matik. Wenig würde daran liegen, ob die relevanten Namen dann als Träger von „Bedeutungen“ oder einfach als „signifikant“ ausgezeichnet würden (im Unterschied zu den übrigen, vielleicht „supplementär“ zu nennenden). Auf Wahrheitswerte als Bedeutungen der Begriffsschriftsätze oder ihrer Negate könnte man jedenfalls verzichten, und erst recht im Falle von „Sätzen“ wie „┬ 2“ bzw. „├┬─ 2“. Für mathematische und logische Sätze würde dann immer noch das Kontextprinzip gelten, sofern ihr syntaktischer Aufbau der Struktur des ausge22  IFP,

S. 14.



Wenn Sätze Eigennamen wären379

drückten mathematischen (oder logischen) Gedankens entspricht; die „Bedeutung“ der Sätze könnte dann etwa im Sinne Russells oder Rosado Haddocks in „situations“ oder „states of affairs“ (mathematisch-logischen Sachlagen oder Sachverhalten) gesehen werden. Eine Fregesche Bedeutungssphäre würde sich erübrigen, wie ja auch der späte Frege selbst die Erweiterung der Kontextthese um eine solche aufgegeben hat, weil ein Ausdruck wie „die Hauptstadt von Frankreich“ den Teilausdruck „Frankreich“ enthält, Frankreich aber kein Teil von Paris ist. Diese Einsicht dürfte auch für Freges Bedeutungstheorie der natürlichen Sprache Gültigkeit haben, unbeschadet der von Frege aufgewiesenen (und z. T. noch in LM, S. 243, vorgetragenen) Invarianz- und Kovarianzverhältnisse zwischen Ausdrucks- und Gedankensphäre. Diese bleiben ja ganz unberührt von den bei Dummett sehr zu Recht hervorgehobenen semantischen Rollen23. Bevor wir uns von der eigenwilligen Semantik Freges verabschieden, sollen freilich noch einige mögliche Missverständnisse des Kontextprinzips abgewehrt werden. Obwohl Frege selbst an manchen Stellen auf den Beitrag des Sinnes von Satzteilen zum Sinn eines Satzes hinweist, an anderen Stellen aber darauf, dass bestimmte Ausdrücke nur im Satzzusammenhang einen Sinn haben, wird als Kontextprinzip oft der in Freges Die Grundlagen der Arithmetik festgehaltene Grundsatz hingestellt: „nach der Bedeutung der Wörter muss im Satzzusammenhange, nicht in ihrer Vereinzelung gefragt werden“24 (wobei hier unter „Bedeutung“ ungefähr das zu verstehen ist, was Frege später den Sinn nennen wird). Thiel 1965 betont, „daß Wörter nicht durch den Satzzusammenhang, wenn auch nur in ihm Sinn und Bedeutung haben“25; sie „haben ihren Sinn schon stets und ausschließlich im Hinblick auf den Kontext der Rede und damit im Hinblick auf den Zusammenhang von Sätzen“26. Im Detail sind die Verhältnisse aber durchaus komplex. Sucht man nach einem Fazit zu diesen wahrhaft vertrackten Überlegungen und nach einer Antwort auf die im Titel dieses Beitrags implizit enthaltene Frage, so spricht alles dafür, sich einer eher beiläufigen Bemerkung Dummetts anzuschließen, der feststellt27: „There is no sensible answer to the question ‚What are sentences names of?‘, taken in isolation, unless it be ‚They are not names at all‘ “.

23  Vgl.

FPL, S. 429 oder IFP, S. 47 und öfter. S. X. 25  Thiel 1965, S. 131. 26  Ebd. 27  FOP, S. 178. 24  GLA,

380

Christian Thiel

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Translating Wittgenstein: the Emergence of Practice Theory By James Thompson Wittgenstein’s influence both inside and outside of academic pursuits is universally acknowledged, but at the same time, the self-evidence of this claim, more often than not, represents an unintended obstacle to the willingness to actually flesh out wherein his influence consists. This situation is further complicated within Wittgenstein research, in part, due to the ongoing struggle as to whether Wittgenstein (at any point within his research) was or was not engaging in a positive project. I have been fascinated by the general topic of Wittgenstein’s lasting influence on contemporary research for quite a few years before I encountered “practice theory.” Having been surrounded by phenomenologists and pragmatists during my graduate studies, I became intrigued by some of the apparent similarities I began to notice between ideas Wittgenstein was working on and those of thinkers like Dewey (on private language and a use-oriented theory of meaning), Mead (on the notion of taking on roles within an activity), Heidegger (the fundamental situatedness of humans within a broader context of significance), and Merleau-Ponty (the performative and bodily nature of language, meaning, and expression). Several years later, my second brush with this topic came as I began working at the University of Halle and was eventually integrated into the interdisciplinary research cluster “Society and Culture in Motion.” At the time, a unique institutional pairing of philosophy and social anthropology had just been forged; at the same time, an even broader research context was in the process of being established by Matthias Kaufmann and Richard Rottenburg. While the original intention of this research cluster was to cater to the still prevalent demand for interdisciplinary research, the resulting group was quite successful in developing research questions that actually integrated the participating disciplines (vs. the more common parallel research approach). One of the beneficial side effects of these events was that I came into contact with a fair amount of sociological as well as social and cultural anthropological literature. It was within this cooperative context that I eventually came across what has come to be known as “practice theory.”

382

James Thompson

As the title of this contribution indicates, I am primarily interested in how Wittgenstein has influenced or impacted research in the social sciences, specifically looking at practice theory. I will mention what I consider to be the two primary points of connection between Wittgenstein’s work and recent (or almost recent) research, discuss practice theory, and then talk about the work of several practice thinkers and how these Wittgensteinian notions manifest themselves (respectively) in their research. However, before I discuss what practice theory is (and isn’t), I would like to set the stage and briefly talk about the notion of influence. As we know, influence is a tricky thing and has a variety of meanings ranging from the direct appropriation of questions, methodologies, approaches, concepts, and ideas to inspiring a particular way of seeing things or even the style and aesthetic manner in which we go about acting. And while Wittgenstein can be said to have influenced others in each of the ways I just mentioned, ascertaining the kind and extent of influence is rarely a straightforward matter. And in the case of Wittgenstein, we come across further complications. When confronted with such a difficult task, I am reminded of what Herbert Spiegelberg wrote about influence when discussing those thinkers said to have “influenced” Wittgenstein: Not only in general is “influence” a very complicated affair, presupposing receptiveness on the part of the recipient. In the case of a Wittgenstein it could hardly ever amount to anything more than a stimulant and a release for his own thinking.1

In the context in which this statement was made, Spiegelberg was trying to shift our attention away from what he considered the secondary question regarding the source(s) of Wittgenstein’s use of the term “phenomenology” to asking about his understanding of the term and to what end was he using it. I think there is something quite right about this way of understanding influence in general, and perhaps it even captures an idea closely related to Wittgenstein’s own thinking, that is, to not simply defer to historical explanations when trying to account for practices and meaning. So, while I will indeed mention those aspects of Wittgenstein’s thought that influenced later practice theorists in the social sciences (and beyond), this should not be mistaken for an attempt to understand these appropriations and further developments in terms of the “originals.” Instead, the point here is to try and ascertain how Wittgenstein’s ideas, concepts, and insights have resonated within, been taken up, and modified by figures within the social sciences, rather than focusing too much on finding a causal link or definite acknowledgment of influence. And although I freely admit that knowing what was appropri1  Spiegelberg

1981, p. 250.



Translating Wittgenstein: the Emergence of Practice Theory383

ated and by whom obviously contributes to our understanding of influence, by not overemphasizing this aspect, we do not let ourselves become distracted by questions about the accuracy or fidelity of the appropriation; we effectively bracket out the question about what Wittgenstein “really” meant. I. What is Practice Theory? Like many difficult and allusive topics, when talking about practice theory, it is usually easier to begin by mentioning what it is not. The label or term itself, i. e. “practice theory” is misleading in at least several different ways: (1)  practice theory is not really about a theory of practices; (2)  it does not advocate that “theory” is separable from “practice” (on the contrary); (3)  the term does not identify or designate a specific group of adherents or constitute a specific methodology. Instead, practice theory derives from a fundamental insight achieved in the so-called “practice turn,” namely the primacy of practice. Interestingly enough, all three of the major philosophic branches (pragmatism, phenomenology, and analytic philosophy) – despite their obvious differences – arrived at this insight more or less independently of one another in the philosophical writings of Wittgenstein, Dewey, and Heidegger. And because practice theory appropriates the work of not just Wittgenstein but also Heidegger and Dewey, I often refer to them as the grandfathers of practice theory. Now, one point in particular might have jumped out at you, namely point 3. On this point, almost everyone writing on the topic is in agreement: there is neither a clear and distinct definition of practice theory, nor a common thread running through all approaches.2 Whether Schatzki, Stern, Ortner, Postill, or Rouse, they all contend that the proponents of practice theory could be described as a more or less related group of thinkers who take practices as an analytic category of investigation. They do not follow any particular method, investigate the same objects, or share specific aims. Any one or combination of actions, interactions, performances, experiences, practices, etc. can become the object or mode of analysis. Furthermore, the vocabularies of the different fields of practice theory often overlap without consensus as to the meaning of the terms.3 Such commonly used terms include, but are not limited to, concepts such as the fol2  Postill 3  Stern

2010, p. 6. 2003, p. 186.

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lowing: praxis, performance, context, activity, use, language-game, customs, habits, coping skills, normative orders, dispositions, rules, equipment, habitus, patterns, background, paradigm, and tacit knowledge.4 Rather than being considered a weakness, I think this heterogeneity simply reflects the complexities and intricacies of the phenomena being investigated, and represents one of the strengths of taking practices as a focus of investigation. If practice theory doesn’t designate a specific group or approach, then the obvious question is “what is it”? Stern offers a useful description stating that by “taking practices as our point of departure or a fundamental category,” we can “rethink our theories from the ground up,” thereby freeing ourselves from the “Procustean yet seemingly inescapable categories” perceived as given.5 The importance of this re-orientation or ‟turn” should not be underestimated – even if today we like to believe that the insights accompanying these “turns” have long since been recognized and assimilated. The bulk of the history of philosophy and the sciences has been concerned with the nature of knowledge and truth (whether as justified true belief, correspondence theories, or instrumental truth theories) and the objects of investigation, namely the immutable and timeless actions, reactions, elements and structures of the world. After all, facts are facts because their constituent parts and laws of structure and composition should hold true in the present, past, and in all possible futures – they are considered to be ahistorical and free from contingency. It was only with the linguistic and practice turns in the first half of the 20th century that practices became a legitimate and important focus of our various scientific investigations and that questions concerning the production of knowledge, the possibility of different kinds of knowledge (not hierarchically understood), or even a groundless foundation of knowledge were taken seriously. The “turn” is one away from a static and universal conception of knowledge and knowledge acquisition − which presents us with finished and apparently real divisions and categories of the world, e. g. dichotomies such as subject/object, mind/body, rules/rule-following, individual/society, appearance/reality, and form/content − and toward how we participate with the world, that is, the activities we engage in, the various actors, artifacts, things involved, not to mention social and cultural dispositions. Now that I have pointed out what practice theory is not, I would now like to focus on what it is about. Whereas I agree with the other authors about practice theorists representing a more or less tightly knit group employing a 4  A

modified version of a list provided by Stern 2003, p. 186. 2003, p. 185.

5  Stern



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variety of different methodologies and studying different objects of analysis, I disagree with them about there being no points of connection between them. In fact, I think there are two points shared by practice theorists: 1.  the primacy of practice 2.  the re-introduction of agency

The primacy of practice means more than simply that practices are not only the fundamental object of analysis, but they are also the lens through which questions of knowledge, meaning, value, identity, are approached and analyzed. However, this primacy is neither primitive, nor exclusive; its priority does not lay absolute claim to being the source of knowledge and significance. Rather, as Wittgenstein says of language-games, practices are Urphänomene,6 they are proto-phenomenon, originary-phenomenon, and therefore represent a limit (of sorts) of useful investigation. In other words, the attempt to go further, to penetrate deeper into the phenomena in order to find ever smaller elements does not automatically provide us with a more complete explanation, because often there is no deeper level of analysis to penetrate (and even if there were, such a microanalysis still wouldn’t be of much assistance in grasping the practice). Moreover, this “ur,” proto-or originary character Wittgenstein emphasizes underlines the dynamic nature of practices, i. e. their contingency, stability, and above all the creativity associated with their production and reproduction. Finally, the third aspect of the primacy of practice often overlooked in Wittgenstein’s thought is that, while practices are fundamental constituents of meaning, significance, identity, function, etc., they are not the only ones; practices are but one (admittedly important) dimension in their constitution. This last point, the multi-dimensional constitution, brings me to the second important point of connection between practice theorists: the re-introduction of agency into the organization and aims of activities and practices. For much of the tradition, the dominant conception of the “subject” was decidedly rational, mind-oriented, and self-contained (Aristotle, Descartes). This overemphasis of the mental in our understanding of agency was even­ tually toppled by a decidedly more bodily-oriented view of our actions in terms of a stimulus-response understanding of action analyzed in terms of our behavior. According to the behaviorist model, there really is no room (nor need) for an agent of activity; the determining factor of action agency has shifted to the situation or environment enveloping a body. 6  Wittgenstein 1963, PU § 654, also § 656, PU § 654: “Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ‘Urphänomene’ sehen sollten. D. h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt.” § 656: “[…] Sieh auf das Sprachspiel als das Primäre! […].”

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In order to flesh out my two claims, that is, understand the primacy of practice and complex agency, we need to take a closer look at the notion of practice itself. After this, I will then try to show how the primacy of practice and embodied agency manifest themselves in the work of three practice theorists: Pierre Bourdieu, Karin Knorr-Cetina, and Theodore Schatzki. What are practices? On the one hand, we are surrounded and consumed by practices. Yet, despite our expertise as participants in these practices, it can be difficult to say where one begins and another ends. Perhaps the social and cultural anthropologists have, in this respect, an advantage over most other disciplines. They are trained to immerse themselves in events without losing themselves therein. This doesn’t mean, however, that practices − with proper training − are in essence clear and distinct. The opaqueness of many practices can be attributed to a number of factors. Practices are rarely easily distinguishable unities completely isolated from one another as Wittgenstein’s language-games are sometimes mistakenly interpreted. Instead, their opacity is tied to the overlapping, interpenetrating, and interwoven character of organized and (often) cooperative social orders. They are difficult to see clearly precisely because they are tangled up with other language-games and practices. Schatzki7 rightly states that practices are integrative parts of non-random social orders, and such orders involve specific arrangements or assemblages of entities that occur with regularity and possess a specific form or pattern. However, he also cautions that practices cannot be reduced to patterns and regularity. As I alluded to before, the primacy of practice is more than just a focus on what we do and how we do it. In what follows, I will list those aspects of practices that not just Wittgenstein, but Dewey and Heidegger emphasize as well: (1)  the situatedness or embeddedness of practices. Practices are extended both temporally and spatially. They take place somewhere and at some point in time, and this location at the “right” time are constitutive in that they (2)  take place within a specific and concrete context. A practice is situated (equally) within a specific as well as broader context, both of which in different ways contribute to its determination. Moreover, practices are (3)  composed of a number of heterogeneous entities or elements whose (4)  arrangement is significant. Not just any grouping of elements is sufficient, but only specific groupings or arrangements of elements can be carried out as a practice. In addition to not being arbitrary, the significance of the arrangement is primarily determined internally, thus 7  Schatzki

2002, pp. 18–25; 2001b, p. 53.



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(5)  the interconnectedness of elements − i. e. how they “hang together” − is crucial to (6)  the determinative constitution of practices. It is the interrelations between elements (including actors, objects, tools, artifacts, language, etc.) that determine the meaning and value of any given element or group of entities (and these meanings and values can change as the practice progresses). Furthermore, these interrelations can both integrate and segregate elements as belonging or not belonging to the practice. Lastly, practices are (7)  constantly evolving, thus open-ended activities. The underdetermination8 of practices is important because it allows for adaptation, variation, and change, all of which makes further repetition possible. Underdetermination enables creative appropriation and means that practices, and the actions within them, draw upon an inexhaustible semantic and ontological pool of sense and being. This list is by no means exhaustive; things like stability and instability, actual vs. hypothetical, concreteness, texture, difference and sameness, etc. all factor into practices as well. My intention here was simply to highlight several of the significant aspects intimately tied to the notion of practice in the hopes of shedding some light on the ways practice theorists work with them. I would like to briefly turn to the work of Bourdieu, Knorr-Cetina, and Schatzki in order to show how these two ideas − the primacy of practice and embodied agency − play out. I have selected these figures in part because they work in different disciplines (sociology, social anthropology/STS, and philosophy) and demonstrate the different approaches. II. Bourdieu, Knorr-Cetina, and Schatzki: Constitutive Practices and Agency For all three thinkers, practices play a central role in their research. In the course of Bourdieu’s sociological investigations, practices are “interwoven activities […] carried out in a specific domain […] or field.”9 They are the point at which our dispositions or habitus meet via our actions − within the broader context of a field and thus are where activities are generated, selected, and reproduced. For Knorr-Cetina, practices are places of organized activity where the context and artifacts therein play a determinative role not just in the organi8  Quine

1975, pp. 326–27. 1997, p. 287.

9  Schatzki

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zation of the practice but also in the self-understanding of the activity and its participants. Practices − in this case, scientific practices − involve a whole host of activities not usually associated with the claimed scientific endeavor, thus they become places where tensions (even contradictions) become manifest between the actions taken and the guiding self-understanding of the scientists informed by the scientific method. For Schatzki, practices are primarily understood in terms of sites (Heidegger) where a nexus of activities become manifest. These sites are where the organization, coordination, and decisions occur regarding activities and actions, thus represent a space for activities to be performed. In attempting to understand how activities are organized, actions produced, and selections made, Bourdieu uses the concept of habitus. Habitus is his solution to the untenable opposition of subjectivism and objectivism; it is a system of dispositions or enduring schemes of engagement that are formed or embodied as the result of our individual experiences within the concrete conditions of the social and material world. He describes this as a process of internalization or the acquisition of objective social structures, and as a result, they form and inform not only our biological preferences but our perception and thought as well. This does not mean, however, that these dispositions represent the passive adoption of intact and finished structures. They are more complex in that they both select and produce actions, thereby contributing to and reproducing the objective conditions we encounter as practices. As such, habitus plays a dual role when it comes to practices: as the dispositions responsible for the selection of activities we enact and, through the performance of this action (vs. another possible action), serve to reproduce and reinforce this activity as an objective condition within a field. Furthermore, the habitus is also responsible for establishing what seems reasonable or makes sense (to me). I engage in those activities that I am familiar with, to an extent, because this is what I have encountered and participated in in the past. And it is this mutual process of selection and sedimentation that informs my future engagement with others and the world, precisely because this choice makes sense not only to me but also to those who have grown up in the same environment and are familiar with the same practices. This is especially apparent in moments of expectation and anticipation. Whether, for instance, it involves one’s upbeat mood accompanying the close of a long work week, the sequence of events when my child comes home from school (preparing lunch, helping with homework, taking her to practice), or simply looking forward to riding with friends, in each of these cases, my previous social conditions and experiences have shaped my preferences and my preferences shape my future preferences (not to mention those of people I interact with most).



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Unlike Bourdieu, Knorr-Cetina focuses on practices and interactions within a very specific context, namely the laboratory as a site of knowledge production. Her ethnographic analyses (along with those of Latour) challenge the widespread image of science and knowledge as the independent and unbiased pursuit of describing the world and laws that govern it. She concentrates on the laboratory because this place enjoys a privileged status within the field of science. It is a location where a variety of different practices and actors converge and interact not only with one another but also with equipment, methodologies, data, etc. She aims to tease out how scientific practices go about generating and selecting data, make decisions regarding which avenues to pursue (in light of the results obtained), as well as the relationship between data, conclusions, and accepted theories within the field of research. Ultimately, her analyses demonstrate that facts are not as stabile and tied to the empirical world as we would like to think. Alluding to the constructive processes producing facts, Knorr-Cetina borrows Dorothy Sayer’s line: “[f]acts are like cows. If you look them in the face hard enough, they generally run away.”10 Not only is data seldom “conclusive,” research protocols and methodologies unambiguous, and the “right tool for the right job” used, but scientists are anything but the reason-driven radical skeptics we have been led to believe. Instead, scientists consider a variety of nonscientific factors when, for example: •• developing a research question (funding/publications); •• selecting the research team (accessible expertise and/or renowned cooperation partners); •• devising the experiments and protocols (what instruments are available and/or shiny and new); •• reading and rendering of the data (simplicity of process via alteration and limiting choices); •• deciding the proper avenue for further research (informed gut feeling); •• publicizing the data (journal selection, advertisement, and popular media resonance) Far from sifting through data until an objective pattern is recognizable and scrutinizing results until all reasonable doubt has fallen away to reveal hard facts, scientific practices and scientists are “practical reasoners,” as KnorrCetina puts it, carefully weighing the pros and cons, looking for confirmation, and manipulating the process until a desirable result is achieved. Schatzki’s point of entrance into practices takes up the “cognitive” problem of order and involves the generation and stability of regular patterns of 10  Knorr-Cetina

1984, p. 223.

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behavior, thus deals with the so-called “genuine” problem of order and treats the issues of what actually holds together or binds a society. He takes issue with the characterization of cognitive order solely in terms of regularity and patterns, i. e. that order, as the relation between or assemblage of entities, should be understood as regularity or repetition. The inadequacy of this view doesn’t lie in the fact that it is fundamentally incorrect, but rather with its overly simplistic conception of order and organization. Appealing to Wittgenstein (among other thinkers), Schatzki contends that orders comprise a tangled and complex web of relations, resemblances, and differences, which often involve, but is not exclusively focused on, regularity and distinct patterns. Instead, he understands order as the “arrangements” of individuals and artifacts as well as emphasizes the relationality of the various elements to one another within a joint context. Here, the meaning and identity of the elements within the specific arrangement is constituted by their position and relation to the others. For Schatzki, practices are both activities and sites or contexts where actions become manifest and are carried out. As such, Schatzki thinks that social orders arise out of social practices because these practices shape the “forms of determination” that make them possible. The first form of determination involves what Schatzki refers to as “practical intelligibility,” that is, what it makes sense to a person to do (at that time). And while this sometimes coincides with what is rational, it is not the same thing. Practical intelligibility is determined by a teleo-affective structure, which is an orientation towards ends and the significance of activities and artifacts. The second form of determination involves the institution of meaning or what he later refers to as conceptual understanding − determining what something is. In other words, the institution of meaning involves the fact that something has this particular meaning verses another. Here, he wants to show that practices are primary sites of social order because they influence the practical intelligibility that informs human activities. What it makes sense to do is, in large part, determined (or at least strongly influenced) by what we know, believe, hope, our expectations, and aspirations. In other words, the goals or aims that a person has are of immeasurable importance to understanding the lengths one is willing to go to reach them. Moreover, one’s emotional state is equally important in determining sensical action. The point here is that what it makes sense for us to do – practical intelligibility – is constituted and affected by a variety of different factors; my actions are always in relation to a host of other actors and things, and practices, as sites, present the opportunity for the activities to become manifest.



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III. Concluding Remarks Although a much more detailed and thorough treatment of the respective authors would be necessary to fully flesh out my claims, I will nevertheless have to press on despite this lack. As I mentioned earlier, I chose these authors because they represent three different research fields. While I did this to show that researchers from a number of disciplines now focus on practices, I also think it demonstrates the variety of practices and complexity of the phenomena studied within the humanities and social sciences. I hope it also became apparent that practice theory operates with a very different notion of theory than we (especially philosophers) are usually accustomed to. Each of the thinkers touched upon here asks how concepts are actually employed within the context of practices. The findings emphasized the relationality of theory vs. the analysis of concepts (Begriffsanalyse). Furthermore, these investigations broke with one of the tacit founding principles of scientific inquiry, namely, they did not study the smallest units or elements available (for practices could hardly be classified as the smallest units). Instead, we have arrived in a time of post-foundationalism and live in a risk-society where a clear tension has been building. On the one hand, we have toppled the cathedrals of objectivism, hierarchy, and critique; yet on the other, we are still held accountable and judged in light of and according to responsibility. These three very different investigations gesture toward this tension. It is the tension between field and habitus, between idealized conceptions of scientific pursuits and the pragmatic considerations (on the one hand) and nonscientific aspects (on the other), and between knowledge purged of intent and the pursuit of socially and culturally informed kinds of know-how in contrast to a unified body of knowledge. Let me close with a few remarks tying the work of these thinkers to Wittgenstein’s own thought (going beyond the two I have previously highlighted). In many ways, these investigations, with their different objects of study, approaches, and questionscomprise an album documenting the numerous paths travelled, the various sights visited, and the assorted characters encountered along the way. In this respect, not only does practice theory share Wittgenstein’s appreciation for experimentation, arrangement, the inexhaustible complexity and tangledness of phenomena, as well as his emphasis on an engaged understanding, but it also brings out many of the same tensions Wittgenstein himself brought to the fore:

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•• The social anthropologist problematizes the obvious or self-evident via the adoption of a naïve perspective, and in so doing, draws our attention to the split-personality of the participant/researcher.11 •• The sociologist problematizes the given categories and divisions encountered in our everyday dealings as well as their relationship to experience. •• The philosopher problematizes the question of an internal/external divide in subjectivity as well as renews the debate surrounding the privileged position (of both the researcher to that which is studied and philosophy as a privileged activity). There is clearly a fair amount of Wittgenstein present in each of these. His ideas have been translated into a number of different fields and approaches. In many regards, these other fields, more so than philosophy, have been responsible for the expansion and further development of his ideas, thus paving the way for practice theory. His concepts, approach to problems, and conception of language’s constitutive power have been put into practice and further refined. Perhaps even Wittgenstein’s reluctance to push forward a specific view and project has contributed to this explosion. The versatility and flexibility of his concepts and ideas make them eminently translatable into new contexts. What could be more fitting than to stimulate others to investigate new phenomena and forms of interaction. Bibliography Geertz, Clifford: Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight, in: Daedalus: Myth, Symbol, and Culture, 101, 1 (1972), pp. 1–37. Knorr-Cetina, Karin: The Fabrication of Facts: Toward a Microsociology of Scientific Knowledge, in: Nico Stehr and Volker Meja (Eds.), Society and Knowledge: Contemporary Perspectives in the Sociology of Knowledge and Science, Oxford 1984, pp. 223–244. Postill, John: Introduction: Theorising Media and Practice, in: B. Bräuchler and J. Postill (Eds.), Theorising Media and Practice, Oxford 2010, pp. 1–34. Quine, W. V. O.: On Empirically Equivalent Systems of the World, in: Erkenntnis, 9 (1975), pp. 313–328. Schatzki, Theodore: Introduction: practice theory, in: Theodore Schatzki, Karin Knorr-Cetina and Eike von Savigny (Eds.), The Practice Turn in Contemporary Theory, New York 2001a, pp. 1–14. Schatzki, Theodore: Practice mind-ed orders, in: Theodore Schatzki, Karin KnorrCetina and Eike von Savigny (Eds.), The Practice Turn in Contemporary Theory, New York 2001b, pp. 42–55. 11  See

Geertz 1972.



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Schatzki, Theodore: The Site of the Social: A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park 2002. Spiegelberg, Herbert: The Puzzle of Wittgenstein’s Phänomenologie (1929-?), in: American Philosophical Quarterly, 5, 4 (1968), pp. 244–256. Stern, David: The Practical Turn, in: Stephen P. Turner & Paul A Roth (Eds.), The Blackwell Guide to the Philosophy of the Social Sciences, Oxford 2003, pp. 185– 206. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1963.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Giuseppe Cacciatore, Prof. Dr., Professore Emerito nell’Università di Napoli Fede­ rico II (già Ordinario di Storia della Filosofia), Accademico dei Lincei, Dipartimento di Studi Umanistici, Università di Napoli Federico II Uta Eichler, Dr., Seminar für Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Frank Grunert, Dr., Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Seminar für Philosophie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Christoph Haar, Dr. (Intellectual History, University of Cambridge), Seminar für Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Johannes Hübner, Prof. Dr., Seminar für Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Jan C. Joerden, Prof. i. R. Dr. Dr. h. c., ehem. Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung, Rechtsphilosophie, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)  Jean-François Kervégan, Prof. Dr., Emeritus Fellow, Institut Universitaire de France UFR de Philosophie, Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne Heiner F. Klemme, Prof. Dr., Seminar für Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Stefan Knauß, Dr., Seminar für Philosophie, Universität Erfurt Andrej Krause, apl. Prof. Dr., Seminar für Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Georg Lohmann, Prof. (em.) Dr., Bereich Philosophie, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Fabrizio Lomonaco, Prof. Dr., ordinario di Storia della Filosofia, Dipartimento di Studi umanistici, Università degli Studi di Napoli „Federico II“ Hans-Jürgen Luderer, Prof. Dr., Klinikum am Weissenhof, Weinsberg (Lehrkrankenhaus der Universität Heidelberg) Giancarlo Magnano San Lio, Prof. Dr., Prorettore dell’Università di Catania, Dipartimento di Scienze Umanistiche Richard Rottenburg, Prof. (em.) Dr., Distinguished Professor of Science and Technology Studies, WiSER, University of the Witwatersrand, Johannesburg Günter Schenk, Prof. i. R. Dr., Seminar für Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Robert Schnepf, apl. Prof. Dr., Seminar für Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Soraya Nour Sckell, Prof. Dr. Dr., NOVA Law School at the New University of Lisbon  Danaë Simmermacher, Dr., Seminar für Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Lukas K. Sosoe, Prof. Dr., Maison des Sciences humaines, Université du Luxembourg Jörg A. Tellkamp, Dr., Departamento de Filosofía, Universidad Autónoma Metropolitana, Mexiko Stadt Christian Thiel, Prof. (em.) Dr., Institut für Philosophie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg James M. Thompson, Dr. (Philosophy, Southern Illinois University, Carbondale), Lektor, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt/Main Kenneth R. Westphal, Prof. Dr., Department of Philosophy, Boğaziçi Üniversitesi İstanbul