Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis 9783848762538, 9783748903628


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German Pages 374 [373] Year 2020

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Table of contents :
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Einleitung
Dekolonisierung des Rechts – Ambivalenzen und Potenzial
Dekoloniale Kritiken des (internationalen) Rechts und dekoloniale Bewegungen
Aufoktroyierte Wissensbestände und epistemische Gewalt
Transnational tätige Unternehmen, Handels- und Wirtschaftsrecht und der Public-Private-Divide
Aufarbeitung der Kolonialverbrechen und Reparationen
Ambivalenzen und emanzipatorisches Potenzial der Dekolonisierung des Rechts in Theorie und Praxis
Dekoloniale Lesarten des (internationalen) Rechts
Imperialismus und Theorie des internationalen Rechts
Theoretische Überlegungen zum internationalen Recht
Der Imperialismus der Theorie
Dekolonisierung und die Herausforderung des internationalen Rechts
In Richtung Gegenwart
Koloniale Kontinuitäten
Imperialismus und die Zukunft
Schlussfolgerungen
Wesen und Merkmale des gegenwärtigen internationalen Rechts: das Zeitalter des globalen Imperialismus (1985 bis heute)
Berücksichtigung von Klasse, Gender und Race
Berücksichtigung der Logik des Territoriums
Wesentliche Merkmale des globalen Imperialismus
Reform oder Revolution
Internationale Rule of Law
Geschichten des internationalen Rechts: der Umgang mit Eurozentrismus
I
II
III
IV
V
Heterosexualismus und das koloniale/moderne Gendersystem
Die Kolonialität der Macht
Intergeschlechtlichkeit
Nichtvergeschlechtlichter und gynäkokratischer Egalitarismus
Nichtvergeschlechtlichter Egalitarismus
Gynäkokratischer Egalitarismus
Das koloniale/moderne Gendersystem
Pachakuti: die historischen Horizonte des internen Kolonialismus
Die multiethnische vorkoloniale Gesellschaft
Die Form der kolonialen Herrschaft: Gewalt, Ausgrenzung und Kolonisierung der Seelen
Der Zyklus der Aufstände, 1780–1782
Die Aymarabewegung im republikanischen Kolonialismus von heute
Das Vermächtnis der Vergangenheit: Versprechen und Konflikt
Die Rolle von Nichtregierungsorganisationen bei der Rechtserzeugung
Nichtregierungsorganisationen und die Agenda für Menschenrechte
Nichtregierungsorganisationen und Rechtserzeugung
Strategien und Methoden der NGOs zur Normerzeugung
NGOs und Staaten spielen Katz und Maus
Rechtliche Aspekte der Neuen Weltwirtschaftsordnung
Einführung
Der Hintergrund
Merkmale der NWWO-Kampagne und die Reform der internationalen Institutionen
Die Reform des internationalen Rechts
Das internationale Recht und das Vermächtnis der NWWO
Ernährungssicherheit, Freihandel und der Kampf um den Staat [Auszug]
Der Aufstieg der Handelsdiplomatie
Wirtschaftsliberalisierung und landwirtschaftlicher Exzeptionalismus
Freihandel, wirtschaftliche Integration und der Sozialstaat
Freihandel und das Trojanische Pferd der Entwicklung
Monopole und die Macht der Unternehmen
Schlussfolgerung – die Krise des Freihandelsstaats
Dekoloniale Praxis und Transformation des Rechts
Epistemische Gewalt und die Transformation exkludierenden Rechts aus andiner Perspektive
Kolonialverbrechen, transgenerationale Exklusion und Aufarbeitung
Macht durch Deutungshoheit: Eigentum und Land als zentrale Fragen materialer Dekolonisierung
Globalisierung und »Hunger by Design«: der Kampf für soziale und wirtschaftliche Rechte
Private Unternehmen, demokratische Handlungsspielräume und die Dekolonisierung des Wissens
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Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis
 9783848762538, 9783748903628

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Völkerrecht und Außenpolitik Herausgegeben von Prof. Dr. Oliver Dörr Prof. Dr. Jörn Axel Kämmerer Prof. Dr. Markus Krajewski Band 92

Karina Theurer | Wolfgang Kaleck (Hrsg.)

Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis

Nomos

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-6253-8 (Print) ISBN 978-3-7489-0362-8 (ePDF)

1. Auflage 2020 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2020. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort

Dieser Band geht zurück auf das Symposium „(Post-)Koloniales Unrecht und juristische Interventionen“ der Reihe „Koloniales Erbe – Colonial Repercussions“, im Januar 2018 gemeinsam veranstaltet von der Akademie der Künste in Berlin, der Bundeszentrale für politische Bildung und dem European Center for Constitutional and Human Rights. Diese drei Institutionen haben seitdem in mehreren weiteren Veranstaltungen in Deutschland und Namibia künstlerische, aktivistische und rechtliche Perspektiven verknüpft und sich vor allem der Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen in Namibia und der Sichtbarmachung dekolonialer Theorie und Praxis in Deutschland gewidmet. Wir danken den Autor*innen, Verlagen und Herausgeber*innen, die uns die in diesem Band enthaltenen theoretischen Texte zur Verfügung stellten. Dank gebührt insbesondere auch den Gesprächspartner*innen des praktischen Teils dieses Bandes. Sie führen uns das Potenzial vor Augen, das unsere Zukunft in sich trägt. Dank gebührt auch den Interviewenden, den Übersetzerinnen und den Lektor*innen des Buchs, Florence Handura, Natalia Schmidt, Ciaran Cross, Christian Schliemann, Jorge J. Locane, Tatjana Klapp, Ha Mi Le, Sarah van der Heusen, Christiane Quandt, Sarah Imani, Dania Schüürmann, Maria Cárdenas und Karla Prigge, ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre. Berlin, den 16. April 2020

Karina Theurer und Wolfgang Kaleck

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Inhalt

Einleitung Dekolonisierung des Rechts – Ambivalenzen und Potenzial

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Karina Theurer und Wolfgang Kaleck Dekoloniale Lesarten des (internationalen) Rechts Imperialismus und Theorie des internationalen Rechts

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Antony Anghie Wesen und Merkmale des gegenwärtigen internationalen Rechts: das Zeitalter des globalen Imperialismus (1985 bis heute)

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Bhupinder Chimni Geschichten des internationalen Rechts: der Umgang mit Eurozentrismus

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Martti Koskenniemi Heterosexualismus und das koloniale/moderne Gendersystem

159

María Lugones Pachakuti: die historischen Horizonte des internen Kolonialismus

193

Silvia Rivera Cusicanqui Die Rolle von Nichtregierungsorganisationen bei der Rechtserzeugung

223

Makau Mutua Rechtliche Aspekte der Neuen Weltwirtschaftsordnung

263

Antony Anghie

7

Inhalt

Ernährungssicherheit, Freihandel und der Kampf um den Staat [Auszug]

285

Anne Orford Dekoloniale Praxis und Transformation des Rechts Epistemische Gewalt und die Transformation exkludierenden Rechts aus andiner Perspektive

317

Gespräch mit Tarcila Rivera Zea Kolonialverbrechen, transgenerationale Exklusion und Aufarbeitung

331

Gespräch mit Rupert Hambira und Kamutuua Hosea Kandorozu Macht durch Deutungshoheit: Eigentum und Land als zentrale Fragen materialer Dekolonisierung

347

Gespräch mit Simon Masodzi Chinyai Globalisierung und »Hunger by Design«: der Kampf für soziale und wirtschaftliche Rechte

357

Gespräch mit Colin Gonsalves Private Unternehmen, demokratische Handlungsspielräume und die Dekolonisierung des Wissens Gespräch mit Alejandra Ancheita

8

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Einleitung

Dekolonisierung des Rechts – Ambivalenzen und Potenzial

Mit diesem Band möchten wir zur verstärkten Sichtbarmachung und zur kritischen und konstruktiven Beschäftigung mit dekolonialen Perspektiven im deutschsprachigen Raum sowie mittelbar zur Dekolonisierung des Rechts beitragen. Dabei gehen wir davon aus, dass just die Verflechtung unterschiedlicher Blickwinkel aus Theorie und Praxis transformatives Potenzial birgt. Manche dekoloniale Theoretiker*innen verstehen sich auch als politische Aktivist*innen, ebenso wie viele Praktiker*innen ohnehin auch Theorie bilden und weiterentwickeln. Im ersten Teil des Buchs finden sich ins Deutsche übersetzte Grundlagentexte post- bzw. dekolonialer Theorie mit Bezügen zum Recht, unter anderem auch Texte der Third World Approaches to International Law (TWAIL). Im zweiten Teil eröffnen Aktivist*innen und an Rechtskämpfen beteiligte Anwält*innen wichtiges Expert*innenwissen zur Dekolonisierung des Rechts aus dekolonialen Bewegungen und Netzwerken heraus. Die Verflechtung der Perspektiven ermöglicht die Komplementierung oder Kontrastierung wesentlicher Annahmen oder Grundaussagen dekolonialer Theorie im Sinne praxisinformierter und praxisbezogener Wissenschaft sowie die Stärkung von Handlungsfähigkeit, Selbstbestimmtheit und Solidarität im Bemühen um konkrete Dekolonisierungsprozesse. Bisher liegen zwar englischsprachige Textsammlungen vor, jedoch wenige ins Deutsche übersetzte Texte – und kein Sammelband mit spezifischem Fokus auf Rechtsfragen. Dekoloniale Kritiken des (internationalen) Rechts und dekoloniale Bewegungen Dekoloniale Kritiken des Rechts, seiner Geschichte und seiner gegenwärtigen Wirkungen auf Gesellschaften sind so unterschiedlich wie die jeweiligen Verortungen, aus denen heraus sie gedacht werden, und so heterogen wie die spezifischen Wissensbestände, die ihren Rahmen bilden. Kleinste gemeinsame Nenner gegenwärtiger de- bzw. postkolonialer Rechtskritiken und TWAIL sind jedoch: erstens ein Verständnis von Recht als sozial konstruiertem Wissen und historisch kontingentem kulturellem Phänomen – zweitens ein machtkritisches Erkenntnisinteresse mit Blick darauf, wie die Prozesse europäischer Kolonisierung und die Schaffung von Imperien durch zunächst europäische Akteure seit dem 16. Jahrhundert durch das

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Karina Theurer und Wolfgang Kaleck

internationale Recht ermöglicht und legitimiert wurden und werden – und drittens eine dezidiert politische Positionierung für die Belange der vom Imperialismus betroffenen Menschen, ohne sich anzumaßen, sie zu repräsentieren. Für viele gehören der Widerstand gegen weitere imperiale Ausdehnung, gegen wirtschaftliche Ausbeutung sowie gegen kulturelle, soziale und politische Exklusion dazu, auch die solidarische Erarbeitung zukunftsweisender Ansätze zur Dekolonisierung von Wissensbeständen und des Rechts und auch der gemeinsame Kampf um eine gerechte Weltgesellschaft.1 Rechtswissenschaftler*innen, die sich der losen Gruppe mit der Selbstbezeichnung TWAIL zuordnen, haben herausgearbeitet, wie sehr die Entwicklung des internationalen Rechts, wie wir es heute kennen, durch den Imperialismus und die koloniale Expansion Europas geprägt war. Sie haben dargelegt, wie die formell gleiche Anwendung bestimmter Grundprinzipien dieses Rechts – wie die souveräne Gleichheit der Staaten oder das Konstrukt von terra nullius – die wirtschaftliche Ausbeutung, die politische, soziale, kulturelle Exklusion sowie die massive und systematische Gewalt gegen die Menschen in den kolonisierten Gebieten, mithin Unrecht und Ungleichbehandlung, ermöglichten. Dies konnte funktionieren, weil die Deutungshoheit darüber, welche politischen Gemeinwesen Staaten im Sinne europäischer politischer Theorie und rechtlicher Auslegung seien, bei den Kolonisierenden verblieb, also bei denen, die Gewalt ausübten.2 Gleiches gilt für die Frage, welches Land trotz Nutzung und Bewirtschaftung als Niemandsland anzusehen war, als terra nullius. Auch hier verblieb die Deutungsmacht bei den Europäer*innen. Auf diese Weise trugen die sich herausbildenden Grundsätze des internationalen Rechts dazu bei, dass die Gewalt und Willkür der Kolonisierung formell legitimiert und als Unrecht „unsichtbar“ wurde. Unabdingbare Voraussetzung dafür waren die Verankerung und die gewaltsame Aufoktroyierung europäischer Wissensbestände und Zuschreibungen zu Ethnizität bzw. „Rasse“, Klasse, Kultur, Religion, Familie, Sexualität, Geschlechterdifferenz und binärer Heteronormativität im Verlauf der Kolonisierungsprozesse weltweit. Die Beschäf-

1 Anghie und Chimni, Third World Approaches; Gathii, TWAIL; Mutua, What is TWAIL?; Eslava und Pahuja, Between Resistance and Reform; Gathii, TWAIL; Chimni, Third World Approaches; Anghie, Imperialism and International Legal Theory, S. 164 / Anghie, Imperialismus und Theorie, S. 69 f. [in diesem Band]; Chimni, International Law and World Order [Auszug in diesem Band]; Rivera Cusicanqui, La noción de “derecho”; Spivak, Can the Subaltern Speak; Fanon, The Wretched. 2 Anstelle vieler: Anghie, Sovereignty, Imperialism.

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Dekolonisierung des Rechts – Ambivalenzen und Potenzial

tigung mit den Auswirkungen dieser Zuschreibungen spielt nach wie vor eine Schlüsselrolle für gegenwärtige Dekolonisierungsprozesse.3 Auch die Entwicklung des deutschen Rechts sowie des Völkerrechts aus deutscher Perspektive ist eng verwoben mit der Annexion von Gebieten außerhalb Europas, mit der systematischen Ausbeutung der dort lebenden Menschen, der Landwegnahme, der politischen Entmündigung, der sexualisierten Gewalt gegen Frauen, der kulturellen Abwertung und der rassistischen Gewaltexzesse bis hin zum Völkermord. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts existierten – dies als Beispiel – im südwestlichen Afrika verschiedentlich politisch verfasste Entitäten der Nama, Herero, San, Damara oder Ovambo.4 Die Landnutzung erfolgte – abweichend vom Trend zur individualrechtlichen Landnutzung in vielen europäischen Staaten – teils gemeinschaftlich. Teils wurden Verträge mit ihnen geschlossen. Im Grunde genommen hätte eine unvoreingenommene Anwendung des Grundsatzes der Gleichheit der Staaten seinerzeit dazu führen können, dass diese Entitäten als Staaten anerkannt und diplomatische Beziehungen mit ihnen aufgenommen werden. Deutsche Siedler hätten im Gebiet des heutigen Namibia ebenso wenig aus freien Stücken siedeln dürfen, wie sie es auf französischem Territorium durften. Eindeutig war damals, dass es sich nicht um sogenanntes Niemandsland handelte, sondern dass das Land genutzt und bewirtschaftet wurde. Dass die politischen Verbände der Nama, Herero, San, Damara oder Ovambo nicht als gleich im Sinne des Völkerrechts erachtet wurden, hat wesentlich mit den entgegenstehenden politischen und wirtschaftlichen Interessen und mit der bei europäischen Akteuren verbleibenden Deutungshoheit bezüglich (der Auslegung) dieses Völkerrechts zu tun. Begründet wurde die Ausgrenzung durch biologistische rassistische Zuschreibungen. Nach überwiegender Ansicht der damaligen deutschen Rechtswissenschaftler, die sich auf rassistische Zuschreibungen stützten, konnten die zwischen Vertretern der Deutschen sowie etwa der Herero oder Nama geschlossenen „Schutzverträge“ in konkreten Fragen zugunsten der Deutschen herangezogen werden. Aber eine Gleichwertigkeit der Vertragspartner oder vorteilhafte Rechtspositionen für die Herero oder Nama sollten

3 Beispielhaft: Anghie, Sovereignty, Imperialism; Rivera Cusicanqui, La noción de “derecho”; Mbembe, Sortir de la grande nuit; Mutua, Savages, Victims and Saviors; Gunn Allen, The Sacred Hoop; Lugones, Heterosexualism / Lugones, Heterosexualismus [in diesem Band]; Chimni, International Law and World Order; Rivera Zea in Locane und Theurer, Epistemische Gewalt [in diesem Band]. 4 Siehe Zimmerer und Zeller, Völkermord.

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Karina Theurer und Wolfgang Kaleck

aus ihnen nicht ableitbar sein.5 Um die deutsche Kolonialherrschaft sowohl im damaligen Deutsch-Südwestafrika als auch in anderen annektierten Gebieten formaljuristisch legitimieren zu können, wurde in Deutschland ein auf rassistischer Exklusion basierendes rechtspluralistisches System eingeführt: Einerseits gab es Recht, das für der deutschen Hoheitsgewalt unterworfene „weiße“ Menschen galt, und andererseits gab es Recht, das für der deutschen Hoheitsgewalt unterworfene „nichtweiße“ Menschen galt.6 Inwiefern damals entstandene Rechtsnormen und im Recht verankerte rassistische Vorstellungen bis heute fortbestehen und fortwirken, ist eine rechtswissenschaftliche Forschungsfrage, die dringend bearbeitet werden muss.7 Nunmehr fordern Nachfahren von Überlebenden der deutschen Kolonialverbrechen im südwestlichen Afrika, dass die begangenen Gräueltaten als Unrecht anerkannt werden, dass eine Aufarbeitung stattfindet, an der sie substanziell beteiligt sind, und dass Wiedergutmachung geleistet wird, die die transgenerationale wirtschaftliche, soziale und kulturelle Exklusion mildert und den strukturellen Rassismus in den Blick nimmt. Dies bedeutet auch eine substanzielle Dekolonisierung des Denkens und die Aufhebung der Fortwirkung kolonialer europäischer Deutungshoheit.8 Als Vorsitzende des Nama Genocide Technical Committee (NGTC) und Parlamentsabgeordnete setzt sich Ida Hofmann seit Jahren dafür ein, Erinnerungsstätten und Denkmäler zu errichten, die Geschehnisse aufzuarbeiten und die wirtschaftliche sowie soziale Situation der Jugendlichen zu verbessern, die wegen der wirtschaftlichen und sozialen Exklusion ihrer Familien keine Chancengleichheit erleben. Auch Esther Muinjangue, die Künstlerinnen Trixie Munyama und Isabel Katjavivi oder der im Exil lebende Rupert Hambira9 verweisen aus zivilgesellschaftlicher Perspektive auf Bedürfnisse und Möglichkeiten der Aufarbeitung und Versöhnung, die in politischen und rechtlichen Debatten zum Umgang mit der deutschen Kolonialvergangenheit in Deutschland viel stärker berücksichtigt werden könnten.

Hanschmann, Die Suspendierung, S. 145 ff. m. w. N. Ebd., S. 147 ff.; Fischer-Lescano, Deutschengrundrechte. So auch Hanschmann, Die Suspendierung; Fischer-Lescano, Deutschengrundrechte. Beiträge beim internationalen Symposium des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), der Akademie der Künste (AdK) und des GoetheInstituts in Windhoek und Swakopmund vom 25. bis zum 30. März 2019 sowie beim internationalen Symposium der Serie Colonial Repercussions in Berlin am 29. November 2019. (Beiträge teils online.) 9 Hambira in Handura, Schmidt und Theurer, Kolonialverbrechen [in diesem Band]. 5 6 7 8

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Dekolonisierung des Rechts – Ambivalenzen und Potenzial

Im Hinblick auf das gegenwärtige internationale Recht weisen dekoloniale Theoretiker*innen, Anwält*innen und Aktivist*innen darauf hin, dass sich die formellen Imperien zu informellen Imperien gewandelt haben. Und sie zeichnen die enge Verbindung zwischen Kapitalismus und Imperialismus nach. Der Rechtstheoretiker Bhupinder Chimni beschreibt, wie durch die Verankerung neokolonialer internationaler Rechtsnormen ein grenzenloser globaler Wirtschaftsraum geschaffen und eine kapitalistische Produktions- und Lebensform festgeschrieben wird. Die gegenwärtig im Entstehen begriffene informelle imperiale Ordnung ist für ihn wesentlich durch privatrechtliche Normen geprägt.10 Private Akteure und insbesondere Unternehmen waren – mehr oder weniger verdeckt – treibende Kraft und Nutznießer der Schaffung von Imperien und sind es bis heute: Der indische Subkontinent wurde jahrhundertelang von der British East India Company regiert, bevor Großbritannien 1857 ein formelles Imperium errichtete.11 Hugo Grotius, der lange als Gründervater des modernen Völkerrechts erachtet wurde, arbeitete für die Dutch East India Company. Seine Werke waren teils Auftragsarbeiten des Unternehmens.12 Weltweit beeinflussten transnational agierende Unternehmen die Entwicklung des Völkerrechts und setzten für sie vorteilhafte rechtliche Rahmenbedingungen auch auf internationaler Ebene durch.13 Antony Anghie beschreibt die Entwicklung des internationalen Rechts seit der formellen Entkolonisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgendermaßen: Nach der Erlangung formeller Unabhängigkeit hegten viele Menschen und Regierungen der „neuen“ Staaten große Hoffnungen, endlich wirtschaftlich und politisch autonom zu sein und ausgehend vom Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Staaten auf globaler Ebene gerechte handels- und wirtschaftsrechtliche Rahmenbedingungen aushandeln zu können. Ihre Bemühungen um die Schaffung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung (NWWO) seien jedoch durch die erfolgreiche Einflussnahme privater Akteure auf die Prozesse internationaler Rechtserzeugung und die fortbestehende Deutungsvorherrschaft westlicher Staaten konterkariert worden. Modernisierungs- und Entwicklungsdiskurse hätten die vormalige Zivilisierungsmission ersetzt. Die während der Kolonialherrschaft gewaltsam durchgesetzte wirtschaftliche Ausbeutung, politische, so10 Chimni, International Law and World Order, S. 25 ff. und 499 ff. / Chimni, Wesen und Merkmale [in diesem Band]. 11 Gonsalves in Theurer, Globalisierung [in diesem Band]; Koskenniemi, The Gentle Civilizer, S. 111. 12 Weststeijn, Provincializing Grotius. 13 Pahuja, Rival Worlds.

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ziale und kulturelle Exklusion wie auch strukturelle Gewalt fänden aber weiterhin statt und würden durch transnationales Recht etwa im Bereich des Schutzes ausländischer Investitionen gestützt, formell legitimiert und verschleiert.14 Auch er konstatiert mithin eine Transformation der legitimierenden Diskurse bei gleichzeitiger Kontinuität wirtschaftlicher und sozialer Ausbeutung. Globalisierungskritische sowie dekoloniale Theoretiker*innen und Praktiker*innen verweisen auf die Beschränkungen politischen Handlungsspielraums durch ein immer engmaschiger werdendes Netz transnationaler Normen und durch internationale privatrechtliche Rechtsregime. Dies habe teils verheerende Folgen für die Gewährleistung von Ernährungssicherheit, von arbeitsrechtlichen Mindeststandards sowie für den Gesundheits- und Umweltschutz.15 Anne Orford zeichnet nach, wie die handelsrechtliche Verankerung eines spezifischen wirtschaftsliberalen Verständnisses von Freihandel auf internationaler Ebene seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Gewährleistung von Ernährungssicherheit erschwert und dazu beiträgt, dass Menschen weltweit an Hunger sterben.16 James T. Gatthii fordert eine verstärkte rechtliche Regulierung transnational tätiger Unternehmen in der Agrarindustrie zum Schutz lokaler Produktionsweisen sowie lokaler Entscheidungsbefugnisse im Hinblick auf Nahrung.17 Der indische Anwalt Colin Gonsalves spricht vom „Hunger by Design“ in kapitalistischen Systemen, wenn Nahrung für die Spekulation auf dem Weltmarkt produziert werde und Menschen in unmittelbarer Nähe prall gefüllter Getreidesilos verhungerten. Diese Situation hatte ihn und weitere Anwält*innen dazu veranlasst, das Recht auf Nahrung einzufordern. Die vor dem indischen Supreme Court erfolgreichen nationalen Klagen veränderten das Leben Tausender Menschen, da der Staat auf diesem Weg etwa zur Bereitstellung mittäglichen Schulessens verpflichtet wurde, womit gewährleistet ist, dass Kinder wenigstens eine warme Mahlzeit pro Tag erhalten.18 Simon Masodzi Chinyai verweist als Vertreter der indigenen Gemeinschaft der Chinyai, die unter der britischen Kolonialherrschaft ihr traditionell angestammtes Land verloren, auf die Doppelstandards bei der Entschädigung der Wegnahme von Land sowie auf die anhaltend bei

14 Anghie, Legal Aspects / Anghie, Rechtliche Aspekte [in diesem Band]. 15 Ebd.; Orford, Food Security / Orford, Ernährungssicherheit [in diesem Band]; Mgbeoji, Global Biopiracy; Ancheita in Locane und Theurer, Private Unternehmen [in diesem Band]. 16 Orford, Food Security / Orford, Ernährungssicherheit. 17 Gathii, Food Sovereignty. 18 Gonsalves in Theurer, Globalisierung, S. 360.

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unternehmensnahen Akteuren verbleibende Deutungshoheit bezüglich der Auslegung des internationalen Rechts und insbesondere des Investitionsschutzrechts. Auch er kämpft für eine würdevolle, sozial und wirtschaftlich abgesicherte Zukunft für sich und die Menschen, die er vertritt. Er spürt aber auch, dass das in den schiedsgerichtlichen Verfahren zur Anwendung gebrachte internationale Recht bisher nicht primär seine Interessen, sondern diejenigen großer Unternehmen schützt.19 In beiden Konstellationen entschieden nationale Instanzen im Sinne der Betroffenen. Tarcila Rivera Zea hingegen beschreibt als indigene Aktivistin für den andinen Kontext die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der peruanischen Behörden, indigene Beteiligungsrechte gegenüber transnationalen Unternehmen effektiv zu schützen. Und sie beschreibt den fortwirkenden institutionellen Rassismus auf nationaler Ebene in Peru.20 Diese Beispiele zeigen deutlich die Janusköpfigkeit des internationalen Rechts zum Schutz der Menschen vor staatlicher Willkür und Diskriminierung einerseits und zum Nachteil der Menschen infolge der Einschränkung nationaler Souveränität andererseits. In welchen Bereichen tragen das internationale Recht und dabei insbesondere die privatrechtlichen Normen sowie das hybride transnationale Recht21 weiterhin zu Ausschlüssen, zu struktureller Ungleichheit und zur Unsichtbarmachung von Gewalt und Unrecht bei? Und welche rechtlichen Interventionen sind – wenn überhaupt – dagegen möglich? In welchen nationalen, regionalen oder internationalen Rechtsetzungsverfahren konnten wirtschaftliche, soziale und politische Belange nichtprivilegierter Menschen wirksam gestärkt werden? Bei welchen Gerichten, Gerichtshöfen oder internationalen Gremien waren Anrufungen zur Rückgabe von Land oder zum Schutz sozialer, wirtschaftlicher oder kultureller Rechte erfolgreich? Sind Menschenrechte bei den Kämpfen um Anerkennung und Gerechtigkeit ein trojanisches Pferd, weil sie eurozentrische Wissensbestände implementieren? Oder müssen Menschenrechte gestärkt und bislang unbeachtete Perspektiven gezielt einbezogen werden, um den gegenwärtigen Bias der Menschenrechte auszugleichen?22 Und wie ist der Einfluss der finanziell relativ gut ausgestatteten westlichen Nichtregierungsorganisationen (Non-Governmental Organizations – NGOs) zu bewerten, die teils eine überhebliche Vorstellung von sich als „Retter“ der „Wilden“ 19 Masodzi Chinyai in Cross und Schliemann, Macht durch Deutungshoheit [in diesem Band]. 20 Rivera Zea in Locane und Theurer, Epistemische Gewalt [in diesem Band]. 21 Zum Begriff: Anghie, Legal Aspects, S. 151 f. / Anghie, Rechtliche Aspekte, S. 274 f. 22 Zum Gender-Bias Mutua, Human Rights Standards, S. 100 / Mutua, Die Rolle, S. 247 f. [in diesem Band]; Charlesworth und Chinkin, The Gender of Jus Cogens.

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reproduzieren? Beobachten wir tatsächlich gegenwärtig das Entstehen eines globalen (transnationalen) Rechts, das grenzüberschreitenden Freihandel und primär Profite etwa der Agrar-, Lebensmittel-, Pharma-, Dienstleistungs-, Technologie- oder Finanzbranchen absichert, indem politische Spielräume der Staaten zum Schutz von Ernährungssicherheit, Gesundheit, sozialer Sicherheit, arbeitsrechtlichen Mindeststandards sowie zum Umwelt- und Klimaschutz eingeschränkt werden?23 Welche Unterschiede in der Durchsetzbarkeit getroffener Entscheidungen sehen wir bei internationalen Schiedsgerichtshöfen im Vergleich zu Menschenrechtsgerichtshöfen und was können wir daraus ableiten? Worum geht es, wenn davon gesprochen wird, dass die „Dritte Welt“ nunmehr überall sei bzw. dass es eine Dritte Welt in der Ersten Welt24 gebe? Ist es möglich, das Recht unter Beibehaltung seiner Grundprinzipien zu transformieren, oder gibt es kein emanzipatorisches Potenzial im Recht, wie teils konstatiert wird25? Welche Denkwege sollten wir beschreiten und woran sollten wir unser zukünftiges Handeln ausrichten? Tarcila Rivera Zea, Alejandra Ancheita, Colin Gonsalves, Simon Masodzi Chinyai, Rupert Hambira und Kamutuua Hosea Kandorozu gewähren in diesem Band gewichtige Einblicke in transformative Ansätze zur Dekolonisierung des Denkens und des Rechts. Klar ist, dass zur Gestaltung substanzieller rechtlicher Gleichheit und einer sozial gerechten Zukunft gesellschaftliche und disziplinenübergreifende Dialoge und Aktionen zu den komplexen Wirkungen imperialer Tendenzen hilfreich sind. Dabei birgt insbesondere die Verflechtung künstlerischer und rechtlicher Perspektiven ein enormes Potenzial: Fotografie, Theater, Performance, Installation und Literatur können sich Inhalten unbeschränkt annähern und Menschen die Blickwinkel anderer Menschen einnehmen lassen. Sie vermögen es, Menschen körperlich spüren zu lassen, wie sich eine bestimmte Situation für andere anfühlt. Aus diesen Gründen sind sie zuvörderst in der Lage, Denkrichtungen zu verändern, Grundannahmen zu hinterfragen, Wissen zu dekolonisieren und den Bias des Rechts zu brechen.26

23 Chimni, International Law and World Order, S. 506 ff. / Chimni, Wesen und Merkmale, S. 94 ff.; Anghie, Legal Aspects, S. 154 f. / Anghie, Rechtliche Aspekte, S. 279 f. 24 Anghie, Imperialism and International Legal Theory, S. 168 / Anghie, Imperialismus und Theorie, S. 74. 25 Miéville, Between Equal Rights. 26 Rede Homi Bhabhas am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin am 5. November 2010 zu “Affects and Interests: Some Thoughts on the Culture of Human Rights” (online); vgl. auch Derrida, Schurken, S. 19: „Einzig eine gewis-

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Dekolonisierung des Rechts – Ambivalenzen und Potenzial

Im Hinblick auf die Rechtswissenschaft und Theoriebildung beschrieben Anghie und Chimni noch im Jahr 2003 die starken Vorbehalte, die ihren theoretischen und methodischen Ansätzen gegenüber selbst seitens kritischer Jurist*innen bestanden.27 Auch für die rechtswissenschaftliche Forschung und Lehre an deutschen Universitäten spielten post- bzw. dekoloniale Ansätze und Methoden lange Zeit praktisch keine Rolle. In Pflichtveranstaltungen wurden sie nicht gelehrt und mit Ausnahme vereinzelter interdisziplinärer Projekte wurden sie in der an juristischen Fakultäten verankerten Forschung nicht in relevantem Umfang rezipiert. Dies könnte unter anderem an der dezidiert politischen Verortung dekolonialer Ansätze und der einschlägigen Methodik liegen, die aus Sicht klassischer deutscher Rechtswissenschaft nicht den rechtswissenschaftlichen Standards entsprachen. Erst in den vergangenen Jahren wurden Stimmen nicht nur aus dem akademischen Mittelbau juristischer Fakultäten, sondern auch aus Professuren heraus vernehmbar, die post- bzw. dekoloniale Theorie und TWAIL rezipieren, lehren, anwenden und eigene Standpunkte etwa zur Dekolonisierung der deutschsprachigen Rechtswissenschaften entwickeln.28 Aufoktroyierte Wissensbestände und epistemische Gewalt Gerade wegen seiner vorgeblichen Objektivität und Neutralität eignet sich das Recht – sowohl national als auch international – gut dazu, ungleiche Ausgangsbedingungen und damit materielle Ungleichheit wie auch Exklusion zu reproduzieren und dabei gleichzeitig umzudeuten und unsichtbar zu machen. Die Frage, wem Deutungsmacht bei der Auslegung und Fortentwicklung des jeweils geltenden Rechts zukommt, spielt dabei eine

se Poetik vermag eine herrschende Interpretation in eine andere Richtung zu lenken.“; Barreto, Rorty and Human Rights; Theurer, Literatura y Derecho en Adiós, Ayacucho. 27 Anghie und Chimni, Third World Approaches, S. 77. 28 Siehe den von Isabel Feichtner, Jochen von Bernstorff und Philipp Dann herausgegebenen und im Erscheinen begriffenen Sammelband zu postkolonialer Rechtswissenschaft in Deutschland. In einem darin enthaltenen Beitrag zeichnet Andreas Fischer-Lescano eindrücklich nach, wie rassistische Wissensbestände, die während der formalen Kolonisierung Deutschlands Eingang in das nationale Recht fanden, bis heute fortwirken, und nennt als Beispiel die „Deutschengrundrechte“ im Grundgesetz. Siehe auch: Schwerpunktheft der Kritischen Justiz zu postkolonialen Theorien, Recht und Rechtswissenschaft im Jahr 2012.

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Karina Theurer und Wolfgang Kaleck

Schlüsselrolle für dekoloniale Rechtskritik und dekoloniale Bewegungen.29 Ein Beispiel dafür ist die im Verlauf der Entwicklung des internationalen Rechts vorherrschende Auslegung des Grundsatzes der souveränen Gleichheit der Staaten: Zunächst wurde er derart gehandhabt, dass er den Ausschluss nichteuropäischer Staaten aus dem Kreis der Rechtssubjekte zu rechtfertigen vermochte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diente er dazu, die Bemühungen um Neuverhandlungen des internationalen Rechts zur Nutzung natürlicher Ressourcen durch die Staaten auf Augenhöhe auszubremsen, indem argumentiert wurde, die bestehenden Normen seien unter Achtung der souveränen Gleichheit aller Staaten entstanden und somit grundsätzlich nicht neu verhandelbar.30 Ein weiteres Beispiel ist ein gegenwärtig spezifisch individualrechtliches Verständnis von Eigentum in Kombination mit privatrechtlichen transnationalen Rechtsregimes und mit Rechtsnormen in Mehrebenensystemen mit einem Bias zugunsten privatrechtlicher Positionen privilegierter Akteure, transnational tätiger Unternehmen und Finanzinstitute – beispielsweise in internationalen Investitionsschiedsgerichtsverfahren, im Rahmen der Auslegung der handelsrechtlichen Vorschriften der Welthandelsorganisation oder in multilateralen Freihandelsabkommen.31 Im Vergleich dazu gibt es keinen ähnlich starken Schutz der Nutzungs-, Besitz- und Eigentumsrechte von sozial und wirtschaftlich nicht privilegierten Akteuren, ländlichen Kommunen, Landlosen, Kleinbäuer*innen oder solchen Personen, deren Eigentum grundbuchrechtlich nicht ausreichend nachgewiesen werden kann, wie es in postkolonialen Kontexten häufig der Fall ist. Kollektivrechtliche Formen des Eigentums, zum Beispiel indigene Territorialrechte, werden trotz vereinzelter erfolgreicher Klagen etwa innerhalb des interamerikanischen oder des afrikanischen regionalen Menschenrechtssystems noch nicht gut genug geschützt. Die Sozialbindung des Eigentums, 29 Anghie, Imperialism and International Legal Theory / Anghie, Imperialismus und Theorie; Rivera Cusicanqui, Pachakuti / Rivera Cusicanqui, Pachakuti [in diesem Band]; Lugones, Heterosexualism / Lugones, Heterosexualismus; Rivera Zea in Locane und Theurer, Epistemische Gewalt; Masodzi Chinyai in Cross und Schliemann, Macht durch Deutungshoheit; Ancheita in Locane und Theurer, Private Unternehmen; Orford, Food Security / Orford, Ernährungssicherheit; Mutua, The role of NGOs / Mutua, Die Rolle; Chimni, International Law and World Order. 30 Anghie, Legal Aspects, S. 149 f. / Anghie, Rechtliche Aspekte, S. 270 f. 31 Makau Mutua in einem Gespräch mit den Herausgebenden im März 2018; siehe auch: Anghie, Legal Aspects / Anghie, Rechtliche Aspekte; Mgbeoji, Global Biopiracy; Gathii, Food Sovereignty; Gonsalves in Theurer, Globalisierung; Ancheita in Locane und Theurer, Private Unternehmen; Koskenniemi, Introduction, S. 11 f.

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die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einzelnen nationalen Verfassungen verankert wurde, konnte bisher auf internationaler Ebene nicht wirksam durchgesetzt werden. Angesichts dieser Schieflage können Einzelpersonen oder indigene Gemeinschaften systematischem Landgrabbing gegenwärtig rechtlich wenig entgegensetzen, was natürlich auch mit einem aufgrund des Mangels an finanziellen Ressourcen strukturell schwierigen Zugang zu Recht zusammenhängt. Ein Beispiel ist die von der brasilianischen Regierung unter Jair Messias Bolsonaro vorangetriebene systematische Enteignung indigener Gemeinschaften durch die rechtliche Umdeutung der indigenen Schutzgebiete. Zudem ist bezeichnend, dass der rechtliche Grundsatz der nötigen Entschädigung für die Wegnahme von Land auf internationaler Ebene erst als nach dem massiven erzwungenen Transfer von Grundeigentum zur Zeit der Kolonisierung entstanden erachtet wird. Dies führt faktisch dazu, dass Land, das Ende des 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts enteignet wurde, heute nur gegen angemessene Entschädigung zurückgegeben werden könnte – was zum einen eine enorme Gewinnmitnahme für diejenigen bedeutet, die ohnehin von der Kolonisierung profitierten, und zum anderen die Verarmung und die transgenerationale soziale und wirtschaftliche Exklusion eines Großteils der lokalen Bevölkerung zementiert, die die Kolonisierung mit sich brachte.32 Eine Schieflage besteht auch im Bereich des Wissens um medizinische Wirkstoffe in Pflanzen und des Wissens um Saatgut.33 Diese Beispiele zeigen, dass die erfolgreiche Setzung spezifisch ausgelegter Grundannahmen und ‑prinzipien des Rechts in Verbindung damit, dass sie als dem gewöhnlichen rechtlichen Zugriff entzogen dargestellt werden, Macht verschafft und erhält. Da diese Grundannahmen und ‑prinzipien neuralgische Punkte von Macht sind, stellen sie aber auch zentrale Stellschrauben dar und sind deshalb von fundamentaler Bedeutung für substanzielle Transformationen des Rechts und somit der Art und Weise, wie wir als Gesellschaften (zusammen) leben. Grundsätzlich können natürlich auch die spezifischen Auslegungen der Grundannahmen jederzeit verändert werden. Notwendig sind dafür Mehrheiten in Rechtsetzungsprozessen. Derartige Veränderungen würden folgerichtig auch Herrschaftsverhältnisse verschieben – etwa wenn kleinbäuerlicher Landbesitz oder indigenes, kollektiv genutztes Land wirksam vor Landgrabbing geschützt wä32 Masodzi Chinyai in Cross und Schliemann, Macht durch Deutungshoheit; Swartboii, On the Land Question; Rivera Zea in Locane und Theurer, Epistemische Gewalt; Hambira und Kandorozu in Handura, Schmidt und Theurer, Kolonialverbrechen. 33 Umfassend: Mgbeoji, Global Biopiracy.

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re. Oder wenn die Sozialbindung des Eigentums rechtlich effektiv eingefordert würde. Wenn die Spekulation mit Wohnraum zur Gewährleistung eines allgemein möglichen Zugangs verstärkt rechtlich reguliert würde. Wenn das Wissen indigener Bevölkerungsgruppen um medizinische Wirkstoffe besser geschützt würde. Oder wenn Land, das im Verlauf der Kolonisierung offensichtlich rechtswidrig annektiert wurde, unter erleichterten Bedingungen zurückverlangt werden könnte. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, warum gerade für diese Grundannahmen kennzeichnend ist, dass sie zumeist sowohl innerstaatlich als auch international als außerhalb des rechtsstaatlich politisch Verhandelbaren liegend konstruiert sind. Weitere konkrete Beispiele sind das Primat eines spezifisch wirtschaftsliberal ausgelegten freien Marktes und des Freihandels34 oder das Rechtsinstitut einer Ehe, deren Konzeption auf europäische, stark theologisch geprägte Vorstellungen der Rollenverteilung zwischen heteronormativ erdachten Männern und Frauen zurückgeht35. Auch die universale Geltung der Menschenrechte wird wegen der tradierten stark individualrechtlichen europäischen Prägung dieser Rechte und wegen ihres starken Fokus auf bürgerliche und politische Rechte aus dekolonialer Perspektive konstruktiv-kritisch hinterfragt: Makau Mutua verweist auf die bei der Entstehung der Menschenrechte vorherrschende Ausblendung kultureller, politiktheoretischer und philosophischer Vorstellungen der in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch größtenteils formal kolonisierten und somit von Rechtsetzungsprozessen ausgeschlossenen Gesellschaften, und er prägt das Bild einer erzwungenen Umarmung aus der Sicht von denen, deren kulturelle Wissensbestände nicht ausreichend einbezogen wurden.36 Dabei geht es Mutua nicht darum, einen universalen Geltungsanspruch lediglich zu dekonstruieren. Vielmehr will er die Legitimität der Menschenrechte erhöhen, wobei er sich dafür einsetzt, die Ungleichheit der Ausgangsbedingungen sichtbar zu machen und gegensteuernde Maßnahmen zur Schaffung materieller Gleichheit zu ergreifen. Zukünftig müssen Mutua zufolge diverse kulturelle Verständnisse einbezogen und Aushandlungs- sowie Auslegungsprozesse inklusiv gestaltet werden, da es gelte, nicht weiterhin europäische Vorstellungen davon, wie Ge-

34 Orford, Food Security / Orford, Ernährungssicherheit; Ancheita in Locane und Theurer, Private Unternehmen, S. 368. 35 Rivera Cusicanqui, La noción de “derecho”; Oyĕwùmí, Conceptualizing Gender; Rivera Zea in Locane und Theurer, Epistemische Gewalt. 36 Mutua in einem Podcast des Center for Human Rights der University of Pretoria am 14. Februar 2019, Titel: The human rights movement: A truly universal system? (online als Teil der Serie Africa Rights Talk).

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sellschaften sein sollten, zu perpetuieren und weltweit durchzusetzen. Wesentlich ist für Mutua in diesem Kontext auch, die Überbetonung ziviler, politischer und bürgerlicher Rechte in der Menschenrechtsbewegung zugunsten eines verstärkten Augenmerks auf soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte wettzumachen.37 Auch hier geht es also um Deutungsmacht bei der Setzung und Auslegung von Recht. Upendra Baxi und José Manuel Barreto dekonstruieren die Grundannahme von Vernunft europäischer Prägung in ihrer Funktion als Grundlage (rechts-)wissenschaftlicher Strukturierung und beschäftigen sich damit, was durch die Akzeptanz dieser Grundannahme unsichtbar gemacht und verdrängt wird: „Die moderne Vernunft ist ein Gegenstand der Kritik, da sie eine Schlüsselrolle bei der Unterwerfung der nichteuropäischen Kulturen spielt. Die hegemoniale rationale Art des Denkens wurde den Kolonien aufgepfropft durch Konquistadoren, Siedler, Priester, Juristen, Schriftsteller, Sprachwissenschaftler und Philosophen. Und sie durchdrang die nichteuropäischen Kulturen durch Prozesse der Modernisierung und der kulturellen Dominanz der Lebensweisen, die nunmehr seit 500 Jahren andauern. Ganze Kontinente sind kolonisiert worden – aber auch Sprachen, religiöse Vorstellungen, Kulturen, Erinnerung, unterschiedliche Arten des Denkens und der Konzipierung von Raum – aus dem Drang heraus, Leben nach europäischem Antlitz zu gestalten.“38 Beide Autoren machen Wissen in Bezug auf Recht zugänglich, das auf Empathie und Mitgefühl beruht, und verweisen auf die Unzulänglichkeiten gängiger Menschenrechtstheorien, die abgekoppelt seien vom menschlichen (Mit-)Empfinden.39 So erschließen sie – in dieser Hinsicht vergleichbar mit Mutua – dem Recht innewohnendes transformatives Potenzial. Ein verbindendes Merkmal dekolonialen Erkenntnisinteresses ist die Frage nach den gegenwärtigen Auswirkungen kolonialer epistemischer Gewalt und dem Umgang damit in selbstermächtigender Weise mit dem Ziel, substanzielle Anerkennung, wirkliche Chancengleichheit und materi-

37 Ebd.; so auch Ancheita in Locane und Theurer, Private Unternehmen, S. 368 ff. 38 Baxi, The Future of Human Rights; Barreto, Human Rights and Emotions, S. 108 (mit einem Verweis auf Walter Mignolos Konzept der Geopolitics of Knowledge sowie Mignolo, The Darker Side) [Übers. d. Hg.]. 39 Baxi, The Future of Human Rights, S. 14; Barreto, Human Rights and Emotions (mit Verweis auf Baxi), S. 109: „Unweigerlich stellt sich ein Gefühl des Unbehagens angesichts dessen ein, wie die Stimmen der Trauer und Tragödie am trockenen und abstrakten hegemonialen Diskurs der Demokratie und der Menschenrechtstheorie abprallen, der steril und ohne Bezüge zu Schmerz bleibt.“ [Übers. d. Hg.]

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elle Gleichheit zu erlangen.40 Obwohl die einzelnen Prozesse der Kolonisierung heterogen waren, gingen sie durchgängig einher mit verschiedenen den Menschen in den Kolonien gewaltsam aufgezwungenen Wissensbeständen und Dogmen, also spezifisch europäischen Vorstellungen von gesellschaftlichem Leben, politischer Theorie, marktwirtschaftlichem Handeln, sozialer Ordnung, Religiosität, Geschlechterverhältnissen und ‑rollen, Sexualität und Familienleben. Dabei spielten rassistische Zuschreibungen eine Schlüsselrolle bei der Legitimierung der systematischen Ausbeutung und der massiven Gewalt gegen Menschen, und zwar trotz der bereits postulierten formalen Gleichheit aller Menschen im Recht. Ohne rassistische Zuschreibungen und kulturelle Abwertung wären europäische Zivilisierungsmissionen schwerlich zu begründen gewesen. Dies offenbart auch, weshalb die Übergänge zu Entwicklungs- und Modernisierungsdiskursen, zu Diskursen über die notwendige Umsetzung von Strukturpolitiken und über eine spezifische Vorstellung von Rechtsstaatlichkeit (Rule of Law) sowie zu Diskursen zu gebotenen humanitären Interventionen und zum Kampf gegen Terrorismus unter Gesichtspunkten fortwirkender rassistischer und kultureller Abwertung als problematisch erachtet werden.41 Silvia Rivera Cusicanqui zeichnet für den bolivianischen Kontext nach, inwiefern die Missionierung und die erzwungene Übernahme einer europäischen (katholischen) sozialen Konstruktion von Geschlecht und Geschlechterdifferenz im Verlauf der spanischen Invasion einen enormen Rückschritt für die in den Anden lebenden Frauen bedeutete. Sie wurden aus dem politischen Leben und mithin aus den Bereichen verdrängt, die aus europäischer Perspektive „öffentlich“ waren. Sie verloren ihre erbrechtlichen Positionen, wurden aus wirtschaftlichen Interaktionen gedrängt und gezwungen, sich als Ehefrauen und Mütter auf den aus europäischer Perspektive „privaten Raum“ zu beschränken.42 Ähnliche Ausschlüsse und Beschränkungen lassen sich in praktisch allen Prozessen europäischer Kolonisierung erkennen: Paula Gunn Allen beschreibt die Vergeschlechtlichung von Menschen und die dadurch etablierte Abwertung des neu geschaffenen Subjekts der „Frau“ als unabdingbare

40 Rivera Cusicanqui, La noción de “derecho”; Mignolo, Epistemic Disobedience; Spivak, Can the Subaltern Speak; Mbembe, Ausgang aus der langen Nacht; Lugones, Heterosexualism / Lugones, Heterosexualismus; Gunn Allen, The Sacred Hoop; Oyĕwùmí, The invention of women; Rivera Zea in Locane und Theurer, Epistemische Gewalt; Ancheita in Locane und Theurer, Private Unternehmen. 41 Anghie, The evolution of international law, S. 750 f.; Mégret, From “Savages” to “Unlawful Combatants”; zu Doppelstandards: Kaleck, Mit zweierlei Maß. 42 Rivera Cusicanqui, La noción de “derecho”.

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Voraussetzung und Bestandteil der gewaltsamen Unterwerfung und kulturellen Abwertung der amerikanischen First Nations. Sie sieht die systematische Auslöschung der Menschen in einem engen Zusammenhang mit der damit einhergehenden intendierten Auslöschung von Lebensweisen, die – wie sie darlegt – als bedrohlich erachtet wurden: „Der physische und kulturelle Völkermord der amerikanischen Bevölkerung ist und war in erster Linie Folge und Ausdruck patriarchaler Angst vor Gynokratie. Die Puritaner, aber auch Katholiken, Quäker und Missionare wie auch ihre säkularen Zeitgenossen konnten unmöglich akzeptieren, dass es Frauen erlaubt wurde, Schlüsselpositionen innezuhaben und über Entscheidungsmacht zu verfügen, und zwar quer durch alle gesellschaftlichen Schichten – Frauen, die ihren Männern und Brüdern zurieten, bestimmte Güter zu kaufen oder zu verkaufen, Töchter, die ihren Vätern sagten, wer getötet werden sollte und wer nicht. Frauen in Führungspositionen, die an Zusammenkünften mit Siedlern teilnahmen und denen männliche Führungspersönlichkeiten mit Respekt begegneten, waren den Eindringlingen ein Dorn im Auge.“43 Oyèrónké Oyĕwùmí eröffnet einen weiteren Blickwinkel auf Gesellschaftsformen, die nicht zwingend vergeschlechtlicht sein müssen. Sie zeichnet eine Form gesellschaftlicher Ordnung nach, in der einer vergeschlechtlichten Kategorisierung keine Priorität zukommt, sondern soziale Rollen eher ausgehend von relativem Alter konstruiert werden.44 Zusätzlich stellt sie die Bedeutung der sozialen Konstruktion der „Kleinfamilie“ heraus, die in ihrer heute universalisierten Form auch auf europäische Vorstellungen zurückgehen könnte, und beschreibt, wie gerade die Idee der Kleinfamilie zur strukturellen wirtschaftlichen Abhängigkeit des neu erschaffenen Subjekts der Frau vom neu erschaffenen Subjekt des Mannes beiträgt.45 Dass Gender und eine spezifische Vorstellung von Heterosexualität und Heteronormativität als gesellschaftlich strukturierendem Moment im Verlauf der europäischen Kolonisierung gewaltsam universalisiert wurden, betont auch Maria Lugones. Die Etablierung dieser spezifischen Wissensbestände müsse immer im Zusammenhang mit anderen gewaltsamen Zuschreibungsprozessen gesehen werden. Sie knüpft an Anibal Quijanos Konzept der Kolonialität der Macht an und fordert eine verstärkte Einbin-

43 Gunn Allen, The Sacred Hoop, S. 3. [Übers. d. Hg.]; siehe hierzu auch: Lugones, Heterosexualismus, S. 177 ff. 44 Oyĕwùmí, The Invention of Women; siehe hierzu auch: Lugones, Heterosexualismus, S. 174 ff. 45 Oyĕwùmí, The Invention of Women; Oyĕwùmí, Conceptualizing Gender.

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dung mehrdimensionaler oder intersektionaler Betrachtungsweisen.46 Auch Tarcila Rivera Zea sieht die katholische Missionierung und die Aufoktroyierung europäischer Vorstellungen von Geschlechterdifferenz und ‑rollen als Rückschritt für die Frauen in den Anden. Sie beschreibt die heutzutage erhöhte und teils nicht ausreichend sanktionierte Gewalt gegenüber Frauen als komplexe Auswirkung der durch die Kolonisierung gewaltsam veränderten sozialen Rollen.47 Sie zeigt aber auch anhand ihrer eigenen Erfahrung als Aktivistin, wie sie und Frauen aus anderen Kontexten sich gemeinsam Wege zur Einforderung ihrer Rechte als Indigene und als Frauen erschlossen haben.48 Die Beschäftigung mit dekolonialen Perspektiven gerade im deutschen rechtswissenschaftlichen und menschenrechtlichen Kontext ist aus mehreren Gründen sowohl bereichernd als auch unabdingbar: Sie liefert Anschauungsmaterial dafür, wie das Recht just wegen seiner vorgeblichen Objektivität und Neutralität spezifische Wissensbestände absichert und reproduziert. Sie ermöglicht das gedankliche Abschütteln der Vorstellung von naturgegebenen vergeschlechtlichten Differenzen bzw. das Abschütteln der Überzeugung, es handle sich um eine Unterscheidung von herausragender Bedeutung. Und sie fordert eine selbstkritische Reflexion eigener praktischer Arbeit, aber auch der Forschungstätigkeit ein, indem sie darauf verweist, dass etwa unter dem Deckmantel der weltweiten Durchsetzung von Frauenrechten teils erneut missionarisch agiert werde und dass die Projektion eigener Vorstellungen auf „andere“, verbunden mit der Anmaßung, für sie sprechen zu können, eine Form epistemischer Gewalt sei.49 Wenn indigene Frauen aus der Amazonasregion sich Erwartungen internationaler NGOs entziehen und bei einer Anhörung im peruanischen Parlament nicht wie geplant Frauenrechte, sondern soziale Rechte und besseren Zugang zu Bildung und Gesundheit für die gesamte Gemeinschaft einfordern, ist dies ein eindrückliches Zeichen für die Überwindung vergeschlechtlichter Differenzierung und für praktizierten Feminismus, der bisher noch nicht ausreichend beachtet wird.50

46 Lugones, Heterosexualism / Lugones, Heterosexualismus. 47 Rivera Zea in Locane und Theurer, Epistemische Gewalt. Zu einer ähnlichen Einschätzung zum nordamerikanischen Kontext: Gunn Allen, The Sacred Hoop. 48 Rivera Zea in Locane und Theurer, Epistemische Gewalt. 49 Zu epistemischer Gewalt: Spivak, Can the Subaltern speak; zudem: Mohanty, Under Western Eyes; Nesiah, The Ground beneath und Kapur, Erotic Justice. 50 Es handelte sich um eine von der Coordinadora Nacional de Derechos Humanos initiierte Anhörung zu Frauenrechten im peruanischen Parlament im September 2011.

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Die Sichtbarmachung der Kehrseiten und imperialen Tendenzen von „Hilfe“ (von Zivilisierung über Entwicklung bis hin zur globalen Rechtsstaatlichkeit) ist ein Kernelement dekolonialer Intervention. Anghie beschreibt, wie Entwicklungs- und Modernisierungsdiskurse und später Rechtsstaatlichkeits- und Strukturanpassungsdiskurse die vorherige Mission der Zivilisierung ersetzten und gleichermaßen Ausbeutung ermöglichten.51 Vasuki Nesiah eröffnet eindrückliche Perspektiven auf humanitäre Interventionen.52 Makau Mutua prägte das Bild von „Saviors“ – in etwa „Heilsbringer“ – für die Selbstwahrnehmung vieler westlicher NGOs bei der weltweiten Durchsetzung von Menschenrechten. Darüber hinaus gibt er zu bedenken, dass die Mehrzahl der finanziell gut ausgestatteten und somit global einflussreichen NGOs ihren Sitz in Ländern des globalen Nordens haben und für die Durchsetzung derjenigen Menschenrechte eintreten, die im Einklang mit neoliberalen Ökonomien bzw. mit dem Primat des freien Marktes und des Freihandels stehen.53 Dies hänge damit zusammen, dass die meisten Führungspersonen dieser NGOs aus privilegierten sozialen Schichten stammen, darum wüssten, dass sie sich ihre Finanzquellen nicht selbst abschneiden dürften, und zudem in liberalen Gesellschaften sozialisiert worden seien. Obwohl sich die NGOs als neutral im Hinblick auf durchzusetzende Wirtschaftssysteme gerierten, trügen sie – solange sie sich nicht auch stärker für wirtschaftliche und soziale Rechte einsetzten – dazu bei, dass unter dem Deckmantel der Hilfe zur Durchsetzung von Menschenrechten faktisch weltweit eine wirtschaftsliberale Gesellschaftsform verankert werde.54 Für den andinen Raum zeichnet Silvia Rivera Cusicanqui eindrücklich nach, wie aus der Perspektive gewaltsam „indigenisierter“ und „vergeschlechtlichter“ Menschen deren wirtschaftliche Ausbeutung, kulturelle Abwertung sowie soziale und politische Exklusion über die Jahrhunderte hinweg unter sich verändernden, teils progressiv anmutenden Deckmänteln aufrechterhalten wurde.55 Im Einklang mit anderen dekolonialen, aber auch weiteren machtkritischen (etwa feministischen oder antirassistischen) Theoretiker*innen und Praktiker*innen konstatiert auch sie, dass die gegenwärtige Form liberaler Rechtsstaatlichkeit und individueller Menschenrechte dazu tendiere, die im Verlauf der Kolonisierung etablierte 51 Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making; Anghie, Imperialism and international Legal Theory / Anghie, Imperialismus und Theorie. 52 Nesiah, From Berlin to Bonn to Bagdad. 53 Mutua, Human Rights Standards, S. 88 ff. / Mutua, Die Rolle, S. 230 ff. 54 Mutua, Human Rights Standards, S. 90 ff. / Mutua, Die Rolle, S. 233 ff. 55 Rivera Cusicanqui, Pachakuti / Rivera Cusicanqui, Pachakuti.

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multidimensionale Ausgrenzung und Abwertung zu reproduzieren. Als wesentliche Hindernisse für die rechtliche Gleichstellung im andinen Kontext nennt Rivera Cusicanqui die Territorialisierung von indigenen Rechten, das Dilemma der Ethnisierung und die Wahrnehmung von Indigenität als durch „Ursprünglichkeit“ determiniert.56 Auch Rivera Zea beschreibt die Schwierigkeiten emanzipatorischer Kämpfe im Geflecht vorgefertigter Kategorien überhaupt möglicher Identitäten.57 Wie beide herausarbeiten, könne strategischer Essenzialismus ausgehend von gegenwärtig bestehenden Kategorien zur Erreichung konkreter politischer Ziele zwar unausweichlich sein, doch müsse mittel- und langfristig die Herausbildung eigener komplexer Identitäten möglich sein. Zur Dekolonisierung internalisierter Wissensbestände und Zuschreibungen zu Geschlecht, Ethnizität und Indigenität greift Rivera Cusicanqui folgerichtig nicht auf eine im europäischen Kontext entstandene binäre Logik und ein lineares Verständnis von Geschichte zurück, sondern im Sinn dekolonialer politischer Theorie auf philosophische Konzepte indigener Gesellschaften, etwa der Aymara, und fordert eine Gleichzeitigkeit sich widersprechenden Denkens.58 Die Beschäftigung mit dekolonialen Perspektiven aus privilegierten Positionen (des globalen Nordens) heraus ist jedoch auch kritisch zu sehen und zu reflektieren: Angesichts der Asymmetrien der akademischen Wissensproduktion und ihrer drittmittel- und spendenbasierten Finanzierung mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Universitäten des globalen Nordens kritisiert Rivera Cusicanqui die Aneignung von im globalen Süden entstandenen dekolonialen Theorien durch Theoretiker*innen des globalen Nordens, weil nur Letztere im Rahmen des Wissenschaftsbetriebs davon profitierten und weil dadurch die theoretischen Konzepte an Schlagkraft verlören und dem lokalen Kampf entfremdet würden.59 Bekanntlich verändern Begriffe und Konzepte ihre Bedeutung, wenn sie wandern – ob nun im Verlauf der Zeit, geografisch oder von einer Sprache in eine andere: Wenn jemand im 21. Jahrhundert eine im 19. Jahrhundert verfasste Abhandlung liest, wenn sich jemand aus einer liberalen europäischen Rechtstradition heraus mit kollektiven Landrechten befasst oder wenn man die von einer Sprache in eine andere übersetzten Aussagen zu Frauen als Füh-

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Rivera Cusicanqui, La noción de “derecho”. Rivera Zea in Locane und Theurer: Epistemische Gewalt, S. 319 ff und S. 323 f. Rivera Cusicanqui, Ch’ixinakax utxiwa. Una reflexión. Rivera Cusicanqui, Ch’ixinakax utxiwa. Eine Reflexion.

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rungspersonen bei First Nations liest, so wird das Verständnis ein anderes sein als im jeweiligen ursprünglichen Fall.60 Transnational tätige Unternehmen, Handels- und Wirtschaftsrecht und der Public-Private-Divide Wenn die Prozesse der europäischen Kolonisierung als der Ausbeutung und dem Transfer von Vermögen dienend betrachtet werden, ist verständlich, dass ein Augenmerk dekolonialer Rechtskritik auf gegenwärtigen globalen Handels-, Wirtschafts- und Finanzstrukturen liegt und dass Schnittmengen mit linker, kapitalismuskritischer bzw. (neo-)marxistischer Theorie bestehen.61 Die Frage, inwiefern internationales Recht zwar als neutral ausgewiesen ist, faktisch in der derzeit vorherrschenden Auslegung jedoch ein spezifisches Wirtschaftssystem fördert und verfestigt, das soziale und wirtschaftliche Ungleichheit produziert, ist ein gängiger Forschungsgegenstand dekolonialer Rechtswissenschaft. Diese Ungleichheit abzumildern und die Strukturen und Normen zu transformieren, die sie verursachen, ist ein Anliegen dekolonialer Rechtspraxis. Im Hinblick auf das internationale Recht kommt erschwerend hinzu, dass nach wie vor Staaten als primäre Rechtssubjekte und Rechtsetzungsorgane gelten.62 Dekoloniale Theoretiker*innen, die sich aus historischer Perspektive mit den vergangenen fünf Jahrhunderten von Kolonisierung und imperialer Ausdehnung beschäftigen, benennen private Akteure und einflussreiche Unternehmen als treibende Kräfte und Nutznießer. Sie waren häufig als Erste vor Ort und betrieben erfolgreich politische Lobbyarbeit, um von den europäischen Regierungen die für sie nötige Unterstützung zu erhalten, und sei es militärische Unterstützung. Wie bereits dargelegt, standen geografische Gebiete teils unter der Herrschaft privater Unternehmen, bevor sie formell zu staatlichen Kolonien wurden. Auch auf die Entwicklung des internationalen Rechts nahmen sie wesentlichen Einfluss. Sowohl die europäischen Staaten als auch einzelne als herausragend geltende Rechtstheoretiker*innen schufen Recht, das im Einklang mit den Interessen ihrer 60 Gunn Allen, The Sacred Hoop; siehe auch: Koskenniemi, Histories of International law, S. 166, S. 168 ff., S. 171 f. und S. 176 / Koskenniemi, Geschichten, S. 139, S. 141 ff., S. 145 f. und S. 151 [in diesem Band]. 61 Chimni, International Law and World Order; Chimni, An outline of a Marxist course; Okafor, Marxian embraces; Koskenniemi, What should international lawyers; zum Begriff der Ausbeutung Marks, Exploitation. 62 Ancheita in Locane und Theurer, Private Unternehmen, S. 369 ff.

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Förderer stand, die primär wirtschaftlicher Art und auf Profitmaximierung gerichtet waren.63 Im Zuge der formalen Entkolonisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bemühten sich einige der vormaligen Kolonien als nunmehr gleiche souveräne Staaten darum, die in der Kolonialzeit etablierte systematische Ausbeutung zu beenden und auf internationaler Ebene eine NWWO auszuhandeln. Sie sollte es ihnen erlauben, tatsächlich Souveränität über ihre natürlichen Ressourcen wie Erdöl, Erdgas, Gold, Diamanten, seltene Erden und andere Bodenschätze, Bauland, Holzbestände, landwirtschaftliche Nutzfläche, Fischbestände, Trinkwasser oder Wasserkraft zu erlangen und selbstbestimmt politische Entscheidungen zu treffen, etwa zum Zugang zu Investitionen aus dem Ausland. Die Regeln des internationalen Handels sollten dabei so verändert werden, dass bessere Preise für Rohstoffe möglich wären,64 und auch das Wissen über medizinisch wirksame Pflanzenstoffe oder Saatgut sollte geschützt werden.65 Als Ausgangspunkt der Bemühungen wird häufig eine internationale Konferenz in Bandung im Jahr 1955 genannt, bei der es unter anderem darum ging, Solidarität unter den neuen Staaten zu stärken und sich auf gemeinsame Forderungen und Standpunkte zu einigen66. In den darauffolgenden Jahren brachten die Staaten über internationale Organisationen wie die Asian African Legal Consultative Organization, aber auch über die Generalversammlung der Vereinten Nationen, in der die neuen Staaten eine Mehrheit hatten, oder über Unterorgane der Vereinten Nationen mehrere Vorschläge zu einer wirtschaftlich und sozial gerechten Weiterentwicklung des internationalen Rechts ein. Konfrontiert wurden sie auf internationaler Ebene mit den Argumenten, dass Resolutionen der Generalversammlung kein für Staaten verbindliches Recht schaffen konnten und dass die neuen Staaten in eine internationale Ordnung bereits bestehender Verträge und Normen – etwa zum Schutz ausländischer Investitionen, zum Grundsatz des freien Zugangs zu Märkten oder zu Patenten – eingetreten seien, die nicht verhandelbar sei. Antony Anghie zeichnet präzise die komplexen Prozesse nach, innerhalb derer private Unternehmen und die ihre Interessen vertretenden Staaten eine entsprechende Deutungshoheit über das internationale Recht herzustellen vermochten. Auch die vor der formalen Entkolonisierung eingesetzten Institutionen wie die Weltbank oder 63 Pahuja, Rival Worlds; Koskenniemi, The Gentle Civilizer, etwa S. 110 ff., S. 116 ff., S. 127 ff., S. 136 ff. oder S. 173 ff.; zu Hugo Grotius: Weststeijn, Provincializing Grotius. 64 Anghie, Legal Aspects / Anghie, Rechtliche Aspekte. 65 Mgbeoji, Global Biopiracy. 66 Umfassend: Eslava, Fakhri und Nesiah, Bandung.

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der Internationale Währungsfonds spielten dabei eine zentrale Rolle. Als neu gegründetes Organ der Generalversammlung konnte sich die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung gegen den entschiedenen Widerstand der meisten westlichen Staaten nicht gegen ihren Gegenspieler durchsetzen, das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT), aus dem Jahre später die Welthandelsorganisation hervorging.67 Als eine weitere zu den Bemühungen um eine NWWO gegenläufige Entwicklung auf internationaler Ebene beschreibt Anghie die erfolgreiche Konstituierung eigener Rechte der transnational tätigen Unternehmen im direkten Verhältnis zu Staaten. Die Unternehmen argumentierten, dass mit einzelnen Staaten geschlossene Verträge – etwa Konzessionsverträge – ihnen Rechte zusicherten und dass sie die betreffenden Staaten im Fall von Enteignungen oder sonstigen Beschränkungen im Rahmen schiedsgerichtlicher Verfahren auf Entschädigung verklagen könnten. Diese Entwicklung hängt eindeutig mit der Befürchtung der privaten Akteure zusammen, nationale Gerichte in den neu gegründeten Staaten könnten zugunsten der jeweiligen Regierung oder betroffener lokaler Bevölkerungsgruppen entscheiden.68 Entgegen der anfänglichen Ablehnung dieser Vorstellung auf verschiedenen Ebenen – seitens konservativer Jurist*innen oder auch durch den Internationalen Gerichtshof, der befand, nur Staaten und nicht Private könnten Rechtsverhältnisse mit anderen Staaten eingehen und deshalb finde nationales Recht Anwendung – wird im internationalen Recht mittlerweile anerkannt, dass Unternehmen aus Verträgen mit Staaten Rechte ableiten und Schiedsgerichte anrufen können, die bei ihrer Rechtsprechung eine Parteinahme zugunsten der Unternehmen nicht verhehlen können. Dies führt zu der widersprüchlichen Situation, dass private Unternehmen zwar als Rechtssubjekte auf internationaler Ebene im Rahmen von Schiedsgerichtsverfahren von Staaten Entschädigungen für getätigte Investitionen einklagen können, jedoch für Menschenrechtsverletzungen oder Umweltzerstörung im Ausland nicht in ausreichendem Maß rechtlich zu belangen sind.69 Auch die bisherige relative Unsichtbarkeit von Privaten und insbesondere von Unternehmen in gängigen deutschsprachigen rechtswissenschaftlichen Darstellungen zu den Rechtsquellen und zur Entstehungsgeschichte des Völkerrechts, in denen formalistisch Staaten als Rechtsetzungssubjekte hervorgehoben werden, trägt dazu bei, dass jene im Hinblick auf ihre Rol-

67 Anghie, Legal Aspects, S. 153 / Anghie, Rechtliche Aspekte, S. 277 f. 68 Ebd., S. 150 / Ebd., S. 272. 69 Kaleck und Saage-Maaß, Unternehmen vor Gericht.

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le bei der internationalen Rechtsetzung nicht ausreichend beachtet werden. Nötig wäre die Einbeziehung politikwissenschaftlicher Sichtweisen, da es gilt, ihre lobbyistische Tätigkeit adäquat zu erfassen. Zudem versperrt die in den kontinentaleuropäischen Rechtswissenschaften tradierte Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem internationalen Recht den Austausch von Wissen zwischen hochspezialisierten Jurist*innen. Immer noch werden öffentliches und privates internationales Recht bzw. transnationales Recht als von unterschiedlichen Grundsätzen bestimmt gesehen. Ob und inwiefern Privatautonomie oder das Prinzip pacta sunt servanda in bilateralen Verhältnissen zwischen juristischen Personen und Staaten auf internationaler Ebene über dem Schutz kollektiver oder individueller Interessen von Menschen stehen sollten, ist eine noch zu diskutierende Frage. Teils wird aus dekolonialer Perspektive gefordert, etwa im Bereich des Bergbaus bilaterale durch multilaterale Verträge zu ersetzen, an denen auch ortsansässige Gemeinden beteiligt sind, die von einschlägiger Umweltzerstörung, Trinkwasser- oder Luftverschmutzung und Gesundheitsbeeinträchtigung betroffen sind.70 Auch das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) setzt auf die Beteiligung von vor Ort betroffenen Gemeinden und Gemeinschaften im Vorfeld großer Infrastrukturprojekte und Agrarindustrie- oder Bergbauvorhaben. Rivera Zea verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass diese Beteiligungsverfahren nur dann ihre Funktion erfüllen können, wenn die für die jeweiligen Entscheidungsfindungsprozesse nötigen Informationen rechtzeitig zugänglich gemacht würden. Dies bedeutet, dass ggf. auch detaillierte Umsetzungsvorschriften auf nationaler Ebene erlassen werden müssen, deren Aushandlung ebenfalls im Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Interessen der Menschen einerseits und dem Drängen nach möglichst unbeschränktem Zugang zum Markt für die Unternehmen andererseits steht.71 Unter welchen Umständen Schulden, die von diktatorischen Regimen oder in spezifischen Ausnahmesituationen auf dem globalen Finanzmarkt aufgenommen wurden, von den betreffenden Bevölkerungen nicht beglichen werden müssen, ist eine Frage, die unter dem Begriff der „odious debts“ diskutiert wird. Dahinter steht dieser unverändert tiefschürfende rechtliche Fragekomplex: Was wiegt stärker – Menschen oder Profit? Welche Schutzgüter setzen wir an die Spitze eines sich konsti-

70 Gathii und Odumosu-Ayanu, The Turn. 71 Zum peruanischen Kontext: Rivera Zea in Locane und Theurer, Epistemische Gewalt, S. 327 f.

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tutionalisierenden globalen Rechts? Um imperiale Ausdehnung adäquat rechtlich fassen zu können, ist es nach Ansicht dekolonialer Theoretiker*innen von zentraler Bedeutung, diesen bestehenden Public-Private-Divide zu verstehen und sich verstärkt mit privatrechtlichen Normen des internationalen Rechts zu beschäftigen.72 Eine unmittelbar damit verknüpfte drängende rechtliche Grundsatzfrage betrifft den Kernbereich politischen Entscheidungsspielraums in demokratisch verfassten Gesellschaften. Die den Regierungen über demokratische, freie und unabhängige Wahlen verliehene Legitimität zur Regelung des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie der die Menschen existenziell betreffenden Bereiche – beispielsweise Schutz ihres Lebens und ihrer Gesundheit, Ernährungssicherheit und sauberes Wasser, Zugang zu Bildung, Gewährleistung arbeitsrechtlicher Mindeststandards, bezahlbarer Wohnraum oder Tier-, Umwelt- und Klimaschutz – wird ausgehöhlt, wenn durch transnationales Recht oder bilaterale staatliche Abkommen derartige Entscheidungen vereitelt werden. Dekoloniale Theoretiker*innen beschreiben, wie diese Frage im Verlauf der Bemühungen um eine NWWO rechtlich verhandelt wurde und dass sie wesentlich mit grundsätzlichen gegenwärtig zu klärenden Fragen nach Verteilung und wirtschaftlicher Regulierung zusammenhängt.73 Spezifische wirtschaftsliberale Ideen von Freihandel oder Auslegungen des Begriffs individuelles Eigentum zugunsten des Schutzes ohnehin Privilegierter scheinen auf internationaler Ebene so reibungslos imperiale Ausdehnung und Ausbeutung tragen zu können, weil sie dargestellt werden, als seien sie dem Zugriff des öffentlichen internationalen Rechts und dem Zugriff staatlicher Souveränität und politischer Entscheidungsmacht entzogen.74 Sundhya Pahuja arbeitet heraus, wie just im Zusammenwirken politischer und wirtschaftlicher Institutionen auf internationaler Ebene spezifische Vorannahmen als Prinzipien universal geltenden Rechts diskursiv etabliert und somit liberale kapitalistische Handels-, Wirtschafts-

72 Koskenniemi, Introduction, S. 11 f.: „Die Beziehungen zwischen öffentlichem und privatem Recht – oder zwischen Souveränität und Eigentum, wie ich an anderer Stelle formulierte – sind viel enger, als es Darstellungen zur Rolle des Rechts bei der imperialen Ausdehnung gemeinhin vermuten lassen.“ [Übers. d. Hg.]; Anghie, Legal Aspects / Anghie, Rechtliche Aspekte; Chimni, International Law and World Order; Pahuja, Rival Worlds. 73 Anghie, Legal Aspects / Anghie, Rechtliche Aspekte; Chimni, International Law and World Order / Chimni, Wesen und Merkmale; siehe auch: Feichtner, Der Kampf um Rohstoffe. 74 Orford, Food Security / Orford, Ernährungssicherheit.

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und Finanzstrukturen global verankert wurden. Dieser Analyse zufolge durchdringt ein ursprünglich zur Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen entwickeltes internationales Recht immer kleinteiliger nationale und lokale Entscheidungsspielräume und gestaltet sie massiv um. Zudem verweist Pahuja darauf, dass politische Institutionen unter dem Deckmantel von Entwicklung, Good Governance und Rule of Law gezwungen werden, Maßnahmen zur Strukturanpassung auf nationaler Ebene zu ergreifen, die für die jeweiligen Menschen von Nachteil sind und die die betroffenen Staaten teils auf andere Art und Weise hatten lösen wollen. Konkret geht es um Deregulierung, Privatisierung – etwa des Gesundheitssektors oder des Straßenbaus – und austeritätspolitische Maßnahmen.75 Mit dieser Sichtweise knüpft sie unmittelbar an Anghies Kritik des internationalen Rechts an und stellt die unangenehme Frage nach den „Kollateralschäden“ der erfolgreichen Etablierung der Idee von universal geltendem internationalen Recht an sich – mit spezifischem Blick auf eine internationale Rule of Law, die eine ganz bestimmte Art ökonomischen Agierens begünstigt und politische Handlungsspielräume schmälert.76 Im Rahmen des Schiedsgerichtsverfahrens, auf das Simon Masodzi Chinyai in diesem Band Bezug nimmt, wurde ein Amicus-Curiae-Schreiben von vier Repräsentant*innen indigener Gemeinschaften und vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) zu der Frage, ob indigene Land- und Beteiligungsrechte einzubeziehen seien, vom Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten der Weltbank im Juni 2012 für nicht zulässig befunden.77 Das rechtliche Verhältnis zwischen bilateralen Investitionsschutzabkommen, Entschädigungsansprüchen privater Unternehmen und Menschenrechten bleibt ungeklärt. Auch dieses Beispiel zeigt, dass der Public-Private-Divide des internationalen Rechts und die relativ große Macht von Schiedsgerichten angesichts ihrer unklaren Legitimität, ihrer den nationalen politischen Handlungsspielraum einschränkenden Wirkung und ihres strukturellen Bias zu-

75 Pahuja, Decolonizing International Law, S. 142 ff. 76 Ebd.; zur Einschränkung von Handlungsspielräumen auch: Chimni, International Law and World Order, etwa S. 515 / Chimni, Wesen und Merkmale, S. 104. 77 Border Timber Limited vs. Republic of Zimbabwe, ICSID Case No. ARB/10/25, und Bernhard von Petzold et al. vs. Republic of Zimbabwe, ICSID Case No. ARB/10/15.

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gunsten der Interessen privater Unternehmen verstärkt kritisch zu hinterfragen sind.78 Welche Belange also sollten durch internationales Recht global reguliert werden? In welchen Bereichen sollen Mindeststandards gelten und somit auch Staaten gegenüber einforderbar sein? Wo sollten lokale Spielräume und Entscheidungen Priorität haben? Und damit zusammenhängend: Inwiefern lässt sich mit rechtlichen Mitteln einfordern, dass bestimmte grundsätzliche Entscheidungen gesellschaftlich verhandelt und gemeinsam entschieden und erst infolgedessen rechtlich umgesetzt werden? Einen Grundkonsens scheint es in dekolonialer Rechtskritik und ‑praxis jedenfalls im Hinblick darauf zu geben, zum einen den Menschen und nicht juristische Personen in den Mittelpunkt des Rechts zu stellen und zum anderen zur Eindämmung gegenwärtiger imperialer Ausdehnung und wirtschaftlicher wie auch sozialer Ausbeutung das Primat des Marktes zu dekonstruieren und stattdessen politische Handlungsspielräume zu betonen und zu stärken.79 Zugleich bietet das Recht hinsichtlich der Einforderung sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und indigener Rechte einen Handlungsspielraum, der sich weltweit noch nachdrücklicher nutzen ließe. Der auch in diesem Band von Alejandra Ancheita und Colin Gonsalves angesprochene progressive Gebrauch von Recht, etwa in Form von Klagen gegen Bergbauunternehmen, die die Lebensgrundlage indigener Gemeinschaften zerstören, oder das Einklagen von zumindest einer Mahlzeit am Tag stößt zwar an systemische Grenzen, trägt aber in konkreten Kontexten dazu bei, dass Menschen ihre Rechte durchsetzen können.80 Weltweite Netzwerke von Anwält*innen und Organisationen könnten verstärkt und im Hinblick auf tradierte Privilegien und Machtverhältnisse durchleuchtet und dekolonisiert werden, da es gilt, Wissen und Know-how auszutauschen und Aktio-

78 Koskenniemi, It’s not the Cases; Anghie, Legal Aspects, S. 150 ff. / Anghie, Rechtliche Aspekte, S. 270 ff.; Odumosu-Ayanu, The Law and Politics; Schliemann, The Requirements. 79 Chimni, International Law and World Order / Chimni, Wesen und Merkmale; Pahuja, Decolonizing International Law, S. 341 ff.; Anghie, Legal Aspects / Anghie, Rechtliche Aspekte; Ancheita in Locane und Theurer, Private Unternehmen; Gonsalves in Theurer, Globalisierung; Mgbeoji, Global Biopiracy; Baxi, the Future; Gathii, Food sovereignty; Mutua, Human Rights Standards / Mutua, Die Rolle; Odumosu-Ayanu, The Law and Politics; Koskenniemi, It’s not the Cases. 80 Gonsalves in Theurer, Globalisierung; Ancheita in Locane und Theurer, Private Unternehmen; vgl. auch Terwindt und Schliemann, Tricky Business, sowie Kaleck und Saage-Maaß, Unternehmen vor Gericht.

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nen zu bündeln.81 Besondere Bedeutung kommt dabei auch Süd-Süd-Kooperationen zu.82 Schadenersatzklagen gegen große transnational tätige Unternehmen, beispielsweise wegen der Todesfälle in der Textilindustrie in Südasien, tragen dazu bei, solidarische Netzwerke zwischen Europa und Asien zu knüpfen, die öffentliche Meinung zu mobilisieren, eine Diskussion in den Rechtswissenschaften über Rechenschaftspflichten und Haftung in globalen Wertschöpfungsketten anzustoßen und auch in rechtspolitischen Debatten die Notwendigkeit von nationalen, supranationalen oder internationalen Regelungen hervorzuheben.83 An den Grundfesten der organisierten Ausbeutung in diesem Industriezweig können derartige juristische Aktionen jedoch nichts ändern, jedenfalls nicht unmittelbar. Sie stellen Schritte in die richtige Richtung dar, auch zur Bewusstwerdung und Dynamisierung des Status quo. Weitere Akteure und Mobilisierungen müssten hinzukommen. Aufarbeitung der Kolonialverbrechen und Reparationen In Deutschland änderte Otto von Bismarck angesichts bereits stattfindender privater kolonialer Expeditionen deutscher Unternehmer erst nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 seine zuvor ablehnende Haltung gegenüber dem Anliegen des deutschen Kolonialvereins, der deutsche Staat möge sich formal als Schutzmacht in die Kolonisierung einbringen. Rasch wurden dann auch auf rechtlicher Ebene die nötigen Voraussetzungen für den systematischen Transfer von Reichtum der lokalen Bevölkerungen auf deutsche Siedler, Händler sowie die deutschen Staaten und die „weiße“ deutsche Bevölkerung geschaffen. Juristisch wurde dies durch ein duales Rechtssystem ermöglicht, das die Ungleichbehandlung der Menschen formell rechtfertigte und das rassistisch begründet wurde. Während ein bestimmter Corpus an Rechtsnormen (namentlich die Reichsverfassung und die Reichsgesetze) nur für der deutschen Hoheitsgewalt unterliegende „weiße“ Menschen galt, existierte ein davon getrennter Corpus für „nichtweiße“ Menschen, und zwar im Grunde ohne gerichtlich durchsetzbare Schutzstandards und in der Praxis angewendet durch Kolonialbeam-

81 Ancheita und Terwindt, Towards Genuine Transnational Collaboration. 82 Ancheita in Locane und Theurer, Private Unternehmen, S. 369 f.; zur Gründung des Institute of the Global South for Public Interest Litigation: Gonsalves in Theurer, Globalisierung, S. 365. 83 Umfassend dazu: Saage-Maaß, Zumbansen, Shahab und Bader, The Ali Enterprises.

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te, die faktisch niemandem Rechenschaft schuldeten.84 Bezeichnend für den die Kolonisierung legitimierenden Rassismus sind damalige Parlamentsdebatten, in denen es darum ging, „Mischehen“ rechtlich zu verhindern, da ansonsten die in diesen Ehen geborenen Kinder Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit erlangt und somit das staatlich etablierte System der Rassentrennung durchbrochen hätten.85 Die Schaffung von Kolonialrecht, das nur für die „nichtweißen“, der kolonialen Hoheitsgewalt unterworfenen Menschen galt und das darauf abzielte, diese Menschen möglichst rechtlos zu stellen, war kein Alleinstellungsmerkmal des deutschen Kolonialismus, sondern findet sich in unterschiedlichen Ausprägungen auch in anderen europäischen Rechtssystemen der damaligen Zeit.86 Der staatlichen Etablierung rassistischer Apartheid vorgelagert war die Unsichtbarmachung der politisch verfassten Gesellschaften in den Gebieten, die zu Kolonien werden sollten. Auch dies galt nicht allein für den deutschen Kolonialismus, sondern war – wie Anghie nachzeichnet – bereits Usus bei den spanischen Besatzern im 16. Jahrhundert: Selbst wenn Gesellschaften in den anderen Regionen der Welt strukturell ähnlich (teils hierarchisch) verfasst waren wie europäische, wurden sie aus europäischer Sicht nicht als gleichwertige Staaten anerkannt. Anghie beschreibt, wie zwar bisweilen Verträge mit ihnen geschlossen wurden, ihnen aber nur für eine juristische Sekunde Rechtssubjektivität „gewährt“ wurde, etwa um der Kolonialmacht Land zu übereignen, und die Gültigkeit der Verträge im Belieben der Kolonialmacht stand.87 Auch das Deutsche Reich schloss etwa mit Herero und Nama „Schutzverträge“ ab, beharrte allerdings darauf, dass es sich freilich nicht um völkerrechtliche Verträge unter Gleichwertigen handle. Diese Einschätzung wurde von einem Großteil der damals rechtswissenschaftlich einflussreichen Juristen in Deutschland unter Berufung auf eine vorgeblich streng juristische Methode geteilt.88 Abgewertet und unsichtbar gemacht wurden nicht nur die politisch verfassten Entitäten, sondern auch ihre spezifischen Vorstellungen gesellschaftlichen

84 Hanschmann, Die Suspendierung. 85 Ebd. m. w. N. 86 Zum englischen, französischen und spanischen Kontext: Koskenniemi, Colonial Laws. 87 Anghie, The evolution of international law, S. 742 ff. 88 Hanschmann, Die Suspendierung, S. 146; umfangreich zu Schutzverträgen: Mamadou Hebié: Les accords conclus entre les puissances coloniales et les entités politiques locales comme moyens d’acquisitions de la souveraineté territorial (Presses universitaires de France, 2015) – zitiert nach Koskenniemi, Introduction: International Law and Empire, S. 9.

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Interagierens und Zusammenlebens und ihre jeweiligen Wissensbestände, sei es zur Verteilung von Land, zu Eigentum, Gerechtigkeit oder Umwelt oder auch zu Kosmologie.89 Ermöglicht wurden diese Prozesse der intendierten Abwertung und Auslöschung der Gesellschaften als Akteure und ihres Wissens durch die Deutungshoheit der damaligen europäischen Staaten im Hinblick auf internationale Beziehungen und das sich damals entwickelnde Völkerrecht als Recht zwischen Staaten, das die Europäer*innen gewaltsam und brutal durchsetzten.90 Diese Prozesse der Unsichtbarmachung sind Dreh- und Angelpunkte der gegenwärtigen Reproduktion von Rassismus durch formaljuristische Auslegungen und die Anwendung des Rechts der „Sieger“. Ein Beispiel ist die rechtliche Bewertung der von der deutschen Kolonialmacht in Namibia begangenen Gräuel und spezifisch des Völkermords unter Zugrundelegung des Grundsatzes der Intertemporalität. Die von der deutschen Kolonialmacht im Gebiet des heutigen Namibia gewaltsam eingeführte Rassentrennung, die willkürliche rassistische Gewalt, die systematische sexualisierte Gewalt an Frauen und Mädchen wie auch die großflächige Wegnahme des fruchtbarsten Landes, des Viehs und der natürlichen Ressourcen führten zu Widerstand innerhalb der einheimischen Bevölkerung. Diesen wiederum nahmen die deutschen Militärs, Beamten und Siedler als Vorwand für eine weitere Eskalation der Gewalt. Im Jahr 1904 verkündete General Lothar von Trotha den Vernichtungsbefehl gegen die Herero und im Jahr 1905 den gegen die Nama. Die Menschen wurden vom deutschen Militär erschossen oder in Wüsten gedrängt, die abgeriegelt wurden und in denen systematisch das Wasser der wenigen Quellen und Brunnen vergiftet wurde. Auf Pferden und per Eisenbahn verfolgten die deutschen Militärs die Überlebenden und ermordeten dabei systematisch insbesondere auch solche Kinder, die verhältnismäßig helle Haut hatten.91 Dennoch berichten Herero und Nama heute, dass es praktisch in jeder Familie Menschen mit hellerer Hautfarbe gebe, die von deutschen Siedlern, Händlern oder Soldaten abstammen. Schätzungen sprechen von ungefähr 80.000 Herero und 10.000 Nama, die in direkter Folge des militärisch durchgeführten Völkermords starben.92 Auch andere Gesellschaften wurden gezielt angegriffen oder systematisch derart ihrer Le89 Diese Prozesse werden in heutiger geschichtswissenschaftlicher Forschung teils als kultureller Genozid bezeichnet. Mit Blick auf Namibia: Zimmerer, Prevailing Myths. 90 Umfassend hierzu: Koskenniemi, The Gentle Civilizer. 91 Hambira in Handura, Schmidt und Theurer: Kolonialverbrechen, S. 337 ff. 92 Zimmerer und Zeller, Völkermord.

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bensgrundlage beraubt, dass sie langsam verhungerten. Dies betraf die gesamte „nichtweiße“ Bevölkerung und zum Beispiel auch die Gesellschaften der Damara und San. In Swakopmund und bei Lüderitz wurden groß angelegte Konzentrationslager unterhalten, in denen Menschen Zwangsarbeit leisten mussten und Frauen sexueller Sklaverei ausgesetzt waren und auch regelmäßig vergewaltigt wurden. In diesen Lagern wurden nicht zuletzt diejenigen menschlichen Schädel und Gebeine „präpariert“, die bis heute in Archiven und Sammlungen deutscher Stiftungen und Museen lagern. Inhaftierte Frauen wurden gezwungen, die Schädel abzukochen und das Fleisch von den Knochen zu schaben.93 Obwohl mit der systematischen Ermordung der Herero oder auch der Nama durch die Kolonialtruppen unstreitig die Vernichtung dieser als ethnisch definierten Gruppe aus rassistischen Motiven beabsichtigt war94, argumentiert die deutsche Bundesregierung im Rahmen eines vor einem USamerikanischen Gericht anhängigen Zivilverfahrens von Herero und Nama gegen den deutschen Staat, es habe sich dabei im rechtlichen Sinn nicht um einen Völkermord gehandelt95. Eine Schlüsselrolle in dieser Argumentation spielt das völkerrechtliche Prinzip der Intertemporalität. Da das internationale Recht im Grundsatz weiterhin nur dann als für einen Staat verbindlich erachtet werden kann, wenn dieser sich diesem Recht unterworfen hat, und zwar entweder mittels eines Vertrags oder durch gewohnheitsrechtliche Praxis, kann bei der rechtlichen Bewertung eines Sachverhalts auch nur das Recht herangezogen werden, das zum damaligen Zeitpunkt für den entsprechenden Staat galt. Eine Ausnahme scheint sich für Normen des ius cogens herauszubilden, was im Übrigen auch Sklaverei, Völkermord und Apartheid betrifft.96 Die Argumentation der Bundesregierung jedenfalls stützt sich darauf, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Meinung aller aus damaliger europäischer Perspektive gewichtigen Juristen und aus Sicht aller europäischen Staaten die systematische brutale Tötung von „weißen“ Menschen zwar als Verstoß gegen die Gebo-

93 Eindrücklich: Sima Luipert beim Symposium zu Colonial Repercussions im November 2019. (Videoaufzeichnung der Keynote Speech online.) 94 Vgl. die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, BGBl. 1954 II, S. 729. 95 Schriftliche Einlassung der Bundesrepublik Deutschland vom 13. März 2018 im Verfahren Vekuii Rukoro et. al. vs. Federal Republic of Germany vor dem United States District Court for the Southern District of New York. 96 Im konkreten Fall ging es um Sklaverei: Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR): Entscheidung vom 10. September 1993 im Verfahren Aloeboetoe y otros vs. Surinam (Reparaciones y Costas).

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te der Menschlichkeit und der Zivilisation anzusehen war, die systematische brutale Tötung „nichtweißer“ Menschen jedoch völkerrechtlich nicht verboten war.97 Diese Argumentation ist ein moralisches und politisches Armutszeugnis und auch rechtlich nicht haltbar: Wenn der Grundsatz der Intertemporalität angewendet wird, darf nicht nur einseitig und somit von vornherein parteilich aus europäischer Perspektive Vertragsrecht und Gewohnheitsrecht herangezogen werden. Vielmehr muss umfassend geprüft werden, welches Recht zur damaligen Zeit galt, welche völkervertraglichen Normen für Herero und Nama nicht gelten konnten, weil sie nicht als Rechtssubjekte anerkannt wurden, und welche Rechtsnormen ggf. zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Gebiet des heutigen Namibia galten, jedoch von damaligen europäischen Rechtsgelehrten systematisch unterschlagen und unsichtbar gemacht wurden. An kriegsrechtlichen Regelungen zum Schutz der für die Staaten kämpfenden Menschen existierten aus europäischer Perspektive die Genfer Konvention von 1864 und die Haager Landkriegsordnung von 1899. Aus europäischer Perspektive waren auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts massive Gräueltaten an der Zivilbevölkerung und die beabsichtigte Auslöschung einzelner Bevölkerungsgruppen gewohnheitsrechtlich verboten. Und was wissen wir über die Normen des internationalen Rechts aus Herero- und Nama-Perspektive? Wenn es doch darum geht, Normen der damaligen Zeit anzuwenden, weshalb dürfen wir dann davon ausgehen, dass das damals noch nicht allen Gesellschaften aufgezwungene europäische Völkerrecht schon weltweit galt? Entstand das Völkerrecht, wie wir es heute kennen, nicht erst allmählich ab dem Ende des 19. Jahrhunderts und wurde es nicht erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts universalisiert?98 Wenn wir davon ausgehen müssen, dass es zur damaligen Zeit nur regional begrenzte Völkerrechtsregime gab, müsste zur Beurteilung von Geschehnissen im südwestlichen Afrika nicht das dort geltende Recht der damaligen 97 Bundesregierung im US-amerikanischen Verfahren Rukoro et al. vs. Deutschland; siehe auch das Dokument des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom 27. September 2016 zum Aufstand der Volksgruppen der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904–1908) – Völkerrechtliche Implikationen und haftungsrechtliche Konsequenzen, WD 2 – 3000 – 112/16, S. 13 f. mit weiteren Nachweisen: „Allerdings beschränke sich diese Rechtsauffassung auf Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft, welche damals weitgehend aus europäischen Staaten bestand. Indigene Völker waren nach herrschender Meinung ‚unzivilisiert‘ und damit von den genannten Grundsätzen ausgeschlossen.“ 98 So Koskenniemi, The Gentle Civilizer; siehe auch: Anghie, Imperialism and International Legal Theory, S. 165 / Anghie, Imperialismus und Theorie, S. 71.

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Zeit herangezogen werden? Folgerichtig würde dies bedeuten, dass im Rahmen einer Anwendung des Grundsatzes der Intertemporalität auf einen Sachverhalt im südwestlichen Afrika zwischen 1884 und 1914 umfassend zu prüfen wäre, welche kriegsrechtlichen Normen in den politisch verfassten Gemeinwesen der Herero und der Nama bestanden und ggf. auch in denen der Damara und der San. Dies ist bisher nicht in ausreichender Weise geschehen. Geradezu zynisch ist die Argumentation, der durch die genannte Genfer Konvention und die Haager Landkriegsordnung vermittelte Schutz habe nicht gegriffen, da weder die Herero noch die Nama Vertragspartei gewesen seien – waren es doch gerade die europäischen Vertragsparteien gewesen, die den Herero und Nama die Rechtssubjektivität als Staaten und somit einen möglichen Beitritt verweigert hatten. Wie dargelegt wurde die Verweigerung der Rechtssubjektivität durch die rassistische und kulturelle Abwertung der Gesellschaften gerechtfertigt. Wenn sich also die Bundesregierung in der bisher von ihr vorgetragenen Weise auf den Grundsatz der Intertemporalität beruft, reproduziert sie just die koloniale rassistische Entrechtung, die auf Entmenschlichung gründete. Dies ist politisch nicht hinnehmbar. Und auch aus rechtlicher Perspektive sollte sie aus mindestens zwei Gründen davon Abstand nehmen: Zum einen wurde in der deutschen Rechtsordnung in der Nachkriegszeit ein Grundsatz entwickelt und vom Bundesgerichtshof angewendet, der auch von der Bundesregierung berücksichtigt werden sollte. Es handelt sich dabei um die Radebruch’sche Formel: „Das Gesetz findet dort seine Grenze, wo es in Widerspruch zu den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechtes oder zu dem Naturrecht tritt (OGHSt 2, 271) oder der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“99 Dieses Prinzip bietet eine recht gute Orientierung, wenn es gilt, sich in begründeten Einzelfällen über formaljuristische Positionen hinwegzusetzen, mithin der Gerechtigkeit und nicht dem formalen Recht Geltung zu verschaffen. Zum anderen wird das Verbot von Rassismus inzwischen zum Bestand des ius cogens gezählt. Dies bedeutet auch, dass die rassistische Diskriminierung von „nichtweißen“ gegenüber „weißen“ Menschen nicht (mehr) reproduziert werden darf. Es bleibt zu hoffen, dass die Bundesregierung Deutschlands ihre gegenwärtige rechtliche Position revidiert.

99 Siehe BGH-Urteil vom 12. Juli 1951 – Az. III ZR 168/50, BGHZ 3, 94.

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Im Hinblick auf die eingeforderte Forschung zu Rechtsverständnissen bei außereuropäischen Staaten des 19. Jahrhunderts – siehe oben – ist allerdings Folgendes zu beachten: Wie bereits ausgeführt, unterliegen Begriffe und Konzepte einem Bedeutungswandel, wenn sie „wandern“. Darin liegt immer auch die Gefahr, eigene Vorverständnisse (unbeabsichtigt) auf andere Kontexte zu übertragen. Sowohl Anghie als auch Koskenniemi verweisen in ihren Texten auf wissenschaftliche Beiträge, die solche Rechtsverständnisse und ‑systeme sichtbar machen, die vor der Ankunft der Europäer in den später kolonisierten Gebieten galten. Und sie sprechen zugleich das damit einhergehende Dilemma an, dass just durch die Darstellung, dass es bestimmte Rechtsverständnisse nicht nur in Europa, sondern in sehr ähnlicher Form auch in den Kolonien gegeben habe, letztlich das aus Europa stammende Grundverständnis von Recht mit seinen spezifischen Prämissen und Grundannahmen sowie sein Universalanspruch gestärkt werde.100 Von besonderer Bedeutung sind deshalb Initiativen, die dissidente Erinnerungen ans Licht bringen, und auch Oral History; beispielhaft sei hier Silvia Rivera Cusicanquis Anfang der 1980er gegründeter Taller de Historia Oral Andina für den andinen Raum genannt. Von zentraler Bedeutung bei Reparationsforderungen sind häufig das offizielle Eingeständnis des begangenen Unrechts sowie Unterstützung bei der Überwindung struktureller wirtschaftlicher, sozialer, politischer und kultureller Ungleichheit und Exklusion. Dies spiegelt sich beispielhaft im von der karibischen Gemeinschaft (CARICOM) entwickelten Zehn-Punkte-Plan wider. Auch im namibischen Kontext richten sich die Forderungen insbesondere auf eine Beteiligung an den bereits begonnenen Verhandlungen über eine mögliche Entschädigung zwischen der deutschen und der namibischen Regierung, auf die Ermöglichung der Rückgabe von Land für den individuellen wie auch für den gemeinschaftlichen Gebrauch, auf die Durchführung von Strukturförderung in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Kultur und Infrastruktur, auf eine Anerkennung des Unrechts als solches und auf die Rückerlangung der menschlichen Überreste und der geraubten Kulturgüter als integrale Bestandteile eines nunmehr würdevollen Umgangs miteinander.101 Aufgrund des systematischen Transfers von Eigentum in Form von Land, Vieh und natürlichen Ressourcen sowie der 100 Koskenniemi, Histories of International law, S. 166, S. 168 ff., S. 171 f. und S. 176 / Koskenniemi, Geschichten, S. 139, S. 141 ff., S. 145 f. und S. 151; Anghie, Imperialism and International Legal Theory, / Anghie, Imperialismus und Theorie. 101 Beiträge von Ida Hofmann für das Nama Genocide Technical Committee (NGTC), von Sima Luipert für die Nama Traditional Leaders Association (NTLA) und von Esther Muinjangue für die Ovaherero Genocide Foundation (OGF)

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Vertreibung und Ausgrenzung aus politisch einflussreichen Positionen sind bis heute viele Angehörige der Ovaherero, Nama, Damara und San landlos und leben unter prekären Bedingungen.102 Wichtig ist, dass die Bundesregierung nicht nur mit der namibischen Regierung über Entschädigungen und die Schaffung eines Fonds verhandelt, sondern auch gewählte Vertreter*innen der betroffenen Gemeinschaften beteiligt – was im Übrigen in Artikel 18 der Erklärung zu den Rechten indigener Völker rechtlich verbrieft ist, deren Entwurf unter anderem Deutschland eingebracht hatte und die 2007 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde. Durch den Bedeutungszuwachs des Völkerstrafrechts und anderer Rechtsfelder und die Zunahme zivilgesellschaftlicher Akteure, die das Recht nutzen, wurden in den vergangenen Jahren auch in europäischen Staaten erfolgreich Klagen gegen koloniales Unrecht geführt. So betrafen Entschädigungsklagen, die von Erfolg gekrönt waren, Verbrechen der Kolonialmächte, die in den Unabhängigkeitskriegen ab der Mitte des 20. Jahrhunderts begangen wurden. In Großbritannien erstritten Veteranen des Mau-Mau-Aufstands vor dem Londoner High Court im Jahr 2012 die Einrichtung eines Entschädigungsfonds durch die britische Regierung. In den Niederlanden erwirkte die Anwältin Liesbeth Zegveld Entschädigungen für Frauen, deren Männer bei einem Massaker der Armee getötet worden waren. In beiden Verfahren gaben die Gerichte den seitens der Regierungen vorgebrachten Einreden der Verjährung nicht statt.103 Ambivalenzen und emanzipatorisches Potenzial der Dekolonisierung des Rechts in Theorie und Praxis Unser Wissen über die Geschichte des Rechts sowie über Wissensbestände in Gesellschaften zu früheren Zeitpunkten ist verzerrt. Unser Wissen über anlässlich der Symposien zu Colonial Repercussions in Berlin, Windhoek und Swakopmund; vgl. auch Klageschriften im US-amerikanischen Verfahren Vekuii Rukoro et. al. vs. Deutschland. 102 Zum kolonialen Transfer von Eigentum: Bernadus Swartboii beim Symposium zu (post-)kolonialem Unrecht und juristischen Interventionen in der Akademie der Künste im Januar 2018 (Videos online) sowie beim Symposium in Swakopmund im März 2019 (Ton-/Videomitschnitte bei den Hg.). Vgl. auch Beiträge weiterer Teilnehmender der Symposien in Namibia, in: ECCHR (Hg.): Colonial Repercussions: Namibia, 2019. 103 Zu diesen Verfahren sowie zur Strafanzeige in Belgien wegen der Ermordung Patrice Lumumbas: Kaleck und Theurer, Das Recht der Mächtigen, S. 108.

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die komplexen Wirkungen rechtlicher Interventionen in spezifischen Kontexten ist beschränkt. Indem wir betonen, auch in den vormaligen Kolonien habe es bestimmte Rechtsnormen oder Vorstellungen zum gesellschaftlichen Zusammenleben gegeben, die den europäischen ähnelten, stärken wir unter Umständen ungewollt hegemoniale eurozentrische Sichtweisen.104 Indem bestimmte Konzepte in akademischen Diskursen an finanziell privilegierten Universitäten des globalen Nordens aufgegriffen werden und die beteiligten besonders begünstigten Wissenschaftler*innen daraus soziales Kapital schlagen, reproduzieren sie eine Form von Ausbeutung, die strukturell in den seit der Kolonisierung ungleichen Machtverhältnissen des Wissenschaftsbetriebs angelegt ist.105 Wenn sich nicht direkt Betroffene für „andere“ einsetzen, kann es rasch passieren, dass sie eigene Vorstellungen auf die „Hilfsbedürftigen“ projizieren und somit nicht nur epistemische Gewalt ausüben, sondern die Situation der Betroffenen auf komplexe Weisen sogar verschlechtern.106 Einige Theoretiker*innen und Praktiker*innen streiten jegliches emanzipatorisches Potenzial innerhalb des gegenwärtigen Rechtssystems ab.107 Pointiert stellt Audre Lorde die grundlegende Frage, ob die der Aufrechterhaltung von Herrschaft dienenden Werkzeuge genutzt werden können, um eben diese Herrschaft zu zerlegen.108 Gayatri Spivak prägte den Begriff des strategischen Essenzialismus für Kooperationen unter diversen Menschen mit diversen politischen und sozialen Anliegen, distanzierte sich aber später teils selbst wieder davon. Martti Koskenniemi beschreibt aus rechtshistorischer Perspektive die zeitgleich mit der Ausdehnung europäischer Imperien zu beobachtende Erstarkung der „Idee von Einheit als natürlichem Telos der Menschheit“109. Er stellt die These auf, dass Spuren dieses naturrechtlichen Denkens trotz einer konstatierten Hinwendung zum Rechtspositivismus auch noch wäh-

104 Koskenniemi, Histories of International law, S. 166, S. 168 ff., S. 171 f. und S. 176 / Koskenniemi, Geschichten, S. 139, S. 141 ff., S. 145 f. und S. 151; Anghie, Imperialism and International Legal Theory / Anghie, Imperialismus und Theorie; Chakrabarty, Provincializing. 105 Rivera Cusicanqui, La noción de “derecho”; Ancheita und Terwindt, Towards Genuine. 106 Spivak, Can the Subaltern Speak; Rivera Cusicanqui, La noción de “derecho”; Mutua, Human Rights Standards / Mutua, Die Rolle; Odinkalu, Why More Africans; konkret zu Frauenrechten: Gunn Allen, The Sacred Hoop; Rivera Zea in Locane und Theurer, Epistemische Gewalt; Kapur, Erotic Justice; Mohanty, Under Western Eyes. 107 Beispielhaft: Miéville, Between Equal Rights. 108 Lorde, The Master’s Tools. 109 Koskenniemi, Introduction, S. 3.

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rend der Bedeutungszunahme der Idee eines universal geltenden internationalen Rechts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fortwirkten.110 Er beschreibt die „guten Absichten“ einiger sich selbst als humanistisch, kosmopolitisch und progressiv erachtenden Jurist*innen, die ungewollt zur Legitimierung der in den Kolonien entfesselten Gewalt und zur Ausdehnung der europäischen Imperien beitrugen, indem sie den universalen Geltungsanspruch des neuen internationalen Rechts und die europäische Deutungshoheit begründeten und untermauerten.111 Diese Anklänge naturrechtlichen Denkens finden sich ihm zufolge bis heute in menschenrechtlichen Theorien und Ansätzen – und ziehen Kritik von bisher aus Rechtsetzungsprozessen ausgeschlossenen Gruppen auf sich. Hierunter fallen insbesondere Menschen, die wegen rassistischer Motive, aufgrund ihres zugeschriebenen Geschlechts oder ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse oder auch aus mehreren Gründen zugleich ausgeschlossen sind. Wie können menschenrechtliche Forderungen im Hinblick auf lokale Rechtskämpfe so gerahmt, unterstützt und international gestärkt werden, dass sie möglichst diejenigen Ziele durchsetzen, die im Sinne der direkt oder indirekt Betroffenen sind? Wie kann Solidarität entwickelt werden?112 Wie kann der Bias des Rechts bezüglich unterschiedlich ausgeschlossener Sichtweisen abgemildert werden? Wie ist mit dem „imperial impulse“ des „liberal humanitarianism“113 umzugehen und wie kann vermieden werden, gegenwärtige imperiale Tendenzen des internationalen Rechts ungewollt zu fördern? Um Recht und insbesondere auch Menschenrechte als wirksame Mechanismen zum Schutz der Menschen zu erhalten und fortzuentwickeln, ist es aus Sicht einer Großzahl dekolonialer Theoretiker*innen und Praktiker*innen an der Zeit, die historische Kontingenz und die soziale Konstruiertheit von Recht und somit auch der Menschenrechte vollumfänglich

110 Koskenniemi, From Apology to Utopia. 111 Koskenniemi, The Gentle Civilizer, S. 98 ff. 112 Zu Identitätspolitiken und Solidarität: Rivera Zea in Locane und Theurer, Epistemische Gewalt, S. 318 ff., S. 321 f. und S. 323 ff. 113 Koskenniemi, Introduction, S. 10; vgl. auch Chimni, International Law and World Order, S. 507 / Chimni, Wesen und Merkmale, S. 94 f.: „Mit diesem globalen Recht wird das schlussendliche Ziel verfolgt, Hindernisse für den freien Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr durch die Erzeugung und Anwendung einheitlicher Rechtsnormen zu beseitigen, um einen grenzenlosen globalen Wirtschaftsraum zu schaffen. Die Materialisierung dieser globalen sozialen Formation spiegelt sich auch wider in der raschen Entwicklung der internationalen Menschenrechte und der zunehmenden Theoretisierung eines globalen Kosmopolitismus und Konstitutionalismus.“

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zur Kenntnis zu nehmen und die teils gefühlte Bodenlosigkeit als Chance zur Inklusion zu betrachten. Im Kern naturrechtlich begründete Universalitätsansprüche von Recht sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu halten.114 Sowohl Makau Mutua als auch Upendra Baxi, Antony Anghie, Sundhya Pahuja, James Thuo Gathii oder auch Bhupinder Chimni bekräftigen das emanzipatorische Potenzial des internationalen Rechts und der Menschenrechte für den Fall, dass es gelingt, die Perspektiven und Anliegen derer zu integrieren, die bisher ausgeschlossen oder strukturell diskriminiert wurden und nach wie vor werden.115 Dies muss in substanziell gleicher Weise geschehen und sowohl die Theoretisierung von Recht sowie politische und soziale Aushandlungsprozesse um konkrete Rechtsnormen als auch die praktische Umsetzung und Durchsetzung dieser Normen betreffen. Nur so kann der Bias des Rechts in seinen vielfältigen Ausprägungen allmählich verringert werden.116 Für den Bereich der internationalen Menschenrechtsarbeit fordern dekoloniale Theoretiker*innen und Praktiker*innen, dass sich privilegierte Akteure selbstkritisch mit ihrer Verwobenheit in globale Machtverhältnisse und mit dem Phänomen epistemischer Gewaltausübung durch ihre Arbeit auseinandersetzen.117 Die zögerliche Einforderung sozialer, wirtschaftlicher und kollektiver Menschenrechte und die einseitige Fokussierung auf bürgerliche und politische Menschenrechte fördere faktisch einseitig ein spezifisches Wirtschaftssystem.118 Sowohl Tarcila Rivera Zea als auch Alejandra Ancheita formulieren konkret, wie eine Zusammenarbeit ausgestaltet und wie sichergestellt werden könnte, dass transnationale Netzwerke möglichst wirksam lokale Kollektive, Betroffene und soziale Bewegungen

114 Pahuja, Decolonizing International Law and World Order, S. 350 ff.; ausführlich auch: Chimni, International Law and World Order. 115 Anstelle vieler: Chimni, International Law and World Order, S. 499 ff. / Chimni, Wesen und Merkmale. 116 Rivera Zea in Locane und Theurer: Epistemische Gewalt; Ancheita in Locane und Theurer: Private Unternehmen; Masodzi Chinyai in Cross und Schliemann, Macht durch Deutungshoheit; Hambira und Hosea Kandorozu in Handura, Schmidt und Theurer: Kolonialverbrechen. Eine spezifische Beteiligung indigener Gemeinschaften an sie betreffenden Verhandlungen fordert insbesondere bereits die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete Erklärung zu den Rechten indigener Völker. 117 Mutua, Human Rights Standards / Mutua, Die Rolle; Odinkalu, Why More Africans; Rivera Zea in Locane und Theurer, Epistemische Gewalt; Spivak, Can the Subaltern Speak. 118 Mutua, Human Rights Standards / Mutua, Die Rolle.

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unterstützen und dabei gleichzeitig global für Rechtsänderungen eintreten.119 Colin Gonsalves verweist darauf, dass die Beschäftigung mit dekolonialer Theorie nicht zu Lähmung führen dürfe. Eindrücklich beschreibt er am Beispiel Indiens, inwiefern Recht genutzt werden kann, um Lebensrealitäten von Menschen zu verbessern. Auch er setzt sich aktiv sowohl für Süd-Süd-Kooperationen als auch für den Austausch von Best Practices und juristischen Argumenten weltweit ein.120 Nicht nur Rechtsnormen, sondern auch Wissensbestände und Grundannahmen, die als vorgeblich außerhalb der rechtlichen Sphäre liegend oder als dem rechtlichen Zugriff entzogen dargestellt werden, müssen als historisch kontingent und als spezifisch verortete soziale Konstruktionen anerkannt werden. Dies betrifft wie dargelegt grundsätzlich alle Überzeugungen und Wissensbestände, die gesellschaftliches Leben ordnen: von patriarchalen Vorstellungen zu Geschlechterbeziehungen und Geschlechterrollen über spezifische Verständnisse von Eigentum oder Freihandel bis hin zu den etablierten Grundsätzen der internationalen Rule of Law. Die Beschäftigung mit dekolonialer Theorie und Praxis birgt enormes Potenzial für eine Reform des Rechts, eben weil sie es ermöglicht, die Funktionsweise der Reproduktion von Macht durch Recht zu verstehen. Indem sichtbar gemacht werden kann, wie spezifische Wissensbestände, die Herrschaft begründen, gerade durch ihre Reproduktion im Recht und in rechtlichen Verfahren wirkungsmächtig werden, kann die vorgebliche Objektivität und Neutralität von Recht wirksam dekonstruiert werden. Tarcila Rivera Zea, aber auch Silvia Rivera Cusicanqui, Oyèrónké Oyĕwùmí, Maria Lugones oder die im peruanischen Parlament sprechenden Frauen bieten Einblicke in transformative Ansätze zur Dekolonisierung des Denkens und somit mittelbar auch des Rechts an. Sie zeigen Wege auf, über rechtlich reproduzierte Kategorisierungen hinauszugehen und so das Denken substanziell gleichheitsrechtlich fortzuentwickeln. Eigentlich alle betonen die Notwendigkeit der Einbeziehung kollektiver Perspektiven. Alejandra Ancheita beschreibt, wie sich die juristische Menschenrechtsarbeit derart an den Bedürfnissen und Zielen der betroffenen Kollektive und involvierten Gewerkschaften und sozialen Bewegungen ausrichten kann, dass die Kollektive als Akteure und Rechtssubjekte gestärkt werden.121 119 Rivera Zea in Locane und Theurer, Epistemische Gewalt; Ancheita und Terwindt, Towards Genuine Transnational Collaboration; Ancheita in Locane und Theurer, Private Unternehmen. 120 Gonsalves in Theurer, Globalisierung. 121 Ancheita in Locane und Theurer, Private Unternehmen.

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Wie zahlreiche dekoloniale Theoretiker*innen und Praktiker*innen zurecht hervorheben, geriert sich das internationale Recht als objektiv und neutral. Faktisch sind jedoch „nur“ jene Menschenrechte als Grundpfeiler einer im Entstehen begriffenen internationalen Rule of Law vollumfänglich anerkannt, die ohne größere Reibungsverluste vereinbar sind mit einer wirtschaftsliberalen globalen Ordnung. Die Autor*innen verweisen darauf, dass insbesondere privatrechtliche Regime mit jeweils starken Tendenzen zum Schutz wirtschaftlich mächtiger Akteure zunehmend verankert würden und globales Recht bildeten.122 Im Hinblick auf das sich entwickelnde transnationale und globale Recht in den Bereichen Handel, Wirtschaft und Finanzen ist es deshalb unabdingbar, Legitimitätsfragen im Hinblick auf die Entstehung und Durchsetzung des Rechts zu stellen und die Geltung der Menschenrechte in diesen Verfahren zu verankern. Zudem sollten politische Handlungsund Entscheidungsspielräume für existenzielle Lebensbereiche – unter anderem den Schutz des Lebens und der Gesundheit, Ernährungssicherheit, arbeitsrechtliche Mindeststandards, die Schaffung materieller Gleichheit durch aktive Maßnahmen und Politiken oder auch den Umwelt- und Klimaschutz – auch rechtlich eingefordert werden. Ein konkretes Beispiel ist die Investitionsschiedsgerichtsbarkeit, in deren Verfahren Menschenrechte nicht angemessen einbezogen werden und die einen klaren Bias zugunsten privilegierter transnational tätiger Unternehmen aufweisen. Weitere Beispiele sind die gegenwärtigen Abkommen zum grenzüberschreitenden Freihandel oder das transnationale Rechtsregime zum geistigen Eigentum. Generell fehlt es an einer angemessenen rechtlichen Regulierung des Handelns privatrechtlich organisierter transnational tätiger Akteure zum Schutz der lebenswichtigen Grundbedürfnisse der Menschen und ihrer sozialen Verbünde.123 Die Beschäftigung mit dekolonialer Theorie und Praxis kann wichtige Anreize geben, um Recht in komplexen Mehrebenensystemen zu überdenken und möglichst so fortzuentwickeln, dass auch privatrechtliches, hybrides oder transnationales Recht derart mit Grund- und Menschenrechten in

122 Beispielhaft: Pahuja, Decolonizing International Law; Chimni, International Law and World Order. 123 Anghie, Legal Aspects / Anghie, Rechtliche Aspekte; Chimni, International Law and World Order / Chimni, Wesen und Merkmale; Pahuja, Decolonizing International Law; Koskenniemi, It’s not the Cases; Ancheita in Locane und Theurer, Private Unternehmen; Megbeoji, Global Biopiracy; Orford, Food security / Orford, Ernährungssicherheit; Gathii, Food sovereignty; Gonsalves in Theurer, Globalisierung.

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Ausgleich gebracht wird, dass die lebenswichtigen Grundbedürfnisse von Menschen überwiegen. Hierbei wird auch zu fragen sein, welche Rolle Staaten zukünftig bei der Entstehung und Durchsetzung von internationalem Recht im Vergleich zu anderen Akteuren spielen sollen.124 Dekoloniale Theoretiker*innen und Praktiker*innen appellieren, schwindende politische Entscheidungs- und Handlungsspielräume als Ausdruck imperialer Tendenzen der gegenwärtigen transnationalen Verrechtlichung sowie der zunehmenden Verwurzelung kapitalistischer Funktionsund Lebensweisen zu sehen und ernst zu nehmen.125 Dies kann Ausgangspunkt für gesellschaftliche Debatten in unterschiedlichsten Kontexten darüber sein, wie Zusammenleben und soziale Ordnung zukünftig gestaltet werden könnten und sollten. Eine Schlüsselrolle könnte die Stärkung der gemeinschaftlichen Nutzung bestimmter Güter sowie des kollektiven Zugangs zu bestimmtem Wissen spielen. Deswegen sollte herausgestellt werden, wie gegenwärtige transnationale Rechtsregime etwa im Bereich des geistigen Eigentums oder des Investitionsschutzrechts und die auch rechtlich abgesicherten Handels-, Wirtschafts- und Finanzstrukturen im Allgemeinen zu unmenschlichen Situationen führen. Auf diese Weise lassen sich die Missstände artikulieren und verändern. Recht ist eine Form sozialer Ordnung, innerhalb derer gesellschaftliches Zusammenleben austariert wird. Wesentliche Grundsatzentscheidungen sollten der politischen Sphäre vorbehalten sein, solange Menschen ohne soziale, kulturelle, wirtschaftliche oder politische Abwertung und Ausgrenzung bedacht werden und geschützt sind. Gemeingüter wie Wasser, Land, Gesundheit, Ernährungssicherheit, Bildung, Lebensraum oder Umweltschutz bedürfen robustem rechtlichem Schutz. Dass derart viele Menschen weltweit substanzielle Gleichheit, den Schutz dieser Güter sowie die Regulierung transnational tätiger Unternehmen und Finanzinstitute mit politischen, aber auch mit rechtlichen Mitteln einfordern, zeigt einen dahingehenden Grundkonsens. Bhupinder Chimni liefert wichtige Anhaltspunkte, um die Herausbildung einer transnationalen, von der Umverteilung profitierenden Klasse auf der einen und einer großen Mehrheit von Menschen, die von Ausbeutung betroffen sind, auf der anderen Seite nachzuzeichnen.126 Dies steht in 124 Beispielhaft: Ancheita in Locane und Theurer, Private Unternehmen; Orford, Food Security / Orford, Ernährungssicherheit. 125 Beispielhaft: Chimni, International Law and World Order; Ancheita in Locane und Theurer, Private Unternehmen. 126 Chimni, International Law and World Order, S. 506 ff. / Chimni, Wesen und Merkmale, S. 94 ff.

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engem Zusammenhang mit den Ausführungen Anghies, die Dritte Welt sei nunmehr überall. Angesichts der von ihm konstatierten zunehmenden Verankerung sozialer und wirtschaftlicher Ausbeutung durch globales Recht zieht Bhupinder Chimni soziale Klasse als verbindenden Bezugspunkt von sozialen Kämpfen und von Kämpfen um das Recht heran.127 Von wesentlicher Bedeutung ist für ihn in emanzipatorischer Hinsicht die Beschäftigung mit der von ihm festgestellten Entfremdung der Menschen.128 Ausbeutung und soziale Klasse zu gemeinsamen Bezugspunkten von Rechtskämpfen zu machen, ist eine gangbare Option. Dies setzt – wie Chimni selbst betont – voraus, dass die weiteren Dimensionen, anhand derer Herrschaft konstituiert und reproduziert wird, nicht als Nebenwidersprüche abgetan, sondern integriert werden. Eine Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit und die Beschäftigung mit den rassistischen Spuren, die diese Epoche im deutschen Recht hinterlassen hat, sind dringend geboten. Eine Reproduktion der rassistischen Entrechtung, die in Deutschland durch die Schaffung eines dualen Rechtssystems institutionalisiert wurde und die den Kern des kolonialen Rechts europaweit ausmachte, sollte sich für alle Akteure, insbesondere die Repräsentant*innen des deutschen Staats, sowohl aus politischen als auch aus juristischen Gründen verbieten.

127 Chimni, Prolegomena; Chimni, An outline; Chimni, International Law and World Order. 128 Chimni, Wesen und Merkmale, S. 105.

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Dekoloniale Lesarten des (internationalen) Rechts

Imperialismus und Theorie des internationalen Rechts Antony Anghie

Theoretische Überlegungen zum internationalen Recht Die Fragen, was zu »theoretisieren« bedeutet und was eigentlich richtiger Gegenstand, Zweck und Anwendungsbereich von Theorie ist, bleiben offen und umstritten. Und dies, obwohl so viel von den Antworten darauf abhängt, denn sie bestimmen weitgehend, welche Art von Wissenschaft als legitim erachtet sowie tatsächlich gefördert, anerkannt und ausgezeichnet wird. Ein Ansatz zur Beantwortung der Frage, was es bedeutet, sich auf theoretischer Ebene mit dem internationalen Recht1 zu beschäftigen, besteht darin, die Werke der bekannten Wissenschaftler zu untersuchen, die als Kanon der Disziplin gelten: Juristen wie Francisco de Vitoria, Hugo Grotius und Emer de Vattel. Im Großen und Ganzen entwickelten sie alle eine neue Rechtslehre, die danach strebte, das Wesen des internationalen Rechts zu erklären (in der Regel mit Bezug darauf, wie es als universell verbindlich angesehen werden könnte), um sodann einen Entwurf von Ordnung und Gerechtigkeit vorzulegen, der auf diesen Grundannahmen basierte. So schrieb Grotius zu einer Zeit, als ein allein auf religiöser Autorität basierendes System des internationalen Rechts spaltend und zerstörerisch erschien. Sein großes Verdienst lag im Erdenken einer naturrechtlich begründeten internationalen Ordnung. Damit vergleichbar ging es de Vattel in seiner Rechtslehre darum, Naturrecht und positives Recht zu verbinden. Diese Gelehrten nahmen ihre Arbeit in der Regel als Reaktion auf neue politische oder intellektuelle Entwicklungen wahr, die eine innovati-

1 [Anm. d. Hg.: Angesichts des im Englischen weiteren Bedeutungsspektrums von international law im Vergleich zum deutschen Begriff Völkerrecht, der eine spezifische europäische Tradition der Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht abbildet, zu deren Perpetuierung wir nicht zwingend beitragen möchten, sowie angesichts dessen, dass gerade Vertreter*innen der Third World Approaches to International Law (TWAIL) herausarbeiten, dass just diese Unterscheidung zu fortdauernder Ausbeutung und sozialer, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Exklusion beiträgt, übertragen wir den Begriff international law im Regelfall mit internationales Recht. Vgl. dazu auch detailliert Fn. 1 im Text Martti Koskenniemis in diesem Band.]

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Antony Anghie

ve Rechtslehre zur Förderung der internationalen Gerechtigkeit nötig machten. Davon ausgehend könnte eine Theorie des internationalen Rechts ganz allgemein als Erforschung bestimmter grundlegender Fragen politischer Ordnung und insbesondere der Rolle des Rechts bei der Schaffung einer solchen Ordnung verstanden werden – daher auch die derzeitigen Verwebungen mit verschiedenen anderen Disziplinen wie der Geistesgeschichte2 und der politischen Theorie3. Darüber hinaus haben diese großen Werke eine Reihe von Fragen sowohl aufgegriffen als auch hervorgebracht, die den Status von »klassischen« oder stets wiederkehrenden Fragen erlangt haben, mit denen sich alle bedeutenden Wissenschaftler*innen der Disziplin beschäftigt haben: Was sind die Wesensmerkmale des internationalen Rechts? Ist internationales Recht wirklich Recht? Welche Rolle spielt das internationale Recht in der globalen Gemeinschaft? In diesem Beitrag werde ich untersuchen, wie sich der Imperialismus in verschiedenen historischen Zeiträumen auf die Theoretisierung des internationalen Rechts ausgewirkt hat. Einige der grundlegendsten Anliegen der Theorie des internationalen Rechts können ohne Berücksichtigung des Imperialismus nicht angemessen erforscht werden. Überlegungen zur Rechtsverbindlichkeit und Universalität des internationalen Rechts sowie dazu, wer zum Kreis der Subjekte des internationalen Rechts zählt, werden durch die imperiale Begegnung vor besondere Herausforderungen gestellt. Gleichzeitig ist der Imperialismus eine singuläre Erfahrung, die neue Fragen und Konzepte hervorgebracht hat, die auch weiterhin untersucht werden müssen. Es gilt, die Funktionsweise des internationalen Rechts und seine Auswirkungen auf die Welt besser zu verstehen. Meine grundlegende These hier ist, dass wir vor einem entscheidenden Paradoxon stehen: Obwohl der Imperialismus für die Entwicklung des internationalen Rechts entscheidend war, war er während eines Großteils des vergangenen Jahrhunderts nicht wirklich ein Hauptanliegen der Theorie des internationalen Rechts. Ich würde behaupten, dass dies auf eine breite Tendenz zurückzuführen ist, »koloniale Fragen« als pragmatische oder politische Angelegenheiten zu betrachten, die nicht die großen theoretischen Kontroversen der damaligen Zeit betrafen, oder den Imperialismus derart zu charakterisieren, dass er reibungslos in diese Kontroversen eingepasst werden konnte. Dieser Trend wurde auch durch ein besonderes und begrenztes Ver-

2 Tuck, The Rights of War and Peace; Armitage, Foundations of Modern International Thought. 3 Tully, Public Philosophy.

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Imperialismus und Theorie des internationalen Rechts

ständnis von der Bedeutung des »Imperialismus« verstärkt.4 Deshalb zeichne ich nach, wie die imperiale Erfahrung bestimmte Wissenschaftler*innen – darunter viele, jedoch sicherlich nicht alle aus der nichteuropäischen Welt – veranlasst hat, grundlegende Fragen nach den Wesensmerkmalen und der Funktionsweise des internationalen Rechts zu stellen. Ich zeige auch, wie diese Untersuchungen weitgehend marginalisiert und vom etablierten Wissenschaftszweig abgetan wurden, insbesondere in den 1960erund 1970er-Jahren, als die Wissenschaftler*innen, die eine Neue Weltwirtschaftsordnung (NWWO) schaffen wollten, die Thematisierung des Imperialismus zum Kern ihrer Beschäftigung mit internationalem Recht machten sowie die Frage nach dessen Reformbedürftigkeit aufwarfen. In jüngerer Zeit hat der Imperialismus eine größere Rolle in der Theoriebildung zum internationalen Recht gespielt. Dies ist das Ergebnis einer – wie ich es nenne – Verschiebung von »Geschichte« zu »Ontologie«. Vor diesem Hintergrund zeichne ich einige der sich daraus ergebenden Analysegrundzüge nach, stelle einige der Kernthemen dar, die Gegenstand weiterer theoretischer Überlegungen in Bezug auf den Imperialismus und das internationale Recht sein könnte und zeichne nach, ob das Thema Imperialismus von anhaltender analytischer Bedeutung ist. Der Imperialismus der Theorie Augenscheinlich war der Imperialismus ein zentrales Anliegen der bedeutendsten Gelehrten des internationalen Rechts wie de Vitoria und Grotius.5 Die bekannten Gelehrten des 19. Jahrhunderts – John Westlake, James Lorimer, Johann Kaspar Bluntschli – waren gleichermaßen mit Fragen des Imperialismus und des internationalen Rechts befasst.6 Das ist verständlich, da der europäische Imperialismus in dieser Zeit seinen Höhepunkt er4 Selbstverständlich ist Imperialismus ein komplexer und umstrittener Begriff. Michael Doyle liefert aufschlussreiche Definitionen der Begriffe Imperialismus und Empire und äußert sich zu ihrem Verhältnis. Empire ist »eine formelle oder informelle Beziehung, in der ein Staat die effektive politische Souveränität einer anderen politischen Gesellschaft kontrolliert. Sie kann mit Gewalt, durch politische Zusammenarbeit, durch wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Abhängigkeit erreicht werden. Der Imperialismus ist einfach der Prozess oder die Politik, ein Empire zu erhalten.« Doyle, Empires, S. 45. 5 de Vitoria, De Indis et De Iure Belli Relectiones; Grotius, De Jure Belli ac Pacis Libri Tres. 6 Westlake, The collected papers, S. 139 ff.; Lorimer, The Institutes of the Law of Nations; Bluntschli, The Theory of the State.

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reichte. Jurist*innen waren bestrebt, ihren eigenen Beitrag zur Gestaltung der kolonialen Beziehungen zu leisten, und dazu gehörte die Auseinandersetzung mit Fragen zur Rechtspersönlichkeit nichteuropäischer Entitäten, zum Verhältnis zwischen Recht und »Zivilisation« und zur Universalität derjenigen Normen, die für sie zum internationalen Recht gehörten. In der Tat ist es erstaunlich, wie viele Gelehrte die Zivilisierungsmission unterstützten, die Herzstück der kolonialen Expansion war.7 Dennoch wurden koloniale Themen zu Beginn des 20. Jahrhunderts als weitgehend nebensächlich für die Hauptfragen des internationalen Rechts angesehen, von denen die wichtigste war: Wie kann eine Rechtsordnung zwischen gleichen und souveränen Staaten geschaffen werden? Ein derartiger analytischer Rahmen verhindert zwangsläufig eine angemessene Einbeziehung der Erfahrung kolonisierter Gesellschaften, denen es definitionsgemäß an Souveränität mangelte. Die für die Menschen der Dritten Welt8 relevantere Frage lautet: Wie wurde entschieden, dass es nichteuropäischen Gesellschaften überhaupt an Souveränität mangelte? Darüber hinaus haben prominente Wissenschaftler wie Sir Hersch Lauterpacht ausführlich über koloniale Fragen geschrieben, jedoch nicht in einer Weise, die die großen theoretischen Angelegenheiten der Disziplin berührte.9 Die Hauptfrage im 19. Jahrhundert war, ob das internationale Recht überhaupt wirklich Recht sei und ob es die internationale Ordnung fördern könne.10 Koloniale Probleme wurden jedoch weitgehend als praktische, administrative Probleme wahrgenommen. Für die Menschen und Gelehrten der kolonisierten Welt war der Imperialismus natürlich das zentrale Element des internationalen Rechts, das von den europäischen Staaten ständig gegen sie eingesetzt wurde, um ihre eigenen Interessen voranzubringen. Die nichteuropäische Sichtweise des internationalen Rechts unterschied sich daher grundlegend von derjenigen der europäischen Juristen und Staaten. In ihrer wichtigen Arbeit zum chinesischen internationalen Recht verweist Xue Hanqin auf das Werk des be-

7 Koskenniemi, The Gentle Civilizer. 8 [Anm. d. Hg.: Zur bewussten Verwendung dieses Begriffs: Anghie, Antony, und Chimni, Bhupinder: Third World Approaches to International Law and Individual Responsibility in Internal Conflicts. Chinese JIL 2, 1, 2003, S. 77–103; vgl. dazu auch Fn. 3 im Text Antony Anghies zur NWWO in diesem Band.] 9 Etwa Lauterpacht, International Law, S. 101–109; Lauterpacht, The Mandate. 10 Das andere Werk, das darauf insistierte, der Imperialismus sei ein zentraler Aspekt des internationalen Rechts, war Carl Schmitts Werk, 1950 auf Deutsch veröffentlicht, mit seiner seltsamen Kombination aus brillanter Einsicht und zermürbender politischer Vision; vgl. Schmitt, Der Nomos der Erde.

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deutenden Rechtsgelehrten Wang Tieya und insbesondere auf seinen Fokus auf »jene ungleichen Verträge, die China in dieser Zeit gezwungen war nacheinander mit Kolonialmächten abzuschließen, und darauf, wie er veranschaulichte, wie sich Geschichte und Kultur eines Landes auf die Haltung und Position dieses Landes im internationalen Recht ausgewirkt haben«.11 Aktuelle Forschung zu wichtigen und wegweisenden Rechtsgelehrten wie Alejandro Álvarez und japanischen Theoretiker*innen wirft ein Licht auf die spezifischen Probleme, die nichteuropäische Wissenschaftler*innen beschäftigten, als sie zu verstehen versuchten, wie das internationale Recht funktionierte und ihre eigenen Staaten beeinflusste, und sich fragten, wie sie es selbst effektiv nutzen könnten.12 Die Arbeit dieser Wissenschaftler*innen verweist richtiggehend darauf, dass Imperialismus eine neue Epistemologie und einen neuen Fragenkatalog hervorbringt, wenn er aus dem Blickwinkel derjenigen betrachtet wird, die Objekte des Imperialismus waren. Wie werden das internationale Recht, seine Funktionsweise und seine Wesensmerkmale von Menschen erlebt und verstanden, die durch seine Anwendung systematisch benachteiligt wurden? Welche neuen Erkenntnisse hinsichtlich der grundlegenden Fragen der internationalen Gerichtsbarkeit, der Bindungswirkung des internationalen Rechts, der Legitimität und Universalität stellen sich bei der Berücksichtigung ihrer Arbeit? Diese Gegensätze zwischen westlichen und nichtwestlichen Gelehrten können folgendermaßen begrifflich grob nachgezeichnet werden. Für westliche Rechtsgelehrte des 19. sowie eines Großteils des 20. Jahrhunderts bestand die grundlegende Herausforderung darin, dass dem internationa-

11 Xue, Chinese Contemporary Perspectives, S. 52. Richterin Xue weist zudem darauf hin, dass China durch diese Verträge gezwungen wurde, Reparationen für verschiedene Konflikte zu zahlen, darunter die Opiumkriege und der Boxeraufstand. Für Letzteren musste China 450 Millionen Tael zahlen, was mehr als das Vierzigfache der Kosten für den Kauf Alaskas war; vgl. S. 52. Vgl. auch Ruskola, China in the Age of the World Picture. 12 Diese Wissenschaftler*innen waren mit der Herausforderung konfrontiert, dass sie innerhalb der Disziplin, deren analytischer Rahmen im Wesentlichen imperial war, marginalisiert waren, wenn sie diesen Rahmen nicht übernahmen, und zwar selbst dann, wenn sie die Realitäten ihres eigenen Landes untersuchten, die sehr unterschiedlich waren. Teils führte dies wohl dazu, dass Theoretiker*innen aus diesen Ländern diese imperialen Analyserahmen in gewisser Weise noch nachdrücklicher nachahmen, um ihre eigenen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und Zugang zu den wissenschaftlichen Zirkeln und Prestige zu erhalten. Für eine eindrucksvolle Darstellung dieser Vorgeschichte vgl. Yasuaki, Japanese International Law.

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len Recht Durchsetzungskraft und Rechtsverbindlichkeit fehlten. Genau diese Kluft zwischen Recht und Macht war die Grundlage für John Austins berühmte Kritik an der Disziplin und seine Ablehnung des Rechts, das nicht als solches bezeichnet werden könne.13 Im Falle der kolonialen Begegnung jedoch, besonders im 19. Jahrhundert, als sich die europäischen Mächte im Aufstieg befanden, war das internationale Recht offenbar mit Macht verbunden. So konnten viele Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, die es schwierig fanden, ihre Disziplin theoretisch und praktisch zu verteidigen, ihre Dienste der kolonialen Expansion andienen; in diesem ganz anderen Kontext verlangte die Macht nach Recht, um sich selbst zu legitimieren, indem es Eroberung und Enteignung rechtfertigte. Dekolonisierung und die Herausforderung des internationalen Rechts Die Dekolonisierung und die Bemühungen der neuen Staaten und Wissenschaftler*innen, einen Neuentwurf des internationalen Rechts zu entwickeln, warfen eine Reihe neuer Fragen und Herausforderungen auf. Wie Mohammed Bedjaoui feststellte, bestand das internationale Recht »aus einem Regelwerk mit einer geografischen Verortung (es war europäisches Recht), einer religiös-ethischen Inspiration (es war christliches Recht), einer wirtschaftlichen Triebfeder (es war merkantilistisches Recht) und politischen Zielen (es war imperialistisches Recht)«.14 Wie könnte ein solches internationales Recht dann neue Staaten mit sehr unterschiedlichen kulturellen Kontexten und Traditionen einbeziehen? Noch zugespitzter: Könnte das internationale Recht genutzt werden, um die Ausbeutung und Unterordnung aufzuheben, die es zuvor bewirkt hatte? War das internationale Recht ein neutrales Bündel von Prinzipien, die zur Gestaltung eines neuen internationalen Systems herangezogen werden könnten? Aus diesen Fragen ergaben sich neue Debatten und Kontroversen im Rahmen des internationalen Rechts. Theoretiker*innen, die sich schwerpunktmäßig mit der Dritten Welt beschäftigen, griffen ähnliche Themen und Anliegen in der gemeinschaftlichen Anstrengung zur Dekolonisierung und für die Zeit danach auf. Viele etablierte Rechtswissenschaftler*innen waren besorgt, dass die Aufnahme »neuer Staaten« ein erklärtermaßen europäisches internationales Recht un-

13 Austin, The Province of Jurisprudence, S. 201 ff.; Austin, Lectures on Jurisprudence, S. 182. 14 Bedjaoui, Towards a New International Economic Order, S. 50.

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tergraben würde. In Reaktion darauf zielten die Werke von Theoretiker*innen wie Charles Henry Alexandrowicz15, R. P. Anand16 und Taslim Olawale Elias17 darauf ab, zu zeigen, dass das internationale Recht den nichteuropäischen Staaten nicht fremd war; dies führte zu umfangreicher Literatur über die Rolle des internationalen Rechts in den Begegnungen zwischen Europa und Asien sowie Europa und Afrika und darüber, inwieweit dies die Entwicklung des internationalen Rechts beeinflusste. Sie stellten auch auf neue Weise die Frage nach der Unterscheidungskraft des modernen internationalen Rechts, da viele alte Staatssysteme, die beispielsweise in Afrika und Asien entstanden waren, verschiedene Regelwerke und Praktiken zu Themen wie Verträgen, Kriegsführung und diplomatischer Immunität entwickelt hatten. Die Dritte Welt war mit einer Reihe von Fragen konfrontiert: War das internationale Recht grundsätzlich und unveränderlich westlich? Könnten die neuen Staaten ihren eigenen Beitrag zu dieser Rechtsordnung leisten? Könnten die neuen Staaten ihre eigenen Interessen mithilfe des internationalen Rechts voranbringen? Diese Fragen waren nicht nur von akademischem Interesse – sie waren Teil des großen Dritte-Welt-Projekts nach der Bandung-Konferenz, der Konsolidierung der Souveränität der Dritten Welt, der Förderung des internationalen Friedens in einer Zeit intensiver Spannungen des Kalten Krieges und der verstärkten Entwicklung in den Ländern der Dritten Welt. Die African-Asian Legal Consultative Organization wurde zu diesem Zeitpunkt mit dem ausdrücklichen Ziel gegründet, das internationale Recht in einer Weise zu fördern, die den Ländern der Dritten Welt zugutekomme. Bei der ehrgeizigsten dieser Initiativen – dem Bemühen um die Schaffung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung – ging es darum, die anhaltenden Auswirkungen des Imperialismus auf das System des internationalen Rechts zu identifizieren und außer Kraft zu setzen. Das von Mohammed Bedjaoui verfasste und zum Klassiker gewordene Buch Towards a New International Economic Order ist nach wie vor das systematischste und stellt die rechtstheoretische Grundlage für diese Initiative dar. Bedjaoui formulierte in seiner Einleitung den Anspruch, »die geeignetsten Methoden und modernsten Mittel zu bestimmen, um sicherzustellen, dass das internationale Recht zu einem effizienten Instrument des Fortschritts im Dienste dieser neuen Ordnung [der NWWO] wird«18. Bed15 16 17 18

Alexandrowicz, An Introduction to the History of the Law of Nations. Anand, New States and International Law. Elias, Africa and the Development of International Law. Bedjaoui, Towards a New International Economic Order, S. 16. Zum aktuellen Stand vgl. Tourme-Jouannet, What is a Fair International Society?

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jaoui und seine Kollegen – wie Georges Abi-Saab, Anand und Elias – stellten den konventionellen Ansatz der Disziplin infrage, indem sie die Zwangslage der Menschen der neuen Staaten, ihre Armut und ihre Entmachtung in den Mittelpunkt dieser Bemühungen stellten. Diese Sicht auf das internationale Recht war zwar zutiefst erhellend und aufschlussreich, fand aber natürlich bei der überwiegenden Mehrheit der zum internationalen Recht arbeitenden Rechtswissenschaftler*innen keinen großen Anklang. Die gesellschaftspolitischen Gründe für das Scheitern dieser Initiative der Dritten Welt sind komplex und vielfältig; dazu gehören die Ölkrise, die Politik der USA und das Versagen des Sozialismus in den Staaten der Dritten Welt. Auf rechtlicher Ebene wurde sie durch die Prävalenz konservativer Standpunkte zu den Quellen des internationalen Rechts zu Fall gebracht (insbesondere dazu, dass Beschlüsse der UN-Generalversammlung keine rechtserzeugende Kraft hätten). Zudem schien die schwächer werdende Position der Dritten Welt die Plausibilität und Glaubwürdigkeit der zur Unterstützung der Kampagne vorgebrachten Argumente zu beeinträchtigen. Viele Wissenschaftler*innen der Dritten Welt selbst blickten zuversichtlich auf das internationale Recht und meinten, dass es trotz seines kapitalistischen und imperialen Charakters reformiert werden könnte. Diese Hoffnungen erwiesen sich als weitgehend unzutreffend. Die ungeklärten und drängenden von der Dritten Welt artikulierten Grundsatzfragen zum internationalen Recht wurden nach dem Zusammenbruch der NWWO sowie dem Aufkommen und der allmählichen Dominanz neoliberaler Wirtschaftspolitik weitgehend ignoriert. Als in den 1980er-Jahren der letzte bedeutende Band zu Anliegen der Dritten Welt19 erschien, war es in vielerlei Hinsicht ein Nachtrag, eine Darstellung einer mittlerweile gescheiterten Vision. Wissenschaftler*innen schrieben wichtige Werke über das Verhältnis zwischen Kolonialismus und internationalem Recht20, deren breitere Implikationen jedoch nicht ausreichend berücksichtigt wurden. In den 1980er-Jahren war der Imperialismus als Anliegen der mit einer Theorie des internationalen Rechts befassten Wissenschaftler*innen weitgehend verschwunden. Damit ging eine besonders eingeschränkte, verkürzte Vorstellung von Imperialismus als gleichbedeutend mit formalem Kolonialismus einher; aus diesem Blickwinkel war das soeben erst von Wissenschaftler*innen der Dritten Welt formulierte imperiale Problem durch die Unabhängigkeitswerdung und die Erscheinung kolonisierter

19 Sathirathai und Snyder, Third World Attitudes. 20 Etwa Gong, The Standard of ›Civilization‹.

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Einheiten als souveräne Staaten bereits gelöst. Demgegenüber argumentieren Dritte-Welt-Theoretiker*innen weiterhin, dass der formale Kolonialismus vom Neokolonialismus, von dessen Rechtslehren und Institutionen lediglich abgelöst wurde. Der entscheidende Punkt hierbei ist, dass unterschiedliche Interpretationen von Wesensmerkmalen und Funktionsweisen des Imperialismus zu sehr unterschiedlichen analytischen Rahmenbedingungen und Vorstellungen führen. In Richtung Gegenwart In einem wichtigen aktuellen Beitrag legt Jennifer Pitts dar, dass die »[p]olitische Theorie im Vergleich zu anderen Disziplinen langsam und spät zur Empire-Forschung gekommen ist«.21 Dies erscheint aus mehreren Gründen paradox. Erstens behaupteten die großen politischen Theoretiker*innen, ihre Werke seien universell anwendbar und damit für alle Gesellschaften gültig, auch für nichteuropäische. Trotz solcher Ansprüche fand der Imperialismus als eine der prägenden Erfahrungen für diese Gesellschaften darin keine Erwähnung. Freilich jedoch konnten die im Mittelpunkt dieser Studien stehenden europäischen Gesellschaften nicht richtig verstanden werden, wenn dabei nicht ihr wachsendes imperiales Wesen berücksichtigt wurde. Zweitens hatten sich viele der klassischen Theoretiker – Grotius, John Locke und John Stuart Mill – unmittelbar mit kolonialen Themen beschäftigt.22 Beruflich hatten sie auf ganz praktische Art mit kolonialer Verwaltung zu tun. Wie die politische Theorie erschien das internationale Recht, und dies insbesondere nach dem erfolgreichen Entkräften der NWWO, unempfänglich für die Auswirkungen des Imperialismus auf die Disziplin.23 Diese Situation steckt voller Ironie, da das internationale Recht, wie auch die politische Theorie, auf die Schaffung eines Regelwerks zur Gewährleistung einer universellen Ordnung abzielte. Andere Fachrichtungen wie die Anthropologie hatten bereits Nachforschungen nach dem Verhält-

21 Pitts, Political Theory, S. 212. 22 Etwa Grotius, The Free Sea; Locke, Two Treatises. Auch Mehta, Liberalism and Empire. 23 Ich würde hinzufügen, dass der Wissenschaftszweig der internationalen Beziehungen in seiner Beschäftigung mit dem Kolonialismus ähnlich rückständig erscheint. Siehe Darby, Postcolonizing the International; Jones, Decolonizing International Relations; Grovogui, Beyond Eurocentrism and Anarchy; Krishna, Globalization and Postcolonialism.

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nis zwischen ihrer eigenen Disziplin und dem Imperialismus angestellt. Darüber hinaus war die Pionierarbeit von Edward Said und anderen postkolonialen Denker*innen in den 1970er-Jahren verstärkt sichtbar geworden.24 Die postkoloniale Wissenschaft hatte eine Reihe grundlegender Fragen aufgeworfen, die später zu wirkmächtigen analytischen Werkzeugen zur Rekonzeptualisierung des Verhältnisses von Imperialismus und internationalem Recht weiterentwickelt wurden. In erster Linie lehnten postkoloniale Theoretiker*innen es ab, den Imperialismus als Randerscheinung der Moderne zu betrachten, und behaupteten stattdessen nicht nur, dass der Westen aus dem aus den Kolonien entnommenen Reichtum geschaffen wurde – eigentlich ein Standardargument –, sondern auch, dass verschiedene Disziplinen wie die Anthropologie und Geschichte die koloniale Unternehmung geradezu ermöglicht hatten. Zweitens, und noch herausfordernder, argumentierten sie, dass die Fachdisziplinen selbst – ihre Denkkategorien und -strukturen – vom Imperialismus geprägt seien. Mit anderen Worten: Während die traditionelle Sichtweise die Disziplinen als neutrale analytische Werkzeuge behandelte, die verwendet werden konnten, um jedes beliebige Thema anzugehen, argumentierten diese Wissenschaftler*innen, die analytischen Werkzeuge seien selbst vom Imperialismus geprägt und bei einer Anwendung seien somit ihre Ergebnisse als biased – als verzerrt – anzusehen. Drittens stellten postkoloniale Theoretiker*innen und vor allem diejenigen unter ihnen, die sich der Denkschule der Subaltern Studies zuordneten25, bohrende Fragen im Hinblick darauf, wie die am stärksten Benachteiligten – die Subalternen – sich selbst repräsentieren könnten, und zwar in einer Situation, in der selbst nationalistische Geschichtsschreibungen, die die Prozesse der Erlangung der Unabhängigkeit dokumentierten, einen elitären Blickwinkel innehatten. Eines der zentralen Anliegen dieser Theoretiker*innen bestand darin, subalternes Bewusstsein und daraus resultierende Politiken zu verorten.26 Der entscheidende von Theoretiker*innen der Subaltern Studies vorgebrachte Gesichtspunkt – der trotz der jüngsten Kontroversen ein wichtiger bleibt27 – ist, dass selbst nationalistische Projekte, die die Befreiung der Menschen der Dritten Welt bewirken sollten, selbst Ausgrenzung bewirkten und die

24 Einen guten Überblick über postkoloniale Wissenschaft und verschiedene Debatten liefert: Moore-Gilbert, Postcolonial Theory. 25 Guha, A Subaltern Studies Reader. 26 Chatterjee, Empire and Nation, S. 291. 27 Chibber, Postcolonial Theory; Chaturvedi, Mapping Subaltern Studies.

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am stärksten Benachteiligten marginalisierten.28 Damit in Verbindung steht das Anliegen, zu verstehen, wie Geschichte – oder internationales Recht – aus der Sicht dieser Menschen neu geschrieben oder gedacht werden könnte. Viertens könnte das neue, sich aus diesen Nachforschungen ergebende Verständnis von Wesensmerkmalen und Funktionsweisen der geschichtswissenschaftlichen Fachrichtungen vielleicht dafür genutzt werden, Kontinuitäten zwischen früheren imperialen Geschichtsschreibungen und Techniken der Verwaltung und Kontrolle sowie gegenwärtigen Entwicklungen neu zu überdenken. Diese Ideen, übertragen und an das internationale Recht angepasst, wurden zur Grundlage für einen erneuten Versuch, das Verhältnis zwischen internationalem Recht und Imperialismus zu überdenken. Obwohl der Imperialismus in den 1980er-Jahren im internationalen Recht praktisch nicht mehr behandelt wurde, konnte durch herausragende rechtswissenschaftliche Beiträge wie die von David Kennedy, Martti Koskenniemi, Hilary Charlesworth und Christine Chinkin ein neues Interesse an der Entwicklung kritischer und neuer Ansätze geweckt werden.29 Ein Großteil dieser kritischen Rechtswissenschaft stützte sich auf Erkenntnisse aus der poststrukturalen, postmodernen und feministischen Theorie. Die Erkenntnisse der Critical Race Theory waren wegen der bedeutenden Rolle, die rassistische Zuschreibungen bei der kolonialen Begegnung gespielt hatten, besonders wichtig. In diesem Umfeld entstand das Projekt der Third World Approaches to International Law (TWAIL): Die im Rahmen dieser kritischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung entwickelten Ressourcen und der Zuspruch kritischer Wissenschaftler*innen sollten als Grundlage dienen, um das Unterfangen früherer Theoretiker*innen der Dritten Welt, etwa Anands, fortzusetzen und unter Hinzuziehung neuer Erkenntnisse postkolonialer Wissenschaft zu erneuern. Die Ziele der TWAIL lassen sich einfach zusammenfassen und spiegeln die Anliegen früherer Dritte-Welt-Theoretiker*innen wider: das internationale Recht aus der Position der Objekte des Kolonialismus heraus zu betrachten; Methoden und Werkzeuge zu entwickeln, die es erlauben, den Imperialismus so darzustellen, wie es den Erfahrungen derer entspricht, die seine Opfer waren; und andere Vorstellungen von Gerechtigkeit zu formulieren, anhand derer wir über globale Ordnung nachdenken können.

28 Eine hervorragende Auseinandersetzung damit findet sich bei Otto, Subalternity and International Law. 29 Kennedy, A New Stream; Koskenniemi, The Politics of International Law; Charlesworth, Chinkin und Wright, Feminist Approaches to International Law.

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Dabei wäre es nicht möglich gewesen, nur die Vokabeln und Rahmenbedingungen unkritisch zu reproduzieren, die im Rahmen der angeblich neutralen Sprachen der Geschichte, der Sozialwissenschaft und des Rechts verwendet wurden. TWAIL sind in vielerlei Hinsicht sowohl ein politisches Projekt als auch ein intellektueller Ansatz.30 In diesem Sinne sind sie ganz und gar traditionell: Frühere Wissenschaftler*innen stützten ihre Argumente auf den Glauben, dass das zentrale Anliegen des internationalen Rechts die Verwirklichung von Gerechtigkeit ist – eine Vision von Gerechtigkeit, die nun erweitert wurde, um die Erfahrungen der Menschen der Dritten Welt einzubeziehen. Im Folgenden konzentriere ich mich auf einige der zentralen Anliegen und Analyseinstrumente, die TWAIL entwickelt haben und die, wie ich meine, bedeutende Beiträge zur Theorie des internationalen Rechts leisten. Koloniale Kontinuitäten Die Replikation kolonialer Beziehungen in einer vermeintlich postkolonialen Welt ist ein andauerndes Thema eines Großteils dieses wissenschaftlichen Ansatzes. James Gathiis Analyse der Beziehung zwischen Krieg und Handel wird getragen von seinem Bestreben, »herauszufinden, inwieweit das Erbe der kolonialen Entmachtung in die Ära der Entkolonialisierung im Verhältnis zwischen Krieg und Handel im internationalen Recht übergegangen ist«.31 Aktuelle Forschung beleuchtet die Auswirkungen des Kolonialismus auf die Entwicklung wichtiger Teilbereiche des internationalen Rechts, darunter die Menschenrechte32, das humanitäre Völkerrecht33, das internationale Investitionsrecht34, das Recht internationaler Institutionen35 sowie der Wiederaufbau von »Postkonfliktgesellschaften«36. Diese Kontinuitäten zu verstehen, erlaubt es, die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen des Imperialismus auf das internationale Recht nachzuvollziehen.37 Imperialismus ist folglich elementar für das internationale Recht.

30 Gathii, TWAIL; Fakhri, Questioning TWAIL’s Agenda. 31 Gathii, War, Commerce and International Law, S. xxxi. 32 Mutua, Savages, Victims, and Saviors; Ibhawoh, Imperialism and Human Rights; Barreto, Human Rights from a Third World Perspective. 33 Mégret, From »Savages« to »Unlawful Combatants«. 34 Odumosu, The Law; Miles, The Origins. 35 Orford, International Authority. 36 Wilde, International Territorial Administration. 37 Eine wichtige aktuelle Untersuchung dieses Themas gewährt: Orford, The Past.

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Darüber hinaus ist er nicht nur von historischer Bedeutung – durch den Imperialismus wurde ein europäisches internationales Recht universell anwendbar –, sondern auch von ontologischer oder epistemologischer. Das bedeutet, dass der Imperialismus ein wesens- und funktionsbestimmendes Kernelement der Disziplin ist. Ich habe dargelegt, dass die zentralen Lehren und Kategorien des internationalen Rechts – und dabei insbesondere die Souveränitätsdoktrin – durch die koloniale Begegnung geprägt sind und dass die sich daran anschließenden Vorgänge fortwährend dazu dienen, bestimmte Gesellschaften auszuschließen und andere zu stärken.38 Die Zivilisierungsmission, die im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte, blieb weit darüber hinaus wirkmächtig, und viele der wichtigsten Unterfangen des gegenwärtigen internationalen Rechts bilden die Grundstruktur dieser Mission ab, indem sie eine »unzivilisierte« Einheit postulieren, die durch das internationale Recht und internationale Institutionen umgewandelt werden muss, damit zivilisatorischer Fortschritt gewährleistet ist. Die Zivilisierungsmission ist also bei Weitem nicht nur ein historisches Phänomen, sondern auch eine anhaltende Dynamik, die als tief im internationalen Recht verwurzelt anzusehen und somit ein geeigneter Theoriegegenstand ist.39 Eine komplexere Frage, die sich stellt, ist, ob bestimmte internationale Rechtslehren, die als aus der kolonialen Begegnung stammend identifiziert werden können, allein deshalb auch in ihrer weiteren Anwendung und Entwicklung kolonial sind. Können koloniale Ursprünge transzendiert werden? Die Besorgnis über die koloniale Replikation und die Art und Weise, wie internationale Rechtslehren und Institutionen zum Nachteil der Gesellschaften der Dritten Welt wirken, war besonders wichtig für eine kontinuierliche kritische Beobachtung der vielen Entwicklungen, die die internationalen Wirtschaftsbeziehungen in einer Zeit der verstärkten Globalisierung völlig verändert haben. Historiker*innen, die zum Empire forschen, haben schnell darauf verwiesen, dass der Imperialismus eine frühere Form der Globalisierung war.40 Die Gründung der Welthandelsorganisation sowie die Ausweitung der Aktivitäten des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank hatten tiefgreifende Auswirkungen auf die Menschen in den Entwicklungsländern, ebenso wie die einschneidende Etablierung von geistigem Eigentum und ausländischen Investitionsschutzregimen. Auch hier waren die grundlegenden analytischen Werkzeuge zur Er-

38 Anghie, Imperialism. 39 Obregón, The Civilized and the Uncivilized. 40 Hardt und Negri, Empire; Hopkins, Globalization in World History.

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fassung historischer Vorläufer und der Art und Weise, wie sie anhaltende verzerrte Sichtweisen, also Bias, mit Blick auf die ärmsten Menschen verankerten, beim Verständnis der Entstehung eines »globalen imperialen Staates« von großer Hilfe.41 Zudem hat dieser theoretische Ansatz die Betrachtung des internationalen Rechts aus der Perspektive der am stärksten Benachteiligten in den Vordergrund gestellt; und in dieser Hinsicht ist er mit anderen theoretischen Traditionen verbunden, die ein ähnliches Anliegen verfolgen, einschließlich des Feminismus und der Anliegen indigener Bevölkerungsgruppen. Wichtige aktuelle Arbeiten haben die Bedeutung neuer sozialer Bewegungen hervorgehoben, mithin die Bedeutung von Menschen und Gruppen, deren Existenz und spezifische Lage im internationalen Recht nie angemessen berücksichtigt wurden und deren Bemühungen, ein internationales Recht mit zu gestalten, das auch ihre Interessen zu fördern vermag, ein andauerndes Unterfangen sind.42 Diese Subjekte stärker in den Blick zu nehmen, ist aus mindestens zwei Gründen besonders wichtig: Erstens ermöglicht es, die Funktionsweise des internationalen Rechts im Hinblick auf die am stärksten Benachteiligten zu verstehen und dabei gleichzeitig der Frage nachzugehen, wie sie selbstbestimmt und eigenständig das internationale Recht für ihre eigenen Zwecke nutzen und gestalten können, anstatt nur dessen Objekte zu sein. Zweitens legen Third World Approaches to International Law hinsichtlich der Globalisierung nahe, dass nicht nur die Spaltungen zwischen reichen und armen Ländern, sondern auch die zwischen reichen und armen Menschen verstanden werden müssen. Diese Beiträge zur Theoriebildung zum internationalen Recht sowie zu seiner Anwendung erhielten durch die Anschläge vom 11. September 2001 und den »War on Terror« eine ganz neue Bedeutung. Diese Ereignisse führten zu einer Reihe von Umbrüchen in der US-amerikanischen – und weitgehend von Großbritannien unterstützten – Politik, die die Inhaftierung ohne Aussicht auf ein Gerichtsverfahren, das Foltern von Verdächtigen, den Einsatz von Taktiken der Aufstandsbekämpfung und den Einmarsch in nichteuropäische Staaten beinhaltete und die jeder Person, die mit imperialer Geschichte auch nur im Entferntesten vertraut war, nur allzu bekannt vorkam. Argumentationen im internationalen Recht, die versuchten, diese Praktiken zu rechtfertigen, und eine Änderung des Kriegsrechts und der Menschenrechte aufgrund der neuen Situation forderten,

41 Chimni, International Institutions Today. 42 Rajagopal, International Law; Onazi, Towards a Subaltern Theory; Baxi, The Future; Khoday und Natarajan, Fairness and International Environmental Law.

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stützten sich auf die althergebrachte Struktur der Zivilisierungsmission. Bestimmte Staaten waren »Schurkenstaaten« und mussten durch Krieg sanktioniert werden. Bestimmte Personen waren »Terroristen« und daher vom Schutz des Rechts ausgeschlossen. Diese Art der Rechtsfertigung von Gewalt, in Verbindung mit Argumenten, dass neue rechtliche Rahmensetzungen erforderlich seien, um einer beispiellosen Situation zu begegnen, finden sich bereits in de Vitorias Schriften des 16. Jahrhunderts.43 Es sollte nicht vergessen werden, dass Theoriebildung zum Empire oft genau das theoretische Nachdenken darüber bedeutet, wie das Empire perfektioniert werden kann. Noch bemerkenswerter ist, dass die Angriffe vom 11. September prominente Wissenschaftler*innen wie Michael Ignatieff und Niall Ferguson dazu brachten, ausdrücklich zur Errichtung eines Empires aufzurufen.44 Darüber hinaus haben Militärfachleute bei diesen neuen Kriegen direkt auf die Erfahrungen der Kolonialkriege zurückgegriffen: Frankreich in Algerien, Großbritannien in Kenia und Malaya und – noch weiter zurückliegend – Großbritannien im Irak und die USA auf den Philippinen. Empire und Imperialismus wurden so erneut zu einem wichtigen Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung für Jurist*innen, Politikwissenschaftler*innen und politische Theoretiker*innen. Klar ist jedoch auch, dass die Kritiken je nach zugrunde gelegten Auffassungen über das Kernkonzept des Imperialismus divergieren.45 Und während sich so inzwischen selbst Jurist*innen, die sich zwar mit dem internationalen Recht beschäftigen, aber gegenüber seinem Verhältnis zum Imperialismus bisher unempfänglich oder gleichgültig waren, auf das Thema konzentrieren, bleiben die Antworten unterschiedlich. Es ist zum Beispiel auch klar, dass einige Wissenschaftler*innen TWAIL-Sichtweisen, die nicht immer gänzlich durchdrungen wurden, als fehlgeleitete Kampfansage an die Disziplin verstehen und etwas defensiv auf den Tugenden des internationalen Rechts bestehen – als hätten TWAIL diese völlig diskreditiert.46 Dennoch ist es zumindest ermutigend, dass das Problem des Eurozentrismus des internationalen Rechts ein wesentliches und unausweichliches Charakteristi-

43 Anghie, Imperialism; Feichtinger, Malinowski und Richards, Transformative Invasions. 44 Ignatieff, Empire Lite; Ferguson, Empire. 45 Rasulov, Writing about Empire. 46 Etwa Fassbender und Peters, Towards a Global History, S. 4.

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kum der gegenwärtigen Forschung zur Geschichte und Theorie der Disziplin ist.47 Imperialismus und die Zukunft Was ist die Zukunft dieser Denkrichtung der Theoriebildung und inwiefern ist es adäquat, sie als Tradition zu begreifen? Schließlich hängt der konzeptuelle Rahmen von einer klaren Unterscheidung zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten ab und einige der Dritte-Welt-Länder wie Brasilien, China und Indien gelten heute als Weltmächte. Dieser Aufstieg bestimmter Staaten veranlasste bekanntermaßen den Präsidenten der Weltbank, Robert Zoellick, zu verkünden, dass die alten konzeptionellen Rahmenregelungen, die auf Unterschieden zwischen der Ersten und der Dritten Welt beruhten, veraltet seien. Weitere Kommentator*innen und Diplomat*innen aus der vermeintlichen Dritten Welt selbst stellen mit neu gewonnenem Selbstvertrauen und neuer Selbstsicherheit den Nutzen und die beschreibende Genauigkeit des Begriffs Dritte Welt infrage. Welche Resonanz schwingt bei der Verwendung des Begriffs Imperialismus mit und welche Gültigkeit hat er angesichts solcher Entwicklungen? Dient er einem nützlichen analytischen Zweck? Erstens war die Kategorie Dritte Welt für viele TWAIL-Wissenschaftler*innen schon immer problematisch. Das allein aber verhindert nicht die Entwicklung eines konzeptionellen Rahmenwerks, das aussagekräftige Erkenntnisse liefert. Für TWAIL-Theoretiker*innen bezog sich der Begriff Dritte Welt nicht nur auf eine bestimmte geografische oder politisch-rechtliche Einheit – die Länder, die kolonisiert wurden –, sondern auch auf das, was man als »Erfahrung« bezeichnen könnte – die der am stärksten Benachteiligten, der »Verdammten dieser Erde«, seien es Minderheiten oder Bäuer*innen oder indigene Gesellschaften.48 Einige dieser Gruppen sind Opfer des Imperialismus des postkolonialen Staates selbst. Dementsprechend könnte man allerdings auch argumentieren, dass es innerhalb der vermeintlichen Ersten Welt eine Dritte Welt gibt. Rechtsinstrumente, die für den »Krieg gegen den Terrorismus« entwickelt wurden, werden nicht nur in fernen Ländern, sondern auch in der westlichen Welt selbst ange-

47 Bedeutsame Übersichten gewährend: Gathii, International Law and Eurocentricity; Koskenniemi, Histories of International Law [Anm. d. Hg.: in diesem Band]; Becker Lorca, Eurocentrism. 48 Fanon, The Wretched.

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wandt und untergraben ihre eigenen ehrwürdigen Institutionen und Normen. Ebenso ähneln die im Westen nunmehr alltäglichen Austeritätsmaßnahmen denen in der Dritten Welt, auch wenn sie unter ganz anderen Umständen geschaffen wurden. Es ist sowohl ironisch als auch aufschlussreich, dass die westlichen Regierungen selbst besorgt sind über die Funktionsweise internationaler Investitionssysteme und Instrumente, die sie in der Vergangenheit gegen Entwicklungsländer eingesetzt haben. Die Behauptung, all diese Entwicklungen seien irgendwie auf den Imperialismus zurückzuführen, wie weit auch immer er definiert sei, ist zu allgemein. Aber die Beziehung zwischen Imperialismus und modernen Versionen des Kapitalismus erfordert weitere Untersuchungen. Die Themen und Objekte des Imperialismus verändern sich ständig, so wie der Imperialismus sehr unterschiedliche Formen annimmt – und schon immer angenommen hat. Zweitens: Während das Schema Erste Welt/Dritte Welt in den heutigen internationalen Wirtschaftsbeziehungen nicht mehr anwendbar zu sein scheint, geben Ereignisse wie der jüngste Irakkrieg sowie anhaltende Kontroversen über die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs und die Responsibility to Protect49 Anlass zur Behauptung, dass koloniale Strukturen reproduziert werden und dass ein vorgeblich neutrales und universelles internationales Recht zur Disziplinierung nichteuropäischer Staaten angewandt wird. Im Wesentlichen können sehr alte, klassische Formen des Imperialismus mit Entwicklungen des internationalen Rechts koexistieren, die weit entfernt von diesen früheren Systemen erscheinen. Es ist nicht so, dass es in allen Bereichen der internationalen Beziehungen lineare Fortschritte gibt oder dass klare Abgrenzungen zwischen imperialer und postimperialer Zeit getroffen werden können. Darüber hinaus ist das Empire für bestimmte Gruppen wie Minderheiten und indigene Völker, die ihre Kämpfe gegen das, was sie als imperialen postkolonialen Staat betrachten, fortsetzen, immer noch lebendige Wirklichkeit. Schließlich sind viele der Staaten, von denen verkündet wird, sie hätten ihren Dritte-Welt-Status mittlerweile überwunden, nicht gänzlich bereit, ihre eigene Geschichte zu vergessen. Die anhaltende Blockade des Klimawandels zum Beispiel steht auch im Zusammenhang mit dem ausdrücklichen Unwillen von Staaten der Dritten Welt, ihre eigene Entwicklung zu erschweren, um eine von reichen Ländern verursachte Situation zu überwinden.50 Die anhaltenden Streitigkeiten über Landwirtschaft im Rahmen der internationalen Handelsordnung, die die Doha-»Entwicklungs«runde der Verhandlungen zu

49 Orford, International Authority. 50 Mickelson, Leading.

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spalten drohen, sind sicherlich auf die durch den Kolonialismus geschaffenen wirtschaftlichen Spaltungen und die Bemühungen der Länder der Dritten Welt zurückzuführen, sein andauerndes Fortwirken zu überwinden. Darüber hinaus ist das internationale Recht für diese Länder nach wie vor überwiegend westlich, und es stellt sich unverändert seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Frage, ob nichteuropäische Gesellschaften ihren eigenen Beitrag zur Disziplin leisten können.51 Drittens sollte aus dem Aufstieg bestimmter Staaten der Dritten Welt, insbesondere Brasiliens, Indiens und Chinas, zu Weltwirtschaftsmächten nicht pauschal geschlossen werden, dass der Imperialismus als analytisches Instrument zur Untersuchung aktueller volkswirtschaftlicher Entwicklungen völlig redundant sei. Historiker*innen haben darauf hingewiesen, dass der Imperialismus ein Vorläufer der gegenwärtigen Globalisierung war. Wissenschaftler*innen wie B. S. Chimni haben dargelegt, dass die gegenwärtige Globalisierung imperiale Beziehungen reproduziert, dass wir gegenwärtig einen »imperialen Staat im Entstehen« erleben52 und dass die drängendste Aufgabe internationaler Jurist*innen heute darin besteht, das Verhältnis zwischen Kapitalismus und Imperialismus zu untersuchen.53 Kritische Theoretiker*innen gehen davon aus, dass der Kapitalismus gerade durch den Imperialismus seine Reichweite ausdehnte, und die darauf abzielenden besonderen Rechtslehren und Technologien werden weiterhin verwendet. Aus diesem Grund bleibt die Beschäftigung mit den kolonialen Ursprüngen des internationalen Auslandsinvestitionsrechts und des Handelsrechts weiterhin so erhellend.54 Der Historiker John Darwin argumentiert, dass das »Empire […] der Standardmodus der politischen Organisation in den meisten Zeiten der Geschichte war. Die imperalistische Macht bestimmte schon immer maßgeblich die Spielregeln«55. Souveräne Staaten entstanden als Reaktion auf

51 Dieses schon in den Schriften der großen lateinamerikanischen Juristen Andrés Bello und Alejandro Álvarez behandelte Thema bleibt bis heute relevant; vgl. etwa die Beiträge von Hisashi Owada und Xue Hanqin in der ersten Ausgabe des Asian Journal of International Law. »Es besteht heute die dringende Notwendigkeit, dass die Nationen Asiens sowie Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen, die in oder an Asien arbeiten, ihre Stimme zu diesen wichtigen Fragen [des internationalen Rechts einschließlich Frieden und Sicherheit, Handel und Investitionen, Menschenrechte und Umwelt] erheben.« Owada, Asia and International Law, S. 3. 52 Chimni, International Institutions Today. 53 Chimni, Capitalism, Imperialism, and International Law. 54 Alessandrini, Developing Countries. 55 Darwin, After Tamerlane, S. 23.

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das Empire, wobei das Grundprinzip, dass »alle souveränen Staaten gleich sind«, eine Grundprämisse des westfälischen Systems ist. Und doch blieb das Empire gerade durch die Politik dieser souveränen Staaten – ob Großbritannien, Spanien oder Frankreich – bestehen, und was wir in jüngster Zeit erleben, ist die Tendenz mächtiger souveräner Staaten, Imperien in der einen oder anderen Form zu gründen, wenn auch nicht von der formalen Art, wie sie im 19. Jahrhundert existierten. Das gegenwärtige Vorgehen Russlands auf der Krim scheint dies zu bestätigen. Wir könnten wieder zu einem internationalen System – und zu internationalem Recht – zurückkehren, das von Rivalitäten zwischen Großmächten, von imperialen Staaten, die ihr Territorium schützen wollen, von »Einflusssphären« und wirtschaftlichen Interessen angetrieben wird. Ich habe mich hier auf das Verhältnis zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten konzentriert, doch die jüngsten Entwicklungen im internationalen Recht könnten auch als von den starken Rivalitäten zwischen imperialen Mächten geprägt gesehen werden – ein wichtiges und klassisches Thema. All dies kann zeitgleich passieren, während Wissenschaftler*innen auf das Entstehen neuer Formen eines »entterritorialisierten Empire« hinweisen.56 Und natürlich haben aufstrebende Länder wie Russland und China eine komplexe imperiale Geschichte und es bleibt abzuwarten, wie sich dies auf ihre Außenpolitik auswirken wird. Der Imperialismus ist also eine alte Herrschaftsform, die im Laufe der Jahrhunderte mit ideologischen, sozialen, politischen und rechtlichen Mitteln operiert hat. Er hat ein beeindruckendes Arsenal an Governancetechnologien entwickelt. Tatsächlich reproduzieren und dienen neue Governancemechanismen wie internationale Institutionen oft der Logik des Empire und der Zivilisierungsmission, sei es durch das Mandatssystem des Völkerbunds,57 die Vereinten Nationen selbst58 oder die internationalen Finanzinstitutionen. Neue Techniken von Governance reproduzieren nicht nur koloniale Beziehungen, vielmehr gibt es auch nach wie vor sehr alte Formen der Verwaltung, Unterdrückung und Kontrolle. Der Kolonialstaat, dieses von den Kolonialmächten in ihren überseeischen Besitztümern in Afrika und Asien gegründete Gebilde, war das am weitesten entwickelte, expliziteste und klassischste Mittel zur Verankerung und Verwirklichung der Kolonialherrschaft. Es ist heute offensichtlich, dass der »postkoloniale« Staat seinen Vorgänger in wesentlichen Elementen nach-

56 Álvarez, Empire; Meiksins Wood, Empire of Capital. 57 Anghie, Imperialism, S. 115–196. 58 Mazower, No Enchanted Palace.

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ahmt, wenn es darum geht, der Bevölkerung Reichtum zu entziehen und diesen zu verwalten sowie vorhandene Ressourcen auszubeuten – wobei oft die Umwelt zerstört wird. In diesem Fall profitieren jedoch nicht koloniale, sondern lokale Eliten – Eliten, die Teil eines größeren globalen Netzwerks sind.59 Wie ihre imperialen Vorgänger agieren sie durch »Teilen und Herrschen«, meist durch Verschärfung und Manipulation ethnischer Spannungen, wie sie in vielen postkolonialen Gesellschaften vorherrschen. Ironischerweise ist es also die angebliche postkoloniale Gesellschaft, die ein Ort ist, an dem die imperialen Beziehungen reproduziert werden, diesmal unter anderem in Bezug auf indigene Völker und Minderheiten.60 Der weitere und gewichtigere Punkt ist, dass der Imperialismus in verschiedenen Bereichen wirken könnte, was weiterer Untersuchung bedarf.61 Empire ist also eine sehr alte Form von Governance, wobei sich im Laufe seiner Entwicklung zahlreiche sehr komplexe Wege zur eigenen Etablierung und Förderung herausgebildet haben. Das Empire ist robust, beständig und mächtig. Analyseinstrumente, die uns auf sein Dasein und sein Wirken aufmerksam machen können, wären sicherlich nützlich. Die Werkzeuge werden sich daran messen lassen müssen, ob sie Erkenntnis und Verständnis vermitteln. Schlussfolgerungen Imperialismus ist ein zentraler Aspekt des internationalen Rechts. Das Hauptaugenmerk auf die Erfahrungen der Menschen zu richten, die ihm unterworfen wurden, liefert wichtige Erkenntnisse über die Wesensmerkmale des internationalen Rechts. Die an diesem Unterfangen beteiligten Theoretiker*innen bemühen sich seit vielen Jahrzehnten darum, eine Sprache und eine konzeptionelle Terminologie zu formulieren, die diese Erfahrungen adäquat beschreiben. Die Entwicklung einer solchen Terminologie und entsprechender Methodenapparate ist eine fortlaufende und der Sache nach unvollendet bleibende Aufgabe. Nichtsdestotrotz ist es ein Gegenstück zu den klassischen westlichen Debatten und Themen, die die Theoriebildung zum internationalen Recht für einen Großteil des vergangenen Jahrhunderts bestimmt und diese Erfahrungen weitgehend ignoriert, assimiliert oder verworfen haben. Rückblickend ist es erstaunlich, dass die ge-

59 Chimni, Prolegomena to a Class Approach. 60 Bhatia, The South of the North. 61 Eslava und Pahuja, Between Resistance and Reform.

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lebten Realitäten der Erfahrungen der überwiegenden Mehrheit der Menschheit, der Bevölkerung der Dritten Welt, so mühelos von westlichen Theorien übersehen wurden, die sich als Universalitätstheorien zu Regierung, Gesellschaft und Individuum präsentiert haben. Erst kürzlich wurde das Gegenargument vorgebracht, dass die Erfahrungen der Kolonisierten auf etwas Dauerhaftes und Wesentliches im internationalen Recht selbst hinweisen könnten. Eine wichtige Frage bleibt, ob die Analyse des Imperialismus in einem sich verändernden internationalen Umfeld weiterhin nützliche Erkenntnisse liefert. Die Fragen und Erkenntnisse, die im Rahmen des Unterfangens zutagetraten, den Imperialismus theoretisch zu fassen, und die die Epistemologie des internationalen Rechts betreffen sowie die Techniken, mit denen die Disziplin bestimmte Akteure unterdrückt und entmachtet, könnten jedenfalls von wesentlicher Bedeutung bei der Beurteilung zukünftiger Entwicklungen des internationalen Rechts sein.

Im Original: Imperialism and International Legal Theory. In: Anne Orford and Florian Hoffmann (Hg.): The Oxford Handbook of the Theory of International Law. Oxford: Oxford University Press, 2016, 155–172.

Übersetzung von Ha Mi Le. Es lektorierte Karina Theurer.

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Wesen und Merkmale des gegenwärtigen internationalen Rechts: das Zeitalter des globalen Imperialismus (1985 bis heute) Bhupinder Chimni

Es ist an der Zeit, Wesen und Merkmale des internationalen Rechts in unserer Zeit – das heißt im Zeitalter des globalen Imperialismus – zu untersuchen. In diesem Kapitel wird einerseits der Versuch unternommen, die wesentlichen Merkmale des heutigen internationalen Rechts zu bestimmen, und andererseits wird versucht, diejenigen theoretischen Elemente in die Darstellung einzubinden, auf denen die Überlegungen des Integrated Marxist Approach to International Law fußen. Dabei werden zunächst die Beziehungen zwischen den Kategorien Klasse, Gender und Race diskutiert, um herauszustellen, wie wichtig ein intersektionaler und mehrschichtiger Ansatz für die Beschreibung des gegenwärtigen internationalen Rechts ist, wie bereits im Kapitel über die Feminist Approaches to International Law1 hervorgehoben wurde. Im Anschluss wird herausgearbeitet, dass sowohl die Logik des Kapitals als auch die des Territoriums berücksichtigt werden muss, wenn man die komplexen Prozesse zur Setzung und Durchsetzung internationalrechtlicher Bestimmungen verstehen möchte. Nach dieser Analyse werden die wesentlichen Merkmale des heutigen internationalen Rechts bestimmt. An dieser Stelle sei festgehalten, dass diese Merkmale in der Fachsprache der politischen Ökonomie erfasst und formuliert werden können, indem die Kapitalakkumulation auf globaler Ebene beleuchtet wird. Insgesamt wird versucht, die den globalen Akkumulationsprozess antreibenden gesellschaftlichen Klassen sowie die diesem Prozess Vorschub leistenden Merkmale des internationalen Rechts zu bestimmen. Anders ausgedrückt: Die Rolle der Universalisierung des Kapitalismus und des Staatensystems wird dargestellt, indem gezeigt wird, wie sie in der Welt des internationalen Rechts manifest wird.2 Abschließend werden

1 [Anm. d. Hg.: Chimni, International Law and World Order, S. 358–439.] 2 Es wird allerdings eingeräumt, dass bestimmte Bereiche des internationalen Rechts wie das internationale Wirtschaftsrecht und das internationale Handelsrecht auch anhand der Betrachtung der Produktion, des Konsums und der Verteilungsverhältnisse auf internationaler Ebene beleuchtet werden können.

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wichtige Fragen im Zusammenhang mit einer möglichen Reform des internationalen Rechts und die Bedeutung der »internationalen Rule of Law« für subalterne Gruppen, Völker und Nationen behandelt. Berücksichtigung von Klasse, Gender und Race Im Manifest der Kommunistischen Partei stellen Marx und Engels fest, dass »die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft … die Geschichte von Klassenkämpfen [ist]«3. Dem von ihnen verwendeten Begriff »Klasse« beziehungsweise »gesellschaftliche Klassen« wurden verschiedene Bedeutungen zugeordnet. So haben einige Autoren dem Platz, den gesellschaftliche Gruppen im Produktionssystem einnehmen, eine besondere Bedeutung beigemessen. Andere hingegen legen ihr Hauptaugenmerk auf einen Komplex sozialer Praktiken, favorisieren die historische Beschreibung, wie sich »Klassen« historisch herausbilden, oder stützen sich auf eine Kombination von Elementen, die sich aus diesen Faktoren ergeben. Lenin definierte »Klassen« mit Fokus auf den Platz der gesellschaftlichen Klasse im Produktionsprozess oder in der Produktionssphäre folgendermaßen: Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit der andern aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft.4 Nicos Poulantzas machte »gesellschaftliche Klasse« anhand »der Gesamtheit der gesellschaftlichen Praktiken …, d.h. durch ihre Stellung in der Gesamtheit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die die politischen und ideologischen Verhältnisse einbegreift«5 aus. E. P. Thompson wies das strukturalistische Verständnis Poulantzas’ im Vorwort zu seinem epochemachenden

3 Marx und Engels, Selected Works, Band 1, S. 108 / Marx und Engels, Manifest, S. 462. 4 Lenin, Selected Works, Band 3, S. 172 / Lenin, Die große Initiative, S. 410. 5 Poulantzas, Classes in Contemporary Capitalism, S. 14 / Poulantzas, Klassen im Kapitalismus – heute, S. 14 (Hervorhebungen im Original).

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Wesen und Merkmale des gegenwärtigen internationalen Rechts

Werk Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse zurück und hob den historischen Prozess hervor, in dessen Rahmen sich gesellschaftliche Klassen bilden: Unter Klasse verstehe ich ein historisches Phänomen, das eine Reihe von Ereignissen vereint, die in der Erfahrung und im Bewußtsein ungleichartig und scheinbar zusammenhanglos existieren. Ich möchte betonen, daß es sich um ein historisches Phänomen handelt. Ich betrachte Klasse nicht als eine »Struktur« oder gar als eine »Kategorie«, sondern als etwas, das sich unter Menschen, in ihren Beziehungen, abspielt (und das dokumentiert werden kann).6 Er führte weiter aus: Die Klassenerfahrung ist weitgehend durch die Produktionsverhältnisse bestimmt, in die man hineingeboren wird – oder in die man gegen seinen Willen eintritt. Klassenbewußtsein ist die Art und Weise, wie man diese Erfahrungen kulturell interpretiert und vermittelt: verkörpert in Traditionen, Wertsystemen, Ideen und institutionellen Formen.7 Zwar wird in beiden Formulierungen den Produktionsverhältnissen eine tragende Bedeutung für die Klassenbildung in der Gesellschaft eingeräumt. Allerdings hebt Poulantzas die Bedeutung der Struktur und Thompson dagegen die Bedeutung der Geschichte hervor. Anders ausgedrückt: Der Begriff Klasse sollte dem Platz von gesellschaftlichen Gruppen in der Produktionssphäre Rechnung tragen, gleichzeitig aber auch den Klassenbildungsprozess in seiner historischen und kulturellen Komplexität mit seinen Auswirkungen auf sämtliche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens berücksichtigen. Gewöhnlich wird die kapitalistische Gesellschaft in zwei große Klassen unterteilt: die Kapitalistenklasse und die Arbeiterklasse. Wie Marx jedoch in seinen historischen Schriften (beispielsweise in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte) feststellte, gibt es auch eine Reihe von Zwischenklassen: das Kleinbürgertum, das Lumpenproletariat usw. Die weitere Unterteilung der Kapitalistenklasse nach Marx in verschiedene Fraktionen bedarf allerdings einer gesonderten Analyse.8 Zusammenfas-

6 Thompson, The Making, S. 9 / Thompson, Die Entstehung, S. 7 (Hervorhebungen im Original). 7 Ebd., S. 10 / ebd., S. 8. 8 Marx und Engels, Selected Works, Band I, S. 464–465.

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send lässt sich sagen, dass aus den marxschen Schriften klar hervorgeht, dass es sich bei Klasse um eine heterogene und multidimensionale Kategorie handelt. Die Klassenbeziehungen in einer Gesellschaft überschneiden sich darüber hinaus auf komplexe Weise mit Gender-, Race- und Kastenbeziehungen.9 Heutzutage wird die zentrale Stellung der Kategorie Klasse bei der Bestimmung der gesellschaftlichen Beziehungen infrage gestellt. Je nach Standpunkt des Beobachters sollen die Kategorien Gender, Race oder Kaste an ihre Stelle treten. So wird unter anderem ein weit gefasstes, inklusives und mehrschichtiges Verständnis von Klasse aus Furcht davor abgelehnt, dass die Bedeutung anderer Bruchlinien in der Gesellschaft dadurch geschmälert wird.10 Andere wiederum argumentieren, dass es nicht angebracht ist, ganz auf die Kategorie Klasse zu verzichten oder ihr eine untergeordnete Bedeutung beizumessen, da sie eine grundlegende Realität aller existierenden Gesellschaften ist. Fredric Jameson beispielsweise weist warnend darauf hin, dass es »ein großer Fehler wäre, wenn der Marxismus dieses außerordentlich reiche und nahezu brachliegende Untersuchungsfeld mit der Begründung aufgeben würde, dass Klassenkategorien etwas Altmodisches und Stalinistisches haben«11. Er räumt ein, dass die Kategorie Klasse »in ihren konkreten Anwendungsfällen natürlich viel komplexer, intern konfliktgeladener und reflexiver ist als alle denkbaren Stereotype«12. Jamesons wesentlicher Punkt besteht darin, dass die anhaltenden Versuche, die rivalisierenden Konzepte Gender und Race in den Vordergrund zu stellen, möglicherweise auf die Tatsache zurückgeführt werden können, dass »sie bei Weitem anschlussfähiger sind an Lösungen, die im rein liberalen Ideenkosmos verbleiben (das heißt Lösungen, die die ideologischen Bedürfnisse befriedigen, allerdings keine Unklarheit darüber aufkommen lassen, dass im konkreten sozialen Leben die Probleme ebenso unlösbar bleiben)«.13 In diesem Sinne stellt Ellen Meiksins Wood im Kontext der Geschlechterunterdrückung Folgendes fest: 9 Inwiefern mittels einer intersektionalen Analyse die Komplexität der Kategorie Klasse erfasst werden kann, wurde im Kapitel über die Feminist Approaches to International Law behandelt. Vgl. Kapitel 6 in: Chimni, International Law and World Order, S. 375–378, 398–399. 10 In den Schilderungen ihrer eigenen Erfahrungen kommt Dorothy Allison zu dem Schluss, dass Klasse, Race, Sexualität und Gender – sowie alle anderen Begriffe, anhand derer wir einander in Schubladen stecken und vorverurteilen – von innen ausgehöhlt werden müssen; Allison, A Question of Class, S. 30–45. 11 Jameson, Valences, S. 160. 12 Ebd. 13 Ebd.

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Wesen und Merkmale des gegenwärtigen internationalen Rechts

Der Kapitalismus könnte die Abschaffung aller spezifischen Unterdrückungsformen gegenüber Frauen durchaus überleben – während er per definitionem die Abschaffung der Klassenausbeutung nicht überleben würde. Dass [sic!] bedeutet nicht, dass der Kapitalismus zwangsläufig zur Befreiung der Frau führt. Es bedeutet aber auch nicht, dass es im Kapitalismus eine spezifische strukturelle Notwendigkeit für oder eine starke systemische Disposition zur Geschlechterunterdrückung gibt.14 Die Beziehung zwischen Kapitalismus und Patriarchat gestaltet sich sicherlich komplizierter, als es die Worte Woods erscheinen lassen. Allerdings ist die Fragmentierung der Theorien der Ausbeutung und Unterdrückung nicht immer zielführend. Die Sorge, dass eine Privilegierung der Kategorie Klasse zu einer schleichenden Enteignung anderer Kategorien führt, ist natürlich nachvollziehbar. Marxist*innen stehen daher vor der grundlegenden methodischen Aufgabe, einen Weg aus diesem Dickicht zu finden. Hierfür wurde eine Möglichkeit von Nancy Holström vorgeschlagen: Meiner Meinung nach muss die grundlegende marxistische Theorie nicht fundamental überarbeitet werden, um der Unterdrückung der Frauen besser Rechnung zu tragen. Ich glaube allerdings, dass die Theorie ergänzt werden muss. Berechtigterweise fordern Feminist*innen eine Gesellschaftstheorie, die ein vollständigeres Bild der Produktion und Reproduktion zeichnet, als es bei der marxschen politischen Ökonomie der Fall ist. Die Frage der Demokratie sollte demnach nicht nur auf die Ökonomie bezogen, sondern auch auf die persönlichen Beziehungen ausgeweitet werden. Sie fordern auch mit Recht, dass den emotionalen Dimensionen unseres Lebens Augenmerk geschenkt werden muss, um einerseits zu verstehen, wie sich Unterdrückung in den intimsten Aspekten unseres Lebens äußert, und – am allerwichtigsten – um ein vollständigeres Bild der menschlichen Emanzipation zu zeichnen.15 Diese Sichtweise des Feminismus als Ergänzung des Marxismus mag für einige Teile der sozialistischen Feminist*innen vielleicht annehmbar sein, aber für andere ist sie dies sicherlich ganz und gar nicht. Was die Beziehung zwischen Klasse und Race angeht, so wurde darauf bislang noch nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit gerichtet, auch 14 Meiksins Wood, Capitalism and Human Emancipation, S. 281 / Meiksins Wood, Demokratie contra Kapitalismus, S. 273. 15 Holmström, The Socialist Feminist Project, S. 7–8.

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nicht in Bezug auf nationale Rechtssysteme. Wie Athena Mutua im Zusammenhang mit dem US-Rechtssystem feststellte, hat »eine systematische Analyse von Klasse, insbesondere als Produkt ökonomischer Zuordnung, sowie ihrer Beziehung zu Race noch nicht stattgefunden, obwohl Critical Race Scholars seit Jahren feststellen, dass durch das Klassensystem in den USA eine wechselseitige Konstruktion von Race, Gender und anderen Unterdrückungsformen stattfindet«.16 Der Critical Race Materialism ist in den vergangenen Jahren jedoch dazu übergegangen, die Kategorien Klasse und Race zusammenzuführen.17 Im Wesentlichen geht es nicht darum, einer bestimmten Kategorie von vornherein Priorität einzuräumen, sondern darum, in Abhängigkeit vom jeweiligen sozialen Kontext die eine oder die andere Kategorie zu privilegieren. Ein derartiger kontextueller Ansatz ist für die Formulierung eines intersektionalen und mehrschichtigen Klassenbegriffs zielführender, da dadurch unterbunden wird, dass die Klassenbeziehungen unabhängig von der betreffenden sozialen Unterdrückung willkürlich privilegiert werden. Durch die kontextualisierende Sichtweise wird der Tatsache Rechnung getragen, dass es für die Unterdrückung von Frauen oder die rassistische Unterdrückung unterschiedliche gesellschaftliche Grundlagen gibt und dass Klassenunterdrückung dabei nicht immer der wichtigste Grund ist. Daher ist es nicht notwendig, bei der Erklärung die-

16 Mutua, A., The Rise, S. 379. 17 »Critical Race Materialism markiert einen Ansatz zur Interpretation von Recht und Gesellschaft, um mittels einer historischen Methode zu verstehen, wie stark Race (in einem intersektionalen/nicht essenzialistischen Sinn) und Ökonomie diese konstituieren. In diesem Sinn spiegelt Recht die sich wechselseitig durchdringenden kulturellen Praktiken und Werte wider, die rassifiziert (oder auch von gender und sex durchzogen) und von Klassenzugehörigkeit geprägt sind. Identitätskategorien werden durch das Recht konstruiert und gestärkt.« Valdes und Cho, Critical Race Materialism, S. 1515. Sie beschreiben das internationale Recht wie folgt: »Internationales Recht ist wie nationales Recht das Produkt von lokalen und nationalen Eliten. Es wird durch eine Race- und Genderpolitik konstruiert, die auf transnationaler Ebene die gleichen Verhältnisse reproduziert, wie sie auf nationaler und subnationaler Ebene existieren: Beziehungen von Herrschaft und Beherrschung im Namen von Zielen und Werten wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Würde.« Ebd., S. 1567 (Hervorhebung hinzugefügt). Es liegen mindestens drei kürzlich erschienene Schwerpunktausgaben zum Thema race und class in der kritischen Rechtswissenschaft vor: Going Back to Class?: The Re-Emergence of Class in Critical Race Theory. Michigan Journal of Race and Law 11, 2005; ClassCrits: Toward a Critical Legal Analysis of Economic Inequality. Buffalo Law Review 56, 2008; Critical Race Theory and Marxism. Columbia Journal of Race and Law 1, 2011. Vgl. außerdem Mutua, M., Critical Race Theory, S. 841–853; Aoki, Space Invaders, S. 913–958.

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ser Unterdrückung entweder Klasse, Gender oder Race von vornherein Priorität einzuräumen. Soziale Erfahrung darf nicht in eine privilegierte Kategorie gepresst werden. Dies wurde sowohl in der postkolonialen Theorie wiederholt festgestellt als auch von mir aufgezeigt, als ich dargestellt habe, wie indische Marxist*innen versuchen, mit der Kastenunterdrückung umzugehen.18 Die zunehmende Vernachlässigung der Kategorie Klasse kann jedenfalls nicht allein auf das Inerscheinungtreten anderer Kategorien wie Gender und Race zurückgeführt werden. Die Relevanz der Kategorie Klasse wurde aus anderen Gründen infrage gestellt. Dazu gehören das Fehlen einer angemessen ausgereiften Kartografie von Klassen in der Gesellschaft, das mangelnde Verständnis von ihrem Platz und ihrer Rolle in der ideologischen und politischen Sphäre, ihre wachsende Irrelevanz angesichts der Diffusion des Kapitals durch die Verbreitung von Aktienbesitz und die Tatsache, dass sich in der Zweiten Moderne der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt das auftut, was Ulrich Beck mit dem Begriff des »Kapitalismus ohne Klassen« umriss.19 Diese Einwände wurden an anderer Stelle genauer behandelt, wo argumentiert wurde, dass die Kategorie Klasse nach wie vor ihren Stellenwert hat.20 Es lässt sich also schließen, dass ein Klassenansatz im Hinblick auf das internationale Recht, der Ansätze von Gender und Race integriert, durch seinen kontextualisierenden und mehrschichtigen Zugang in der heutigen Zeit eine größere Zug- und Anziehungskraft besitzt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kategorien Klasse, Gender oder Race als jeweils für sich stehende Hauptkategorien nicht alle Dimensionen des internationalen Rechts erklären, ihnen zusammen jedoch eine große Erklärungskraft zukommt, da sie sich im realen Leben kreuzen und überschneiden. Berücksichtigung der Logik des Territoriums Die komplexen Entstehungsprozesse internationaler Rechtsvorschriften kommen bei Marxist*innen häufig zu kurz. Nicht der Staat, sondern das Staatensystem vermittelt auf internationaler Ebene die operationelle Struktur für die Rechtserzeugung. Während klassische Realist*innen die Logik 18 Chimni, International Law and World Order, S. 446 f. 19 Nach Beck »wird zum ersten Mal in der Geschichte vielmehr das Individuum und nicht die Klasse zur Reproduktionseinheit des Sozialen«; Beck und Willms, Conversations with Ulrich Beck, S. 101. 20 Chimni, Prolegomena, S. 57–82.

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des Kapitals ignorieren, vernachlässigen Marxist*innen in ihren Bemühungen, die internationale Rechtsetzung zu verstehen, die »Logik des Territoriums.«21 In einigen neueren marxistischen Schriften zu internationalen Beziehungen wurde jedoch eingeräumt, dass die beiden Logiken sich gegenseitig überschneiden und beeinflussen. Wie bereits treffend festgestellt wurde, sagt die »Behauptung, dass die beiden Logiken sich überschneiden und miteinander interagieren … nichts aus über die relative Vorrangstellung der einen vor der anderen«22. Es geht vielleicht nicht so sehr um die Frage, welche Logik »Vorrang« hat, sondern um die Tatsache, dass sowohl die Logik des Kapitals als auch die Logik des Territoriums in verschiedenen historischen Phasen gleichzeitig Einfluss hatten. Es kann daher beispielsweise gesagt werden, dass das moderne Staatensystem auf gewisse Weise ein Produkt des Kapitalismus ist, da es sich erst nach seinem Aufkommen entwickelt und konsolidiert hat. Andererseits gibt es Hinweise darauf, dass die Entstehung des modernen Staatensystems unter anderem durch die Beseitigung unterschiedlicher kleinstaatlicher Rechtsnormen zur Entwicklung des Kapitalismus in Europa beigetragen hat. Engels schrieb: Die Beseitigung der buntscheckigen kleinstaatlichen formellen und materiellen Rechtsnormen war an sich schon ein dringendes Bedürfnis der fortschreitenden bürgerlichen Entwicklung, und in dieser Beseitigung besteht auch das Hauptverdienst der neuen Gesetze – weit weniger in ihrem Inhalt.23 Die beiden Logiken fallen allerdings unabhängig von ihrem wechselseitigen Einfluss nicht ineinander zusammen. Callinicos schreibt: Man muss das Staatensystem als gesonderte Bestimmung begreifen (oder vielmehr als Bündel von Bestimmungen) innerhalb des weiter gefassten Vorhabens, eine zufriedenstellende Theorie der kapitalistischen Produktionsweise zu entwickeln. … jede Bestimmung besitzt spezifische Eigenschaften, die nicht auf die Eigenschaften vorher vorhandener Bestimmungen reduzierbar sind. … das Staatensystem hat

21 Zu den Auswirkungen der Logik des Territoriums im Abschnitt über Morgenthau: Kapitel 2, Chimni, International Law and World Order, S. 55–56. 22 Callinicos, Does Capitalism Need the State System?, S. 540. 23 Marx und Engels, Selected Works, Band 3, S. 424. / Engels, Die Rolle der Gewalt, S. 457.

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besondere Eigenschaften: Hätte es diese nicht, käme ihm keine Erklärungskraft zu.24 Der herausragenden Bedeutung dieser Ausführung wurde von marxistischen Wissenschaftler*innen wie Miéville nicht ausreichend Rechnung getragen. So bleibt eine gebührende Würdigung des fortschrittlichen Gehalts der universellen Ausbreitung der Logik des Territoriums infolge der Entkolonisierung aus. Sicherlich räumt Miéville ein, dass das Ende des Zeitalters des formellen Kolonialismus ein »historisch fortschrittliches Moment«25 darstellte. Seiner Ansicht nach sollte die »Bedeutung der Entkolonisierungswellen nicht unterschätzt werden«26. Er liefert jedoch keine Erklärung, worin die Fortschrittlichkeit der Entkolonisierung besteht, und stellt lediglich fest, dass sie den gleichen emanzipatorischen Charakter aufweist wie Lohnarbeit im Vergleich zu Leibeigenschaft und Sklaverei.27 Wir erfahren wenig darüber, wie formale Gleichheit oder die territoriale Logik die Struktur und die Prozesse des internationalen Rechts beeinflusst. Stattdessen kommt er später zu dem Schluss, dass es falsch wäre, anzunehmen, dass »das internationale Recht« dem sich durchsetzenden Imperialismus »erfolgreich entgegentreten kann«, weil »dieser eingefasst ist in genau jene Strukturen, in denen das internationale Recht selbst situiert ist«. Er folgert außerdem, dass »die Machtdynamiken des politischen Imperialismus eingebettet sind in der rein juristisch gefassten souveränen Gleichheit«28. Nach Miéville wurden die »antikolonialen Bewegungen zum Kulminationspunkt einer lange währenden Tendenz in Richtung der Universalisierung der juristischen Souveränität und des internationalen Rechts, dessen Akteure und Subjekte die souveränen Staaten sind«29. So war »die juristische Form der selbstbestimmten Souveränität etwas, was der Imperialismus selbst zu universalisieren trachtete«30. Miéville vertritt hiermit quasi die Meinung, dass die antikolonialen Befreiungskämpfe in gewisser Weise bedeutungslos waren, weil der Imperialismus langsam darauf hinarbeitete, die Unabhängigkeit zu gewähren, um die perfekten Bedingungen für die imperialistische Ausbeutung zu schaffen. Er lässt hier sogar Paschukanis sprechen: »Die Tendenz des Kapitalismus ist seine Verallgemeinerung, und

24 25 26 27 28 29 30

Callinicos, Does Capitalism Need the State System?, S. 542. Miéville, Between Equal Rights, S. 269. Ebd., S. 270. Ebd., S. 269. Ebd., S. 270. Ebd., S. 266. Ebd., S. 260.

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wie Paschukanis herausgestellt hat, ist der Kapitalismus ein juristischer Kapitalismus. Dieser Imperialismus der Souveränität ist der Imperialismus des internationalen Rechts, der der Imperialismus von juristischen Beziehungen ist«.31 Aber Paschukanis schrieb im Zeitalter vor der Entkolonisierung und demnach stellte er weder Überlegungen über ihre Bedeutung für das Wesen und die Merkmale des internationalen Rechts an, noch unterschied er diesbezüglich zwischen verschiedenen Formen des Imperialismus. Daher handelt man sich äußerst problematische Annahmen ein, wenn man einige der Formulierungen von Paschukanis übernimmt und – wie Miéville es tut – die Möglichkeit einer Reform des aktuellen internationalen Rechts ablehnt oder den Wert des internationalen Rechts vollständig ignoriert. Bevor wir allerdings Miévilles Standpunkt zu diesen Fragen genauer untersuchen, sollten wir einen Blick auf die wesentlichen Merkmale des gegenwärtigen internationalen Rechts werfen. Wesentliche Merkmale des globalen Imperialismus In den 1980er-Jahren prägte das Phänomen des »Kolonialismus ohne Kolonien« den globalen Imperialismus und gab dem Imperialismus im Zeitalter einer beschleunigten Globalisierung sein Gesicht. In diesem Zeitalter konnte die Entstehung einer embryonalen sozialen Formation beobachtet werden: Diese Formation umfasst verschiedene Produktionsweisen innerhalb des Nationalstaats (in den Ländern des globalen Südens), die ganz deutlich von der kapitalistischen Produktionsweise dominiert sind. Bei dem globalen Integrationsprozess handelt es sich um einen mehrstufigen Prozess, der nationale, regionale und internationale Räume betrifft. Anfang der 1980er-Jahre schrieb Ernest Mandel, dass »die globalen kapitalistischen Austauschverhältnisse die kapitalistischen, halbkapitalistischen und vorkapitalistischen Produktionsverhältnisse zu einer organischen Einheit verbinden«.32 Dieses Verständnis kann nun in aller Vorsicht auf jene Produktionssphäre übertragen werden, die mit den globalen Produktionsketten zur heutigen Ordnung geworden ist. Der Integrationsprozess der Weltwirtschaft wird gefördert durch ein entstehendes »globales Recht«, über dem ein Netzwerk globaler Institutionen steht, die zusammen zu einem globalen Staat werden.33 Mit diesem globalen Recht wird das schlussendliche

31 Ebd. [Hervorhebung nach dem englischen Original.] 32 Mandel, The Nation-State and Imperialism, S. 527. 33 Chimni, International Institutions Today, S. 1–39.

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Ziel verfolgt, Hindernisse für den freien Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr durch die Erzeugung und Anwendung einheitlicher Rechtsnormen zu beseitigen, um einen grenzenlosen globalen Wirtschaftsraum zu schaffen. Die Materialisierung dieser globalen sozialen Formation spiegelt sich auch wider in der raschen Entwicklung der internationalen Menschenrechte und der zunehmenden Theoretisierung eines globalen Kosmopolitismus und Konstitutionalismus. Der auf globaler Ebene stattfindende soziale und politische Prozess ist jedoch widersprüchlich und konfliktgeladen, da er sich unter der Ägide einer transnationalen kapitalistischen Klasse vollzieht, die danach strebt, die Welt nach ihren Vorstellungen zu vereinen. Dies geschieht zum Nachteil der transnationalen unterdrückten Klassen, die diese Vision aktiv herausfordern und Widerstand dagegen leisten. Die transnationale Kapitalistenklasse »besteht aus den Eigentümern des transnationalen Kapitals, das heißt der Gruppe, die die führenden weltweiten Produktionsmittel hauptsächlich in Gestalt der transnationalen Unternehmen und privaten Finanzinstitute besitzt«34. Sie wird von den Managern des transnationalen Kapitals und den globalen Mittelschichten gestützt, die sowohl die Vorstellungen der transnationalen Kapitalistenklassen teilen als auch am Profit des globalen Kapitals beteiligt sind.35 Der aus dem globalen Süden, vor allem aus den BICS-Staaten (Brasilien, Indien, China und Südafrika), stammende Teil der transnationalen Kapitalistenklasse spielt in diesem Prozess eine aktive Rolle. Sie sind nicht mehr die »folgsamen Juniorpartner des vergangenen Zeitalters des Imperialismus, sondern sie treten vielmehr in Erscheinung als unabhängige Akteure und wirken ausgleichend in den globalen Machtverhältnissen«36. Im Jahr 2013 stiegen die aus Entwicklungsländern stammenden ausländischen Direktinvestitionen auf ein nie dagewesenes Niveau. Die Entwicklungs- und Transformationsländer tätigten laut dem UNCTAD-Weltinvestitionsbericht 2014 zusammen Investitionen in Höhe von 553 Milliarden US-Dollar beziehungsweise 39 Prozent der globalen ausländischen Direktinvestitionen. Anfang des Jahrhunderts lagen sie dagegen bei nur 12 Prozent.37 Die sich bei der transnationalen Kapitalistenklasse anhäufenden Erträge fließen an die oberen Mittelschichten und Teile der organisierten Arbeiterklassen, um sie zu »bestechen« und sich ihre politische Unterstützung zu

34 35 36 37

Robinson und Harris, Towards a Global Ruling Class?, S. 22. Sklair, Globalization: Capitalism and its Alternatives, S. 99. Harris, Statist Globalization in China, S. 7. UNCTAD, World Investment Report, 2014, Overview, New York: UN, 2014, S. ix.

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sichern.38 Es tritt eine globale soziale Formation in Erscheinung, in der sich eine globale Klassenspaltung über das Nord-Süd-Gefälle legt. Dies geschieht in einer Welt, in der die reichsten 85 Bürger*innen mehr besitzen als die unteren dreieinhalb Milliarden Menschen.39 Es geht also in anderen Worten um ein Zeitalter des globalen Imperialismus beziehungsweise um den Imperialismus im Zeitalter einer beschleunigten Globalisierung. Es sei jedoch hervorgehoben, dass dem Begriff der transnationalen Kapitalistenklasse keine reduktionistische Bedeutung zugeschrieben werden sollte. Die Entstehung einer solchen Klasse ist ein komplexer und widersprüchlicher Prozess.40 Durch die Entstehung eines transnationalen historischen Blocks, wie William Carroll feststellt, »werden die Rivalitäten nicht beseitigt, die in der objektiven Notwendigkeit der kapitalistischen Staaten begründet sind, die Kapitalströme zu ihrem eigenen territorialen Vorteil zu beeinflussen. Sie werden lediglich gedämpft und moderiert«41. Kurz gesagt, »als ›Klasse für sich‹ befindet sich die transnationale Kapitalistenklasse in der Entstehung; ihr Klassenbildungsprozess ist allerdings (noch) nicht abgeschlossen«42. In diesem Zusammenhang spricht Carroll auch von der »Abkopplung der Bourgeoisien des Südens, darunter staatskapitalistischer Fraktionen, von dem Elitenetzwerk des Nordens«43. Dies erklärt die Kooperation der BICS-Länder oder der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (China, Russland, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan). 44 Das ist zumindest einer der Gründe, weshalb die internationale Rechtsetzung auf globaler Ebene in vielerlei Hinsicht

38 Dies liefert zumindest eine Erklärung dafür, warum Teile der organisierten Arbeiterklassen keinen Widerstand gegen flexibilisierende Arbeitsmarktmaßnahmen leisten, die sowohl in der entwickelten Welt als auch in der sich in Entwicklung befindlichen Welt von den herrschenden Klassen durchgesetzt werden. 39 UNCTAD, Trade and Development Report, 2014: Global Governance and Policy Space for Development, S. 1. 40 Wie William Carroll korrekt feststellt, muss der Komplexität bei der Bildung transnationaler Klassen Rechnung getragen werden. Carroll, The Making, S. 231. Laut Carroll sollten die Analysen in diesem Feld frei von abstrakten, polarisierenden Charakterisierungen sein – wie bei den Konstruktionen einer nationalen gegenüber einer transnationalen Kapitalistenklasse, einem US-amerikanischen Hegemon mit Weltherrschaftsanspruch gegenüber einem im Dienste der transnationalen Kapitalistenklasse agierenden Washington; innerimperialistischen Rivalitäten gegenüber der vereinten Herrschaft des globalen Kapitals. Ebd. (Hervorhebung nach dem engl. Original.) 41 Ebd., S. 232. 42 Ebd., S. 233. 43 Ebd. 44 Ebd.

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weiterhin umkämpft ist, obwohl sich die transnationale Kapitalistenklasse der BICS-Länder der neoliberalen Globalisierung verschrieben hat. Zu den weiteren Gründen gehören der Druck jener weiterhin national ausgerichteten Kapitalfraktion, wahlpolitische Entscheidungen und die Auswirkungen des Widerstands ausgebeuteter und unterdrückter Gruppen. Anders ausgedrückt: Die Logik des Kapitals und die Logik des Territoriums fallen angesichts unterschiedlicher nationaler geschichtlicher Verläufe und Entwicklungswege häufig nicht zusammen. Spielt die transnationale Kapitalistenklasse jedoch eine bedeutende Rolle bei der Formung des internationalen Rechts, so besteht mindestens einer der Gründe in »einem elitären unternehmenspolitischen Netzwerk, das Teil eines transnationalen historischen Blocks von Kapitalisten und organischen Intellektuellen ist, der konsensstiftend wirkt und die Führungsrolle in der globalen Unternehmenswelt einnimmt«45. Ein globales Recht hätte als wichtigstes Ergebnis zur Folge, dass die Entwicklungsländer ihren politischen Handlungsspielraum (Policy Space) einbüßen würden. Wie in einem UNCTAD-Bericht festgestellt wird, »haben die verschiedenen Rechtspflichten aus den multilateralen, regionalen und bilateralen Abkommen die nationale politische Autonomie eingeschränkt, indem sowohl der vorhandene Spielraum als auch die Wirksamkeit bestimmter Politikinstrumente beeinflusst wurden«46. Darüber hinaus findet zunehmend eine internationale Rechtsetzung durch nichtstaatliche Akteure statt, die zwar Soft Law hervorbringt, aber dennoch den politischen Handlungsspielraum der Entwicklungsländer beschneidet.47 In den armen Ländern rückt dadurch das Ziel »Entwicklung als Freiheit« in weite Ferne.48

45 Ebd., S. 228. 46 UNCTAD, Trade and Development Report, 2014: Global Governance and Policy Space for Development, S. viii. 47 Die wachsende Rolle nichtstaatlicher Akteure in der internationalen Rechtsetzung ist eine Entwicklung, die sich in Zukunft wahrscheinlich noch verstärken wird. Zu den nichtstaatlichen Akteuren gehören Unternehmen, internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen. Im Bereich des internationalen Wirtschaftsrechts neigen nichtstaatliche Akteure dazu, Bestimmungen und Leitlinien festzulegen, die die Stabilität des globalen kapitalistischen Systems sicherstellen, vor allem im Finanz- und Bankwesen. Vgl. D’Aspremont, Participants; Aponte Miranda, Indigenous Peoples; Arato, Corporations as Lawmakers. 48 Sen, Development as Freedom.

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Vor diesem Hintergrund können einige zentrale Entwicklungen im Zeitalter des globalen Imperialismus ausgemacht werden, denen durch das globale Recht aktiv Vorschub geleistet wird.49 Erstens ist der globale Imperialismus geprägt durch den Einfluss und die Herrschaft des internationalen Finanzkapitals, eines hypermobilen Kapitals, durch das Millionen von Dollar per Mausklick von einem staatlichen Territorium in ein anderes transferiert werden können. Die Hegemonie des Finanzkapitals ist abhängig von der weltweiten Liberalisierung der Finanzkontrollen, die von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren durch bilaterale, regionale und multilaterale Abkommen gefördert wird. Sowohl Handels- als auch Investitionsabkommen werden von mächtigen Nationen dafür genutzt, eine Liberalisierung des Kapitalverkehrs ohne angemessene Schutzmechanismen durchzusetzen. 50 Derweil wurden bei Ausbruch der weltweiten Finanzkrise im Jahr 2008 diejenigen Länder am wenigsten getroffen, die das grenzüberschreitende Finanzwesen regulierten.51 Daher vertreten viele die Meinung, dass sich die Entwicklungsländer weigern sollten, Handels- und Investitionsabkommen zu unterzeichnen, durch die die Liberalisierung des Kapitalverkehrs vorangetrieben wird.52 Selbst der IWF räumt ein, dass die Liberalisierung des Kapitalverkehrs lediglich ein langfristiges Ziel sein kann und jeder einzelne souveräne Staat entscheiden muss, ob sie anzustreben ist.53 An dieser Stelle sei auch auf eine Entschließung des Europäischen Parlaments verwiesen, in der festgestellt wird, dass »spekulative Investitionsformen« in internationalen Investitionsabkommen nicht geschützt werden sollten.54 Darüber hinaus versuchen internationale Finanzinstitutionen wie der IWF und die Weltbank,

49 Unter Policy Space (politischer Handlungsspielraum) wird die Freiheit und Fähigkeit von Regierungen verstanden, die geeignetste Mischung aus wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen zu bestimmen und umzusetzen, um in ihrem eigenen nationalen Kontext eine gerechte und nachhaltige Entwicklung zu erzielen, die jedoch Bestandteile einer von wechselseitigen Abhängigkeiten geprägten Wirtschaft sind. UNCTAD, Trade and Development, S. vii. 50 Ebd. 51 Kevin P. Gallagher, Stephany Griffith-Jones und Jose Antonio Ocampo: »Historic Moment for the IMF«, Financial Times, 29. Mai 2012. 52 Pardee Center Task Force Report (März 2013), Capital Account Regulations and the Trading System: A Compatibility Review (Kevin P. Gallagher and Leonardo E. Stanley Co-Chairs), S. 10–11; Bhagwati, In Defense of Globalization, S. 199–200. 53 Ebd. 54 Europäisches Parlament: »Europäische Auslandsinvestitionspolitik«, Entschließung vom 6. April 2011 zur künftigen europäischen Auslandsinvestitionspolitik, Ziffer 11.

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nichtstaatliche Stellen wie der Basler Ausschuss, die sich aus den Führungskräften der Zentralbanken der Industrieländer zusammensetzen und unabhängig auftreten, sowie der Finanzstabilitätsrat die Regulierungslücken im Bank- und Finanzwesen zu schließen, um eine zukünftige Finanzkrise zu verhindern. Doch diese Erkenntnisse, Empfehlungen und Bemühungen werden angesichts des übermächtigen Einflusses, den das internationale Finanzkapital in den Korridoren der Macht entfaltet, vermutlich nicht die gewünschte Wirkung haben, da die Verabschiedung von Hard Law zur Beschränkung der Konvertibilität der Kapitalbilanz verhindert wird. Zweitens ist der globale Imperialismus geprägt durch den zunehmenden Schutz der Rechte transnationaler Unternehmen sowohl vor und bei ihrem Markteintritt und ihrer Gründung als auch im Rahmen ihrer operationellen Tätigkeiten an sich. Hierfür werden eine Reihe internationaler Rechtsinstrumente herangezogen. Dazu gehören Hunderte bilaterale Investitionsschutzabkommen (Bilateral Investment Protection Treaties – BITs), eine steigende Anzahl von Freihandelsabkommen mit Investitionsschutzklauseln, die WTO-Abkommen über handelsbezogene Investitionsmaßnahmen (Trade Related Investment Measures – TRIMs), handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (Trade Related Intellectual Property Rights – TRIPs) und den Handel mit Dienstleistungen, d. h. das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), die Abkommen der Weltbank über eine Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur (Multilateral Investment Guarantee Agency – MIGA) und das Abkommen über das Internationale Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (International Centre for Settlement of Investment Disputes – ICSID). Allerdings unterliegen die transnationalen Unternehmen nur wenigen Pflichten gegenüber den Gastländern. Diese Pflichten sind entweder in internationalen Verhaltenskodizes ohne bindenden Charakter (beispielsweise die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte aus dem Jahr 2011 (UN Guiding Principles on Business and Human Rights55)) oder in freiwilligen Kodizes der transnationalen Unternehmen festgeschrieben, die das Bild von verantwortungsbewussten und rechenschaftspflichtigen Akteuren wahren sollen.

55 UN-Generalversammlung, Guiding Principles on Business and Human Rights: Implementing the United Nations »Protect, Respect, and Remedy« Framework, U.N. Doc. A/HRC/17/31 (21. März 2011).

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Drittens ist der globale Imperialismus geprägt durch etwas, das David Harvey als »Akkumulation durch Enteignung«56 bezeichnete. Dieses Phänomen wird unter anderem an der globalen Entwendung natürlicher Ressourcen wie Land, Mineralien, Wasser und biologischer Ressourcen durch die transnationalen Unternehmen manifest. Als Beispiele können der Raubbau am Grundwasser, die zunehmende Privatisierung von Wasser in Städten auf der ganzen Welt und die Ausbeutung indigenen Landes zum Abbau von Mineralien durch Unternehmen genannt werden. Es ist kein Zufall, dass der Kampf um den Landerwerb zu einem derart umstrittenen Thema in Ländern der Dritten Welt57 (wie Indien) geworden ist. Das aktuelle internationale Wirtschaftsrecht fördert den Prozess der »Akkumulation durch Enteignung«. Viertens ist das Zeitalter des globalen Imperialismus geprägt durch den nie dagewesenen Aufstieg der Freihandelsdoktrin. Die Empfehlung an die Entwicklungsländer heißt hier: rasche Liberalisierung des internationalen Handels. Bei dieser Empfehlung werden allerdings sowohl die Geschichte des Freihandels, an der sich zeigt, dass die Industrialisierung der entwickelten Länder hinter Zollschranken stattgefunden hat, als auch die Bandbreite der protektionistischen Maßnahmen außer Acht gelassen, die selbst heute noch (beispielsweise bei den Agrarrohstoffen) existent sind.58 Heutzutage wird die Handelsliberalisierung nicht nur von der WTO gefördert, sondern auch durch die Schaffung umfangreicher regionaler Handelsabkommen wie der Transpazifischen Partnerschaft (Transnational Pacific Partnership – TPP), der Regional Cooperation for Economic Partnership (RCEP) von zehn ASEAN-Ländern und Indien, China, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland und der transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (Transatlantic Trade and Investment Partnership – TTIP) zwischen den USA und der Europäischen Union. Bei den meisten Initiativen zur Handelsliberalisierung werden die Folgen für die Arbeiter*innen, insbesondere in den Entwicklungsländern, ignoriert, was

56 Harvey, The New Imperialism. 57 [Anm. d. Hg.: Zu den Gründen für die bewusste Verwendung des Begriffs Dritte Welt im Rahmen der Third World Approaches to International Law (TWAIL): Anghie, Antony, und Chimni, Bhupinder: Third World Approaches to International Law and Individual Responsibility in Internal Conflicts. Chinese JIL 2, 1, 2003, 77–103.] 58 Chang, Ha-Joon: Why Developing Countries Need Tariffs. How WTO NAMA Negotiations Could Deny Developing Countries’ Right to a Future. Oxfam, Research Report, 2005; Kishore, Ricardo’s Gauntlet; Mangabeira Unger, Free Trade Reimagined; Chimni, Developing Countries.

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sich daran zeigt, dass keine Ausgleichsmaßnahmen durchgeführt werden. Die Entkoppelung des internationalen Handelsrechts vom normalen Leben wird durch die Tatsache gefördert, dass sich grundlegende Abkommen wie die WTO-Abkommen und Freihandels- beziehungsweise regionale Handelsabkommen auf die Interessen und Rechte der Hersteller und nicht auf die Verbraucherinteressen und -rechte konzentrieren. Wie Petersmann festgestellt hat, findet weder das Verbraucherwohl (consumer welfare) »auf den 30.000 Seiten des WTO-Rechts Erwähnung, noch wird eine angemessene Rechtfertigung dafür geliefert, dass ein einseitiger, utilitaristischer Fokus auf die Einkommensumverteilung zugunsten der Interessen der mächtigen Hersteller (producer welfare) gelegt wird«59. Angesichts der Vernachlässigung der Arbeiterklasse und der Verbraucher*innen lässt sich die feindselige Einstellung von US-Präsident Donald Trump gegenüber der Freihandelsdoktrin in Zeiten der Wirtschaftskrise leicht nachvollziehen.60 Fünftens hebt sich das Zeitalter des globalen Imperialismus durch die von den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ausgeübte Kontrolle über die Wissensökonomie ab. Die Industrie in der Dritten Welt hängt weiterhin von den in den fortgeschrittenen Ländern produzierten Technologien ab, die durch ein robustes globales Regime von Rechten des geistigen Eigentums geschützt sind, die in einem komplexen Netzwerk von bilateralen, regionalen und internationalen Abkommen enthalten sind.61 Für die Nutzung dieser Technologien muss der globale Süden Unsummen an Nutzungsgebühren zahlen. In den Branchen, in denen die Industrie in der Dritten Welt einen Vorsprung hat, wie bei der Herstellung generischer Arzneimittel in der Pharmabranche, verfolgen die transnationalen Unternehmen eine aggressive Prozessführungsstrategie zum Schutz ihrer Patentrechte, damit Pharmafirmen aus den Entwicklungsländern keine günstigen Arzneimittel für den heimischen Markt oder die übrige Welt herstel-

59 Petersmann, JIEL Debate, S. 926. 60 Vgl. im Allgemeinen Chimni, Trans-Pacific Partnership Agreement. 61 Zu IPRs und TRIPS vgl. allgemein Correa, Intellectual Property Rights; Drahos und Braithwate, Information Feudalism; Boldrin und Levine, Against Intellectual Monopoly; Gathii, Construing Intellectual Property Rights; Gathii, The Legal Status; Chimni, The Political Economy. In einer Entschließung des Europäischen Parlaments wird die Kommission aufgefordert, »in alle künftigen Abkommen spezifische Klauseln aufzunehmen, in denen das Recht der Vertragsparteien festgelegt ist, unter anderem im Bereich des Schutzes der nationalen Sicherheit, der Umwelt, der öffentlichen Gesundheit, der Rechte der Arbeitnehmer und Verbraucher, der Industriepolitik und der kulturellen Vielfalt Regelungen zu treffen«; Entschließung des Europäischen Parlaments vom 6. April 2011 zur künftigen europäischen Auslandsinvestitionspolitik, Ziffer 25.

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len können. Die Rechtfertigung dieses robusten Regimes von Rechten des geistigen Eigentums wird zunehmend infrage gestellt, da sie verstörende Auswirkungen auf den Zugang zu lebensrettenden Arzneimitteln haben. Konsequenzen sind bislang allerdings ausgeblieben. Stattdessen wird dieses Rechtsregime zum Schutz der Rechte des geistigen Eigentums durch die sogenannten TRIPS-Plus-Regeln kontinuierlich gestärkt. Sechstens ist der globale Imperialismus geprägt durch die Aushöhlung der Arbeiterrechte sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Die Flexibilisierung der Arbeit ist heute zum Mantra des internationalen Kapitals geworden. So wird die Verlagerung der Arbeit betrachtet als notwendige Begleiterscheinung eines beweglichen Kapitals. Sie hat zu einer physischen und mentalen Zerstörung von Millionen von Arbeiter*innen und ihren Familien geführt. Dies gilt vor allem in Entwicklungsländern ohne Sozialsystem. Allerdings werden heute die Bemühungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der vergangenen Jahrzehnte zur Schaffung verbindlicher Arbeitsnormen durch die Annahme von SoftLaw-Texten wie der ILO-Erklärung über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit (DFPRW) aus dem Jahr 1998 geschwächt. In dieser Erklärung werden ein minimalistischer Ansatz verfolgt und eine Reihe von prioritär einzustufenden Kernrechten bestimmt, wodurch andere Rechte an den Rand gedrängt werden; all dies geschieht sogar ohne die Schaffung ernst zu nehmender Durchsetzungsmaßnahmen.62 Allgemeiner ausgedrückt führt der kapitalistische Imperialismus zu großer Ungleichheit zwischen den Ländern und innerhalb der Länder.63 Siebtens ist das Zeitalter des globalen Imperialismus geprägt durch die anhaltende Überausbeutung der Natur. Diesbezüglich versuchen die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, die in der Vergangenheit für die Umweltkrisen verantwortlich waren, die Entwicklungsländer und vor allem die BICS-Länder dazu zu bringen, freiwillige und rechtlich kodifizierte Pflichten zur Bekämpfung der ökologischen Folgen ihrer Politik zu übernehmen. Auch das Pariser Klimaschutzübereinkommen aus dem Jahr 2015 reiht sich ein in den Trend, den Entwicklungsländern die nötige Aussöhnung mit der Natur aufzubürden.64 Hinzu kommt, dass die entwickelten Länder versuchen, im Wege internationaler Rechtsbestimmun62 Hassel, The Evolution; Alston, Core Labor Standards. 63 Piketty, Capital in the Twenty-First Century. Piketty argumentiert natürlich, dass ebenfalls mächtige Kräfte für die Gleichheit eintreten und dass für diese angemessene Institutionen geschaffen werden müssen. 64 Eine marxistische Sichtweise des Klimawandels findet sich in Foster, The Great Capitalist Climacteric.

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gen wie derjenigen der WTO zum Umweltschutz nichttarifäre Handelshemmnisse gegenüber den Ausfuhren aus den Entwicklungsländern aufzubauen, die deren Entwicklungsaussichten weiter beeinträchtigen.65 Achtens ist der globale Imperialismus geprägt durch die Verlagerung der Gewalt in die Dritte Welt. Die Befriedung der imperialistischen Welt erfolgt auf dem Rücken der Entwicklungsländer. Auf zwischenstaatlicher Ebene stehen die Länder Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien als Symbol für diese Verlagerung der Gewalt. Hinzu kommen zahlreiche andauernde interne Konflikte. Die internationalen Strafgerichte konzentrieren sich jedoch mit ihren Ermittlungen und Verurteilungen auf Personen aus der Dritten Welt; der Internationale Strafgerichtshof hat dabei den afrikanischen Kontinent klar im Fokus. Erste Anzeichen einer anwachsenden innerimperialistischen Konkurrenzsituation lassen sich im Verhältnis zwischen NATO-Staaten und Russland erkennen; die Annexion der Krim durch Russland zeigt dabei nur eine Dimension davon.66 Neuntens ist das Zeitalter des globalen Imperialismus geprägt durch die Bemühung der entwickelten Länder, die legale Migration einzudämmen, wodurch sich Schleusung und Menschenhandel weltweit zu einem eigenen Wirtschaftszweig auswachsen. Diese Staaten haben durch eine Reihe von rechtlichen und administrativen Maßnahmen ein Grenzregime gegen Asylsuchende und Geflüchtete hervorgebracht, das auf die Zurückweisung und das Nichterreichen der Grenzen abzielt (Non-Entrée-Regime).67 Auch die Kontrollen der freiwilligen Migration nehmen zu. Das Grenzregime besteht aus einer Reihe von teils etablierten und teils neuen Maßnahmen. Dazu gehören die althergebrachten Methoden der Grenzregime wie Visumskontrollen, Sanktionen der Beförderer, das Aufbringen von Schiffen in Hochseegewässern, Abschiebehaft usw. und die auf Zusammenarbeit basierenden neueren Grenzmaßnahmen.68 Das Arsenal der neuen Non-Entrée-Maßnahmen umfasst: Nutzung diplomatischer Beziehungen, Offerieren finanzieller Anreize, Bereitstellung von Ausrüstung, Maschinen oder Schulungen, Entsendung von Bediensteten des geldgebenden Staats, gemeinsame oder arbeitsteilige Durchsetzung, Übernahme der Migrations-

65 Chimni, WTO and Environment: The Shrimp-Turtle; Chimni, WTO and Environment: The Legitimization. 66 Callinicos, Alex: Imperial Delusions. International Socialism 142 (2014) und online: http://isj.org.uk/imperial-delusions/. 67 Chimni, The Geopolitics of Refugee Studies; Chimni, The Birth of a »Discipline«. 68 Gammeltoft-Hansen und Hathaway, Non-Refoulement.

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steuerung vor Ort und Schaffung und Ausbau internationaler Stellen zur Durchführung einer effektiven Flüchtlingsabwehr.69 Zehntens ist das Zeitalter des globalen Imperialismus gekennzeichnet durch die rasch wachsende Anzahl von internationalen menschenrechtlichen Bestimmungen. Zahlreiche Übereinkommen, Protokolle und Erklärungen wurden angenommen. Darüber hinaus wurde eine Reihe von institutionellen Mechanismen geschaffen, in deren Rahmen überprüft wird, ob die Staaten ihre freiwillig eingegangenen menschenrechtlichen Verpflichtungen einhalten. Dazu gehören verschiedene Vertragsorgane und der UN‑Menschenrechtsrat. Diese institutionellen Mechanismen wurden unter anderem mit der Aufgabe betraut, regelmäßig Berichte von den Staaten anzufordern und zu kontrollieren. Die Organe erteilen Empfehlungen, die die Staaten ernst zu nehmen haben. Angesichts dessen hat ein derartiges globales System zur Kontrolle der Menschenrechtslage in den Staaten sicherlich das Potenzial, die Wahrung der Menschenrechte zu fördern und in gewissem Maße sich diesem Ziel zweifelsohne zu nähern. Der Rekurs auf internationale Menschenrechte dient jedoch auch der Legitimation aggressiver Eingriffe in den Entwicklungsländern sowie einer ungerechten Weltordnung im Allgemeinen. Schließlich ist das Zeitalter des globalen Imperialismus geprägt durch den Aufstieg der internationalen Organisationen, die durch globales Recht geschaffen werden und zu einem im Entstehen begriffenen »Weltstaat« werden. Wie bereits erwähnt, waren die Entwicklungsländer gezwungen, bedeutenden politischen Handlungsspielraum an die internationalen Organisationen abzutreten, die die notwendigen Mittel zur Durchsetzung politischer Maßnahmen und internationaler Abkommen in den Händen haben, über die sie wachen.70 Die internationalen Organisationen werden von einem Netzwerk von Global Cities und globalen Expert*innen unterstützt, die die materielle und ideologische Infrastruktur bereitstellen, die für einen imperialen »Weltstaat« notwendig ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich der globale Imperialismus durch ein im Entstehen begriffenes globales Recht auszeichnet, das unter dem Einfluss der transnationalen Kapitalistenklasse gestaltet wird und somit als globales imperiales internationales Recht bezeichnet werden kann. Es ist verantwortlich für die weltweite Ausbreitung der Entfremdung, eine Folge unmenschlicher sozialer Beziehungen, die unsere Zeit prägen. Diese

69 Ebd. 70 Chimni, International Institutions. Vgl. ferner Kapitel 2 in Chimni, International Law and World Order, S. 91–92.

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Entfremdung lässt sich anhand von vier Entfremdungstypen besser verstehen, die Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten beschrieben hat. Istvan Mészàros greift die marxschen Entfremdungstypen folgendermaßen auf: »der Mensch ist der Natur entfremdet«, »er ist sich selber (seiner Tätigkeit) entfremdet«, er ist seinem »Gattungswesen (seiner Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung) entfremdet« und »der Mensch ist dem Menschen (den Mitmenschen) entfremdet«.71 Wir leben in einer Welt, die sich zunehmend der Gefühle der Solidarität mit den Armen und Unterdrückten entledigt. Die Situation stellt sich nicht anders dar, wenn es um das Schicksal der Staatenlosen oder Geflüchteten geht, die irgendwo in den Zwischenräumen des Systems aus souveränen Staaten aufgefangen werden. An der europäischen Migrationskrise 2015–2016, als Hunderte von Menschen beim Versuch, nach Europa zu gelangen, umkamen, wird dies besonders deutlich. Im Rahmen des gegenwärtigen internationalen Rechts sind die verschiedenen Formen der Entfremdung, die im Zeitalter der Globalisierung um sich greifen, kein Thema. So findet eine starke Entfremdung der Disziplin des internationalen Rechts von denjenigen Individuen statt, um die es darin geht. Wenn das internationale Recht nicht als bloße Waffe der globalen Elite dienen soll, müssen umgehend die verschiedenen Formen der Entfremdung überwunden werden. Es muss der Stimme der transnationalen unterdrückten Klasse endlich Gehör schenken, die sich am Widerstand gegen diejenigen Regeln und Regelungen des gegenwärtigen internationalen Rechts beteiligt, die sich negativ auf ihr tägliches Leben auswirken. Weltweit sind soziale Bewegungen durch unterschiedliche Kräfte im Entstehen, die von linken und demokratischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen und einer Koalition von Entwicklungsländern angeführt werden und sich eine Reform des gegenwärtigen internationalen Rechts zum Ziel gesetzt haben. Es ist an der Zeit, dass das Narrativ des Widerstands fest in die Analyse internationaler Rechtsnormen und Organisationen integriert wird. Es ist kein Zufall, dass in dieser Zeit eine zweite Generation von Wissenschaftler*innen aus der Dritten Welt heranwächst (TWAIL II). Sie haben nicht nur die Kontinuität zwischen kolonialem internationalem Recht und dem gegenwärtigen internationalen Recht nachgewiesen, sondern auch die Beziehung zwischen Widerstand und Legitimität des internatio-

71 Mészàros, Marx’s Theory of Alienation, S. 14 / Mészàros, Der Entfremdungsbegriff bei Marx, S. 17. Diese unterschiedlichen Formen der Entfremdung wurden kurz umrissen in Chimni, The Past, Present and Future.

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nalen Rechts untersucht.72 Im Rahmen der TWAIL II wurden Wege für die Reform des internationalen Rechts vorgeschlagen, unter anderem um politische Handlungsspielräume wiederzuerlangen, damit die Belange von Verarmten und Unterdrückten berücksichtigt werden können. Darüber hinaus befinden wir uns in einer Zeit, in der die Feminist Approaches to International Law formuliert wurden und das internationale Recht sich vergleichsweise stark der Welt der Frauen geöffnet hat. Im Kapitel über die Feminist Approaches to International Law wurde gezeigt, dass zwar umstritten ist, inwieweit das internationale Recht in der Lage ist, den Belangen von Frauen Rechnung zu tragen, sich das Thema der Frauenrechte mittlerweile jedoch zweifelsfrei etabliert hat. Kurz gesagt setzen sich sowohl die TWAIL als auch die Feminist Approaches to International Law mit der Frage auseinander, ob und inwieweit das internationale Recht reformiert werden kann. Demgegenüber vertreten marxistische Wissenschaftler*innen wie Miéville die Meinung, dass eine Reform unmöglich ist und die internationale Rule of Law im Wesentlichen ein Euphemismus für die allumfassende Herrschaft des imperialistischen Rechts ist. Im Folgenden wird dieser Sichtweise widersprochen. Die folgenden Argumente werden zwar auf die Ansichten Miévilles bezogen, aber sie gelten auch für diejenigen Positionen innerhalb der TWAIL und der Feminist Approaches to International Law, die ebenso wenig eine Reformmöglichkeit für das gegenwärtige internationale Recht sehen. Reform oder Revolution Miéville sieht »keine Möglichkeit für ein systematisch ausgerichtetes, progressives politisches Projekt oder für eine emanzipatorische Dynamik aus dem internationalen Recht heraus«.73 Er fügt zwar hinzu, dass »es töricht wäre, zu leugnen, dass das Recht überhaupt für Reformen herangezogen werden kann«74, doch er betrachtet diese Möglichkeit als extrem beschränkt. Er schreibt: Staaten, nicht Klassen oder andere soziale Kräfte, sind die grundlegenden Kontrahenten des internationalen Rechts ... und jeder von ihnen hat seine eigene klassenbasierte Agenda. Diese vernichtenden Kämpfe zwischen den »feindlichen Brüder« der herrschenden Klasse machen 72 Vgl. etwa Rajagopal, International Law from Below. 73 Miéville, Between Equal Rights, S. 316. 74 Ebd., S. 317.

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einen Großteil des internationalen Rechtsgefüges aus und darin besteht wenig Raum für eine progressive, subversive oder radikale rechtliche Position.75 Er schließt zwar nicht aus, dass »im Bereich des internationalen Rechts ›progressive, subversive‹ Momente oder Entscheidungen möglich sind«76, kommt jedoch zu folgendem Schluss: Für eine grundlegende Änderung der Dynamik des Systems müssen nicht die Institutionen reformiert, sondern die verschiedenen Formen des Rechts beseitigt werden – das bedeutet, dass das politisch-ökonomische System neu formuliert werden muss, dessen Ausdruck die Rechtsformen sind. Ein Projekt, bei dem es darum geht, dies zu erreichen, stellt die größte Hoffnung für die weltweite Emanzipation dar und es würde das Ende allen Rechts bedeuten.77 Um die Ansichten Miévilles interpretieren und verstehen zu können, muss zwischen zwei unterschiedlichen Positionen differenziert werden. Die erste geht von der Behauptung aus, dass die imperialistische Ausbeutung der Menschen der Dritten Welt nach der Entkolonialisierung oder – allgemeiner ausgedrückt – der transnationalen unterdrückten Klassen anhält. Diese Ansicht wird seit Langem von Marxist*innen und Wissenschaftler*innen der TWAIL vertreten. Bisweilen scheint es, dass Miéville diese Ansicht teilt, da er einfach nur festhält, dass »ein systematisch ausgerichtetes, progressives politisches Projekt« im Rahmen des internationalen Rechts nur dann durchführbar ist, wenn es zu einer grundlegenden Veränderung in den Dynamiken des globalen Kapitalismus kommt. Ließe er es darauf bewenden, hätte Miéville mich jedoch nicht des »Radikalismus mit Regeln« beschuldigt.78 Einhergehend mit der Annahme, dass eine Reform möglich ist, wurde das internationale Recht doch als bürgerlich‑demokratisch charakterisiert. Diese Charakterisierung fasst genau das, was Miéville eigentlich klarzustellen sucht, indem er die formelle Gleichheit der Staaten ihrer materiellen Ungleichheit gegenüberstellt. Doch scheint es, dass Miéville mit diesem Aspekt einen Schwerpunkt setzt, der nicht ohne Argumente auskommen kann, die eine Verkennung und Ablehnung der Erkenntnisse der frühen marxistischen Wissenschaftler*innen und TWAIL-Wissenschaft-

75 76 77 78

Ebd. [Hervorhebung nach dem englischen Original.] Ebd. Ebd., S. 318. [Hervorhebung nach dem englischen Original.] Ebd., S. 64–75.

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ler*innen erkennen lassen. An anderen Stellen scheint es, dass Miéville eine radikalere Position einnimmt und die Möglichkeit einer Reform ausschließt. Dies geschieht, indem er feststellt, dass es eben Staaten und nicht Klassen sind, die auf internationaler Ebene interagieren, wodurch aufgrund der »Logik des Territoriums« die Möglichkeit zu einer Reform des internationalen Rechts durch den Klassenkampf weit geringer ist. So begegnen sich die herrschenden Klassen aller Staaten als »feindliche Brüder«. Diese Ansicht entspricht vielmehr dem klassischen Realismus als dem klassischen Marxismus. Da sich Miéville an anderer Stelle in der Darlegung seines Ansatzes zum internationalen Recht sehr stark auf die Arbeiten Paschukanis’ stützt, sollte zunächst ein Blick auf dessen Aufgeschlossenheit gegenüber der Möglichkeit einer Reform des internationalen Rechts und der Rechtsinstitutionen geworfen werden. So ist ein Merkmal der Arbeit Miévilles seine selektive Rezeption der Arbeiten Paschukanis’. Er nimmt keinen Bezug auf die Schriften, die nicht seiner eigenen Auffassung über die Rolle des Rechts und der Rechtsinstitutionen in der Gesellschaft entsprechen. Robert Knox stellte Folgendes fest: Miéville bezieht sich nur sehr oberflächlich auf die späteren Arbeiten Paschukanis’ zum Recht. Paschukanis’ ausführlichste Abhandlung zur Rolle des Rechts in einer Revolutionsstrategie findet sich in »Lenin and the Problems of Law«, das in »Between Equal Rights« keine Erwähnung findet. Besonders verwirrend daran ist, dass er die Arbeit in der Zeit zwischen seiner »Allgemeinen Rechtslehre« und seinem Beitrag über internationales Recht in der »Encyclopedia of State and Law« geschrieben hat. Da sich Miéville auf beide Texte stark bezieht, lässt sich nur schwerlich argumentieren, bei dieser Arbeit handele es sich um ein Produkt »stalinistischer Degeneration«.79 Miéville nimmt keinerlei Bezug auf den Text »Lenin and the Problems of Law«, da Paschukanis darin nämlich diejenigen geißelt, die die positive Rolle der Gesetzlichkeit in bestimmten konkreten Situationen nicht begreifen können.80 So räumte Paschukanis laut Knox »dem juristischen Kampf eine wichtige Rolle ein«81. Paschukanis wies darauf hin, dass »die starke Ablehnung der Gesetzlichkeit lediglich bei den kleinbürgerlichen

79 Knox, Marxism, International Law, and Political Strategy, S. 429. 80 Ebd., S. 429. 81 Ebd.

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Revolutionären zu einer Art von Fetisch wird«82. Allerdings »verkam die revolutionäre Natur der leninistischen Taktik niemals zu einer fetischisierten Ablehnung der Gesetzlichkeit; das war nie eine revolutionäre Phrase«83. Wie Paschukanis feststellte, sprach sich Lenin »entschieden dafür aus, die ›juristischen Möglichkeiten‹ zu nutzen, die die Gegenpartei gewähren musste«84. Ihm zufolge »wusste Lenin nicht nur zaristische, bürgerliche usw. Gesetzlichkeit unbarmherzig zu entlarven, sondern ebenso, wie man sie sich – wo und wann immer erforderlich – zunutze machte«85. So sprach er sich gegen sämtliche Ansätze aus, bei denen »lediglich die ›dramatischsten‹ Methoden des Kampfes anerkannt wurden«86. An dieser Stelle sei angemerkt, dass Lenin im Kontext der Vorbereitung der Revolution in Russland feststellte, dass »man unbedingt lernen muß, selbst in den reaktionärsten Parlamenten, in den reaktionärsten Gewerkschaften, Genossenschaften, Versicherungskassen und ähnlichen Organisationen mit rechtlichen Mitteln zu arbeiten«.87 Später schrieb er, dass »Revolutionäre, die es nicht verstehen, die illegalen Kampfformen mit allen legalen zu verknüpfen, … sehr schlechte Revolutionäre [sind]«88. Wird dieselbe These allerdings im Bereich des internationalen Rechts angeführt, so sieht sie sich mit der Attacke konfrontiert, »Radikalismus mit Regeln« zu betreiben.89 Im Gegensatz zu Miéville kommt Knox folgerichtig zu dem Schluss, dass 82 83 84 85 86 87 88 89

Pashukanis, Beirne und Sharlet, S. 138. Ebd. Ebd. Deutlich wird dieses Verständnis durch den Abschluss eines Abkommens mit einem der imperialistischen Staaten (Friede von Brest); ebd. Ebd., S. 139. Zitiert von Paschukanis, ebd., S. 139; Lenin, Selected Works, Band 3, S. 297 / Lenin, Der ›Linke Radikalismus‹, S. 13. Lenin, Selected Works, Band 3, S. 353 / Lenin, Der ›Linke Radikalismus‹, S. 84. Lenin war damit nicht allein. Rosa Luxemburg schrieb 1900 in ihrem bekannten Werk »Sozialreform oder Revolution« (in Antwort auf Eduard Bernsteins Theorie, dass der Kapitalismus aufgrund seiner Anpassungsfähigkeit nicht zusammenbrechen wird): »Für die Sozialdemokratie bildet der alltägliche praktische Kampf um soziale Reformen, um die Besserung der Lage des arbeitenden Volkes noch auf dem Boden des Bestehenden, um die demokratischen Einrichtungen vielmehr den einzigen Weg, den proletarischen Klassenkampf zu leiten und auf das Endziel, auf die Ergreifung der politischen Macht und Aufhebung des Lohnsystems hinzuarbeiten. Für die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein unzertrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist.« Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, S. 1. Luxemburg war eine Frau, Jüdin und Polin. Sie gehörte in dreifacher Hinsicht einer Minderheit ein. Sie verstand die Bedeutung von Reformen. Ihre Auseinandersetzung mit Bernstein be-

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progressive Kräfte sich »juristische Möglichkeiten« zunutze machen können und unter Umständen ihre Ziele im Rahmen des internationalen Rechts mit Erfolg erreichen können.90 Selbstverständlich erkennt Knox die »Grenzen der Legalität« an.91 Dennoch weist er völlig richtig darauf hin, dass »progressive Kräfte durch ihre ökonomische und ideologische Macht und mittels Zwang ihre Interessen durch das internationale Recht voranbringen können«92. Zu demselben Schluss gelangt auch Susan Marks. Sie schreibt, dass sie »die Behauptung Miévilles, dass das internationale Recht kein emanzipatorisches Potenzial besitze, nicht überzeugt«.93 »Auf die Gefahr hinzuweisen, eine fortschrittliche Kritik auf das internationale Recht zu stützen, bedeutet natürlich nicht«, so Marks, »eine Rechtfertigung dafür zu liefern, jegliche rechtliche Argumentation im Ganzen auszuschließen. Wir können davor warnen, zu sehr auf internationales Recht zu vertrauen, und gleichzeitig seiner Bedeutung für die Kritik weiterhin gewahr sein.«94 Seiner Tendenz folgend, diejenigen Schriften der marxistischen Tradition zu ignorieren, die mit seinen eigenen radikalen Schlussfolgerungen kollidieren, lässt Miéville auch die Schriften Renners unter den Tisch fallen, nach dem die Rechtssphäre durch Evolution und nicht durch Revolution geprägt ist und die soziale Funktion des Rechts Veränderungen unterliegen kann, die nicht unbedingt von Veränderungen im Rechtssystem begleitet werden. Wie Knox feststellt, »konzentriert sich Miéville beim Belegen seiner These zu sehr auf die Rolle der Militärgewalt, der Art von Gewalt, die gewöhnlich von imperialistischen Staaten ausgeübt wird«95. Aber Knox argumentiert korrekt, dass »den ökonomischen und ideologischen Formen von ›Gewalt‹ größere Bedeutung beigemessen werden sollte«96.

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stand darin, dass die soziale Revolution oder der Sozialismus das Endziel bleiben sollte. Doch auch in ihrer Kritik der bürgerlichen Demokratie schrieb sie: »Ist die Demokratie für die Bourgeoisie teils überflüssig, teils hinderlich geworden, so ist sie für die Arbeiterklasse dafür notwendig und unentbehrlich. Sie ist erstens notwendig, weil sie politische Formen (Selbstverwaltung, Wahlrecht u. dergl.) schafft, die als Ansätze und Stützpunkte für das Proletariat bei seiner Umgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft dienen werden. Sie ist aber zweitens unentbehrlich, weil nur in ihr, in dem Kampfe um die Demokratie, in der Ausübung ihrer Rechte das Proletariat zum Bewußtsein seiner Klasseninteressen und seiner geschichtlichen Aufgaben kommen kann.« Ebd., S. 42. Knox, Marxism, S. 433. Ebd., S. 435. Ebd., S. 436. Marks, International Judicial Activism, S. 202. Ebd., S. 201. Ebd., S. 418. Ebd.

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Miéville berücksichtigt jedoch keine internationalen Wirtschaftsorganisationen wie die Weltbank oder den Internationalen Währungsfonds – »trotz ihrer wachsenden Bedeutung und ihrer prominenten Stellung in einer Reihe von aus der Dritten Welt stammenden Kritiken des internationalen Rechts«97. Mindestens ein Grund dafür, dass das internationale Wirtschaftsrecht und die internationalen Wirtschaftsorganisationen vernachlässigt wurden, besteht darin, dass die Frage beantwortet werden müsste, ob die Kämpfe der transnationalen unterdrückten Klasse und der Koalitionen von Ländern der Dritten Welt erfolgreich dazu geführt haben, dass darin zu einem gewissem Maße Reformen durchgesetzt werden konnten. Der andere Grund ist, dass Miéville mit ihnen offenbar nicht vertraut ist. Schließlich weist Knox darauf hin, dass »Miéville der Rolle des Kampfes und der Politik bei der Konstituierung von Rechtssubjekten nur unzureichend Aufmerksamkeit widmet«98, obwohl »progressive Gruppen durch ausdauernden Kampf eine Erhebung ihrer selbst zum Rechtssubjekt erreichen können«99. Bei Knox heißt es: »Dies kann eventuell in der Entwicklung der Menschenrechte beobachtet werden, die sich weg vom Staat als Verteidiger seiner Subjekte und hin zur direkten Anrufung der Individuen als Subjekte des internationalen Rechts bewegt. Am wichtigsten ist vielleicht die zunehmende Bedeutung von Nichtregierungsorganisationen und internationalen Organisationen.«100 Stattdessen stellt Miéville schlichtweg fest, dass »nichtstaatliche Akteure keinerlei Auswirkungen auf den Inhalt des internationalen Rechts haben«101. Möglicherweise misst Knox Reformen durch die Berufung auf internationale Menschenrechte zu viel und der Rolle vieler internationaler Institutionen bei der Aufrechterhaltung des imperialistischen Projekts zu wenig Bedeutung bei. Dieser Punkt kann jedoch nur durch eine empirische Untersuchung dessen beigelegt werden, was möglich war und was möglich ist.

97 Ebd., S. 425. Hartmann weitet diese Kritik auf die WTO aus: »Miéville konzentriert sich in seinen empirischen Studien auf zwischenstaatliches Recht, in dem die Selbsthilfedimension offenkundig ist, da keine Durchsetzungsmechanismen existieren. Überraschenderweise wird in seinen Studien die Konstitutionalisierung des Rechts nicht berücksichtigt, nicht einmal im Kontext der WTO, deren Handelsrecht sinnvoll untersucht werden könnte, indem die Analyse Paschukanis’ der Beziehung zwischen Verkäufer und Käufer herangezogen wird.« Hartmann, The Difficult Relation, S. 567. 98 Knox, Marxism, S. 418. 99 Ebd. 100 Ebd., S. 422–423. 101 Ebd., S. 427.

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Der Bezug auf die Schriften von Paschukanis, Lenin und Renner sowie zeitgenössischen marxistischen Kritiker*innen wie Knox und Marks wurde hergestellt, um aufzuzeigen, dass es töricht wäre, sich einer »Reform« des internationalen Rechtssystems in einer Zeit zu verweigern, in der die Weltrevolution ein Wunschtraum ist. Die Kritiker*innen des internationalen Rechtssystems sollten nichts unversucht lassen, dieses zugunsten der transnationalen unterdrückten Klasse einzusetzen, ohne dabei natürlich die Grenzen des Möglichen in der bestehenden Weltordnung zu vergessen. Ich habe wiederholt auf den Klassencharakter des internationalen Rechts in der postkolonialen Zeit hingewiesen sowie auf die Tatsache, dass der im Recht verankerte Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten im Widerspruch steht mit der Ungleichheit im Hinblick auf Macht und Ressourcen. So liegt die Realität der Ungleichheit vielen Initiativen zugrunde, die von Entwicklungsländern ergriffen wurden, etwa dem Grundsatz der besonderen und differenzierten Behandlung (special and differential treatment) sowohl im Handels- als auch im Umweltrecht. Daher bildet die Anschuldigung Miévilles, ich vertrete einen »Radikalismus mit Regeln«, meine Position nicht nur falsch ab, sondern verfälscht auch die Position Paschukanis’ (der diesbezüglich W. I. Lenin folgte) in Bezug auf die Frage, ob das internationale Recht vollständig zurückgewiesen werden sollte. Die nihilistische Position Miévilles steht auch seiner eigenen Sichtweise entgegen, dass die Entkolonisierung ein progressiver Schritt war. Und schließlich lehnt er es ab, den Imperialismus in verschiedene Phasen zu unterteilen. Daher stellt Miéville schlussendlich auch eine verfälschte Geschichte des internationalen Rechts dar, die eher in der Tradition des Realismus als des Marxismus liegend erscheint. Er verfügt über einen polemischen Stil, der in eine dogmatische marxistische Tradition gehört: Die Arbeiten anderer Wissenschaftler*innen werden abgewertet, auch die der marxistischen Kolleg*innen.102 Er merkt sogar an, dass für Expert*innen im Bereich des internationalen Rechts, die Feststellung, dass das internationale Recht nicht reformiert werden kann, der Tatsache gleichkommt, »die Hand zu

102 John Hazard schreibt über Paschukanis: »Er war ein Revolutionär, der durch die harte Schule des Lebens ging, wo Nettigkeiten ein Fremdwort sind und man zum Überleben als Erster zuschlägt.« Hazard, Foreword, S. xii. In der Beschreibung seines Ansatzes zu Korovin schreibt Hazard, dass »er nicht auf Streit aus war. Er machte aus seinem Argument eine persönliche Anschuldigung, wie es zahlreiche andere Revolutionär*innen in ihren Angriffen auf ihnen widerstrebende theoretische Positionen taten.« Ebd. Miévilles Bewunderung für die Arbeit Paschukanis’ ist so groß, dass er in seinem Buch sogar seine Art der Kritik übernimmt.

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beißen, die einen füttert«.103 Die Milderung des Leids subalterner Gruppen und Menschen interessiert ihn offenbar nicht. Internationale Rule of Law Miéville lehnt daher auch die Idee einer internationalen Rule of Law ab. Er schreibt, dass die Rule of Law kein selbstverständliches Gut (self evident good) ist104, und kritisiert Thompson, da er dies nahelegt.105 Es liegt ihm tatsächlich fern, der internationalen Rule of Law eine Bedeutung einzuräumen: Von allen Erkenntnissen, die die Theorie der Warenform bietet, ist keine wichtiger als die unapologetische Gegenrede auf diejenigen, die die Rule of Law fordern. Der Versuch, Krieg und Ungleichheit durch Recht zu ersetzen, ist nicht nur utopisch – er ist vielmehr selbstzerstörerisch. Eine Welt, die sich nach dem internationalen Recht richtet, kann nur eine der imperialistischen Gewalt sein ... Die chaotische und blutige Welt, in der wir leben, ist die Rule of Law.106 Klar ist, dass Miévilles Position quasi die Antithese zur Ansicht Thompsons darstellt, dass die Rule of Law als unqualified human good zu betrachten ist. Zwar muss die liberale Bejubelung der internationalen Rule of Law sicherlich kritisiert werden, aber die Idee selbst darf nicht abgelehnt werden.107 Diesbezüglich finden die Bemerkungen von Marx, Engels und anderen in Bezug auf die relative Autonomie des Rechts und die Bedeutung rechtlicher Kämpfe bei Miéville keine Berücksichtigung. Er übersieht im Zusammenhang mit dem internationalen Recht verschiedene Aspekte der Funktionsweise dieses Rechts. Erstens stellen Rechtsvorschriften in einem Staatensystem nicht die direkte Umsetzung der Interessen des globalen Kapitals dar. In einem auf der Grundlage der Zustimmung aller Mitgliedstaaten funktionierenden Rechtssystem müssen schwächeren Staaten Zugeständnisse gemacht werden. Zweitens stellen diese Zugeständnisse eine Antwort auf Bedürfnisse dar, die im Rahmen eines internen Prozesses in Staaten artikuliert werden, der – zumindest in demokratischen Gesellschaften – den Belangen der unterdrückten und marginalisierten Gruppen 103 104 105 106 107

Miéville, Between Equal Rights, S. 3. Ebd., S. 315. Ebd., S. 316. Ebd., S. 319. [Hervorhebung nach dem englischen Original.] Chimni, Legitimating International Rule of Law.

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Rechnung tragen muss. Dies bedeutet, dass der Staat in internationalen Verhandlungen einen Grad an Unabhängigkeit von den unmittelbaren Interessen und Aktivitäten der herrschenden Klasse oder Klassenfraktionen besitzt. Drittens bietet die Idee einer internationalen Rule of Law einen Schutzschild, wenn auch einen schwachen, gegen den Einsatz roher Gewalt durch mächtige Staaten. So haben beispielsweise Wirtschaftsorganisationen wie die WTO ein regelorientiertes System zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Handelsstaaten geschaffen, das auch von schwächeren Staaten genutzt werden kann. Viertens gibt es heutzutage eine Reihe von Problemen wie die Umweltkrise, die die Zusammenarbeit aller Staaten der internationalen Gemeinschaft erfordern. Diese Zusammenarbeit kann allein sichergestellt werden, indem den schwachen Staaten Zugeständnisse gemacht werden. Fünftens dauern die Kämpfe der transnationalen unterdrückten Klassen an, die ihre Interessen in unterschiedlichen Bereichen des internationalen Rechts voranbringen möchten. Diese Kämpfe ringen den mächtigen Staaten einerseits Zugeständnisse ab und verhindern andererseits, dass internationale Rechtsvorschriften nach Belieben von ihnen übergangen werden. Schließlich würde es die Legitimität des internationalen Rechtssystems untergraben, wenn mächtige Staaten nach Belieben gegen internationales Recht verstoßen würden, das notwendig für die Verteidigung ihrer grundlegenden Interessen ist.108 Obwohl das internationale Recht einen imperialen Charakter aufweist, unterliegt es den Zwängen der Logik des Territoriums, den kollektiv artikulierten Ansprüchen der Menschheit und den Kämpfen der transnationalen unterdrückten Klassen.109 Es sind unter anderem diese Faktoren, die dem internationalen Recht einen gewissen Grad an Unabhängigkeit und der Idee einer internationalen Rule of Law einen Sinn verleihen. Beispielsweise spiegelt das grundsätzliche Verbot der Androhung oder Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen die Hoffnungen vieler Menschen auf Frieden wider. Es wäre ein Fehler, diese Norm abzulehnen, nur weil häufig dagegen verstoßen wird. In anderen Worten: Es ist falsch, das internationale Recht rein instrumentell zu begreifen, da es in seinen Texten auch gemeinsame Menschlichkeit ausdrückt. Die Reichweite, mit der sich Bestrebungen subalterner Klassen und Nationen in bestimmten Momenten durchsetzen, muss empirisch untersucht werden. Das interna108 Zu den Gründen für das hartnäckige Halten des positivistischen Ansatzes oder der Mainstreamansätze in der internationalen Rechtswissenschaft: Chimni, International Law and World Order, S. 12–14. 109 Diese Faktoren bestätigen immer wieder erneut den Glauben des »unsichtbaren Kollegiums« der Völkerrechtler*innen. Chimni, Capitalism.

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tionale Recht, wie Thompson es ausdrückt, ist ein »komplexer und widersprüchlicher« Prozess. Der Fehler Miévilles besteht nicht darin, einen Zusammenhang zwischen Imperialismus, internationalem Recht und Gewalt herzustellen, sondern darin, die Idee der internationalen Rule of Law kategorisch abzulehnen. Er erkennt nicht, dass sie durch den Kampf von Millionen von Menschen getragen wird, die die Staaten zur Verantwortung ziehen wollen. Die hier vorgebrachte Position zur internationalen Rule of Law unterscheidet sich von ihrem liberalen Gegenstück, da sie auf einer weitreichenden Kritik an der Funktionsweise des internationalen Rechtssystems fußt. Die Verteidigung der Idee der internationalen Rule of Law soll nicht als Zeichen gewertet werden, dass der Status quo akzeptabel ist, sondern einer Idee Respekt zollen, mit deren Hilfe die augenscheinliche Unterdrückung und Ausbeutung subalterner Klassen und Nationen eingedämmt werden können.

Im Original: International Law and World Order: A Critique of Contemporary Approaches. Cambridge: Cambridge University Press, 2017. [Auszug S. 499–524.]

Übersetzung von Tatjana Klapp. Es lektorierte Karina Theurer.

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Geschichten des internationalen Rechts1: der Umgang mit Eurozentrismus Martti Koskenniemi

I In The Gentle Civilizer of Nations habe ich vorgeschlagen, die Anfänge des Völkerrechts als in den 1860er-Jahren liegend zu lesen, als angesichts der am politischen Horizont heraufziehenden Wolken des Nationalismus, des Rassismus und des Sozialismus in Europa versucht wurde, bürgerlich-freiheitliche Grundprinzipien zu verankern. Im Kern zunächst ein Vorhaben durchaus praktisch veranlagter Männer, von in Politik und Parlament tätigen Anwälten und Juristen, entwickelte es sich nicht zuvörderst aus philosophischer Überlegung heraus oder zur Schaffung systemischer Kohärenz. Es waren zwar Universitätsprofessoren beteiligt, doch wurden deren Lehrinhalte gemeinhin eher als eine Art Handwerk denn als Wissenschaft begriffen. Sie wollten das Verhalten ihrer Nationen, aber auch die Kolonien »zivilisieren«. Dafür warben sie um liberale Gesetzesreformen in Europa, forderten formale koloniale Imperien und betrachteten all dies als kosmopolitische Rechtsanliegen, die ihrem Verständnis nach zum Völkerrecht (Droit international, diritto internazionale, international law) gehörten.

1 [Anm. d. Hg.: Rechtsbegriffe verändern ihre Bedeutung, wenn sie wandern. Dies betrifft nicht nur unterschiedliche historische, soziale oder kulturelle Kontexte, individuelle Vorprägungen und Vorverständnisse, von denen aus sie interpretiert werden, sondern auch ihre Übertragung von einer Sprache in eine andere. In diesem Text etwa konstatiert Martti Koskenniemi, dass wir nicht leichtfertig heutige Verständnisse auf frühere Kontexte übertragen sollten. Allein zur Übersetzung des englischen Begriffs international law ins Deutsche ließe sich eine Abhandlung verfassen. Wesentlich für den Begriff des Völkerrechts, wie er sich in der deutschen Rechtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte, ist die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht. Gerade aus post-/ dekolonialer Perspektive wird darauf verwiesen, dass die »Ausblendung« privatrechtlicher Normen aus dem Bereich internationaler Regulierung etwa die Einhegung von transnationalen Unternehmen verhindere. Im Folgenden verwenden wir den Begriff internationales Recht als Oberbegriff für auf internationaler Ebene entstandene Normen, um auch privatrechtliche Normen einzubeziehen. Den Begriff Völkerrecht verwenden wir, wenn es um historische Perspektiven geht.]

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Martti Koskenniemi

Zu den »Männern von 1873«, wie ich sie nannte, gehörte der belgische Professor Ernest Nys (1851–1920), der später der erste Historiker dieses neuen Fachgebiets werden sollte. Nys hatte von 1885 bis 1898 Rechtsgeschichte und Rechtslehre an der Université Libre de Bruxelles unterrichtet und wurde dort anschließend auf eine Professur für Völkerrecht berufen. In den Anfangskapiteln seines Le droit international, les principes, les théories, les faits hat Nys die Geschichte des Völkerrechts als Teil der weltweiten Expansion der europäischen Zivilisation nachgezeichnet. 1904 zählten 46 Staaten mit uneingeschränkter Souveränität zur internationalen Gemeinschaft (22 europäische Staaten sowie 21 amerikanische Staaten, Japan, Liberia und der unabhängige Staat Kongo). Nys akzeptierte die Einteilung dieser Gemeinschaft in zivilisierte, barbarische und wilde Völker, doch obwohl er den Kreis der Souveränität auf die erste Gruppe beschränkte, meinte er nicht, dass letztere vollständig von den Vorzügen ausgeschlossen waren, die das Völkerrecht zu bieten hatte. Im Gegenteil – für ihn bezeugte die Berliner Afrikakonferenz von 1884/85 auf eindrückliche Weise den Willen der europäischen Mächte, indigene Bevölkerungen zu schützen und ihre materiellen Lebensbedingungen zu verbessern sowie ihre Rechte auf Gewissens- und Religionsfreiheit zu stärken.2 Mit seinen Kollegen führte Nys lange Debatten über das Wesen der »orientalischen« Kulturen und über die Voraussetzungen ihres Debüts als völkerrechtliche Subjekte. In L'état indépendent de Congo et le droit international (1903) verteidigte er energisch die Praktiken seines Königs, Léopold II. (Belgien), gegen die böswilligen Anschuldigungen, die er auf kommerziell motivierte Interessen in Großbritannien zurückführte.3 In einem Werk von 1893 erkannte Nys die »Ursprünge des Völkerrechts« als in der europäischen Renaissance liegend und betrachtete den Westfälischen Frieden von 1648 als Kristallisationsmoment des »modernen« Völkerrechts, als Symbol des Systems unabhängiger Staaten (Droit public de l'Europe [dt.: Europäisches Öffentliches Recht]). Drei große Ideen, so argumentierte er, hätten die Geschichte beherrscht: der Fortschritt, die Freiheit und die »Idee der Menschheit«.4 Mit »Fortschritt« meinte Nys die europäische Moderne, wie er sie um sich herum wahrnahm – eine nichtkonfessionelle politische Ordnung, die sich in wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht weiterentwickelte. »Freiheit« bedeutete – zumin-

2 Nys, Le droit international, S. 117–118, 126. 3 Zu diesen Debatten: Koskenniemi, The Gentle Civilizer, S. 11–178 und im Besonderen 155–166. 4 Nys, Les origines, S. 404–405.

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dest der Geschichte nach, die es ihn zu erzählen drängte – die Befreiung von den Universalitätsansprüchen der katholischen Kirche und des Heiligen Römischen Reiches, während die Idee der »Menschheit« eine Sichtweise zum Ausdruck brachte, gemäß der alle menschlichen Gesellschaften zu einer universellen Gemeinschaft verbunden waren, in der sich die Vorzüge der Zivilisation zunehmend verbreiten würden. Nys begann seine Herleitung mit dem römischen ius gentium und dem Theorienstreit zwischen dem Papst- und dem Kaisertum. »Das Programm der Zukunft«, schrieb er, sei im 14. Jahrhundert von radikalen Denkern wie Marsilius von Padua und Wilhelm von Ockham initiiert worden.5 Das Völkerrecht sei aus christlichen Debatten über den gerechten Krieg und aus Handelsaktivitäten, der Schiedsgerichtsbarkeit, der Diplomatie und der Nutzung der Meere zwischen Souveränen hervorgegangen. Spanische Scholastiker hätten als Erste Recht zwischen unabhängigen Gemeinschaften formuliert und Grotius habe »die Völkerrechtswissenschaft« begründet, indem er Humanismus und Säkularismus mit der endgültigen Aufgabe der Idee eines Weltreichs verband.6 Nys bekannte ausdrücklich, Bewunderer der Freiheiten englischer Prägung und des »Fortschritts« zu sein, die für ihn mit Zivilisation, Säkularismus, Humanismus und universeller Handelsfreiheit identisch waren. Zusammen mit der Balance of Power würden sie die Grundlage der Völkerrechtsordnung bilden.7 Spätere Geschichtswissenschaftler*innen führten dieses Narrativ bis in die Gegenwart fort. Die langen Einträge zur Völkerrechtsgeschichte von Wolfgang Preiser, Ernst Reibstein und Ulrich Scheuner im StruppSchlochauer-Wörterbuch aus dem Jahr 1962 etwa sind so strukturiert, dass der Westfälische Frieden als Scheidelinie zwischen den historischen Ursprüngen und der »Zeit des europäischen Völkerrechts« (1648–1815) dient.8 Das 19. Jahrhundert wurde das Jahrhundert der »Erweiterung des europäischen Völkerrechts«.9 In dieser (Standard-)Erzählung wurde die 5 »Les réformes qu’ils avaient rêvées furent menées à bonne fin; la société laïque se dégagea de plus en plus des chaînes dont l’Eglise avait voulu le charger; l’Etat moderne se constitua en dehors et au-dessus des confessions religieuses.« [Dt. etwa: »Die Reformen, von denen sie geträumt hatten, wurden zu einem guten Abschluss gebracht; die laizistische Gesellschaft löste sich nach und nach von den Ketten, die die Kirche ihr auferlegen wollte; der moderne Staat konstituierte sich außerhalb der religiösen Konfessionen und über ihnen.«]: Ebd., S. 42. 6 Ebd., S. 10–12, 401–405. 7 Ebd., S. 164. 8 Preiser, Völkerrechtsgeschichte, S. 690a. Ähnlich etwa bei Wegner, Geschichte des Völkerrechts. 9 Reibstein, Zeit des europäischen Völkerrechts, S. 754.

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europäische Hegemonie erst im 20. Jahrhundert durch universelle internationale Institutionen gebrochen, die »die Einheit der Völkerrechtsordnung« repräsentierten.10 In den 1960er-Jahren begann die zunehmende Spezialisierung und Diversifizierung der Profession – die Expansion des Völkerrechts in verschiedene humanitäre, wirtschaftliche und technische Bereiche, die Periode, für die Wolfgang Friedmann die prägnante Formulierung einer »sich verändernden Struktur« verwendete.11 All dies, so lesen wir, hat zur Verwandlung der politischen Form von Staatlichkeit in eine Art universelle Existenz geführt, die man vielleicht als »Globalisierung«, vielleicht, wie Wilhelm Grewe es 2000 formulierte, als ein unsicheres Oszillieren zwischen »internationaler Gemeinschaft« und der Hegemonie einer einzelnen Supermacht bezeichnen könnte.12 Dieses vertraute Narrativ der globalen Moderne verbreitete sich erstmals unter den europäischen Eliten des späten 19. Jahrhunderts. Heute begegnet es uns bei jeder Gelegenheit an Hochschulen; es geht darum, Akademiker*innen eine bestimmte Art einzuschärfen, über die Welt und die eigene historische Rolle nachzudenken. Kulturelle Marker wie Antike, Renaissance oder Globalisierung gehören ebenso dazu wie Fachbegriffe wie cannon-shot rule, Pentarchie oder humanitäre Intervention. Obwohl all diese Begriffe die Spuren ihrer europäischen Herkunft tragen, ermöglichen sie es Jurist*innen aus der ganzen Welt, miteinander zu kommunizieren, indem sie sich weitverbreitete historische Assoziationen und eine normative Teleologie aneignen, in der ein idealisiertes Europa, kodiert als Nationalität, Kapitalismus, Moderne oder Rechtsstaatlichkeit, den Horizont der Vorstellungskraft markiert.13 Diese Geschichten sind zutiefst eurozentrisch. Europa ist ihr geografisches, politisches und konzeptionelles Zentrum. Münster und Osnabrück mögen kleine deutsche Städte im heutigen Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen sein; der an diesen Orten ausgehandelte Westfälische Frieden bleibt zentral für die Historiografie des Völkerrechts – unabhängig davon, ob ihm die traditionellerweise zugeschriebene Bedeutung zukommt oder ob dies schlicht ein »Mythos« ist.14 Hieraus kristallisierte sich die Ansicht,

10 Scheuner, Neueste Entwicklung, S. 754. 11 Friedmann, The Changing Structure. Diese Entwicklung vermerkte auch Scheuner, ebd., S. 755–759. 12 Grewe, The Epochs, S. 703–706. 13 Der Blick auf ein idealisiertes Europa als unverzichtbaren Horizont des modernen Geschichtsbewusstseins wird gut dargestellt in Chakrabarty, Provincializing. 14 Zu den Herausforderungen der Zentralität von »Westfalen« sei bspw. verwiesen auf Teschke, The Myth.

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dass das Völkerrecht mit seinem »Modernwerden« zugleich ein Recht der »Staaten« wurde, die jenen europäischen Gemeinwesen entsprachen, die sich selbst als von ihren Herrschenden und Eliten unabhängige »Rechtssubjekte« oder »Personen« konsolidiert hatten. Die genaue Datierung der Entstehung der Idee der »Souveränität«, durch die die immaterielle Entität des »Staates« Rechtspersönlichkeit erlangte, ist unter Historiker*innen ein beliebtes Thema. Ungeachtet dessen, ob der exakte Zeitpunkt der Begründung von »Staatlichkeit« (und damit des »modernen Völkerrechts«) nun im 13. Jahrhundert bei den norditalienischen Stadtstaaten oder im 14. oder 15. Jahrhundert bei den nominalistischen Überlegungen der moderni an der Pariser Universität liegt oder ob man auf die Reaktion auf die Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert warten muss, so ist jedenfalls der Ort, auf den das Augenmerk zu richten ist, über jeglichen Zweifel erhaben. Die Geschichtsschreibungen zu ius gentium, Naturrecht und zum Recht der (christlichen) Nationen, zu Völkerrecht und zum Europäischen Öffentlichen Recht sind in Europa angesiedelt; sie verwenden ein europäisches Vokabular von »Fortschritt« und »Modernität«. Wesentliche Unterscheidungen zwischen »politisch« und »ökonomisch«, »säkular« und »religiös« sowie »privat« und »öffentlich« beziehen sich auf europäische Erfahrungen und Konzeptualisierungen. Selbst wenn der Postkolonialismus inzwischen zum offiziellen Ethos des Völkerrechts geworden sein sollte, so »[regiert] Europa immer noch als stille Referenz historischen Wissens«.15 Dies gilt nicht nur für die Inhalte des Narrativs, sondern auch für die Maßstäbe der Historiografie selbst. Welche Geschichte des Völkerrechts würde darauf verzichten, auf den »Untergang des Römischen Reiches« oder auf den Aufstieg des Protestantismus hinzuweisen, oder würde Kolonialisierung ohne Begriffe wie dominium oder ius gentium untersuchen? Europäische Geschichten, Mythen und Metaphern schaffen weiterhin die Voraussetzungen dafür, die Vergangenheit des Völkerrechts zu verstehen und seine Zukunft zu entwerfen. II Nys erzählte die wohlbekannte Geschichte von Europas Expansion zur Weltmacht. Die nichteuropäische Welt erschien gelegentlich in Form von »ungläubigen« Türken oder Sarazenen, Kriegstreibern oder Handelspart15 Chakrabarty, Provincializing, S. 28.

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nern des christlichen Europas, manchmal als die rätselhafte Welt Chinas, die sich weigerte, sich von den europäischen Diplomaten ihre Geheimnisse entlocken zu lassen. Sie alle jedoch blieben Teil der beliebigen Masse der Völker, die die Männer von 1873 den »Orient« nannten. Sie waren keine unkritischen Bewunderer der kolonialen Vergangenheit Europas. Als protestantische Liberale hatten sie keine Schwierigkeiten, religiöse oder imperiale Rechtfertigungen als angemessene Maßstäbe für europäisches Verhalten im Ausland zu kritisieren. Mehr oder minder zögerlich übernahmen sie das Vokabular der »Zivilisation«, um das Narrativ von Säkularisierung und Staatsbildung innerhalb der allgemeinen Entwicklungsannahmen über die Moderne zu erfassen, von dem sie erwarteten, dass es ihnen ermöglichen würde zu beurteilen, ob eine orientalische Nation in der Lage sei, an den Vorteilen teilzuhaben, die das, was sie bis vor Kurzem als »Europäisches Öffentliches Recht« bezeichnet hatten, für sie bereithielt.16 Tatsächlich begann das Institut de droit international kurz nach seiner Gründung, eine Studie zu diesem Thema zu erstellen. Den Mitgliedern wurde ein Fragebogen zugesandt, in dem sie sich dazu äußern sollten, ob die Gepflogenheiten und Überzeugungen im Westen und im Orient – einschließlich der Rechtskraft von Verträgen – einander so ähnlich seien, dass dieselben Regeln zwischen ihnen angewendet werden könnten (womit die Systeme ungleicher Verträge und konsularischer Zuständigkeiten abgebaut werden könnten). Das Vorhaben blieb unbeendet. Die »orientalischen« Staaten waren einfach zu unterschiedlich, als dass Verallgemeinerungen möglich gewesen wären.17 Obwohl es nie einen klaren Maßstab der Zivilisation gab, blieben die Sprechweisen über Zivilisation, um einen Unterschied zu markieren, der greifbar schien, sich aber kaum artikulieren ließ. Sie wurden zu einem praktischen Instrument, um Differenz zu verhandeln und sich des moralischen Anspruchs des Rechts zu versichern. Der Mangel an wesentlichen Inhalten erlaubte den Europäer*innen, die notwendigen Unterscheidungen zu treffen, ohne dies in größerem Umfang erklären zu müssen. Nach dem Ersten Weltkrieg jedoch bestanden nur noch wenige Jurist*innen darauf, dieses Sprechen in althergebrachter Weise fortzuführen. Nachdem vier Jahre lang junge Männer wahllos abgeschlachtet worden waren, wandte sich Europa nun nach innen. Völkerrechtler begannen, als Ursachen für die Katastrophe ein überzogenes Gefühl der »Souveränität«, den nationalen Egoismus und den Verlust des Gefühls von Humanität in Europa zu

16 Der Klassiker ist natürlich Gong, The Standard. 17 Koskenniemi, The Gentle Civilizer, S. 132–136.

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benennen. Nun griffen sie progressive Sozialtheorien auf, gemäß denen die Schaffung einer Art von Weltgemeinschaft das telos der menschlichen Entwicklung war. Der normative Maßstab, der früher in der »Zivilisation« gelegen hatte, wurde durch progressive Soziologie ersetzt, durch »Modernisierung« und wirtschaftliche und technologische Entwicklung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese Sprechweisen zunehmend professionalisiert und ab etwa 1960 in das internationale Recht integriert. Mit der Ausweitung der Projekte des internationalen Rechts auf Bereiche wie den Freihandel, die Entwicklung der Dritten Welt, Menschenrechte und Umweltschutz sowie in jüngerer Zeit auf den Kampf gegen »Straffreiheit« und die Einrichtung internationaler Vollzugsbehörden zum »Schutz« vulnerabler Gruppen fand das internationale Recht nun seinen Weg zu einer universellen Teleologie des progressiven Humanitarismus. III Das europäische Rechtsdenken war seit jeher ausgeprägt teleologisch. Als sich das Naturrecht von der Theologie abwandte – der Moment, der von Nys als »Ursprung« bezeichnet wird –, wurde die Eschatologie durch die Betrachtungsweise des säkularen Fortschritts ersetzt, der die menschlichen Gesellschaften vom »Naturzustand« zu immer höheren Formen ziviler Koexistenz und Kooperation führte. Die »Anarchie« der vorstaatlichen Situation wäre überwunden, sobald die bürgerlichen Gemeinschaften ihren Mitgliedern Schutz und Wohlergehen böten, die wiederum fortan als Bürger*innen ihrer Gemeinschaften gölten. Die Idee eines gänzlich säkularen salus populi als Ziel von Regierungsführung wurde erstmals im frühen 17. Jahrhundert vom Jesuiten Francisco Suárez formuliert und von Samuel Pufendorf und seinen Anhängern im 18. Jahrhundert in das protestantische Naturrecht übernommen. Sie verbanden es auch mit der providenzialistischen Auffassung, gemäß der man aus Gründen des eigenen Wohlergehens jeden von der Notwendigkeit des Handels und der Interaktion mit anderen überzeugen könne, sodass aus anfänglichem Egoismus der größte Nutzen für alle folge.18 Mit dem Abflachen des Naturalismus zum Ende des 18. Jahrhunderts übernahmen europäische Teleologien allmählich Sprechweisen der Philosophie (Kant) und der politischen Ökonomie (Smith).

18 Stellvertretend Viner, The Role of Providence, S. 27–28, 42–43.

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Nur wenige Abhandlungen haben eine größere Bedeutung für das Projekt des Völkerrechts in Europa als Immanuel Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784.19 Dieser Text ist nicht nur deshalb wichtig, weil er die Zukunft der Menschheit als »kosmopolitische Existenz« skizziert, von der Kant später sagen sollte, sie entstehe kraft (internationaler) Gesetze, sondern auch aufgrund seiner nonchalanten Annahme, Europa werde auf dem Weg zu diesem Ziel »wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben«.20 Weil das kosmopolitische Ende der Geschichte eine rationale Notwendigkeit und Recht das hierfür bevorzugte Mittel zur Umsetzung war, wurden die juristische Ausbildung und Praxis automatisch in einen progressiven Ethos eingebettet. Was wäre denn auch ein Völkerrecht ohne telos? Die Asche des Naturrechts nährte nicht nur das Wachstum der Philosophie, sondern auch das der politischen Ökonomie als privilegierte Orte des teleologischen Denkens. In seinen Vorlesungen über Rechts- und Staatswissenschaften ging Adam Smith bekanntlich einer vierstufigen progressiven Geschichte der menschlichen Gesellschaft nach, die von Jägern und Hirten über Ackerbauern schließlich zum Handel führte.21 Smith und Kant identifizierten mithilfe dieser evolutionären Leiter die höchste Stufe der Menschheit, auf der sie sich selbst zufälligerweise auch befanden. Das Denken in Vorstellungen von Evolution ging seit Anbeginn einher mit dem Internationalen. Wie bereits Nys war Henry Sumner Maine von Berufs wegen Historiker, dessen kurze Zeit am Whewell-Lehrstuhl für internationales Recht in Cambridge 1887 durch eine Antrittsvorlesung eingeleitet wurde, in der Maine die Geschichte des Völkerrechts im Hinblick auf die Ausbreitung des römischen Rechts in Europa erörterte. »Daraus können wir schließen, dass die doch rasch erfolgende Akzeptanz durch die zivilisierten Nationen ein Schritt bei der Verbreitung des römischen Rechts in Europa war, wenn auch ein sehr später.«22 Das Ergebnis war ein Recht christlicher Nationen: Sie bilden zusammen eine Gemeinschaft der (christlichen) Nationen, vereint durch die Religion, Gebräuche, Moral, Menschlichkeit und Wissenschaft und auch vereint durch die wechselseitigen Vorteile des

19 Koskenniemi, On the Idea and Practice for Universal History, S. 122–148. 20 Kant, Idea for a Universal History, S. 52 / Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Akademie-Ausgabe 08, S. 29. 21 Zu Inhalt und Einfluss von Smith’ Vier-Stufen-Theorie: Hont, Jealousy of Trade, S. 101–103 und passim. 22 Maine, International Law, S. 16.

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Handels, durch die Gewohnheit, Bündnisse und Verträge miteinander zu schließen, Botschafter zu entsenden und zu empfangen sowie die gleichen Gelehrten und Systeme öffentlichen Rechts zu studieren und anzuerkennen.23 Wie Smith war auch Maine der Ansicht, dass sich die Geschichte menschlicher Gesellschaften (oder »progressiver Gesellschaften«) durch »Stufen« von weniger komplexen zu zunehmend differenzierteren Formen entwickelt habe, häufig bezeichnet als Übergang »vom Standes- zum Vertragsrecht«.24 Die »Wilden« Afrikas und die »Barbaren« des Orients (um James Lorimers Terminologie zu verwenden) ließen Lebensformen erkennen, die die Europäer*innen längst hinter sich gelassen hätten. Maine wies darauf hin, dass es Aufgabe der Rechtsgeschichte sei, diese primitiven Formen zu untersuchen, um von ihnen auf die allgemeinen Gesetze der rechtlichen Entwicklung zu schließen. Auf diese Weise gelang es ihm, die europäische Öffentlichkeit zu beruhigen, die angesichts der Erfahrung der Vielfalt in Aufruhr war, die sich infolge der Erweiterung ihres Horizontes ergab. Kulturelle Unterschiede konnten nun als unterschiedliche Stufen in einem einheitlichen Prozess erklärt werden. Ordnung und Hierarchie wären wiederhergestellt und die Europäer*innen hätten erneut die Spitzenstellung inne.25 Bis ins späte 19. Jahrhundert hinein waren die Geschichtsschreibungen des Völkerrechts unreflektiert eurozentrisch. Europa diente als Ursprung, Triebwerk und telos des historischen Wissens. Im 20. Jahrhundert wurde es schwieriger, das normative Ziel des Völkerrechts zu benennen. 1908 forderte Lassa Oppenheim in seiner Abhandlung eine »positivistische Wissenschaft« des Völkerrechts und mahnte zu stärkerem Geschichtsbewusstsein bei der Entwicklung der (europäischen) Regeln. Damit meinte er, dass die Herausbildung des Völkerrechts als Teil der westlichen Zivilisation eine Aufgabe sei, die – so formulierte es Matt Craven erst kürzlich – »sowohl Anlass zu feiern gäbe als auch erhellend wäre« und somit einen historischen Eindruck von Europas weltweiter Bedeutung vermitteln und auch ein Werkzeug für Jurist*innen sein könnte, um mit bestehenden Regeln auf eine professionelle Weise umzugehen.26 Die meisten Überlegungen des 20. Jahrhunderts bauen auf diesem Gedanken auf. Anstatt sich als Vorhaben für »Zivilisation« auszugeben – tatsächlich wird dieses Wort aus dem

23 24 25 26

Ebd., S. 34. Maine, Ancient Law, S. 141. Burrow, Evolution und Koskenniemi, The Gentle Civilizer, S. 74–76. Craven, Introduction, S. 1–2.

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19. Jahrhundert routinemäßig aus dem Fachgebiet verbannt –, erscheint das internationale Recht mittlerweile als Modernisierungsprojekt, als Projekt für den Aufbau von Staatlichkeit, für wirtschaftliche und technologische Entwicklung, für den Schutz der Menschenrechte, für die Erhaltung natürlicher Ressourcen und zur Gewähr globaler Sicherheit.27 All dies erscheint nun wissenschaftlich, nüchtern und funktional, ohne jegliches geografisches oder kulturelles Bias. Geschichten des Völkerrechts wie die obigen zitierten von Scheuner zeichnen das 20. Jahrhundert als Abkehr vom Eurozentrismus hin zu universellen Institutionen, die die technischen und funktionalen Aufgaben erfüllen sollen, um eine global interdependente Welt zu verwalten. Der historische Abschnitt zu Beginn von Antonio Casseses neuestem Lehrbuch stellt zum Beispiel fest, dass »die Regeln und Prinzipien des Völkerrechts [des 19. Jahrhunderts] ein Produkt der westlichen Zivilisation [waren] und die Prägung des Eurozentrismus [trugen]«, sich die »Zusammensetzung der Weltgemeinschaft« mittlerweile jedoch radikal verändert habe. Die Dritte Welt sei nun voll integriert in Rechtsetzungsprozesse, woraufhin die jüngste »Entwicklungsstufe« durch die Entstehung spezieller Gremien (für Handel, Menschenrechte, Umwelt, Entwicklung etc.) charakterisiert werden könne, die ständig »ineinandergreifen und sich wechselseitig befruchten«, sodass schließlich zumindest auf der normativen Ebene die internationale Gemeinschaft in sich stärker integriert ist und – was noch wichtiger ist – Werte wie Menschenrechte und die Notwendigkeit, Entwicklung zu fördern, zunehmend verschiedene Bereiche des internationalen Rechts durchdringen, die ihnen zuvor undurchdringbar erschienen.28 Als politische Geschichte – scheint Cassese zu suggerieren – sei die Geschichte des internationalen Rechts nun zu einem Ende gekommen. Es blieben noch ausschließlich funktionelle Aufgaben, denen sich international tätige Jurist*innen nun voll und ganz widmen sollten. Eine andere jüngere Geschichte stimmt dem zu: «le droit international d’aujourd’hui se voit attribuer les finalités nouvelles qui ne sont plus fondées sur le respect des intérêts des Etats mais reposent sur des valeurs communes aux hommes: l’environnement, la protection des droits de l’homme, le patrimoine

27 Skouteris, The Notion of Progress. 28 Cassese, International Law, S. 45, 30.

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commun de l’humanité, le développement durable …».29 Nach einigen Jahren der Besorgnis über die »Fragmentierung« des internationalen Rechts konnte das ernüchternde Fazit gezogen werden, dass mithilfe der Koordinierung durch Expert*innen mögliche Konflikte zwischen den funktionellen Ordnungen bewältigt werden können. Mittlerweile wird Kants kosmopolitisches Projekt in der Sprache der Globalisierung artikuliert – obwohl es fraglich ist, ob Kant dem zugestimmt hätte.30 Diese Sichtweise bleibt ebenso eine teleologische Erzählung wie die anderen – es ist eine Sichtweise, die ihren Ursprung in Europa hat, aber dennoch im heutigen internationalen Recht und in seinen Institutionen allgegenwärtig ist. In Bezug auf das alliierte Besatzungsregime im Rheinland in den 1920er-Jahren schrieb Carl Schmitt, eine Nation werde erst dann besiegt, »wenn sie fremden Mächten erlaubt, zu bestimmen, was zentrale Begriffe der politischen und staatlichen Existenz bedeuten sollen«. Schmitt hatte Begriffe wie Status quo, Intervention, Frieden und Abrüstung im Sinn.31 Wir mögen Bedenken angesichts der politischen Ausrichtung von Schmitts Angriffen haben, nicht aber ob der theoretischen Konzeption von Macht, die er vorschlug. Das Narrativ des internationalen Rechts, das den Fortschritt im Sinne einer einheitlichen »internationalen (Staaten-)Gemeinschaft« darstellt, die sich aus funktionaler Differenzierung und technischer Professionalität ergibt, spricht eine durchweg eurozentrische Sprache. Wenn internationale Institutionen ihren Geltungsbereich über Menschenrechte, Freihandel, Kampf gegen Straflosigkeit, Schutz der Umwelt, Förderung von Investitionen bestimmen oder ihre Tätigkeit ausgehend von Begriffen wie Modernisierung, nachhaltiger Entwicklung, Staatsaufbau, Strukturanpassung oder Responsibility to protect verstehen, verschreiben sie sich Sprachen, deren routinierteste Sprechende aus Universitäten, Thinktanks und zivilgesellschaftlichen Institutionen in Europa und den USA kommen. Mit Blick auf die Verschiebung des Vokabulars von den spanischen Scholastikern zu »Good Governance«, vom Völkerbundmandat zum »Krieg gegen den Terrorismus« kam Tony Anghie zu dem Schluss: »Ungeachtet aller Kontraste und Veränderungen bleibt der Imperialismus be-

29 Renaut, Histoire du droit international, S. 173 [dt. etwa: »Das internationale Recht sieht sich zunehmend neuen Zielen verpflichtet, die nicht mehr den Interessen der Staaten entsprechen, sondern auf Werten beruhen, die für die Menschen in ihrer Gesamtheit von Bedeutung sind: die Umwelt, den Schutz der Menschenrechte, das gemeinsame Erbe der Menschheit, nachhaltige Entwicklung ...«]. 30 Dies bezweifle ich eher: Koskenniemi, Constitutionalism as Mindset, S. 9–36. 31 Schmitt, Die Rheinlande, S. 29–37.

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stehen.«32 Damit verdeutlichte er die altbekannte Kritik, dass Europa immer davon ausgehe, seine Werte seien universell und sein Wissen und seine Wissenschaft beziehe sich nicht nur auf sich selbst, sondern auf alle. Selbst wenn Großzügigkeit involviert sein sollte, geht es eben nie nur um die guten Absichten. Wird das westliche Sprechen universell, haben die Erstsprachler*innen – der Westen – das Sagen.33 IV Es gibt zwei große Idealtypen der Völkerrechtsgeschichte: »realistische« Erzählungen, die sich auf Staatsmacht und Geopolitik konzentrieren und die völkerrechtliche Vergangenheit als Abfolge von Entschuldigungen für staatliches Verhalten sehen, und »idealistische« Erzählungen, die sich auf Jurist*innen und Philosoph*innen konzentrieren und die Vergangenheit aus der Perspektive der Rechtsprinzipien oder Institutionen betrachten. Wie ich an anderer Stelle im Detail gezeigt habe, ist keine von beiden für sich, ohne Hilfe ihres jeweiligen Gegenübers, tragbar.34 Sie werden am besten als voreingenommene Verortungen oder Bias gesehen – die eine, die Diplomatie, Krieg und den Akt der Eroberung vor Augen hat, über die das Recht den Schleier der Rechtfertigung werfen würde, und die andere, die die Entwicklung von Rechtsnormen, Institutionen und Doktrinen privilegiert, bei denen die Welt der Diplomatie und Staatsmacht nur den Hintergrund bildet. In beiden Fällen tendierte die nichteuropäische Welt dazu, als Gegenstand der europäischen Politik oder als Objekt von Überlegungen über diese Politik zu erscheinen. Ein Beispiel für die frühere »apologetische« Strömung der Völkerrechtsgeschichte ist Arthur Nussbaums Concise History of the Law of Nations, die offen kritisiert, die Geschichte des Völkerrechts als eine Geschichte ihrer Dogmatik zu erzählen. Nussbaum wollte sich auf Diplomatie und Vertragsbeziehungen als solide (»realistische«) Basis für seine Rechtsgeschichte konzentrieren. Dementsprechend beschrieb er das Treffen von »Westen und Osten« unter Bezugnahme auf Verträge zur Regelung der konsularischen Beziehungen und Kapitulationsverträge. In den Jahren 1648–1815 begegnen uns das Osmanische Reich und die »außereuropäischen Länder« auf vier Seiten, die der Erläuterung

32 Anghie, Imperialism, S. 315. 33 Aus der umfangreichen Literatur vgl. Wallerstein, European Universalism. 34 Koskenniemi, From Apology.

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ihrer Vertragsbeziehungen mit Europa gewidmet sind.35 Konsularische Beziehungen zur Türkei, die Erweiterung des Völkerrechts auf Südamerika, die »Politik der offenen Tür« in China und das Ende der »Abschließung Japans« werden in Nussbaums Darstellung des 19. Jahrhunderts behandelt.36 Aber »die Ausdehnung des westlichen Völkerrechts auf den Fernen Osten brachte keine Verschmelzung europäischer und asiatischer Vorstellungen mit sich. Die europäischen Ideen herrschten in Inhalt und Form vor.« Obwohl Nussbaum akzeptierte, dass dieses Recht im 19. Jahrhundert allgemeingültig geworden war, bezweifelte er, dass es »in ihrem [nichteuropäischen] Geiste Wurzeln geschlagen« habe.37 In seiner Betrachtung der Gegenwart (der 1950er-Jahre) sah Nussbaum den wichtigsten Aspekt weltweit in der Spaltung zwischen der Sowjetunion und dem Westen, einer Spaltung, wie er meinte, zwischen »Versklavung« und »Unabhängigkeit der Völker«.38 Wilhelm Grewes weitverbreitete ultrarealistische Darstellung des Völkerrechts (1984/2000) folgte Carl Schmitts Nomos der Erde, indem sie einen natürlichen Ort für die nichteuropäische Welt als Gegenstand der europäischen Landnahme und Kolonisierung fand.39 Die »Gründung der Völkerrechtsgemeinschaft«, schrieb Grewe, lag in der »christlichen Gemeinschaft des Abendlandes«. Nach dem Spätmittelalter wurde die Stimme des Christentums durch die Nachfolge spanischer, französischer und britischer Imperien, die »anglo-amerikanischen Kondominate« des 20. Jahrhunderts und schließlich durch die »vom Westen dominierte Weltgemeinschaft« aufgegriffen. Wie auch Nussbaum stand Grewe den »idealistischen« Narrativen ablehnend gegenüber, die sich einer »eigentümliche[n] und methodisch fragwürdige[n] Trennung von Völkerrechtstheorie und Staatenpraxis« verschrieben.40 Grewe (und Schmitt) stimmten ironischerweise weitgehend mit postkolonialen Erzählungen überein, die dogmatische Schriften (zum Beispiel der spanischen Scholastiker) ebenfalls als weichen Handschuh über der imperialen Faust lasen. Sie sind sich auch über die zentrale Rolle des Kolonialismus als »eines der größten Probleme der territorialen

35 Nussbaum, A Concise History, S. 51–60, 121–124 / Nussbaum, Geschichte des Völkerrechts, S. 57–66, 135–138. 36 Ebd., S. 194–196 / S. 215–217. 37 Ebd., S. 196 / S. 319. 38 Ebd., S. 290 / S. 320. 39 Grewe, The Epochs / Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte; Schmitt, Der Nomos der Erde. 40 Grewe, ebd., S. 2 / S. 20.

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Ordnung in der Geschichte der Menschheit« einig.41 Nur Europäer betätigten sich: »Die neu entdeckten Kontinente waren lediglich Objekt europäischen politischen Taktierens. Sie bildeten kein selbständiges Kraftfeld mit eigenen Gravitationszentren.«42 Kein Wort verlor Grewe über die afrikanischen oder indischen Imperien, die indigenen Bevölkerungen in Amerika, Australien oder Neuseeland oder über den chinesischen Einflussbereich. Das britische Zeitalter des 19. Jahrhunderts war Zeuge der »Teilbefugnisse und partiellen Anerkennung« einiger nichteuropäischer Nationen in der »Völkerrechtsgemeinschaft« – womit die Gemeinschaft gemeint war, auf die das ursprünglich europäische Völkerrecht Anwendung finden würde.43 In den geopolitischen Geschichten von Grewe oder Karl-Heinz Ziegler44 sind die bewegenden Kräfte der Geschichte große imperiale Zentren, die ihren Einfluss auf die ganze Welt ausstrahlen und damit das Wesen der globalen Rechtsordnung bestimmen. Vom »spanischen Zeitalter« bewegen wir uns ins »französische Zeitalter«, kommen zum »britischen Zeitalter« und dann zum »amerikanischen Zeitalter«. In der Gegenwart werden die wichtigsten Kämpfe zwischen Blöcken geführt, die sich die Stellung als Repräsentanten der »internationalen Gemeinschaft« anmaßen, deren Worte bestimmen, was »Recht« ist. An solchen Geschichten können viele Arten von Kritik geäußert werden. Kein Kolonialreich ist jemals eine homogene Einheit, sondern vielmehr immer in sich selbst gespalten, weil Unsicherheit darüber besteht, wo seine Interessen liegen und was getan werden sollte, um sie zu verwirklichen. Interne Widerstände und Partikularinteressen kollidieren bei der Festlegung der imperialen Politiken, und Vertreter*innen der Imperien außerhalb der Metropole neigen dazu, unvorhersehbar zu agieren. Die Außenwelt ist kein passives Gefäß imperialer Einflüsse, sondern spielt die Parteien des Zentrums gegeneinander aus, indem sie die imperiale Gunst oder Opposition dazu benutzt, ihre Agenden voranzutreiben.45 Auch kann die realistische Erzählung die widersprüchlichen Kräfte von Wissen und Nutzen nicht erklären, die hegemoniale »Interessen« als mehr oder weniger stabile Grundlage für »Politik« strukturieren. Diese hat

41 42 43 44 45

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Ebd., S. 229 / S. 269. Ebd., S. 295 / S. 342. Ebd., S. 465 / S. 532. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte. Zu diesen Kritiken bereits Koskenniemi, A History, S. 943, und in einer Buchbesprechung: Koskenniemi, Wilhelm G. Grewe, The Epochs. Zum provisorischen, porösen und sogar widersprüchlichen Wesen von Kolonialmacht: Benton, A Search for Sovereignty.

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kein Verständnis für die Abhängigkeit der Politikgestaltung von den zugrunde liegenden transnationalen sozialen und ökonomischen Strukturen.46 Gerade die Weitergabe »realistischer« Geschichten nicht nur zwischen Grewe und Nussbaum, sondern auch zwischen ihrem gewissermaßen des westlichen Realismus und – beispielsweise – marxschen Erzählungen internationaler Rechtsgeschichte als der Geschichte einer Warenform, die auf die Entwicklung des Kapitalismus reagiert, zeugt von ihrer Abhängigkeit von epistemischen und politischen Rahmenbedingungen (»Was in der Vergangenheit ist wichtig, was nicht, was ist ›Macht‹ und wer sind ihre Akteure?«), die jedoch selten darin diskutiert werden.47 Und schließlich ist unklar, ob und inwiefern solche Geschichten überhaupt zuvörderst Geschichten des »Rechts« sind – denn ihre Tendenz besteht doch darin, normative Sprachen in einer Weise auf blasse Reflexionen der Kräfte der Realpolitik zu reduzieren, die den zwischen hegemonialen und nichthegemonialen Akteuren wechselnden Nutzungen des Rechts sowie den vorhergehenden, Macht vermittelnden Aspekten des Rechts nicht angemessen Rechnung trägt. Recht selbst besteht niemals als einzelne Norm, sondern aus der Norm und der Ausnahme, dem Prinzip und dem Gegenprinzip, der Rechtfertigung und der Kritik hegemonialer Interessen: Schließlich beriefen sich »eine große Anzahl von Menschen in Asien und Afrika, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Unabhängigkeit erlangten, in ihren nationalen Befreiungskämpfen auf internationale Rechtsnormen«.48 Solche heterogenen Anwendungen des Völkerrechts werden auf dem realistischen Radarschirm nicht abbildet, der nur erfasst, was staatliche Herrschaft oder Militär produzieren, aber selten, was denn nun an sich staatliche Herrschaft oder Militär produziert. Grewe entging nicht, wie der Eurozentrismus des Völkerrechts zunehmend infrage gestellt wurde, als er die zweite deutsche Ausgabe seiner Arbeit (1984) veröffentlichte. Der polnisch-britische Rechtshistoriker C. H. 46 Dazu stellvertretend Rosenberg, The Empire; Teschke, The Myth. 47 Für eine solche alternative realistische Erzählung: Miéville, Between Equal Rights, insbesondere die Kapitel 3 und 6. Eine besonders auffallende Darstellung des Bias der realistischen Historiografie liefert ein kürzlich erschienener Sammelband über neorealistische Ansätze, unter deren Mitwirkenden wir Hauptakteur*innen der Bewegung finden wie Richard Rosecrane, Robert Keohane, Niall Ferguson und Paul Schroder. Keiner der 16 Essays greift den Kolonialismus oder die Dritte Welt auf. Die Obsession bezüglich der Herrschaft der USA und jede historische Untersuchung haben nur dann einen Sinn, wenn sie Probleme oder Dilemmata in der amerikanischen Außenpolitik beleuchtet May et al., History and Neorealism. 48 Onuma, A Transcivilizational Perspektive, S. 349.

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Alexandrowicz hatte die Ansicht vertreten, dass die Beziehungen zwischen den Europäern und den islamischen und ostindischen Gemeinschaften tatsächlich bis zum 19. Jahrhundert auf einem ausgedehnten Netz wechselseitiger Vertragsbeziehungen beruht hatten und dass sich dies erst im 19. Jahrhundert änderte, als die Europäer aufgrund des Aufstiegs des »Positivismus« begannen, anderen ihre Verhaltensnormen aufzuzwingen.49 Alexandrowicz’ Arbeit bedeutete eine erste Öffnung hinsichtlich des Umgangs mit Nichteuropäer*innen als unabhängigen Akteuren im Völkerrecht, obgleich auch er sie durch die Brille europäischer Konzepte (universellen) Naturrechts untersuchte. Aber Grewe erwiderte, diese Kontakte hätten nicht in der Ideensphäre eines universellen Rechtssystems stattgefunden – die »eigentliche Völkerrechtsgemeinschaft« sei die der christlicheuropäischen Nationen geblieben, die gelegentlich Beziehungen zu anderen eingegangen seien, dies aber nie mit der Vision einer einzelnen zugrunde liegenden neutralen Rechtsordnung. Es gab keine Symmetrie und durch derartige Verbindungen wuchs das europäische Recht »allmählich zu einer weltweiten Völkerrechtsordnung, deren Mitglieder zugestandenermaßen nur ›zivilisierte Nationen‹ waren«.50 Der realistische Rahmen steht hinter den Geschichten vieler für die nichteuropäische Welt relevanter Rechtsinstitutionen. Zum Beispiel wurden die Studien von Lindley und Goebel in den 1920er-Jahren über das Territorialrecht, obwohl sie sehr nützlich und in einigen ihrer Einzelheiten unersetzbar sind, vollständig aus der Perspektive des Rechts als eines imperialistischen Instruments geschrieben.51 Goebel beschrieb beispielsweise das auf koloniale Begegnungen im Südatlantik anwendbare Recht durch das Prisma des Besatzungsrechts im Hinblick auf nichteuropäische Territorien, wie es aus den Verträgen, die die Europäer zur Koordinierung ihrer Aktivitäten vereinbart hatten, abgeleitet wurde. Selbst der »Sklavenhandel« war nur im Rahmen des Kampfes für den atlantischen Handel im 17. und 18. Jahrhundert relevant.52 Einen völlig anderen Ansatz verfolgte Jörg Fisch in seinem Buch Die europäische Expansion und das Völkerrecht

49 Alexandrowicz, An Introduction to the Law; ders., Doctrinal Aspects, S. 515; hier zeigt er anhand von Georg Friedrich von Martens den Übergang vom Natur- zum positiven Recht und die daraus für nichteuropäische Nationen resultierende Notwendigkeit »zur sogenannten Aufnahme oder Rückübernahme nichteuropäischer Nationen« in die Staatengemeinschaft. 50 Grewe, The Epochs, S. 466 / Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 546. 51 Lindley, The Acquisition; Goebel, The Struggle. 52 Goebel, ebd., S. 139, 120–173.

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(1984).53 Anstatt die passive Stimme des »Wachstums« eines »Systems« einzunehmen, untersuchte Fisch, Schüler von Reinhardt Koselleck, dem Vater der Begriffsgeschichte, die Territorial-, Handels-, Diplomatie- und Kriegsregeln im Hinblick auf die hegemoniale Politik europäischer Akteur*innen und widmete den direkten Beziehungen zu Nichteuropäer*innen einige Abschnitte. Was Fisch zum ersten Mal präsentierte, war eine umfassende und nuancierte Darstellung der zeitlichen und geografischen Unterschiede der kolonialen Begegnungen. Er gab auch gelegentlicher Wechselseitigkeit und variierenden Hierarchien Raum, in denen – zum Beispiel im chinesischen Einflussbereich – Europäer*innen zuweilen in einer untergeordneten Position waren. Fisch hat in seinen Bericht auch eine mehr als 200-seitige Chronologie der »Selbstinterpretationen« des Handelns der Europäer*innen eingefügt – das heißt eine Geschichte von Lehren, die sich auf den Status der überseeischen Gebiete beziehen.54 Gegen Schmitt und Grewe wandte Fisch ein, die Europäer*innen hätten die Überseegebiete niemals als »rechtsleeren Raum« betrachtet, und auch das Prinzip »kein Frieden jenseits der Grenze« sei von ihnen nicht allgemein angewandt worden.55 Die Europäer hielten ihre Regeln für universal, aber die Antworten auf die Frage, welche dieser Rechte Nichteuropäern zustehen könnten, variierten zwischen den beiden Extremen.56 Auch nach dem Erreichen der formalen Unabhängigkeit konstatierte Fisch das Fortbestehen kolonialer Beziehungen.57 Das Ergebnis war eine Studie, die immer noch die vollständigste Arbeit über das mittlerweile modische Thema »International Law and Empire« ist, obwohl sie aufgrund des enttäuschenden Anglozentrismus im heutigen internationalen Recht kaum gelesen wird. Geopolitisch ausgerichtete Geschichtsschreibungen reduzieren das Recht auf eine passive Reflexion hegemonialer Politiken und müssen daher durch andere Arten von Untersuchungen ergänzt werden, die sowohl die Macht vermittelnden und gegenhegemonialen Aspekte des Rechts als auch seine »inneren« ideologischen und intellektuellen Entwicklungen berücksichtigen. Jedoch ist diese Sorte internationaler Rechtsgeschichte nicht weniger eurozentrisch. Klassische Beispiele sind Albert de Lapradelles Maîtres et doctrines von 1950, das nur die Lebensläufe und Schriften einiger europäischer Männer enthält – Juristen, Diplomaten, Rechtsdenker –, sowie die vom Elsässer Robert Redslob verfasste Geschichte der vier »großen 53 54 55 56 57

Fisch, Die europäische Expansion. Ebd., S. 153–380. Siehe bspw. die Zusammenfassung in ebd., S. 475–499. Ebd., S. 498–499. Ebd., S. 503.

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Prinzipien« des Völkerrechts (die Bindungswirkung von Verträgen, die Freiheit des Staates, Gleichheit und Solidarität), die sich, wie er behauptet, durch 2.000 Jahre westlichen Rechtsdenkens und westlicher Rechtspolitik ziehen.58 Eine jüngere Arbeit von Agnès Lejbowicz (1999) untersuchte auch die Geistesgeschichte des Völkerrechts bis hin zum internationalen Recht hinsichtlich der anhaltenden Bemühung um Universalität, indem sich die Geschichte darauf beschränkt, zu diskutieren, wie sich europäische Philosoph*innen und Jurist*innen zu diesem Thema geäußert haben. Obwohl die Arbeit die Intersubjektivität in einer kulturell vielfältigen Welt in den Mittelpunkt stellt, ist darin keine nichteuropäische Stimme zu hören.59 Solche Geschichten des kosmopolitischen (rechtlichen) Denkens werden oft als Beschäftigung mit der westlichen philosophischen Tradition verstanden, von der angenommen wird, sie hätte mit den Stoikern begonnen und in Cicero, Grotius, Kant und Wilson gegipfelt. Redslobs Grandes principes reiht sich in genau diese Tradition ein. Dass die Tradition bei Weitem komplexer ist, als sie zunächst erscheint, zeigt sich jedoch in Redslobs bereitwilligem Eingeständnis, dass die seiner Darstellung zugrunde liegenden Prinzipien häufig für die Förderung imperialer Interessen verwendet wurden und dass die einzige solide Grundlage für ein Territorialrecht de facto die Existenz einer »Befehlsgewalt« war.60 Keine einzige indigene Stimme ist zu hören. Nichteuropäische Menschen waren als selbstständige Akteure abwesend, sodass die Ideen von »Solidarität« und »Gleichheit« zwar »universell« waren, er sie jedoch ausschließlich bei europäischen Denkern (Grotius, Wolff, Vattel, Bentham, Kant …) vorfand und nur für Europa als relevant erachtete.61 Ein zusätzliches Problem in Werken wie denen von Redslob oder Lejbowicz ist, dass alles so scheint, als wäre es möglich, ein zeitloses Gespräch über andauernde Probleme zwischen den Lebenden und den Toten zu führen. Solch eine klassische »Ideengeschichte« neigt dazu, Rechtsnormen, Grundsätze oder Institutionen entweder als unverändert durch die Zeiten wandernd oder als sich in der Gegenwart zu höchster Vollendung entwickelnd zu betrachten. In beiden Fällen machen sie sich des Anachronismus schuldig. Rechtliche und politische Konzepte sind Teile der spezifischen Rechtssprache jeder Epoche; ihre Bedeutung kann ohne ein Verständnis eben dieser Sprache nicht erfasst werden. Aus diesem Grund vermittelt die

58 59 60 61

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Lapradelle, Maîtres et doctrines; Redslob, Histoire des grands principes. Lejbowicz, Philosophie du droit international. Redslob, Histoire des grands principes, S. 441. Ebd., S. 271–274, 290–297.

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Annahme einer unveränderten Bedeutung eines Begriffs (Redslobs »vier Prinzipien«, Lejbowicz’ Dilemma von Menschheit und Staatlichkeit) oder die Deutung seines früheren In-Erscheinung-Tretens als lediglich noch »unterentwickelte« Verwendung der gegenwärtigen Konzepte nicht die geringste sinnvolle Annäherung an das, was solche Begriffe bedeutet haben mögen für diejenigen, die sie zu früheren Zeiten als Teil ihres rechtlichen und politischen Vokabulars benutzten. Die Bedeutung eines Begriffs wie »Souveränität«, »ius gentium«, »Eigentum« oder auch »Recht« ist abhängig vom Kontext, in dem es verwendet wird – insbesondere davon, wofür man es nutzen will oder was man zu erreichen versucht, indem man es verwendet.62 Das ist insbesondere offensichtlich für Rechtsbegriffe, die zu polemischen Sprachspielen gehören, in denen wir versuchen, uns selbst (oder unsere Freund*innen) zu unterstützen, während wir unsere Gegner*innen angreifen. Natürlich herrscht große Uneinigkeit unter kontextuellen Historiker*innen (etwa Anhänger*innen von Koselleck oder Quentin Skinner) darüber, was der richtige Kontext (Sprache) ist. Ist es der akademische Kontext, in dem der*die Jurist*in lebt oder der politisch-wirtschaftliche oder berufliche Kontext, in dem diese Person tätig ist? Ist es ein Kontext von Büchern oder Gewehren, ein Kontext des Austauschs von Sprache oder von Geld?63 Solche Meinungsverschiedenheiten verdeutlichen jedoch nur den übergeordneten Punkt, nämlich dass uns Geschichtsschreibungen zum internationalen Recht nur über die konzeptuellen Vorannahmen des*der Historiker*in selbst erreichen und so die politischen und rhetorischen Aspekte von Rechtsgeschichte als solche hervorheben. Die kürzlich erschienene Völkerrechtsgeschichte von Dominique Gaurier (2005) versucht, die »grandes figures« des europäischen Kanons in ihrem zeitlichen und dogmatisch-thematischen Kontext zu verorten. Die Begegnung mit der nichteuropäischen Welt ist ein Unterthema der sechs »großen Themen«, um die das Buch aufgebaut ist. Die 25-seitige Abhandlung befasst sich mit den Bedingungen der territorialen Inbesitznahme bei den klassischen Autoren und diskutiert die Behandlung indigener Amerikaner*innen im 19. Jahrhundert vor dem US Supreme Court. Die Abhandlung beleuchtet die Entstehung von effektiver Inbesitznahme und »Landwirtschaft« als Grundlagen europäischer Territorialtitel, und die Klassiker werden (vielleicht anachronistisch) ausgehend von der Perspektive dargestellt, wie sie dort lebende Gemeinschaften als »Rechtssubjekte« verhan-

62 Stellvertretend: Skinner, Meaning and Understanding, S. 57–89. 63 Stellvertretend: Meiksins Wood, Citizens to Lords, S. 4–11.

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deln.64 Die Diskussion der Kolonialisierung ist nicht eingebettet in eine allgemeine Theorie des europäischen Imperialismus. Auch französische Jurist*innen haben Interesse am Eurozentrismus gezeigt. Ein Sammelband, der von Emmanuelle Jouannet und Hélène Ruiz-Fabri herausgegeben wurden, konzentriert sich spezifisch auf den Imperialismus65 und ein Band über die Erfahrungen der neuen Generation von internationalen Jurist*innen greift postkoloniale Fragestellungen auf.66 In ihrer kürzlich erschienenen Geschichte der liberalen, wohlfahrtsorientierten Ambitionen des Völkerrechts weist Jouannet auch auf die Selbstverständlichkeit hin, mit der europäische Autor*innen die Kolonisierung von Überseegebieten behandelten. In Vattels fast 900-seitiger Abhandlung zum Beispiel widmen sich nur fünf Seiten dem Thema. »Europa«, schreibt sie, »ist vor allem an sich selbst interessiert.«67 Das gilt auch heute noch. Die meisten französischen Schriften zur Geschichte des internationalen juristischen Denkens (zum Beispiel Jouannets Arbeiten über Vattel, Simone Goyard-Fabres Arbeiten über Pufendorf oder Pazifismus oder auch Marc Bélissas Arbeiten über das Völkerrecht des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts) orientieren sich an klassischen Themen der politischen und rechtlichen Theorie aus Europa. Die Rolle des Rechts im französischen Kolonialismus (zum Beispiel in Nordafrika) bleibt ein vernachlässigtes Thema. Eine Ausnahme ist die »Schule von Rennes«, deren wichtigste Vertreterin heute Monique Chemillier-Gendreau ist und deren Humanité et souverainetés die koloniale Verflechtung nicht nur des westlichen Rechts, sondern auch der westlichen juristischen Rationalität erörtert und einen langen Abschnitt über die Geschichte der Herrschaft des Westens durch »rechtlich organisierte Ausgrenzung« enthält.68 Das Buch stellt die Frage nach den Bedingungen der Emanzipation in der kolonialen Welt und betont die Bedeutung ökonomischer Autonomie, aber auch die Bedeutung dessen, was sie gemeinsame Werte nennt. Als ein Ereignis des linken tiers-mondisme feiert das Buch die Selbstbestimmtheit der Dritten Welt und versucht, rechtliche Kategorien – insbesondere Kategorien des Wirtschaftsrechts – zugunsten der gerechten und der raison flou der Enteigneten neu zu interpretieren.69 Auch Slim Laghmanis jüngere Völkerrechtsgeschichte, die den Zeitraum von der Antike bis zum Ersten Weltkrieg umfasst, schlägt bewusst antiimperiale Töne 64 65 66 67 68 69

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Gaurier, Histoire du droit international, S. 285–311. Jouannet und Ruiz Fabri, Impérialisme et droit international. Jouannet, Ruiz Fabri und Sorel, Regards d’une génération. Jouannet, Le droit international libéral-providence, S. 97 f. Chemillier-Gendreau, Humanité et souverainetés, S. 153. Ebd., S. 231–277 im Besonderen.

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an.70 Laghmani stellt die christlichen und islamischen Ansichten zum Recht der Völker über einen gerechten Krieg einander gegenüber und webt seine Erzählung um die Intensivierung der westlichen Herrschaft. Europa und seine Jurist*innen bleiben jedoch im Zentrum, und die europäische Geopolitik regiert die Welt. Aber die normative Stimme von Laghmani sticht unter den Geschichtsschreibungen des Völkerrechts und internationalen Rechts hervor. V Ob apologetisch oder utopisch – mit dem Fokus auf Geopolitik oder auf rechtlichen Doktrinen und Konzepten: Die Geschichtsschreibung zum internationalen Recht erweist sich als so eurozentrisch wie die Welt, die sie beschreibt. Unter zeitgenössischen Historiker*innen besteht kein Zweifel an Folgendem, wie Ian Hunter es formuliert hat: weit entfernt davon, global zu sein, stellten das Naturrecht und das Völkerrecht eine eurozentrische normative Ordnung dar, die sich zur Lösung eines historisch spezifischen innereuropäischen kulturellen und politischen Problems herausgebildet hatte: Es ging um die Regulierung von Kriegsführung und Friedensstiftung, nachdem das Christentum – einschließlich seiner thomistischen Metaphysik – zersplittert war und die Entstehung von Territorialstaaten jeder noch verbliebenen Res Publica Christiana ein Ende gesetzt hatte.71 Hier sind die Autoren und Doktrinen ebenso Teil einer »eurozentrischen normativen Ordnung« wie Staatsmänner, Diplomaten und Soldaten und der ganze Apparat von Ideen und Macht (und Ideen/Macht), der die politische Welt stützt. Aber aus der Erkenntnis heraus, dass die Geschichte des internationalen Rechts eurozentrisch ist, ergibt sich keine Richtungsangabe, wie mit diesem Zustand umzugehen ist. Selbst radikale marxistische oder tiers-mondistische Stimmen, die das Fehlen einer nichteuropäischen Perspektive kritisieren, tendieren dazu, europäische Konzepte und Kategorien zu verwenden. Die frühen postkolonialen Werke von C. H. Alexandrowicz, R. P. Anand und T. O. Elias beispielsweise versuchten, die verzerrte Perspektive, also das Bias, auf diesem Gebiet zu korrigieren, indem sie die Rechtspraktiken asiatischer Herrschender und die Vertragsbezie-

70 Laghmani, Histoire du droit des gens. 71 Hunter, »A Jus gentium for America«. Vgl. Hunter, Global Justice, S. 13–20.

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hungen zwischen afrikanischen Bevölkerungen aus den Zeiten untersuchten, bevor die Europäer in diese Gebiete kamen.72 Onuma verwies allerdings darauf, dass sie just dadurch, dass sie in ihren Schriften betonten, »auch sie hatten schon ein Völkerrecht«, letzten Endes die europäischen Kategorien erneut als universal geltend auf sie projizierten.73 Zu argumentieren, dass es auch in Indien Naturrecht oder im chinesischen Einflussgebiet diplomatische Immunitäten gab, kann – je nach Argumentation – letztlich das universelle Wesen europäischer Kategorien oder gar ihren berüchtigten Maßstab der »Zivilisation« stützen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn das Argument um die Behauptung ergänzt wird, die Europäer selbst hätten sich nicht daran gehalten – etwa als sie weitreichende Ansprüche auf »Hinterland« in Afrika anerkannten, ohne den eigenen Anforderungen an effektive Inbesitznahme zu entsprechen. Der Vorwurf der Heuchelei fördert hier die Stärkung eines Konzepts europäischer Herkunft. Eine nachfolgende Generation postkolonialer Kritiker*innen hat den konzeptuellen Eurozentrismus, der in solche Argumente eingebettet ist, entschieden angegriffen. Anghie und eine Gruppe von Wissenschaftler*innen um ihn herum haben argumentiert, dass das internationale Recht von Anfang an als Instrument der europäischen Expansion fungiert habe. Für diese Kritiker*innen ist das internationale Recht durch und durch imperialistisch; es sei »im Wesentlichen von der Zivilisierungsmission motiviert, die ein inhärenter Aspekt der imperialen Expansion ist, die sich von Anfang an als auf die Verbesserung des Lebens der unterworfenen Menschen gerichtet präsentiert hat«74. Wenn dem so ist, dann wird jeglicher Gebrauch dieser Kategorien – sogar eine kritische Verwendung – eurozentrisch sein, und es gibt keinen Grund für Stolz, wenn frühere indigene Institutionen den europäischen ähnelten. Es handelt sich dabei um korrupte Institutionen, Herrschaftsinstrumente und unrechtmäßige Kontrolle. Was man stattdessen tun muss, ist, die Konzepte und Praktiken an ihrer Wurzel zu packen und ihr Wesen oder die historischen (und gegenwärtigen) Nutzungen als Instrumente kolonialer Unterdrückung zu präsentieren. Dies würde bedeuten, Rule of Law nicht als Gegenmittel gegen Krieg und Unterdrückung zu sehen, sondern als eine Folgeerscheinung von ihnen, zum Beispiel wenn man Marx und Miéville folgt und die formale Gleichheit des 72 Alexandrowicz, An Introduction to the Law; Anand, Studies in International Law and History; ders., Maritime Practice; ders., Development of Modern International Law. 73 Onuma, A Transcivilizational Perspektive, S. 182; ders., When was the Law of the International Society Born?, S. 61. 74 Anghie, On Critique and the Other, S. 394.

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internationalen Rechts als Ausdruck und ideologische Legitimation eines Systems kapitalistischer Beziehungen sieht, das strukturell daran gehindert ist, jemals eine treibende Kraft für progressiven Wandel zu werden.75 Aber was ist das Wesen der Universalität, die als Grundlage für diese Kritik der europäischen Kolonisierung herangezogen wird? Könnte es sein, wie kürzlich von Hunter zu bedenken gegeben, dass sich der Eurozentrismus durch die Hintertür einschleicht, indem er den postkolonialen Kritiker*innen eine scheinbar universelle und zeitlose Norm bietet?76 Dies ist eine weitreichende Frage, deren Erörterung eine kritische Auseinandersetzung mit dem Wesen und der Rolle der Debatten zum Thema Universalismus versus Partikularismus in der zeitgenössischen westlichen Wissenschaft erfordern würde, was hier unmöglich ist.77 Aber ich denke, postkoloniale Kritiken sollten überhaupt nicht als Teil einer abstrakten philosophischen oder politiktheoretischen Debatte begriffen werden. Dies scheint »Teil des Problems« zu sein, nämlich beschränkt auf Wiederholungen des westlichen philosophischen Kanons, die in vertraute Sackgassen und schließlich in einen zweifelhaften moralischen Skeptizismus münden. Was der*die Kritiker*in vielmehr zu artikulieren versucht, ist die Erfahrung kolonisierter Menschen im Vokabular einer Macht, das diese Erfahrung beleuchtet, ungeachtet dessen, welche erkenntnistheoretischen Verpflichtungen das Vokabular nach westlichen Maßstäben zu beinhalten scheint. Der*die Kritiker*in, so scheint mir, nimmt die Stimme der europäischen politischen Theorie und des europäischen Rechts an, benutzt sie wegen ihrer Wirkung und wendet sie zugleich gegen sie selbst. Die Kritik nimmt – oder zumindest lese ich es so – die berühmte marxistische These in Anspruch, wonach die »Validität« einer Position nicht darin liege, ob sie »kohärent« sei, sondern ob sie zur Befreiung beitrage. Entscheidend für das Verständnis der Kritik ist, dass sie nicht in den Kontext einer philosophischen Debatte über das Thema Universalismus versus Relativismus fällt, sondern im Hinblick auf die »kolonialen Ursprünge des Völkerrechts« polemisiert. Es scheint mir klar zu sein, dass Anghie und andere nicht zögern würden, internationales Recht zu instrumentalisieren, wenn das nur strategisch sinnvoll erschiene – und es gibt Momente, das würden sie wohl einräumen, in denen

75 Miéville, Between Equal Rights, S. 98, 84–101 und die Kapitel 5 und 6. Für diese Diskussion zu einem zeitgenössischen Kontext vgl. Chimni, International Institutions, S. 1–37. 76 Hunter, Global Justice, S. 11–16. 77 Ich habe dieses Thema bearbeitet in Koskenniemi, International Law in Europe, S. 113–124.

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dieser Fall eingetreten ist.78 Was nach politischem Ermessen (wie in der kontextuellen Geschichte) wichtig erscheint, ist nicht so sehr die Kohärenz dessen, was gesagt wird, sondern welcher Akt durch das Gesagte ausgeführt wird. Der schwierige Schritt liegt darin, was zu tun ist, wenn die postkoloniale Kritik ihre Arbeit getan hat. Es ist eindeutig notwendig, autochthone Rechtsvokabulare und Streitbeilegungsverfahren zu untersuchen. Das Interesse an den Regeln für die Beziehungen zwischen den Gemeinschaften in der islamischen und chinesischen Welt, insbesondere zu sehen im Journal of the History of International Law, hat zugenommen.79 Das Ziel kann jedoch nicht sein, ein »vollständiges Bild« der Vergangenheit zu zeichnen. Die meisten Akteure, Kontexte und Ereignisse sind unwiederbringlich verloren gegangen und verbliebene Fragmente erlauben nur unter größten Schwierigkeiten Verallgemeinerung. Die Gefahren des Anachronismus und des konzeptuellen Imperialismus sind allgegenwärtig. Wie Steiger lakonisch fragt: Wie viele gemeinsame Nenner gibt es tatsächlich zwischen dem, was wir als »internationales Recht« kennen, und einem Dokument aus der Vergangenheit, in dem sich eine Partei als »Sonne« auf die anderen bezieht?80 Welche ist die in solchen Diskussionen verwendete Definition von »Recht«? Eröffnen diese Geschichtsschreibungen die Perspektive eines globalen Rechts für die Menschheit – oder verweisen sie eher auf die nicht reduzierbare Heterogenität der menschlichen Erfahrung? Onuma hat recht, wenn er vorträgt, dass es in der Natur einer sogenannten Zivilisation liege, eine universelle Sicht auf alles zu erzeugen. Die Kenntnis dessen, was ich anderswo als eine Kombination von Solipsismus und Imperialismus behandelt habe, ist ausgesprochen wichtig, um zu verstehen, wie Wissensbestände dazu beitragen, mit Macht ausgestattete Gemeinschaften zu schaffen, die eine universelle (objektive, wissenschaftliche) Sicht auf die Welt beanspruchen. Das gilt natürlich auch für Wissensbestände, die sich selbst als »komparativ« oder »transzivilisatorisch« bezeichnen. Es gibt keine Metaebene, die nicht Teil eines Universalisierungsprojekts wäre und die frei von der Tendenz wäre, anknüpfend an Griechen/Barbaren, Christen/ Heiden oder Menschen/Nichtmenschen noch eine weitere Reihe asymmetrischer Gegenvorstellungen zu erzeugen, die dazu neigen, Aggression gegenüber der unterprivilegierten Partie zu schüren.81 Dies soll nicht dem

78 79 80 81

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Rajagopal, International Law from Below. Vgl. stellvertretend Afsah, Contested Universalities, S. 259–320. Steiger, From the International Law, S. 181. Vgl. Koselleck, The Historical-Political Semantics, S. 155–191.

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Schreiben nichteuropäischer Geschichten entgegenstehen, sondern nur vor übertriebenem Ehrgeiz schützen. Geschichten von nichteuropäischen Welten sind notwendig, um die Vielfalt der menschlichen Erfahrung zu beleuchten und kritische Distanz zur intuitiven Selbstverständlichkeit der von uns erlernten Geschichten zu schaffen. Die Aufmerksamkeit der postkolonialen Kritiker*innen lag bislang eher auf der Kritik europäischer Praktiken als auf der Untersuchung alternativer Institutionen oder Vokabulare, mit Ausnahme der islamischen Kriegsführung oder des chinesischen Tributsystems. Wenn man diese Geschichten sowohl kritisch als auch konstruktiv schreibt, kann man jedoch nicht die Augen davor verschließen, dass ein großer Teil des Terrains durch europäische Konzepte und Techniken, Periodisierungen und Standards begrenzt wird. Man kann beim Schreiben nicht der Fachsprache, in der diese Geschichten erzählt und gelernt werden, den Rücken kehren – und doch ist es nicht unmöglich, diese Geschichten zu neuer Anwendung zu bringen, um ihre Fluidität und Inkohärenz zu demonstrieren und die damit einhergehende politische und teleologische Normativität zu destabilisieren. Lassen Sie mich diesen schnellen Überblick mit der Skizzierung von vier Ansätzen beenden, was mit dem Eurozentrismus in der Geschichte des internationalen Rechts zu tun ist. Ein erster Ansatz ist Anghie zuzuordnen. Er beinhaltet das sorgfältige Aufzeigen der kolonialen Ursprünge einer völkerrechtlichen Norm oder Institution. Dies könnte beispielsweise eine Diskussion darüber sein, wie das Kriegsrecht durchgängig brutale Formen kolonialer Kriegsführung ermöglichte, die in Kriegen zwischen Europäern verboten gewesen wären, weil »Stammeskrieger […] entweder zu grausam oder zu schwachsinnig oder beides [sind], um Kriegsgesetze respektieren zu können«82. Hier wie auch an anderer Stelle erlaubte die Flexibilität der »Zivilisation« Exklusion und Inklusion, je nach Belieben.83 Ein großer Teil der Arbeiten zur Geschichte des Rechts der Entwicklungszusammenarbeit wurde davon inspiriert, zu zeigen, wie eurozentrische Vorstellungen von Modernität sowie technische Standards von »Rechtsstaatlichkeit« und Vertragsdurchsetzung aufgezwungen wurden, um eine Situation der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit aufrechtzuerhalten. Die »innere Logik des wirtschaftlichen Wachstums und des technologischen Fortschritts«, so Beard, verwandelte einen großen Teil der Welt in ein »unterentwickeltes« Terrain, dessen Bevölkerung durch den Erlass von Gesetzen zum Schutze ausländischer In-

82 Mégret, From »Savages«, S. 293. 83 Koskenniemi, The Gentle Civilizer, S. 127–132.

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vestoren schnell »inkorporiert« werden sollte.84 Ähnlich hat Anne Orford im Hinblick auf die klassische politische Theorie, die einen Nexus zwischen Schutz und Gehorsam herstellt, humanitäre Interventionen und die Responsibility to protect diskutiert. Dies, so argumentiert sie, habe in den 1950er Jahren die Theorie der internationalen Exekutivgewalt von Dag Hammarskjöld geprägt und sei heute der beste Rahmen, um die Asymmetrien der jüngsten UN-Operationen in der Dritten Welt zu verstehen.85 Diese Studien haben gezeigt, wie Kolonialherrschaft in der Dritten Welt im Schatten der »Internationalisierung« sowie durch die Zweckdienlichkeit internationaler Organisationen funktionieren kann – ein Thema, das auch in den jüngsten Arbeiten von Mark Mazower diskutiert wurde.86 In seiner Analyse des Nationality-Decrees-Falls (1923) hat Nathaniel Berman eine nuancierte Interpretation dessen vorgelegt, wie koloniale Agenden nicht nur durchgesetzt werden können, indem man eine umfassende Gerichtsbarkeit für internationale Gremien befürwortet, sondern auch dadurch, dass eine stärker begrenzte nationale Gerichtsbarkeit gefordert wird und konnte somit die politische Ambivalenz der Grenzziehung zwischen Nationalem und Internationalem herausarbeiten, die zu den Kernelementen der Disziplin gehört. Beide können »imperiale« Konsequenzen nach sich ziehen.87 Eine andere Art, mit dem Eurozentrismus umzugehen, besteht darin, sich auf die Begegnung zwischen Europa und der neuen Welt als einen wichtigen, sogar grundlegenden Moment für die Disziplin selbst zu konzentrieren. Dies könnte geschehen, indem Regeln und Praktiken dargestellt und Fakten nacherzählt würden – die Entstehung der ersten Verträge beispielsweise, der Bau von Siedlungen und Zolllagern, die endlosen Kriege mit den »Einheimischen«, die Bemühungen um die Evangelisierung und so weiter. Es mag unglaublich erscheinen, doch existieren über Fischs bereits erwähntes Buch hinaus keine allgemeinen Arbeiten zu den völkerrechtlichen Aspekten der kolonialen Begegnung. Ein beliebtes Thema bleibt die Auseinandersetzung mit den Positionen der spanischen Theologen in Bezug auf die Eroberung und Besiedlung des indigenen Territori-

84 Beard, The Political Economy, S. 159–160, 168–169. Vgl. auch Pahuja, Decolonizing International Law. 85 Für eine wunderbare Lektüre zur dahingehenden Expansion der internationalen Exekutive Orford, International Authority. 86 Mazower, No Enchanted Palace. 87 Berman, L’affaire des décrets, S. 279–316.

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ums.88 Es gibt mittlerweile allerdings immer mehr Literatur über die rechtlichen Aspekte der Errichtung des britischen Kolonialsystems und insbesondere über die unterschiedlichen Weisen, wie die Beziehungen zwischen den Siedler*innen und der indigenen Bevölkerung gefasst wurden.89 Eine gründliche, kürzlich erschienene Neubetrachtung der englisch-französischen Beziehungen in den USA und Kanada ergänzt bestehende Arbeiten, indem sie darauf hinweist, wie die einheimischen Bevölkerungen ursprünglich trotz vieler vertraglicher Beschränkungen ihrer Handlungsfreiheit als unabhängige Nationen behandelt wurden.90 Für die rechtlichen Aspekte der Begegnung ist das beste, etwas unterschätzte, einleitende Werk das von L. C. Green und Olive P. Dickason.91 Studien zu diesem Thema konzentrieren sich oft darauf, wie das Völkerrecht im Umgang mit den »Barbaren« oder den »Wilden« verwendet wurde.92 Dies könnte im Stil der ehrwürdigen Leyenda negra geschehen, um die Lesenden derart zu schockieren, dass sie ein antikoloniales Bewusstsein entwickeln, aber ebenso gut, um einfach zwischen verschiedenen Momenten und Orten der kolonialen Begegnung zu unterscheiden und den veränderlichen instrumentellen Charakter des Rechts herauszustellen, das den Europäer*innen zum Vorteil zu gereichen pflegte. Oder sie könnten sich auf die unzähligen Male konzentrieren, bei denen es den Europäer*innen – häufig zu ihrem eigenen Nachteil – misslang, die Kulturen, mit denen sie in Berührung kamen, zu verstehen.93 Eine weitere Schiene dieser Strategie wäre die Analyse der Verschiebungen zwischen formellen und informellen Beziehungen, durch die europäische Vorherrschaft geschaffen und garantiert wurde: So scheint es beispielsweise sehr wichtig, die formelle Annexion außereuropäischer

88 Die Werke von Luciano Pereña zum spanischen Kolonialreich sind außerhalb Spaniens weitgehend unbekannt. Obwohl sie nicht ganz frei von imperialer Apologetik sind, sind sie ebenso wie die 29 Bände des von ihm herausgegebenen Corpus Hispanorum de Pace eine unschätzbare Materialquelle. Zu Pereñas eigener Zusammenfassung Pereña, La idea de justicia. 89 Zu Rechtstiteln und rechtlicher Rechtfertigung vgl. Sylvest, Our Passion, S. 403– 423; Armitage, The Ideological Origin; MacMillan, Sovereignty, und Bell, Victorian Visions. Besonderes Augenmerk wird auf die rechtliche Artikulation der Beziehung zwischen Siedlern und autochthonen Gesellschaften gelegt bei Williams, The American Indian; McHugh, Aboriginal Societies; Banner, How the Indians und Hunter, Global Justice. 90 Morin, Des nations libres, S. 1–70. 91 Green und Dickason, Law of Nations. 92 Der Klassiker ist Pagden, The Fall. Für völkerrechtliche Aspekte stellvertretend Dörr, Die »Wilden«, S. 372–392. 93 Stellvertretend Ruskola, Canton, S. 859.

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Territorien (Kolonialismus) in Verbindung zu setzen mit der Ausweitung der privatrechtlichen Regeln europäischen Ursprungs über Verträge und Eigentum sowie mit dem Einsatz von Handlangertechniken mit Verbündeten vor Ort, um Enteignungen durchzuführen oder informelle Herrschaft zu begründen.94 Dem Eurozentrismus könnte auch begegnet werden, indem die Aufmerksamkeit auf die Hybridisierung der Rechtskonzepte gerichtet wird, wenn sie von der kolonialen Metropole zu den Kolonien gelangen und sich im Gebrauch durch die Kolonisierten verändern. Im Rahmen dieses Ansatzes könnten zum Beispiel bestimmte koloniale Akteure – Jurist*innen, Politiker*innen, Widerstandskämpfer*innen – betrachtet werden, die europäische Konzepte verwenden, diese aber zugleich so nutzen, dass sie bestimmte Forderungen oder Anliegen der Bewohner*innen unterstützen. Ein gutes Beispiel wäre Nathaniel Bermans Auseinandersetzung mit den Debatten zwischen der französischen kolonialen und antikolonialen Intelligenzija während des Rifkriegs (1925), die von dem charismatischen Rebellenführer Abd al-Karim für seine antikolonialen Zwecke instrumentalisiert wurden.95 Auch wäre es möglich, sich auf den Gebrauch des internationalen Rechts durch die lateinamerikanischen kreolischen Eliten zu konzentrieren, mit dem sie ihre lokale Hegemonie sowohl gegenüber den Europäer*innen als auch gegenüber den »rückständigen« Bewohner*innen dieser Gebiete sicherten.96 Oder es könnte aufgezeigt werden, inwiefern lateinamerikanische Lehrbücher zum Völkerrecht das universelle Vokabular europäischer Schriften in einen »professionellen Stil, auf einzigartige Weise lateinamerikanisch« übertragen haben und damit nicht die passive Assimilation der Region an Europa begründen, sondern ihre beteuerte Andersartigkeit.97 Solche Untersuchungen verkomplizieren die homogene Idee der Europäisierung, indem sie die Ansicht ins Wanken bringen, dass die oberflächliche Übernahme eines europäischen Rechtsvokabulars immer oder notwendigerweise ähnliche Konsequenzen nach sich zieht, gar zwangsläufig zugunsten von »Europa« wirken würde. Zudem würde es die Heterogenität der nichteuropäischen Welt hervorheben und nichteuropäi-

94 Stellvertretend Gathii, Imperialism, S. 1013–1066; Koskenniemi, International Law and Empire, S. 1–36. 95 Berman, The Appeals, S. 195–230. 96 Obregón, Completing Civilization, S. 247–264. 97 Lorca Becker, International Law in Latin America, S. 289–290 und allgemein S. 283–305. Die Erzählung, dass das Völkerrecht durch die Begegnung mit den »Indies« geschaffen wurde, könnte lateinamerikanischen Autor*innen eine privilegierte Stimme in der Disziplin geben, S. 291.

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sche Subjekte mit eigener Handlungsfähigkeit ausstatten und so als Kontrapunkt sowohl zur allgegenwärtigen europäischen Gewohnheit fungieren, die Außenwelt als einen homogenen »Orient« zu behandeln, als auch zur indigenen Ideologie, Dekolonisierung als Rückkehr zu einer mythischen präkolonialen Authentizität zu betrachten.98 Eine Variante einer solchen »hybriden« Sicht würde die Auswirkungen der kolonialen Begegnung auf das Empire selbst zeigen. Inwieweit sind europäische Normen oder vielleicht die Identität von »Europa« ein Ergebnis des Kolonialismus? Könnte es sein, dass Europa infolge seiner Obsession für das »Andere« am Ende seine Identität – seine »Zivilisation«, »Modernität« oder »Entwicklung« – durch dieses Andere, in einer subtilen Herrschaft-und-Knechtschaft-Dialektik, definiert? In diesem Sinne hat Nathaniel Berman auf die »imperiale Ambivalenz« hingewiesen, die für die Konstruktion des liberalen Internationalismus und damit für eine gewisse Art der Moderne der Metropole selbst von zentraler Bedeutung ist. Das Oszillieren zwischen der Verurteilung des »schlechten« Imperialismus anderer und das Zelebrieren der guten Politik der »Treuhandschaft« oder des »Schutzes«, die man selbst betreibt, erscheint für Berman als historische Konstante in der Selbstverfasstheit von Formen des westlichen politischen Bewusstseins.99 Eine weitere, eine vierte, Technik besteht darin, Europa und europäisches Recht zu exotisieren (zu provinzialisieren). In The Gentle Civilizer versuchte ich, »anthropologisch« auf die Kontexte aufmerksam zu machen, in denen das Völkerrecht als eine kulturelle Sensibilität innerhalb einer Klasse von europäischen liberalen und protestantischen Fachleuten des späten 19. Jahrhunderts entstand. Anstatt es als Teil einer universellen Metaphysik darzustellen, beschrieb ich das Völkerrecht als eine Plattform oder als ein Vokabular für das politische Projekt einer kleinen Gruppe von Aktivist*innen, in der Hoffnung, es als einen begrenzten – gar »exotischen« – Aspekt der europäischen Fin-de-siècle-Kultur erscheinen zu lassen. Solche Genealogien können das »Besondere« lokalisieren, das von der universellen Stimme der Disziplin verdeckt wird. Dies ist der Ausgangspunkt der jüngsten Studien, die die Autoren der frühen Neuzeit wie Grotius oder Locke aus der Perspektive ihrer Tätigkeit als Rechtsberater für die Niederländische Ostindien-Kompanie oder als Investoren bei der König-

98 Zur Theoriebildung und Diskussion von Hybridität im ägyptischen Kontext: Shalakany, Sanhuri, S. 152–188. 99 Berman, Les ambivalences, S. 425–476.

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lich Afrikanischen Gesellschaft gelesen haben.100 Das Aufzeigen der engen Verbindung zwischen den Lehren über die Freiheit der Meere und niederländischer oder britischer maritimer und kolonialer Interessen im 17. Jahrhundert ermöglicht die Kontextualisierung der relevanten Normen und die Sichtbarmachung der in diese Normen verstrickten Machtverhältnisse – ohne die Normen an sich zu delegitimieren. Dies gilt auch für Erzählungen über das Mandatssystem im Völkerbund oder über die Idee der internationalen Exekutivgewalt innerhalb der Vereinten Nationen, die als Reaktionen auf den Zusammenbruch alter Formen imperialer Herrschaft und als Bestrebungen gelesen werden, weiterhin eine gewisse Kontrolle über die ehemaligen Kolonien auszuüben.101 Es geht erneut darum, das, was sich als zeitlos und universell präsentiert, als kontextuell an bestimmte Projekte oder Interessen gebunden zu rahmen. Der Eurozentrismus könnte dann mit der Erkenntnis destabilisiert werden, dass auch Europa nur ein Kontinent mit speziellen Interessen und Neurosen, Weisheit und Dummheit ist – also mit dem Verständnis, dass die Entscheidung für ein französisches Restaurant letzten Endes auch die Entscheidung für ethnic food ist. Auf eine letzte Sache sei an dieser Stelle hingewiesen. Eine gängige Methode, sich mit dem Eurozentrismus zu befassen, war die Frage, ob Nichteuropäer*innen entweder in das System des Völkerrechts »einbezogen« oder von ihm »ausgeschlossen« wurden. Die Frage basiert auf der (eurozentrischen) Annahme, dass Einbeziehung gut ist (weil Völkerrecht »gut« ist), während Ausgrenzung verurteilt werden muss. Aber das kann nicht stimmen: Die Schlüsselfrage ist nicht, ob jemand einbezogen oder ausgeschlossen wird, sondern was Inklusion und Exklusion bedeuten. Zu den Vorzügen von Anghies klassischer postkolonialer Analyse des Imperialismus und des Völkerrechts gehört die Herausarbeitung dessen, inwiefern die Einbeziehung indigener Amerikaner*innen von spanischen dominikanischen Theologen des 16. Jahrhunderts (insbesondere durch de Vitoria) in das christliche System des Naturrechts und des ius gentium dazu diente, die indigenen Bevölkerungen zu disziplinieren und Herrschaft über sie zu erlangen.102 Sich in Auseinandersetzungen über die Moralität von de Vitoria als Mensch zu verlieren, erscheint müßig; stattdessen sollte die Ambivalenz seiner Optionen betont werden. Damals wie heute ist alles relativ. Die Bedeutung und die Umstände einer Begegnung können nicht in Abstrakti-

100 Zu Grotius: Ittersum, Profit. Vgl. auch Wilson, Savage Republic; zu Locke: Arnell, John Locke. 101 Orford, International Authority. 102 Anghie, Imperialism.

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on von ihrer Bedeutung für ihre Teilnehmenden bestimmt werden – und diese wiederum nicht unabhängig von Annahmen darüber, was sie »gedacht haben müssen« – das heißt, was uns als »richtig« erscheint. Die vier oben genannten Techniken versuchen zu vermeiden, die Bedeutung einer Begegnung als gegeben zu verstehen, und bemühen sich stattdessen um interpretative Vorstellungskraft und um Handlungsfähigkeit aller Beteiligten. »Europäisierung« ist ein komplexes Phänomen, das zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Ziele verfolgen kann. Für die posteurozentrische Forschung in der Geschichte des internationalen Rechts bleibt wichtig, dass die bloße Verwendung eines bestimmten Vokabulars (von Intervention, Naturrecht, Positivismus, Christentum oder Dschihad) uns nicht bereits Auskunft darüber gibt, wie wir die angesprochenen Machtverhältnisse einschätzen sollten. Verschiedene Akteure werden es für verschiedene Zwecke verwenden und alles wird vom Kontext abhängen (dessen Definition wiederum Streitgegenstand sein kann). Die Geltung der formalen Souveränität und die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen im Hinblick auf die Kolonien seit den 1960er-Jahren haben beispielsweise wenig dazu beigetragen, die faktische Ungleichheit in der Welt abzuschaffen, aber sie haben diese Ungleichheit möglicherweise etwas unsichtbarer und damit etwas weniger politisch angreifbar gemacht. Doch was dies bewirkte, ist eine Frage (rechts-)wissenschaftlicher Untersuchungen und keine der (Rechts-)Dogmatik. Und was sollte man von solchen Wegen erwarten? Sie führen nicht zu einer völlig objektiven, wahren Darstellung des Vergangenen »wie es eigentlich gewesen [sei]«. Es gibt keinen Punkt, von dem aus Geschichte betrachtet werden könnte, der nicht ein bedingter Standpunkt wäre. Stattdessen hat dieser Beitrag versucht, auf die Macht und Schwäche der herrschenden Erzählungen über die Vergangenheit des internationalen Rechts hinzuweisen, und dazu angeregt, neue Perspektiven zu ergänzen, um komplexere und glaubwürdigere Einschätzungen zu schaffen. Erzählende Vokabulare sind, um Paul de Mans vertrautes Bild zu verwenden, Mechanismen der Blindheit und Einsicht. Eine Verschiebung des Vokabulars ermöglicht es uns, Dinge zu sehen, die vorher verborgen waren, aber sie verrückt unvermeidlich auch Dinge ins Dunkle. Es geht nicht darum, »globale Geschichte« zu schreiben, in der alles sichtbar ist – ein unmögliches Unterfangen –, sondern darum, die Macht der Blindheit zu mindern, nicht aus antiquarischem Interesse am Detail, sondern um klarer in die Zukunft zu blicken.

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Im Original: Histories of International Law: Dealing with Eurocentrism. Rechtsgeschichte. Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte 19, 2011, 152–176.

Übersetzung von Ha Mi Le. Es lektorierten Sarah Imani und Karina Theurer.

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Heterosexualismus und das koloniale/moderne Gendersystem María Lugones

In einer praxistheoretischen Ausrichtung möchte ich ein Gerüst anbieten, mit dessen Hilfe sich über Heterosexismus als Schlüsselfunktion der Art und Weise, wie sich in der Verfertigung kolonialer Macht Gender mit Race vermischt, nachdenken lässt. Es ist nicht so, dass der Kolonialismus den Kolonisierten vorkoloniale, europäische Vorstellungen von Geschlechterrollen aufgezwungen hätte; vielmehr entstand dabei ein ganz neues System zugeschriebener Geschlechterverhältnisse, das für kolonisierte Männer und Frauen andere Rollen vorsah als für weiße bürgerliche Kolonisatoren und ihre Frauen. Damit hat er verschiedene Geschlechterrollen eingeführt, und auch Gender selbst muss als koloniales Konzept und als ein Modus der Organisation von Produktionsverhältnissen, Eigentumsverhältnissen, Kosmologien und Epistemen verstanden werden. Dieses Gendersystem lässt sich nicht ohne Aníbal Quijanos »Kolonialität der Macht« verstehen.1 Wie sich Geschlechterrollen herausgebildet haben, muss historisch untersucht werden, weil wir unsere Analyse sonst immerzu auf das Patriarchat ausrichten, also auf eine binäre, hierarchische, unterdrückerische Ausprägung von Geschlechterrollen, die auf männlicher Vorherrschaft beruht, ohne auch nur ansatzweise die Mechanismen zu verstehen, durch die Heterosexualität, Kapitalismus und rassistische Zuschreibungen miteinander verzahnt sind. Das heterosexualistische Patriarchat war und ist ein ahistorischer Analyserahmen. Das Verhältnis zwischen der Geburt des kolonialen/ modernen Gendersystems und der Geburt des globalen kolonialen Kapitalismus zu verstehen – mit der Kolonialität der Macht als Ankerpunkt dieses Systems globaler Macht – heißt, die Art und Weise neu zu verstehen, in der unser Leben gegenwärtig organisiert ist. Gender und Heterosexualismus zu historisieren, ist somit ein Versuch, die eingefahrenen Gedankenmuster in Bewegung zu setzen, aufzulösen und komplexer zu machen, mit denen ich und andere, die sich mit liberatorischen/dekolonialen Projekten befassen, konfrontiert waren. Es geht um eingefahrene Denkwege hinsichtlich der Konzeptualisierung und In-

1 Quijano, Colonialidad del poder, eurocentrismo; ders., Colonialidad del poder y clasificacion social; ders., Colonialidad del poder, globalización y democracia.

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szenierung liberatorischer Möglichkeiten als dekoloniale Möglichkeiten. Liberatorische Möglichkeiten, die sich auf die helle Seite des kolonialen/ modernen Geschlechtersystems konzentrieren, unterstützen eine unterdrückerische Art der Organisation von Leben eher, als dass sie sie zurückweisen. Eine tiefergehende Analyse rassistischer Zuschreibungspraxis im Rahmen der Analyse von Gender und Sexualität ist in weißer feministischer Theorie und Praxis, spezifisch in feministischer Philosophie, größtenteils abwesend. Ich bin vorsichtig damit, dies als »weiße« feministische Theorie und Praxis zu bezeichnen, denn in der Behauptung lässt sich eine Redundanz vermuten: Sie ist weiß, weil sie zwangsläufig in eine Bedeutung von Gender und vergeschlechtlichter Sexualität verstrickt scheint, die aus dem hervorgeht, was ich die helle Seite des modernen/kolonialen Gendersystems nenne. Allerdings ist das natürlich eine Schlussfolgerung, die aus einem Verständnis von Gender als kolonialem Konzept folgt. Nichtsdestotrotz gelange ich zu dieser Schlussfolgerung, indem ich einen politischen/ praxischen/theoretischen Weg einschlage, der in den Arbeiten zu Gender noch zentral werden muss: nämlich den Weg, der entsteht, wenn wir die Kolonialität der Macht ernst nehmen. Wie ich später in diesem Beitrag deutlich machen werde, ist es auch politisch von Belang, dass viele, die die Kolonialität der Macht ernst nahmen, dazu tendierten, das soziale Geschlecht bzw. Gender zu naturalisieren. Auch diese Position verfestigt unterdrückerische koloniale Geschlechterarrangements und unterdrückerische Organisationsweisen von Leben. Mein Interesse ist also einerseits, die Intersektionalität zwischen Zuschreibungen von Race, sozialer Herkunft, Gender und Sexualität zu untersuchen, und zwar so, dass sich im Anschluss besser verstehen lässt, warum in weiten Teilen feministischer Analyse eine Gleichgültigkeit bezüglich der tiefgreifenden Verflechtung von Race, Gender, sozialer Herkunft und Sexualität vorherrscht. Women-of-Color- und Third-World-Feminismen haben aufgezeigt, wie eine Kritik dieser Gleichgültigkeit aussehen muss. Das Gerüst, das ich anbiete, gründet vollständig auf den Feminismen der Women of Color und von Third-World-Frauen und entsteht aus ihrer Mitte. Mithilfe dieses Gerüsts können wir harte, aber hoffentlich weiterführende Fragen stellen, die zum Widerstand gegen diese komplexen Formen von Unterdrückung animieren sollen. Zwei entscheidende Fragen, die wir zum Heterosexualismus und aus ihm heraus stellen sollten, sind: Wie können wir Heterosexualität nicht nur als normativ verstehen, sondern auch als pervers, sofern sie entlang des kolonialen modernen Gendersystems gewaltsam durchgesetzt wird, um ein weltweites Machtsystem aufzubauen beziehungsweise zu etablieren? Wie können wir zu einem Verständnis von Heterosexualismus gelangen, das die Verflechtung zwischen ihm und der 160

Heterosexualismus und das koloniale/moderne Gendersystem

anhaltend gewaltsamen Machtausübung beinhaltet, inklusive ihrer vielfachen Auswirkungen auf die Körper der Unfreien und anhand unterschiedlicher Schemata, die alle dazu dienen, sie als die gefolterte Materialität der Macht zu bestimmen? Mit der Arbeit, die ich hier initiiere, möchte ich einige erste Zutaten zusammentragen, die notwendig sind, um eine Beantwortung dieser Fragen in Angriff nehmen zu können. Ich glaube, dass zwischen Frauen, die das koloniale/moderne Gendersystem und die Kolonialität der Macht stützen, keine Solidarität oder homoerotische Liebe möglich ist. Außerdem glaube ich, dass eine transnationale intellektuelle und praktische Arbeit, die die Verflechtung zwischen der Kolonialität der Macht und dem kolonialen/modernen Gendersystem ignoriert, dieses globale Machtsystem ebenfalls stützt. Immer wieder habe ich allerdings gesehen (und konnte es oft kaum glauben), wie politisch denkende weiße Theoretiker*innen Gender im Sinne des Patriarchats simplifiziert haben. Ich möchte daher versuchen, die Diskussion des Heterosexualismus zu verschieben, indem ich die von ihr angenommenen Grundbedingungen verschiebe. Zudem möchte ich die Intersektionalität von Race, sozialer Herkunft, Gender und Sexualität untersuchen, wobei mein besonderes Interesse der Gleichgültigkeit gilt, Männer im Allgemeinen, und – noch wichtiger für unseren Kampf – im Besonderen solche Männer, die zu Minderwertigen rassifiziert wurden, an den Tag legen, wenn es um die systematische Gewalt geht, der Women of Color2 ausgesetzt sind. Ich möchte herausarbeiten, wie diese Gleichgültigkeit zustande kommt, damit sie von denjenigen, die von sich behaupten, sie seien in liberatorische Kämpfe involviert, nicht mehr übersehen werden kann. Diese Gleichgültigkeit ist heimtückisch, denn sie legt den Kämpfen von uns Women of Color große Steine in den Weg. Sie erschwert den Kampf für unsere Freiheit, für unsere Integrität und für unser Wohlbefinden und erschwert die damit zusammenhängenden Kämpfe für gemeinschaftliche Integrität. Letztere ist das Rückgrat gemeinschaftlicher Befreiungskämpfe und daher für sie von zentraler Bedeutung. Die Gleichgültigkeit findet sich sowohl im alltäglichen Leben als auch in der Theoretisierung von Unterdrückung und Befreiung. Sie scheint mir nicht nur darin zu bestehen, dass die Gewalt aufgrund der ka-

2 Ich benutze das aus dem US-Amerikanischen stammende Women of Color als koalitionären Terminus gegen diverse Formen der Unterdrückung. Es ist ein problematischer Begriff, mit dem sich nicht zwangsläufig alle Frauen identifizieren, denen das moderne/koloniale Gendersystem aufgezwungen wurde. Diese Frauen waren und sind weiterhin das Ziel systematischer und umfassender staatlicher und interpersonaler Gewalt innerhalb des globalen, eurozentrischen Kapitalismus.

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tegorialen3 Trennung von Race, Gender, sozialer Herkunft und Sexualität nicht gesehen wird. Mir scheint, es handelt sich dabei nicht nur um eine Frage epistemologischer Blendung durch Kategorientrennung. Feminist*innen of Color haben herausgearbeitet, was in Bezug auf gewaltsame Herrschaft und Ausbeutung sichtbar wird, sobald sich die epistemologische Perspektive auf die Intersektionalität dieser Kategorien4 fokussiert. Allerdings hat das offenbar nicht ausgereicht, um bei den Männern, die selbst Ziel gewaltsamer Herrschaft und Ausbeutung waren, ein Bewusstsein für ihre Komplizenschaft oder Kollaboration mit der gewaltsamen Herrschaft über Women of Color zu schaffen. Insbesondere die Bildung von Theorien über globale Herrschaft wird weiterhin betrieben, als ob keinerlei Verrat oder Kollaboration anerkannt und dagegen Widerstand geleistet werden müsste. In der vorliegenden Untersuchung werde ich zwei Analysegerüste verzahnen, die bisher nicht ausreichend zusammenhängend erforscht wurden. Das ist zum einen die wichtige Arbeit über Geschlechterrollen, rassistische Zuschreibungen und Kolonisierung, die – nicht ausschließlich, aber in signifikanter Weise – von Feminist*innen of Color und Third-World-Feminist*innen, darunter Denker*innen der Critical Race Theory, geleistet worden ist. Diese Arbeiten haben das Konzept der Intersektionalität in den Vordergrund gestellt und aufgezeigt, wie nichtweiße Frauen historisch und theoretisch-praktisch aus den liberatorischen Kämpfen im Namen von Frauen ausgeschlossen wurden.5 Zum anderen handelt es sich um die von Quijano eingeführte und in seinem Werk zentrale Kolonialität der Macht.6 Diese beiden Analysestränge zusammen zu denken, führt mich zu dem, was ich vorläufig »das moderne/koloniale Gendersystem« nenne. Dieses

3 Ich benutze kategorial, um die Arrangements von Kategorien aufzuzeigen. Damit meine ich keinesfalls kategorisch. 4 Zur Frage der Intersektionalität gibt es sehr umfangreiche und wichtige Literatur. Hier beziehe ich mich nur auf eine kleine Auswahl: Spelman, Inessential Woman; Barkley Brown, Polyrhythms and Improvization; Crenshaw, Mapping the Margins; Espiritu, Race, Class, and Gender; Collins, Black Feminist Thought und Lugones, Pilgrimages/peregrinajes. 5 Zusätzlich zur genannten Arbeit sei verwiesen auf Amos und Parmar, Challenging Imperial Feminism; Lorde, The Master’s Tools; Allen, The Sacred Hoop; Anzaldúa, Borderlands/la Frontera; McClintock, Imperial Leather; Oyewùmí, The Invention of Women und Alexander und Mohanty, Feminist Genealogies. 6 Aníbal Quijano hat zu diesem Thema umfangreiche und sehr wichtige Arbeiten verfasst. Die von mir vorgelegte Interpretation bezieht sich auf seine Arbeiten Colonialidad del poder y clasificacion social; Colonialidad del poder, globalización y democracia sowie Colonialidad, modernidad/racionalidad.

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Verständnis von Gender scheint mir im Großen und Ganzen in beiden Gerüsten implizit zu sein, ohne jedoch explizit artikuliert zu werden; oder wenigstens wird es nicht so artikuliert, wie ich es für nötig halte, um die Reichweite und die Konsequenzen der Komplizenschaft mit diesem Gendersystem zu enthüllen. Dieses koloniale/moderne Gendersystem zu beschreiben, und zwar sowohl in groben Zügen, als auch in all seiner gelebten Konkretheit, wird es uns nicht nur ermöglichen, zu sehen, was uns aufgebürdet wurde, sondern auch, wie grundlegend und umfassend zerstörend es ist. Dieser Text soll zeigen, wie wir – Women und Men of Color – erst durch das koloniale/moderne Gendersystem in allen Belangen des Lebens unterworfen werden. Gezeigt werden soll aber auch die tiefe Zerrüttung der Bündnisse von praktischer Solidarität. Mein Ziel ist es, einen Weg zu zeigen, der unsere Treue gegenüber diesem Gendersystem verständlich, lesbar und wahrnehmbar macht. Wir müssen eine Position einnehmen, von der aus wir einander auffordern, dieses Gendersystem zurückzuweisen, während wir gleichzeitig unsere gemeinschaftlichen Beziehungen transformieren.7 In diesem Beitrag stelle ich daher Quijanos Modell vor, das ich komplexer machen werde, aber es bietet uns – in der Logik struktureller Achsen – eine gute Basis, von der aus sich die Mechanismen des Ineinandergreifens der Produktion rassistischer Zuschreibungen mit Konstruktionen und Zuschreibungen von Geschlecht beziehungsweise Gender besser verstehen lassen. Die Kolonialität der Macht Quijano denkt die Intersektion von rassistischer Zuschreibung und Gender in großen strukturellen Zusammenhängen. Um diese verstehen zu können, müssen wir also zunächst sein Modell der globalen, eurozentrischen kapitalistischen Macht verstehen. Sowohl Race8 als auch Gender

7 Breit angelegte politische Bildung kann eine Methode kollektiver kritischer Erforschung dieses Gendersystems sein, sowohl in seinen groben Zügen, als auch, und das ist noch wichtiger, in seinen räumlich-zeitlichen konkreten Auswirkungen – mit dem Ziel, gemeinschaftliche Beziehungen zu verändern. 8 Quijano versteht race als eine Fiktion. Um das zu betonen, setzt er den Begriff stets in Anführungszeichen. Wenn »europäisch« oder »indigen« in Anführungszeichen gesetzt werden, wird damit also eine Klassifizierung entlang von race angezeigt. [Anm. d. Hg.: Quijano spricht im Spanischen von raza und bezieht sich damit auf die lokalen Ausprägungen im lateinamerikanischen Kontext aus historischer Per-

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nehmen in diesem Modell (patrón)9 eine Bedeutung ein. Quijano zufolge ist jegliche Macht stets durch Herrschafts-, Ausbeutungs- und Konfliktbeziehungen strukturiert, da soziale Akteure um Kontrolle über »die vier grundlegenden Bereiche der menschlichen Existenz« kämpfen: »Sex, Arbeit, kollektive Autorität und Subjektivität/Intersubjektivität sowie ihre Ressourcen und Produkte«10. Globale, eurozentrische, kapitalistische Macht ist charakteristischerweise um zwei Achsen herum organisiert: die Kolonialität der Macht und die Moderne.11 Diese Achsen ordnen die Auseinandersetzungen um Kontrolle über jeden dieser Lebensbereiche so, dass die Kolonialität der Macht und die Moderne die Art und Weise der Herrschaft in jedem dieser Bereiche voll und ganz durchdringen. Die Auseinandersetzungen/Kämpfe um Kontrolle über den »Zugang zu Sex, zu seinen Ressourcen und Produkten« definieren Quijano zufolge also die Sphäre des biologischen und sozialen Geschlechts (sex und gender), während sie wiederum um die Achsen der Kolonialität und der Moderne herum organisiert sind. Das ist jedoch ein zu enges Verständnis von den unterdrückerischen modernen/kolonialen Konstruktionen hinsichtlich der Reichweite von Gender. Quijano nimmt zudem ein patriarchales und heterosexuelles Verständnis von den Auseinandersetzungen hinsichtlich der Kontrolle über Sex, über seine Ressourcen und Produkte an. Er nimmt das globale, eurozentrische, kapitalistische Verständnis von Gender einfach als gegeben hin. Diese Annahmen seines theoretischen Gerüsts tragen jedoch dazu bei, die Wege zu verschleiern, über die nichtweiße kolonisierte Menschen als Frauen unterworfen und entmachtet worden sind. Wenn wir nun aber die zugrunde liegenden Annahmen dieses Gerüsts freilegen, wird der heterosexuelle und patriarchalische Charakter der Geschlechterordnung selbst als unterdrückerisch sichtbar. Soziale Beziehungen lassen sich gänzlich ohne zugeschriebene Geschlechterrollen organisieren, auch sexuelle soziale Beziespektive, d. h. die Unterscheidung von Mestizo*a, Negro*a, Blanco*a, entlang von raza. Die auch von anderen dekolonialen Denker*innen thematisierte Taxonomie der raza ist nicht mit race im US-Amerikanischen gleichzusetzen. Für eine deutschsprachige Einführung in Quijanos Werk: Quintero, Pablo, und Garbe, Sebastian: Kolonialität der Macht. De/Koloniale Konflikte: zwischen Theorie und Praxis. Unrast Verlag, 2013.] 9 Quijano zieht die Übersetzung von patrón [Deutsch: Muster] mit pattern anstelle von model vor, da model suggeriere, es gebe im Anschluss so etwas wie eine Kopie. Da jedoch der Gebrauch von pattern oft ungeschickt ist, benutze ich dennoch lieber model. [Anm. d. Hg.: Dies haben wir im Deutschen mit Modell übersetzt.] 10 Quijano, Colonialidad del poder, globalización y democracia, S. 1. 11 Quijano, Colonialidad del poder y clasificacion social, S. 342.

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hungen sind nicht auf Gender als Ordnungsprinzip angewiesen. Auch müssen Geschlechterverhältnisse nicht zwangsläufig heterosexuell oder patriarchal sein, jedenfalls nicht dann, wenn man sie historisch betrachtet. Um die rassistischen Unterschiede und Unterscheidungen der Geschlechterverhältnisse verstehen zu können, müssen wir zunächst verstehen, wie Gender im modernen/kolonialen Sinne organisiert ist – nämlich in einem biologischen Dimorphismus und in einer patriarchalen und heterosexuellen Organisation der Beziehungen. Biologischer Dimorphismus, Heterosexualismus und Patriarchat sind charakteristisch für das, was ich als die helle Seite der kolonialen/modernen Geschlechterorganisation bezeichne. Quijano scheint sich der Tatsache nicht bewusst zu sein, dass er dieses hegemoniale Verständnis von Gender einfach so hinnimmt. Mein Ziel ist es daher, Quijanos Ansatz zu erweitern und ihm Komplexität zu verleihen, während ich gleichzeitig seine Lesart der Kolonialität der Macht beibehalte. Diese ist zentral für das, was ich das moderne/koloniale Gendersystem nenne. Die Kolonialität der Macht klassifiziert die Erdbevölkerung grundlegend und universell mittels Race.12 Die Erfindung rassistischer Klassifizierung markiert eine Zäsur, da die vormals entlang von Herrschaft etablierten hierarchischen Verhältnisse zwischen Menschen nun durch ein fiktionales, durch biologische Konzepte organisiertes Verständnis von Menschheit und zwischenmenschlichen Beziehungen ersetzt wird. Was Quijano anbietet, ist eine historische Theorie sozialer Klassifizierung, um das zu ersetzen, was er die »eurozentrischen Theorien sozialer Klassen« nennt.13 Dieser Schritt schafft konzeptuellen Raum für die Kolonialität der Macht, also für die Einsicht, dass die Klassifikation der Weltbevölkerung entlang rassistischer Zuschreibungen eine zentrale Voraussetzung für den globalen Kapitalismus war. Auch schafft er begrifflichen Raum dafür, die historischen Auseinandersetzungen um die Kontrolle von Arbeit, Sex, kollektiver Entscheidungsmacht und Intersubjektivität als etwas Prozessuales zu verstehen, das sich über einen langen Zeitraum hinweg entwickelte, und nicht als Elemente, die diesen Herrschaftsbeziehungen vorausgingen. Diese Elemente, die zusammen das globale, eurozentrische, kapitalistische Modell der Macht konstituieren, sind nicht unabhängig voneinander und keines von ihnen geht diesen Prozessen voraus. Im Gegenteil ist der Mythos, dass diese Elemente metaphysisch vorgelagert seien, vielmehr ein

12 Quijano, Colonialidad del poder, globalización y democracia, S. 1. 13 Quijano, Colonialidad del poder y clasificacion social, S. 367.

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wichtiger Aspekt des gedanklichen Überbaus des eurozentrischen, globalen Kapitalismus. Mittels sozialer Klassifizierung durchdringt die Kolonialität sämtliche Aspekte sozialer Existenz und bringt neue soziale und geokulturelle Identitäten hervor.14 »Amerika« und »Europa« gehören zu diesen neuen geokulturellen Identitäten. »Europäisch«, »indigen«, »afrikanisch« gehören zu den »ethnischen« Identitäten. Diese Klassifizierung ist »der tiefste und beständigste Ausdruck kolonialer Herrschaft«15. Mit der Ausdehnung des europäischen Kolonialismus wurde diese Klassifizierung der Erdbevölkerung aufgezwungen. Seitdem hat sie jeden Bereich gesellschaftlicher Existenz durchdrungen und dabei die effektivste Form materieller und intersubjektiver sozialer Herrschaft konstituiert. Kolonialität bezieht sich somit nicht nur auf rassistische Klassifizierung, sondern ist ein umfassendes Phänomen: Sie ist eine der Achsen des Systems der Macht und durchzieht als solche jegliche Kontrolle über den Zugang zu Sex, über kollektive Entscheidungsmacht, Arbeit, Subjektivität/Intersubjektivität und die Produktion von aus diesen intersubjektiven Beziehungen heraus entstehendem Wissen. Anders gesagt: Jegliche Kontrolle über Sex, Subjektivität, Autorität und Arbeit artikuliert sich um dies herum. Die Logik der »strukturellen Achse«, wie Quijano sie darstellt, verstehe ich so, dass dasjenige Element, das als Achse fungiert, für jegliche Form von Machtbeziehung in diesem spezifischen Bereich menschlicher Existenz konstitutiv und umgekehrt durch diese konstituiert wird. Schließlich macht Quijano auch deutlich, dass es sich, obwohl Kolonialität auf Kolonialismus aufbaut – es sich doch um zwei verschiedene Dinge handelt – denn Letzterer beinhaltet nicht zwangsläufig rassistische Machtbeziehungen. Die Geburt der Kolonialität und ihre anhaltende und tiefgreifende Verbreitung auf dem ganzen Planeten ist gleichwohl eng mit dem Kolonialismus verknüpft.16 In Quijanos Modell der globalen, eurozentrischen, kapitalistischen Macht meint Kapitalismus »die strukturelle Gliederung aller historisch bekannten Formen von Kontrolle über Arbeit, Ausbeutung, Sklaverei, Zwangsarbeit, kleine, unabhängige kaufmännische Produktion, Lohnarbeit, sowie Reziprozität unter der Hegemonie der Beziehung von Kapital, Lohn und Arbeit«.17 In diesem Sinne ist eine Strukturierung der Auseinandersetzungen bezüglich der Kontrolle über Arbeit diskontinuierlich: Nicht

14 15 16 17

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Ebd., S. 342. Quijano, Colonialidad del poder, globalización y democracia, S. 1. Quijano, Colonialidad del poder y clasificacion social, S. 381. Ebd., S. 349.

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alle Arbeitsbeziehungen im globalen, eurozentrischen Kapitalismus fallen unter das Kapital-Lohn-Modell, auch wenn dies das hegemoniale Modell ist. Es ist zunächst wichtig, die Reichweite der Kolonialität der Macht sowie den Aspekt zu sehen, dass Lohnarbeit beinahe exklusiv für weiße Europäer*innen reserviert ist. Die Teilung der Arbeit ist so gründlich rassifiziert, wie sie geografisch ausdifferenziert ist. Wir sehen hier die Kolonialität der Arbeit als umfassendes Ineinandergreifen von Arbeit und rassistischer Zuschreibung. Quijano versteht die Moderne, die andere Achse des globalen, eurozentrischen Kapitalismus, als »das Verschmelzen der Erfahrungen von Kolonialismus und Kolonialität mit den Notwendigkeiten des Kapitalismus, wodurch ein spezifisches Universum intersubjektiver Beziehungen von Herrschaft unter eurozentrischer Hegemonie kreiert wird«.18 In seiner Charakterisierung der Moderne konzentriert sich Quijano auf die Produktion einer Form von Wissen, die als »rational« bezeichnet wird und die sich seit dem 17. Jahrhundert aus diesem subjektiven Universum heraus in den wichtigsten hegemonialen Zentren dieses Weltsystems der Macht (Holland und England) entwickelte. Diese Form des Wissens ist eurozentrisch. Unter Eurozentrismus versteht Quijano nicht nur die Perspektive von Europäer*innen, sondern auch die der eurozentrischen Welt, also die Perspektive derjenigen, die ihre Bildung unter der Hegemonie des Weltkapitalismus erfahren haben. »Eurozentrismus naturalisiert die Erfahrung von Menschen innerhalb dieses Machtmodells.«19 Die Produktion dieser Form des Wissens wurde durch den Bedarf des Kapitalismus an einem gedanklichen Überbau, durch die Naturalisierung der Identitäten und Verhältnisse der Kolonialität sowie durch die geokulturelle Verteilung der weltweiten kapitalistischen Macht geprägt. Der Bedarf des Kapitalismus an gedanklichem Überbau beinhaltet Folgendes: »[die] Messung, Quantifizierung, Externalisierung (oder Objektivierung) dessen, was die*der Wissende wissen kann, um die Beziehungen zwischen Mensch und Natur und zwischen Menschen untereinander in Bezug auf [den Kapitalismus] zu kontrollieren, insbesondere das Eigentum in den Produktionsmitteln.«20 Diese Form des Wissens wurde der gesamten kapitalistischen Welt als einzig gültige Rationalität und als emblematisch für die Moderne aufgezwungen.

18 Ebd., S. 343. 19 Ebd. 20 Ebd.

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Europa wurde hierbei mythologisch so beschrieben, dass es diesem Machtmodell als kapitalistisches Zentrum der Welt vorausging und von dort aus den Rest der Welt kolonisierte und daher das am meisten fortgeschrittene Moment auf dem linearen, unidirektionalen, kontinuierlichen Weg der menschlichen Spezies gewesen sei. Es etablierte sich eine Konzeption des Menschen, der zufolge die Weltbevölkerung in überlegen und unterlegen, rational und irrational, zivilisiert und primitiv, modern und traditionell einzuteilen sei. »Primitiv« meinte dabei eine im evolutionären Sinne frühere Zeit in der Geschichte der Spezies. Europa, so der Mythos, habe auf dem kontinuierlichen, linearen, unidirektionalen Weg ein sehr fortgeschrittenes Stadium erreicht, das bereits da gewesen war, bevor es den kolonialen, globalen Kapitalismus gab. Von dieser mythologischen Perspektive aus wurden die anderen Weltbewohner*innen nicht als durch die Kolonisierung beherrscht oder als hinsichtlich Reichtum und Macht unterlegen verstanden, sondern sie verkörperten auf diesem unidirektionalen Weg vielmehr ein früheres Stadium in der Geschichte der menschlichen Spezies. So sei »primitiv« zu verstehen.21 Wir sehen also, inwiefern die Elemente, die Quijanos Modell zufolge den globalen, eurozentrischen Kapitalismus konstituieren, strukturell zusammenpassen. Die Moderne und der Kolonialismus erfordern ein komplexes Verständnis der Organisation von Arbeit. Sie ermöglichen uns, zu sehen, inwiefern die umfassende Rassifizierung von Arbeitsteilung und Wissensproduktion zusammenpassen. Das Modell erlaubt Heterogenität und Diskontinuität. Quijano argumentiert, die Struktur sei keine geschlossene Totalität.22 Wir sind nunmehr an einem Punkt angelangt, an dem wir uns der Frage der Intersektionalität von Race und Gender23 in Quijanos Verständnis nähern können. Ich denke, die Logik »struktureller Achsen« vermag mehr und zugleich weniger als Intersektionalität. Letztere legt frei, was übersehen wird, wenn Kategorien wie Gender und Race unabhängig voneinander konzeptualisiert werden. Die beiden Kategorien als sich überschneidend zu denken, war durch das Ziel motiviert, diejenigen sichtbar zu machen, die im Sinne beider Kategorien beherrscht und zum Opfer gemacht wer-

21 Ebd., S. 343–344. 22 Ebd., S. 355. 23 Dass ich race nicht in Anführungszeichen setze, soll in keinster Weise andeuten, ich würde Quijano nicht zustimmen, was seine Analyse von race als Fiktion betrifft. Vielmehr will ich anfangen, auch Gender als Fiktion herauszuarbeiten, und das beinhaltet die biologische »Natur« des biologischen Geschlechts und von Heterosexualität.

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den. Obwohl in der kapitalistischen eurozentrischen Moderne jede*r sowohl durch rassistische als auch durch vergeschlechtlichte Zuschreibung geprägt ist, wird nicht jede*r aufgrund seiner*ihrer phänotypischen Zuschreibung oder seines*ihres Geschlechts beherrscht oder zum Opfer gemacht. Kimberlé Crenshaw und andere Women-of-Color-Feminist*innen argumentieren, dass die Kategorien als homogen verstanden werden und diejenigen, die innerhalb dieser Gruppen herrschen, zur Norm dieser jeweiligen Gruppen machen: Frauen hebt somit weiße bürgerliche Frauen hervor, Männer weiße bürgerliche Männer, Schwarz hebt schwarze heterosexuelle Männer hervor und so weiter. Hier zeigt sich, dass die Logik der Kategorientrennung verschleiert, was an genau dieser Überschneidung der Kategorien existiert, beispielsweise die Gewalt gegen Women of Color. Mit der Konstruktion der Kategorien führt deren Überschneidung zu einer Fehldeutung der Situation von Women of Color. Sobald also Intersektionalität das Übersehene zum Vorschein bringt, haben wir die Aufgabe, die Logik der Intersektion neu zu konzeptualisieren: Es gilt zu vermeiden, dass die Kategorien weiterhin als voneinander getrennt gedacht werden können.24 Nur wenn wir Gender und Race als verzahnt oder verschmolzen verstehen, können wir Women of Color tatsächlich sehen. Die Logik struktureller Achsen zeigt, dass Gender durch die Kolonialität der Macht konstituiert wird und diese zugleich konstituiert. In diesem Sinne sind in Quijanos Modell Race und Gender nicht voneinander trennbar. Deren Logik versteht er also, glaube ich, ganz richtig. Aber die Achse der Kolonialität ist nicht ausreichend, um alle Aspekte vergeschlechtlichter Zuschreibungen zu verstehen. Welche Aspekte von Gender dargestellt werden, hängt vielmehr davon ab, wie Gender im Modell konzeptualisiert wird. In Quijanos Modell scheint Gender in der Organisation jenes »grundlegenden Bereichs der Existenz« enthalten zu sein, die Quijano »Sex, seine Ressourcen und Produkte« nennt.25 Das heißt, es gibt innerhalb des Gerüsts eine Bedeutung von Gender, die zu eng und überbiologisiert ist, da sie sexuellen Dimorphismus, Heterosexualität, patriarchale Verteilung der Macht etc. voraussetzt, doch diese Voraussetzung als solche nicht weiter untersucht. Obwohl ich in seiner Arbeit, soweit ich sie kenne, keine Charakterisierung von Gender gefunden habe, scheint mir Quijano zu implizieren, dass sich die Geschlechterdifferenz in den Auseinandersetzungen um die Kon-

24 So meine Arbeiten Pilgrimages/Peregrinajes und Radical Multiculturalism, wo diese Logik aufgeschlüsselt wird. 25 Ebd., S. 378.

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trolle über Sex, über seine Ressourcen und über seine Produkte konstituiert. Sex im Sinne des biologischen Geschlechts versteht er als biologische Attribute,26 die sich in sozialen Kategorien verfeinern. Er setzt die biologische Beschaffenheit von sex im Sinne des biologischen Geschlechts in Kontrast zu phänotypischen Merkmalen, die keine biologischen Attribute einschließen. Einerseits haben »Hautfarbe, Augenform und Haarstruktur keinerlei Zusammenhang mit der biologischen Struktur«27; andererseits scheint sex für Quijano auf unproblematische Weise biologisch zu sein. Er charakterisiert die »Kolonialität der Geschlechterverhältnisse«28, das heißt die Ordnung von Geschlechterverhältnissen rund um die Achse der Kolonialität der Macht, wie folgt: 1. Im Ganzen der kolonialen Welt gründen die Normen und formal-ideellen Muster des sexuellen Verhaltens der Geschlechter und entsprechend die Muster der Familienorganisation von »Europäer*innen« direkt auf rassistischer Klassifizierung: Die sexuelle Freiheit der Männer und die Treue der Frauen waren in der eurozentrischen Welt die Kehrseite des freien Zugangs – frei im Unterschied zur bezahlten Prostitution – weißer Männer zu »schwarzen« Frauen und »Indigenen« in den Amerikas, zu »schwarzen« Frauen in Afrika und zu anderen »Farben« im Rest der unterworfenen Welt. 2. In Europa war die Prostitution von Frauen die Kehrseite des bürgerlichen Familienmodells. 3. Die familiäre Einheit und Integration – die Achsen des Modells der bürgerlichen Familie, so wie sie in der eurozentrischen Welt durchgesetzt worden waren – war die Kehrseite der anhaltenden Zerrüttung der Eltern-Kind-Einheiten bei den »nichtweißen« »Ethnien/razas«, die nicht nur als Waren, sondern auch als »Tiere« gehalten und verteilt werden konnten. Dies war insbesondere der Fall »schwarzer« Sklav*innen, da diese Form von Herrschaft über sie expliziter, unmittelbarer und langfristig angelegt war.

26 Ich habe bei Quijano keine Zusammenfassung dieser Attribute gefunden. Daher weiß ich nicht, ob er Chromosomenkombinationen oder Genitalien und Brüste meint. 27 Ebd., S. 373. 28 Ich möchte betonen, dass Quijano diesen Abschnitt aus seiner Arbeit Colonialidad del poder y clasificación social nicht als die Kolonialität von sex bezeichnet, sondern von gender.

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4. Die Scheinheiligkeit, die den Normen und formal-ideellen Werten der bürgerlichen Familie typischerweise zugrunde liegt, ist also der Kolonialität der Macht seit jeher eingeschrieben.29 Wie wir anhand dessen sehen können, beschränkt Quijanos Analysegerüst Gender auf die Organisation von Sex, seinen Ressourcen und Produkten. Er scheint eine Vorannahme darüber zu treffen, wer den Zugang kontrolliert und wer als Ressource konstituiert wird, und er scheint von vornherein davon auszugehen, dass die Auseinandersetzung über die Kontrolle von Sex eine Auseinandersetzung unter Männern ist, nämlich als eine Auseinandersetzung über die Kontrolle von Männern über Ressourcen, die als weiblich gedacht werden. Er scheint Männer nicht als Ressourcen in sexuellen Begegnungen zu sehen und Frauen nicht als Subjekte des Kampfs um die Kontrolle über sexuellen Zugang. Die Unterschiede werden so gedacht, wie die Gesellschaft reproduktive Biologie versteht. Intergeschlechtlichkeit In Definitional Dilemmas schreibt Julie Greenberg, dass Rechtsinstitutionen die Macht haben, Individuen einer bestimmten geschlechtlichen Kategorie zuzuordnen oder eine rassifizierte Zuschreibung vorzunehmen30: Es wird nach wie vor davon ausgegangen, dass das Geschlecht binär und anhand einer Analyse biologischer Faktoren leicht bestimmbar sei. Trotz anthropologischer und medizinischer Studien, die das Gegenteil zeigen, geht die Gesellschaft von einem eindeutigen, binären Geschlechtsparadigma aus, demzufolge alle Individuen eindeutig als männlich oder weiblich zugeordnet werden können.31 Greenberg argumentiert, das Recht habe es während der gesamten US-Geschichte versäumt, Intergeschlechtliche anzuerkennen – trotz der Tatsache, dass 1 bis 4 Prozent der Weltbevölkerung intervergeschlechtlicht wird. Diese Menschen passen also nicht klar in eindeutige Geschlechtskategorien: »[Sie] weisen einige biologische Merkmale auf, die traditionellerweise als männlich gelten, und einige biologische Merkmale, die traditionellerweise

29 Ebd., S. 378. 30 Die Relevanz gegenwärtiger Rechtsstreitigkeiten bezüglich intergeschlechtlicher Individuen, denen ein Geschlecht zugeschrieben wird, sollte eindeutig sein, schließlich bedenkt Quijanos Modell auch die Gegenwart. 31 Greenberg, Definitional Dilemmas, S. 112.

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als weiblich gelten. Die Art und Weise, wie das Recht männlich, weiblich und biologisches Geschlecht definiert, hat tiefgreifende Auswirkungen auf diese Menschen«.32 Die Zuschreibungen machen deutlich, dass das, was normalerweise als biologisches Geschlecht verstanden wird, sozial konstruiert ist. Vom späten 19. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg wurde die reproduktive Funktion als essenzielles Charakteristikum der Frau definiert. Die Anoder Abwesenheit von Eierstöcken galt als ultimatives Kriterium für die Bestimmung des Geschlechts. 33 Es gibt aber eine große Zahl von Faktoren, die dazu dienen, das »›offizielle‹ biologische Geschlecht zu definieren, das jemand hat«: Chromosomen, Geschlechtsdrüsen, externe Morphologie, interne Morphologie, Hormone, Phänotyp, zugeschriebenes biologisches Geschlecht und selbstidentifiziertes biologisches Geschlecht.34 Gegenwärtig werden Chromosomen und Genitalien bei der Bestimmung mit berücksichtigt, aber auf eine Weise, die zeigt, dass bereits die Biologie gründlich interpretiert und selbst operativ konstruiert ist. XY-Kinder mit »inadäquaten« Penissen müssen zu Mädchen gemacht werden, da die Gesellschaft glaubt, die Essenz von Männlichkeit sei die Fähigkeit, eine Vagina zu penetrieren und im Stehen zu urinieren. XXKinder mit »adäquaten« Penissen jedoch werden dem weiblichen Geschlecht zugeordnet, da die Gesellschaft und viele im medizinischen Bereich denken, die Essenz von Weiblichkeit bestehe in der Fähigkeit, Kinder auszutragen, und nicht in der Fähigkeit, befriedigenden Geschlechtsverkehr zu haben.35 Intervergeschlechtlichte Individuen werden oft operativ und hormonell zu Männern oder Frauen gemacht. Diese Faktoren werden bei Rechtsfällen berücksichtigt, etwa wenn es um das Recht geht, die Geschlechtsnennung in offiziellen Dokumenten zu ändern, um die Möglichkeit, gegen geschlechtsbasierte Diskriminierung am Arbeitsplatz vorzugehen, oder um das Recht, zu heiraten.36 Greenberg berichtet von den Komplexitäten und vielen unterschiedlichen Entscheidungen hinsichtlich geschlechtlicher Zuschreibungen. Das Recht erkennt Intergeschlechtlichkeit nicht an. Obwohl das Recht bei bestimmten Dokumenten eine eigene geschlechtliche Identifizierung erlaubt, »begründen Rechtsinstitutionen im Großteil der Fälle 32 33 34 35 36

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Ebd. Ebd., S. 113. Ebd., S. 112. Ebd., S. 114. Ebd., S. 115.

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die geschlechtliche Zuschreibung weiterhin mit den traditionellen Annahmen, Geschlecht sei binär und könne anhand biologischer Faktoren leicht bestimmt werden«.37 Greenbergs Arbeit ermöglicht es mir, auf eine Grundannahme des Modells, das Quijano uns anbietet, hinzuweisen. Das ist von Belang, weil der Geschlechtsdimorphismus ein wichtiges Charakteristikum dessen ist, was ich »die helle Seite« des kolonialen/modernen Gendersystems nenne. Diejenigen, die sich auf der »dunklen Seite« befanden, wurden nämlich nicht unbedingt als dimorph verstanden. Sexuelle Ängste der Kolonisatoren brachten diese dazu, sich die Menschen der Amerikas als Hermaphroditen oder Intergeschlechtliche vorzustellen, mit großen Penissen und fließender Milch.38 Wie jedoch Paula Gunn Allen und andere klar gezeigt haben39, wurden intergeschlechtliche Individuen in vielen Gesellschaften vor der Kolonisierung anerkannt, ohne dass sie zur Assimilation im Sinne einer binären geschlechtlichen Vorstellung gezwungen worden wären. Um die Reichweite der Organisation von Geschlecht unter der Herrschaft des Kolonialismus im eurozentrischen globalen Kapitalismus zu verstehen, ist es wichtig, über die Veränderungen nachzudenken, die mit der Kolonisierung einhergingen. Dass der eurozentrische globale Kapitalismus den Geschlechtsdimorphismus nur für weiße bürgerliche Männer und Frauen anerkannt hat, impliziert, dass sich diese Geschlechtertrennung nicht auf Biologie zurückführen lässt. Auch die kosmetischen wie auch substanziellen Korrekturen an der Biologie verdeutlichen, dass Gender den »biologischen« Merkmalen vorausgeht und ihnen erst Bedeutung verleiht. Die Naturalisierung von Geschlechterdifferenzen ist ein weiteres Produkt der modernen Gebrauchsweisen der Wissenschaft, wie Quijano in Bezug auf Race herausarbeitet. Nicht alle Traditionen korrigieren und normalisieren intergeschlechtliche Menschen. Vor diesem Hintergrund müssen wir also hier – wie auch bei anderen Vorannahmen – fragen, inwiefern der Geschlechtsdimorphismus der globalen, eurozentrischen, kapitalistischen Herrschaft/ Ausbeutung gedient hat und auch weiterhin dient.

37 Ebd., S. 119. 38 McClintock, Imperial Leather. 39 Gunn Allen, The Sacred Hoop.

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Nichtvergeschlechtlichter und gynäkokratischer Egalitarismus Mit der Konstituierung des globalen, eurozentrischen Kapitalismus durch Kolonisierung wurde vergeschlechtlichte Differenz an Orten eingeführt, wo es sie zuvor nicht gegeben hatte. Oyéronké Oyewùmí hat gezeigt,40 dass das auf Beherrschung ausgerichtete unterdrückerische Gendersystem, das den Yoruba aufgezwängt wurde, viel mehr als nur die Organisation der Reproduktion verändert hat. Sie zeigt uns, dass das Gendersystem, das der Kolonialismus umfassend durchgesetzt hat, zur Unterordnung von Frauen in jedem einzelnen Aspekt des Lebens führt. Quijanos Verständnis der Reichweite von geschlechtsspezifischer Zuschreibung im globalen, eurozentrischen Kapitalismus ist daher viel zu eng. Gunn Allen argumentiert, dass viele First Nations in Amerika matriarchal waren, mehr als zwei Geschlechter anerkannten, »dritte« Geschlechter wie auch Homosexualität positiv sahen und Geschlecht ganz allgemein egalitär verstanden und nicht als Unterordnung wie im eurozentrischen Kapitalismus, der ihnen aufgezwungen wurde. Gunn Allens Arbeit ermöglicht uns zu sehen, dass Genderunterschiede mehrdeutig und offener waren und nicht auf Biologie zurückgeführt wurden. Gunn Allen zeigt uns zudem, dass es eine gynozentrische Konstruktion von Wissen und eine gynozentrische Herangehensweise an das Verstehen der »Realität« gab, die der Wissensproduktion der Moderne entgegengesetzt ist. Erst durch ihre richtungsweisende Arbeit hat die Tatsache, dass die Konstruktion von Wissen in der Moderne stark vergeschlechtlicht ist, weitgehend Anerkennung gefunden. Dieser Aspekt der Reichweite von Gender bleibt in Quijanos Verständnis der Prozesse und Mechanismen, die die Kolonialität von Gender konstituieren, verborgen. Nichtvergeschlechtlichter Egalitarismus In The Invention of Women stellt Oyéronké Oyewùmí Fragen, die die Gültigkeit des Patriarchats als transkulturelle Kategorie betreffen.41 Dabei stellt sie Patriarchat und Matriarchat einander nicht einfach gegenüber; vielmehr führt sie aus, dass »Gender bei den Yoruba vor der Kolonisierung durch den Westen kein organisierendes Prinzip war«.42 Es gab kein Gendersystem. Tatsächlich sagt sie, dass Gender »in Studien über die Yoruba

40 Oyewùmí, The Invention of Women. 41 Ebd., S. 20. 42 Ebd., S. 31.

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nicht etwa deswegen Bedeutung erlangte, weil es ein Artefakt dieser Gesellschaft wäre, sondern weil das Leben in dieser Gesellschaft, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart, ins Englische übersetzt wurde, um in westliche Muster des Nachdenkens über Körper zu passen«.43 Die Annahme, Gender habe bei den Yoruba ein organisierendes Prinzip dargestellt und tue dies bis heute, sei ein weiterer Fall »von westlicher Dominanz in der Dokumentierung und Interpretation der Welt, die durch die globale materielle Dominanz des Westens befördert wird«.44 Sie sagt, dass »Forscher*innen immer geschlechtsspezifische Zuschreibungen finden werden, wenn sie danach suchen«.45 »Die übliche Übersetzung der Kategorien der Yoruba obinrin und okunrin mit ›weiblich/Frau‹ und ›männlich/Mann‹ ist somit falsch. Diese Kategorien sind weder einander binär entgegengesetzt noch hierarchisch«.46 Die Präfixe obin und okun spezifizieren vielmehr eine Vielzahl von Anatomien. Oyewùmí übersetzt die Präfixe mit Bezug auf den anatomischen Mann und die anatomische Frau, abgekürzt als anamale und anafemale. Wichtig ist, dass sie diese Kategorien nicht als binär entgegengesetzt versteht. Oyewùmí versteht Gender, so wie es vom Westen eingeführt wurde, als ein Mittel der Herrschaft, das zwei binär entgegengesetzte und hierarchische soziale Kategorien benennt. »Frauen« (als Innbegriff von Gender) ist nicht definiert durch Biologie, wenngleich der Begriff den anafemales zugeschrieben wird. Frauen werden in Relation zu Männern definiert, die ihrerseits als Norm verstanden werden. Frauen sind die, die keinen Penis haben; die, die keine Macht haben; die, die nicht am öffentlichen Leben teilhaben können.47 Nichts davon galt für die vorkolonialen Yoruba-anafemales. Die Auferlegung des europäischen Staatensystems mit seiner dazugehörigen Rechts- und Bürokratiemaschinerie ist das beständigste Vermächtnis europäischer Kolonialherrschaft in Afrika. Eine Tradition, die während dieser Zeit nach Afrika exportiert wurde, war der Ausschluss von Frauen aus der neu geschaffenen kolonialen öffentlichen Sphäre. … Genau der Prozess, durch den weibliche Körper kategorisiert und auf die soziale Rolle der »Frau« reduziert wurden, machte ihn ungeeignet für Führungsrollen. … Das Auftauchen der Frau als

43 44 45 46 47

Ebd., S. 30. Ebd., S. 32. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32–33. Ebd., S. 34.

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identifizierbare, durch ihre Anatomie definierte Kategorie, die dem Mann in allen Situationen untergeordnet ist, resultierte teilweise aus der Auferlegung eines patriarchalen Kolonialstaates. Für weibliche Körper war die Kolonisierung ein zweifacher Prozess rassistischer Abwertung und vergeschlechtlichter Unterordnung. Die Erfindung der »Frau« als Kategorie war einer der allerersten Erfolge des Kolonialstaates. Daher ist es nicht überraschend, dass es für die Kolonialregierung undenkbar war, in den Gesellschaften, die sie kolonisierte, etwa bei den Yoruba, weibliche Führungspersonen anzuerkennen. … Die Umwandlung von Staatsmacht zu einer Macht des männlichen Geschlechts wurde durch den Ausschluss von Frauen aus Staatsstrukturen erreicht. Dies stand in scharfem Gegensatz zur Staatsorganisation der Yoruba, in der Macht nicht geschlechtsspezifisch bestimmt war.48 Oyewùmí erkennt in der Kolonisierung zwei entscheidende Prozesse: die Durchsetzung rassistischer Zuschreibung zusammen mit der Abwertung von Afrikaner*innen einerseits und die Abwertung von anafemales andererseits. Die Abwertung von anafemales ging sehr weit und reichte vom Ausschluss von Führungsrollen bis hin zum Verlust der Kontrolle über das Eigentum und über andere wichtige ökonomische Bereiche. Oyewùmí stellt fest, dass Yorubamänner die Einführung des westlichen Gendersystems akzeptierten und sich bei der Abwertung von anafemales beteiligten. Wenn wir also an die Gleichgültigkeit nichtweißer Männer in Bezug auf Gewalt gegenüber nichtweißen Frauen denken, bekommen wir eine Vorstellung von der Kollaboration zwischen anamales und westlichen Kolonisatoren gegen anafemales. Oyewùmí macht deutlich, dass sowohl Männer als auch Frauen auf unterschiedlichen Ebenen Widerstand gegen die kulturellen Veränderungen leisteten. Während also im Westen die Herausforderung des Feminismus darin besteht, wie man von der geschlechtsüberladenen Kategorie der »Frau«, die in sozialen Rollenzuschreibungen besteht, zu der Vollkommenheit einer nicht in Geschlechter eingeteilten Menschheit gelangt, ist die Herausforderung für Yoruba-obinrin offensichtlich eine andere. Denn in bestimmten Bereichen der Gesellschaft ist die Idee einer »ungeschlechtlichen Menschheit« weder ein erstrebenswerter Traum noch eine Erinnerung, die es wiederherzustellen gilt. Sie existiert, ist aber verknüpft

48 Ebd., S. 123–125.

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mit der Wirklichkeit getrennter und hierarchischer biologischer Geschlechter, die während der Kolonialzeit auferlegt wurden.49 Wir sehen also, dass die Kolonialität von Gender viel zu eng gefasst ist. Quijano übernimmt weite Teile der Begriffe der hellen Seite des modernen/kolonialen Gendersystems, wenn er die Reichweite von Gender beschreibt. Ich habe die Kolonialität von Gender zunächst verlassen, um zu untersuchen, was sie verbirgt oder nicht zu denken erlaubt, wenn es um die Reichweite des Gendersystems im eurozentrischen globalen Kapitalismus geht. Ich denke, dass die Kolonialität von Gender, wie Quijano sie pointiert beschreibt, uns wichtige Aspekte über die Intersektionalität von Race und Gender zeigt. Nichtsdestotrotz unterstützt sie eher die Ausradierung kolonisierter Frauen aus weiten Teilen des sozialen Lebens, als dass sie sie aufdeckt. Oyewùmís Zurückweisung der Geschlechterbrille zur Charakterisierung der Abwertung von anafemales zu Zeiten der modernen Kolonisierung macht das Ausmaß und den Umfang dieser Abwertung deutlich. Ihr Verständnis von Gender als kolonialer, eurozentrischer, kapitalistischer Konstruktion ist viel umfassender als das Quijanos. Es ermöglicht uns, die ökonomische, politische und geistige Abwertung ebenso zu sehen wie die Abwertung von anafemales hinsichtlich der Kontrolle von Reproduktion. Gynäkokratischer Egalitarismus Diesem großartigen Lebewesen die Position der »Fruchtbarkeitsgöttin« zuzuschreiben, ist äußerst erniedrigend: Es trivialisiert die Gesellschaften und trivialisiert die Macht der Frau. – Paula Gunn Allen Paula Gunn Allen beschreibt viele amerikanische First Nations als gynäkokratisch und hebt besonders die Bedeutung des Spirituellen in allen Aspekten indigenen Lebens und eine daraus resultierende völlig andere Intersubjektivität hervor, von der aus Wissen produziert wird, und die sich grundlegend von der Kolonialität des Wissens der Moderne unterscheidet. Viele amerikanische First Nations »meinten, die primäre Kraft im Universum sei weiblich, und dieses Verständnis bestimmt sämtliche Aktivitäten der Gemeinschaft«.50 Old Spider Woman, Corn Woman, Serpent Woman, Thought

49 Ebd., S. 156. 50 Gunn Allen, The Sacred Hoop, S. 26.

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Woman sind einige der Namen machtvoller Schöpferinnen. Für die gynäkokratischen Gemeinschaften steht die Frau im Zentrum und »nichts ist heilig ohne ihren Segen, ohne ihr Denken«51. Für die Unterwerfung dieser Gemeinschaften war es unabdingbar, die gynäkokratische spirituelle Pluralität durch ein einziges höchstes männliches Wesen zu ersetzen, wie es im Christentum der Fall ist. Gunn Allen zeigt auf, dass die Transformation indigener Gemeinschaften von egalitärer und gynäkokratischer hin zu hierarchischer und patriarchaler Organisation »vier Ziele erfüllen sollte«: • Der Vorrang des Weiblichen als Schöpferin wird verdrängt und ersetzt durch männlich vergeschlechtlichte Schöpfer (üblicherweise generisch). • Regierungsinstitutionen der First Nations und die Philosophien, auf denen sie beruhen, werden zerstört, wie etwa bei den Haudenosaunee und den Tsalagi. • Die Menschen »werden von ihrem Land vertrieben, ihre ökonomische Lebensgrundlage wird ihnen entzogen, und sie werden gezwungen, jegliche Betätigungen, von denen ihr Ritualsystem, ihre Philosophie und ihr Auskommen abhängt, einzuschränken oder zu beenden. Sind sie, um zu überleben, erst einmal abhängig von weißen Institutionen, können Gesellschaftssysteme sich eine Gynäkokratie kaum mehr leisten, wenn das Patriarchat – das heißt das Überleben – männliche Herrschaft erfordert«. • Die Gemeinschaftsstrukturen »müssen theoretisch und faktisch durch die Kernfamilie ersetzt werden. Durch diesen Trick werden die weiblichen Oberhäupter durch gewählte männliche Funktionäre ersetzt und das übersinnliche Netz, das von nichtautoritärer Gynozentrik geformt und erhalten wird und das auf Respekt für eine Diversität von Gottheiten und Menschen beruht, wird gründlich zerfleischt.«52 Für Gunn Allen ist somit die Abwertung von First-Nations-Frauen durch und durch verknüpft mit der Herrschaft über das Zusammenleben und deren Transformation. Die Zerstörung der Gynäkokratien ist entscheidend für die »Dezimierung von Bevölkerungen durch Hunger, Krankheit und die Zerstörung aller sozialen, spirituellen und ökonomischen Struktu-

51 Ebd., S. 13. 52 Ebd., S. 41–42.

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ren«.53 Das Programm der Degynäkokratisierung erfordert eine beträchtliche »Bild- und Informationskontrolle«. Die Neuschreibung der eigenen Versionen von frühzeitlicher Geschichte, Bräuchen, Institutionen und mündlichen Traditionen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die patriarchalen revisionistischen Versionen des Zusammenlebens, verzerrt oder schlicht erfunden von patriarchalen Nichtangehörigen und patriarchalisierten Angehörigen der First Nations, in die spirituellen und volkstümlichen Traditionen der Gemeinschaften übernommen werden.54 Zu den Eigenheiten der First-Nations-Gesellschaften, die zerstört werden sollten, gehörten die zweiteilige Sozialstruktur, das Geschlechterverständnis sowie die Ökonomie, die häufig dem System der Reziprozität folgte. Die zwei Seiten der komplementären Sozialstruktur beinhalteten zwei komplementäre Führungsrollen – eine innenpolitische (die eine Frau innehatte) sowie eine außenpolitische (die ein Mann innehatte). Die innenpolitische Anführerin hatte den Vorsitz über die Gruppe, das Dorf oder die Gemeinschaft, sie war zuständig für den Erhalt der Harmonie und die Verwaltung interner Angelegenheiten. Der männliche Anführer hatte den Vorsitz bei Vermittlungen zwischen der Gemeinschaft und Außenstehenden inne.55 Geschlecht wurde nicht primär biologisch verstanden. Die meisten Individuen passten sich in die Geschlechterrollen der Gemeinde »auf Basis von Neigung, Vorliebe und Temperament ein. Die Yuma hatten eine Tradition der Geschlechterzuschreibung, basierend auf Träumen; eine Frau, die von Waffen träumte, wurde für alle praktischen Zwecke ein Mann.«56 Wie Oyewùmí ist auch Gunn Allen interessiert an der Kollaboration, die zwischen einigen Männern der First Nations und Nichtangehörigen der First Nations stattgefunden haben muss, um die Macht der Frauen zu untergraben. Wenn wir darüber nachdenken, warum in rassifizierten Gemeinschaften eine Gleichgültigkeit bezüglich der Kämpfe von Frauen gegen multiple Formen von Gewalt gegen sie und die Gemeinschaft herrscht, müssen wir über genau diese Kollaborationen nachdenken. Mit der Vereinnahmung kolonisierter Männer für patriarchale Rollen konstruierte der weiße Kolonisator eine machtvolle Kraft im Inneren der Gemein-

53 54 55 56

Ebd., S. 42. Ebd. Ebd., S. 18. Ebd., S. 196.

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schaften für seine Zwecke. Gunn Allen beschreibt die Transformationen der Gynäkokratien der Haudenosaunee und der Tsalagi ausführlich, wie auch die Rolle, die First-Nations-Männer beim Übergang ins Patriarchat gespielt haben. Die Briten nahmen Männer der Tsalagi mit nach England und bildeten sie in ihrem Sinne aus. Diese Männer kollaborierten während der Zeit des Indian Removal Act. Im Versuch, ihre Umsiedlung abzuwehren, entwarfen die Tsalagi im frühen 19. Jahrhundert unter der Führung von Männern wie Elias Boudinot, Major Ridge, John Ross und anderen eine Verfassung, die Frauen und Schwarze entrechtete. Modelliert nach dem Vorbild der Verfassung der Vereinigten Staaten, um deren Gunst sie warben, und unterstützt durch christliche Sympathisanten der Causa Tsalagi, stufte die neue Verfassung die Frauen der Tsalagi zu Eigentum herab.57 Bei den Tsalagi hatten Frauen zuvor die Macht gehabt, Krieg zu führen, über das Schicksal Gefangener zu entscheiden, mit dem Rat der Männer zu sprechen; sie hatten das Recht gehabt, an Entscheidungen der Politik beteiligt zu werden, das Recht, zu entscheiden, wen oder ob überhaupt sie heirateten, und das Recht, Waffen zu tragen. Der Rat der Frauen war politisch und spirituell machtvoll gewesen.58 Mit der Einführung patriarchaler Verhältnisse und der Vertreibung der Tsalagi verloren die Frauen alle diese Befugnisse und Rechte. Bei den Haudenosaunee verschob sich mit ihrer Unterwerfung die matrizentrierte, mutterrechtliche und von weisen Frauen angeführte politische Organisation der Gemeinschaft hin zu einer patriarchalen Gesellschaft. Dies wurde erreicht durch die Kollaboration mit Handsome Lake und seinen Gefolgsleuten. Gunn Allen zufolge waren viele der Gesellschaften gynäkokratisch, darunter die Susquehanna, die Wyandot, die Haudenosaunee, die Tsalagi, einige First Nations im Südwesten Nordamerikas, die Diné, die Ninuog, die Algonkin, die an der Küste lebten, und die Innu. Unter den 88 Gesellschaften, die Homosexualität anerkannten, erachteten folgende Homosexualität als positiv: die Apach*innen, die Diné, die Winnebago, die Cheyenne, die Pima, die Absarokee, die Shoshoni, die Paiute, die Osage, die Acoma, die Zuñi, die Sioux, die Pawnee, die Choctaw, die Muskogee, die Seminol*innen, die Illinois, die Mohave, die Shasta, die Alëut*innen, die Sauk und die Fox, die Iowa, die Kansa, die Yuma, die Aztek*innen, die Tlingit, die Maya, die Naskapi, die Ponca, die Maricopa, die Klamath, die Quinault, die

57 Ebd., S. 37. 58 Ebd., S. 36–37.

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Yuki, die Chilula und die Kamia. Bei 20 von ihnen gibt es auch spezifische Hinweise auf lesbische Liebe. Michael Horswell kommentiert die Verwendung des Begriffs drittes Geschlecht auf hilfreiche Weise. Ihm zufolge bedeutet drittes Geschlecht nicht, dass es drei Geschlechter gebe; vielmehr gehe es darum, mit der Binarität von Geschlecht zu brechen. Das »Dritte« ist emblematisch für andere mögliche Kombinationen als die der dimorphischen. Manchmal wird für drittes Geschlecht auch der Terminus berdache verwendet. Horswell nach sind männliche berdache in fast 150 nordamerikanischen Gesellschaften dokumentiert und weibliche in halb so vielen.59 Zudem erwähnt er, dass gleichgeschlechtlicher Sex, auch ritueller Art, in Anden-Gesellschaften und vielen anderen nativen Gesellschaften Amerikas dokumentiert ist.60 In der Kultur der Nahua und der Maya etwa spielte dieser Sex eine rituelle Rolle.61 Interessanterweise sahen Pete Sigal zufolge die Spanier gleichgeschlechtlichen Sex unter Männern als sündhaft an, die spanische Rechtsprechung aber verurteilte lediglich den aktiven und nicht den passiven Partner. In der spanischen volkstümlichen Kultur wiederum wurde schließlich der Sex zwischen Männern rassifiziert, indem die Praxis mit den »Mauren« assoziiert und der passive Partner diskreditiert und als gleichwertig mit einem »Mauren« angesehen wurde. Spanische Soldaten wurden als aktive Partner der passiven »Mauren« betrachtet.62 Gunn Allen hat uns nicht nur ermöglicht, zu sehen, wie eng Quijanos Konzeption von Gender mit Blick auf die Organisation der Ökonomie und der kollektiven Entscheidungsmacht ist, sondern sie hat auch offengelegt, dass die Wissensproduktion ebenso wie die Konzeption der Wirklichkeit selbst auf jeder Ebene vergeschlechtlicht ist. Gunn Allen unterstreicht, dass die Rolle der Biologie in der Konstruktion von Geschlechtsunterschieden hinterfragt werden muss, und führt die wichtige Idee ein, dass Geschlechterrollen erträumt und gewählt werden. Gunn Allen zeigt uns auch, dass die Heterosexualität, die charakteristisch ist für die moderne/koloniale Konstruktion von Geschlechterbeziehungen, produziert ist und auf einem Mythos aufbauend konstruiert wurde. Heterosexualität wird jedoch nicht nur auf fiktionale Weise biologisiert; sie wird zum Zwang und durchdringt die Kolonialität von Gender ganzheitlich in einem erneuerten, erweiterten Sinne, in dem der globale, eurozentrische Kapitalismus heterose-

59 60 61 62

Horswell, Toward an Andean Theory, S. 27. Ebd. Vgl. Sigal, Gendered Power, S. 104. Vgl. ebd., S. 102–104.

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xualistisch ist. Versucht man, die Tiefe und die Kraft der Gewalt in der Produktion sowohl der hellen als auch der dunklen Seite des kolonialen/ modernen Gendersystems zu verstehen, ist es meiner Ansicht nach unabdingbar, zu sehen, dass diese Heterosexualität durchweg pervers, gewaltsam und erniedrigend war und ist, dass sie Menschen zu Tieren degradiert und weiße Frauen zu den Reproduzentinnen »der weißen Rasse« und »der Mittel- oder Oberschicht« macht. Horswells und Sigals Arbeiten ergänzen diejenige Gunn Allens, insbesondere in ihrem Verständnis der Präsenz von gesellschaftlich anerkanntem (rituellem) gleichgeschlechtlichem Sex und männlicher Homosexualität im kolonialen und vorkolonialen Amerika. Das koloniale/moderne Gendersystem Für das Verständnis des Wesens und des Umfangs der Veränderungen in den sozialen Strukturen vorkolonialer Gesellschaften, die durch den kolonialen/modernen, eurozentrischen Kapitalismus aufgezwungen wurden, ist es essenziell, den Ort von Gender in diesen vorkolonialen Gesellschaften zu verstehen. Es waren langsame, diskontinuierliche und unterschiedliche Prozesse, die kolonisierte Frauen gewaltsam abgewertet und die zu diesen Veränderungen geführt haben. Das eingeführte Gendersystem war von der Kolonialität der Macht durchzogen. Den Ort von Gender in vorkolonialen Gesellschaften zu verstehen, ist zudem unabdingbar, um das Ausmaß und die Relevanz des Gendersystems zu erfassen, das zur Auflösung gemeinschaftlicher, egalitärer Beziehungen, rituellen Denkens, kollektiver Entscheidungsfindung, kollektiver Macht und der Art des Wirtschaftens beigetragen hat. Es ist also von zentraler Bedeutung, zu verstehen, in welchem Ausmaß die Durchsetzung dieses Gendersystems konstitutiv für die Kolonialität der Macht war – und umgekehrt – denn die Logik der Beziehung zwischen den beiden ist die einer gegenseitigen Konstituierung.63 In63 Sicherlich werden die Lesenden dieses Beitrags viel von dem, was ich hier sage, wiedererkennen – und einige werden denken, dass all das bereits gesagt wurde. Damit bin ich einverstanden, solange diese Erkenntnis von einer theoretisch-praktischen Anerkennung dieser wechselseitigen Konstituierung begleitet ist und praxistheoretisch gesehen wird als eine Konstituierung, die sich in der theoretischen, praktischen und praxistheoretischen Arbeit zeigt. Was jedoch, wie ich meine, neu ist, sind meine hier vorgestellte Herangehensweise an die Logik der Intersektionalität und mein Verständnis der Wechselseitigkeit von der Konstruktion der Kolonialität der Macht und vom kolonialen/modernen Gendersystem. Ich denke, dass beide notwendig sind, jedoch nur die logisch gegenseitige Konstruktion die Untrennbarkeit von Race und Gender zum Vorschein bringt.

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zwischen sollte klar geworden sein, dass das koloniale, moderne Gendersystem ohne die Kolonialität der Macht nicht bestehen kann, da die Klassifizierung der Bevölkerung mittels rassistischer Zuschreibung eine notwendige Bedingung ihrer Möglichkeit ist. Um das Gendersystem des globalen, eurozentrischen Kapitalismus in seiner ganzen Reichweite durchdringen zu können, müssen wir verstehen, inwieweit die Verengung des Konzepts von Gender auf die Kontrolle über Sex, seine Ressourcen und seine Produkte die Herrschaft über und durch Gender konstituiert. Um wiederum diese Verengung wie auch die Vermischung von rassistischer und geschlechtsspezifischer Zuschreibung zu verstehen, müssen wir darüber nachdenken, ob die vorkolonialen gesellschaftlichen Arrangements dem biologischen Geschlecht in allen Existenzbereichen unterschiedliche und andere Bedeutungen zugewiesen hatten. Dann erst können wir sehen, ob die Kontrolle über Arbeit, Subjektivität/Intersubjektivität, kollektive Entscheidungsmacht, Sex – Quijanos »Existenzbereiche« also – selbst vergeschlechtlicht war. Wenn wir die Kolonialität der Macht als gegeben ansehen, können wir, denke ich, zudem sagen, dass es charakteristisch für die gegenseitige Konstruktion der Kolonialität der Macht und des kolonialen/modernen Gendersystems ist, eine dunkle und eine helle Seite zu haben. Sowohl den biologischen Dimorphismus als auch die Position, dass Gender das biologische Geschlecht konstruiere, kritisch zu betrachten, hilft uns, Reichweite, Tiefe und Charakteristika des kolonialen/modernen Gendersystems zu verstehen. Es besteht der Verdacht, dass die Reduzierung von Gender auf das Private, auf die Kontrolle über Sex, seine Ressourcen und seine Produkte eine ideologische Angelegenheit, und damit Teil des gedanklichen Überbaus der Moderne. Diese hat zu einem geschlechtsspezifischen Verständnis rassistischer Zuschreibung und zu einem rassifizierten Verständnis geschlechtsspezifischer Zuschreibung geführt, das sich auf Europäer*innen/Weiße und Kolonisierte/ Nichtweiße unterschiedlich auswirkt. Rassistische Zuschreibung ist nicht mythen- oder fiktionsbehafteter als Gender – bei beidem handelt es sich um machtvolle Fiktionen. In der Entwicklung des Feminismus im 20. Jahrhundert wurde der rassifizierte Charakter von Gender, Klasse und Heterosexualität nicht explizit gemacht. Dieser Feminismus konzentrierte seinen Kampf und seine Wissens- und Theoretisierungswege darauf, sich gegen eine Charakterisierung von Frauen zu wehren, die sie als fragil, körperlich und geistig schwach, eingeschlossen ins Private und sexuell passiv beschrieb. Was er nicht zur Sprache brachte, war, dass diese Charakteristika nur für weiße bürgerliche Frauen galten. Tatsächlich haben weiße bürgerliche Feminist*innen das Frausein als Weiße theoretisiert, gerade so, als ob alle Frauen weiß wären. 183

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In der Beschreibung des Westens galten nur weiße bürgerliche Frauen durchgehend als Frauen; das ist Teil ihrer Geschichte. Weibliche Menschen, die von dieser Beschreibung ausgenommen waren, wurden ihnen aber nicht einfach untergeordnet; sie wurden vielmehr als Tiere betrachtet, und zwar in einem Sinn, der viel weiter ging als die Identifizierung weißer Frauen mit der Natur, mit Kindern und kleinen Tieren. Sie wurden als Tiere im starken Sinn der Geschlechtslosigkeit64 betrachtet und sexuell zwar als weiblich markiert, aber ohne mit Charakteristika von Weiblichkeit belegt zu werden65. Frauen, die als minderwertig rassifiziert wurden, wurden – je nachdem, wie es den Prozessen des globalen, eurozentrischen Kapitalismus gerade passte – in alle möglichen Versionen von »Frauen« verwandelt, womit sie dann nicht mehr als Tiere galten. So koexistierte die heterosexuelle Vergewaltigung indigener Frauen oder afrikanischer Sklavinnen mit dem Konkubinat und der Übertragung eines heterosexuellen Verständnisses der Geschlechterbeziehungen auf die Kolonisierten – immer so, dass es im Dienst des globalen, eurozentrischen Kapitalismus stand und die heterosexuelle Dominanz weißer Frauen bestärkte. Die Arbeit von Oyewùmí und Gunn Allen hat gezeigt, dass es keine Ausdehnung des Status’ weißer Frauen auf kolonisierte Frauen gab, selbst dort, wo diese zu Abbildern bürgerlicher weißer Frauen gemacht wurden. Kolonisierte Frauen wurden zwar zu minderwertigen Frauen gemacht, ohne dabei jedoch einige der Privilegien zu erhalten, die mit diesem Status weißer Frauen einhergingen – und das, obwohl Letzteren klar gewesen sein muss (das geht aus den Geschichten hervor, die Oyewùmí und Gunn Allen beschreiben), dass der Status weißer Frauen dem Status der Frauen in den vorkolonialen Gesellschaften Nordamerikas oder bei den Yoruba vor der Kolonisierung weit unterlegen war. Oyewùmí und Gunn Allen haben zudem gezeigt, dass das egalitäre Beziehungsverständnis zwischen anafemales, anamales und Menschen des dritten Geschlechts

64 Elizabeth Spelmans Interpretation der aristotelischen Unterscheidung zwischen freien Männern und freien Frauen in der griechischen Polis und zwischen Sklaven und Sklavinnen legte dies nahe. Wichtig ist, dass die Reduzierung von Frauen auf die Natur oder das Natürliche bedeutet, mit der rassistischen Reduzierung kolonisierter Frauen zu konspirieren bzw. sie anzuerkennen. Es gibt mehr als einen unter diesen lateinamerikanischen Denker*innen, der*die den Eurozentrismus verdammt, Frauen aber mit dem Sexuellen und dem Reproduktiven assoziiert. 65 Festzuhalten bleibt, dass es nicht dasselbe ist, als geschlechtslos zu gelten, weil man mit einem Tier identifiziert wird, oder weil man – und sei es begrifflich – keinerlei Geschlechtsmerkmale hat. Ein Geschlecht zu haben, ist also kein Charakteristikum für alle Menschen.

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in der Vorstellungskraft und den Praktiken der First Nations und der Yoruba verblieb. Dies aber ist eine Frage des Widerstands gegen Herrschaft. Der weiße Feminismus hat weiße Frauen großgeschrieben, indem er die Geschichte der Beziehung zwischen weißen und nichtweißen Frauen mitsamt der mündlichen Überlieferung auslöschte – und das, obwohl weiße bürgerliche Frauen ganz genau wussten und wissen, wie sie sich im Leben bewegen müssen, schließlich behandelt es sie völlig anders als nichtweiße Frauen oder Frauen der Arbeiter*innenklasse.66 Der Kampf weißer Feminist*innen richtete sich gegen die Positionen, Rollen, Stereotype, Charakterzuschreibungen und Sehnsüchte, die mit der Unterordnung weißer bürgerlicher Frauen einhergingen. Sie erkannten dabei keine anderen Formen vergeschlechtlichter Unterdrückung an. Frauen hatten für sie weiße Körper, aber diese Einschränkung entlang rassistischer Zuschreibung brachten sie nie zur Sprache oder zu klarem Bewusstsein. Sie haben sich selbst nie intersektional gedacht, das heißt als Personen, in denen sich rassistische (Nicht-)Zuschreibung, geschlechtsspezifische Zuschreibung und andere mächtige Merkmale der in den Körper eingeschriebenen Unterwerfung oder Beherrschung überschneiden. Da sie diese tiefgreifenden Unterschiede überhaupt nicht wahrnahmen, sahen sie auch keine Notwendigkeit, Koalitionen zu bilden. Sie gingen davon aus, dass eine Schwesternschaft, ein verbindendes Band allein schon durch die vergeschlechtlichte Unterwerfung gegeben sei. Historisch steht die Charakterisierung weißer europäischer Frauen als fragil und sexuell passiv der Charakterisierung nichtweißer, kolonisierter Frauen – einschließlich Sklavinnen – gegenüber. Diese wurden anhand einer Skala sexueller Aggression und Perversion und als stark genug für jegliche Form von Arbeit charakterisiert. Beispielsweise wurden die Sklavinnen, die im Süden der USA Knochenarbeit leisten mussten, nicht als fragil oder schwach gesehen. Zuerst kamen, angeführt von einem alten Fahrer, der eine Peitsche hatte, vierzig der stärksten und größten Frauen, die ich je in so großer Zahl gesehen hatte; sie trugen alle eine schlichte Uniform aus blauem Karostoff, die Röcke gingen ihnen bis knapp übers Knie; ihre Beine und Füße waren nackt; sie waren voller Stolz, jede trug eine Hacke über der Schulter, und ihr Gang hatte einen freien, kraftvollen

66 Die tiefgreifende Unterscheidung zwischen weißen Frauen der Arbeiter*innenklasse und nichtweißen Frauen wird anhand der verschiedenen Orte sichtbar, die sie in der evolutionären Rangfolge einnehmen. Hierzu: McClintock, Imperial Leather, S. 4.

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Schwung, wie Jäger auf dem Marsch. Hinter ihnen die Kavallerie, dreißigköpfig, zum Großteil Männer, aber auch ein paar Frauen, von denen zwei im gespreizten Sitz auf den Pflugtieren saßen. Ein schlanker und wachsamer weißer Aufseher auf einem lebhaften Pony bildete das Schlusslicht. … Bei Tagesanbruch müssen sie auf dem Baumwollfeld sein, und mit Ausnahme von zehn oder fünfzehn Minuten, die man ihnen mittags gibt, damit sie ihren Lohn in Form von kaltem Speck zu sich nehmen können, dürfen sie keine Sekunde lang untätig sein, bis es so dunkel wird, dass man nichts mehr sieht; aber bei Vollmond arbeiten sie oft bis Mitternacht.67 Patricia Hill Collins hat das vorherrschende Bild, das schwarze Frauen als sexuell aggressiv darstellt, und die Herkunft dieses Stereotyps aus der Sklaverei auf den Punkt gebracht: Das Bild von Jezebel entstammt der Sklaverei, als schwarze Frauen, um Jewelle Gomez’ Worte zu benutzen, als »sexuell aggressive Ammen« dargestellt wurden. Die Funktion des Jezebelstereotyps bestand darin, alle schwarzen Frauen als sexuell aggressiv kenntlich zu machen, um damit eine machtvolle Begründung für die weitverbreitete sexuelle Gewalt durch weiße Männer zu liefern, die typischerweise von schwarzen Sklavinnen berichtet wurde. Aber Jezebel hatte noch eine andere Funktion. Wenn schwarze Sklavinnen beschrieben wurden als solche, die exzessiven sexuellen Appetit hatten, so musste ja auch eine besonders stark ausgeprägte Fruchtbarkeit vorliegen. Indem sie verhinderten, dass afroamerikanische Frauen ihre eigenen Kinder stillten, was die Netzwerke schwarzer Familien gestärkt hätte, und sie zwangen, als Ammen für weiße Kinder zu arbeiten und ihre weißen Besitzer emotional zu nähren, verknüpften Sklavenbesitzer die Kontrolle ausübenden Bilder von Jezebel und Mammy strategisch mit der ökonomischen Ausbeutung, die der Institution der Sklaverei inhärent ist.68 Es sind aber nicht nur schwarze Sklavinnen, die außerhalb des Horizonts weißer bürgerlicher Weiblichkeit platziert wurden. In Imperial Leather erinnert Anne McClintock, wenn sie von Kolumbus’ Darstellung der Erde als Brust einer Frau schreibt, an die »lange Tradition männlicher Reisen als einer Erotik der Vergewaltigung«: 67 Takaki, A Different Mirror, S. 111. 68 Hill Collins, Black Feminist Thought, S. 82.

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Jahrhundertelang figurierten die ungekannten Kontinente – Afrika, Amerika, Asien – in der europäischen Wissensüberlieferung als libidinös erotisiert. Die Erzählungen von Reisenden wimmelten nur so von Bildern der monströsen Sexualität in fernen Ländern, wo, wie die Legende es wollte, die Männer mit Stolz gigantische Penisse trugen und Frauen mit Affen verkehrten, wo eine verweiblichte männliche Brust Milch gab und militarisierte Frauen ihre Brüste abhackten. … Innerhalb dieser tropischen Pornotradition figurierten Frauen als Inbegriff sexueller Verirrung und sexuellen Exzesses. Die Folklore betrachtete sie, mehr noch als die Männer, als zu laszivem Geschlechtsverkehr neigend, der so promiskuitiv war, dass er schon an das Bestialische grenzte.69 McClintock beschreibt darüber hinaus die koloniale Szene, die Jan van der Straet im 16. Jahrhundert als eine »›Entdeckung‹ Amerikas als erotisierte Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau darstellt«: Wachgerufen aus ihrer sinnlichen Apathie durch den epischen Neuankömmling, streckt die indigene Frau eine einladende Hand aus, die Sex und Unterwerfung signalisiert. … Vespucci, der gottgleiche Ankömmling, ist auserkoren, sie mit seinen männlichen Samen der Zivilisation zu begatten, die Wildheit zu befruchten und die zügellosen kannibalischen Szenen im Hintergrund zu bezwingen. … Die Kannibalen scheinen weiblich zu sein und grillen auf einem Spieß ein menschliches Bein.70 Im 19. Jahrhundert, so McClintock, »kam sexuelle Reinheit als Metapher der Kontrolle für ethnische, ökonomische und politische Macht auf«71. Mit der Entwicklung der Evolutionstheorie »wurden anatomische Kriterien für die Bestimmung der relativen Position von ›Rassen‹ in der menschlichen Rangfolge gesucht«72 und: »Der englische Mann der Mittelklasse galt als die Krönung der evolutionären Hierarchie. Die weiße englische Frau der Mittelklasse folgte ihm. Hausangestellte, Bergarbeiterinnen und Prosti-

69 70 71 72

McClintock, Imperial Leather, S. 22. Ebd., S. 25–26. Ebd., S. 47. Ebd., S. 50.

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tuierte der Arbeiterklasse wurden auf der Schwelle zwischen Weißen und Schwarzen positioniert.«73 Ähnlich äußert sich Yen Le Espiritu: Darstellungen von Gender und Sexualität spielen in der Artikulation von Rassismus eine große Rolle. Geschlechternormen in den Vereinigten Staaten basieren auf den Erfahrungen von Männern und Frauen der Mittelklasse mit europäischer Herkunft. Diese eurozentrisch konstruierten Geschlechternormen schaffen einen Horizont von Erwartungen an afroamerikanische Männer und Frauen – Erwartungen, deren Erfüllung oftmals von vornherein durch Rassismus unmöglich gemacht werden. Im Allgemeinen werden Men of Color nicht als Beschützer gesehen, sondern als Aggressoren und als Bedrohung für weiße Frauen. Und Women of Color werden übermäßig sexualisiert gesehen, wodurch ihnen nicht derselbe soziale und sexuelle Schutz zuerkannt wird wie weißen Frauen der Mittelklasse. Der Ausschluss asiatischer Amerikaner*innen von durch Weiße geprägten kulturellen Vorstellungen des Männlichen und des Weiblichen hat dabei zu ganz anderen Ausprägungen geführt: Asiatische Männer werden sowohl als hypermaskulin (die »gelbe Gefahr«) als auch als verweiblicht (die »Modelminderheit«) dargestellt; und asiatische Frauen sowohl als superfeminin (»China Doll«) als auch als kastrierend (»Dragon Lady«).74 Dieses Gendersystem verfestigte sich im Gleichzug mit der Konsolidierung von Europas kolonialem Projekt. Während der spanischen und portugiesischen Kolonialabenteuer nahm es Form an und blühte in der späten Moderne vollends auf. Das Gendersystem hat eine helle und eine dunkle Seite. Die helle konstruiert Gender und Geschlechterbeziehungen hegemonial, ordnet lediglich die Leben weißer bürgerlicher Männer und Frauen und konstituiert die moderne/koloniale Bedeutung von Mannsein und Frausein. Sexuelle Reinheit und Passivität sind Charakteristika, die weißen bürgerlichen Frauen zugeschrieben werden; sie reproduzieren ihre eigene Klasse und die koloniale und ethnische Stellung bürgerlicher weißer Männer. Ebenso bedeutend hierfür ist aber ihr Ausschluss aus der Sphäre kollektiver Entscheidungsmacht, aus der Wissensproduktion und von weiten Teilen der Kontrolle über die Produktionsmittel. Ihre geistige und körperliche Schwäche ist dabei essenziell für die Abwertung und den Ausschluss weißer bürgerlicher Frauen aus den meisten Bereichen des Lebens und weiten Teilen der menschlichen Existenz. Das Gendersystem ist insofern

73 Ebd., S. 56. 74 Espiritu, Race, Class, and Gender, S. 135.

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heterosexualistisch, als die Heterosexualität die rassifizierte patriarchale Kontrolle über die Produktion, Wissensproduktion und kollektive Entscheidungsmacht durchdringt. Heterosexualität zwischen weißen bürgerlichen Männern und Frauen ist sowohl verpflichtend als auch pervers, da das Arrangement den Befugnissen und Rechten weißer bürgerlicher Frauen erhebliche Gewalt zufügt und der Reproduktion der Kontrolle über die Produktion dient. Weiße bürgerliche Frauen werden durch die Bindung des sexuellen Zugangs in diese Abwertung hineinzugezwungen. Die dunkle Seite des Gendersystems war und ist zutiefst gewaltsam. Wir haben die weitreichende Abwertung gesehen, der die anamales, anafemales und Menschen, die einem dritten Geschlecht angehören, ausgesetzt sind – von ihrer vormaligen Allgegenwärtigkeit in Ritualen sowie ihrem Anteil an Entscheidungsmacht und Ökonomie sowie ihre Abwertung zum Tierhaftem, zum erzwungenen Sex mit weißen Kolonisatoren bis hin zu so brutaler Arbeitsausbeutung, dass regelmäßig Menschen bei der Arbeit starben. Bei Quijano heißt es: »Der umfassende Völkermord an den indigenen Bevölkerungen in den ersten Jahrzehnten der Kolonialisierung wurde im Wesentlichen nicht durch die Gewalt der conquista oder die von den Eroberern eingeschleppten Krankheiten verursacht, sondern durch die Tatsache, dass jene Menschen als entbehrliche Arbeitskräfte ausgenutzt und gezwungen wurden, bis zum Tode zu arbeiten.«75 Ich möchte auf die Verbindung zwischen den Arbeiten, die ich hier im Rahmen meiner Ausführung zur dunklen Seite des modernen kolonialen Gendersystems zitiert habe, und auf Quijanos Kolonialität der Macht hinweisen. Anders als weiße Feminist*innen, die keinen besonderen Fokus auf den Kolonialismus gerichtet haben, sehen diese Theoretiker*innen rassistische Unterscheidungen in der Geschlechterkonstruktion ganz deutlich. Bis zu einem gewissen Grad verstehen sie Gender in einem weiteren Sinne als Quijano; sie denken nicht nur an die Kontrolle über Sex sowie seine Ressourcen und Produkte, sondern auch an Arbeit, insofern sie sowohl rassifiziert als auch geschlechtsspezifisch markiert ist. Das heißt, sie sehen eine Verbindung zwischen Arbeit, Sex und der Kolonialität der Macht. Oyewùmí und Gunn Allen etwa haben uns geholfen, das Ausmaß der Rolle des kolonialen/modernen Gendersystems bei der Konstruktion kollektiver Entscheidungsmacht, bei allen Aspekten der Beziehung zwischen Kapital und Arbeit und bei der Konstruktion von Wissen zu verstehen.

75 Quijano, Colonialidad del Poder, Eurocentrismo y América Latina. S. 784 / Quijano, Kolonialität der Macht, S. 36.

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Hinsichtlich der detaillierten Beschreibung dessen, was ich das moderne koloniale Gendersystem nenne, ist bereits wichtige Arbeit geleistet worden.76 Aber es gibt noch viel zu tun. Mit der vorliegenden sehr groben Skizzierung möchte ich das Gespräch und das Projekt einer kooperativen, partizipatorischen Forschungsarbeit und Bildung von unten eröffnen, anhand derer wir beginnen können, zu sehen, wie die Mechanismen des kolonialen/modernen Gendersystems in all ihren Details und in ihrer Verstrickung mit der Kolonialität der Macht bis in die Gegenwart hinein wirken. Diese gemeinsame Arbeit soll uns helfen, uns gegenseitig zu animieren, die Kolonialität der Macht in all ihren Formen zurückzuweisen und uns zu einer gemeinschaftlichen liberatorischen Integrität zu verpflichten. Wir müssen verstehen, wie das Soziale organisiert ist, um unsere Kollaboration mit systematischer, rassifizierter Geschlechtergewalt sichtbar zu machen, sodass es unvermeidbar wird, sie in den Landkarten unserer Wirklichkeit anzuerkennen.

Im Original: Heterosexualism and the Colonial/Modern Gender System. Hypatia: A Journal of Feminist Philosophy 22, 1, 2007, 186–209.

Übersetzung von Miriam Frank. Es lektorierten Maria Cárdenas und Karina Theurer.

76 Mir ist klar, dass es eine uneindeutige Zwischenzone zwischen der hellen und der dunklen Seite gibt, die weiße Frauen als Bedienstete, als Minenarbeiterinnen, als Wäscherinnen oder Prostituierte wahrnimmt/sich vorstellt/konstruiert. Sie werden in uneindeutiger Weise rassifiziert, allerdings nicht als weiß, und sie werden nicht zwingend durch die Brille der Geschlechterbinarität gesehen. Dazu: McClintock, Imperial Leather. Ich arbeite daran, diesen wichtigen und komplexen Punkt einzubeziehen.

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… Nayrapacha: alte Zeiten. »Alt« jedoch nicht im Sinne einer toten Vergangenheit, die keine Möglichkeiten zur Erneuerung bietet. Sondern »alte Zeiten« im Sinne dessen, dass die Welt, so wie sie jetzt ist, umkehrbar sein kann, dass die Vergangenheit auch Zukunft sein kann. Carlos Mamani Condori Für uns als Nachkommen der Spanier, ob nun direkt von der Halbinsel oder Criollos, sollte eine Million tote Indios mehr oder weniger nicht von Belang sein. Augusto Céspedes In einer früheren Arbeit1 habe ich bereits versucht, das Abigarramiento2 der heutigen bolivianischen Gesellschaft mit dem Fortdauern von ungleichzeitigen Widersprüchen nach Ernst Bloch zu erklären, die in drei historischen 1 Rivera Cusicanqui, Liberal Democracy and Ayllu Democracy. 2 [Anm. d. Hg.: Rivera Cusicanqui bezieht sich auf das gleichnamige Konzept von Zavaleta Mercado, René: Lo nacional-popular en Bolivia. México: Siglo Veiniuno Editores: 1986. Mit dem Begriff, der auf Deutsch Buntheit, Vielschichtigkeit oder Vielseitigkeit meint, verweist sie auf die Situation, die aus der Kolonisation resultiert: die Unterdrückung der Heterogenität mitsamt der ihr innewohnenden Konfliktivität und Widersprüchlichkeit und der zeitlich parallel verlaufenden Ungleichzeitigkeit bzw. das Überlappen unterschiedlicher historischer Momente (dem liegt kein lineares, sondern ein eher spiralförmiges Zeitkonzept zugrunde). Sie verwendet für die Beschreibung des Abigarramiento das Aymarakonzept des Chi’xi – die Koexistenz zweier oder mehrerer Komponenten, die sich vermischen, ohne sich dabei aufzulösen. Für Rivera Cusicanqui beinhaltet das Abigarramiento daher immer auch das Potenzial des Widerstands gegen die hegemoniale Ordnung. Ausführlich dazu: Rivera Cusicanqui, Silvia: Ch’ixinaka utxiwa: Eine Reflexion über Praktiken und Diskurse der Dekolonisierung. Garbe, Sebastian, Cárdenas, María, und Sempertegui, Andrea (Hg.). Münster: Unrast Verlag: 2018. Wir verwenden Abigarramiento (Substantiv) oder abigarrado (Adjektiv).]

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Horizonten verschiedener Tiefe und Dauer verankert sind. Folgende Horizonte bzw. historische Zyklen interagieren dabei miteinander auf unserer gegenwärtigen Zeitoberfläche: a) Der koloniale Zyklus bildet ein tief liegendes Substrat von Vorstellungen und sozialen Praktiken, aus dem sich die Formen des Zusammenlebens und die Verständnisse von Gemeinschaft im heutigen Bolivien nähren. Vor allem die Vorstellungen und sozialen Praktiken, die Konflikte und kollektive Verhaltensmuster im Zusammenhang mit Ethnizität strukturieren, bezeichne ich im Folgenden als internen Kolonialismus3. Während der Zeit des formalen Kolonialismus wurde die Polarisierung und Hierarchie zwischen ursprünglichen Kulturen und westlicher Kultur als Gegensätze zwischen Christentum und Paganismus definiert – zum Zwecke der kulturellen Disziplinierung. Dies beinhaltete eine Schuldzuweisung und folglich die Verbannung der »Häresie« und all jener, die ihrer beschuldigt wurden (wie die meisten Indios4 und Mestizos), in eine vorsoziale und untermenschliche Welt, die durch Exklusion und Kulturausübung im Geheimen geprägt war. b) Der liberale Zyklus bringt die Anerkennung der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen. Im Kontext der oligarchischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts jedoch ist diese an zahlreiche kulturelle Zivilisierungsmaßnahmen geknüpft, die eine neue und unerbittliche Disziplinierung beinhalten: die Individualisierung und den Bruch mit gemeinschaftlichen und kommunalen Zugehörigkeiten. Gerechtfertigt wird dies durch die an das aufgeklärte Bild des Bürgers geknüpften vorgeblichen Rechte. Dieser Prozess, der in Europa das Ergebnis jahrhundertelanger kultureller und

3 [Anm. d. Hg.: Rivera Cusicanqui meint damit nicht einen internen Kolonialismus im Sinne eines Unterlegenheitskomplex der Kolonisierten, sondern bezieht internen Kolonialismus auf die gesellschaftlichen Strukturen, die die Intergruppenbeziehungen bis heute entlang von Ethnizität organisieren, sei es über physische, epistemische, kulturelle oder psychologische Gewalt. Dies beinhaltet insbesondere auch einen Überlegenheitskomplex entlang Bildung und Klasse.] 4 [Anm. d. Hg.: Im Spanischen bezeichnet dieser Begriff Menschen indigener Herkunft und ist als Fremdbezeichnung aufgrund seines derogativen Charakters problematisch. Seit einigen Jahren wird er von indigenen Personen als positive Selbstbezeichnung verwendet. Rivera Cusicanqui verwendet diesen Begriff der ethnischen Zugehörigkeit bewusst, weshalb er im vorliegenden Text im Original bestehen bleibt. Ebenso benutzt die Autorin Begriffe wie Cholos/-as (im städtischen Raum lebende Indigene), Mestizos/-as (Nachfahren von Europäer*innen und Indigenen) und Criollo/-as (Nachfahren der Europäer*innen auf dem amerikanischen Kontinent) bewusst, da sie das Fortbestehen eben dieser kolonialen Identitätskonstruktionen und Intergruppenhierarchien und -beziehungen analysiert.]

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ökonomischer Homogenisierung war, ist hier mit Strukturen und Praktiken des vorherigen Zyklus verknüpft und wandelt sich so in eine erneuerte, paradoxe Verstärkung der Ausgrenzung, die über die Negierung des Menschseins der Indios gerechtfertigt wird. In dieser Phase ab Ende des 19. Jahrhunderts entsteht ein neuer Komplex grundlegender Annahmen, die das hegemoniale Fundament der staatlichen und kulturellen Reformen sein werden. Der Sozialdarwinismus und der Antagonismus zivilisiert/wild (so wie vormals der Gegensatz Christ/Ketzer) dienen innerhalb dieses neuen Dogmas dazu, die Polarisierung und Hierarchie zwischen westlicher Kultur und ursprünglichen Kulturen aufrechtzuerhalten und erneut gewaltsam gegen die indigene Territorialität vorzugehen, die nur mit der ersten Phase der kolonialen Plünderung verglichen werden kann. c) Schließlich beginnt 1952 der populistische Zyklus, der sich über die beiden vorherigen Zyklen legt und mit ihnen interagiert und in dem die bereits im Liberalismus begonnene Individualisierung und der Ethnozid fortgeführt werden. Dafür wurden bei einer zentralisierenden Staatsreform besonders effiziente Mechanismen geschaffen: die massive Ausbreitung der Schule auf dem Land, die Erweiterung des internen Marktes, das allgemeine Wahlrecht und eine umfangreiche, auf Parzellenwirtschaft abzielende Landreform. All dies trug zur Auslöschung der gemeinschaftlichen und ethnischen Identitäten sowie der kulturellen Vielfalt der bolivianischen Bevölkerung bei. Im politischen Bereich wurde die De-facto-Demokratisierung, die von den aufständischen Bewegungen gefordert wurde, durch eine umfangreiche zentralisierte Klientelpolitik in neue Mechanismen kanalisiert, die der Unterordnung des »Pöbels« (bestehend aus Cholos und Indios) dienten. Diese Klientelpolitik verwandelte Staat und Politik in einen exklusiven und ausgrenzenden Raum in den Händen einer chamäleonhaften Herrenkaste, die die Reform einzig als Instrument benutzte, um zu »verändern, ohne dass sich etwas verändert«. Die Gegensätze Entwicklung/ Unterentwicklung oder Modernität/Rückständigkeit ersetzten so einen alten manichäischen Habitus und werden im Sinne der pädagogischen Effizienz eines zunehmend interventionistischen und zentralisierteren Staates bis heute zum Ausschluss und zur kulturellen Disziplinierung angewendet. Somit stellten sowohl die kolonialen als auch die aus den liberalen und populistischen Reformen hervorgegangenen Transformationen sukzessive Invasionen und Aggressionen gegen die sozialen, territorialen, ökonomischen und kulturellen Organisationsformen der Ayllus und der ursprünglichen Bevölkerungsgruppen aus der Andenregion ebenso wie aus den östlichen Tiefebenen dar. In diesem Prozess verhielt sich die indigene Bevölkerung des heutigen Boliviens nicht wie eine träge und passive Masse; seit 195

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der Ankunft der Spanier auf ihrem Territorium leistete sie auf verschiedene Weise sowohl gegen die Konsolidierung der kolonialen Ordnung Widerstand als auch gegen die folgenden Reformphasen, die überarbeitete Mechanismen der kulturellen und materiellen Unterdrückung und Ausbeutung einführten. In dieser dialektischen Opposition zwischen Invasoren und Unterworfenen liegt in einem Land wie dem unseren ein wesentlicher Mechanismus zur Konstruktion und Transformation von Identitäten. Wie an späterer Stelle nochmals ausführlich gezeigt wird, wurden die pluralen ethnischen Identitäten, die der multiethnische Staat des Tawantinsuyu umfasste, einem hartnäckigen Homogenisierungsprozess unterworfen, der neue Identitäten schuf: Indio/-a, aber auch Aymara und Qhichwa können als koloniale Identitäten bezeichnet werden, da sie – so, wie sie konstruiert sind – bereits die Spuren der rassistischen Typisierung, der kulturellen Intoleranz und das Streben nach einer »Kolonisierung der Seelen« in sich tragen. Somit können wir festhalten, dass die tiefgreifenden kolonialen Widersprüche – sowie diejenigen, die als Ergebnis der liberalen und populistischen Reformen entstanden sind – auch heute noch entscheidende Elemente bei der Bildung von kollektiven Identitäten in einer abigarrada Gesellschaft wie der bolivianischen sind. Das komplexe Wechselspiel von Widerständen und Anpassungen zwischen indigener Bevölkerung und Kolonisator*innen in einem Land, in dem sich noch heute 60 Prozent der Bevölkerung (sowohl auf dem Land als auch in den Städten) mit einem der Pueblos Indígenas identifiziert, hat wichtige Auswirkungen auf die Debatte über strukturelle Gewalt. Im Hinblick auf die Gewaltursachen ist zu betonen, dass eine Criollominderheit westlicher Herkunft seit Jahrhunderten die Staatsmacht sowie die lenkenden und ordnenden Funktionen mit Blick auf die gesamte Gesellschaft monopolisiert und in privilegierter Weise über die staatlichen Dispositive und Räume der sozialen Macht verfügt, die es ihr erlauben, einseitig Normen des Zusammenlebens vorzugeben, die wiederum der gesamten Gesellschaft aufgezwungen werden. Dies wird auf den ersten Blick durch die Feststellung bestätigt, dass die Rebellionen und andere Widerstandsformen, die von den indigenen und nichtindigenen Bevölkerungsgruppen ausgingen, historisch grundsätzlich auf die nacheinander eintretenden Reformwellen und staatlichen Modernisierungsprozesse reagierten. Auch wenn wir uns im Weiteren auf den Fall der Aymara konzentrieren, liegt der Fokus dabei auf den lang andauernden, thematischen und symbolischen Kontinuitäten und der darauf aufbauenden Geschichtswahrnehmung, die sich in den gegenwärtigen indigenen Forderungen ebenso widerspiegelt wie in der Wiederverwertung und Erneuerung der Herrschafts-

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systeme durch die Verbindung eines tief liegenden kolonialen Horizonts mit den neueren Zyklen des Liberalismus und des Populismus. Die multiethnische vorkoloniale Gesellschaft Die Identität der Aymara, wie sie heute bekannt ist, begann sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts herauszubilden, denn das soziale und kulturelle Panorama der Anden hatte in der prähispanischen und auch in der frühen Kolonialzeit noch aus einem abigarrado Mosaik aus verschiedenen Ethnien, Sprachen und Zugehörigkeitsformen bestanden. In diesem Panorama spielten die Sprachen Aymara und Pukina, wie von Thérese Bouysse-Cassagne dargestellt, lediglich die Rolle der Lingua franca zwischen der Vielzahl von Ayllus, Markas und der ethnischen Föderationen entlang einer Wasserscheide am Titicaca- und am Poopósee; sicherlich aber empfanden diese Gemeinschaften sich nicht als Teil desselben »Volkes«. Ohne Zweifel war es die koloniale Erfahrung, die ihre erzwungene Vereinigung hervorbrachte, indem sie die Vielfalt der Pueblos Indígenas und ihre Identitäten zur kollektiven Anonymität homogenisierte und degradierte, was sich heute in den Existenz- und Handlungskoordinaten der Indios, also der Kolonisierten, widerspiegelt.5 In prähispanischen Zeiten bot die für die andinen Ökosysteme typische »vertikale Ausrichtung der Landschaften« die materiellen Grundlagen dafür, dass die Bevölkerung die enormen Unterschiede in Höhe, Feuchtigkeit und Ressourcenverteilung der verschiedenen ökologischen Plateaus kreativ nutzen konnte und komplexe ökonomisch-politische Systeme entwickelte, in denen sich die verschiedenen ethnischen Gruppen und lokalen Bevölkerungen durch Netzwerke der Gegenseitigkeit, Umverteilung und Leiharbeit miteinander verbanden. Es entstanden Organisationen von verschiedenen territorialen und demografischen Ausmaßen, deren Kern das Ayllu oder Jatha war. Diese territorialen und verwandtschaftlichen Einheiten verbanden verwandte Abstammungslinien miteinander und gehörten segmentierten, dualen Hierarchien verschiedener demografischer Ausmaße und Komplexität an. Seit Präinkazeiten bedeutete diese gleichzeitige Zugehörigkeit zu verschiedenen Ebenen der segmentierten, dualen Struktur, dass die Gemeinden auf Ressourcen von teilweise sehr weit entfernten ökologischen Plateaus zurückgreifen konnten, wo verschiedene Gruppen in einem multiethnischen Mosaik zusammenlebten, ohne eines vereinheit5 Bouysse-Cassagne, La identidad aymara, S. 101–128.

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lichenden staatlichen Systems zu bedürfen.6 Diese komplexe andine soziale Organisation ist mit den Symbolen des Ma-Jongg-Spiels verglichen worden, die untereinander durch rituelle und symbolische Beziehungen verbunden sind, wobei die oberen Stufen hinsichtlich ihrer Dominanz gegenüber den unteren Stufen über eine hohe Legitimität verfügen. All diese Mechanismen wurden vom Tawantinsuyu genutzt, um auf staatlicher Ebene das ökonomische und ideologische System neu zu organisieren, auf das sich die Beherrschung und Verführung der Nationen und ethnischen, im Staat inkorporierten Gruppen gründete. Die Verwandtschaftsmetapher erlaubte den Inkas, ihre Organisation nicht nur räumlich, sondern auch militärisch und administrativ als System zu kodieren, in dem gleichermaßen Raum für die Anerkennung der Beherrschten sowie der älteren Bevölkerungsgruppen oder Ethnien war. Die Toleranz und die symbolische Artikulation der ethnischen, ungleichzeitigen Schichten dieser Zeit stellten somit originelle Lösungen dar, die die staatliche Organisation des Tawantinsuyu der andinen, pluriethnischen und vielfältigen Gesellschaft bot.7 Das soll allerdings nicht bedeuten, dass die prähispanische Gesellschaft ein friedliches Gefilde gewesen wäre. Die Existenz interethnischer Konflikte und Machtkämpfe zwischen verschiedenen Inkafamilien scheinen vielmehr struktureller Teil ihrer Organisation und internen Dynamik gewesen zu sein. Bei der großen räumlichen Ausdehnung müssen das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen, von denen sich viele in unterschiedlichen Gebieten bewegten, sowie die staatliche Neuordnung der andinen Institutionen viel Konfliktpotenzial und ständige, schwierige Umgewöhnungen mit sich gebracht haben. Bei Ankunft der Fremden befand sich die Gesellschaft des Tawantinsuyu in einem Moment besonders massiver interner Widersprüche: im Bürgerkrieg zwischen den Brüdern Waskar und Atawallpa. Den Spaniern fiel es nicht schwer, die Situation für ihren Sieg auszunutzen, womit ein Zyklus der zutiefst gewaltsamen und illegitimen Beherrschung begann, der nur mithilfe des andinen Konzepts Pachakuti beschrieben werden kann, das auf Qhichwa und Aymara Revolte oder Erschütterung des Universums bedeutet.8

6 Murra, Formaciones económicas. 7 Szeminski, La utopía tupamarista; Bouysse-Cassagne, La identidad aymara, S. 304. Dennoch schlussfolgert sie auf anachronistische Weise, die Inkas seien »Kolonisatoren« der Aymara gewesen, ebenso Letztere der Uru. 8 Pacha = Zeit und Raum; kuti = Umdrehung, Turnus, Revolution. Wie viele andine Begriffe kann Pachakuti zwei entgegengesetzte und sich ergänzende (wenn auch teils antagonistische) Bedeutungen haben: Katastrophe wie auch Erneuerung.

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Die Form der kolonialen Herrschaft: Gewalt, Ausgrenzung und Kolonisierung der Seelen Die Invasion und Plünderung der Tempel, der »Tod der Götter« und die brutale Aggression gegen alle Aspekte der indigenen Gesellschaft zerstörten nicht nur die symbolische Struktur und die ethisch-politische Ordnung (die Welt steht Kopf, wie Waman Puma so oft erwähnt), sondern sie waren ein offen durchgeführter Genozid. Mit den neuen Göttern kamen Plagen und Krankheiten, die den Andenbewohner*innen vorher unbekannt waren. Zusammen mit den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Erobernden und den Massakern gegen die Zivilbevölkerung machten sie die demografische Katastrophe deutlich, die die eroberte Bevölkerung verwüstete: Nach den Berechnungen von Wachtel verringerte sich die Bevölkerung von schätzungsweise sieben bis acht Millionen Einwohnern im Jahr 1530 in den ersten 30 Jahren der Conquista um 60 bis 65 Prozent und bis 1590 etwa um weitere 40 Prozent.9 In der letzten Periode unter der Verwaltung des Vizekönigs Francisco de Toledo wurden die ökonomischen und politischen Grundlagen der kolonialen Gesellschaft mit der weiteren Dezimierung der bis dato zerstreut lebenden Bevölkerung durch die Zwangsumsiedlung in Dörfer, die Vereinheitlichung des Tributs als monetäre Zahlung, die Reglementierung der Mit’a oder der Zwangsarbeit im Bergbau und die Zwangskatechisation perfektioniert. Allerdings fand diese erneuerte Offensive nicht im luftleeren Raum statt: Notwendig war zunächst die Niederschlagung von zwei eng miteinander verbundenen Widerstandsbewegungen, die zwischen den 1530er- und 1570er-Jahren aufblühten: die indigene Widerstandsbewegung oder das Takiy Unquy, die bzw. das in Wamanqa begann und sich bis La Paz und Chuquisaca im Süden ausbreitete, und die Rebellion des Inkastaats von Willkapampa in der Gegend von Qusqu. Das Takiy Unquy (Quichwa, wörtlich: takiy = Tanz, unquy = Krankheit) war in erster Linie ein kollektives Phänomen religiösen Widerstands, das die Christianisierung radikal ablehnte und die Wiedereinführung des präinkaischen Kults der Wak'a oder des Ahnenkults forderte. Beim zweiten Bündnis handelte es sich um eine politische Widerstandsbewegung, die 1536 unter dem Kommando von Manqu Inka und seinen Nachfolgern entstand und waghalsig versuchte, entweder die Spanier zu besiegen und zu vertreiben oder aber Verhandlungen aufzunehmen, die auf einen parallel existierenden autonomen Inkastaat abzielten. Nachdem sie Qusqu bela-

9 Wachtel, Los vencidos, S. 140–141.

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gert und einzunehmen versucht hatten, flüchteten die Aufständischen für mehr als drei Jahrzehnte in die subtropische Region von Willkapampa, wo sie eine Art freies Territorium einrichteten – das allerdings nicht frei von Plagen war. Die Ergreifung von Tupaq Amaru I., dem Nachfolger von Wayna Quapaq Inka, und seine Enthauptung in Qusqu 1572 erneuerten die traumatische Erinnerung an den Tod von Atawallpa und bestätigten die kosmische Erschütterung, die der koloniale Zustand für die Indigenen bedeutete.10 Die Niederlage beider Bewegungen festigte die Spaltung zwischen Indios und Spaniern, die sich zu einer der wesentlichen Kennzeichen der kolonialen Situation entwickeln würde. Ab diesem Zeitpunkt entstand eine mythische Wahrnehmung des Eroberers, die bis heute fortlebt: Nach dieser Idee ist er nicht gänzlich menschlich, sondern ein bösartiges Wesen: der lik’ichiri oder kharisiri (auf Quichwa oder Aymara jemand, der das Fett schneidet oder extrahiert), der gekommen ist, um die Menschen zu vernichten, indem er ihnen das untu – das Fett – wegnimmt, das nach der indigenen Vorstellung die wichtigste vitale Körperflüssigkeit ist. Die Zeit unter Francisco de Toledo war so gesehen eine brutale Erneuerung des kolonialen Zustands, eine Herrschaft, die auf körperlicher Gewalt und der »Kolonisierung der Seelen«11 beruht. Allerdings machen diese Episoden den Charakter des indigenen Widerstands deutlich, bei dem die politische Dimension (bewaffnet oder verhandelt) eng mit der Verteidigung einer symbolischen Ordnung und einer kulturellen Weltanschauung verknüpft ist. Diese spiegelt sich in der Ausübung von rituellen Praktiken und überlieferten Bräuchen wider, aus denen beständig moralische Kraft und Legitimität gezogen werden, um die koloniale Ordnung infrage zu stellen. Ab dem 17. Jahrhundert fand die

10 Szeminski stellt fest, dass die Indios den Pachakuti »in einem Moment zwischen dem Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen Ataw Wallpa Inka und Washkar Inka und der Enthauptung von Thupa Amaro Inka im Jahr 1572« wahrnahmen. Bezeichnenderweise deutet er zudem darauf hin, dass der Vizekönig Francisco de Toledo »von den Indigenen Pacha-Kuti genannt wurde«. (Vgl. Wachtel, Los vencidos, S. 269–291; Szeminski, La utopía tupamarista, S. 125–126). 11 Dieser Begriff, dem gleichnamigen Werk von Fernando Mires entnommen, bezieht sich auf die Einrichtungen der spanischen Mission in Amerika. Hier wird er in einem weiteren Sinn nicht nur in Bezug auf die religiöse Unterweisung und Kolonisierung verwendet, sondern auch auf die vielen anderen Mechanismen (wie die Schule oder die umfassende Vorstellung von »Zivilisation«), die im Laufe der Geschichte von den dominanten Eliten genutzt wurden, um den Indigenen die Verneinung ihrer eigenen Identität aufzuzwingen und die Vorstellungen der westlichen Welt einzuimpfen: Mires, La colonización de las almas.

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Spaltung zwischen der indigenen und der spanischen Welt auch auf juristischer Ebene ihren Ausdruck, indem ein Katalog von »Schutzmaßnahmen« für die indigene Bevölkerung ausgegeben wurde, der sich 1680 in einen Korpus von allgemeinem Recht verwandelte: die Recopilación de leyes de los reynos de las Indias (Gesetze der Neuen Welt). Diese Gesetzgebung betrachtete die koloniale Welt als zweigeteilt in die Republik der Spanier und die Republik der Indios, was durch mittelalterliche Prinzipien inspiriert war, die die Existenz von verschiedenen Sondergerichtsbarkeiten oder besonderen Rechtsprechungen anerkannten, die durch unterschiedliche Gerichtshöfe, Regeln und Rechte reglementiert werden sollten.12 Aus der Perspektive des Kolonialstaats war die physische und normative Trennung der beiden Bevölkerungsgruppen notwendig, um die völlige Vernichtung der indigenen Arbeitskraft zu vermeiden und die privaten Interessen der Kolonisatoren zu begrenzen.13 Doch aus der Perspektive der Indios spiegelte die Idee der »zwei Republiken«, die sich gegenseitig anerkannten, auch wenn sie räumlich und politisch getrennt blieben, die komplexe Vision ihres eigenen Territoriums wider, das für sie kein lebloser, mit Linien auf einer Karte umrissener Raum war, sondern damit auch zu einem Gerichtsbezirk oder Geltungsbereich der eigenen Regierung wurde. Im »Minimalprogramm« vieler antikolonialer indigener Bewegungen von 1572 bis heute finden sich Spuren dieser alten Wahrnehmung. Auf diese Weise erzeugte der gewaltsame »Friede« von Toledo – trotz der ungleichen Bedingungen – eine neue Normativität, in der indigene Auffassungen einer »guten Regierungsführung« nicht abwesend waren. Auch wenn die faktische Niederlage nicht rückgängig gemacht werden konnte, musste den Besiegten wenigstens das Recht zuerkannt werden, das, was von ihren Gebieten geblieben war, zu bewahren, sich von ihren eigenen ethnischen Autoritäten (den Maljkus, Kuraqas oder Caciques de sangre) regieren zu lassen und sich als direkte Untergebene des Königs von Spanien auf das Sonderrecht der indigenen Gesetzgebung zu berufen. Diese Rechte wurden Teil der kollektiven Erinnerung der Aymara, als hätte im 16. Jahrhundert eine Art ausgehandelter Waffenstillstand zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten stattgefunden. Im Gegenzug akzeptierten die Indios den rotierenden Verleih von Arbeitskraft (Mit’a) und die Bezahlung von Steuern (Tasa) und fügten die fremden Gottheiten ihrem Pantheon 12 Salomon, Ancestor cults; Hampe Martínez, Continuidad en el mundo andino. 13 Erwiesen ist, dass die Kolonisatoren bis hin zur Ausrottung gingen, selbst wenn es dadurch zu Arbeitskraftmangel kam: daher auch die »ideologische Vernunft« der Sklaverei oder der Migration von der Peripherie ins Zentrum in kolonialen Kontexten. So auch Fanon, Los condenados de la tierra.

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hinzu. Die Bemühung um kulturelle Tarnung würde später zu einer komplexen Verbindung aus europäischen Bestandteilen und der andinen Identität führen, deren Zukunft bereits durch die koloniale Erfahrung gezeichnet war. In der territorialen Frage (die sowohl in der kolonialen als auch in der republikanischen Phase die größte Konfliktursache war) spiegelten sich diese Rechte darin wieder, dass die titulos de composición y venta von den kolonialen ethnischen Autoritäten erworben werden konnten. Mit der Zeit gelang es mithilfe dieser kolonialen Titel (von den Aymara Anfang des 20. Jahrhunderts nayra titulu o chullpa titulu genannt)14, die Erinnerung an die ethnische Identität innerhalb der von den Spaniern eingeführten Landkarten und territorialen Konzepte einzukapseln und zu erneuern, in die so trotz allem heilige Raumvorstellungen einsickerten und sogar zum Aufbau von ethnischen »Inseln« oder gar diskontinuierlichen ethnischen Territorien auf unterschiedlichen ökologischen Ebenen führten. Im republikanischen Kontext verwandelten sich diese kolonialen Titel in wertvolle Instrumente für die Verteidigung der ethnischen Territorien gegen die gierige Expansion des Criollogroßgrundbesitztums. Gemeinsam mit der Idee von nuestra ley oder einer Ley de Indios (im Unterschied zur Ley de Indias) gehörten die nayra titulu zu einer ausgefeilten indigenen Vision, die zwischen der Rebellion von Pablo Zarate Willka (1899) und der Mobilisierung der bevollmächtigten Caciques15 (1914–1932) kontinuierlich die tatsächliche (koloniale) Natur der liberalen Reformen, die die republikanischen Criollos in Bolivien ab 1874 initiierten, anklagte und demaskierte.16

14 Aymara, wörtlich nayra = alt, vergangen, aber auch Auge; chullpa = Vorfahr, dunkle Zeit, vorsozial, vorinkaisch. Beide benennen ein Gründungsfaktum. Vgl. Taller de Historia Oral Andina (THOA), El indio Santos Marka T’ula; und Rivera Cusicanqui und THOA, Pedimos la revisión de límites. Es ist bemerkenswert, dass diese Titel auch heute noch verwendet werden, um die Landrechte der indigenen Bevölkerung gegen neoliberale Aufteilungsversuche und steuerpolitische Reformen zu verteidigen. 15 [Anm. d. Hg.: Cusicanqui spricht im Original von Caciques apoderados. Garbe et al. (2018) schreiben zu Caciques: »Anführer indigener Ayllus. Obwohl diese Macht in der Kolonialzeit stark ausgehöhlt wurde, blieb sie bis zu den liberalen Reformen des späten 19. Jahrhunderts gesellschaftlich relevant.« (S. 138) Und zu Caciques Apoderados: »Mittelsmänner (Bevollmächtigte), die ermächtigt waren, die Beschwerden und Forderungen der betroffenen Gemeinden gegenüber den Kolonisatoren bzw. der spanischen Krone zu äußern.« (S. 137).] 16 Taller de Historia Oral Andina, El indio Santos Marka T’ula, und Mamani Condori, Taraqu.

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Der Zyklus der Aufstände, 1780–1782 Natürlich hatten die Reformen der Bourbonen ab Mitte des 18. Jahrhunderts großen Einfluss auf die komplexen Anpassungsformen, die sich die indigene Bevölkerung im unterdrückerischen Kontext des toledanischen Pakts erarbeitet hatte. Wie in jeder kolonialen Gesellschaft wurden die Veränderungen, die in den Metropolen stattfanden, verzögert und selektiv auf die Kolonien übertragen, um im Dienst der anderen metropolitischen Gesellschaft in Übersee zu arbeiten. Auf diese Weise reproduzierten sich die Mechanismen der kolonialen Strukturen, obwohl sie formal an die ökonomischen und politischen Anforderungen der neuen Epoche angepasst wurden. In vielen Fällen führten die Reformen in der kolonialen Gesellschaft – quasi aufgrund der unterschiedlichen »Brechungspunkte« – zu einer völligen Umkehrung dessen, was sie eigentlich bezweckt hatten. So verwandelten sich Maßnahmen, die vom neuen humanistischen Bewusstsein der Aufklärung inspiriert waren, in den Kolonien in neue und »aufgeklärte« Mechanismen, die darauf abzielten, den Indios ihr Menschsein abzusprechen. Was in Spanien der Zentralisierung und Anpassung des Staates und seiner Gesetze an den freien Markt diente, führte in den Kolonien zu einem Eigenbedarfsmarkt, der die indigene Bevölkerung zum Warenkauf zwang (1750 legalisiert), zur Fragmentierung durch die Privatinteressen der Beamten, zur Vervielfältigung von Binnenhandelsbarrieren und zur Blockade von Marktinitiativen, die von der indigenen und der einfachen Bevölkerung ausgingen. Es wurde bereits ausführlich über die Rebellion von José Gabriel Tupaq Amararu und seinen Anhängern geschrieben, jedoch relativ wenig über die Rebellengruppen in Chayanta und in Sica Sica unter Führung von Julián Apasa Tupaq Katari. Es sollen an dieser Stelle keine neuen Daten oder Beschreibungen hinzugefügt werden, die bereits in anderen Texten zugänglich sind.17 Wie O’Phelan gezeigt hat, war 1780 der Höhepunkt eines Protests, der sich gegen die Steuerpolitik wendete und mehr als ein Jahrhundert dauerte und an dem sowohl Indigene als auch Mestizos und Criollos der verschiedensten Berufe beteiligt waren: Bauern und Bäuerinnen, Mit’a-Arbeiter*innen, Forstarbeiter*innen, Händler*innen, Handwerker*innen und sogar das Großgrundbesitztum und Provinzpfarrer beteiligten sich. Die Quellenlage lässt vermuten, dass während der Phase vor dem

17 Flores Galindo, Tupac Amaru II; Szeminski, La utopía tupamarista; Stern, Resistance; O’Phelan, Un siglo de rebeliones; Siles, Historia de la rebelión.

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Ausbruch der großen Rebellion reformfreudige Mestizogruppen die Indios zur Revolte »angestiftet« hatten. Mitte der 1780er-Jahre begannen die Aktionen offensichtlich spontan in Macha (Provinz Chayanta), wo die Indigenen die Freiheit ihres Kaziken Tomás Katari erreichten, der sich gemeinsam mit seinen Brüdern Nicolás und Dámaso gegen den Vogt und einen usurpatorischen Mestizo-Cacique gestellt hatte. Zwischen November 1780 und April 1781 führte José Gabriel Tupaq Amaru in Tungasuka eine der stärksten und in sich geschlossenen Rebellengruppen an. Währenddessen erhob sich Anfang 1781 Julián Apasa Tupaq Katari, ein Indio aus Sullkawi (Sica Sica), und belagerte sechs Monate lang – zwischen März und Oktober – die Stadt La Paz, wobei ein Viertel der Bevölkerung umkam. Bei der Gruppe aus Qusqu verschob sich das Epizentrum der Rebellion durch die Niederlage von José Gabriel Tupaq Amara nach Azángaro, wo sie in den Händen seiner Verwandten Andrés und Diego Cristóbal Tupaq Amaru weitergeführt wurde. Die Belagerung von Sorata im August 1781 (erfolgreich geleitet von Andrés) und die Kapitulation eines Teils der Anführer aus Qusqu im November helfen uns, die Radikalisierung der Aktionen in den Aymarahochebenen besser zu verstehen, die angesichts der kurz bevorstehenden Rückeroberung des rebellischen Raums durch die karlistischen Truppen Anfang 1782 durchgeführt wurden. Diese kurze Zusammenfassung soll genügen, um ein zentrales Thema der akademischen und politischen Debatte über den Zyklus von Amaru und Katari einzuführen: die Erklärung der Differenzierungen innerhalb der Bewegung, die sich mit relativ autonomen lokalen Verwaltungen zwar über ein sehr großes Territorium erstreckte, aber deshalb auch unter Zersplitterung und internen Streitigkeiten litt. Bei den meisten Forschenden dominiert die Idee einer grundsätzlichen Opposition zwischen einer nationalen und integrativen Tendenz bei Tupaq Amaru einerseits und einer separatistischen und ethnischen Tendenz, präsentiert durch Tupaq Katari, andererseits.18 Die Analyse konzentriert sich dabei auf die Bündnispolitik der verschiedenen Fraktionen, besonders auf die mit Mestizos und Criollos. Wenige ergründen dabei das Verhalten und die Strategien Letzterer, stattdessen werden sie tendenziell als passive Akteure oder sogar als Opfer der Rebellion angesehen.19 Wie Szeminski bereits ahnte, erweist sich die abendländische Begrifflichkeit als ungenügend, wenn es gilt, die Handlungen der andinen Wider-

18 Campbell, Ideology and Factionalism. 19 Siles, Historia de la rebelión.

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stände zu verstehen – im 18. Jahrhundert ebenso wie heute. In der andinen Begrifflichkeit sind Differenzierung und Einheit nicht notwendigerweise sich gegenseitig ausschließende oder antagonistische Phänomene. Es ist offensichtlich, dass im rebellischen Raum verschiedene Konzeptionen der Welt koexistierten, die von den heterogenen Akteuren verkörpert wurden. Die Anführer – überwiegend gebildete Indios, die die indigenen Konzepte in spanische Begriffe übersetzen konnten – hatten einen Begriff von »Politik machen«, der bereits ein Resultat der Tatsachen der kolonialen Welt war. Die Verwendung von Worten, Papier und Verhandlungen bzw. die Idee, dass »der Sieg Rechte verleiht« waren Vorstellungen, die sich radikal von den Praktiken der indigenen Polis unterschieden, die eher durch rituelle und symbolische Codes strukturiert war und die althergebrachte Fähigkeit besaß, die unterschiedlichen – aber homologen – Kulturen und Gesellschaften zu tolerieren und zu integrieren, aus denen der andine menschliche Kosmos besteht. Die Idee von »zwei Republiken« als normativem Mechanismus des Zusammenlebens von Kolonisierten und Kolonisierenden gab es auch innerhalb der Rebellion. Allerdings war diese Normativität durch die Reformwelle bis hin zu dem Punkt zerstört worden (nicht umsonst war die bourbonische Phase als »Wiedereroberung« des spanischen Raums gesehen worden), dass die Koexistenz von Indios, Cholos, Mestizos und Criollos nur noch möglich schien, wenn das Gleichgewicht der Welt (pacha) mittels eines Umschwungs oder eine Drehung (kuti) wiederhergestellt würde. Dabei müssten die Besitzer, die ursprünglichen territorialen Erbsouveräne, wieder die Spitze der pyramidenförmigen und segmentierten sozialen Struktur einnehmen. Natürlich hatten die Spanier und Criollos sowie die meisten Mestizos und Cholos bereits zu viele Räume der Willkür und der Zwangsausbeutung auf indigenen Territorien geschaffen, als dass sie den Vorschlag dieses neuen sozialen Pakts hätten tolerieren können. Die Forderungen der Anführer waren zweifelsohne ein »Maximalprogramm« (ein Pachakuti oder die Reversion der kolonialen Ordnung), aber nicht maximalistisch, da die Anführer der Qhichwa und der Aymara ebenfalls versuchten, sich in ein »Minimalprogramm« einzufinden, das ihnen eine Koexistenz zusichern würde: die Einhaltung der Gesetze, die Normativität zweier Republiken.20 20 Der Blick des Königs oder eines anderen Wesens, das sich an der Spitze der Pyramide befindet, die aus den beiden segmentierten Strukturen der kolonialen Welt bestand, befand sich in einem unbekannten, exterritorialen Raum und war deswegen nicht in der Lage, das indigene Recht oder irgendein Gesetz des Zusammenlebens durchzusetzen, das die Beziehungen zwischen Kolonisierenden und

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Für die gewöhnlichen Indios bedeutete der tägliche Kontakt mit den Mechanismen der Willkür und Zwangsausbeutung wahrscheinlich, dass sehr schnell die Machbarkeit der zweiten Option ausgeschlossen wurde. Die Fremden, Mit’a-Arbeiter, Maultiertreiber, Yanakuna, Forstarbeiter und indigenen Frauen, die die Mehrheit der einfachen Kämpfer*innen bildeten, erfuhren den radikalen Gegensatz zwischen den offiziellen Regeln des Zusammenlebens und den Realitäten der kolonialen Welt am härtesten. Unter diesen Umständen verwandelte sich die sich gegenseitig ergänzende Dualität des indigenen pacha (Welt) in eine gegnerische: Die Vorstellung des Fremden als ñak’aq, kharisiri und lik’ichiri erwachte von Neuem.21 Die Unmöglichkeit der Koexistenz, bestätigt durch das Verhalten der meisten Mestizos, Criollos und Spanier, löste die Entstehung der separatistischen Tendenz aus, der zufolge die Welt nur wiederhergestellt werden konnte, wenn die Invasoren vertrieben oder vernichtet würden. Die Rebellion schwankte ständig zwischen diesen beiden Polen, was möglicherweise hilft, die radikalen Taktiken des Heers von Tupaq Katari zu erklären, aber auch das Verhalten vieler einfacher Kämpfer aller Fraktionen und die nicht wenigen Episoden (wie die Belagerung von Sorata), die von den Leitungen aus Qusqu selbst angeführt worden waren. Die Wiederherstellung der kosmischen Ordnung (von der aus das westliche Konzept einer linearen und fortschreitenden historischen Zeit lediglich im Sinne eines »Zurückdrehens des Rades der Geschichte« Sinn ergibt) lässt sich auch mit dem Konzept Nayrapacha, das diesem Text vorangestellt ist, begreifen: Vergangenheit, aber nicht irgendeine Vergangenheit, sondern »Vergangenheit-als-Zukunft«, also eine Erneuerung von Zeit und Raum. Eine Vergangenheit, die die Zukunft erneuern und die erlebte Situation rückgängig machen kann: Ist das heute nicht der gemeinsame Wunsch vieler indigener Bewegungen weltweit, die die volle Anerken-

Kolonisierten hätte regeln können. Deswegen stellten sich die Köpfe der Rebellion an dieser Spitze auf (wobei sie sich abwechselnd Inkakönige oder treue Vizekönige des spanischen Königs nannten) und griffen auf die metaphorische Kodierung der Erinnerung an den eigenen multiethnischen Staat zurück. Die bereits zitierten Arbeiten von Salomon und Szeminski betonen dies, die meisten Forschenden hingegen erkannten in diesen Handlungen nur eine unerklärliche Unterordnung oder »Treue« gegenüber König Karl III. 21 Diese Vorstellung ist in den meisten Mythen um die chthonische Welt des manqha o ukhupacha (Aymara oder Qhichwa, wörtlich: inneres Zeitliches und Räumliches) zu finden. In den Aymaramythen der Zeitalter werden die Fremden auch mit dem ch'amakpacha (Zeit und Raum der Dunkelheit) verbunden. Diese Mythen sind metaphorische Formen, die das Unversöhnliche zu versöhnen trachten. Siehe: Szeminski, La utopía tupamarista.

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nung der Kultur ihrer Vorfahren in der gegenwärtigen Welt einfordern? Doch schrieb Walter Benjamin unter sehr anderen Umständen und Zeiten über die Katastrophe des Nationalsozialismus: »[A]uch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.«22 Dieser Blick auf Geschichte, der versteckt in den Ritzen der westlichen Welt weiterlebt, könnte das Verständnis von pacha und die Interpretation der indigenen (vergangenen oder gegenwärtigen) Rebellion erleichtern und so den Graben zwischen den verschiedenen Sprachen überwinden, der noch immer die historische Aufarbeitung behindert. Aber zurück zu den Tatsachen. Da die Welt nicht wiederhergestellt werden konnte, fand stattdessen eine Wiederholung oder Aktualisierung des kolonialen Zustands statt. Mit dieser Erbschaft sind die andinen Republiken bis zur Gegenwart belastet. So bildete der Terror, den die Belagerten von La Paz erlebten, einen Teil der Erinnerung der Sieger und verwandelte sich in das Eröffnungsmoment der zukünftigen kolonialen Beziehungen zwischen der republikanischen Gesellschaft und der untergeordneten indigenen Bevölkerung, mit der zunehmend die illustrierte Idee der Barbarei23 verbunden wurde. Begriffe wie Ketzer, Wilder, Barbar und auch vorkapitalistisch implizieren Folgendes: »eine Progression, eine Transformation, sei es vom Paganismus zum Christentum oder von der Barbarei oder Wildheit zur Kultur und Zivilisation [und] sie stellen die abendländische und christliche Kultur als überlegen gegenüber der anderen dar – aufgrund deren wilder und heidnischer Natur«.24 Der metaphorische Code der Gewalt übermittelte auch den aufständischen Indios von gestern und heute eine Nachricht. Die wichtigsten Anführer der Rebellion wurden entweder durch Vierteilung oder durch Enthauptung und Einäscherung getötet. Im ersten Fall wurden die abgetrennten Körperteile der Bestraften über die gesamte rebellische Region verteilt und im zweiten Fall wurde die Asche in die Flüsse gestreut (wie auch die Asche der wak’a während der Ausrottung der sogenannten Götzenverehrung). In diesen Zeremonien erneuerten Spanier und Criollos (ebenso wie zahlreiche akkulturierte Mestizos und Indios, ob nun aus Angst oder Überzeugung) ihr Verständnis des Rechts der Eroberung als grundlegendes und regelmäßig zu erneuerndes Momentum, das auf dem Brechen der internen Organisationsfähigkeit der dominierten Gesellschaft basierte. Die indige22 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 18–19. 23 Es kann nicht schaden, anzumerken, dass diese Idee von den liberalen und evolutionistischen Varianten des Marxismus geteilt wird, was hilft, die Kluft zwischen diesen und den indigenen Organisationen und Bewegungen zu erklären. 24 Szeminski, La utopía tupamarista, S. 80.

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nen Kämpfer und Kämpferinnen verstanden ihrerseits eindringlich die Botschaft der Niederlage, jedoch lediglich als eine der Pendelbewegungen der zyklischen und zu Erneuerung fähigen Geschichte. Der zerteilte indigene Körper würde sich wieder vereinen – wie es bereits mit Amaru und Katari geschehen war – und dann schlüge die Stunde des Pachakuti, die Zeit der Erneuerung bzw. Revolution. Die Spanier, sogar die aufgeklärtesten, handelten bei diesen Aktionen von ihrer eigenen historischen Dichte aus: Sei es, dass sie es als eine zivilisatorische Mission, einen heiligen Krieg gegen die Gottlosen oder den Exorzismus des Teufels verstanden (oder als alle drei Dinge auf einmal). So ging aus der Niederlage der Katari und Amaru 1782 dieses Urteil eines der radikalsten antiindigenen Texte eines wohlhabenden Bewohners von La Paz hervor: … der Indio wird gut sein unter der kontinuierlichen Züchtigung, indem ihnen nicht erlaubt wird, untätig zu sein und weniger noch Geld zu haben, das ihnen nur nützt, um sich zu betrinken und Rebellionen zu verursachen. Weiter sollen sie doppelten Tribut an den König zahlen. Dieser soll ihnen die Gemeinden wegnehmen, die Ländereien an die Spanier verkaufen und die Indios der Spanischen Inquisition unterwerfen, denn sie haben mehr Boshaftigkeit als wir, sowie die Leyes de Indias verbrennen […]25 Abgesehen von der Inquisition – später ersetzt durch aufgeklärtere Methoden der Kolonisierung der Seelen wie es die Schulen, die Kasernen etc. sind – wurden alle diese Punkte in den rebellierenden Territorien gewissenhaft umgesetzt, nun nicht mehr in den Händen von Ausländern, sondern von »nationalen« Criollos und Mestizos, die ab 1810–1825 die Zügel der neuen Republiken in die Hand nahmen. Hierdurch kamen die formal unabhängigen Nationen, die in den Anden gegründet wurden, bereits mit dem konfliktiven Vermächtnis ihrer Geschichte gezeichnet zur Welt, wodurch die unversöhnliche Spaltung zwischen zwei Welten bestätigt wurde, jedoch ohne die normativen Mechanismen des kolonialen Paktes.26 Mit dieser Dialektik wurde die Ley de Indias durch das Massaker an den Indios (auch das Massaker an den Arbeiter*innen) als vorherrschende Sprache der Politik ersetzt, die die oligarchischen Salons verließ, um das »Zusammen25 Zit. nach Szeminsiki, La utopía tupamarista, S. 41. 26 In diesem Erbe bestätigt sich auch die strukturelle Position der Mestizos oder Cholos, in deren ambivalenter Rolle von Kolonisatoren-Kolonisierten sich die konfliktive Verbindung zwischen den geteilten Welten reproduziert und alternative Allianzräume für beide bietet.

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leben« zwischen der Elite aus Mestizos und Criollos und der dominierten Welt der Indios und Cholos zu regeln. Heute wie damals wird dieser Mechanismus weniger als eine bestrafende, sondern eher als eine präventive Form der Unterdrückung angewandt.27 Im politischen Bereich gibt es ein weiteres strukturelles Vermächtnis der Ereignisse von 1780 bis 1782: Während der republikanischen Geschichte waren die von der dominanten Kaste eingeführten Reformen auch präventive Handlungen, die daran orientiert waren, die (tatsächliche oder eingebildete) Wut der Dominierten zu beruhigen. Durch Unsicherheit und Doppelmoral gezeichnet, nutzten die republikanischen Reformatoren die Reform schließlich ausnahmslos als Methode der Verhüllung und Wiederverwertung der kolonialen Strukturen. Die Grenze der »durchführbaren Ausbeutung« wurde je nach der wahrgenommenen Gefahr gezogen, die die Reaktion der Kolonisierten darstellen könnte. So konnten jegliche Formen extremer Gewalt und Zerstörung toleriert werden, bis zu dem Punkt, an dem diese »Exzesse« das Überleben der kolonisierenden Gesellschaft selbst gefährden würden. Die Aymarabewegung im republikanischen Kolonialismus von heute Im Jahr 1974 waren beinah zwei Jahrhunderte seit der Rebellion der Amaru-Katari und mehr als zwei Jahrzehnte seit der umfangreichen Landreform vergangen, mit der das Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR – die Nationalrevolutionäre Bewegung) nach eigenen Aussagen das »Indioproblem« gelöst hatte, indem den Indios der individuelle Besitz ihres Landes erteilt wurde und sie als Bürger*innen anerkannt wurden. Im Januar desselben Jahres, während einer der vielen Diktaturen, die die republikanische Geschichte Boliviens verwüsteten, wurden die Quichwa-Bauern und -Bäuerinnen der Region von Tolata und Epizana vom Militär massakriert. Die friedlich Demonstrierenden hatten die Autobahn von Cochabamba nach Santa Cruz blockiert, um die Regierung dazu zu bringen, ihre Forderungen (in erster Linie bezogen auf die Ungleichheit zwischen 27 Die Ähnlichkeit mit Praxis und Ideologie der »Konflikte niedriger Intensität« ist kein Zufall. In Bezug auf das Massaker hat die neue akademische Aymarageschichtsschreibung wichtige Beiträge geleistet, wie der bereits zitierte Text von Mamani Condori oder die Arbeit von Choque über Jesús de Machaqa, die die »nackten Wahrheiten« der kolonialen Situation jenseits des verhüllenden Schleiers der republikanischen liberalen Rhetorik offenlegen. Siehe: Choque, Sublevación y masacre.

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den Preisen von landwirtschaftlichen und industriellen Produkten) zu akzeptieren. Dieses Massaker ließ lange Zeit verdrängte Konflikte zutage treten und brachte die unterschiedlichen Ausformungen der liberalen Vorstellung von Bürgerschaft auf den Tisch, die durch die Reformen am Ende des 19. Jahrhunderts in die bolivianische politische Struktur aufgenommen worden war. Paradoxerweise hatten die Bauern und Bäuerinnen, die dann massakriert wurden, einen alten multiethnischen Raum bewohnt, wo Markt, Privatbesitz und kulturelle Mischung seit Jahrhunderten zur Ausformung einer Mestizo- und bürgerlichen Identität geführt hatten. Durch diese Identität wurde die Bauernschaft aus Cochabamba zur Achse der gewerkschaftlichen Organisation, die vom Staat durch die nationale Revolution 1952 angestoßen worden war.28 Dennoch: Während die Landbewohner*innen von Tolata nicht über die Bestürzung ob des einseitigen Bruchs ihres »Bürgerpaktes« mit dem Staat von 1952 hinwegkamen, wurde das Massaker in der ganzen Aymararegion, die den geografischen Mittelpunkt der Rebellionen von Tupaq Katari im 18. Jahrhundert gebildet hatte, als intolerabler Affront wahrgenommen. Dort, sogar in denselben Ayllus, aus denen die Anführer des rebellischen Zyklus von 1780–82 stammten, wurde die antikoloniale Identität als Anklage des »politischen pongueaje«29 wiederhergestellt, zu dem die andinen Pueblos Indígenas durch die Einführung der Schule, das allgemeine Wahlrecht, die Parzellierung des Landes, den Verfall der Gemeinden und die degradierende Aufbürdung des sogenannten Pacto Militar Campesino verurteilt worden waren. Diese Institution, gegründet während der Regierung von General Barrientos (1964–1969), ersetzte die Partei als Instrument der politischen Unterordnung der Bauerngewerkschaften. Mit dem Pacto Militar Campesino wurde die klientelistische Manipulation rauer und zwangvoller und diente als Werkzeug, um gegen Arbeiter*innen gerichtete Regierungsmaßnahmen durchzusetzen, in denen die neokoloniale nordamerikanische Intervention sichtbar war. Aus diesen Gründen war der Pakt schließlich ein zweischneidiges Schwert. Nach dem Massaker von Tolata gelang es den Katarist*innen durch ihre

28 Larson, Colonialism and agrarian Transformation; Rodríguez und Solares, Sociedad oligárquica; Rivera Cusicanqui, El movimiento sindical. 29 Aymara, wörtlich punku = Tür. Der pongueaje war ein koloniales System der Unterordnung der indigenen Arbeitskraft mittels rotierender Dienste für die zivilen und kirchlichen Autoritäten der Dörfer. Auf den Großgrundbesitzen war der pongueaje ein Teil des sogenannten Kolonats, d. h. der gesamten Verpflichtungen zwischen Knechten und Großgrundbesitzern. Ausführlich dazu mein bereits zitierter Text: El movimiento sindical; und Hurtado, El katarismo.

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Verurteilung dieser »Allianz zwischen Opfer und Henker«, die gesamte Struktur der parastaatlichen, regierungsnahen Gewerkschaftsbewegung zu durchdringen und zu zerschlagen, was national große Wellen schlug. Die neue Generation von Führungspersonen, die dieser Erneuerung vorstand, baute einen vielgestaltigen organisatorischen Prozess auf, indem sie Kulturzentren und städtische Bewegungen (wie das Centro Mink’a und das Movimiento Universitario Julián Apaza, Muja), sowie politische Organisationen (wie das Movimiento Revolucionario Tupaq Katari und das Movimiento Indio Tupaq Katari) gründete. Die Anwesenheit dieser städtischen Aymara, die die Schule besucht und Zugang zu universitärer Bildung hatten, erwies sich als entscheidende Komponente bei der Gestaltung des politischen Profils der verschiedenen Organisationsformen. Doch die größte politische Wirkung erreichten die kataristisch-indianistischen Strömungen durch eine Gewerkschaft: In einem Kongress Anfang 1978 wurde die regierungsnahe Confederación Nacional de Trabajadores Campesinos wiedergegründet, an deren Kürzel der Name von Tupaq Katari angefügt wurde (CNTCB-TK – Nationale Konföderation der bäuerlichen Arbeiter*innen). Die Föderationen der neun Bundesstaaten nahmen an dem Kongress teil (der semiklandestin am Vorabend des Sturzes der Banzerdiktatur stattfand) und erkannten somit implizit die neuartige Situation an, dass eine indigene Bewegung die Kämpfe der Bauern verband und leitete. Im Kontext der neuen demokratischen Freiheiten 1979 verband sich die kataristische Strömung mit anderen Bauernorganisationen marxistischer Ausrichtung zu einer einzigen Organisation namens Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia (CSUTCB – Einheitliche Gewerkschaftskonföderation der bäuerlichen Arbeiter*innen Boliviens), die der Central Obrera Boliviana beitrat (Zentralgewerkschaft Boliviens). Die Blockaden im November 1979 entfalteten die ganze Kraft des neuen Syndikalismus: Zehntausende Bauern und Bäuerinnen brachten mit ihren Gewerkschaften die Autobahnen des gesamten Landes zum Stillstand. Sie überwanden eine jahrhundertealte Atomisierung und stellten sich den negativen Auswirkungen der merkantil-parzellarischen Ökonomie entgegen. Diese und andere Episoden verliehen der kataristischen Bewegung ein wenig Legitimität, die es ihnen ermöglichte, bis 1988 die CSUTCB anzuführen. Die ideologischen Komponenten und Erfahrungen, die die Identität der Aymara zu diesen Kämpfen beitrug, verdeutlichen die Spuren der Frustration und Undurchführbarkeit des Bürgermodells, das in Bolivien ab dem Ende des 19. Jahrhunderts angewendet und durch die Revolutionen von 1952 vertieft wurde. In der Tat postulierten die Kataristen – während sie offen die aufgezwungene Identität der »Bürger zweiter Klasse« herausfor211

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derten, die ihnen als ein Affront gegen die menschliche Würde erschien – eine Aymara- oder Indio-Identität als Angelpunkt ihrer gesellschaftlichen Forderungen und Vorstellungen. In diese Identität flossen sowohl die tief liegenden Schichten der Horizonte aus der Inka- und Präinkakosmovision als auch die Geschichte der antikolonialen Kämpfe vom 16. bis 18. Jahrhundert und die jüngere Erinnerung an die antiliberalen Proteste im 19. Jahrhundert ein. Der Prozess wurde von einer heterogenen Kombination von »Quellen« genährt: der Rettung und Neuinterpretation der mündlichen Aymara-Tradition, der selektiven Verwendung akademischer Arbeiten (aus Anthropologie und Geschichtswissenschaften) und auch dem Einfluss von energischen indianistischen Denkern wie Fausto Reinaga30. Aber es war vor allem die Erfahrung der rassistischen und kulturellen Diskriminierung der Gegenwart, die diese verschiedenen Horizonte der kollektiven Erinnerung vereinte und es ermöglichte, dass die andine Geschichte die neuen Aymaragenerationen – akkulturiert, formal gebildet und städtisch – erneut befruchtete. Hierdurch gelang eine Erneuerung des Blicks auf die Vergangenheit, die es erlaubte, politische und soziale Bilder einer wünschenswerten und möglichen Zukunft zu erahnen. In dieser Übergangssituation ist es einleuchtend, dass die Worte, die Tupaq Katari vor seiner Vierteilung gesagt haben soll, Nayaw jiwtxa nayjarusti, waranq waranqanakaw kutt'anipxani (»Heute sterbe ich, aber ich werde zurückkommen, verwandelt in Tausende von Tausenden«) –, neue Aktualität erlangten. Aber auch die ethischen Dimensionen, die der Inkaregierung zugeschrieben werden (zusammengefasst im Satz Ama suwa, ama qhilla, y ama llullla (»Sei kein Dieb, sei kein Verräter, sei nicht träge«), mit der Aymaraergänzung ama llunk’u (»sei nicht unterwürfig«) inspirierten die offensichtliche Kritik am Staat und am öffentlichen Raum, deren Korruption, Doppelmoral und Autoritarismus Bolivien zu einem extremen Beispiel politischer Illegitimität machten. Die Vereinigung der Horizonte aus Inka- und Präinkazeit und die Bewahrung von Hunderten von Jahren antikolonialer Kämpfe in der Erinnerung verstärkten die Wahrnehmung, dass der größte Bruch in der andinen Geschichte die europäische Invasion von 1532 war. Nichtsdestotrotz: Neben dieser langen Erinnerung erkannte die kataristische Führung – städtisch oder ländlich – bis zu einem gewissen Punkt auch das strukturelle Vermächtnis des bürgerlichen Horizonts (verkörpert in der Revolution 1952 und der Landreform 1953) an, da sie die Gewerkschaft als potenziellen

30 Reinaga, La revolución india.

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Raum für die Verwirklichung eines möglichen Gesellschaftsbildes sah. In dieser Gesellschaft sollte das Streben nach einem Zusammenleben als Einheit in der Vielfalt umgesetzt werden. Die Vereinigung der verschiedenen Phänomene der Bürgerschaft in der gegenwärtigen Aymarabewegung muss weiter präzisiert werden. Es sei daran erinnert, dass für die Proteste der Caciquesbewegung die Schulbildung bzw. die Schule als Institution eine ambivalente Bedeutung hatte – so wie die Religion in der Kolonialzeit. In den 1910er- bis 1930er-Jahren wurden das Erlernen der spanischen Sprache und der Schulbesuch zu Forderungen der Aymara-Quichwa-Bewegung selbst. Sie sollten der Erlangung jener Bürgerschaft und jener Rechte dienen, die zwar in den republikanischen Gesetzen auf dem Papier anerkannt, doch vom Staat sowie der oligarchischen Gesellschaft faktisch tagtäglich verneint wurden.31 Die – typisch koloniale – Verbindung zwischen dem »Gesetz« (als Verschleierung) und der Gewalt verursachte (wie im Zyklus 1780–82) eine Polarisierung und ein Schwanken zwischen zwei taktischen Auswegen, die sukzessive oder gleichzeitig sowohl im legalen Kampf als auch im bewaffneten Widerstand eingefordert wurden: Entweder setzte die Gesellschaft als Organisationsschema den kolonialen Pakt der zwei Republiken fort, indem sie ein Sonderrecht oder getrenntes »Gesetz« für die Indios akzeptierte, oder sie setzte endlich eine wirkliche egalitäre liberale Gesetzgebung um. Dies stellte die vorherrschende Criollogesellschaft vor die Wahl, sich zu demaskieren und die kolonialen Fundamente ihres eigenen Verhaltens einzugestehen oder aber die universalistischen und humanistischen Implikationen des Liberalismus in Gänze anzunehmen und die Rechtsgleichheit für die Bürger*innen ohne ethnische, religiöse oder rassistische Diskriminierungen anzuerkennen. Denn die Reichweite der »Bürgerschaft«, die den Indios durch die liberale Gesetzgebung im Jahr 1874 gewährt worden war, beschränkte sich darauf, die Idee einer »Gleichheit des Indios vor dem Gesetz« auf das Individuum zu reduzieren, ihn also nur als ein aller korporativen oder kommunalen Verbindungen beraubtes Individuum anzuerkennen – und nicht einmal das. Folglich erkannte das Gesetz die Gemeinschaft oder Ayllus rechtlich ab und schaffte die legalen Grundlagen für die (Zwangs-)Ausübung eines einzigen Rechts: die kommunalen Ländereien zu verkaufen. Die Agrarreform von 1953 erweiterte das liberale Konzept des Individuums um das des Eigentümers, indem das Land der Großgrundbesitzer und Gemeinden parzelliert und unter den produktiven, familiären Einheiten

31 Mamani Condori, Taraqu; auch Choque et al., Educación indígena.

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von »Bauern« verteilt wurde. Beiden Handlungen liegt die Sichtweise zugrunde, dass die indigene Kultur ein Hindernis für den sozialen Fortschritt darstellt. Folglich werden die Menschenrechte des Indios nur anerkannt, wenn er aufhört, ein Indio zu sein, und die Eigenschaften des westlichen Bürgers annimmt: Eigentümer, Schulbesucher, Mestizo, Produzent, Konsument etc. Im präsozialen Raum der Indiowelt sind jegliche Extreme von Gewalt und Negierung tolerierbar, bis dieser Prozess der erzwungenen Staatsbürgerschaft als Durchsetzung des westlichen zivilisatorischen Modells vollendet ist. Die Spaltung zwischen Forderungen nach Gleichheit und nach Verteidigung des Rechts auf eine kulturell differenzierte Identität erfuhr auch die Katarismusbewegung, während sie über eine Dekade die CSUTCB anführte. Ähnlich wie die Schule, die soziale Anerkennung für den Preis der Selbstverleugnung bietet, bedeutete die Gewerkschaft als einzige Organisationsform die Introjektion des klientelistischen, populistischen und homogenisierenden Vermächtnisses des Bürgermodells und negierte faktisch den kulturellen und organisatorischen Pluralismus der indigenen Gesellschaften. Dadurch sonderte sich die CSUTCB von den indigenen Organisationen und den ethnischen Autoritäten ab, die aus dem Amazonasgebiet und aus Regionen wie dem Norden von Potosí, dem Westen von Oruro und sogar aus der Hochebene und den Tälern von La Paz und Chuquisaca stammten, wo die gewerkschaftliche Präsenz künstlich war und Schenkungen und Zivilisierungspraktiken beinhaltete, die aus dem Criollosyndikalismus der Zeit von 1952 bis 1964 stammten.32 Diese Phänomene beweisen, dass auch der Katarismus selbst Opfer der »perversen Effekte« geworden ist, die aus der liberal-populistisch-kolonialen Verbindung hervorgegangen sind, indem er Praktiken reproduzierte, die letztlich seiner eigenen pluriethnischen Ideologie widersprachen. Dennoch ist hervorzuheben, dass viele dieser Prozesse ein Resultat des Drucks der linken Parteien auf die Leitungen der CSUTCB waren. Die Möglichkeit, die Organisation auf der Grundlage der organisatorischen und ethnischen Vielfalt zu restrukturieren, wurde von den Kataristen gestützt und im Schoß der Gewerkschaft diskutiert, aber schließlich von anderen Gruppen innerhalb der Organisation blockiert. Anscheinend konnte die Linke die Hegemonie eines von den Indios selbst formulierten Diskurses nicht tolerieren und fürchtete, dass durch die Anerkennung der ethnischen Autoritäten die Möglichkeit verringert würde, die politischen Hand-

32 Rivera Cusicanqui, Liberal Democracy and Ayllu Democracy; auch Arias, Milenarimo y resistencia.

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lungen der indigenen Landbevölkerung zu kontrollieren oder zu beeinflussen. Als einzige Erben des »Politikmachens« konnten die radikal linken Sektoren der Criollos und Mestizos das indigene Streben nach Selbstbestimmung nicht ertragen und versuchten ständig, die CSUTCB zu kooptieren, zu manipulieren und zu spalten – ein Prozess, der in der faktischen Lähmung und Auflösung der Dachorganisation kulminierte.33 Zwischen 1985 und 1988, im Kontext der starken neoliberalen Politiken, die die ehemals machtvolle Arbeiterbewegung (verkörpert durch die Central Obrera Boliviana) auflösten und die indigene und bäuerliche landwirtschaftliche Produktion zerstörten, begann der Streit zwischen dem Katarismus und der Linken seine dramatischen Konsequenzen zu zeigen. Die Dachorganisation der Bauernschaft befand sich gerade dann auf dem Rückzug und in der Defensive, als es für die indigene Bauernschaft um so drängender um einen gemeinsamen Raum ging, in dem sie ihre Forderungen ausdrücken konnte. In diesem Prozess lösten sich kataristisch-indigener Diskurs und die entsprechende Identität von ihrem ursprünglichen sozialen Subjekt ab und verwandelten sich in ein zersplittertes und frei verfügbares ideologisches Feld. Die Linke selbst bediente sich daran, um ihre eigene Krise zu überwinden. Diese späte Selbstkritik brachte Intellektuelle und Politiker*innen der Mittelkasse dazu, als inoffizielle Wortführer*innen diejenigen Reformen von der Gesellschaft einzufordern, die die indigenen Proteste seit Langem angemahnt hatten. Dieses Verhalten der Linken offenbart neue Dimensionen des kolonialen Horizonts: Eine Erbkaste hat sich jahrhundertelang an der Macht gehalten und sich mittels neuer Diskurse und ideologischer Moden aus dem Westen reproduziert. In einer Zeit der allgemeinen Krise des Marxismus und des Aufkommens neuer ideologischer Referenzen wie der ökologischen Bewegung wird der »Diskurs des Indianismus« plötzlich verwertbar und von ihnen instrumentalisiert, damit die Führungsriegen der linken Parteien – Kinder und Enkel eben dieser Kaste – ihren theoretischen Fokus erneuern und auffrischen können. Dieser Prozess läuft Gefahr, die Kluft zwischen den indigenen Sektoren und denen der Mestizos und Criollos noch zu vertiefen und die Ausgrenzung der Indigenen durch Letztere aufrechtzuerhalten. Die liberal-

33 Die Autorin war Zeugin dieser Debatten und des Zerfalls, die mit der Einberufung eines »Treffens der Ayllus und indigener Autoritäten« auf dem Zweiten Kongress (Juni 1983) begannen. Dieses Treffen fand wegen der konflikthaften Entwicklung der Beziehungen zwischen Kataristen und Linken nicht statt. Aktuell schwelt dieser Konflikt weiter, ist aber auf die Beziehungen zwischen COB und CSUTCB bezogen, auch wenn die ethnische Identität in Letzterer nicht mehr dominiert.

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revolutionäre Sprache des Marxismus und das populistische Erbe der bolivianischen Geschichte sind Matrizen, in die dieser neue Diskurs eingepflanzt wird. Dies verleiht diesen Mestizo-Criollo-Sektoren einen ausreichenden Grad an Legitimität, um sich selbst auch weiterhin als einzig mögliches Subjekt des politischen Handelns und sogar an der Spitze einer plurinationalen und pluriethnischen Pyramide eines zukünftigen Staates zu denken (eine strukturelle Position, die im 18. Jahrhundert der König von Spanien besetzte).34 Währenddessen suchen die zersplitterten Subjekte der diskursiven (kulturellen und politischen) Produktion der Aymara und Indios weiterhin Auswege aus dieser Akkumulation von Dezentrierungs- und Negierungsprozessen. Auf der ideologischen Ebene hat sich die indigene Präsenz durch vielfältige institutionelle und kommunikative Räume erweitert, in denen der Prozess der Reflektion, der Ausarbeitung und des Einwirkens auf die Gesellschaft fortgeführt wird. Auf der religiösen und kulturellen Ebene hat die Krise der ethno- sowie anthropozentrischen Paradigmen von »Fortschritt« und »Entwicklung« einen Raum für ein facettenreiches indigenes Wiederentdecken und den Wiederaufbau einer möglichen Zukunft geöffnet, in der sich die Beziehungen zwischen Mann und Frau sowie zwischen Gesellschaft und Natur wieder harmonisieren würden. Auf der organisatorischen Ebene ist die Restrukturierung und Stärkung der Systeme der ethnischen Autorität der Aymara und Qhichwa auf dem Weg und es zeichnen sich Alternativen zur gewerkschaftlichen Krise ab. Schließlich suchen die Aymara und andere indigene Gruppen auf der politischen Ebene heute weiterhin Antworten auf die jahrhundertealten Herausforderungen der kolonialen Realität: Worin besteht die Dekolonisierung unserer Gesellschaft? Welche soziale und politische Organisation ermöglicht das multi-

34 Vgl. die Vorschläge des Movimiento Bolivia Libre, Repensar el país; oder des Centro de Investigación y Promoción del Campesinado (CIPCA), Por una Bolivia diferente. Die (zivile sowie kirchliche) Linke fährt fort, pyramidenförmige Beziehungen nach dem Modell des Dreiecks ohne Basis zu formen, wobei von zahlreichen Machtfokussen neben den Parteien ausgegangen wird. Unter ihnen leisten insbesondere die NGOs und die Medien einen bewussten oder unbewussten Beitrag zur Fragmentierung und Manipulation der indigenen Organisationen. Gegenüber diesen Diskursen betont der indigene Standpunkt nicht so sehr, was gesagt wird, sondern wer etwas sagt, wobei die historische Legitimität und die soziale Repräsentativität der Criolloindigenisten, die im Namen der Indios sprechen, infrage gestellt werden. Das zentrale Thema der aktuellen Debatte über die staatlichen Reformen ist somit nicht, wie die Indios in die Struktur eines künftigen demokratischeren (sogar pluriethnischen) Staates integriert werden können, sondern wer legitimerweise das Zentrum dieses Staates besetzen kann und soll (s. u.).

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ethnische und plurinationale Zusammenleben? Welch ein Staat kann dieses Zusammenleben unter Berücksichtigung von Gleichheit und gegenseitigem Respekt institutionalisieren und normieren? Diese Fragen sind nicht nur das Problem einiger weniger. In Bolivien, wo die indigene Bevölkerung (auf dem Land wie in der Stadt) weiterhin ca. 60 Prozent ausmacht, wo eine Mehrheit von uns Cholos und Mestizos die Folgen der Entfremdung und Zerrüttung persönlich und mental erleidet, betreffen diese Fragen das Leben von Millionen von Menschen, die der neoliberalen Gewalt des Marktes ausgeliefert sind und unter der Folter des aufgezwungenen Erlernens der spanischen Sprache, dem Konflikt niedriger Intensität, der Transnationalisierung der Politik und der Auslöschung jeglicher Spur von Stolz und »nationalem« Zugehörigkeitsgefühl leiden. Dennoch hat der Einfluss der Aymara und Indios in den letzten beiden Jahrzehnten weiter zu Veränderungen im Habitus und Gemeinschaftssinn der breiten (indigenen oder Cholo-)Bevölkerung geführt, die sich als wegweisend für die Zukunft erweisen könnten. Im Oktober 1990 brachen Indigene aus dem amazonischen Mojeños, Yuracaré, Chimané und Guaraní in Trinidad – 700 Kilometer von der Hauptstadt entfernt – zu einem gewaltigen Protestmarsch auf und erreichten nach einer über einen Monat dauernden, beschwerlichen Reise die Stadt La Paz. Ihre Forderungen nach Land und Würde fassen auf deutliche Weise die komplexen historischen Dimensionen der indigenen Bewegung zusammen, da sie den Wunsch nach einer würdevollen Behandlung in Übereinstimmung mit der menschlichen Natur und mit dem Respekt gegenüber der historischen, organisatorischen, kulturellen und produktiven Beschaffenheit der indigenen Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Bei der Ankunft auf der Kuppe der Cordillera Oriental, der symbolischen Grenze (apachita) zwischen Höhen und Flachland, zwischen dem alten andinen Kernland und den pluriethnischen Ländern von Payititi, empfingen und trafen wir – Aymara, Qhichwa und Uru aus allen Breiten, gemeinsam mit Tausenden Stadtbewohnern ganz unterschiedlicher Herkunft – spontan unsere Brüder und Schwestern aus dem Osten mit einer multiethnischen Feier, die nicht durch offizielle Sektoren in Anzug und Krawatte vereinnahmt oder verfälscht werden konnte. Die Vereinigung der fragmentierten Teile des indigenen Körpers – chthonische Vereinigung aus den Tiefen des Raums und der Zeit – war als ein Pachakuti zu erahnen (oder wenigstens empfanden es die meisten von uns Anwesenden so) – als eine kosmische Umdrehung, die

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von Neuem wie ein Blitz am wolkenlosen Himmel der linearen Zeit auftauchte.35 Das Vermächtnis der Vergangenheit: Versprechen und Konflikt Heute wie gestern sind die Herausforderungen der antikolonialen Kämpfe der indigenen Bewegung auf die Forderung ausgerichtet, dass sich die Regeln des Zusammenlebens, die unsere Gesellschaft strukturieren, radikal ändern müssen. Diese Forderung basiert auf der Anerkennung der indigenen Autonomie sowie des eigenen indigenen Raums (und zwar auf territorialer, sozialer, kultureller, diskursiver und politischer Ebene), um unter gleichberechtigten Bedingungen die (multiethnische) Koexistenz in heterogenen Konglomeraten der postkolonialen Gesellschaft neu zu organisieren. Mit geringen Abweichungen hatte es diese Ideen bereits vom 16. bis 18. Jahrhundert gegeben, gesellschaftlich verkörpert in den Kämpfen von Manqu Inka 1536 und den Amaru-Katari 1780. Aber ebenso wie damals scheitert der indigene Kampf auch heute an der Hartnäckigkeit der kolonialen Strukturen, die für die Indios nur das Schicksal der Züchtigung und Verstümmelung vorsehen. Die historische Erfahrung zeigt uns, dass diese Dialektik zwangsläufig separatistische und konfrontative Einstellungen erzeugt: Wenn die Koexistenz unmöglich ist, reproduzieren die indigenen Bewegungen notgedrungen eine ausgrenzende Identität und fordern radikale und gewaltsame Prozesse der Segregation und Vertreibung der In-

35 Im Moment des Treffens in La Cumbre geschahen sonderbare Phänomene: An einem klaren und milden Tag bewölkte sich plötzlich der Himmel und ein Gewitter brach aus. Donner und Regen dauerten nur Minuten und danach schien die Sonne wieder. Wie könnte man da nicht an die Beschreibung eines Chronisten des Todes von Tupaq Amaru II. denken: »Es geschehen einige Dinge, die der Teufel anzuzetteln und einzurichten scheint, um diese Indios in ihren Unsitten, ihren Vordeutungen und ihrem Aberglauben zu bestätigen. Ich sage das, weil dieser Tag nach tagelanger großer Trockenheit und Wolkenlosigkeit so verhangen begann, dass man das Gesicht der Sonne nicht sehen konnte. Von allen Seiten drohte Regen und zur zwölften Stunde, als die Pferde am Indio zogen, erhob sich ein starker Wind und dann ging ein Wolkenbruch nieder, sodass alle Menschen und sogar die Wächter sich so schnell wie möglich zurückzogen.« (Zitiert in Szeminski, La utopía tupamarista, S. 181.) Zwei Jahrhunderte zuvor berichtete Baltazar de Ocampo wie folgt vom Tod von Tupaq Amaru I.: »Es geschah eine wundersame Sache, dass alle Einheimischen ein so großes Geheul und Geschrei erhoben, dass es der Tag des Jüngsten Gerichts zu sein schien …« (Zitiert in Wachtel, Los vencidos, S. 290.)

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vasoren, wodurch sie versuchen, die 1532 aufgehobene Souveränität wiederherzustellen. Auf der anderen Seite wurde deutlich, dass die indigenen und Aymarainterpretationen des Bürgerschaftsthemas weiterhin debattiert werden: Gleichheit ja, aber in voller Anerkennung des Rechts, anders zu sein. Die Idee eines multiethnischen Staates wirft die gleiche Frage auf, wie einst die Idee des Inkakönigs: Wer oder welche Gruppen können legitimerweise die Spitze der Multisegmentpyramide in einer multiethnischen Gesellschaft einnehmen? Dass diese Debatten durch die Vermittlung des Wortes und als politischer Dialog geführt werden können, ist ein Zeichen dafür, dass die Zukunft in Bolivien noch für verschiedene Möglichkeiten offen ist. Nichtsdestotrotz lässt die Blindheit der offiziellen Sektoren (diejenigen, für die »Reform« lediglich die Aushandlung der Mechanismen bedeutet, mit deren Hilfe die Parteien weiter den Willen des Stärksten durchsetzen können) erahnen, dass die Zeit nicht mehr fern ist, in der der Krieg als katastrophaler Mechanismus auf der Suche nach dem Pachakuti als letztem Versuch, die Harmonie in einer durch die koloniale Erfahrung aus den Fugen geratenen Welt wiederherzustellen, ausbricht.36 Die Disjunktion sowie der Antagonismus zwischen den beiden Bedeutungen dieses Wortes (Katastrophe, aber auch Erneuerung) verbleiben noch immer im Bereich des Virtuellen – aber wie lange noch?

Im Original: Pachakuti: los horizontes históricos del colonialismo interno. In: Xavier Albó und Raúl Barrios (Hg.): Violencias encubiertas en Bolivia. La Paz: CIPCA/ARUWIYIRI, 1993. [Auszug S. 33–54.]

Übersetzung von Sarah van der Heusen. Es lektorierten Maria Cárdenas und Karina Theurer.

36 Das Phänomen des Sendero Luminoso in Peru, das von dem mittlerweile verstorbenen Alberto Flores Galindo eindeutig mit dem Fortwirken tiefgreifender kolonialer Strukturen in Verbindung gebracht wurde, ist ein Fall von katastrophalen Ausbrüchen unzeitgleicher Widersprüche. (Vgl. Flores Galindo, Tupac Amaru II.)

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Die Rolle von Nichtregierungsorganisationen bei der Rechtserzeugung Makau Mutua

Keine andere Gruppe von Akteuren, mit Ausnahme der Staaten, hat derart viel Einfluss im Geschäft der Erzeugung und Fortentwicklung von Menschenrechten wie Nichtregierungsorganisationen (NGOs), insbesondere die großen und gut ausgestatteten der westlichen Welt. Die zunächst sehr kleine Anzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen ist in den vergangenen 30 Jahren explosionsartig angestiegen. Auf den Fluren der Institutionen, in denen Normen konzipiert werden und Durchsetzungsmechanismen für Menschenrechte entstehen, tummeln sich NGOs und ihre Vertreter*innen. Während die formelle Erarbeitung und Verabschiedung von Menschenrechten weiterhin in die Zuständigkeit der Staaten und zwischenstaatlichen Organisationen fällt, können bislang ausgebremste Stakeholder nicht weiter ignoriert werden. Governance wurde zu einer Art gemeinsamen Übung im Hinblick auf die Konzeption und Ausformulierung internationalrechtlicher Instrumente. Es ist den meisten Staaten zuzugestehen, dass sie sich an die neue Realität multilateraler Global Governance unter Beteiligung von NGOs angepasst haben. Allerdings sind zugegebenermaßen auch viele Staaten weiterhin skeptisch oder sogar feindselig gegenüber NGOs, insbesondere wenn die Zivilgesellschaft nur sehr geringfügig oder gar nicht organisiert ist, wie in China oder Myanmar, oder wenn autokratische Regime abweichende Meinungen unterdrücken wie in Nordafrika und im Nahen Osten vor den Massenprotesten im Jahr 2011. Auch Russland und einige andere ehemalige Sowjetstaaten sind noch immer ein schwieriges Terrain für NGOs. In Europa, auch in den ehemals kommunistischen Staaten Ost- und Mitteleuropas, öffneten sich durch die politische und wirtschaftliche Liberalisierung die Tore für zwar junge, dabei aber immer lebendigere Zivilgesellschaften. In einem Großteil der Subsaharastaaten, mit Ausnahme repressiver Systeme wie dem Sudan, Ruanda und Äthiopien – wo 2009 das Charities and Societies Proclamation Law eingeführt wurde, das die Tätigkeiten innerstaatlicher und internationaler NGOs kriminalisiert – haben sich Zivilgesellschaften politische Räume erkämpft und sich seit dem Zusammenbruch der Einparteien-Militärregime der vergangenen 20 Jahre in den öf223

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fentlichen Debatten fest verankert.1 In einigen dysfunktionalen afrikanischen Staaten wie Somalia oder der Demokratischen Republik Kongo fristen zivilgesellschaftliche Akteure, wenn es sie überhaupt gibt, eine gefährdete Existenz. Doch nehmen in den meisten afrikanischen Staaten Anzahl und Mitsprachemöglichkeiten zivilgesellschaftlicher Organisationen kontinuierlich zu. Diese NGOs sind auf nationaler, regionaler und auf Ebene der Vereinten Nationen (UN) zu Schlüsselfiguren der Rechtserzeugung geworden. Nichtregierungsorganisationen und die Agenda für Menschenrechte NGOs sind naturgemäß das verbindende Gewebe zwischen Staat und Gesellschaft. Als Augen der Gesellschaft bemühen sie sich, die Handlungen der Staaten auf nationaler Ebene zu überwachen. Da Staaten letztlich mit der Zustimmung und nach dem Willen der Bürger*innen handeln sollen, sind NGOs zum Bollwerk zwischen Staat und Gesellschaft geworden, das die Wahrscheinlichkeit, dass ein Staat den Interessen seiner Bevölkerung zuwiderhandelt, minimiert. NGOs versuchen, Staaten davon abzuhalten, zu »Schurkenstaaten« zu verkommen. Sie streben die Beeinflussung von Verfahren und Ergebnissen an und ihre Beteiligung an der Rechtserzeugung reicht Jahrhunderte zurück. Beispielsweise spielten die Anti-Slavery Society und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) eine wichtige Rolle bei der Etablierung von Rechtsnormen gegen Sklaverei und bei der Entstehung des humanitären Völkerrechts.2 Die britische Anti-Slavery Society wurde 1823 als NGO gegründet und war wesentlich daran beteiligt, dass die Abschaffung der Sklaverei durch den Slavery Abolition Act von 1833 besiegelt wurde. Dieser sollte Sklaverei in sämtlichen britischen Hoheitsgebieten rechtswidrig machen.3 Die unermüdliche Arbeit des IKRK in Sachen internationale Beziehungen hat dafür gesorgt, dass das humanitäre Völkerrecht heute seine aktuelle Schlagkraft besitzt. NGOs beeinflussten maßgeblich die Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und später den Internationalen Pakt über bürgerliche

1 Mutua, Human Rights NGOs in East Africa. 2 Van Boven, The Role of Non-Governmental Organizations, S. 209–210. 3 Loney, An Act for the Abolition of Slavery; vgl. auch: Temperley, British Antislavery.

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und politische Rechte (Zivilpakt).4 In eine ähnliche Richtung geht die anerkennende Feststellung des ehemaligen sowjetischen UN-Menschenrechtsausschuss-Mitglieds und renommierten Rechtswissenschaftlers Rein Mullerson, der Einfluss von NGOs bei der Rechtserzeugung und im humanitären Völkerrecht nehme zu.5 Beiträge von NGOs wurden von vielen Expert*innen begrüßt, da die Vorschläge prägnant waren und auf Kenntnissen der Lage vor Ort beruhten. Viele dieser Vorschläge stützten sich nicht auf Vermutungen, sondern auf fundierte Erfahrungswerte aus der Praxis, die darlegten, was faktisch umsetzbar sein sollte. Tatsächlich hatten NGOs häufig mehr Sachkenntnis als die Fachleute der Vereinten Nationen. In einigen UN-Gremien wie dem UN-Menschenrechtsausschuss, der aus unabhängigen Expert*innen zusammengesetzt ist, die keine Regierung vertreten, wurde den NGOs ein warmer Empfang bereitet. Tatsächlich durchdringen NGOs die gesamte Menschenrechtsbewegung, nicht nur die Rechtserzeugung. Henry J. Steiner und Philipp Alston schreiben diesbezüglich über NGOs: [S]ie tragen sowohl zur Schaffung als auch zur Verbreitung, Umsetzung und Durchsetzung der Menschenrechte bei … Als dezentrale und diverse Entitäten agieren sie mit einer derartigen Schnelligkeit und Entschlossenheit und zu einer solchen Vielzahl von Themen, wie es im Hinblick auf die Arbeitsweise der bürokratischen und politisch eingeschränkten zwischenstaatlichen Organisationen größtenteils kaum vorstellbar wäre.6 Nichtregierungsorganisationen stehen für ein breites Spektrum nichtstaatlicher Akteure. Viele von ihnen sind begrüßenswert – wie die US-amerikanische Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), die gegen Diskriminierung und für das Wohlergehen von People of Color in den USA kämpft –, andere wiederum verfolgen weniger erfreuliche Ziele wie beispielsweise der ebenfalls USamerikanische Ku Klux Klan (KKK), eine gewaltbereite Gruppe weißer Rassist*innen, die Hass verbreitet. In den Beschreibungen dieser Gruppen

4 Temperley, British Antislavery, S. 211; Bossuyt, Guide to the »Travaux Préparatoires«, S. 823. Charles Malik, der an der Erarbeitung der UN-Menschenrechtserklärung beteiligt war, bemerkte hierzu: »Nichtregierungsorganisationen dienten folglich als Energieversorger und inoffizielle Berater der verschiedenen Delegationen [der UN-Menschenrechtskommission] und versorgten sie mit einem Strom an Ideen und Vorschlägen«; vgl. Nolde, Free and Equal. 5 Mullerson, Sources of International Law. 6 Steiner und Alston, International Human Rights in Context, S. 938.

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kommen die Begriffe »Zivilgesellschaft«, »transnationale Advocacy-Netzwerke« oder »soziale Bewegungen« vor. Im Unterschied zum KKK ist die NAACP eine Menschenrechtsgruppe. Der Begriff Zivilgesellschaft bezeichnet nichtstaatliche nichtregierungsnahe Zusammenschlüsse, die formal unabhängig sind, auch wenn einige von ihnen Hass propagieren. Einige unterhalten ggf. Arbeitsbeziehungen zum Staat oder wurden mithilfe von Regierungen gegründet, aber um als NGO zu gelten, müssen sie formal unabhängig von staatlichen Institutionen sein. In jüngster Vergangenheit wurden einige NGOs oder bestimmte Typen von NGOs kollektiv als »globale Zivilgesellschaft« bezeichnet. Dieser Begriff deutet auf die zunehmende Bildung von Bündnissen unter solchen Gruppierungen hin, die beispielsweise an Antiglobalisierungskampagnen teilnehmen, für transparente und inklusive demokratische Regierungsformen weltweit einstehen oder Menschenrechte fördern. Fest steht, dass NGOs entscheidende Akteure der internationalen Governance geworden sind. In der Anfangszeit der Vereinten Nationen wurde die zentrale Rolle deutlich, die NGOs in internationalen Fragen zukommen würde, doch war den UN noch nicht klar, welches Ausmaß dieser Einfluss im Lauf der Zeit annehmen würde. Dennoch erteilten die UN ihrem Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) die Befugnis, NGOs Konsultativstatus zuzuerkennen, um ihnen eine aktive Beteiligung bei bestimmten Aktivitäten innerhalb der UN zu ermöglichen.7 In Anlehnung an die UN gewähren regionale zwischenstaatliche Organisationen wie die Afrikanische Union, der Europarat und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) NGOs Beobachterstatus und andere Mitwirkungsrechte. Nicht zuletzt hat die Welthandelsorganisation (WTO) die Intervention von NGOs in einigen ihrer Entscheidungsgremien ermöglicht.8 In den meisten regionalen Systemen ist die Beteiligung begrenzt, was auch auf die UN zutrifft, wo der Zugang streng reglementiert ist. Der vom ECOSOC gewährte Konsultativstatus für NGOs gilt etwa nur für diejenigen UN-Organe, die administrativ unter den Wirtschafts- und Sozialrat fallen, wie den UN-Menschenrechtsrat. Der Sicherheitsrat, die Generalversammlung und die verschiedenen Menschenrechtsvertragsorgane fallen nicht in diese Kategorie.9 Über 2.000 Gruppen genießen derzeit Konsultativstatus bei den Vereinten Nationen; dies ermöglicht es ihnen, »zu verlangen, dass Punkte auf die Tagesordnung des 7 Art. 71 UN-Charta, 1 UNTS XVI (1945). 8 WTO, Art. 5 Abs. 2 des Marrakesh Agreement Establishing the World Trade Organization; The Result of the Uruguay Round of Multilateral Trade Negotiations. The Legal Texts, 1987 UNTS 154, 33 I.L.M. 1144 (1994). 9 ECOSOC, Resolution 1296 (XLIV) (23. Mai 1968).

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zuständigen Gremiums gesetzt werden, an Sitzungen teilzunehmen [und] schriftliche Stellungnahmen und mündliche Präsentationen bei Sitzungen abzugeben«10. Dieser verbesserte Zugang für NGOs stellt eine große Veränderung bei regionalen und UN-Organen dar und NGOs werden, wie Christine Chinkin feststellt, bei der UN nicht nur befragt, wie zu Anfang vorgesehen, sondern sind mittlerweile in zahlreichen Foren innerhalb der Organisationen vertreten. Sie reden tatsächlich mit: Dieser kaum vielversprechende Ausgangspunkt [Art. 71 Bestimmung zur bloßen Konsultation] hat die Entwicklung einer Beziehung zwischen den NGOs und den UN ermöglicht, die zu Beginn als reine Beratungsbeziehung definiert war und nicht als repräsentative Funktion. Dennoch hat das Akkreditierungskonzept den NGOs den Zugang zu zwischenstaatlichen Organisationen und somit eine umfassendere Teilhabe ermöglicht, als die Verfasser von Artikel 71 vorhersahen.11 Die Durchdringung der Arbeit der Vereinten Nationen und regionaler Organisationen durch NGOs ist stärker spürbar, als es das formelle Regelgerüst vermuten lässt. Die tatsächliche Interaktion zwischen NGOs und Staaten deutet auf einen fließenden Prozess in der Zusammenarbeit hin. Dort, wo es keine formellen Möglichkeiten zur Beteiligung von NGOs gibt – wie es bei einigen Menschenrechtsvertragsorganen wie dem UN-Menschenrechtsausschuss, dem Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW-Ausschuss) und dem Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD-Ausschuss) der Fall ist –, wurden eher informelle Möglichkeiten der Beteiligung von NGOs entwickelt. Die meisten Ausschüsse erkennen mittlerweile die Unverzichtbarkeit einer Beteiligung von NGOs an und haben diesbezüglich eine Reihe mehr oder minder formeller Methoden eingeführt, die die Erschließung der Fertigkeiten, der Kenntnisse und der fachlichen Expertise aus NGOs möglich machen. Immer mehr jüngere Vertragsorgane ordnen NGOs formale Rollen zu. Immer mehr Mitglieder von UN-Ausschüssen kommen aus zivilgesellschaftlichen Organisationen, wo sie tief verwurzelt sind und Beziehungen und Netzwerke mit ehemaligen Kolleg*innen pflegen. Vertreter*innen oder Expert*innen der UN ermöglichen leichten und sofortigen Zugang zu NGOs. Sie nehmen Beratungsleistungen in Anspruch und »konspirieren« sogar mit NGOs in Sachen beste Strategien. Es wird deutlich, wie Rachel

10 Steiner und Alston, International Human Rights in Context, S. 980; vgl. auch Posner und Whittome, The Status of Human Rights NGOs. 11 Chinkin, Human Rights and the Politics of Representation, S. 135.

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Brett feststellt, dass NGOs in den Prozessen der Rechtserzeugung unabdingbar geworden sind: Mit der Zeit wurde die Bedeutung des Beitrags von NGOs anerkannt und schließlich formalisiert, zunächst durch die UN-Kinderrechtskonvention (1989) und kurz darauf, als im Oktober 1992 das Treffen der Vorsitzenden der Vertragsorgane sowohl nationale als auch internationale NGOs dazu drängte, relevante Informationen systematisch und zeitnah zur Verfügung zu stellen. Im Detail unterscheiden sich die Vorgehensweisen von Ausschuss zu Ausschuss, wobei die UN-Kinderrechtskonvention wohl diejenige ist, die bei anderen Vertragsorganen einen gewissen Neid hervorzurufen vermag, denn ihr ist eine Gruppe von NGOs beigeordnet, die über eine Vollzeitstelle unter anderem die Beiträge der NGOs zum Ausschuss organisiert und koordiniert.12 Rechtsetzungsprozesse wurden zu eher offenen Arenen von Governance. Aufgrund der veränderten Beziehung zwischen NGOs und den UN sowie weiteren normerzeugenden Foren plädieren Vertragsorgane mittlerweile häufig für mehr Beteiligung von NGOs.13 Dahinter steht auch die Erkenntnis, dass eine größere Spannbreite an Denkformen notwendig ist, um den Vorstellungsrahmen zu erweitern, und NGOs sind in der Lage, diese wertvolle Ressource zu liefern. Häufig können NGOs Wissenschaftler*innen aus ihrem Vorstand dazu animieren, erstklassige Gutachten beizusteuern. Dieser Zugang, der dem jeweiligen UN-Organ offensteht, wird durch die Universitäten unterstützt, an denen diese Expert*innen in Forschung und Lehre tätig sind. Die aufgeklärteren UN-Gremien – sowie Staatsvertreter*innen in UN-Gremien – wissen, wie wertvoll diese Unterstützung sein kann. Im Vorstand der in New York City ansässigen Organisation Human Rights Watch sitzen beispielsweise einige Berater*innen aus Universitäten. Das Hochkommissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen beauftragt Forscher*innen aus aller Welt für spezifische Projekte und Ländermissionen oder als Träger*innen von UN-Sondermandaten. Dennoch sind viele der Mandatsträger*innen Mainstream-Menschenrechtsaktivist*innen, die nach etablierten Denkschemata arbeiten. Dessen ungeachtet betrachten Vertragsorgane NGOs immer mehr als Partner und nicht als Gegenspieler. Diese offene Grundhaltung hat die Legitimität von Normen verstärkt und die Tür für einen breiteren Konsens in Sachen Menschenrechte

12 Brett, Non-Governmental Actors, S. 329. 13 UN Office of the High Commissioner for Human Rights, Report of the Fifth Meeting of Persons Chairing the Human Rights Treaty Bodies, U.N. Doc. A/49/537 (1994).

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geöffnet. Es ist die längst überfällige Einsicht, dass so viele Interessensvertreter*innen wie möglich anwesend sein und sinnvoll mitarbeiten müssen, wenn internationale Institutionen Entscheidungen treffen, die die ganze Welt betreffen. Mit der formalen Einbeziehung von NGOs ist es solchen Foren möglich, eine größere Vielfalt an Sichtweisen aufzunehmen und zu berücksichtigen. Ideolog*innen und führende Denker*innen sind in jeder Bewegung unverzichtbar, denn keine Bewegung sollte handeln, ohne zu denken. Die Verbindung und der Austausch zwischen Denken und Handeln – bzw. Praxis – sind die Grundlage aller erfolgreichen Bewegungen. Ideen müssen praktiziert werden, da es gilt, ihre Umsetzbarkeit zu testen, und damit die Praxis wiederum Ideen gestalten kann. Dies ist der Grund, warum zwischen Denker*innen und Aktivist*innen keine Grenze verlaufen sollte. Aktivist*innen denken fortwährend, wenn sie handeln, und Denker*innen agieren stets oder beobachten andere beim Handeln, wenn sie denken. Die führenden Akteure und Ideolog*innen der Menschenrechtsbewegung sind die Individuen und Einrichtungen, die die normativen Grundlagen der Bewegung, die Konzeptionierung und die Umsetzung der geforderten Normen maßgeblich beeinflusst haben. Darunter sind Institutionen wie die Vereinten Nationen, regionale zwischenstaatliche Organisationen, Menschenrechts-NGOs und Gerichtshöfe. In der akademischen Welt waren unter den konzeptuellen Vordenker*innen der Menschenrechtsbewegung Berühmtheiten wie Louis Henkin (Columbia University), Shadrack Gutto (University of South Africa), Thomas Buergenthal (American University), Virginia Leary (SUNY Buffalo Law School), die ehemalige Vorsitzende des Internationalen Gerichtshofs Rosalyn Higgins, Louis B. Sohn (Harvard University), Philip Alston (New York University), Abdullahi Ahmd An-Na’im (Emory University), Issa Shivji (University of Dar-es-Salaam, Tansania) und Yash Pal Ghai (University of Hong Kong). Diese Wissenschaftler*innen haben neben vielen weiteren in Europa, Afrika, Asien und Lateinamerika den aktuellen Menschenrechtsdiskurs mitgestaltet. Unter all diesen Akteuren hat allerdings niemand die Agenda der Menschenrechtsbewegung derart intensiv beeinflusst wie die internationalen NGOs (INGOs).14 Sie bilden innerhalb der Bewegung das Gerüst für den fortschrittlichsten und bestausgestatteten Aktivismus. Sie haben Zugriff 14 Vgl. Steiner, Diverse Partners, S. 19–22. INGOs sind diejenigen MenschenrechtsNGOs, die in den politisch und kulturell wichtigsten westlichen Metropolen ansässig sind. Dazu zählen Amnesty International in London, Human Rights Watch und Human Rights First in New York City, Global Rights in Washington, D. C., und die Internationale Juristenkommission in Genf.

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auf einen weitreichenden Fundus an Wissen, Kontakten und finanziellen Mitteln. Sie arbeiten eng mit einigen der einflussreichsten Wissenschaftler*innen und Theoretiker*innen des Bereichs zusammen. Von wenigen wichtigen und angesehenen Ausnahmen abgesehen haben INGOs und westliche Akademiker*innen im Allgemeinen gleiche kulturelle, historische, philosophische und ideologische Vorstellungen. Diese beiden Gruppen haben die wichtigste Position unter den Akteur*innen und Vordenker*innen in Sachen Menschenrechte inne. INGOs bestimmen die Agenda der Menschenrechtsbewegung, zumeist außerhalb der Korridore der Vereinten Nationen. Lobbyarbeit wird in Hauptstädten geleistet, intellektuelle Legitimierung geschieht in Vorlesungssälen bei wissenschaftlichen Symposien, Fachkonferenzen und Treffen und nur die abschließenden Feinheiten werden bei den UN verhandelt. Zumeist wurden die Schlüsselstrategien bereits von einigen wenigen NGOs aus den reicheren Ländern bestimmt. Es überrascht nicht, dass die einflussreichsten INGOs aus dem Westen stammen. Sie nutzen ihre Erste-Welt-Ressourcen – Geld, politische Macht, Nähe zu globalen Hegemonen – und reproduzieren globale Machtverhältnisse und Hierarchien. Und doch stellen sie ihre Vormachtstellung als nobel und moralisch dar und geben vor, sich für Menschenrechte einzusetzen – ein Ziel, das sie scheinbar mit den NGOs des Südens verbindet. INGOs würden natürlich immer behaupten, sie leiteten die NGOs aus dem Süden entweder an oder arbeiteten partnerschaftlich mit ihnen zusammen. Die internationale Nichtregierungsorganisation Global Rights mit Sitz in Washington beispielsweise wirbt mit dem Slogan Global Rights: Partners for Justice. Dies könnte durchaus als Deckmantel eines hegemonialen Strebens gegenüber NGOs des Südens missverstanden werden, oder es könnte als ehrlicher Versuch gelesen werden, den hegemonialen Charakter von INGOs zu überwinden. Dieses Machtgefälle kann ohne eine umfassende Veränderung der zur Verfügung stehenden Ressourcen und verortungsspezifischen Dynamiken nicht überwunden werden. Diese Beziehungen sind zum Teil individuell einstellungsbasiert, aber es wäre ein grobes Missverständnis, die Frage weltweiter Machtdynamiken angesichts dieser Erkenntnis auf sich beruhen zu lassen. Die Verortung und Machtposition der INGOs macht sie konservativ, vorsichtig und zu Befürwortern des Establishments. INGOs, die ich als konventionelle Doktrinäre bezeichnet habe, sowie westliche Akademiker*innen, die die dominanten Konzepte der Menschenrechtsbewegung liefern, eint eine spezifische Vorstellung von Gesellschaft, die durch Men-

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schenrechte geschaffen werden soll.15 Auch die einzelnen philanthropischen Spender*innen der INGOs, wie auch gemeinnützige Organisationen wie die Ford Foundation gehen bei ihrer Gesellschaftsvision von gleichen Glaubenssätzen aus.16 Als beruflich erfolgreiche Jurist*innen oder auf Finanzmärkten versierte Investor*innen haben diese Geldgeber*innen eine Affinität zum freien Markt und einer politisch offenen Gesellschaft. Die INGOs wiederum geben dem Druck ihrer Geldgeber*innen nach, indem sie einzelne Menschenrechte selektiv besonders hervorheben. Sie überwachen die Umsetzung, sammeln und veröffentlichen Datenmaterial und kämpfen gegen Rechtsverletzungen ganz überwiegend im Hinblick auf die ihren Förderer*innen so am Herzen liegenden bürgerlichen und politischen Rechte. In Bereichen, die ihren Geldgeber*innen unangenehm sein könnten, fehlt diese Unterstützung bei der Rechtserzeugung. Diejenigen, die die Konzepte liefern, sind ihrerseits auch die Vordenker*innen, die den Kanon der Menschenrechte ordnen. Sie sind die Ideolog*innen der Bewegung. Auch sie eint ein Gesellschaftsbild, weitgehendes Einvernehmen und ideologischer Gemeinschaftsgeist hinsichtlich des Liberalismus. Alle Interessengruppen – INGOs, hochrangige Wissenschaftler*innen und Geldgeber*innen – sind der Ansicht, dass die Setzung, Durchsetzung und Anwendung von Menschenrechten zu einem rechtlichen und politischen System führen soll, das gemeinhin als Konstitutionalismus bekannt ist. Für westliche Menschenrechtler*innen in Praxis und Wissenschaft ist Liberalismus – getreu der Begriffsverwendung zur von ihnen unterstützten politischen Gesellschaftsform – ein kulturelles, philosophisches und wirtschaftliches Anliegen. Er ermöglicht die Art der Gesellschaft, in der ihrer Vorstellung nach die Freiheiten verwirklicht sind, die sie anstreben. Die zentralen Grundsätze und Werte des Liberalismus werden im Westen von Kindheit an in die Köpfe eingeimpft. Faktisch muss ein derartiges System folgende fünf Kerneigenschaften aufweisen: Herrschaft des Staatsvolks, bei der sich die Macht des Staates direkt aus dem Willen des Volks ergibt; Rechenschaftspflicht des Staates gegenüber dem Volk, was durch verschiedene Prozesse sichergestellt wird, etwa echte, regelmäßige und mehrparteiliche Wahlen, bei denen die Parteien frei um die Macht konkurrieren; Beschränkung und Kontrolle der Regierung durch Gewaltenteilung, wobei kein Regierungsbereich einem anderen direkt unterstellt ist; Unabhängigkeit der Justiz, da sie die Rechtsstaatlichkeit sicherstellt und bei Rechtsstreitigkeiten vermittelt, auch zwischen verschiedenen Regierungsberei-

15 Mutua, The Ideology of Human Rights. 16 Steiner, Diverse Partners.

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chen; und die für einen solchen Staat unabdingbare förmliche Erklärung individueller bürgerlicher und politischer Rechte. Dieses Bündel an Merkmalen bildet das, was in den Politikwissenschaften als liberale Demokratie bezeichnet wird. Diese Werte sind sowohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) und den meisten universellen Menschenrechtsinstrumenten festgeschrieben und haben sich zur Grundlage der Verfassungsrechtstheorie zum liberalen Staat westlicher Prägung entwickelt.17 Trotz unterschiedlicher Bezeichnung in Normtext und Praxis besteht über ihren normativen Inhalt doch weitgehend Konsens. Für INGOs und führende westliche Wissenschaftler*innen besteht der Zweck der Menschenrechtsbewegung darin, diese Gesellschaftsform zu fördern. Diese Tatsache haben die INGOs nie offen akzeptiert, doch führt die Durchsetzung der von ihnen erstrebten Rechte in einer Gesellschaft geradewegs zur Entstehung eines politischen Staates, der durch und durch dem Liberalismus entspricht. Nach außen gerichtete Institutionen tendieren dazu, inländische nachzuahmen; die Ursprünge der INGOs sind hier keine Ausnahme. Die Menschenrechts-INGOs haben große Ähnlichkeit mit traditionellen westlichen Bürgerrechtsorganisationen. In Bezug auf Theorie und Vorgehensweise sind INGOs ideologische Nachahmer herkömmlicher westlicher Bürgerrechtsorganisationen wie beispielsweise der American Civil Liberties Union (ACLU) und der NAACP mit Blick auf die USA. Die Genealogien dieser beiden Organisationen sind ähnlich und ihre Mandate waren, zumindest zu Beginn, nahezu identisch. Sie konzentrierten sich auf eine kleine Kernauswahl von Grundrechten. Zu Beginn waren mit »Erste-WeltNGOs« diejenigen gemeint, die sich traditionellen westlichen und mit den Ursprüngen der Menschenrechtsbewegung verbundenen Werten verschrieben hatten. Sie befinden sich in den großen kulturellen und politischen Zentren der westlichen Welt und viele von ihnen verlassen ihre Heimatländer weder thematisch noch geografisch. Selten haben ACLU und NAACP Rechtsverletzungen jenseits der Grenzen der USA zur Sprache gebracht. Doch allmählich bezog die Kategorie »erste Welt« die meisten mächtigen internationalen NGOs mit ein, die überwiegend Vorkommnisse auf der Südhalbkugel untersuchten. Die meisten INGOs thematisieren größtenteils Menschenrechtsverletzungen außerhalb der USA bzw. außerhalb ihres europäischen Herkunftslandes. Die großen INGOs – Amnesty International, Human Rights Watch, die International Commission for Ju-

17 Steiner und Alston, International Human Rights in Context, S. 361–365, 989–991.

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rists, das Lawyers Comittee for Human Rights (heute Human Rights First) und die International Human Rights Law Group (heute Global Rights) – wurden vorwiegend von westlichen Bürgerrechtsanwält*innen und Aktivist*innen gegründet. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind mindestens ein halbes Dutzend INGOs mit dem ausdrücklichen Ziel entstanden, liberale Werte – gemeinhin bekannt als Menschenrechte – auf der ganzen Welt zu fördern.18 In den Vereinten Nationen, jenem Gebilde der Nachkriegszeit, das auf der Vision einer von liberalen Staaten regierten Welt gründete, hatten die INGOs den perfekten Partner gefunden. Bisweilen sind INGOs und NGOs auf beiden Ebenen tätig: national wie international. ACLU und Human Rights Watch sind Beispiele hierfür. Historisch gesehen weisen INGOs eine Vorliebe und Parteilichkeit für bestimmte Rechte auf, die sie anderen vorziehen. Für diese Voreingenommenheit gibt es zahlreiche Gründe, doch hat der überzeugendste damit zu tun, dass sich INGOs dem säkularen, rechtebasierten, liberalen demokratischen Staat verbunden fühlen. Und das führt dazu, dass es INGOs vermeiden, eine bestimmte Wirtschaftstheorie anzusprechen oder zu vertreten, obwohl die von ihnen vertretenen Werte mit der freien Marktwirtschaft im Einklang stehen. Im Ergebnis meiden viele INGOs rechtliche Auseinandersetzungen, die die Grundannahmen zum freien Markt erschüttern könnten. Allgemein gilt, dass sich INGOs bei der Etablierung und Stärkung von Rechten im Bereich wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte ungemein zurückgehalten haben, obwohl der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) dem Schutz dieser Rechte dient. Zwar erkennen INGOs den Sozialpakt durchaus als gültigen Vertrag an und unterstrichen das Prinzip der Untrennbarkeit und der wechselseitigen Abhängigkeit der Menschenrechte bei der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien 1993. Dennoch blieb es in diesem Bereich vielfach bei bloßen Lippenbekenntnissen seitens der INGOs, ohne dass ernsthafte konkrete Schritte unternommen worden wären, den Sozialpakt voranzubringen. Erst in den vergangenen zehn Jahren sind Human Rights Watch und Amnesty International in den Bereich wirtschaftlicher und sozialer Rechte vorgedrungen. Es gibt vielversprechende Anzeichen dafür, dass die Zurückhaltung auf diesem Gebiet allmählich verschwindet. Sehr wenige INGOs haben sich ausschließlich wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten verschrieben; die bekanntesten unter ihnen sind das New Yorker Center for Economic and Social Rights (CESR), das International Network of Economic, Social, and Cultural Rights in New York

18 Welch Jr., NGOs and Human Rights.

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City (ESCR-Net), die US-amerikanischen Physicians for Human Rights, die in Boston ansässige INGO Oxfam und das Heidelberger Informationsund Aktionsnetzwerk FoodFirst (FIAN International), das sich für das Recht auf Nahrung einsetzt. Mit Ausnahme von Oxfam sind diese Gruppen recht jung. Es ist bezeichnend, dass sie allesamt nach dem Kalten Krieg gegründet wurden, zu einer Zeit, als soziale und wirtschaftliche Rechte allmählich ihr kommunistisches Stigma verloren. Während des Kalten Krieges betrachteten die meisten INGOs wirtschaftliche und soziale Rechte mit der gleichen Geringschätzung wie es westliche Regierungen taten. Im Lauf der Jahre sind die INGOs immer mehr unter Druck geraten, sich mehr mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten zu beschäftigen. Obwohl ein Großteil dieses Drucks aus der südlichen Hemisphäre kam, gab es auch bedeutende westliche Stimmen. INGOs liefen Gefahr, für den globalen Süden irrelevant zu werden, wenn sie sich nicht für wirtschaftliche und soziale Rechte einsetzten. Druck kam auch von führenden Theoretiker*innen, die auf diese Unaufrichtigkeit der INGOs verwiesen und sie mit dem Argument kritisierten, die gesamte Bewegung werde geschwächt, wenn eine bestimmte Art von Rechten nicht unterstützt werde. 1990 wies der vormalige Vorsitzende des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Philip Alston, auf die einseitige Fokussierung auf einige wenige politische und bürgerliche Rechte bei Amnesty International hin.19 Als langjähriger Verfechter der Untrennbarkeit und wechselseitigen Abhängigkeit der Menschenrechte war der Australier Alston einer der ersten namhaften westlichen Kritiker der INGOs. Er verfasste zahllose Schriften zum Thema und nutzte seine prominente Position als Vorsitzender des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, um den Druck auf die INGOs zu erhöhen. Seiner Auffassung nach sollte sich Amnesty International nicht nur, wie es der Fall war, auf einige wenige Menschenrechte konzentrieren, und zwar auf diejenigen, »die eng mit der westlichen liberalen Tradition verbunden sind«20. Die harsche Kritik von Alston als westlichem Menschenrechtler konnte nicht so einfach als tollwütiger »Dritte-Welt-Radikalismus« abgetan werden. Alston argumentierte, dass Amnesty sehr wohl für die Gesamtheit der Menschenrechte einstehen konnte, ohne dabei die eigenen Kernanliegen aufzugeben, um »die Machbarkeit, die juristische Genauigkeit und das

19 Alston, The Fortieth Anniversary, S. 12. 20 Ebd.

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operative Potenzial«21 der eignen Arbeit weiterhin sicherzustellen zu können. Tatsächlich räumte Alston Amnesty International durchaus Spielraum für eine Atempause als Gegenleistung ein. Wenn Amnesty voll für wirtschaftliche und soziale Rechte einstehen würde, war die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass andere INGOs nachziehen würden. Der Grund dafür war einfach: In Sachen Menschenrechte galt Amnesty als Goldstandard, an dem sich andere Menschenrechtsgruppen orientierten. Er rief Amnesty direkt dazu auf, diese Führungsrolle einzunehmen und sämtliche Menschenrechte zu unterstützen: Das wichtigste Argument gegen meinen Einwand ist wahrscheinlich, dass es Amnesty wie allen übrigen Menschenrechtsorganisationen zusteht, den eigenen Fokus selbst zu bestimmen, und dass andere Gruppen die dadurch entstehenden Lücken besser füllen können. Dieses Argument missachtet jedoch die Tatsache, dass Amnesty wohl oder übel die alleinige dominante Kraft auf diesem Feld ist. Amnesty International ist größer, reicher, besser organisiert sowie repräsentativer und einflussreicher als die meisten anderen Gruppen zusammen. Im Ergebnis bedeutet das, dass hier die Rechtfertigung, die bei kleineren NGOs (wenn auch widerwillig) akzeptiert werden muss, nicht gilt. Auch die Großen müssen stets daran erinnert werden, dass Macht und Einfluss Verantwortung mit sich bringen. Ein Großteil dieser Verantwortung mag nicht erwünscht sein, sie lässt sich allerdings nicht ohne Weiteres abschütteln.22 Dennoch dauerte es ein Jahrzehnt, bis Amnesty den Blick auf wirtschaftliche und soziale Rechte richtete und erstmals die Bekämpfung von Armut als eines der gewichtigsten Anliegen der Organisation bezeichnete. Amnesty International war weltweit zum Vorbild avanciert. Leider ahmten zahlreiche nationale NGOs des globalen Südens die von Amnesty vorgelebte Arbeitsweise und Ausrichtung nach. Vorbildfunktion und Macht der Organisation waren so groß, dass viele dieser NGOs, insbesondere die früh gegründeten, fast wortwörtlich die Statuten von Amnesty übernahmen, darunter die nigerianische Civil Liberties Organization (CLO). Viele Menschenrechtsgruppen im globalen Süden konzentrieren sich noch immer auf politische und bürgerliche Rechte, wobei in den vergangenen zehn Jahren einige NGOs neu gegründet wurden, die sich auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte spezialisierten, etwa das

21 Ebd. 22 Ebd.

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Social and Economic Action Rights Center (SERAC). Das zukünftige Umfeld dieser Gruppen – die häufig in Reaktion auf die Verheerungen der Globalisierung entstehen – ist noch immer ungewiss, da sie weder gut vernetzt noch gut finanziert sind. Sie verfügen nach wie vor über weit weniger Ressourcen als herkömmliche Gruppierungen. Einige ältere NGOs überarbeiten derzeit ihre Mandate, um ihren Einsatz auf ein breiteres Spektrum an Menschenrechten auszudehnen. Tatsächlich erzielten solche Gruppen, die sich zu Beginn auf bürgerliche und politische Rechte konzentriert hatten, dann jedoch ihre Ausrichtung erweiterten, größere Erfolge bei der Durchsetzung wirtschaftlicher und sozialer Rechte. Die kenianische Human Rights Commission ist ein passendes Beispiel. Als eine der wichtigsten kenianischen NGOs erweiterte sie ihr Mandat und fand Geldgeber*innen, die dies unterstützten, da sie bereits auf erfolgreiche und professionelle Arbeit zurückblicken konnte. Allerdings sind die nationalen NGOs des globalen Südens tendenziell elitär, in urbanen Zentren angesiedelt und häufig abgeschottet von den Menschen, für die sie sich einsetzen. Womöglich wird dieser Elitismus durch die Vorbildfunktion der INGOs, bei denen die Geldgeber*innen Arbeitsschwerpunkte diktieren, verstetigt. Fest steht, dass diese einheimischen NGOs des Südens Mittel aus westlichen Stiftungen und Hilfsorganisationen sowie von Entwicklungszusammenarbeitsinstitutionen traditioneller Geberstaaten wie der United States Agency for International Development erhalten. Diese NGOs verfügen über keine signifikante Finanzierung vor Ort, sodass sie eng an ihre ausländischen Geldgeber gebunden sind, die der ehemalige Geschäftsführer der Kenyan Human Rights Commission, Willy Mutunga, als »unsere ausländischen Lehrmeister«23 bezeichnet. Mutunga, der in Kenia geboren und dort 2011 zum obersten Richter ernannt wurde, war der erste Kenianer, der die Ford Foundation in Ostafrika leitete. In dieser Rolle setzte er sich nachdrücklich für die Finanzierung von Projekten im Bereich wirtschaftliche und soziale Rechte ein. In früheren Jahren war diese Position für Ausländer reserviert gewesen, in der Regel aus den USA, die nur sehr wenig über Afrika wussten. Es lag nahe, dass sie ihre Vorprägungen mitbrachten und nur eine eingeschränkte Bandbreite an Rechten förderten. Mutunga hingegen kannte das Terrain und war in der Lage, die Vorzeichen zu ändern. Während eine einheimische Person an der Spitze einer ausländischen Wohlfahrtseinrichtung allein die Machtdynamik zwischen Geldgeber*innen und Empfänger*innen nicht grundlegend verändert, hat dies doch das Potenzial, den ideologischen Graben zwischen bei-

23 Willy Mutunga in einem Gespräch mit dem Autor, 2002.

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den zu verringern. Vieles hängt von der ideologischen Haltung der Personen vor Ort ab. Erfahrungsgemäß haben solche von Abhängigkeit geprägten Beziehungen sichergestellt, dass die meisten NGOs im Süden die Interessen der Geldgeber vertreten, die nicht unbedingt mit der lokalen Menschenrechtsagenda übereinstimmen – was sie wiederum der Freiheit und der Motivation beraubt, maßgeblich an der Ausarbeitung der Agenda der globalen Menschenrechtsbewegung mitzuarbeiten. Während diese Tendenzen infrage gestellt werden und wahrscheinlich in Afrika drängender sind als in Lateinamerika oder Asien, stammen die finanziellen Mittel für Menschenrechtsgruppen in aller Welt aus dem Westen. Wie Chidi Anselm Odinkalu, ein bedeutender afrikanischer Menschenrechtstheoretiker und -aktivist, schreibt, ist diese Situation weder gesund noch kann sie der Bewegung an der Basis Halt geben. Die derzeitige Menschenrechtsbewegung in Afrika – möglicherweise mit Ausnahme der Frauenrechtsbewegung und religionsbasierter Initiativen für soziale Gerechtigkeit – scheint die Beteiligung der Menschen, um deren Wohlergehen es vorgeblich geht, nahezu systematisch auszuschließen. Die meisten Menschenrechtsorganisationen sind den Watchdog-Organisationen der Nordhalbkugel nachempfunden, die in Städten angesiedelt sind, zentral verwaltet werden, über keine Mitgliederbasis verfügen (mit Ausnahme von Amnesty International) und ausschließlich von Mitteln aus Übersee abhängen. Die erfolgreichsten dieser Organisationen bringen es höchstens zu einem Status, der einem staatlichen Denklabor, einem Forschungsinstitut oder einem Fachverlag gleichkommt. Infolge der mediengetriebenen Sichtbarkeit und eines damit zu vereinenden Lebensstils genießt der Führungsstab dieser Initiativen Privilegien und Komfort und entfernt sich immer weiter von den Entbehrungen der Bevölkerung.24 Neben der Finanzierungsfrage haben NGOs des globalen Südens weitere Nachteile, darunter der fehlende Zugang zu mächtigen Staaten und ihren Medien. Zugang zur Presse, insbesondere zu sogenannten internationalen Medien wie Associated Press, CNN, BBC, der New York Times und weiteren führenden Nachrichtenunternehmen, stellt das politische und kulturelle Kapital dar, auf dem die INGOs gedeihen. Der Einfluss und die Schlagkraft, die sich aus der medialen Berichterstattung ergeben, beeinflussen den möglichen Einfluss und Zugriff auf Vertreter*innen mächtiger Staaten direkt. Der Zugang zu Medien ermöglicht es INGOs, politische

24 Odinkalu, Why More Africans Don’t Use Human Rights Language, S. 4.

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Entscheidungen in ihren Ländern zu beeinflussen oder ihre Regierungen dazu zu bringen, Druck auf einen Staat des globalen Südens auszuüben und so eine Verhaltensänderung herbeizuführen. NGOs des globalen Südens sind von dieser Welt der politischen Einflussnahme weit entfernt. Häufig sind sie nicht einmal in der Lage, die Ressourcen für notwendige Auslandsreisen und Lobbyarbeit bei den UN-Foren in New York und Genf aufzutreiben, wo die INGOs ihre Agenda für die Menschenrechtsbewegung bewerben. Die meisten dieser Probleme spiegeln geopolitische Machtverhältnisse wider, die sich wiederum in der Welt der zivilgesellschaftlichen NGOs zeigen. Um dieses Ungleichgewicht zu erschüttern und zu überwinden, wäre eine aufrichtige grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen INGOs und anderen NGOs notwendig. Andernfalls werden INGOs weiterhin überproportional großen Einfluss auf die Festlegung der Agenda der Menschenrechtsbewegung ausüben. Nichtregierungsorganisationen und Rechtserzeugung Einer der Hauptzwecke der Existenz von Staaten ist die Erhaltung und Konsolidierung von Macht. Staaten sind zutiefst selbstbezogen und naturgemäß eigennützig und tendieren daher dazu, alles abzulehnen, was ihre Souveränität einengen könnte. Als Geschöpfe von Macht und Gewalt, die auch weiterhin auf diese angewiesen sind, sind Staaten keine vertrauenswürdigen Sachwalter menschlichen Wohlergehens. Sie brauchen Menschen für ihr Bestehen, aber sie neigen dazu, das Individuum zu unterdrücken, anstatt es zu befreien. Staaten sind in dieser Hinsicht konservative Institutionen, denen es ausschließlich um das eigene Fortbestehen geht, sogar auf Kosten ihrer eigenen Staatsbürger*innen. Zwischenstaatliche Institutionen oder Organisationen wie die Vereinten Nationen erschaffen auf internationaler Ebene Recht und wirken somit ausgleichend auf zwischenstaatliche Rivalitäten. Sie sind allerdings auch janusköpfig. Im Kern sind sie etatistisch und sollen den Dialog unter Staaten ermöglichen; in diesem Sinne sind sie staatsfreundlich, da sie gewissermaßen als Superstaat agieren. Doch zielt ihre Tätigkeit auch auf Staaten ab; das heißt, sie überwachen und beaufsichtigen Staaten. Obwohl verschiedene Staaten einer zwischenstaatlichen Organisation angehören, ist diese häufig unabhängig von jedem Einzelstaat. Tatsächlich können sie gegen einzelne Staaten vorgehen und tun dies auch. Ein gutes Beispiel hierfür stellt die Autorisierung militärischer Handlungen gegen einen Staat seitens der UN oder eines ihrer Hauptorgane wie des Sicherheitsrats dar. Im Grundsatz dienen zwischenstaatliche Organisationen deshalb der Ver238

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tretung der Interessen von Staaten, auch wenn sie es mit einem »abtrünnigen« Staat zu tun haben. In diesem Fall wird der betreffende Staat zum Außenseiter, zum »Anderen«. Vorgeblich unternimmt die zwischenstaatliche Organisation einen feindlichen Akt gegen einen Mitgliedsstaat zum Wohle der Ordnung, das heißt, um die Integrität des Staatensystems und die dadurch bedingte internationale Ordnung zu bewahren. Im Vergleich dazu sind NGOs nicht zwangsläufig etatistisch, weder ihrem Selbstverständnis nach noch hinsichtlich ihrer Ausrichtung. Sie existieren, um den Staatsapparat zu beeinflussen und seinen Willen zu beugen. Sie streben danach, die Macht der Staaten im Hinblick auf einzelne Ziele und Zwecke zu zügeln, einzuschränken und in Grenzen zu halten. Nach ihrem Verständnis nehmen sie innergesellschaftlich die Rolle des Bürgerschaftsgewissens ein, sie verstehen sich als Interessenvertretung der Zivilbevölkerung gegen unzulässige staatliche Übergriffe. NGOs decken das gesamte ideologische Spektrum vom fundamentalistischen linken bis zum extremen rechten Rand ab. Von selbstlos bis selbstsüchtig ist alles vertreten.25 Nicht alle NGOs sind ethisch gesehen rechtschaffen oder stehen auf der Seite von Menschenrechten oder humanistischen Werten, aber praktisch alle NGOs behaupten, ihre Arbeit diene einem bestimmten Interesse der Allgemeinheit. Offensichtlich werden sie in liberalen, säkularen und demokratischen Staaten am wenigsten eingeschränkt. Je weniger offen bzw. je intransparenter ein Staat ist, desto schwieriger sind Gründung und alltägliche Arbeit der NGOs. Staaten und NGOs bestehen nebeneinander in einem Modus tatsächlicher oder potenzieller Reibung. Obwohl die rechtliche Existenz der NGOs von staatlicher Seite bewilligt wird, besteht ihre Hauptaufgabe in der Kontrolle oder der Ausübung von Druck auf diesen Staat. Bei praktisch allen NGOs gehört Advocacy zur grundsätzlichen Aufgabe und bei den meisten ist sie sogar Existenzgrundlage. Die Aufgabe der NGOs liegt in der Erneuerung oder Transformation der Gesellschaft, sie sind Akteure des Wandels. Sie kämpfen dafür, Recht neu zu erzeugen oder es fortzuentwickeln, und dafür, Recht um- und durchzusetzen. Sie wollen Regeln, Gesetze und Politiken beeinflussen, um die Praxis im Sinne ihrer Vision zu verändern. Obwohl es NGOs in erster Linie um Ergebnisse geht, bestehen sie in der Re25 Die Vielfalt der NGOs zeigt sich in ihren Akronymen: CBOs (community-based organizations), PVOs (private voluntary organizations), GONGOs (government organized NGOs), DONGOs (donor organized NGOs), CSOs (civil society organizations), MONGOs (my own NGOs), FANGOs (family NGOs), INGOs (international NGOs), QUANGOs (quasi-governmental NGOs) und BINGOs (business and industry NGOs).

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gel auf einem transparenten, offenen, inklusiven und demokratischen Prozess. Als Aktivisten und Konsequenzialisten sehen NGOs ihre Aufgabe nicht unbedingt in der Konzeption, sondern vielmehr in der Anwendung und Umsetzung (obwohl die Wirklichkeit weitaus komplexer ist). Wenn sie eine Norm konzipieren, geht es ihnen eigentlich darum, sie anzuwenden. Aus ihrer Sicht sollten Normen nicht ohne praxisbezogene Grundlage oder Umsetzungsstrategie erschaffen werden; eine Rechtsnorm ohne Basis in der Praxis wäre ein Pyrrhussieg. Just dieser Aktivismus verleiht NGOs ihre potenzielle Führungsposition innerhalb der Gesellschaft. Sie initiieren Veränderungen und den reformorientierten Dialog. In ihrer Funktionsweise werden NGOs nicht von der Regierung eingeschränkt, sind weder dem Staat noch der Öffentlichkeit Rechenschaft schuldig und können rasch, entschieden und innovativ agieren. Viele operieren intern nach äußerst hierarchischen Mustern, was Führungspersonen zum schnellen Handeln befähigt, ohne die Trägheit basisdemokratischer Entscheidungsprozesse. Dieses Demokratiedefizit, das NGOs bei Staaten und zwischenstaatlichen Organisationen bitter beklagen, stellt für sie selbst sowohl eine Stärke als auch eine Schwäche dar. Es ermöglicht rasches Handeln, was in Menschenrechtskrisen für gewöhnlich notwendig ist, doch macht es sie auch angreifbar für den Vorwurf der Scheinheiligkeit. Die Erfüllung der Rechenschaftspflicht sowie Transparenz mögen durchaus auch ohne interne demokratische Strukturen bei NGOs zu finden sein. Wirtschaftsunternehmen wie Konzerne oder Kanzleien sind ebenso wenig demokratisch strukturiert und können dabei aufgrund von internen Strukturen, Governanceverfahren und gesetzlichen Vorgaben durchaus verantwortungsvoll und transparent agieren. Staaten und zwischenstaatliche Organisationen benötigen in der Regel entweder einen Konsens oder langwierige und umfassende Beratungen, um eine Entscheidung zu erreichen. Sie sind anfällig für Reformstaus und unterstehen bürokratischen wie demokratischen Zwängen. Diese Faktoren führen zu Trägheit und einem Mangel an schneller und entschiedener Handlungsfähigkeit, wenn sie überhaupt handlungsfähig sind. Frei von diesen Einschränkungen – und abgesehen von verkrustetem Konservatismus – haben NGOs die Gelegenheit genutzt, im Bereich Menschenrechte Standards zu setzen. Ihr Beitrag und ihre Leistung bei der Rechtsetzung haben sich unter anderem innerhalb der Afrikanischen Kommission der Rechte der

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Menschen und der Völker26, des Europarats, der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und der Organisation Amerikanischer Staaten gezeigt.27 Wie wirkmächtig NGOs im Bereich der Rechtsetzung sind, soll anhand einiger wichtiger Beispiele nachvollzogen werden. NGOs waren eine treibende Kraft bei der Etablierung des rechtlichen Verbots der Folter und der grausamen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.28 Das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (CAT) lässt sich direkt einer NGO zurechnen: Amnesty International. Im Jahr 1972 startete Amnesty eine einjährige Kampagne für die Abschaffung von Folter29, zusammen mit einem Bericht und einer internationalen Konferenz zum Thema. Diese Aktionen trugen wesentlich zur Schaffung eines öffentlichen Bewusstseins bei und sorgten für internationale Besorgnis in Bezug auf die Problematik. Folter ist eine derart abstoßende und moralisch verwerfliche Praktik, dass kein Staat – nicht einmal diejenigen, die Folter als Repressionsinstrument nutzten – sie verteidigen konnten. Kein Staat bekennt sich heute zur Folter als offizieller politischer Maßnahme. Wenn Folter vermutet oder aufgedeckt wird, machen die betreffenden Staaten in der Regel skrupellose Elemente innerhalb der Polizei oder der Sicherheitsbehörden dafür verantwortlich. Die Offenlegung der Gewaltregime in Lateinamerika, Asien und Afrika verlieh dem Einsatz für die Etablierung eines rechtlich verbindlichen Folterverbots mehr Schlagkraft. Mit dem Bericht über Folter von 1975 war Amnesty International die erste Organisation, die eine Begriffsdefinition lieferte.30 Überraschenderweise gab es zuvor keine allgemeine Definition dieser verbreiteten Praktik. Nicht überraschend war allerdings, dass eine NGO – und kein Staat – die Definition ausarbeitete. Staaten – die faktisch Folter praktizierten – hielten sich beim Framing der Rechtsnorm zurück. Warum sollten sie sich auch aktiv beteiligen? Im gleichen Jahr verabschiedeten die UN das erste einschlägige Dokument und machten mit der Erklärung gegen Folter und an-

26 27 28 29 30

Odinkalu, The Individual Complaints. Van Boven, The Role of Non-Governmental Organizations, S. 212. Leary, A New Role for Non-Governmental Organizations. Van Boven, The Role of Non-Governmental Organizations, S. 213. Amnesty International, Report on Torture, New York: Farrar, Straus and Girous, 1975. Nach der Definition von Amnesty International ist Folter gegeben, wenn Folgendes zutrifft: (1) die Beteiligung von mindestens zwei Personen, der folternden Person und dem Opfer; (2) die Implikation, dass das Opfer physisch durch die folternde Person kontrolliert oder festgehalten wird; und (3) die Zufügung von akuten Schmerzen oder Leiden durch die folternde Person. S. 34.

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dere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe einen riesigen Schritt bei der Entwicklung in Richtung eines verbindlichen Verbots.31 Auf die Erklärung folgten 1979 die Einführung des UNVerhaltenskodex für Beamte mit Polizeibefugnissen32 und 1982 die Grundsätze ärztlicher Ethik im Zusammenhang mit der Rolle medizinischen Personals, insbesondere von Ärzten, beim Schutz von Strafgefangenen und Inhaftierten vor Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe33. Diese internationalrechtlichen Instrumente, in denen es um unterschiedliche im Hinblick auf Folter involvierte Akteure und Interessengruppen ging, waren zentral für die weitreichende Akzeptanz eines zukünftigen Verbots von Folter. Diese Instrumente fungierten als Vorhut und dienten als Grundlagen für die bahnbrechende UN-Folterkonvention von 1984. Der vormalige UN-Sonderberichterstatter zu Folter, Theo van Boven, hat die wichtige Rolle der NGOs bei der Entwicklung dieser Instrumente und Normen gegen Folter gewürdigt: Die meisten dieser Instrumente gehen aus den unermüdlichen und kompetenten Bemühungen von Experten und Expertinnen inner- und außerhalb der Regierungen hervor. Auf Regierungsseite waren die Beiträge von Ländern wie den Niederlanden und Schweden essenziell. Auf Nichtregierungsseite sollten Amnesty International und die International Commission of Jurists für ihre Lobbyarbeit und ihre professionellen Textentwürfe gewürdigt werden, die durchgehend darauf abzielten, das Schutzniveau noch weiter zu erhöhen. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, sämtliche nichtregierungsseitige Mitarbeit an diesen Instrumenten, die manchmal in Form vollständiger Dokumentvorschläge, Artikelentwürfe oder Zusätze stattfand, zu analysieren. Die Grundsätze ärztlicher Ethik gehen ebenfalls vollständig auf nichtregierungsseitige Bemühungen zurück. Diese wurden formell durch die UN-Generalversammlung gestützt.34 Unbeschadet einer Einigung auf Rechtsnormen oder sogar ihrer Ratifizierung durch Staaten müssen NGOs wachsam bleiben, denn Recht ist dynamisch und entwickelt sich kontinuierlich fort, wobei auch Veränderungen

31 UN-Generalversammlung, Resolution 3452 (XXX), Anhang Nr. 34, U.N. Doc. A/10034 (1975), S. 91. 32 UN-Generalversammlung, Resolution 34/169, Anhang Nr. 46, U.N. Doc. A/RES/34/46 (23. November 1979), S. 186. 33 UN-Generalversammlung, Resolution 37/194, Anhang Nr. 51, U.N. Doc. A/37/51 (18. Dezember 1982), S. 210. 34 van Boven, The Role of Non-Governmental Organizations, S. 214–215.

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im Verhalten von Staaten und bei gesellschaftlichen Werten eine Rolle spielen. Beispielsweise könnte sich die öffentliche und internationale Stimmung ändern und strengere Rechtsnormen erfordern, die bisher nicht durchsetzbar waren. Angesichts dessen setzen NGOs und andere Interessenvertreter*innen alles daran, die Geltung und Durchsetzung von Rechtsnormen zu verbessern und Schutzlücken zu schließen. Fakultativprotokolle sind ein Mittel, das NGOs und zwischenstaatlichen Organisationen zur Verfügung steht, um Verpflichtungen hinzuzufügen, zu revidieren oder zu verschärfen. Während Änderungen eines bestehenden Vertrags in der Regel unmöglich zu ratifizieren sind, sind Fakultativprotokolle dagegen gängige Praxis. Sie erzeugen neue Verpflichtungen für die Staaten und stärken den ursprünglichen Vertrag. Wiederum waren es NGOs, die als Erste weiter gehende Normen zur Fortentwicklung der UN-Folterkonvention forderten, die diese effizienter machen sollten. Da eine Vertragsänderung unrealistisch schien, entschieden die NGOs, sich für ein Fakultativprotokoll einzusetzen. Ein weiteres Beispiel für die Führungsrolle von NGOs bei der Setzung neuen Rechts war die Kampagne für die Erklärung zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen. Einige Regierungen standen diesem Instrument skeptisch gegenüber und argumentierten richtigerweise, es wiederhole nur Verpflichtungen, die Staaten bereits im Rahmen internationaler Verträge eingegangen seien oder die für sie gewohnheitsrechtlich bereits galten. Warum allerdings machten sich Staaten die Mühe, einen Text zu blockieren, den sie für »redundant« hielten? Paradoxerweise beharrten sie zudem darauf, ein Instrument zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen sei heikel und es sei eine Einmischung in innere Angelegenheiten.35 Diese widersprüchlichen Positionen offenbarten die Sorge der Staaten und ihre Nervosität. Tatsächlich wollten viele Staaten nicht, dass Menschenrechts-NGOs ein einziges und damit sichtbares Instrument zu ihrem Schutz erhielten, in dem zudem festgeschrieben wäre, dass ihre Aufgabe darin bestehe, die Staaten zur Rechenschaft zu ziehen. Sie meinten, ein Instrument zum Umgang mit Menschenrechtsverteidiger*innen würde den Anliegen der NGOs größere Schlagkraft und mehr Sichtbarkeit verschaffen sowie Erwartungen wecken, die Macht und Ermessensspielraum der Staaten im Umgang mit ihnen einschränken würden. Ihren Widerstand belegt die unerklärlich lange Verhandlungsphase – zwölf Jahre – bis zur Einigung über die Neuformulierung bereits bestehender Verpflichtun-

35 Emma Carmen-Guevas (Office of the High Commissioner for Human Rights, Genf) in einem Gespräch mit dem Autor am 6. Dezember 2002.

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gen. Bei dieser wie bei vielen anderen Gelegenheiten wäre die alleinige Führung einer oder mehrerer NGOs nicht ausreichend gewesen. Die Partnerschaft zwischen NGOs und Staaten war unverzichtbar. NGOs arbeiteten eng mit Staaten zusammen, insbesondere mit denen, die als menschenrechtsfreundlich galten, um Widerstände zu überwinden und andere davon zu überzeugen, das Anliegen zu unterstützen. Auch bei der Sichtbarmachung von bis dahin marginalisierten Menschenrechtsanliegen spielten NGOs eine Schlüsselrolle, etwa als treibende Kraft im Kampf um die Rechte indigener Gemeinschaften. Jahrzehntelang hatten indigene Gruppen keine Stimme und keinen Zugang zu den internationalen Führungsebenen, auch nicht zu denen der UN. Dies war eine direkte Folge der Entrechtung in ihren Heimatländern, wo ihnen Macht und Einfluss mit allen Mitteln verwehrt wurde. Anfang der 1980er Jahre und nach Jahrzehnten des Ausschlusses konnte dieses Thema endlich auf die globale Agenda gesetzt werden. 1982 rief die UN eine Arbeitsgruppe für indigene Bevölkerungen als Teil der UN-Unterkommission zur Verhütung von Diskriminierung und für Minderheitenschutz ins Leben. Diese Arbeitsgruppe sollte sich als wichtigste Entwicklung beim Schutz indigener Gemeinschaften erweisen. Sie begann sofort, eine Erklärung zu den Rechten indigener Völker zu entwerfen. Die Entscheidung für eine Erklärung als bevorzugtes Instrument innerhalb des internationalen Rechts war wohlüberlegt, denn kein Staat hätte einen bindenden Vertrag gebilligt. Indigene Gruppen waren von den UN bis Ende der 1980er-Jahre praktisch übersehen worden – bis zu dem Zeitpunkt als der Sonderberichterstatter der UN-Unterkommission zur Verhütung von Diskriminierung und für Minderheitenschutz, José Martínez Cobo, in einem Bericht ihre Notlage darstellte.36 Bis dahin thematisierten nur zwei universelle und verpflichtende Instrumente ausdrücklich indigene Gemeinschaften und in beiden ging es um Arbeitsrecht.37 In absehbarer Zukunft schien kein verbindliches Instrument denkbar. Die Arbeitsgruppe der Unterkommission wurde zum Dreh- und Angelpunkt der Lobbyarbeit für die Rechte indigener Bevölkerungen. Unglaubliche 135 NGOs, mehrheitlich indigene Interessenverbände, waren in der

36 Ständiges UN-Forum für Indigene Angelegenheiten (UNPFII), Martínez Cobo, Study of the Problem of Discrimination Against Indigenous Populations, U.N. Doc. E/CN.4/Sub.2/1986/7 und Addenda, U.N. Sales Nr. E.86.XIV.3 (1986). 37 Internationale Arbeitsorganisation (ILO), Konvention 106, 40. Sitzung der International Labour Conference in Genf (26. Juni 1957); Konvention 169, 76. Sitzung der International Labour Conference in Genf (27. Juni 1989).

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Arbeitsgruppe vertreten,38 eine bemerkenswerte Kehrtwende für die Repräsentation einer Gruppe, die zuvor so stark marginalisiert gewesen war. Erstmals waren indigene Bevölkerungsgruppen nicht nur sichtbar, sondern auch in großer Zahl innerhalb einer UN-Arbeitsgruppe vertreten, ja stellten sogar die Mehrheit in dieser Gruppe. 1993 erstellte die Arbeitsgruppe den Entwurf der UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker. 1994 nahm die UN-Unterkommission die Erklärung auf und leitete sie weiter an die UN-Menschenrechtskommission, wo sie jahrelang herumlag. Doch war die Arbeit am Entwurf der Erklärung eine weitere Gelegenheit, bei der es den in NGOs für eine menschenrechtliche Regelung Kämpfenden gelang, ein Instrument zu entwerfen, das ihre eigenen Rechte voranbrachte und verteidigte. An dieser Stelle sei betont, dass die UN-Unterkommission, die wegen ihrer Zusammensetzung aus unabhängigen Expert*innen und nicht aus Regierungsvertreter*innen traditionell zu den menschenrechtlich progressivsten UN-Gremien zählt, den Entwurf der Arbeitsgruppe sofort annahm. Zahlreiche Staaten, die den Erklärungsentwurf als Bedrohung ihrer Souveränität und Herausforderung ihrer umfassenden Staatsgewalt ansahen, stellten sich dagegen, da er indigenen Gemeinschaften ein bedeutendes Maß an kultureller, wirtschaftlicher und politischer Autonomie zubilligte. Eines wurde dabei deutlich: Der Entwurf wäre nicht ohne den unermüdlichen Einsatz der NGOs indigener Bevölkerungsgruppen möglich gewesen. In diesem Fall waren es die Betroffenen selbst, die die Normen entwarfen, nach denen sie regiert werden wollten. Anstatt den Erklärungsentwurf über die Rechte indigener Völker zu verabschieden, rief die Menschenrechtskommission eine neue Arbeitsgruppe ins Leben, die den Inhalt der Erklärung untersuchen sollte. Die Hauptkritikpunkte der Staaten waren nur allzu vorhersehbar und richteten sich auf das Recht zur Selbstbestimmung indigener Gemeinschaften und ihre Rechte auf Land und natürliche Ressourcen. Dass die Kommission nicht in der Lage war, den Erklärungsentwurf zu verabschieden, warf Fragen zum normativen Inhalt des Instruments, aber auch zum strategischen Vorgehen der NGOs indigener Bevölkerungsgruppen im gesamten Prozess auf. Hatten es die NGOs versäumt, sich mit wichtigen Partnerstaaten zusammenzutun? Gab es keine Staaten, die bereit waren, diese Kampagne zu unterstützen? War der Erklärungsentwurf – wie die Erklärung über das Recht auf Entwicklung – ein weiteres Opfer mächtiger Staaten und priva-

38 UN-Arbeitsgruppe über indigene Bevölkerungen, Report of the Working Group on Indigenous Populations on its Seventh Session, U.N. Doc. E/CN.4/Sub.2/1989/36 (25. August 1989), S. 6–7.

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ter Interessen, die sich von dem Entwurf bedroht fühlten? Ließ die Situation den Schluss zu, dass die internationale Rechtsordnung noch nicht bereit war, sich in sinnvoller Weise der Notlage indigener Bevölkerungsgruppen zu widmen, die zu den am meisten unterdrückten Gruppen weltweit zählen? Der Erklärungsentwurf hatte noch eine lange Wartezeit vor sich, bevor er umgesetzt wurde. Henry J. Steiner und Philip Alston erklären dies wie folgt: Die UN-Kommission rief eine unbefristete außerordentliche Arbeitsgruppe ins Leben, die einen Erklärungsentwurf ausarbeiten sollte. Diese Arbeitsgruppe traf sich mehrfach, um die Inhalte des Entwurfs von 1994 zu diskutieren. Dennoch ist diese Version nach wie vor die letzte des gesamten Erklärungsentwurfs. Der Diskussions- und Bearbeitungsprozess wird in der Kommission fortgeführt, die, und das sollte man nicht vergessen, eher ein Organ der Staatsvertreter*innen als eines unabhängiger Expert*innen ist. Die zugrunde liegenden Streitpunkte im Hinblick auf Wirtschaft, Politik und staatliche Souveränität werden im Verlauf der Arbeit desto stärker hervortreten, je mehr sich die verschiedenen Lager im Ringen um die einzelnen Formulierungen einer finalen völkerrechtlichen Erklärung annähern, die der Generalversammlung zur Abstimmung vorgelegt werden kann.39 Alles war aber noch nicht verloren. Nach qualvollen elf Jahren Arbeitsgruppe wurde der überarbeitete Erklärungsentwurf schließlich von den 47 Mitgliedern des Menschenrechtsrats, dem Nachfolger der Menschenrechtskommission, am 29. Juni 2006 angenommen.40 30 Staaten stimmten dafür, zwei dagegen, zwölf enthielten sich und drei waren abwesend. Obwohl das Ergebnis keineswegs einstimmig war, war es ein starkes Votum mit einer klaren Mehrheit des Menschenrechtsrats. Es folgte der lang erwartete Augenblick der Wahrheit, die Verabschiedung der Erklärung durch die Generalversammlung am 13. September 2007.41 Die Wahl fiel mit 143 Stimmen dafür, vier dagegen, elf Enthaltungen und 34 Abwesenden eindeutig zugunsten der Erklärung aus. Nur die USA, Kanada, Australien und Neuseeland stimmten dagegen. Es ist bezeichnend, dass die vier Gegenstimmen von ehemaligen britischen Kolonien kamen, »Siedlungskolonien« zudem mit einer heute mehrheitlich weißen Bevölkerung, wo die 39 Steiner und Alston, International Human Rights in Context, S. 1301–1302. 40 UN-Generalversammlung, Resolution 60/251, U.N. Doc. A/RES/60/251 (3. April 2006); UN-Menschenrechtsrat, Erklärung über die Rechte indigener Völker, U.N. Doc. A/HRC/1/L.3 (23. Juni 2006). 41 UN-Generalversammlung, Resolution 61/295, U.N. Doc. A/RES/61/295 (2007).

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originäre indigene Bevölkerung über viele Jahre durch Gewalt, Krankheiten, Exklusion und Marginalisierung dezimiert worden war. Ein positiver Aspekt liegt darin, dass alle vier Staaten die Erklärung mittlerweile angenommen haben – Australien am 3. April 2009, Kanada am 12. November 2010 und Neuseeland am 19. April 2010, und Präsident Obama kündigte am 16. Dezember 2010 an, dass die USA die Erklärung unterzeichnen würden. Dies war eine bemerkenswerte Entwicklung für eine Erklärung, die von den einzelnen Staaten jahrelang entweder verspottet oder abgelehnt worden war. Die Zustimmung der USA, die als letzter Staat auf der Ablehnung beharrt hatten, würde sich als Triumph historischen Ausmaßes erweisen. Auch im Kampf für Frauenrechte kommt NGOs eine Schlüsselrolle zu, wobei es sich hier um schwieriges Terrain handelt, das sich Fortschritten und internationaler Kontrolle beständig entzieht. Obwohl in den vergangenen zwei Jahrzehnten große Erfolge bei der Anerkennung von Frauenrechten in der internationalen Rechtsordnung verzeichnet werden konnten, waren diese lange Zeit der blinde Fleck innerhalb der Menschenrechtsbewegung. Dies traf auf die UN zu, auf regionale Institutionen und auf die führenden NGOs, darunter auch INGOs. Die Untätigkeit auf all diesen Ebenen – den entsetzlichen Bedingungen zum Trotz, unter denen Frauen weltweit leben – lässt sich nur mit gesellschaftlich und kulturell tief verwurzelter Unterdrückung und mit von Männern dominierten Systemen und Staaten erklären. Im Gegensatz zur Beharrlichkeit, mit der rassistische Diskriminierung angegangen wird, deutet das relative Stillschweigen der Menschenrechtsbewegung zu der an Frauen verübten Gewalt durch Männer, Staaten, Kulturen und Gesellschaften klar auf eine unsichtbare Hierarchie der Menschenrechte hin. Hilary Charlesworth und Christine Chinkin haben eindrücklich dargelegt, dass den Normen des jus cogens – also den übergeordneten, zwingenden und universelle Geltung beanspruchenden Normen des internationalen Rechts, die nicht abbedungen werden können – eine geschlechtsbezogene, zugunsten von Männern verzerrte Perspektive, ein Gender Bias zugrunde liege, das zu einer Diskriminierung von Frauen im Bereich der Menschenrechte führe.42 Faktisch ist das gesamte internationale Recht betroffen; es ist Opfer eines Gender Bias. Geschlechtsbezogene Diskriminierung von Frauen muss endlich gesellschaftsübergreifend als das anerkennt werden, was sie ist, eines der verheerendsten Übel, und zwar gänzlich unabhängig vom kulturellen Hintergrund oder von der regionalen Verortung. Dass die Menschenrechtsbewe-

42 Charlesworth und Chinkin, The Gender of Jus Cogens.

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gung selbst derart offensichtliche und nicht zu rechtfertigende Muster reproduziert, verdeutlicht die Macht der Diskriminierung aufgrund des zugeschriebenen Geschlechts. In den vergangenen Jahrzehnten jedoch gelang es NGOs, Frauenrechte sichtbar zu machen und auf die Agenda der Bewegung zu setzen. Frauenspezifische Belange in Aufzählungen von Menschenrechtsverletzungen außen vor zu lassen, ist mittlerweile nicht mehr akzeptabel. Neben der UNFrauenrechtskonvention (CEDAW), die als bahnbrechende Konvention gilt, haben verschiedene Entwicklungen Frauenrechte in den Fokus gerückt. Frauenrechts-NGOs sind derart erfolgreich geworden, dass sie mittlerweile als Vorbild dafür gelten, wie NGOs intervenieren sollten, um die Sache, für die sie kämpfen, voranzubringen. Die wohl erste dieser bedeutenden Entwicklungen war die Erklärung auf der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien, dass die »Menschenrechte von Frauen und Mädchen ein unveräußerlicher, unteilbarer und integraler Bestandteil der universellen Rechte der Menschen«43 sind. Die Anerkennung von Frauenrechten als Menschenrechten bei dieser entscheidenden Konferenz hatte Signalcharakter. Im Anschluss daran wurden auch die Vereinten Nationen tätig; so verabschiedete im selben Jahr etwa die UN-Generalversammlung im Konsens die Erklärung über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen.44 Im Jahr 1994 beschloss der Wirtschafts- und Sozialrat die Schaffung des Amtes einer Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen, das erstmals im Jahr 1994 besetzt wurde, und zwar mit der sri-lankischen Menschenrechtsanwältin Radhika Coomarasawamy.45 Weitere Erfolge bestanden in der ausdrücklichen Einbeziehung des Sachverhalts sexualisierte Gewalt gegen Frauen in die Statuten der Internationalen Gerichtshöfe für Jugoslawien und Ruanda,46 was entscheidend war, denn Sexualstraftaten, die in Konflikten sehr häufig vorkommen, standen nie im Zentrum des internationalen Strafrechts oder des internationalen humanitären Völkerrechts. Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, das 1998 den ersten

43 UN-World Conference on Human Rights, Vienna Declaration and Program of Action (25. Juni 1993). 44 UN-Generalversammlung, Resolution 48/104, U.N. Doc. A/RES/48/104 (20. Dezember 1993). 45 UN-Office of the High Commissioner for Human Rights, Special Rapporteur on violence against women, its causes and consequences. 46 UN-Sicherheitsrat, Statute of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, S.C. Res. 827 (25. Mai 1993); Statute of the International Criminal Tribunal for Rwanda, S.C. Res. 955 (8. November 1994).

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ständigen internationalen Strafgerichtshof ins Leben rief, thematisiert ausdrücklich Sexualstraftaten bei allen Delikten unter seiner Gerichtsbarkeit.47 Chinkin stellt fest, dass diese Erfolge auf das Engagement von Frauenrechts-NGOs zurückgehen, die die Kunst des Netzwerkens auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene perfektioniert haben.48 Es ist hinreichend bekannt, dass Frauen selbst die leidenschaftlichsten und entschlossensten Verfechterinnen ihrer Interessen sind. Ähnlich wie bei indigenen Bevölkerungsgruppen oder gegen Rassismen kämpfenden Gruppen leiten Frauenrechts-NGOs die internationale Gemeinschaft an, die Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren sind, zu erkennen sowie Normen und Mechanismen zur Wahrung ihrer Rechte zu entwickeln. Unabhängig davon, ob es um Folter, Frauenrechte, die Kampagne zum Verbot von Landminen49, um Rechte von Arbeitnehmer*innen oder um die Rechte indigener Gemeinschaften geht: Mittlerweile sind NGOs die treibenden Kräfte hinter den rechtsetzenden Gremien der Vereinten Nationen geworden. Mit dem Erfolg kamen Know-how und Sachverstand. Jahre des Lernens, der Erfolge und der Niederlagen brachten den NGOs wertvolle Kenntnisse darüber, was funktioniert und was nicht. Ob es nun darum geht, Kooperationspartner*innen zu finden oder grenzüberschreitende Bündnisse zu schmieden – NGOs scheinen ein gutes Vorgehen entwickelt zu haben, um durch Druck Rechtserzeugungsprozesse auf eine für sie positive Weise beeinflussen zu können. Menschliche Gemeinschaften verändern sich permanent und Machtlosigkeit wird in jeder neuen Phase neu definiert. Je mehr Situationen der Machtlosigkeit zutage treten – und in Forderungen nach rechtlicher Anerkennung Ausdruck finden –, desto mehr NGOs werden kritische oder gar führende Rollen bei der Normsetzung bezüglich dieser Rechte spielen. Strategien und Methoden der NGOs zur Normerzeugung Ihrer inneren Logik und ihren Wesensmerkmalen nach stehen NGOs dem Staat nicht grundsätzlich feindlich gegenüber. Wie Chinkin feststellt, funktionieren NGOs am besten in Ländern mit einem starken, aber re-

47 Inal, Looting and Rape Wartime. 48 Chinkin, Human Rights and the Politics of Representation, S. 133–134. 49 Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung (18. September 1997).

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chenschaftspflichtigen, inklusiven und demokratischen Staatswesen.50 Als Teil der Zivilgesellschaft wollen NGOs die Staatsmacht nicht an sich reißen, sondern deren Wirken beeinflussen. Obwohl häufig Spannungen zwischen Staat und NGOs bestehen, sind sie im Allgemeinen unabhängig vom Staat, wobei eine intrinsische, doch wachsame und dabei misstrauische Partnerschaft zwischen beiden gegeben ist. Ebenso wie NGOs auf nationaler Ebene den Staat brauchen, brauchen sie auch zwischenstaatliche Institutionen wie die Vereinten Nationen auf internationaler Ebene. NGOs erschaffen zwar nicht die Institutionen, die Recht erzeugen, aber sie tragen dort zu einer effektiveren Arbeitsweise und mehr Rechtschaffenheit bei. Angesichts der entscheidenden Rolle, die NGOs mittlerweile spielen, lässt sich konstatieren, dass es ohne NGOs nicht möglich gewesen wäre, eine derart große Menge an internationalen Rechtsnormen zu schaffen, wie es in den vergangenen 60 Jahren geschehen ist, geschweige denn sie durchzusetzen. Ein starkes und wirksames internationales Governancesystem – in Bezug auf die Formulierung und Inkraftsetzung von Normen – ist ausschlaggebend für die aufstrebende weltweite Zivilgesellschaft. Zwischenstaatliche Institutionen stützen sich mehr und mehr auf die Arbeit von NGOs und haben tatsächlich eine für beide Seiten nutzbringende, wenn auch parasitäre Beziehung zu ihnen aufgebaut. Blickt man auf die historische Entwicklung, scheint sich eine Annäherung von NGOs, INGOs und Staaten abzuzeichnen. Dennoch ist die Beziehung zwischen NGOs und Staaten weiterhin geprägt von Misstrauen und Schwierigkeiten. Die Beziehung der NGOs zu Staaten und zwischenstaatlichen Institutionen laviert zwischen Liebe und Hass, je nachdem, welchen Einfluss die aktuell debattierte Norm auf die Souveränität des Staates hat. Diese emotionale Komplexität oder Dualität ist allerdings nicht einzigartig. Sie führt dazu, dass NGOs dazu in rechtsetzenden Foren teils mit Staaten und zwischenstaatlichen Organisationen kooperieren und teils Druck auf sie ausüben. Bei diesen Gelegenheiten gehen NGOs häufig nach dem Prinzip »teile und herrsche« gegenüber bestimmten Staaten vor. Ihnen wohlgesonnene Staaten werden beispielsweise als Vehikel für ihre Anliegen eingesetzt. Zudem nutzen NGOs den jeweiligen Staat auch, um die Absichten eines gegnerischen, widerstrebenden oder eines in seiner Position undurchsichtigen Staates auszuloten. Da Staaten dazu tendieren, eher aufeinander als auf NGOs zu hören, wird der Staat seitens der NGO eingesetzt, um einen widerständigen Staat zu überzeugen. Dieser partnerschaftliche Ansatz hat bei der NGO-Kampagne für

50 Chinkin, Human Rights and the Politics of Representation, S. 134–135.

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die Einführung des Entwurfs des Fakultativprotokolls zum Übereinkommen gegen Folter gut funktioniert. Die Schweizer Regierung, die mit NGOs und Intellektuellen vor Ort an der Idee eines ergänzenden Entwurfs zum Übereinkommen gegen Folter zusammengearbeitet hatte, wurde gebeten, Costa Rica in die Kampagne einzubeziehen,51 und diese Strategie wurde wieder und wieder wiederholt, um bei zögerlichen Staaten Lobbyarbeit für den Protokollentwurf zu leisten. Das gleiche Partnerschaftsmodell wurde bei der Kampagne für die UN-Erklärung zum Schutz der Menschenrechtsverteidiger*innen angewendet. Norwegen, das diese Erklärung befürwortete, wurde hier zum zentralen Partnerstaat der NGOs und trug maßgeblich zum Erfolg des Instruments bei.52 Der Kampf für die Konvention über die Rechte des Kindes (CRC) ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie erfolgreich NGOs sein können, wenn die richtigen Strategien angewendet werden. In diesem Fall setzten die NGOs auf eine geniale Neuerung des Partnerschaftsmodells. Obwohl die Arbeit am Entwurf der CRC bereits 1980 begonnen hatte, dauerte es bis 1984, bis sie ernsthaft aufgenommen wurde, und es überrascht nicht, dass die Beteiligung der NGOs Auslöser dafür war, dass die Arbeit am Entwurf erst richtig ins Rollen kam. Nachdem die Textarbeit begonnen hatte, verlor der Prozess an politischer Spannung und da von nun an eher technische Fragen im Vordergrund standen, konnten die NGOs als nahezu einzige Akteure mit neuen Ideen die Oberhand gewinnen.53 NGOs hatten sich lange für Kinderrechte eingesetzt und waren sich der zahlreichen drängenden Probleme sehr bewusst – von Kinderarbeit bis hin zu sexuellem Missbrauch und Gewalt. Im Jahr 1987 trat das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) der Kampagne für die CRC bei, indem es Treffen von NGOs finanzierte, bei denen es um gemeinsame Vorgehensweisen und Strategien ging.54 Die Zusammenarbeit zwischen NGOs und UNICEF, einem spezialisierten Organ der Vereinten Nationen, beim Erarbeiten von Vertragsnormen war innovativ und entscheidend für den Erfolg der CRC. UNICEF war der tiefe Wissens- und Erfahrungspool der NGOs bewusst, und zugleich wusste die Gruppe auch, dass die CRC sehr hilfreich für ihre weitere Arbeit sein würde. Was fehlte, war etwas, das auf wunderbare Weise der Verankerung ihrer Arbeit dienen könnte, ein internationaler Vertrag beispielsweise. Die Partnerschaft von NGOs und UNICEF – und die

51 52 53 54

Walter Kälin in einem Gespräch mit dem Autor am 3. Dezember 2002. Ebd. David Johnson in einem Gespräch mit dem Autor am 4. Dezember 2002. Ebd.

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ungewöhnlich enge Beziehung zwischen NGOs und Staaten bei der Erstellung und dem Einsatz für die Verabschiedung der CRC – sorgte für besondere Aufmerksamkeit. Ein Beteiligter notierte dazu, es sei »in der internationalen Gemeinschaft allgemein anerkannt, dass NGOs diese Konvention direkt und indirekt beeinflusst haben, was in der Geschichte der Erstellung internationaler Instrumente bislang einzigartig ist«55. [D]er Erfolg der Bemühungen von NGOs in Sachen Unterstützung für die Konvention war zweifelsohne essenziell, beispielsweise dafür, zahlreiche Regierungen dazu zu bringen, den Entstehungsprozess ernster zu nehmen und der Arbeitsgruppe ein neues Gefühl der Sinnhaftigkeit zu geben. Dies verstärkte sich noch, als sich die NGO-Gruppe 1987 mit UNICEF zusammentat, um die Ziele der Konvention öffentlich zu bewerben, die nur auf ihre Verabschiedung durch die UN-Generalversammlung 1989 wartete. Außerdem wurden die Vorschläge bei Arbeitstreffen der Gruppe immer häufiger von Regierungsbeauftragten präsentiert, nicht von den NGOs selbst.56 NGOs arbeiten nicht immer reibungslos mit Staaten und zwischenstaatlichen Organisationen zusammen. Manchmal sind die Interessen, um die gestritten wird, zu festgefahren, als dass sie mit Leichtigkeit zu überwinden wären, insbesondere wenn es um strategische Schlüsselinteressen von Staaten geht oder wenn politisch gewichtige wirtschaftliche Interessen im Spiel sind. Militärwaffen sind ein besonders gutes Beispiel für diese Interessen. Bei der Kampagne für die Ausarbeitung und Verabschiedung der Ottawakonvention – früher bekannt als Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung – setzten NGOs eine Reihe von Strategien gegen Staaten und zwischenstaatliche Organisationen ein, von negativer Presse, Druckausübung, Lobbyarbeit bis zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit. Doch mussten die Staaten zuerst durch Skandalisierung mit Fokus auf die von Landminen verursachten Schäden an Kindern und Frauen sowie die Konsequenzen für die nichtsahnende unbeteiligte ländliche Bevölkerung unter Druck gesetzt werden. Die ursprünglich durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz angeschobene Kampagne wurde rasch von einer Koalition aus westlichen NGOs übernommen: Human Rights Watch, Physicians for Human Rights und die Vietnam Veterans Association of America (USA), Handicap International (Frank-

55 Cantwell, The Origins, S. 19. 56 Ebd.

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Die Rolle von Nichtregierungsorganisationen bei der Rechtserzeugung

reich), Medico International (Deutschland) und die Mines Awareness Group (Großbritannien). Diese INGOs bildeten den Kern der internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen; später kamen um die 1.200 weitere NGOs aus 60 Staaten hinzu.57 Die Erweiterung der NGO-Lobbygruppen war ein meisterhafter Zug, der die überwältigende internationale Unterstützung für die Konvention zeigte. Angesichts einer derartigen Gruppe waren die Staaten gezwungen, ihre Haltung erneut zu überdenken. Die nachträgliche Bearbeitung durch die Staaten war allerdings nicht zu verhindern. Obwohl die meisten zu Beginn entweder nicht interessiert oder gegen ein Verbot von Landminen waren, gelang es durch geschickte Ausübung von Druck, Überzeugungs-, Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit zur Aufklärung über die verheerenden Auswirkungen von Landminen, der Sache wohlgesonnene und gleichgesinnte Staaten als Komplizen zu gewinnen, die das Verbot voranbrachten.58 Natürlich fiel es den Staaten, die gewöhnlich nicht an internationalen Konflikten beteiligt sind, leicht, diese Position zu vertreten. Doch stellte das Bröckeln einer einheitlichen Front aller Staaten ein bedeutendes Window of Oportunity für die NGOs dar. Hier zeigte sich, dass NGOs das gesamte Arsenal an verfügbaren Strategien nutzten, um die Verabschiedung von Normen durchzusetzen. Den INGOs war dabei bewusst, dass ein großer Zusammenschluss von NGOs notwendig sein würde, um den nötigen Druck und die nötige Öffentlichkeitsarbeit aufzubauen. Es wurde sogar deutlich, dass NGOs die Regierungen ihrer Länder unter Druck setzen und so zu einer Neupositionierung bewegen konnten. Der Erfolg der Ottawakonvention ist ein wichtiger Beleg dafür, dass NGOs sich gegen zögerliche und widerständige Staaten durchsetzen können, wenn es um Abkommen geht, die zunächst als Luftschlösser abgetan werden.59 Ihrer wirtschaftlichen Macht und den ausgeprägten Verbindungen zu mächtigen Teilen der Regierungen zum Trotz hatte die Rüstungsindustrie der massiven Kampagne der NGOs gegen Landminen nichts entgegenzusetzen. Bemerkenswert ist, dass die Welt sich auf eine Gruppe von Menschen verlässt, die als zivilgesellschaftliche Akteure ehrenamtlich tätig sind, wenn es darum geht, einer der mächtigsten Branchen überhaupt Paroli zu bieten. Das Modell, bei dem NGOs partnerschaftlich und mithilfe von Lobbyarbeit an Staaten herantreten, war bislang am erfolgreichsten, wenn NGOs

57 Anderson, The Ottawa Convention Banning Landmines, S. 92. 58 Ebd. 59 Ebd.

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als Einheit agierten und mit gemeinsamen Anliegen geschlossen auftraten. Diese Strategie erfordert Disziplin und die Eindämmung von Rivalitäten unter NGOs. Um sie erfolgreich anzuwenden, müssen NGOs zunächst untereinander einig werden, bevor sie an Staaten oder zwischenstaatliche Organisationen herantreten oder sie herausfordern. Sie wissen, dass aus Einigkeit, Vielfalt und zahlenmäßiger Gruppenstärke Kraft und Glaubwürdigkeit erwachsen. In einer vielfältigen Welt erfordert Erfolg auch die Einbeziehung von NGOs aus den von der jeweiligen Norm am meisten betroffenen Bereichen. Das Zeugnis derjenigen, die direkt betroffen sind – und unmittelbar unter dem Problem leiden –, verleiht dem Anliegen Glaubwürdigkeit und Dringlichkeit. Kurz: Bündnisse unter NGOs – die Erschaffung eines größtmöglichen Netzwerks von NGOs – sind der Hauptgrund für die jüngsten Erfolge der Menschenrechtsbewegung. Eine starke Allianz lag ganz klar dem Erfolg bei der Ausarbeitung und Verabschiedung der CRC zugrunde. Große westliche INGOs waren entschlossen, den Staaten gegenüber als einheitliche Front aufzutreten, um ihnen gemeinsame Vorschläge vorzulegen. Die Staaten übernahmen die meisten dieser Vorschläge und legten sie auf Ebene der zwischenstaatlichen Organisationen als eigene vor. Diese Zusammenschlüsse von NGOs und Staaten waren derart aktiv und wirkmächtig, dass sogar die Staaten, die zunächst skeptisch gewesen waren, mit ins Boot geholt werden konnten. Die weitreichende Einbeziehung verschiedener Akteure ermöglichte es zahlreichen Gruppen, ihre Beteiligung publik zu machen, und verhalf der CRC zu spektakulärem Erfolg.60 Außerdem war es nicht erforderlich für die bereits vereinigten NGOs, weiterhin zusammenzubleiben. Einige mögen erneut gemeinsam für bestimmte Normen kämpfen, andere wiederum nicht. Zusammenarbeit wird bestimmt durch Mandate, Ressourcen, Anhängerschaften und vor allem durch die jeweilige Norm. Der sichtbarste Erfolgsbeweis des Zusammenschlusses in Allianzen und des Netzwerkens lag in den bemerkenswerten Fortschritten um die Normsetzung in Sachen Frauenrechte. Frauengruppen waren in UN-Foren seit den 1970er-Jahren auf taube Ohren gestoßen, da sie von den maßgeblichen rechtsetzenden Gremien ausgeschlossen waren. Im Zeitraum zwischen der dritten UN-Weltfrauenkonferenz 1985 in Nairobi und der vierten 1995 in Peking gelang es den Frauen schließlich, sich zu organisieren. Im Lauf dieses Jahrzehnts verbesserten sie ihre Lobbyarbeit maßgeblich, bildeten Allianzen mittels Gremienarbeit, nahmen an strategischen Vorbereitungstreffen vor UN-Konferenzen teil und weiteten ihre Kontakte zu Medien und

60 David Johnson im Gespräch mit dem Autor am 4. Dezember 2002.

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nationalen Delegationen aus.61 Waren sie einige Jahrzehnte zuvor noch kaum Thema auf dem internationalen Parkett gewesen, so dominieren Frauenrechte heute praktisch jedes internationale Bestreben. Fragen in Sachen Frauenrechte werden nicht mehr belächelt oder ignoriert – sie besetzen die vordersten Reihen jedes internationalen Menschenrechtsunterfangens. Durch Zusammenarbeit und gute Organisation von NGOs gelingt es, eines der hartnäckigsten Probleme der Zeit machtvoll anzugehen. Hierzu schreibt Christine Chinkin: Frauen-NGOs haben Strategien entwickelt, ihren Einfluss auf diplomatische Verhandlungen entweder direkt durch Einbindung ihrer Vertreterinnen bei Staatsdelegationen oder indirekt durch bewusstseinsbildende Maßnahmen und sorgfältige Arbeit an Textentwürfen, durch Kampagnen auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene sowie durch die Bildung von Gremien und internationalen Allianzen zu maximieren.62 NGOs und Staaten spielen Katz und Maus Die Beziehungen zwischen Staaten und NGOs zu pflegen, war stets ein Balanceakt für beide Beteiligten, egal ob es um die Beziehung zwischen einer nationalen NGO und dem entsprechenden Heimatstaat oder einer NGO und einem fremden Staat geht. Keiner der beiden ist allein in der Lage, bei der Etablierung und Durchsetzung von Menschenrechten viel zu erreichen, und keiner der beiden macht sich Illusionen über die Absichten des anderen. Doch müssen sich beide ihre Abhängigkeit voneinander eingestehen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Staaten, die sich auf NGOs verlassen müssen und von ihnen abhängig sind, und die NGOs eine gemeinsame Zielvorstellung haben oder darauf hinarbeiten. Staaten bleiben weiterhin die Träger souveräner Hoheitsgewalt und die Schlüsselfiguren in zwischenstaatlichen Organisationen. Sie sehen sich selbst sowohl im nationalen Bereich als auch auf internationaler Ebene als Schlüsselfiguren; sie sind Werkzeuge ihrer Bevölkerung mit dem ausdrücklichen und rechtlichen Mandat sowie der Verpflichtung, im Interesse der Menschen unter ihrer Hoheitsgewalt zu handeln. Ein Staat, der nicht gewillt oder in der Lage ist, für Sicherheit und verantwortliche Regierungsführung im Hinblick auf sein Territorium und die darin lebenden Menschen zu sorgen, 61 Clark, Friedman und Hochstetler, The Sovereign Limits, S. 15. 62 Chinkin, Human Rights and the Politics of Representation, S. 137.

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könnte seinen Status als souveräner Staat verlieren. Folglich sind es Staaten und nicht NGOs, die formell auf internationaler Ebene Menschenrechte schaffen. Zwischenstaatliche Organisationen sind die Kanäle für den kollektiven Willen von Staaten. Sie repräsentieren Staaten und entscheiden, welche nichtstaatlichen Akteure Zugang zu ihnen erhalten. Staaten bestimmen die Regeln und Bedingungen der Teilhabe von zwischenstaatlichen Organisationen an der globalen Regierungsarbeit. Nichtstaatliche Akteure werden folglich in die Verhandlungen der zwischenstaatlichen Organisationen einbezogen, allerdings nur mit Zustimmung der Staaten. Formal haben NGOs nur Zugang zu Verhandlungen bei zwischenstaatlichen Organisationen, wenn die ausdrückliche Erlaubnis dazu vorliegt oder wenn dies von dem zu verhandelnden Vertrag bindend verlangt wird. Staaten haben die Oberhand in der Beziehung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren innerhalb der zwischenstaatlichen Organisationen. Außer Zweifel steht dabei allerdings, dass NGOs ein beispielloses Maß an Zugang und Einfluss in den UN-Menschenrechtsforen zukommt. Trotz dieses Erfolgs zeigt eine sorgfältige Analyse der Beziehung zwischen zwischenstaatlichen Organisationen und NGOs jedoch ein komplexeres Bild, das eine unruhige und angespannte Koexistenz offenlegt. Sie umkreisen und mustern einander misstrauisch wie zwei Streitparteien – wie Katz und Maus – und loten dabei Gemeinsamkeiten und Kompromissmöglichkeiten aus. NGOs haben keinen direkten oder stabilen Zugriff auf Staaten und diese können ihn jederzeit ohne Vorwarnung verwehren. In dieser Hinsicht hat der Staat als Entität mit Mandat vom Staatsvolk die meisten Trümpfe in der Hand. NGOs sind weder gewählte Vertreter des Volkes noch Schlüsselakteure im internationalen Recht. Vielmehr sind sie auf die Anerkennung als juristische Personen durch den Staat angewiesen. Sogar dann, wenn die Beziehungen gut sind, gehen Staaten kaum freiwillig auf die Annäherungen durch NGOs ein. Im Grunde sehen Staaten NGOs als Eindringlinge, denen sie nur reumütig und widerwillig Einlass gewähren. Sie sehen NGOs als naive Parteien, die die Komplexität der Regierungsführung ebenso wenig verstehen wie die harten und kontroversen Entscheidungen, die eben getroffen werden müssen. Aus Sicht der Staaten sind NGOs außerdem obsessiv auf ein Thema fixiert – das heißt, NGOs verfolgen ein einziges Thema – ohne Rücksicht auf konkurrierende Probleme. Diese Kurzsichtigkeit der NGOs wird von Staaten als Einschränkung gesehen und ist der Grund, warum diese häufig Anfragen oder Forderungen von jenen ablehnen. Dabei liegt der Entscheidungsfindung von Staaten stets die eigene Souveränität zugrunde, sodass sie den von NGOs geforderten Normen, die ihre Souveränität infrage stellen könnten, nur sehr selten 256

Die Rolle von Nichtregierungsorganisationen bei der Rechtserzeugung

zustimmen. Stattdessen finden sie Schlupflöcher oder Haken, die ihnen entweder durch eine laxe Durchsetzungspolitik Schutz bieten, oder sie entschärfen die Situation durch Vorbehalte. Sogar wenn Einigkeit darüber besteht, dass ein bestimmtes Abkommen oder eine Rechtsnorm normative und institutionelle Mängel aufweist – wie die UN-Antifolterkonvention –, einigen sich Staaten eher auf ein Fakultativprotokoll, anstatt die Konvention selbst zu überarbeiten.63 Gleichwohl sind Staaten NGOs gegenüber skeptisch und verstecken sich häufig unter dem Deckmantel ihrer Souveränität und der Kontrolle über zwischenstaatliche Organisationen, um den Einfluss von NGOs einzuschränken und den unerwünschten Rechtsnormen ihre Zähne zu ziehen. Die Beziehung zwischen NGOs und Staaten oder zwischenstaatlichen Organisationen ist je nach Sachlage enger oder distanzierter. Dieses Beziehungspendel kann wild oszillieren oder stillstehen, je nachdem, was bei den fraglichen Normen gerade auf dem Spiel steht. Die Macht, über die Art des normativen Instruments zu entscheiden, das von einer zwischenstaatlichen Organisation verabschiedet werden soll, liegt bei den Staaten. Fühlt sich ein Staat durch einen Vorschlag bedroht, besteht die Möglichkeit, diesen zwar anzunehmen, aber seine Form zu verändern und so einen Vertrag in eine Erklärung umzuwandeln. Tatsächlich geben Staaten Forderungen von NGOs nach einer bestimmten Normierung häufig nach, geben ihr aber eine nicht rechtsbindende Form wie die einer Erklärung, eines Beschlusses oder einer Aktionsplattform. Dies war der Fall bei der vierten Weltfrauenkonferenz im Jahr 1995 in Peking: Der UN-Erklärung zu Menschenrechtsverteidiger*innen und der Erklärung über das Recht auf Entwicklung stimmten die Staaten höchstwahrscheinlich nur zu, weil beide ihrer Form nach Soft Law sind. Soft-Law-Normen fehlen in der Regel klare Zielsetzungen, Einhaltungsfristen und eine verbindliche Selbstverpflichtung der Staaten, Ressourcen zur Umsetzung aufzuwenden. Diese beiden Faktoren – Einschränkungen der Souveränität und aufzuwendende Ressourcen – bestimmen die Haltung eines Staates gegenüber der jeweiligen Norm. Staaten wissen, dass die Ratifizierung eines Vertrags einer Schlinge um ihren Hals gleichkommt. Die Erfüllung des Vertrags ist verpflichtend und Staaten, denen an einem guten Ruf gelegen ist, gehen keine vertraglichen Verpflichtungen ein, die sie nicht einzuhalten vorhaben. Diese Punkte erklären, warum die für die Ratifizierung verantwortlichen Gesetzgeber, Führungskräfte und Bürokrat*innen häufig

63 UN-Generalversammlung, Resolution 57/199, U.N. Doc. A/RES/57/199 (9. Januar 2003).

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langwierige Debatten über das Für und Wider vertraglicher Verpflichtungen anstoßen. Auch NGOs müssen Schwierigkeiten überwinden, bevor sie bei den Verhandlungen um bestimmte Normen Staaten gegenüber als vereinte Front auftreten können. Gräben innerhalb der Gemeinschaft der NGOs, insbesondere solcher regionaler oder geopolitischer Natur, können das Aus für eine Rechtsnorm bedeuten. Manchmal ist keine hohe Übereinstimmungsquote erreichbar; keine Norm kann erfolgreich vorangebracht werden, wenn eine wichtige oder sogar entscheidende Minderheit unter den NGOs sich öffentlich dagegen ausspricht. INGOs und lokale NGOs wissen dies nur zu gut und legen ihre Differenzen in der Regel bei. Doch ist das hässliche Gespenst der NGOs aus dem globalen Norden, die in NGO-Koalitionen die Führung übernehmen, allzu deutlich spürbar. Es spukte deutlich bei der Weltfrauenkonferenz in Peking herum, doch konnten die schlimmsten Spaltungen durch die euphorische und feierliche Natur des historischen Ereignisses64 abgewendet werden65. Man stelle sich beispielsweise eine Uneinigkeit zur Erklärung zu Menschenrechtsverteidiger*innen vor. Dieses Instrument erforderte fast vollständige Einstimmigkeit unter den NGOs, denn andernfalls hätten widerstrebende Staaten jegliche Spaltung in der Gemeinschaft der NGOs genutzt, um die Norm zu Fall zu bringen. Es ist wichtig, zu unterstreichen, dass die Einbeziehung der NGOs in das zivilgesellschaftliche Lager nicht nur dem äußeren Schein dient. NGOs aus allen Bereichen, die in einem bestimmten Rechtsetzungsprozess zusammenarbeiten, streben nach echter und nicht nur scheinbarer Teilhabe. Faktisch garantiert der Zugang der NGOs zum Erarbeitungsprozess eines Abkommens keineswegs, dass die finale Fassung die Wünsche der gesamten weltweiten Zivilgesellschaft widerspiegelt, denn in derart großen Gruppen ist es schwierig, jeden Wunsch zu berücksichtigen. Doch liegt der Schlüssel darin, dass jede Gruppe das Gefühl hat, wertgeschätzt und gehört zu werden. Aus der Beteiligung von NGOs am Verhandlungsund Ausarbeitungsprozess des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs lässt sich einiges lernen. NGOs waren mit ihrer Rolle weitgehend zufrieden und dennoch gelang es Staaten, einige wichtige Bestimmungen zu streichen. Die Anwesenheit von 200 NGOs in Rom konnte nicht verhindern, dass die Endfassung dieses Statuts einen von Staaten initiierten Kom-

64 Barbara Crosette, A Dispute on U.N. Post for Women. New York Times, 26. September 1995. 65 Patrick Tyler, Hillary Clinton in Beijing as Women’s Conference Opens. New York Times, 5. September 1995.

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promiss darstellt. Daraus ist zu lernen, dass Staaten auch dann, wenn NGOs geschlossen auftreten, das Ergebnis eines solchen Prozesses verwässern können. Die NGOs gaben nach, weil sie erstens mit dem Ergebnis weitgehend zufrieden waren und die Umsetzung nicht länger hinauszögern wollten. Zweitens gewährten sie Konzessionen in der Hoffnung, auch die Staaten für die Sache zu gewinnen, die sich klar dagegen positioniert hatten. Schließlich weigerten sich die USA, obwohl ihnen die meisten Konzessionen gewährt worden waren, das Römische Statut zu ratifizieren.66 Vor den NGOs liegt ein weiter Weg hin zur Vergrößerung ihres Handlungsspielraums und ihres Zugangs zu zwischenstaatlichen Organisationen. Den Staaten stehen zahlreiche Tricks und Spielzüge zur Verfügung, um die Teilhabe der NGOs bei der Rechtserzeugung einzuschränken oder ganz zu unterbinden. Dies reicht von der Nichtnennung von NGO-Interessen auf der Agenda und der Zugangsverweigerung bei bestimmten Konferenzsitzungen – wie bei der vierten Weltfrauenkonferenz in Peking – über die Verweigerung der Akkreditierung von NGO-Vertreter*innen bei UNTreffen und die Zubilligung von sehr wenig bis keinen Sprechzeiten bis hin zur Verweigerung von Visa und anderen Reisevoraussetzungen zur Teilnahme an Treffen. Da der Raum der zwischenstaatlichen Organisationen von Staaten kontrolliert wird, stehen zahlreiche Taktiken zur Verfügung, die die Beteiligung von NGOs erschweren oder verhindern können. Sogar wenn zwischenstaatliche Organisationen die Beteiligung von NGOs ausdrücklich zulassen, besteht die Gefahr einer vielgestaltigen Abwertung der NGOs. Die zwischenstaatliche Organisation kann die NGO-Vertreter*innen am Rand des Raums platzieren oder ihnen weniger Zugangsausweise zur Verfügung stellen und sie damit klar als Außenseiter brandmarken. In jüngster Zeit ist es NGOs gelungen, viele dieser Punkte an die Öffentlichkeit zu bringen, doch wird sich zeigen müssen, ob dies zu einer Verhaltensänderung der Staaten führt. Viele dieser Aktionen mögen hübsch aussehen, doch können sie zu Frustrationen innerhalb der NGOs führen und verhindern, dass sie sich für bestimmte Normen effizient einsetzen oder ein anderes wichtiges Instrument voranbringen. Dabei ist es ebenso wichtig, dass NGOs den Versuchungen der Macht widerstehen und sicherstellen, dass ihr privilegierter Zugang nicht für radikalere und umstürzlerische Agenden missbraucht wird.67 Glücklicherweise stellen sich bei UN-Treffen in der Regel bestimmte Staaten gegen die verhinderungs-

66 Politi, The Rome Statute. 67 Otto, A Post-Beijing Reflection.

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politische Agenda anderer. Je größer und inklusiver die NGO-Allianz, desto besser sind die Chancen auf Einfluss. Die erfolgreiche Bildung von Allianzen unter NGOs gründet auf einem ungewöhnlichen Faktor: der Globalisierung. Trotz ihrer negativen Auswirkungen für zahlreiche Regionen, insbesondere im globalen Süden, hat die Globalisierung die NGOs in ihrer Fähigkeit zur permanenten Kommunikation, in der Erarbeitung gemeinsamer Strategien und bei der Bildung vielfältiger Allianzen bestärkt. Den Staaten und zwischenstaatlichen Organisationen wird es kaum gelingen, die Entwicklung hin zu einem wachsenden Einfluss der NGOs auf die Rechtsetzung im Bereich der Menschenrechte rückgängig zu machen.

Im Original: Human Rights Standards: Hegemony, Law, and Politics. Albany: State University of New York Press, 2016. [Auszug S. 83–109.]

Übersetzung von Christiane Quandt. Es lektorierte Karina Theurer.

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Rechtliche Aspekte der Neuen Weltwirtschaftsordnung Antony Anghie

Die Anklage der bedürftigen Nationen bezüglich des gegenwärtigen Zustands besteht nicht nur darin, dass wir sowohl absolut als auch relativ und im Vergleich zu den reichen Nationen arm sind. Sie besteht auch darin, dass wir innerhalb der bestehenden Strukturen wirtschaftlicher Interaktion zwangsläufig arm bleiben und relativ gesehen sogar noch ärmer werden, egal was wir tun … Die Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung besagt, dass es den armen Nationen ermöglicht werden muss, sich nach ihren eigenen Interessen zu entwickeln und von den unternommenen Anstrengungen zu profitieren. Julius Nyerere, 19741 Einführung Die allgemeine Vernachlässigung der Neuen Weltwirtschaftsordnung (NWWO) in gegenwärtigen Diskussionen und Analysen der internationalen Beziehungen hat das Ausmaß dieser Initiative und die Ernsthaftigkeit, mit der sich Staaten, internationale Institutionen und Wissenschaftler*innen gleichermaßen für sie einsetzten, verschleiert. Die NWWO verband eine starke politische Kampagne mit einer überzeugenden moralischen Vorstellung von globaler Ordnung und strebte nichts Geringeres als die Transformation des internationalen Wirtschaftssystems an. Sie wurde auf unterschiedliche Weise und in verschiedenen Kontexten thematisiert und betonte die Bedeutung von gegenseitigem Nutzen, aufgeklärtem Eigeninteresse, Interdependenz und Zusammenarbeit. Und doch war dies an sich unzureichend. Das Recht war eine wichtige Dimension der NWWO, wie der mexikanische Präsident Luis Echeverría 1972 erklärte: »Es ist notwendig, die Zusammenarbeit aus dem Bereich von Treu und Glauben zu lö-

1 Zitiert in Murphy, The Emergence, S. 1.

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Antony Anghie

sen, um sie rechtlich abzubilden.«2 Wie also hat die Dritte Welt3 versucht, das internationale Recht zu nutzen, um die NWWO im Recht zu verankern? In diesem Beitrag gebe ich einen Überblick über die politische Vision der NWWO, einzelne Schlüsselbereiche der Wirtschaftsbeziehungen, die die Dritte Welt verändern wollte, die Rechtslehren, die sie für diese Zwecke zu entwickeln oder zu reformieren suchte, und die verschiedenen Strategien, die sie in ihrer Kampagne formulierte. Die Gründung der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) und ihre Machtdemonstration durch das im Jahr 1973 von ihr verhängte Ölembargo haben die Dritte Welt animiert und den Norden alarmiert. Die Selbstvergewisserung der Macht der Dritten Welt – zumindest durch einige der ölproduzierenden Nationen 1973 – gab Anlass zu großer Sorge und wurde als »wirtschaftliches Bandung« bezeichnet.4 Nachvollziehbarerweise wurde die NWWO von den Industrieländern mit Argwohn betrachtet. Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus. Irving Kristol beschuldigte die Dritte Welt, den Westen und mithin ihren tatsächlichen oder potenziellen Wohltäter, zu »maumauen«; Henry Kissinger initiierte eine konzertierte Kampagne zur Mobilisierung der Reichen gegen die Armen und Willy Brandt leitete, etwas moderater, eine Kommission, deren Abschlussbericht seinen Namen tragen und die zeigen sollte, wie reiche und arme Länder gleichermaßen von internationalen Reformen profitieren könnten.5 Die rechtlichen Aspekte der NWWO-Kampagne wurden unweigerlich von den entwickelten Staaten und den Rechtswissenschaftler*innen, die deren Position unterstützten, infrage gestellt. Mein Interesse liegt darin, die Konfrontation zwischen der Dritten Welt und dem Westen im Hinblick auf ihre Austragung spezifisch im Recht zu untersuchen. Grob zusammengefasst geht es mir in diesem Beitrag erstens darum, dass der Imperialismus zu tief im internationalen Recht verwurzelt gewesen sein mag, als dass er sich unter Rückgriff auf genau dieses Recht reformieren ließe, und zweitens darum, dass die Initiative der Dritten Welt nicht in der Lage war, die Regulierung der einer privaten Sphäre zugeordneten Macht anzugehen und einzufordern – dies betrifft insbesondere die Aktivitäten von Unternehmen sowie ihr Verständ-

2 Zitiert in Bollecker-Stern, The Legal Character, S. 68. 3 [Anm. d. Hg.: Zu den Gründen für die bewusste Verwendung des Begriffs Dritte Welt im Rahmen des Unterfangens mit der Selbstbezeichnung Third World Approaches to International Law (TWAIL): Anghie, Antony, und Chimni, Bhupinder: Third World Approaches to International Law and Individual Responsibility in Internal Conflicts. Chinese JIL 2, 1, 2003, 77–103.] 4 Bollecker-Stern, The Legal Character, S. 68–78. 5 Ausführlich dazu: Sargent, North/South.

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nis von Eigentums-, Vertrags- und Wirtschaftsbeziehungen. Abschließend geht es um das ambivalente Vermächtnis der NWWO. Der Hintergrund Die politischen Ursprünge der NWWO lassen sich bis zur Bandungkonferenz im Jahr 1955 und auf ihre Bemühungen zurückverfolgen, Solidarität zwischen den neuen unabhängigen Staaten zu fördern. Angesichts der Spaltungen zwischen den an dieser Veranstaltung teilnehmenden und sie organisierenden Länder, der Spannungen zwischen China und Indien und der Versuche Ceylons, die Ansichten der USA in die Verfahren einzubringen, muss anerkannt werden, dass das Anliegen der Dritten Welt seit jeher von der Herausforderung geprägt war, sich inmitten erheblicher Divergenzen und Differenzen untereinander zu solidarisieren. Aus rechtlicher Sicht bekräftigte die Konferenz einige Grundprinzipien des internationalen Rechts, darunter die souveräne Gleichheit der Staaten, das Recht auf Nichteinmischung und die Bedeutung der Zusammenarbeit auf internationaler Ebene. Die Dritte Welt erkannte bereits in diesem Stadium die Bedeutung des internationalen Rechts für ihre umfassende Kampagne der Dekolonisierung und Entwicklung. Die Asian-African Legal Consultative Organization (AALCO), eine zwischenstaatliche Organisation, die ein Forum der Zusammenarbeit in Rechtsfragen zwischen asiatischen und afrikanischen Staaten sein sollte und als beratendes Gremium für die Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des internationalen Rechts fungierte, wurde im Anschluss an Bandung gegründet.6 Die AALCO sollte eine wichtige Rolle bei einer Reihe von Initiativen der Dritten Welt spielen, die später im Rahmen der Vereinten Nationen aufgegriffen wurden. Im Anschluss an Bandung bildeten die Dritte-Welt-Länder in den 1960er-Jahren die Bewegung der blockfreien Staaten und die Gruppe der 77. Dies war die politische Grundlage der NWWO. Wie das Schlusskommuniqué der Bandungkonferenz zeigt, war die wirtschaftliche Entwicklung ein vorrangiges Anliegen der Teilnehmenden; sie steht an erster Stelle im Kommuniqué und die Kontinuitäten von Bandung hin zur NWWO sind offensichtlich.

6 Mit Dank an Rohan Perera: The Role and Potential of the Asian-African Legal Consultative Organization (AALCO) in Providing an Asian Perspective in Contemporary Developments in International Law (Manuskript beim Autor hinterlegt). Die AALCO wurde später in das Asian African Legal Consultative Committee umgewandelt.

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Die Erklärung zur Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung wurde von der Generalversammlung am 1. Mai 1974 verabschiedet.7 Die meisten NWWO-Initiativen stammen aus der Generalversammlung, wo die Staaten der Dritten Welt ihre Anzahl zu ihrem Vorteil nutzen konnten. Wie das Dokument selbst besagt, zielte die NWWO darauf ab, globale soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit zu schaffen und »die wachsende Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zu beseitigen«. Im Großen und Ganzen ging es der Dritten Welt darum, die Auswirkungen des Neokolonialismus, der durchgängig als die Entkolonisierung überschattend wahrgenommen wurde, anzugehen, indem sie eine Reihe von Politiken und Prinzipien in Bezug auf ausländische Investitionen und Verstaatlichung, faire Rohstoffpreise, die internationale Regulierung transnationaler Unternehmen, ein reformiertes Handelsregime und die Übertragung finanzieller Ressourcen an Entwicklungsländer vorschlug.8 Die Erklärung antizipierte die Notwendigkeit eines eingehenderen Rahmenwerks durch ihren Verweis auf die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten (Charter on Economic Rights and Duties of States), die der andere wichtige Aspekt der NWWO-Kampagne war und am 12. Dezember 1974 verabschiedet wurde.9 Wie der Begriff Charta nahelegt, sollte dieses Dokument ein rechtlicher Rahmen zur Förderung der ehrgeizigen Ziele der NWWO sein. Die Dritte Welt versuchte, ihre Vorstellung vom Internationalen Wirtschaftsrecht auf grundlegende und gut etablierte Prinzipien zu stützen und ihre Standpunkte rechtlich durch die Bezugnahme auf die UN-Charta, den maßgebenden Ausdruck des internationalen Rechts, abzusichern. Dadurch wollte man die Legitimität und die rechtliche Bindungswirkung der NWWO erhöhen und sie vor dem unvermeidlichen Vorwurf schützen, dass keiner der in der NWWO enthaltenen Vorschläge in entwickelten Staaten rechtsverbindlich sei. Damit präsentiert sich die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten als Übertragung klassischer und unbestreitbarer Regeln des internationalen Rechts – der Souveränität, der Nichteinmischung, des Gewaltverbots –, die alle im ersten Kapitel dieser Charta (unter der Überschrift »Grundlagen der internationalen Wirtschaftsbeziehungen«) beschrieben sind und

7 UN-Generalversammlung, Resolution A/RES/3201 (S-VI), 1. Mai 1974. Sie knüpft insbesondere an das Thema der internationalen Entwicklungsstrategie für die Zweite Entwicklungsdekade der Vereinten Nationen an, dargelegt in einer früheren Resolution: UN-Generalversammlung, Resolution 2626 (XXV), 24. Oktober 1970. 8 Für einen Überblick über die vielen Initiativen vgl. Hossain, Legal Aspects. 9 UN-Generalversammlung, Resolution 3281 (XXIX), 12. Dezember 1974.

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an die sich im zweiten Kapitel (unter der Überschrift »Wirtschaftliche Rechte und Pflichten der Staaten«) Prinzipien anschließen, die zur Ausarbeitung des aus diesen Grundregeln abgeleiteten rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmens herangezogen werden können. Merkmale der NWWO-Kampagne und die Reform der internationalen Institutionen Die NWWO stellt den bisher entschiedensten Versuch dar, voranzubringen, was auch als Projekt des Südens bezeichnet werden könnte.10 Der Einfallsreichtum und die Innovationskraft des globalen Südens in dem Bemühen, die bestehenden internationalen Institutionen und insbesondere die Vereinten Nationen zur Verfolgung ihrer eigenen Interessen zu nutzen, sind nach wie vor beispielhaft. Es sei ferner daran erinnert, dass all dies inmitten der anhaltenden Spannungen zwischen verschiedenen Ländern der Dritten Welt geschah, die in Fragen der Ideologie, der Entwicklungspolitik und der politischen Zugehörigkeit weiterhin uneins waren. Das Projekt der Entkolonisierung hatte diese Staaten vereint. Wie der postkoloniale Staat selbst, der vor der Herausforderung stand, eine gemeinsame Identität zu stiften, nachdem die nationalistischen Kämpfe, die unterschiedliche Gruppen miteinander verbunden hatten, ihr Ziel erreicht hatten, sahen sich die neuen Staaten mit der Frage konfrontiert, wie sie neben der formalen Erlangung der Unabhängigkeit untereinander Einheit erreichen konnten. Entwicklung gemeinsam voranzubringen, bot sich als notwendiger und logischer nächster Schritt an. Es war unerlässlich, das Wohlergehen der Menschen zu verbessern, die vom Kolonialismus ausgebeutet worden waren. Die Süd-Süd-Zusammenarbeit war – wie schon in Bandung konstatiert worden war – ein wichtiger Aspekt dieses Unterfangens. Darüber hinaus war aber auch klar, dass Entwicklung ohne Reformen auf globaler Ebene nicht stattfinden könnte. Zwei wichtige Ziele, über die sich die Entwicklungsländer ungeachtet ihrer wirtschaftlichen und politischen Ausrichtung weitgehend einig waren, waren in diesem Zusammenhang für das Anliegen des Südens von überragender Bedeutung: erstens die Verstaatlichung der natürlichen Ressourcen, die sich in ausländischer Hand befanden – und zweitens die Reform des Handelssystems, die insbesondere darauf abzielte, bessere Preise für die Rohstoffe zu gewährleisten, von denen die Wirtschaft der Dritten Welt so abhängig war, und auch die 10 Prashad, The Poorer Nations, S. 3.

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Stabilität dieser Preise zu sichern. Umfangreiche Reformen sowohl der internationalen Institutionen als auch des internationalen Rechts waren erforderlich. Sowohl die Weltbank als auch der Internationale Währungsfonds als im Hinblick auf globale Finanz- und Wirtschaftsbeziehungen dominierende internationale Institutionen wurden im Wesentlichen vom Westen kontrolliert und waren 1944 entstanden, bevor die Entkolonisierung überhaupt begonnen hatte. Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) bot den Entwicklungsländern zwar mehr Beteiligungsmöglichkeiten, entsprach jedoch in seinem Grundgerüst nicht ihren spezifischen und drängenden Bedürfnissen, da es von einer Gleichheit der Handelspartner*innen ausging, die es nicht gab und die just der Kolonialismus faktisch verhindert hatte.11 Der renommierte argentinische Ökonom Raúl Prebisch wies in einer Untersuchung auf die systemischen Nachteile der Volkswirtschaften der Entwicklungsländer und deren sich verschlechternde Handelsbedingungen hin. Die erste UN-Konferenz zu Handel und Entwicklung (UNCTAD) fand gemäß der Resolution der Generalversammlung 1785 (XVII) von 1962 statt.12 Die Schlussakte der Konferenz von 1964 sah die Institutionalisierung der UNCTAD und die Schaffung der Gruppe der 77 vor. Die UNCTAD wurde trotz der konzertierten Opposition der westlichen Länder gegründet. Die UNCTAD stellte umfassende Ausarbeitungen zur Rolle des Handels in der Entwicklung vor, konzentrierte sich zugleich jedoch insbesondere auf die Errichtung eines Fonds zur Stabilisierung der Rohstoffpreise, um deren massive Schwankungen zu verhindern, die die Entwicklungsbemühungen der Dritte-Welt-Länder beeinträchtigten, deren Volkswirtschaften auf der Rohstoffproduktion basierten. Die UNCTAD versuchte auch, ein gerechteres internationales Handelssystem zu errichten, indem es sich für das allgemeine Präferenzsystem einsetzte, das im Wesentlichen wohlhabendere Staaten verpflichtete, ärmeren Ländern bevorzugten Zugang zu ihren Märkten zu gewähren. Das Allgemeine Präferenzsystem stellte den Grundsatz der Meistbegünstigung infrage, der eine solche Ungleichbehandlung verbot und als grundlegender Bestandteil des allgemeinen Zollund Handelsabkommens im ersten Artikel dieses Vertrags verankert war. Prebisch selbst war Gründungsgeneralsekretär und wurde vom Sri-Lanker 11 UNCTAD, The History, S. 10–12. 12 UN-Generalversammlung, Resolution 1785 (XVII), 8. Dezember 1962. Sie wurde einige Tage vor der Resolution der Generalversammlung zum Prinzip der permanenten Souveränität im Hinblick auf natürliche Ressourcen verabschiedet: UNGeneralversammlung, Resolution 1803 (XVII), 14. Dezember 1962.

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Gamani Corea abgelöst, der sich im Rahmen seiner Promotion in Oxford mit den Instabilitäten einer Exportwirtschaft beschäftigt hatte und sich besonders für den Rohstofffonds einsetzte.13 Die UNCTAD war an sich nicht darauf ausgerichtet, als Institution im Hinblick auf Macht und Struktur mit der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds zu konkurrieren, die beide vor den Vereinten Nationen gegründet worden waren und weitgehend unabhängig von ihnen arbeiten. Vielmehr wurde sie als ein Forum für die Ausarbeitung eines internationalen Handelsrechts gesehen, das als Grundlage für eine zukünftige Handelsorganisation dienen könnte. Die in der Havannacharta von 1948 vorgesehene internationale Handelsorganisation (ITO) war nie entstanden. Das GATT, ein vorläufiges Übereinkommen, bei dem nun improvisiert werden musste, um die für die ITO vorgesehenen Funktionen zu erfüllen, war mangels eigener internationaler Rechtspersönlichkeit auch keine geeignete internationale Institution. Allerdings enthielt es als Vertragssystem verbindliche Verpflichtungen für alle Mitglieder, was bei der UNCTAD nicht der Fall war. Der prominente algerische Jurist Mohammed Bedjaoui, ein Verfechter der NWWO, hatte nicht den geringsten Zweifel an der antagonistischen Beziehung zwischen den beiden Entitäten: »Von Anfang an schien die UNCTAD dazu bestimmt, ein »Anti-GATT« zu werden. Der oligarchische und konservative Charakter der letztgenannten Institution muss nicht nachgewiesen werden, und eine Koexistenz zwischen einer erneuerten UNCTAD und einem auf seine Weise festgelegten GATT scheint nicht mehr vorstellbar.«14 Die Reform des internationalen Rechts Wissenschaftler*innen der Dritten Welt verstanden, dass die verschiedenen Initiativen der Entwicklungsländer auf dem Gebiet des internationalen Rechts ungeachtet einzelner Unterschiede in der Herangehensweise durch eine grundlegende Vision und einen gemeinsamen theoretischen Blick auf das internationale Recht, seine Geschichte und sein Funktionieren vereint waren. Seit den 1950er-Jahren hatten Theoretiker*innen der neuen Staaten wie R. P. Anand und Taslim O. Elias, versucht, eine Position der Entwicklungsländer zu formulieren. Ein Großteil dieser Texte war zu diesem Zeit-

13 Corea, My Memoirs. 14 Bedjaoui, Towards a New International Economic Order, S. 209. Bedjaouis Beschreibung der Vision und rechtlichen Ausarbeitung der NWWO ist die umfassendste und eindrucksvollste.

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punkt darauf ausgerichtet, aufzuzeigen, dass die sogenannten neuen Staaten dem internationalen Recht gegenüber nicht ignorant gewesen waren, sondern dass bestimmte Grundprinzipien des internationalen Rechts – das Kriegsrecht, die Immunität von Diplomat*innen, die Verbindlichkeit von Verträgen – Bestandteil des Rechts gewesen waren, das die Beziehungen zwischen den Entitäten in Afrika und Asien bestimmt hatte. Sie waren weitgehend der Auffassung, dass das internationale Recht, obwohl es vom Westen geformt und dann zur Förderung der Kolonialpolitik verwendet wurde, angepasst und genutzt werden könnte, um den Interessen der Entwicklungsländer zu dienen. Die kolonialen Aspekte des internationalen Rechts könnten identifiziert und herausgeschnitten werden. Entwicklungsländer könnten ihre neu gewonnene Souveränität dafür nutzen, ihre Anliegen voranzubringen und ein internationales System zu reformieren, das geschaffen worden war, um sie zu unterjochen. Die Jurist*innen der Entwicklungsländer glaubten insbesondere – wie auch viele westliche Wissenschaftler*innen, die für die Zwangslage der neuen Staaten Verständnis hatten –, dass sich das internationale Recht an eine sich verändernde Realität anpassen müsse, und meinten, dass die Entkolonisierung und die damit verbundenen Veränderungen des gesamten internationalen Rechtssystems dazugehörten. Unabhängig davon, welchen Teilbereich des internationalen Rechts sie reformieren wollte, musste die Dritte Welt die grundlegende rechtstheoretische Setzung zu den Quellen des internationalen Rechts angehen, die in ihrer konservativen Deutung jeden Reformversuch blockierte. Das internationale Recht wird im Wesentlichen aus zwei Hauptquellen gespeist, dem Völkergewohnheitsrecht und dem Vertragsrecht.15 Die Zustimmung ist die Grundlage des internationalen Rechts – ein souveräner Staat ist nur dann an eine Norm gebunden, wenn er entweder ausdrücklich, wie im Falle eines Vertrags, oder eher implizit, wie manchmal im Falle von Gewohnheitsrecht, zugestimmt hat. Dies stellte für Jurist*innen der Dritten Welt ein entscheidendes Problem dar: Westliche Staaten konnten sich auf ihre Souveränität berufen und sich so trotz ihrer Minderzahl weigern, die von der NWWO vorgeschlagenen rechtlichen Reformen zu akzeptieren, und diese Ablehnung war innerhalb des internationalen Rechts zulässig. Die Strategie der Dritten Welt zur Änderung des internationalen Rechts

15 Es gibt andere Quellen des internationalen Rechts, auf die sich der Westen berief, um die NWWO zu verleugnen. Für eine detailliertere Darstellung der Bedeutung dieser Quellen für das NWWO-Projekt: Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law.

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konzentrierte sich mithin darauf, ihre überragenden Mehrheiten in der UN-Generalversammlung zu nutzen, um eine Reihe weitreichender Beschlüsse zu fassen – darunter die Erklärung der UN-Generalversammlung zur Errichtung einer NWWO im Jahr 1974 sowie die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten. Jurist*innen der Dritten Welt argumentierten, die von ihnen artikulierten Prinzipien des internationalen Wirtschaftsrechts seien lediglich Konkretisierungen der bestehenden und elementaren Grundsätze der Souveränität. In ähnlicher Weise argumentierten sie, Resolutionen der Generalversammlung brächten geltendes Recht zum Ausdruck und leiteten eine besondere Legitimität daraus ab, dass sie von großen Mehrheiten verabschiedet wurden. So löste die NWWO eine große Debatte unter Wissenschaftler*innen aus dem Bereich des internationalen Rechts über die grundlegende Frage aus, wie dieses entstehe. Infolgedessen wurden die brennenden Fragen, ob Resolutionen der Generalversammlung internationales Recht waren oder ob sie Soft Law mit geringerer Verbindlichkeit darstellten, in den 1970er-Jahren unter Wissenschaftler*innen kontrovers diskutiert. Das Bestreben der Entwicklungsländer, nach ihrer Unabhängigkeit wieder die Kontrolle über ihre eigenen natürlichen Ressourcen zu erlangen, gehört zu den Hauptelementen der NWWO. Dieses Anliegen hat eine lange Vorgeschichte, die bis zu Streitigkeiten zwischen den USA und Mexiko über die Rechte von US-Investoren zurückreicht. Die Frage der souveränen Kontrolle über die natürlichen Ressourcen wurde Anfang der 1950er-Jahre von den Vereinten Nationen aufgegriffen. Die UN-Generalversammlung fasste zahlreiche Beschlüsse, die das Recht der Staaten auf Kontrolle und Verfügungsmacht über ihre eigenen natürlichen Ressourcen bekräftigen.16 Das Recht auf permanente Souveränität hinsichtlich natürlicher Ressourcen war mit der Selbstbestimmung – einer Begleiterscheinung der politischen Selbstbestimmung – und mit der wirtschaftlichen Entwicklung verbunden. Während es kaum Streit über das Recht eines Staates auf Verstaatlichung eines Industriesektors gab, gab es keine Einigung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern in der Frage, ob im Falle einer »Enteignung« eine Entschädigung zu zahlen beziehungsweise wie diese zu berechnen sei. Die Entwicklungsländer argumentierten, es sei Bestandteil ihres souveränen Rechts, die Höhe der Entschädigung nach ihren eigenen natio16 Vgl. UN-Generalversammlung, Resolution 523 (VI) [Integrierte Wirtschaftsentwicklung und Handelsabkommen], 12. Januar 1952. Die umfassendste Darstellung der Debatte über permanente Souveränität in den UN liefert Schrijver, Sovereignty over Natural Resources. Für eine Analyse der Debatte über permanente Souveränität vgl. Pahuja, Decolonizing International Law.

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nalen Gesetzen festzulegen; die entwickelten Länder argumentierten, die Höhe sei nach internationalen Standards zu bestimmen, die gewohnheitsrechtlich vorgeschrieben seien. Ehemalige Kolonien hatten natürlich keine Rolle bei der Entwicklung dieses »Gewohnheitsrechts« gespielt, da ihnen genau die Souveränität gefehlt hatte, derer es zum Handeln auf internationaler Ebene bedurft hätte. In der Erklärung der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten von 1974 wurde ausdrücklich bestimmt, dass die Höhe einer Entschädigung auf nationaler Ebene festzulegen sei. Die entwickelten Länder ihrerseits sprachen sich ausdrücklich gegen diese spezielle Bestimmung der Charta aus. Ein wesentlicher Aspekt dieser Debatte betraf den Status von Akteuren, die im internationalen Recht der privaten Sphäre zugeordnet wurden, insbesondere Unternehmen, da sie behaupteten, unmittelbar Rechte aus Konzessionsverträgen zu erlangen, die zwischen ihnen und dem enteignenden Staat bestehen. Diese Vereinbarungen waren in Bezug auf das Schiedsverfahren im Falle eines Streits zwischen den Parteien sprachlich oft ambivalent. Aus Angst, dass nationale Gerichte zugunsten der Regierung entscheiden würden, die die Vermögenswerte überhaupt erst verstaatlicht hatte, versuchten diese Unternehmen, die Angelegenheit zu internationalisieren, indem sie argumentierten, ihre Rechte seien durch das internationale Recht geschützt. Der Internationale Gerichtshof lehnte diese Auffassung, 1951 von der britischen Regierung vorgebracht, ab, die versuchte, die iranische Verstaatlichung der Anglo-Iranian Oil Company anzufechten,17 eine der Handlungen, die zum Sturz der Regierung Mossadegh führte. Der Gerichtshof stützte sich auf elementare und klassische Grundsätze des Völkerrechts und entschied, es regle nur die Beziehungen zwischen souveränen Staaten und eine private Partei könne innerhalb dieses Systems keine Rechte geltend machen. In der Sache war dies eine Bestätigung dessen, was der Gerichtshof zuvor festgestellt hatte, nämlich dass ein Vertrag zwischen einem souveränen Staat und einer privaten Partei nur durch das nationale Recht eines Staates und nicht durch Völkerrecht geregelt werden kann. In solchen Fällen wäre das anzuwendende nationale Recht das Recht des Staates, der die Konzession überhaupt gewährt hatte. Dies war das Grundprinzip der Souveränität, das nun von den Unternehmen und den sie unterstützenden Staaten infrage gestellt wurde. In einem weiteren Versuch, ihre Position in diesem Kampf zu verbessern, initiierte die Dritte Welt die UN-Kommission zu transnationalen Unternehmen, um einen internationalen Kodex zur Regulierung multinationaler Unternehmen auszuarbei-

17 Anglo-Iranian Oil Case (United Kingdom v. Iran), 1952, ICJ 93 vom 22. Juli 1952.

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ten.18 Dieses Projekt enthielt seine eigenen Paradoxien im Zusammenhang mit der NWWO: Die Dritte-Welt-Staaten bekräftigten ihre Souveränität, erkannten aber auch ihre Grenzen angesichts komplexer globaler Entitäten wie Unternehmen an, indem sie versuchten, internationales Recht zur Einhegung dieser Entitäten zu schaffen – was darauf hindeutet, dass sie ihre eigenen nationalen Gesetze als nicht ausreichend erachteten, selbst wenn diese Unternehmen innerhalb ihres Hoheitsgebiets agierten. Das internationale Recht zur Verstaatlichung wurde in den 1970er-Jahren zu einem heiß umkämpften Terrain für Wissenschaftler*innen und Jurist*innen. Viele Bände wurden dazu veröffentlicht und die Position der Entwicklungsländer wurde als Bedrohung für die Grundfesten der Gesellschaft und ihre konstitutiven Elemente, das Recht über Verträge und Eigentum, angesehen und angegriffen. Die Verstaatlichungen im Nahen Osten und das Ölembargo hatten die Atmosphäre der Bedrohung und Herausforderung verstärkt und plötzlich und kurioserweise die üblichen geopolitischen Rollen, wenn auch nur kurz, umgekehrt. 1974 argumentierten Wissenschaftler*innen im American Journal of International Law, das Ölembargo sei eine Form völkerrechtswidriger Zwangsausübung, da es die Nahrungsmittelversorgung, die Produktion von Düngemitteln und die Wirtschaftsbeziehungen im Allgemeinen beeinträchtige. Dieser Zwang durch arabische Länder wurde also tatsächlich als so groß angesehen, als würde er einer Gewaltanwendung gleichkommen und somit einen Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta darstellen – gegen den Artikel, dessen Hauptzweck es ist, Krieg zu verbieten. Offenkundig ist die Ironie, dass bei einer der wenigen Gelegenheiten, in denen Entwicklungsländer ihre wirtschaftliche Macht gegen den Westen ausübten, unmittelbar dagegen protestiert wurde, da dies ein Verstoß gegen eine der grundlegendsten Normen der UN-Charta, das allgemeine Gewaltverbot, sei. Im Wesentlichen wurde das Ölembargo gegen Länder, die Israel im Konflikt von 1973 unterstützten, als eine Handlung gesehen, die so etwas wie Krieg bedeutete.19 Offenkundig haben die USA selbst häufig auf die Verhängung von Ölembargos zurückgegriffen, und zumindest einem Beitrag zufolge verhängten

18 Vgl. Asante, UN Efforts, S. 123–137. 19 Vgl. Paust und Blaustein, The Arab Oil Weapon. Für Paust und Blaustein verletzte die »Ölwaffe« die Souveränität verschiedener betroffener Staaten sowie die Ziele der UN-Charta der Toleranz, freundschaftlicher Beziehungen und friedlicher Streitbeilegung. Der Beitrag ist nützlich, da es um eine Unterscheidung zwischen »zulässigen und unzulässigen Formen von Zwang« geht. Ebd., S. 413.

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die USA in der Vergangenheit sogar mehr Ölembargos als jede andere Nation.20 Beim Versuch, ihre Version des Rechts zu ausländischen Investitionen weiterzuentwickeln, haben die Länder der Dritten Welt es versäumt, gerichtliche Mechanismen zu entwickeln, die die oft mehrdeutigen und anfechtbaren Grundsätze des internationalen Rechts hätten auslegen und anwenden können, die schlussendlich obsiegten. Tatsächlich hat die Dritte Welt das wichtigste Justizorgan des Systems der Vereinten Nationen, den Internationalen Gerichtshof, mit großem Argwohn und Misstrauen betrachtet, da er 1966 das Apartheidregime Südafrikas, das die Dritte Welt zu demontieren versuchte, wesentlich begünstigt hatte. Bedjaoui erkannte klar, dass »ein neues Regelwerk neuer Institutionen bedarf, die für die Anwendung dieser Normen sorgen«21. Neue Institutionen und internationale Einrichtungen, auch Organe zur Rechtsdurchsetzung, mussten geschaffen werden, da »die neuen Regeln keine hohlen Phrasen bleiben dürfen«. In gewisser Weise war die Position der Dritten Welt jedoch schlüssig, da sie behauptete, dass Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit Bodenschätzen von nationalen Gerichten nach nationalem Recht entschieden werden müssten. Stattdessen wurden entscheidende Fragen hinsichtlich des Charakters der permanenten Souveränität im Hinblick auf natürliche Ressourcen von internationalen Schiedsgerichten entschieden, die zur Beilegung von Handelskonflikten eingerichtet worden waren und die sich weitgehend aus westlichen Anwält*innen zusammensetzten. Die Schiedsgerichtsbarkeit war natürlich seit jeher ein wichtiger Bestandteil des internationalen Rechts. Nun erhielt sie eine neue und wichtige Funktion bei der Entscheidung von Streitigkeiten zwischen souveränen Staaten und multinationalen Unternehmen. In einer Reihe von Schiedsgerichtsentscheidungen seit den 1950er-Jahren, die sich mit Streitigkeiten zwischen multinationalen Unternehmen und Staaten des Nahen Ostens befassten, wurde ein neues, hybrides Rechtssystem formuliert – eher »transnationales Recht« als internationales Recht. Während das internationale die Beziehungen zwischen den Staaten regelte, sollte das transnationale Recht die Beziehungen zwischen Staaten und privaten Akteuren wie multinationalen Unternehmen regeln. Es folgte eine Reihe grundlegender Entwicklungen. Ausge20 Alhajji, The Oil Weapon. Ibrahim Shihata, der später General Counsel der Weltbank war, argumentierte im American Journal of International Law, das Embargo sei rechtmäßig und es handle sich dabei um eine ordnungsgemäße Ausübung des Rechts der arabischen Staaten, über ihre Bodenschätze zu verfügen: Vgl. Shihata, Destination Embargo. 21 Bedjaoui, Towards a New International Economic Order, S. 216.

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hend von diesem von den Gerichten erzeugten Recht – einem »quasiinternationalen Recht« – wurden Verträge zwischen Staaten und multinationalen Konzernen internationalisiert: Entscheidungen wurden unter Zugrundelegung des neuen transnationalen Rechts von Schiedsgerichten und nicht durch Anwendung nationalen Rechts von nationalen Gerichten getroffen. In diesem kürzlich erfundenen Bereich des transnationalen Rechts wurde völlig neues Recht zur Festlegung der jeweiligen Befugnisse von Staaten und Unternehmen formuliert, um dieser Situation zu begegnen. Es handelte sich um Recht, das von Schiedsrichter*innen formuliert wurde, die praktisch durchgängig eher mit den Perspektiven der Unternehmen als mit denen der Staaten sympathisierten. Im Wesentlichen wurde das hybride transnationale Recht selektiv so angewandt, dass begünstigende Prinzipien des internationalen Rechts auf Unternehmen angewendet wurden, als besäßen sie einen schützenswerten souveränen Status: Verträge zwischen einem Unternehmen und einem Staat wurden mit »Pakten« verglichen, deren Bestimmungen unantastbar waren. Diese Schiedsrichter*innen behaupteten, ein universelles »Naturvertragsrecht« anzuwenden, das sich auf klassische Prinzipien des internationalen Rechts stützte, ohne sich allerdings darauf zu gründen, und ließen dabei das nationale Recht des Entwicklungslandes, um dessen Ressourcen es ging, außen vor. Von beißender Ironie war, dass in diesem erlesenen und abgeschotteten Bereich der Schiedsgerichtsbarkeit die Schiedsrichter*innen relativ unbeschränkt Rechtserzeugung betreiben konnten und sich im Hinblick auf die Auslegung der Prinzipien oft im direkten Widerspruch zu den Positionen der Entwicklungsländer in der NWWO befanden. Westliche Staaten konnten die Initiative zur Verrechtlichung der NWWO in der Generalversammlung blockieren, indem sie ihre Ablehnung zum Ausdruck brachten und sich weigerten, den Vertragsentwürfen zuzustimmen. Die Dritte Welt hingegen verfügte über zu wenig Ressourcen, als dass sie die Erzeugung von transnationalem Recht durch die Schiedsverfahren hätte verhindern können. Während die Dritte Welt versuchte, das internationale Recht zur Einschränkung der der privaten Sphäre zugeordneten Macht von Unternehmen zu nutzen, sicherten diese Schiedssprüche genau das Gegenteil – den Einsatz von Prinzipien des internationalen Rechts zur Festigung und Erweiterung privatrechtlicher Rechte im Namen eines neuen »transnationalen Rechts«.22

22 Die umfassendste und fachkundigste Darstellung dieser Transformation findet sich in mehreren Werken von Muthucumaraswamy Sornarajah, etwa Sornarajah,

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In der Erkenntnis, dass die gesamte Institution der Schiedsgerichtsbarkeit, wie sie sich entwickelt hatte, biased war, und zwar zulasten der Entwicklungsländer, versuchte die Dritte Welt, über die Kommission der Vereinten Nationen für Internationales Handelsrecht (UNCITRAL) ein neues Schiedsverfahrenssystem zu formulieren. Dieses Projekt der NWWO ging tatsächlich auf eine Initiative des AALCO zurück. Keine dieser Strategien war wirksam. UNCITRAL entwickelte ein Modellgesetz zur internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit; aber wie Muthucumaraswamy Sornarajah, der vorausschauendste und fachkundigste Dritte-Welt-Wissenschaftler, von Anfang an betonte, enthielt dieser Vorschlag selbst viele Elemente, die die Kontrolle der Entwicklungsländer über ihre Volkswirtschaften weiter untergruben, etwa indem Verträge zwischen Unternehmen und Entwicklungsländern weiter »internationalisiert« wurden23 mit der Folge, dass über diese Verträge nach internationalem Vertragsrecht entschieden würde, das wiederum von einigen wenigen westlichen Spezialist*innen erarbeitet worden und das den Interessen der Dritten Welt abträglich war. Ironischerweise wurde ihre besondere Behandlung nach diesen Normen durch die Kategorisierung dieser Verträge als spezielle »Entwicklungsverträge« gerechtfertigt. Nach der zweiten Ölkrise, dem Aufkommen von Diktaturen und dem Scheitern des Dritte-Welt-Sozialismus in einer Reihe von Ländern stockten die Bemühungen der NWWO, und die Entwicklungsländer begannen, untereinander um ausländische Investitionen zu konkurrieren. Das Modell der sogenannten asiatischen Tigerstaaten wurde dasjenige, das nachgeahmt werden sollte. Unter diesen Umständen konnte sich das von einer Handvoll westlicher Wissenschaftler*innen erdachte und von wirtschaftsnahen Schiedsgerichten angewendete und weiterentwickelte transnationale Recht durchsetzen und erlangte eine neue, beispiellose Bedeutung für die Gewährleistung eines umfassenden Schutzes der Investitionen, die die Dritte Welt nun unbedingt anlocken wollte. Das internationale Recht und das Vermächtnis der NWWO Bedeutung und Gewicht der NWWO haben sich durch die nachfolgenden Ereignisse – den Zusammenbruch des NWWO-Projekts, das Aufkommen des Neoliberalismus, die Intensivierung der Globalisierung, die globale Fi-

The Climate of International Arbitration; The Settlement of Foreign Investment Disputes. 23 Sornarajah, The UNCITRAL Model Law.

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nanzkrise und jüngst das Erstarken von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika (die sogenannten BRICS-Staaten) – zwangsläufig verschoben. Insgesamt erwies sich der Versuch der NWWO, das internationale Recht zu reformieren und grundlegend zu verändern sowie seine kolonialen Einschreibungen zu beseitigen, als erfolglos.24 Wissenschaftler*innen haben sich eingehend mit den komplexen wirtschaftlichen und politischen Faktoren auseinandergesetzt, die zur Niederlage der NWWO führten: die Ölkrisen, die Machenschaften von Kissinger und anderen prominenten westlichen Diplomaten, die Opposition der G7 und die Schwächen innerhalb der Dritten Welt selbst, als viele Länder Diktaturen erlagen. Im Hinblick auf die rechtserzeugende Initiative erwies sich jedoch als entscheidend, dass ein internationales Recht, das dem kolonialen Unterfangen gedient hatte, strukturell immun schien gegen Versuche, seine wesentlichen Merkmale und seine Ausrichtung zu ändern. Scharfsinnige Theoretiker*innen wie Bedjaoui erkannten dies. Allen war natürlich klar, dass die Rechtslehre der souveränen Gleichheit nicht mit Gleichheit in Bezug auf politische, wirtschaftliche und militärische Macht verwechselt werden sollte. Aber selbst auf der rein rechtlichen und rechtstheoretischen Ebene bestanden die ursprünglichen Ungleichheiten, die das internationale Recht instanziiert hatte, fort und setzten sich durch. Die neuen Staaten konnten nicht einfach ohne Weiteres das Völkergewohnheitsrecht ändern, das vor ihrem Bestehen entstanden war und das sogar dazu genutzt wurde, sie zu unterjochen. Umgekehrt konnten sich die »alten« Staaten auf ihre Souveränität berufen, um sich zu weigern, die NWWO-Prinzipien zu akzeptieren, die darauf abzielten, die Auswirkungen des Kolonialismus aufzuheben. Offensichtlich genossen ungeachtet der Proklamationen der Gleichheit der Staaten »alte« souveräne Staaten Vorteile, die den »neuen« souveränen Staaten fehlten. Auch auf institutioneller Ebene verfehlte die UNCTAD weitgehend ihre Ziele. Ihre Bemühungen um ein neues Rohstoffhandelssystem verliefen größtenteils im Sande. Und zum Vorläufer und zur Grundlage des neuen globalen Handelssystems, aus dem die Welthandelsorganisation (WTO) hervorging, wurde das GATT und nicht die UNCTAD. Zu entmutigt und desorganisiert, um in den Handelsverhandlungen der Uruguay-Runde, die zur Gründung der WTO führten, effektiv zu feilschen, ließen die Entwick24 Einige Wissenschaftler*innen versuchten, dieses Scheitern zu erklären. Die unterschiedlichen Erklärungen und ihr sich im Laufe der Zeit verändernder Charakter sind auch an sich eine interessante Frage. Die Erklärungen für die Misserfolge, die in den 1980er-Jahren verfasst wurden, unterscheiden sich von denen jüngerer Wissenschaftler*innen wie Anghie, Pahuja und Salomon.

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lungsländer es zu, dass Aspekte geistigen Eigentums und des Dienstleistungshandels, für die Unternehmen intensiv Lobbyarbeit betrieben hatten, in das Regime aufgenommen wurden – und das, obwohl sie weit von dem entfernt waren, was eigentlich der zentrale Schwerpunkt des Handelsregimes hätte sein sollen, nämlich dem Rohstoffhandel. Im Gegenzug wurde ihnen versprochen, dass die nachfolgende Doha-Runde die »Entwicklungsrunde« sein sollte, die den Anliegen der Entwicklungsländer, einschließlich des Handels im Bereich der Landwirtschaft, angemessen Rechnung tragen würde. Die derzeitige Sackgasse bei den Verhandlungen zeigt das große Scheitern dieser Initiative, da sich der Westen wieder einmal als widerstandsfähig erwiesen hat. Die Einbeziehung des allgemeinen Präferenzsystems, das die UNCTAD als Bestandteil des Handelsregimes propagiert hatte, war ein schwacher Trost für diesen Rückschlag. Im weiteren Sinne haben auf institutioneller Ebene der westlich kontrollierte Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank ihre Macht ausgebaut. In den 1980er-Jahren wurde der Neoliberalismus in Entwicklungsländern allgegenwärtig und dehnte sich beständig weiter aus. Die Weltbank, die alle liberalen Politiken zu »Grundbedürfnissen« aufgab, konzentrierte sich stattdessen auf Strukturanpassungsprogramme, dies in Partnerschaft mit dem IWF. Die NWWO hatte das Problem der globalen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten angesprochen; zumindest im Westen jedoch wurde Entwicklung durch Menschenrechte als »letzte Utopie« ersetzt.25 Die Verwüstungen durch Diktatoren in der gesamten Dritten Welt in den 1970er- und 1980er-Jahren ließen das Menschenrechtsprojekt dringend erscheinen – und es diente sicherlich auch einem wichtigen Zweck. Aber das Argument, der Schutz der bürgerlichen und politischen Rechte sei das wichtigste Mittel zur Durchsetzung globaler Gerechtigkeit, bot sich perfekt an, um die Behauptung der NWWO zu leugnen, wirtschaftliche Umstrukturierung und Umverteilung seien zur Erreichung eines angemessenen Lebensstandards für Millionen von Menschen in der Dritten Welt unerlässlich. Darüber hinaus war ein Verständnis von Menschenrechten, das wirtschaftliche und soziale Rechte nicht oder nur in sehr begrenztem Umfang miteinbezog, konzeptionell nicht in der Lage, die Intensivierung des Neoliberalismus infrage zu stellen. Das Bemühen der Dritten Welt, auf diese Verschiebung hin zu Menschenrechten mit einer Kampagne für ein »Recht auf Entwicklung« zu re-

25 Moyn, The Last Utopia. In meiner Besprechung »Whose Utopia? Development, Human Rights and the Third World« konzentriere ich mich auf das Verhältnis zwischen der NWWO und dem Aufstieg der Menschenrechte.

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agieren, erlangte ungeachtet der Gültigkeit der betreffenden Forderungen keine ausreichende rechtliche oder politische Glaubwürdigkeit. Kurz gefasst können Menschenrechte und Neoliberalismus – und das sollte für Historiker*innen und Politolog*innen keine Überraschung sein – nebeneinander existieren oder sogar sich wechselseitig ergänzen. Erst in jüngster Zeit, Ende der 1990er-Jahre, sind Bemühungen erkennbar, neoliberale Versionen von Globalisierung und das wohl damit verbundene Elend menschenrechtlich anzufechten.26 Ebenso wurde das »internationale Entwicklungsrecht«, das die Autor*innen der NWWO zu verwirklichen hofften, durch »Recht und Entwicklung« ersetzt, eine Wiederbelebung einer weitgehend gescheiterten Bewegung der 1960er-Jahre, die nun – angesichts der festgestellten Mängel ihrer früheren Version fast unerklärlich – plötzlich massiv finanziell und institutionell gefördert wurde. Wieder einmal wurden jedoch anstelle von Reformen auf internationaler Ebene nationale Reformen verschrieben. Argumentiert wurde damit, dass die Entwicklungsprogramme wegen des Fehlens geeigneter Gesetze in den Ländern selbst nicht greifen könnten, und so wurden Rechtsreformen und Modernisierung auf nationaler Ebene gefordert.27 Insofern war es nicht verwunderlich, dass die Weltbank in den 1990er-Jahren einer der leidenschaftlichsten Förderer von »Recht und Entwicklung« sowie »Rechtsstaatlichkeit« war und sogar behauptete, ihre Aktivitäten brächten das »Recht auf Entwicklung« voran. Maßgeblich ist außerdem, dass wir in der Reaktion des Westens auf die NWWO – die Strategien der entwickelten Länder zur Negierung der NWWO – die Schaffung zahlreicher Technologien sehen könnten, die für die spätere Entwicklung der rechtlichen Infrastruktur des Neoliberalismus von grundlegender Bedeutung waren. Dies zeigt sich insbesondere in der Reaktion auf die Initiative zum Prinzip der permanenten Souveränität über natürliche Ressourcen. Im Grunde genommen hat der Westen auf die mit diesem Prinzip aufgeworfene Herausforderung durch eine Erweiterung und Verfeinerung dessen reagiert, was als »transnationales Recht« bezeichnet werden könnte. Im Wesentlichen bedeutete dies eine Verlagerung von Macht auf den als privatrechtlich reguliert markierten Bereich internationaler Wirtschaftsakteure – auf multinationale Unternehmen. Und anstatt internationale öffentlich-rechtliche/völkerrechtliche Instrumente zur Steuerung der als der privaten Sphäre zugeordneten Akteure und Transaktionen zu nutzen, wurden das internationale Recht beschnitten und die

26 Anghie, Time Present and Time Past. 27 Als wichtige Analyse: Pahuja, Decolonising International Law.

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Macht dieser privaten Akteure gestärkt. Es lässt sich sogar behaupten, dass klassische grundlegende völkerrechtliche Prinzipien, wie das souveräne Recht eines Staates, Tätigkeiten auf seinem Territorium nach seinen eigenen Gesetzen zu regeln, durch die NWWO-Initiative und die Reaktion des Westens darauf untergraben wurden. Die Schiedsgerichtsbarkeit war in den 1970er-Jahren noch im Entstehen begriffen, doch die wesentlichen Strukturen, die durch die Schiedssprüche zu den Ölverstaatlichungen in den 1970er-Jahren geschaffen wurden, legten die Grundlage für einen Bereich, der heute dramatisch an Macht und Bedeutung gewonnen hat – die internationale Investitionsschiedsgerichtsbarkeit. Als Ergebnis der durch diese Schiedsverfahren erzeugten Rechtsfortentwicklung sind wir nun in einem Stadium angelangt, in dem beispielsweise staatliche Vorschriften zum Schutz der Umwelt oder der menschlichen Gesundheit durch einheitliche Verpackungen für Zigaretten den Unternehmen ermöglichen könnten, geltend zu machen, ihre Eigentumsrechte seien beeinträchtigt und sie müssten entschädigt werden.28 Was ich damit sagen möchte, ist, dass die dem Bereich des Privaten zugeordnete Macht, die schon immer ein – wenn auch verdeckt gehaltener – Motor internationaler Rechtsetzung war29, ihre Reichweite jetzt massiv ausgedehnt hat, und zwar unterstützt durch das Völkerrecht und seine Institutionen. Ablesen lässt sich dies auch an den nachfolgenden Entwicklungen bei internationalen wirtschaftsrechtlichen Regimen, etwa am derzeitigen ausländischen Investitionsschutzrecht oder am internationalen Handelsrecht. Dies hat zu einer Situation geführt, in der Wissenschaftler*innen konstatieren, das Völkerrecht sei bei der Einhegung privater Macht weitgehend unwirksam.30 Ein Blick auf die BRICS-Staaten wirft die Frage auf, ob ihr Aufstieg als eine Art Wiederbelebung des NWWO-Projekts angesehen werden könnte.31 Es ließe sich argumentieren, dass die NWWO im Wesentlichen gescheitert ist, weil ihr ungeachtet der Gültigkeit ihrer moralischen Ansprüche oder ihrer wirtschaftlichen Analysen schlichtweg die reale wirtschaftliche und politische Macht fehlte, die für eine Änderung des Systems not-

28 Vgl. Schneidermann, The Global Regime. 29 Koskenniemi, Empire and International Law. Für eine wichtige Analyse der privaten Rechte im Rahmen des Schiedsverfahrens siehe Shalakany, Arbitration and the Third World. 30 Foster, Diminished Ambitions? 31 Vgl. Chen und Chen, China-India Cooperation; Sornarajah, The Return of the NIEO; Gordon, The Dawn of a New, New International Economic Order. Es geht darum, ob die globale Finanzkrise und das Aufkommen der BRICS-Staaten den Raum für Alternativen eröffnen könnten, wie sie in der NWWO formuliert sind.

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wendig gewesen wäre. Die BRICS-Staaten verfügen dagegen über eine beträchtliche Macht im internationalen System, auch wenn über den Umfang diskutiert wird. Die jüngst gegründete BRICS Development Bank könnte auf verschiedene Weise mit der Weltbank und dem IWF konkurrieren, um einen anderen, stärker staatlich basierten Entwicklungsansatz zu formulieren und zu fördern.32 Insgesamt bleibt jedoch abzuwarten, ob die BRICS-Staaten die wesentlichen Strukturen des internationalen Wirtschaftssystems und der dieses System unterstützenden Rechtsordnung infrage stellen.33 Stattdessen scheinen sie die Reformen weitgehend innerhalb des bestehenden Rahmens durchzuführen und ihn sogar immer geschickter für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. So beteiligen sie sich mit wachsendem Selbstvertrauen und zunehmendem Erfolg an den WTO-Verfahren (Brasilien und China gehören zu den aktivsten Nutzern des internationalen Streitbeilegungssystems). Obwohl sie beispielsweise Bedenken hinsichtlich des internationalen Regimes für ausländische Investitionen und insbesondere des Umfangs haben, in dem dadurch ihre souveränen Rechte zur Regulierung der Wirtschaftstätigkeit eingeschränkt wurden, gehören China und Indien heutzutage zu den größten Exportnationen für ausländische Investoren. Dabei profitieren sie von rechtlichen Regelungen zum Schutz ausländischer Investoren und stärken zugleich die Regime, die sich mit der Niederlage der NWWO konsolidiert haben.34 Damit stellt sich die Frage, ob die BRICS-Staaten trotz der von ihnen oft für sich reklamierten Führungsrolle in der Dritten Welt gegenwärtig auf verschiedene Weise ein ungerechtes System für ihre eigenen Zwecke unterstützen und nutzen – oder ob ihr Erfolg mit all seinen Mehrdeutigkeiten zeigt, dass die Annahme, sei jegliche Entwicklung innerhalb des bestehenden vom Westen geschaffenen und gegen die NWWO verteidigten Rahmens sei unmöglich, unzutreffend war. Die übergeordnete Frage ist, wie mit den grundlegenden Forderungen der NWWO weiter zu verfahren ist. Das Eröffnungskapitel von Bedjaouis Werk und sein Appell bezüglich der wachsenden Armut und einer sich verschärfenden Nahrungsmittelkrise stoßen heutzutage auf Resonanz. Die gescheiterte NWWO-Kampagne zur Einhegung multinationaler Unternehmen hält Lehren für die gegenwärtigen Bemühungen zur Haftbarmachung von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen bereit; der Unterschied liegt darin, dass die frühere Kampagne im Namen der Souveräni-

32 An Acronym with Capital. The Economist, 19. Juli 2014. 33 Umfassend bei Sornarajah, India, China and Foreign Investment. 34 Vgl. Cai, New Great Powers.

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tät geführt wurde und die jetzige im Namen des kosmopolitischen Anliegens der Menschenrechte. Darüber hinaus kann der Aufstieg einiger weniger Länder aus den Reihen der Dritten Welt nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Dritte Welt, also die Millionen von Menschen, denen es an einem angemessenen Lebensstandard mangelt, sehr wohl immer noch existiert.35 Eine weitere Frage betrifft problematische Aspekte der Entwicklung, wie sie in der NWWO verankert zu sein schien. Es war in vielerlei Hinsicht ein »Top-down-Modell«, und es ist offenkundig, dass Umweltbelange bei der NWWO-Initiative völlig fehlen, obwohl die Stockholmer Umweltkonferenz, der Beginn des internationalen Umweltrechts, 1972 stattfand. Welche Mängel auch immer die NWWO aufweisen mag und worin auch immer die Veränderungen bestehen mögen, die sich in der Folge im internationalen Recht und in den internationalen Beziehungen vollzogen haben, verbleibt die grundlegende Frage, die Nyerere als das zentrale, drängende Thema der NWWO aufgeworfen hat: Ist das internationale System einschließlich des internationalen Rechtssystems so strukturiert, dass es zur systematischen Verelendung der überwiegenden Mehrheit der Weltbevölkerung führt? Nyerere bezog sich zwar auf die Ungleichheiten zwischen reichen und armen Nationen, aber seine Frage ist ebenso drängend mit Blick auf das immer ausweichlichere Phänomen reicher und armer Menschen.

Im Original: Legal Aspects of the New International Economic Order Humanity: An International Journal of Human Rights. Humanitarianism, and Development 6, 1, 2015, 145–158.

Übersetzung von Ha Mi Le. Es lektorierte Karina Theurer.

35 Vgl. Salamon, From NIEO to Now; Pogge, Divided against Itself.

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Ernährungssicherheit, Freihandel und der Kampf um den Staat [Auszug] Anne Orford

Heutzutage werden multilaterale und regionale Handelsabkommen mit einer »erfundenen Tradition« des Freihandels gerechtfertigt. Seine Geschichte wird dargestellt als Kampf gegen Protektionismus und militanten Wirtschaftsnationalismus, indem Handelsdiplomatie mit liberaler Regierungsführung, Kosmopolitismus und einer friedlicheren Welt gleichgesetzt wird. Doch die in den WTO-Übereinkommen und in einer zunehmenden Anzahl wichtiger regionaler Handelsabkommen verankerten Verhandlungsergebnisse stehen in einem Spannungsverhältnis zu der Geschichte, wie sie von den Befürworter*innen des Freihandels erzählt wird. Zwar lässt sich viel mehr über die Rolle des Freihandels bei der Gestaltung des Zugangs zu Nahrung1 auf globaler Ebene im Verlauf der Zeit sagen, doch an diesem kurzen Auszug aus seiner Geschichte wird bereits deutlich, inwieweit der Bezug auf den Freihandel derzeit das Verhältnis der Menschen zur Nahrung prägt und gewisse Ansprüche auf Nahrung als legitim erscheinen lässt. Im Folgenden werde ich darstellen, welche Aspekte des gegenwärtigen Handelsrechts einerseits auf dem Freihandelsprojekt des 19. Jahrhunderts aufbauen und welche andererseits davon abweichen. An dieser Stelle sei angemerkt, dass Wirtschaftsgeschichte Theorie ist. Die Art und Weise, wie diese Geschichte erzählt wird, setzt bereits den Rahmen für die Erkenntnisse, die wir in der Frage gewinnen, ob der Wirtschaftsliberalismus unumgänglich und erstrebenswert ist.2

1 Eine neue Geschichte des internationalen Handelsrechts unter besonderer Berücksichtigung der Regulierung des Zuckerhandels, die interessante Einblicke bietet, findet sich in: Fakhri, Sugar. 2 Zwei Wissenschaftler, die trotz ihrer recht unterschiedlichen politischen Agenden beide den Standpunkt vertreten, dass Wirtschaftsgeschichte Theorie ist, sind Banaji (Banaji, Theory as History) und Bauer (Bauer, Economic History).

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Anne Orford

Der Aufstieg der Handelsdiplomatie Im Gegensatz zu den heutigen Fürsprecher*innen des Freihandels scheuten die Freihandelspuristen des 19. Jahrhunderts davor zurück, detaillierte Freihandelsabkommen auszuhandeln. Sie fürchteten, dass Kaufleute und Industrielle dadurch Einfluss auf die Regierungen und die Innenpolitik nehmen könnten. In Großbritannien hegten die Freihändler gegenüber der »Handelsdiplomatie« vor allem feindselige Gefühle und der britische Liberalismus unterstützte einen für alle Waren offenen Markt wie auch die unilaterale Liberalisierung der Handelsbarrieren. In den 1860er-Jahren sympathisierte Cobden kurzzeitig mit der Handelsdiplomatie. Im Ergebnis nahm er eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des Cobden-Chevalier-Vertrags mit Frankreich ein. Dogmatischere Freihändler kritisierten die Aushandlung solcher Verträge allerdings als »Abkehr von den Grundsätzen des reinen und unilateralen Freihandels« und als »rückschrittliche Politik des ›exklusiven Handelns und Verhandelns‹«3. Möglicherweise als Folge dieses idealistischen Engagements für die unilaterale Liberalisierung und trotz der heutigen Tendenz, die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg rückblickend zu verklären, war der Handel während des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts größtenteils nicht »frei«. Handelsrechtler*innen stellen diese Zeit häufig so dar, als wäre die weltweite Liberalisierung von Handel, Arbeit und Gewerbe durch die Weltkriege und die Wirtschaftskrise des frühen 20. Jahrhunderts zum Erliegen gekommen.4 Im gesamten 19. Jahrhundert war die Politik in vielen europäischen Staaten jedoch geprägt von hohen Zöllen und protektionistischen Maßnahmen. Soweit Zölle gelockert wurden, war dies das Ergebnis bilateraler Handelsabkommen.5 Der große Teil der Weltbevölkerung, der in den europäischen Kolonien lebte, war von diesen Freihandelsbeziehungen ausgeschlossen. Die Handelsströme der in den Kolonien produzierten Güter waren in den meisten Fällen noch immer geprägt von Vorzugszöllen (Imperial Preference) und Monopolen. Sie gehorchten kolonialen Geschäftsinteressen sowie Investoren, die Land, bewirtschaftete Plantagen und Minen erwarben, Sklaven- oder Zwangsarbeit in Anspruch nahmen sowie Schienennetze und Häfen bauten, um Vermögenswerte aus den kolonisierten Gebieten in das europäische Handelsnetz einzuspeisen. Nichtsdestotrotz entstand durch das Gefüge bilateraler Abkommen zwischen den europä-

3 Daunton, Wealth and Welfare, S. 204. 4 Vgl. beispielsweise Irwin, Mavroidis und Sykes, The Genesis, S. 5–7. 5 Daunton, Wealth and Welfare; Cohn, Free Trade.

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Ernährungssicherheit, Freihandel und der Kampf um den Staat [Auszug]

ischen Staaten Ende des 19. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas eine Niedrigzollzone. Außerdem war die internationale Integration vor dem Ersten Weltkrieg zwischen den wohlhabenderen Nationen stärker ausgeprägt als danach. Diese vergleichsweise liberale Periode endete mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das Freihandelskonzept erlitt einen Rückschlag, als die Regierungen mit Zollschranken und anderen protektionistischen Maßnahmen auf die Finanzkrise der 1920er-Jahre reagierten, um der sich ausbreitenden wirtschaftlichen Depression Einhalt zu gebieten. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen nahm die internationale Handelsdiplomatie in der Außenpolitik eine immer wichtigere Rolle ein. Dies galt selbst für Staaten wie Großbritannien, die vorher energisch eine Agenda des unilateralen Freihandels verfolgt hatten. Völkerrechtler, Politikökonomen und internationale Historiker aus dem liberalen Spektrum sahen sich mit der Frage konfrontiert, wie man der wahrgenommenen »Desintegration« von internationalem Recht und internationaler Wirtschaftsordnung am besten begegnen sollte.6 Für einige war es bereits Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Desintegration des internationalen Rechts und des durch den europäischen Liberalismus ermöglichten »integrierten Weltsystems« gekommen.7 Andere sahen die Ursache für den Abschwung in protektionistischen Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise.8 Wiederum andere waren der Auffassung, dass die sozialen Grundlagen des internationalen Rechts durch die Außenpolitik der faschistischen Staaten und in geringerem Maße auch Sowjetrusslands herausgefordert wurden.9 In den 1930er-Jahren war unter den Anhänger*innen des liberalen Internationalismus schließlich das allgemeine Gefühl entstanden, dass die Desintegration des internationalen Systems ein echtes Problem darstellte, dass diese Desintegration mit dem Ende des europäischen Liberalismus einherging und dass es in der Folge zu einer Schwächung des internationalen Rechts kam.10 6 Zu sprachlichen Aspekten der »Desintegration« vgl. Röpke, International Economic Disintegration; Friedmann, The Disintegration of European Civilisation; Mises, Economic Problems, S. 245. 7 Rüstow, Appendix, S. 267. 8 Röpke, International Economic Disintegration. 9 Friedmann, The Disintegration of European Civilisation. 10 Zum Zusammenhang zwischen liberalen Bedingungen der Wirtschaftsordnung und dem Entstehen des internationalen Rechts vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Rüstow, General Sociological Causes, S. 273–274; Röpke, International Economic Disintegration; Friedmann, The Disintegration of European Civilisation, S. 194– 195.

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Dass in Reaktion auf die Entwicklungen der Zwischenkriegszeit die Handelsdiplomatie verstärkt zum Einsatz kam, lag vor allem an den USA. Cordell Hull, von 1933 bis 1944 Außenminister im Kabinett Franklin Roosevelts, war die treibende Kraft hinter der außenpolitischen Neuausrichtung der USA in Richtung einer Handelsliberalisierung in den 1930er-Jahren und bei der Gestaltung des Wiederaufbaus nach dem Krieg in den 1940er-Jahren. Unter seiner Führung verhandelten die USA in den 1930erJahren Handelsabkommen mit 22 Ländern, darunter viele in Lateinamerika. Die Bestimmungen dieser Abkommen bildeten die Grundlage für einen Großteil des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) aus dem Jahr 1947.11 Während des Zweiten Weltkriegs machten sich die USA den finanziellen Engpass Großbritanniens zunutze und erklärten Verhandlungen über eine Mäßigung der Imperial Preferences, eine Vereinbarung über die Grundsätze einer liberalen internationalen Handelspolitik und ein Freihandelsregime durch Großbritannien zur Voraussetzung für die Militärhilfe im Rahmen des Leih- und Pachtgesetzes.12 Diese Verhandlungen ergaben, wie in der 1941 von Präsident Roosevelt und Premierminister Winston Churchill veröffentlichten Atlantikcharta festgelegt, dass beide Länder, »ohne ihre eigenen Verpflichtungen außer Acht zu lassen, für einen gleichberechtigten Zugang aller Staaten, der großen wie der kleinen, der Sieger wie der Besiegten, zum Welthandel und zu Rohstoffen eintreten werden«.13 Einige wenige »Staatsbedienstete und Ökonomen internationaler Prägung« hatten »enormen Einfluss« auf diesen Prozess, darunter die liberalen Ökonomen Harry Hawkins und Clair Wilcox aus dem USAußenministerium sowie Lionel Robbins und James Meade aus der Wirtschaftssektion des British War Cabinet Secretariat.14 Es gelang ihnen, den von den US-Ministerien für Landwirtschaft, für Arbeit und für Handel, vom britischen Schatzamt, vom Ministerium für die Versorgung der britischen Streitkräfte, von den britischen Ministerien für Landwirtschaft und für Ernährung und vom britischen Board of Trade ausgehenden Widerstand gegen die Handelsliberalisierung zu überwinden.15 Nach dem erfolgreichen Abschluss der angloamerikanischen Verhandlungen im Jahr 1945 richtete das US‑Außenministerium eine internationale Konferenz zur Aushandlung eines multilateralen Übereinkommens aus, das später in das GATT mündete. Damit wurde eine spezifisch US-amerikanische Vorstel11 12 13 14 15

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Irwin, Mavroidis und Sykes, The Genesis, S. 12. Ebd., S. 12–43. Ebd., S. 17. Ebd., S. 23–27. Vgl. Howson, Robbins, S. 424–461.

Ernährungssicherheit, Freihandel und der Kampf um den Staat [Auszug]

lung von einer neuen, auf Freihandel beruhenden internationalen Wirtschaftsordnung im GATT verankert. Wirtschaftsliberalisierung und landwirtschaftlicher Exzeptionalismus Die Rolle der Landwirtschaft innerhalb dieser neuen Wirtschaftsordnung war höchst umstritten. Die Staaten versuchten aus verschiedenen Gründen, sie von den Grundsätzen der Marktliberalisierung auszunehmen und ihr eine besondere Behandlung zuteilwerden zu lassen. Aufgrund des Zusammenbruchs der Rohstoffpreise während der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre wurden Schutzmaßnahmen für das Einkommen landwirtschaftlicher Betriebe eingeführt. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren der Schutz der Landwirtschaft und die Aufrechterhaltung eines existenzsichernden Einkommensniveaus für Landwirt*innen sowie eines ausreichenden Nahrungsmittelniveaus für die wachsende Bevölkerung in den Städten Europas und Nordamerikas zu zentralen Belangen der Regierungspolitik geworden. In der europäischen Politik war der Schutz der Landwirtschaft ein besonders sensibler Punkt. Während des 19. Jahrhunderts hatte sich die wichtigste Einkommensquelle in Europa von der Landwirtschaft in die Industrie verlagert. Die Einkommen in der Landwirtschaft waren in dieser Zeit nicht so schnell gestiegen wie in der Industrie und im Dienstleistungssektor. Zum einen lag dies an technischen Innovationen, durch die die Produktivität in der Industrie schneller stieg als in der Landwirtschaft, und zum anderen daran, dass Ressourcen wie Grundbesitz und Arbeit in der Landwirtschaft nicht so flexibel eingesetzt werden konnten wie in der Industrie. In der Zwischenkriegszeit führte die Kluft beim Einkommenswachstum zwischen Landwirtschaft und Industrie in Europa zu politischer Instabilität und zu einer allgemeinen Unzufriedenheit in den ländlichen Gebieten. Die in dieser Zeit aufkommende politische Mobilisierung, Gewalt und eine Rhetorik, die die Landwirtschaft als das Fundament der Nation darstellte, spielten eine große Rolle dabei, faschistische Regime an die Macht zu bringen. In Österreich, Ungarn und Deutschland erhielten die autoritären Bewegungen Unterstützung aus dem Agrarsektor. Es war klar, dass einer der Gründe für die Unterstützung der Faschisten in der Verarmung auf dem Land zu sehen war.16 Unter diesen Bedingungen und im Kontext einer weltweiten Wirtschaftskrise mit einem weiteren Preisverfall bei den 16 Milward, The European Rescue, S. 224–226.

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Agrarrohstoffen hatten die demokratischen Regierungen »Schwierigkeiten, eine zufriedenstellende Antwort auf diese Gefahren zu finden«17. Angesichts der zentralen Bedeutung der Regelung von Grundbesitz für das soziale Gefüge praktisch aller Staaten waren zudem jegliche Entscheidungen zu Veränderungen der »Verwaltungssysteme« der Landwirtschaft politisch hochkomplex. In den 1930er-Jahren reagierten die Regierungen mit protektionistischen Maßnahmen und der Regulierung der Rohstoffmärkte. Die Maßnahmen reichten von der völligen Kontrolle der Nahrungsmittelproduktion im Falle Nazideutschlands bis hin zur Schaffung von Vermarktungsverbänden in anderen Ländern. Darüber hinaus wurde aus dem Zweiten Weltkrieg der strategische Schluss gezogen, dass sich die Staaten nicht zu sehr von der Nahrungsmittelversorgung aus dem Ausland abhängig machen sollten.18 In der Nachkriegszeit, in der die europäischen Staaten noch immer mit Nahrungsmittelknappheit zu kämpfen hatten, befanden sich die Landwirtschaftsverbände in einer machtvollen Position, da es galt, einen systematischen Agrarschutz durch die Regierungen durchsetzen zu lassen. Das war die Ausgangssituation der europäischen Staaten für die Verhandlungen über das GATT und die anschließenden Verhandlungen zur Schaffung eines europäischen Binnenmarkts. Selbst in Europa, wo die Staaten in der Landwirtschaft mit den gleichen Problemen zu kämpfen hatten, war es äußerst schwierig, einen Konsens über einen europäischen Rahmen für den Agrarhandel zu erzielen. Zwar war ein gewisser europäischer oder internationaler Rahmen offenbar notwendig, um sowohl die Nahrungsmittel als auch die Landwirt*innen zu schützen, aber »jede internationale Lösung schien mehr Opfer zu erfordern, als die Begünstigten der nationalen agrarpolitischen Maßnahmen bereit waren zu erbringen«.19 Die Vereinbarung von 1957, in der sich die Unterzeichnerstaaten der Römischen Verträge auf eine gemeinsame Agrarpolitik einigten, war von zentraler Bedeutung für den politischen Kompromiss, der zur Schaffung von Frieden in Europa führte. Im Rahmen des GATT-Regimes und der Europäischen Gemeinschaft blieb die Landwirtschaft bis in die 1980er-Jahre von der Handelsliberalisierung ausgenommen. Die Vertragsparteien des GATT waren nicht gewillt, landwirtschaftliche Erzeugnisse genauso wie andere Erzeugnisse zu behan-

17 Ebd., S. 227. 18 Collingham, The Taste of War. 19 Milward, The European Rescue, S. 224.

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deln.20 In Artikel XVI Absatz 3 wurde den Staaten die Möglichkeit eingeräumt, landwirtschaftliche Erzeugnisse zur Ausfuhr zu subventionieren. Auf Drängen der USA konnten sie sogar Importquoten auf landwirtschaftliche Erzeugnisse anwenden, soweit dies zur Durchsetzung von Maßnahmen zur Beschränkung der inländischen Produktion erforderlich war. Ein großer Teil des Agrarhandels war aufgrund länderspezifischer Befreiungen oder anderer Ausnahmeregelungen von anderen GATT-Grundsätzen ausgenommen. Die USA setzten 1953 beispielsweise eine unbefristete Befreiung durch, durch die sie Importquoten im Rahmen der Förderprogramme für die US-Landwirtschaft aufrechterhalten konnten. Die 1956 eingesetzte Arbeitsgruppe zur Prüfung der Vereinbarkeit der Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit dem GATT äußerte sich besorgt über die möglichen restriktiven Auswirkungen der Gemeinsamen Agrarpolitik, formulierte jedoch keine verbindlichen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Vereinbarkeit mit den GATT-Verpflichtungen.21 Während die inländische Agrarproduktion mächtiger Staaten oder Gemeinschaften wie der USA und der Europäischen Gemeinschaft in den Jahrzehnten nach dem Inkrafttreten des GATT von der Handelsliberalisierung abgeschottet wurde, wurden die Agrarsektoren der Länder des globalen Südens ab den 1980er-Jahren für den Freihandel geöffnet. Zu Beginn der 1990er-Jahre mussten mehr als 90 Entwicklungsländer und postsozialistische Volkswirtschaften Strukturanpassungsprogramme durchführen, um Zugang zu den Mitteln der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds zu erhalten. Mit diesen Programmen sollten staatliche Eingriffe in den Markt begrenzt und Zollschranken und andere Handelshemmnisse beseitigt werden. Durch diesen Prozess wurden Landreformen rückgängig gemacht, Agrarsubventionen und Preisstützungen gekürzt, der Anbau von Nutzpflanzen für den Export ausgeweitet und Zölle oder Importquoten für Agrarprodukte abgeschafft. Das Ergebnis war die Zerstörung der Landwirtschaft durch Kleinbauern und -bäuerinnen und Familienbetriebe in weiten Teilen des globalen Südens.22 Die Schaffung der WTO nach Abschluss der Uruguay-Runde im Rahmen des GATT im Jahr 1995 ging mit einer Intensivierung dieses Prozesses und mit einer erheblichen Ausweitung des Maßnahmenspektrums im Rahmen des internationalen Handelsregimes einher. Durch diese Entwick-

20 McMahon und Desta, The Agreement on Agriculture, S. 1. 21 McMahon, The WTO Agreement, S. 2–5. 22 Bello, The Food Wars, S. 30–31.

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lungen wurde die Handelsdiplomatie zur Förderung der Liberalisierung des Agrarhandels institutionell erheblich gestärkt. Die Ergebnisse der Uruguay-Runde markierten eine Wende für die internationale Regulierung des Agrarhandels sowie der Produktion und Sicherheit von Agrarerzeugnissen. Die Verhandlungen wurden von großen globalen Agrarkonzernen sowie Unternehmen aus dem transnationalen Lebensmitteleinzelhandel, der industriellen Landwirtschaft und dem agrochemischen Sektor vorangetrieben. Gleichzeitig waren es genau diese Unternehmen, die von diesen Entwicklungen profitierten. Während der Uruguay-Runde wurde das sogenannte Agrarabkommen ausgehandelt, mit dem der Agrarsektor erstmals in die GATT-Regelungen aufgenommen wurde. Gewissermaßen verfolgte man mit diesem Abkommen bescheidene Ziele. Wie in der Präambel dargelegt, ist das Abkommen das Ergebnis eines Beschlusses der Mitglieder, eine Grundlage für einen Reformprozess im Agrarhandel zu schaffen – mit dem langfristigen Ziel, ein faires und marktorientiertes Agrarhandelssystem zu erreichen. Dieses langfristige Ziel besteht in »substanziellen progressiven Kürzungen bei der Stützung und dem Schutz der Landwirtschaft für einen festgelegten Zeitraum, um Beschränkungen und Verzerrungen auf den Agrarweltmärkten zu korrigieren und zu verhindern«. Mit dem Abkommen wird somit der allgemeine Ansatz verfolgt, die Agrarmärkte zu liberalisieren, um dem zu begegnen, was im Text als »Wettbewerbsverzerrungen« im Agrarsektor bezeichnet wird. Die spezifische Form der Handelsverzerrung, auf die mit dem Akommen reagiert werden sollte, war die künstliche (das heißt durch andere Faktoren als durch Marktakteure verursachte) Absenkung des Preises für Agrarrohstoffe durch staatliche »Stützung« oder staatlichen »Schutz«. Im Agrarabkommen wurde angemerkt, dass die Liberalisierung der Agrarproduktion außergewöhnliche Probleme nach sich ziehen kann, und zwar entweder in der Übergangsphase zu einem liberalisierten Markt oder in Phasen der Marktzerrüttung. Das Abkommen zielt zwar darauf ab, verschiedene Formen von »Preisstützungsmechanismen« zu beseitigen, aber man räumte in den Verhandlungen auch ein, dass die Abschaffung der Unterstützungsleistungen zu Preissteigerungen und Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung führen könnte. Dies wird im Wortlaut des Beschlusses zu Maßnahmen verdeutlicht, die mögliche nachteilige Auswirkungen des Reformprogramms auf die am wenigsten entwickelten Länder und die Nettoimporteure von Nahrungsmitteln unter den Entwicklungsländern betreffen. Diese Entscheidung wurde gemeinsam mit dem Agrarabkommen im Rahmen der Schlussakte zur Errichtung der WTO angenommen. Vorausschauend heißt es in der Erklärung: 292

Ernährungssicherheit, Freihandel und der Kampf um den Staat [Auszug]

Die Minister erkennen an, dass es im Rahmen des Reformprogramms, das zu einer stärkeren Liberalisierung des Agrarhandels führt, in den am wenigsten entwickelten Ländern und in den Entwicklungsländern, die Nettoeinführer von Nahrungsmitteln sind, zu negativen Auswirkungen auf die Verfügbarkeit angemessener Grundnahrungsmittel aus externen Quellen zu angemessenen Bedingungen kommen kann sowie kurzfristig Schwierigkeiten bei der Finanzierung eines normalen Handels mit Grundnahrungsmitteln auftreten können. In den Verhandlungen wurde also erkannt, dass die Nahrungsmittelpreise infolge der Abschaffung von Fördermechanismen in der nationalen Agrarpolitik steigen könnten und dass es infolgedessen für die Länder schwieriger sein könnte, die Nahrungsmittelversorgung aufrechtzuerhalten, da die Preisstützungsmechanismen die Kosten von Agrarerzeugnissen künstlich niedrig hielten.23 Dennoch lautet die dem liberalen Marktansatz zugrunde liegende, im Agrarabkommen verankerte Prämisse, dass die Abschaffung der staatlichen Unterstützung und des Schutzes der landwirtschaftlichen Produktion der beste Weg sei, um auf längere Sicht Ernährungssicherheit zu erreichen. Darüber hinaus führten die WTO-Verhandlungen zu einer Reihe neuer Handelsabkommen, die den ehrgeizigen Ansatz verfolgten, den Staat im Sinne des Marktes neu zu gestalten. Infolge der Uruguay-Runde wurde das Spektrum der im Rahmen des multilateralen Handelsregimes eingeführten Maßnahmen erheblich ausgeweitet und es wurden handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums,24 der Handel mit Dienstleistungen25 und die Harmonisierung von Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften26 einbezogen. Darüber hinaus wurden die Durchsetzungsbefugnisse innerhalb des Regimes durch die Einführung eines detaillierten Streitbeilegungsverfahrens erheblich erweitert.27 Im GATT waren neben Grenzmaßnahmen weitere Handelshemmnisse, beispielsweise inländische Abgaben sowie Steuern, benannt worden, die innerstaatlich mit diskriminierender Wirkung eingeführt wurden und sich effektiv wie Zölle auswirkten. Diese Abkehr 23 Smith, Food security, S. 52. 24 Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums vom 15. April 1994 (TRIPS-Abkommen). 25 Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen vom 15. April 1994 (GATS). 26 Übereinkommen über die Anwendung sanitärer und phytosanitärer Maßnahmen vom 15. April 1994 (SPS-Übereinkommen). 27 Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Streitbeilegung vom 15. April 1994.

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von einer Fokussierung auf »Grenzmaßnahmen« hin zu innerstaatlichen Regelungen wurde dann jedenfalls mit der Schaffung der WTO intensiviert. In einer Reihe von Abkommen geht es nicht mehr nur um die Beschränkung von Regelungen, bei denen zwischen aus- und inländischen Erzeugern oder zwischen unterschiedlichen ausländischen Erzeugern in diskriminierender Weise unterschieden wird. Vielmehr schränken sie die Staaten darin ein, den Handel allgemein zu regulieren. Wie ich im nächsten Abschnitt erläutern werde, führt dies dazu, dass verschiedene Arten von staatlichen Eingriffen in die Funktionsweise der Agrarmärkte – wie die Regulierung der Lebensmittelsicherheit, der Tier- und Umweltschutz oder die Produktkennzeichnung – in den WTO-Abkommen unter dem Deckmantel des Schutzes beschränkt werden. Freihandel, wirtschaftliche Integration und der Sozialstaat Wie zuvor dargelegt 28, war das Freihandelskonzept stets eingebettet in umfassende Bemühungen, den Staat im Interesse bestimmter Gruppen und ihrer politischen Visionen neu zu gestalten. Die Staatsform, die im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert bekämpft wurde, war die »fiskalisch-militärische«, und das Problem, das es zu lösen galt, war der Einsatz von Handelsbarrieren zum Schutz des Grundbesitzes oder der Firmenmonopole. Heutzutage kritisieren die Befürwörter*innen des Freihandels den Sozialstaat des 20. Jahrhunderts und unterschiedliche Formen der Regulierung in den Bereichen Gesundheit, Umwelt und Arbeit als Eingriffe in die Marktfreiheiten.29 Das Ziel der wirtschaftlichen Integration durch internationale Abkommen besteht darin, den Ansatz zu beeinflussen, den Regierungen bei der Regulierung und Planung verfolgen. Die Vision hinter diesem Ansatz der wirtschaftlichen Integration wurde in der Zeit, in der neue Handelsabkommen und internationale Institutio-

28 [Anm. d. Hg.: Verweis auf das vorangegangene Kapitel Rethinking the History of Free Trade and Food Security.] 29 Das Konzept des Sozialstaats beziehungsweise des »État social« stützt sich auf eine französische Tradition einer Staatsform, die nicht nur soziale Sicherheit bietet, sondern auch öffentliche Versorgungsleistungen, Arbeitnehmendenrechte und die kollektive Teilnahme an der Wirtschaftsordnung gewährleistet. Der Begriff fasst offenbar eher das System der nordischen Staaten als das englische Konzept des »welfare state«. Das französische Konzept des »État providence« ist näher an der Bedeutung des englischen Begriffs »welfare state«. Vgl. weiterführend Supiot, Grandeur et misère de l’État social.

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nen entstanden, klar formuliert. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs hin lagen bereits viele konkurrierende Vorschläge zur Schaffung einer neuen internationalen Rechtsordnung auf dem internationalen Verhandlungstisch. Vor allem ein Ansatz aus dieser Zeit dominiert seitdem die internationalen Verhandlungen und prägt die Rolle des Staates fundamental. Ab den 1930er-Jahren wurden liberale Stimmen aus Wirtschaft, Rechtswissenschaft, Unternehmensführung, Verlagen und Politik laut – unter anderem der Rechtswissenschaftler Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth sowie der liberalen Ökonomen Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack, Lionel Robbins, Friedrich Hayek, Ludvig von Mises und Gottfried Haberler –, die mit Blick auf den Kollektivismus und den optimistischen Ansatz der Staatsplanung Bedenken äußerten, der während des Zweiten Weltkriegs an Unterstützung gewonnen hatte.30 Über Veranstaltungen wie das Colloque Walter Lippmann im Jahr 1938 in Paris, die Gründung von Thinktanks wie der Mont Pèlerin Society im Jahr 1947 und der akademischen Netzwerke der Universität Freiburg, der London School of Economics and Political Science und der Chicago School of Economics brachte die Gruppe neue Vorschläge zur Beschränkung von Kollektivismus und Staatsplanung ein und entwickelte sie weiter.31 Gegenstand der Analyse war die ihrer Meinung nach aufkommende Krise der kapitalistischen Wirtschaft, und ihr Ziel war, die Grundlagen eines neuen Liberalismus zu entwickeln. Dabei ging es auch darum, wie eine wettbewerbsfähige Marktwirtschaft verfassungsrechtlich verankert werden könnte.32 Für diese liberalen Denker waren Liberalismus und parlamentarische Demokratie nicht unbedingt vereinbar. Ihrer Meinung nach konnten demokratische Staaten leicht organisierten Partikularinteressen zum Opfer fallen und waren nicht in der Lage, im Sinne des Gemeinwohls zu handeln. Die internationale wirtschaftliche Integration war in ihren Augen ein Mittel, um den Markt von Partikularinteressen zu befreien und Wettbewerb zu schaffen.33 Die Arbeit Friedrich Hayeks ist ein Beispiel für die Verbindung der internationalen wirtschaftlichen Integration mit der Bekämpfung staatlicher Planung. Hayek wollte das verhindern, was er als die Bedrohungen der

30 Röpke, International Economic Disintegration; Gregg, Wilhelm Röpke’s Political Economy, S. 149; Robbins, Economic Planning. 31 Vgl. Audier, Le colloque Lippmann; Horn, Mirowski und Stapleford, Building Chicago Economics; Mirowski und Plehwe, The Road; Tribe, Strategies of Economic Order. 32 Vanberg, The Freiburg School. 33 Vgl. weiterführend Orford, Hammarskjöld, S. 156.

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Freiheit erachtete, die nicht nur vom Kommunismus und vom Faschismus ausgingen, sondern auch von den Planwirtschaften der Nachkriegszeit in Großbritannien, in den USA und in Frankreich.34 Für Hayek stand die Staatsplanung im Widerspruch zur Rule of Law. Seiner Meinung nach lässt sich klar unterscheiden »zwischen der Schaffung eines rechtlichen Dauerrahmens, innerhalb dessen das Individuum seine Entscheidungen über seine Wirtschaftsakte trifft, und der Lenkung der Wirtschaftstätigkeit durch eine zentrale Behörde«.35 Wöllte eine Regierung im Einklang mit der Rule of Law handeln, so solle sie den Individuen die Entscheidung darüber überlassen, für welche Zwecke die vorhandenen Produktionsmittel verwendet werden sollen. Die von der Regierung erlassenen Vorschriften dürften bestimmten Menschen nicht mehr dienen als anderen.36 Im Gegensatz dazu führe die Planwirtschaft notwendigerweise zu »einer bewußt unterschiedlichen Behandlung der konkreten Bedürfnisse der verschiedenen Menschen« und damit zum »Untergangs des Rechtsstaates«.37 Laut Hayek können Planwirtschaften im Rahmen eines systematischen Prozesses der zwischenstaatlichen wirtschaftlichen Integration abgeschafft werden. Die Beseitigung der Zollgrenzen und anderer Hindernisse für den Waren- und Kapitalverkehr habe »wichtige Folgen …, die häufig übersehen werden«.38 Insbesondere würde die Schaffung »von regionalen Interessengemeinschaften, die ungemein eng sind«, erheblich erschwert, wenn solche wirtschaftlichen Grenzen wegfallen.39 Für Hayek war die Zerstörung jeglicher »Solidarität der Interessen« die wichtigste übersehene Folge der wirtschaftlichen Integration.40 Daß es immer Interessengemeinschaften geben wird, die durch ein bestimmtes Ereignis oder bestimmte Maßnahmen gleicherweise betroffen werden, ist unvermeidlich. Aber im Interesse der Einheit des größeren Ganzen sollten das keine dauernden Gruppenbildungen darstellen und insbesondere sollten sich die verschiedenen Interessengemeinschaften regional überschneiden und es nicht dazu kommen, daß sie

34 35 36 37 38

Hayek, The Road to Serfdom / Hayek, Der Weg zur Knechtschaft. Ebd., S. 76 / ebd., S. 102. Ebd., S. 76–77 / ebd., S. 102–103. Ebd., S. 82 / ebd., S. 108. Hayek, The Economic Conditions, S. 255–258 / Hayek, Die wirtschaftlichen Voraussetzungen, S. 324–328. 39 Ebd., S. 257 / ebd., S. 326–327. 40 Ebd., S. 258 / ebd., S. 326.

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dauernd mit den Bewohnern eines bestimmten Gebietes identifiziert werden.41 Der Wegfall wirtschaftlicher Grenzen erschwere es den Staaten, nationale wirtschaftliche und politische Interessen zu bestimmen. Dies wiederum schränke sie in ihren Möglichkeiten ein, eine selbstständige Währungspolitik zu verfolgen, die Produktionsmethoden zu regulieren, Mindestlöhne festzulegen, Arbeitszeiten zu beschränken, Kinderarbeit zu verbieten, Waren zu besteuern usw.42 Hayek hielt es auch für unwahrscheinlich, dass die neu gebildete zwischenstaatliche Regierung »restriktive oder protektionistische« Formen staatlicher Regulierung einführen würde.43 Die Menschen wären weit weniger bereit, Opfer zu bringen oder mehr für Waren zu bezahlen, um Hersteller in anderen Staaten zu unterstützen – folglich würde es keine Unterstützung für restriktive oder protektionistische Maßnahmen geben, die darauf abzielen, andere Gruppen von Herstellern oder Arbeiter*innen auf einem internationalisierten Markt zu unterstützen.44 Besonders die Beseitigung der »wirtschaftlichen Grenzen« und die Auflösung des innerhalb des Nationalstaats gewachsenen Gemeinschafts- und Mitgefühls wurden von Hayek als Mittel zur Bekämpfung der Planwirtschaft betrachtet. Da die Planwirtschaft oder die »zentrale Lenkung der Wirtschaftstätigkeit … gemeinsame Ideale und gemeinsame Wertsetzungen« voraussetze, könne die internationale wirtschaftliche Integration die Planung erheblich erschweren, da diese durch das Ausmaß begrenzt sei, »bis zu dem Übereinstimmung über eine solche gemeinsame Wertskala erreicht oder erzwungen werden kann«.45 Mit der wirtschaftlichen Integration sollten laut Hayek den Staaten daher nicht nur die Mittel genommen werden, um zwischen inländischen und ausländischen Herstellern zu diskriminieren. Sie war vielmehr von Beginn an vorgesehen, damit den Staaten die Mittel für eine Diskriminierung, das heißt eine Planung, überhaupt nicht zur Verfügung stehen. Hayeks Argument für eine wirtschaftliche Föderation lag das Ziel zugrunde, die Rechtsetzung in vielen Bereichen einzuschränken und zu erschweren, dass Gruppen eine Einigung darüber erzielen können, welche Formen wirtschaftlicher Regulierung angemessen sind. Dadurch wären »die Mitglieder eines Bundes weniger in der Lage, eine eigenständige Politik zu

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Ebd., S. 258 / ebd., S. 327. Ebd., S. 258–259 / ebd., S. 328–329. Ebd., S. 261 / ebd., S. 331. Ebd., S. 263 / ebd., S. 333. Ebd., S. 264 / ebd., S. 335.

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verfolgen«.46 Für Hayek lag der Nutzen einer Abschaffung von Zollgrenzen und Mobilitätshemmnissen nicht in einer Ausweitung des Handels, sondern in den anderen, häufig übersehenen Folgen. Der Wegfall von Zollmauern und die freie Beweglichkeit von Menschen und Kapital zwischen den Staaten des Bundes hat wichtige Folgen, die häufig übersehen werden. Sie beschränken den Spielraum der Wirtschaftspolitik der einzelnen Staaten in sehr beträchtlichem Maße.47 Nach dem Zweiten Weltkrieg intensivierten Hayek und seine Mitstreiter ihre Kritik an Sozialismus und Staatsplanung. Hayek forderte »ein neues Programm …, das ihre Einbildungskraft gefangen nimmt« und »die Schaffung einer freien Gesellschaft wieder zu einer geistigen Tat, einem Akt des Mutes macht«.48 Laut Hayek bestand das Problem im Mangel an einer »liberale[n] Utopie«. »Freier Handel oder die Freiheit der Möglichkeiten sind Wertvorstellungen, die noch immer die Fantasie vieler Menschen anregen können.«49 Als weiteres Beispiel kann Wilhelm Röpke angeführt werden, der sich gegen die »nationalistische oder sozialistische Wirtschaftspolitik der meisten postkolonialen Entwicklungsländer« aussprach. Seiner Meinung nach war diese häufig »das Ergebnis ihrer Regierungen, die den Vorschlägen von Ökonomen wie Gunnar Myrdal folgten und in ihren Ländern für Wohlfahrtsstaaten, Nationalisierung und eine inflationäre Investitionspolitik eintraten«50. Röpke nahm in seinen Vorlesungen an der Haager Akademie für Völkerrecht im Jahr 1954 die »internationale Planung« ins Visier, da die »internationale offene Gesellschaft des 19. Jahrhunderts« durch die Entstehung eines »interventionistisch-kollektivistischen Systems« zerstört worden sei und im Ergebnis das internationale Recht nach dem Zweiten Weltkrieg »in die Phase der Desintegration eingetreten« sei.51 In den 1970er- und 1980er-Jahren versuchten die Befürworter*innen des Freihandels, diese »Desintegration« durch eine Erweiterung des GATT-Regimes zu bekämpfen. Dabei knöpften sie sich den kollektivistischen Ansatz für Staatsplanung, Sozialgesetzgebung und Handelspolitik im Allgemei-

46 Gillingham, European Integration, S. 10. 47 Hayek, The Economic Conditions, S. 258 / Hayek, Die wirtschaftlichen Voraussetzungen S. 328. 48 Hayek, The Intellectuals, S. 432. 49 Ebd. 50 Gregg, Wilhelm Röpke’s Political Economy, S. 149, 182–183, 291. 51 Röpke, Economic Order, S. 226.

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nen vor. Insbesondere entwickelten sie einen ehrgeizigen Ansatz, der auf »den Druck abzielte, dem importierende Volkswirtschaften durch Unsummen subtiler (und manchmal weniger subtiler) staatlicher Exportbeihilfen ausgesetzt sind«52. Ihr Ziel war es also, gegen die staatlichen Maßnahmen vorzugehen, mit denen Industrie und Landwirtschaft unterstützt werden. Laut dem Handelsrechtler John Jackson würden die Verbraucher*innen in Importländern zwar von den billigeren Preisen der mit ausländischer staatlicher Unterstützung produzierten Waren profitieren, aber die »inländischen Produzenten, die sich den Regeln der Unternehmensfreiheit unterwerfen, würden sich darüber empören, dass sie nicht gegen die Produzenten ankommen, die sich nicht an diese Regeln halten«.53 Die Idee, dass die internationale Integration nicht nur einen »freien«, sondern auch einen »fairen« Handel sicherzustellen habe, wurde zu einem zentralen Bestandteil der WTO-Abkommen. Diese haben allgemeine Fragen zu den Grenzen staatlicher Eingriffe in die Funktionsweise des Marktes zum Gegenstand, weshalb sie eher als Governanceabkommen denn als Handelsabkommen zu betrachten sind. Mit dem Agrarabkommen wird beispielsweise angestrebt, jede Form von »Stützung« der Agrarproduktion abzuschaffen. Der Gedanke, dass der Staat durch Ernährungssicherung für den Schutz der Bevölkerung sorgen sollte, wird von Vertreter*innen des Freihandels heute ebenso entschieden zurückgewiesen wie im 19. Jahrhundert. So hallen in vielen gegenwärtigen Debatten die Diskussionen um die irische und indische Politik zur Bekämpfung des Hungers im 19. Jahrhundert auf schaurige Weise nach. Wissenschaftler*innen fordern beispielsweise, dass die Verpflichtungen aus dem GATT zusammen mit denen aus dem Agrarabkommen derart ausgelegt werden sollten, dass sie die Staaten in ihren Möglichkeiten limitieren, die Ausfuhr von Getreide und anderen Nahrungsmitteln aus ihrem Hoheitsgebiet zu beschränken.54 Auch in der aktuellen Doha-Runde wiederholen sich die Debatten um die Hungersnot in Indien im 19. Jahrhundert und die Frage, ob es der indischen Regierung erlaubt sein sollte, Getreide für die Ernährungssicherung zu lagern. Die Unterhändler*innen hatten Mühe, den Verhandlungsstillstand zu überwinden, der durch die entschiedene Haltung der indischen Regierung in der Frage zu Nahrungsmittelreserven und durch den Widerstand der USA gegen solche Maßnahmen verursacht wurde.55

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Jackson, The Crumbling Institutions, S. 95. Ebd. Howse und Josling, Committee on World Food Security. Díaz-Bonilla, On Food Security Stocks.

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In zahlreichen weiteren WTO-Abkommen werden die Möglichkeiten der Staaten beschränkt, die industrielle Nahrungsmittelproduktion, den Tierschutz, hormonelle und chemische Zusatzstoffe, die Etikettierung, den Transport und die Umweltauswirkungen von Produktionsprozessen zu regulieren. So bilden beispielsweise die Bestimmungen des WTO-Übereinkommens über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen (SPS-Übereinkommen) die Grundlage dafür, Maßnahmen zur Regulierung der industriellen Rindfleischerzeugung anzufechten. Viele Stimmen aus den Bereichen Gesundheit, Tierschutz, Gewerkschaften, Verbraucherschutz und Umweltschutz wurden laut, die Bedenken über die industrielle Fleischproduktion in Großbetrieben äußerten. Es wurde unter anderem darauf hingewiesen, dass die industrielle Fleischwirtschaft auf Hormone und Antibiotika angewiesen ist, um das Wachstum der Tiere zu beschleunigen und Krankheiten in den überfüllten und unhygienischen Ställen einzudämmen, sowie auf die Auswirkungen dieser Umstände auf die Gesundheit und das Wohlergehen der Tiere, Arbeiter*innen, Verbraucher*innen und ländlichen Gemeinschaften wie auch der Bevölkerung im Allgemeinen.56 In einer wegweisenden Entscheidung aus dem Jahr 1998 stellte das WTO-Berufungsgremium jedoch fest, dass die Vorschriften der Europäischen Gemeinschaft zur Beschränkung der Verwendung von Hormonen in der Rindfleischerzeugung gegen die Verpflichtungen nach dem SPS-Übereinkommen verstoßen.57 In der Entscheidung wurde klargestellt, dass die Mitgliedsstaaten auch dann gegen das SPS-Übereinkommen verstoßen, wenn die von ihnen getroffenen Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen keine diskriminierende Wirkung haben und auf nichtdiskriminierender Grundlage erfolgen. Gemäß dieser Auslegung hindert das SPS-Übereinkommen nicht nur Staaten an einer Regulierung, durch die ausländische Hersteller diskriminiert werden, sondern sie bildet auch die hayeksche Position ab, dass Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften in die Funktionsweise des Marktes eingreifen und nur aufrechterhalten werden können, wenn der Staat, der seine Bevölkerung vor einer im Produktionsprozess eingesetzten Technologie oder einem Zusatzstoff schützen will, wissenschaftlich nachweisen kann, dass ein nachweisbares Risiko für die Gesundheit und Sicherheit von Mensch 56 Sharma, The Price of China’s Meat; Johns Hopkins Center for a Livable Future, [Report on] Industrial Animal Food Production in America. 2013; Imhoff, The CAFO Reader; Pew Commission on Industrial Farm Animal Production, Putting Meat on the Table. 57 EC – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones), WT/ SD26/AB/R (16. Januar 1998).

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und Tier besteht und keine weniger handelsverzerrende Methode zur Lösung dieses Problems vorhanden ist.58 Zudem wurden die Bestimmungen des Übereinkommens über technische Handelshemmnisse (TBT-Übereinkommen) erfolgreich herangezogen, um die US-Verbraucherschutzregeln anzufechten, nach denen für Fleisch- und Geflügelprodukte Kennzeichnungen bezüglich dessen vorgesehen sind, wo die Tiere geboren, aufgezogen und geschlachtet wurden.59 In den USA gilt zwar eine ähnliche Herkunftskennzeichnung auch für andere Lebensmittel, aber im Falle der Herkunftskennzeichnung für Fleischerzeugnisse gab es vehemente Proteste seitens der multinationalen Fleischunternehmen, die Kanada und Mexiko aufforderten, diese Rechtsvorschriften bei der WTO anzufechten.60 Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass Staaten durch Freihandelsabkommen darin beschränkt werden, entweder die Landwirt*innen direkt zu unterstützen oder die Entwicklung nachhaltiger Formen der Agrarproduktion zu fördern. Der Widerstand gegen diese Auswirkungen von Handelsabkommen wächst nicht nur bei den Landwirt*innen und kleinen Familienbetrieben, die verdrängt wurden, um Platz für landwirtschaftliche Großbetriebe zu schaffen, sondern auch bei den Verbraucher*innen, Personen in der Entwicklungszusammenarbeit, Gesundheitsfachleuten, Familienbetrieben und Umweltschützer*innen, die »angesichts der Mischung aus Unternehmensgier, sozialer Kälte und rücksichtsloser Wissenschaft irritiert sind«, die mit dem Fortschritt der marktorientierten Agrarreform einhergeht, und die an Alternativen arbeiten.61 Freihandel und das Trojanische Pferd der Entwicklung In der WTO-Literatur wird zwar eingeräumt, dass die Handelsliberalisierung in der Landwirtschaft Probleme beim Zugang zu Nahrung oder für die Nord-Süd-Beziehungen verursachen kann. Diese Probleme werden allerdings dem Sozialstaat und der staatlichen Agrarstützung zugeschrieben. Dieser Denkansatz in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Schutz der Landwirtschaft im Norden und der wirtschaftlichen Situation im Süden

58 Orford, Beyond Harmonization. 59 United States – Certain Country Of Origin Labelling (COOL) Requirements, WT/DS384/AB/R und WT/DS386/AB/R (29. Juni 2012). 60 Lilliston, Farmers, Ranchers and Consumers. 61 Clapp, Food, S. 158–183; Bello, The Food Wars, S. 36; Friedmann und McNair, Whose Rules Rule?, S. 408.

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geht auf den Haberler-Bericht62 aus dem Jahr 1958 zurück, dessen Veröffentlichung häufig als der Zeitpunkt betrachtet wird, in dem die »Entwicklung« Einzug in die Handelsagenda des GATT hielt. Andrew Lang zum Beispiel stellt den Haberler-Bericht als »Wendepunkt« für die Reaktion des GATT-Regimes auf die »Entwicklungsherausforderung« dar, als der wachsende »landwirtschaftliche Protektionismus«, der von den Industrieländern ausging, »die Entwicklungsländer dazu veranlasste, ihrer Stimme im Rahmen des GATT wirksamer Gehör zu verschaffen«.63 Die Bedeutung des Haberler-Berichts kann jedoch besser verstanden werden, wenn man ihn als Teil umfangreicher Bemühungen zur Neugestaltung der Beziehungen zwischen Staat, Finanzwesen und Arbeit betrachtet, die im Rahmen der Debatten über Entwicklungsökonomie und die Rolle des Freihandels in der Entwicklung unternommen wurden. In den 1950er-Jahren begann eine heftige Auseinandersetzung zwischen den Befürworter*innen staatlich gesteuerter Modernisierungsmodelle mit Fokus auf Planung, Importsubstitution und Sozialreform, der Konsolidierung des vorstehend beschriebenen liberalen Angriffs auf die Staatsplanung und einer aufkommenden Weltsystemtheorie, die radikalere Kritik an der ungleichen Integration unabhängiger Staaten in die Weltwirtschaft und deren andauernder Ausbeutung durch ausländische Unternehmen und Investoren bot.64 Der Haberler-Bericht spielte in dieser Auseinandersetzung eine wichtige Rolle. Drei der Autoren des Berichts waren engagierte liberale Ökonomen. Gottfried Haberler war ein österreichischer Ökonom sowie Mitglied der Mont Pèlerin Society (MPS) und stand in enger Verbindung zu Ludwig von Mises und Hayek.65 Roberto de Oliveira Campos war ein brasilianischer Ökonom, Diplomat, Bankpräsident und Kabinettsminister. In einem Nachruf in der New York Times wurde er als »Freihandelsjünger« beschrieben.66 Er nahm als Mitglied der brasilianischen Delegation an den Konferenzen teil, auf denen der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und das GATT ins Leben gerufen wurden, und war ein Anhänger der rechtsgerichteten Diktatur, die nach dem Militärputsch an die Macht kam, durch den Präsident João Goulart 1964 abgesetzt wurde. Campos war in den ersten drei Jahren der Diktatur Planungsminister und wurde später 62 63 64 65 66

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Haberler, Oliveira Campos, Meade und Tinbergern, Trends in International Trade. Lang, World Trade Law, S. 45. Fischer, The Influence of Neoliberals, S. 305, 311. Ebd., S. 357–379. Larry Rohter und Roberto Campos, Apostle For the Free Market in Brazil. New York Times, 12. Oktober 2001.

Ernährungssicherheit, Freihandel und der Kampf um den Staat [Auszug]

zum Gesandten der Militärregierung in Großbritannien ernannt. James Meade war einer der ersten Unterhändler der angloamerikanischen Kreditvereinbarung und ein enger Kollege Robbins’ an der London School of Economics. In ihrem Bericht spiegelt sich die Position einflussreicher liberaler Ökonomen wider, die befürchteten, dass die Probleme der Länder der Dritten Welt in Verbindung mit der Tendenz, mit staatlicher Planung darauf zu reagieren, zu einer weiteren keynesianischen Revolution führen würden.67 Aus Sicht dieser liberalen Denker bestand die Gefahr, dass in den postkolonialen Staaten Landreformen, Umverteilung, Industrialisierung und Wirtschaftswachstum entweder durch importsubstituierende Industrialisierung oder durch Planwirtschaft angestrebt werden. Sie stellten sich gegen die Vision der postkolonialen Staaten, neue Sozialgefüge zu gestalten, die die Schaffung von Arbeitsrechten, Umverteilung, Bildung und Bodenreform beinhalteten. Die Vorstellung von Entwicklung durch Handelsliberalisierung wurde im Haberler-Bericht und in anderen unter dem Einfluss der MPS stehenden Schriften dargelegt und bewusst diesen Umverteilungsansätzen gegenübergestellt. Die liberale Entwicklungsstrategie basierte auf dem Ausbau des exportorientierten Bergbaus und der industriellen Landwirtschaft und nicht der Fertigungsindustrien in den Entwicklungsländern mit Fokus darauf, Investitionen aus dem Ausland anzuziehen. Diese Strategie wurde in Kooperation mit autoritären Regierungen und Eliten in Mexiko, Chile, Südafrika und Brasilien gezielt entwickelt, um die Unterstützung der besitzenden Klassen und der USA zu sichern und gleichzeitig den mit der industriellen Arbeiterklasse in Verbindung stehenden Parteien und Gewerkschaften keine politischen Gelegenheiten zu bieten.68 Der Haberler-Bericht aus dem Jahr 1958 sollte also weniger als der Zeitpunkt betrachtet werden, in dem sich das Freihandelsprojekt den Herausforderungen der Dritten Welt stellen musste, sondern vielmehr als Reflexion der Ergebnisse aus den intensiven Diskussionen in neoliberalen Kreisen darüber, wie der postkoloniale Staat gestaltet werden sollte. Seit dieser Zeit nähren Liberale die Ansicht, dass staatliche Unterstützung für die Landwirtschaft, fallende Nahrungsmittelpreise und Nahrungsmittelüberschüsse ein Problem darstellen. Wenn das Ziel allerdings darin bestehen soll, genug Nahrung zu produzieren, um »die Welt zu er-

67 Plehwe, The Origins, S. 238. 68 Connell und Dados, Where in the World, S. 122; Valdés, Pinochet’s Economists; Fischer, The Influence of Neoliberals, S. 305.

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nähren«, könnten niedrige Nahrungsmittelpreise und Überproduktion als etwas Positives betrachtet werden. Wenn wir die Welt beispielsweise als Planwirtschaft und nicht als freien Markt begriffen, könnten globale Nahrungsmittelüberschüsse als gemeinsame Ressource für die Umverteilung betrachtet werden.69 Aus Freihandelsperspektive wäre dies jedoch eine Marktverzerrung, die es zu beseitigen gilt, indem die Menge an verfügbaren Nahrungsmitteln reduziert wird und »künstlich« niedrig gehaltene Nahrungsmittelpreise bekämpft werden. Monopole und die Macht der Unternehmen Die von Adam Smith formulierte Sorge ob der Macht der Unternehmen und ihrer Beziehung zum Staat ist mittlerweile aus dem Freihandelsprojekt verschwunden. Das Freihandelsprojekt des 19. Jahrhunderts war mit Kampagnen verbunden, die darauf abzielten, die erzeugende und arbeitende Klasse zu befreien und das tief verwurzelte Privileg der Landadligen und Firmenmonopole zu bekämpfen. Das ehrgeizige Ziel lautete, den Staat so zu reformieren, dass er ein breiteres Spektrum von Interessen vertritt. Im Gegensatz dazu werden moderne Freihandelsabkommen im Geheimen ausgehandelt, ganz so, als handelte es sich um privatrechtliche Verträge. Die Grundlinien dieser Verhandlungen werden der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht und selbst die demokratisch legitimierten Parlamente haben nur begrenzte Möglichkeiten, auf die Verhandlungen einzuwirken. Führungskräfte aus Unternehmen hingegen haben in der Vergangenheit eine wichtige Rolle bei der Gestaltung von Handelsverhandlungen gespielt und mit Regierungen zur Durchsetzung von Handelsabkommen zusammengearbeitet.70 Die zentrale Rolle von Unternehmen bei der Aushandlung von Freihandelsabkommen und ihre innovativen Vorschläge, viele Formen staatlichen Handelns als »ausländische Handelsbarrieren« umzudeuten, können als Beispiele für die Art von Beziehungen zwischen Regierungen und Unternehmen angeführt werden, die Smith so scharf kritisierte.71 Im Rahmen der durch Freihandelsabkommen vorangetriebenen Agenda wird eine Beziehung zwischen Staaten und transnationalen Konzernen 69 Vgl. Myrdal, Beyond the Welfare State. 70 Braithwaite und Drahos, Global Business Regulation. 71 Eine Diskussion dieses Prozesses im Kontext der Verhandlungen zur transpazifischen Partnerschaft findet sich in Lilliston, Big Meat Swallows the Trans-Pacific Partnership.

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konsolidiert, die die Interessen dieser Konzerne über die der lokalen Bevölkerungen und Gemeinschaften stellt. Durch solche Abkommen sollen Regierungen darin eingeschränkt werden, zugunsten der Bevölkerung in die Wirtschaft einzugreifen. Zugleich soll damit der Investorenschutz erweitert werden.72 Die Interventions- und Gestaltungsmöglichkeiten der Regierungen bei der Frage, wie und nach welchen Standards Nahrungsmittel produziert werden, werden dadurch nachhaltig geprägt. Vielleicht hätte auch Smith prognostiziert, dass dies zu einer Konsolidierung der Monopolstellung einer kleinen Zahl riesiger Agrarkonzerne auf dem globalen Markt führt, wie es zum Beispiel in der Getreide- und Fleischindustrie der Fall ist. Darüber hinaus werden durch Freihandelsabkommen zunehmend die Interessen bestimmter Monopole vertreten. Dabei handelt es sich um genau die Art von Beziehung, aufgrund derer die Befürworter*innen des unilateralen Freihandels des 19. Jahrhunderts Misstrauen gegenüber der Handelsdiplomatie hegten. Heutzutage zeigt sich dies in den Versuchen, Bestimmungen in Handelsabkommen aufzunehmen, die die Staaten beispielsweise darin einschränken, Herkunfts- und andere Kennzeichnungsanforderungen, Vorschriften zur Lebensmittelsicherheit und Umweltschutzmaßnahmen zu erlassen. Die Tatsache, dass kein internationales Wettbewerbsrecht existiert, in Verbindung mit einem Ansatz, der die Unternehmenstätigkeit fördert, führt zu außerordentlichen Machtkonzentrationen in den globalen Lieferketten. Für Smith, der in der Behinderung des freien Marktes durch Unternehmen ein Problem sah, wäre dies Anlass zur Sorge gewesen. Das Ergebnis ist besonders gravierend für Ernährungssysteme, in denen die Konzentration einiger weniger großer, als Zwischenhändler in den globalen Lebensmittelversorgungsketten auftretender Agrarunternehmen zu einem Preisdiktat führt: Den Erzeuger*innen werden immer niedrigere Preise gezahlt und die Verbraucher*innen müssen immer höhere Preise bezahlen.73 Schlussfolgerung – die Krise des Freihandelsstaats In diesem Beitrag74 habe ich dargelegt, dass Agrarreformen, die Befürwortung des »Freihandels« und der Kampf um den Staat in den vergangenen 72 Orford, Locating the International. 73 Isakson, Food and Finance; Clapp, Financialization; Murphy, Burch und Clapp, Cereal Secrets. 74 [Anm. d. Hg.: Anne Orford bezieht sich hierbei auf den gesamten Beitrag, der im vorliegenden Band nur auszugsweise abgedruckt ist.]

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200 Jahren eng miteinander verbunden waren. Seit der Entstehung des internationalen Rechts im 19. Jahrhundert führen Jurist*innen intensive Debatten mit politischen Ökonom*innen und Freihandelsideolog*innen über angemessene Begrenzungen staatlicher Befugnisse mit Blick auf den Markt. Die Umgestaltung des Staates mit dem Ziel, zu verhindern, dass der Markt in seiner Funktionsweise beschränkt wird, wurde über die transnationale wirtschaftliche Integration recht bewusst vorangetrieben und fest verankert – sowohl durch das Projekt der europäischen Integration als auch durch die Aushandlung multilateraler Freihandelsabkommen.75 Seit Schaffung der WTO ist der Sinn des mit einem Kampf um den Staat einhergehenden Freihandelsprojekts in vielerlei Hinsicht verloren gegangen. Begriffe wie »Nichtdiskriminierung« und »Beseitigung von Handelshemmnissen« verschleiern den Zusammenhang des Handelsrechts mit der Umgestaltung des Staates. Die ideologisch und moralisch aufgeladene Sprache des Schutzes wurde von Jurist*innen übernommen, wenn sie sich auf die Bemühungen der Staaten beziehen, den Freihandel zu regulieren. Auch in den einschlägigen WTO-Abkommen hat sich diese Sprache mittlerweile etabliert. Die Ausarbeitung dieser Vertragswerke hat sich deshalb als ein außergewöhnlich wirksames Instrument erwiesen, um eine bestimmte Denkweise in den internationalen Beziehungen und der Rechtspraxis durchzusetzen und zu verankern. Der Abschluss der WTO-Abkommen in den 1980er- und 1990er-Jahren war in diesem Kampf ein großer Erfolgsmoment für den Freihandel bestimmter Prägung. Selbst innerhalb der Welt des Freihandels repräsentieren die WTO-Abkommen eine extreme politische Position in Bezug auf die angemessene Rolle des Staates gegenüber dem Markt. Heutzutage wird das Potenzial, das der Staat bei der Schaffung gerechter Nahrungsmittelsysteme entfalten könnte, gern ignoriert und abgelehnt.76 Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass diese potenzielle Rolle in den vergangenen Jahrzehnten durch das internationale Recht systematisch blockiert und lahmgelegt wurde. Darstellungen und Beschreibungen des in Recht und Staat liegenden Potenzials finden sich immer weniger, und so wird das Recht zunehmend mit dem Schutz von Eigentumsrechten, mit Bestrafung und mit der Schaffung von Raum für wirtschaftliche Freiheit gleichgesetzt und der Staat vorzugsweise als Freihandelsstaat aufgefasst. Im Rahmen dieses Projekts möchte ich ein breiteres Verständ-

75 Orford, Europe Reconstructed. 76 Zur Tendenz der kritischen Analyse von Nahrungsmittelsystemen, die potenzielle Rolle des Staates zu ignorieren, vgl. West, Ethical Food Systems.

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nis dafür schaffen, wie dem Staat diese beschränkte Rolle im gegenwärtigen System durch das internationale Recht zugeschrieben wurde und wie diese gerechtfertigt wird. Darüber hinaus möchte ich aufzeigen, welche vielfältigen Rollen das Recht in der Vergangenheit eingenommen hat und auch heute noch einnehmen kann, um eine andere Welt zu ermöglichen. Dass andere Staatsformen existiert haben und noch immer existieren und dass andere Formen der internationalen Integration erdacht und versucht wurden, findet in der traditionellen Historiografie der Fachdisziplin keine Erwähnung mehr. Dem haben unter anderem Expert*innen des internationalen Rechts Vorschub geleistet, indem sie die gegenwärtige Sicht auf das Recht und den Staat, wie sie in den Handels- und Investitionsabkommen vorgegeben wird, zementiert haben und ganz normal erscheinen lassen und zudem so tun, als gäbe es keinen Grund zur Verwunderung, dass politische Entscheidungen zunehmend außerhalb von organisierten demokratischen Prozessen getroffen werden. Die Einführung von marktorientierten Agrarreformen, Geburtenkontrolle und Marktliberalisierung als internationalen Projekten haben dazu beigetragen, dass eine Umverteilung verhindert wird. Auch die Verarmung der Landbevölkerung in der dekolonisierten Welt konnte dadurch nicht eingedämmt werden. Das gegenwärtige internationalistische Projekt der Staatsreform im Namen von Freihandel und Entwicklung mit Fokus auf Wachstum, marktorientierter Agrarreform und Geburtenkontrolle befindet sich mittlerweile in einer Krise. Bereits in den 1960er-Jahren wurden aus der internationalistischen Linken Bedenken bezüglich der Richtung laut, die die Vereinten Nationen und andere internationale Organisationen im Hinblick auf die ländliche Entwicklung einschlugen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Gunnar Myrdal, der anerkannte Ökonom der Handelshochschule Stockholm, schrieb in seinem bedeutenden Werk Asian Drama aus dem Jahr 1968, das zentrale Problem der Entwicklungspolitik in Asien sei nicht die Überbevölkerung, wie gemeinhin angenommen, sondern die »Unterauslastung ländlicher Arbeitskräfte«.77 Eine bessere Lösung sei es, »Mittel zu entwickeln, um die Landwirtschaft arbeitsintensiver zu gestalten, damit sie den scheinbaren Überschuss ländlicher Arbeitskräfte absorbieren und tragen kann«.78 Stattdessen wurden die asiatischen Staaten dazu gezwungen, die Grüne Revolution einzuleiten und immer aktivere Kampagnen zur Geburtenkontrolle durchzuführen.

77 Myrdal, Asian Drama, S. 1153. 78 Ross, The Malthus Factor, S. 160.

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Wir erleben heute die Krise genau dieses Projekts der Umgestaltung des Staates, sowohl in Europa als auch in vielen ehemaligen Kolonien, insbesondere in Afrika, im Nahen Osten und in Südostasien. Die Herausforderungen der Ernährungssicherheit, damit einhergehende Massenmigration, Bürgerkriege, Aufstände und politische Instabilität in Afrika und im Nahen Osten können als Symptome für das Scheitern einer bestimmten Staatsform angesehen werden, die auf marktorientierter Agrarreform, einer wirtschaftlichen Liberalisierung, autoritärer Regierungsführung und konterrevolutionärer Geburtenkontrolle beruht. In ähnlicher Weise wird die politische Sicht auf die Rolle des Staates, wie sie in den WTO-Abkommen verankert ist, zunehmend infrage gestellt, wie der Stillstand der laufenden Agrarverhandlungen im Rahmen der Doha-Runde gezeigt hat. Es geht um Kernfragen nach der Verpflichtung der Staaten, das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung zu schützen, nach den Formen des politischen Handelns, die angesichts von Elend und Enteignung in ländlichen Gebieten zur Wahrung der Demokratie erforderlich sind, und nach den den Gesellschaften zur Verfügung stehenden Mittel, die sie benötigen, um ihre traditionellen oder gemeinschaftlichen Beziehungen zu Land zu wahren. Die Kernabkommen der WTO bieten in ihrer gegenwärtig üblichen Auslegung eine historisch umstrittene Antwort auf diese wichtigen rechtlichen und politischen Fragen. Angesichts dieser Geschichte sollten noch einmal die Ansätze in den Blick genommen werden, die in den gegenwärtigen internationalen Debatten über Ernährungssicherheit verfolgt werden. Die Erklärung eines Zusammenschlusses von Agrarökonom*innen, in der 2010 eine ehrgeizige Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) gefordert wurde, ist in diesem Zusammenhang repräsentativ.79 In der Erklärung wurde vorgeschlagen, dass im Rahmen der GAP die Agrarstützung in Zukunft allmählich auslaufen sollte, und gefordert, dass die »Linderung der Armut auf dem Land eine Funktion der Sozial- und nicht der Agrarpolitik« sein müsse, dass »nachhaltige Landnutzung das Hauptziel der GAP« werden sollte und dass im Allgemeinen »ein nachfrageorientierter, innovativer und wettbewerbsfähiger Agrarsektor am besten durch gut funktionierende Märkte und nicht durch staatliche Intervention zu erreichen ist«. Die EU solle Exportsubventionen abschaffen und »die globale Ernährungssicherheit fördern durch ein offenes Handelssystem, Unterstützung der landwirtschaftli-

79 Agricultural Economists, [Declaration:] For an Ambitious Reform of the Common Agricultural Policy, 2010.

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Ernährungssicherheit, Freihandel und der Kampf um den Staat [Auszug]

chen Produktivität in Entwicklungsländern, Klimaschutz und den Erhalt eigener nachhaltiger Produktionskapazitäten«. Wie bereits dargelegt, werden die Ansichten, dass Europa die Stützung der Landwirtschaft abschaffen sollte, dass die Ursache für Ernährungsunsicherheit in den Subventionen für die industrielle Landwirtschaft zu suchen ist und dass Agrarpolitik keine Sozialpolitik ist, mittlerweile selbst von progressiven Kritiker*innen mantrahaft wiederholt. Dass wir möglicherweise mehr Sozialpolitik in Form von Agrarpolitik brauchen, findet wenig Berücksichtigung. Wir müssen anerkennen, dass die Art und Weise, wie Land und Nahrung organisiert werden, der Kern jeden Gemeinwesens ist. Meiner Ansicht nach ist es nicht an der Zeit, für den ländlichen Raum in Europa dieselbe Bewirtschaftungsform wie für den ländlichen Raum in Asien, Afrika und Lateinamerika zu fordern. Es ist vielmehr an der Zeit, uns erneut mit den vielleicht noch zur Verfügung stehenden Alternativen zur Bewirtschaftung von Land und zur Organisation von ländlichem Leben zu beschäftigen. Im Rahmen dieses Beitrags und des umfassenderen Projekts, auf dem er beruht, soll die Geschichte des Freihandelsprojekts im Rahmen des internationalen Rechts als die Geschichte eines Projekts neu erzählt werden, dessen wesentliches Ziel in der Umgestaltung des Staates bestand. Die gegenwärtige Sorge um den Zugang zu Nahrung und Land, die die Debatte über Ernährungsunsicherheit durchzieht, kann als Symptom eines umfassenderen Problems verstanden werden, nämlich der Krise des Freihandelsstaats und der globalen Marktwirtschaft, wie sie in den vergangenen zwei Jahrhunderten durch das internationale Recht konstituiert wurden. Diejenigen, die sich der politischen Ökonomie und dem Freihandel verschreiben, müssen sich auch mit Hungersnöten und Hunger auseinandersetzen. Das ist kein Zufall. Die Freihandelsdebatte über die Corn Laws in England, die wirtschaftliche Reaktion auf die Hungersnöte in Irland und Indien, die Debatte über die Gemeinsame Agrarpolitik in Europa und die Unruhen und politischen Instabilitäten, die von 2006 bis 2008 in über dreißig Ländern mit steigenden Lebensmittelpreisen einhergingen, markieren alle etwas, das die liberale wirtschaftliche Ordnung (noch) nicht vollständig in den Griff bekommen hat und auch nicht steuern kann. In den Debatten um Ernährungssicherheit und Freihandel geht es um den Kampf um den Staat: Wen oder was wird der Staat im 21. Jahrhundert repräsentieren und wer wird darüber entscheiden?

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Im Original: Food Security, Free Trade, and the Battle for the State. Journal of International Law and International Relations 11, 2, 1–67 [Auszug S. 48–67.]

Übersetzung von Tatjana Klapp. Es lektorierte Karina Theurer.

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Ernährungssicherheit, Freihandel und der Kampf um den Staat [Auszug]

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Dekoloniale Praxis und Transformation des Rechts

Epistemische Gewalt und die Transformation exkludierenden Rechts aus andiner Perspektive Gespräch mit Tarcila Rivera Zea

Tarcila Rivera Zea ist eine Führungsfigur aus der quechuasprachigen Gemeinde San Francisco de Pujas in der zentralen Andenregion Perus. Mit zehn Jahren zog sie nach Lima, arbeitete als Hausangestellte und verschaffte sich trotz strukturellem Rassismus, struktureller Diskriminierung von Frauen und gegen den Widerstand ihrer Arbeitgeber Zugang zum Schulsystem. Aufgrund ihrer herausragenden Arbeit, unter anderem zu sexualisierter Gewalt gegenüber indigenen Frauen in bewaffneten Konflikten, erlangte sie auch international Sichtbarkeit. Sie nahm am Primer Congreso de Movimientos Indios de América del Sur in Ollantaytambo teil und gründete CHIRAPAQ – Centro de Culturas Indígenas del Perú, eine Vereinigung, die sich seit mehr als 30 Jahren für indigene Rechte im politischen Raum einsetzt. Seit 2016 ist sie Mitglied im Ständigen Forum für Indigene Angelegenheiten der Vereinten Nationen. Sie wurden in der Andenregion Huamanga geboren. Wie vollzog sich dort die Kolonisierung? Ich kam in einer Gegend mit vielen traurigen Geschichten zur Welt, wo die verschiedenen Formen von Invasion und Kolonisierung unsere Leben schon seit Generationen prägen. Es begann mit der europäischen Invasion und der Schaffung des Encomienda-Systems, bei dem Land, natürliche Ressourcen und Menschen dem Encomendero übergeben wurden. So wurden wir zu Sklav*innen, mussten für jemanden schuften, den wir nicht kannten, und bekamen die Erträge unserer Arbeit niemals zu Gesicht. Dann kam die Zeit der Haziendas, in der die Nachfahr*innen der Invasoren und Kolonisatoren sich des besten Landes bemächtigten, mit günstigem Klima, Wasser, natürlichen Ressourcen und fruchtbarem Boden. Wieder mussten Männer und Frauen praktisch unentgeltlich Zwangsarbeit leisten. Die Frauen kochten, wuschen, verarbeiteten die Nahrungsmittel und holten die Ernte ein. Die Männer wurden gezwungen, auf den Feldern der Hazienda zu arbeiten, im Tausch für Kokablätter, Schnaps und andere Naturalien, mit denen der Besitzer der Hazienda vor Ort handelte, zum Beispiel 317

Gespräch mit Tarcila Rivera Zea

Salz oder Werkzeug. Vor der Invasion gehörten wir der Chankakultur an, die bei der strategischen Einverleibung von Territorien in das Inkareich vom Inka Pachacuteq erobert wurde, und unserer Erinnerung nach wurde der Frieden durch die Übergabe der Ñusta, der adligen Tochter, durch das Chankaoberhaupt an den Inka als Zeichen der Verbindung von Familien und Herrschaftsgebieten besiegelt. Aus dieser Zeit stammen der Ushnu und die Inkafestung mit ihrem steinernen Thron, der zwei Sitzplätze hat: einen für den Inka und den anderen für seine Frau, denn beide nahmen Opfergaben und Ehrbekundungen entgegen. Immer noch gibt es Architektur der Chanka und Inka und wir befinden uns in einem vom historischen Straßennetz der Inka, dem Qapaq Ñan, erschlossenen Gebiet. In kultureller Hinsicht sind uns Geschichten und Praktiken geblieben, von denen wir nicht mehr wissen, ob sie von den Inka oder Chanka stammen und ob der Mut und das fortwährende Aufbegehren gegen Unterdrückung von den Chanka kommt oder einfach aus dem Wissen herrührt, Kinder der Natur zu sein, die frei geboren wurden, frei gelebt haben und dem Druck der Fremden allmählich nachgegeben haben, um zu überleben. Daher praktizieren wir unsere Spiritualität, die mit der Pachamama und katholischen Riten zusammenhängt, sogenannten religiösen Synkretismus. Wir haben Taky Onqoy gegründet, damit unsere Gottheiten und spirituellen Führungspersonen in anderen Ausdrucksformen weiterleben. Ich stamme aus einer Gegend, in der die Älteren sich immer, immer gegen die Unterdrücker erhoben haben, und die Geschichte, die mir persönlich am nächsten ist, ist die meines Großvaters Santos Zea, der in der Gemeinschaft als wahrhaftiger Indio angesehen wurde und als einziger den Mut hatte, sich fünf Frauen meines Volkes anzuschließen, die sich gegen den Haziendabesitzer wehrten. Sie wollten verhindern, dass er ihre Söhne und deren Väter weiterhin vom Pferd aus wie Tiere einfing, um sie mitzunehmen. Immer wenn die Zeit der Aussaat oder der Ernte nahte, kam er angeritten, um Menschen aus der Gemeinschaft unter Zwang zu rekrutieren. Diese mutigen Frauen setzten ihr Leben aufs Spiel, indem sie das Pferd griffen und den Hacendero herunterzogen, um dann mit fester Stimme zu drohen, sie würden es nicht länger zulassen, wie er ihre Männer und Söhne einfach so mitnehme. Wir werden dir nicht weiterhin Sklaven gebären! Sie drohten ihm. Die Geschichte wurde von einem Pädagogikstudenten aufgezeichnet und sie besagt, dass sich zu den fünf mutigen Frauen ein einziger Mann gesellte: Santos Zea, mein Großvater mütterlicherseits, »Indio der Indios«, der nur einen Esel und Ziegen besaß, dessen Hausdach aus Ichu gemacht war und der mehr im Atush (kleine Hütten in unmittelbarer Nähe der bestellten Felder) als in der Gemeinschaft lebte. Santos Zea hatte immer eine Sichel und einen Strick über der Schulter, um seine Tiere 318

Epistemische Gewalt und die Transformation exkludierenden Rechts

anzubinden oder Bündel tragen zu können. Er ging zum Haziendabesitzer, der sich bereits wieder aufgerappelt hatte, legte ihm die Sichel an den Hals und sagte: Nur für Gott kann ich umsonst arbeiten. Wenn du Gott bist, dann wirst du durch die Sichel nicht sterben und dann werde ich umsonst für dich arbeiten. Dieser Vorfall führte dazu, dass Arbeit entlohnt wurde. Dies alles trug aber auch dazu bei, dass zunehmend unterschieden wird zwischen denen, die über Eigentum verfügen, und denen, die nichts haben, und dass es wichtig ist, aus einer guten Familie zu stammen, und dass zunehmend unterschieden wird zwischen den Schöneren und denjenigen, die mehr indio sind, die im Hochland leben, abgeschieden und zurückgezogen. Mich hat es geprägt, die Enkelin des Indio Santos Zea zu sein! Welche Auswirkungen hat die Kolonialgeschichte gegenwärtig noch auf die andinen Gemeinschaften, denen Sie sich zugehörig fühlen? Die Kolonialgeschichte ist allgegenwärtig und ihre Auswirkungen erleben wir fortwährend. In der und durch die Bevölkerung kommt das verschiedentlich zum Ausdruck, etwa wenn sich aufständische Gruppen bilden, die teils unterschiedliche Anliegen verfolgen. Ich glaube ja, dass die verschiedenen Phasen der Kolonisierung, Evangelisierung, Ideologisierung und Politisierung nicht etwa zu einem klar umrissenen Kampf geführt, sondern uns in unserer Einigkeit gegen die Unterdrückung nur geschwächt haben. Dem offiziellen Bildungssystem kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Auf regionaler Ebene mangelt es den vermittelten Bildungsinhalten an einer angemessenen Repräsentation autochthoner Gesellschaften (culturas originarias), ihrer Werte und kulturellen Beiträge, die dazu führen würde, dass Schüler*innen im Bewusstsein ihrer Würde und als politische, mit Rechten ausgestattete Akteure das Klassenzimmer verlassen könnten. Wir dagegen beenden die Schule und sind erfüllt vom Wunsch, jemand zu sein, der wir nicht sind, wir möchten sein wie der Junge aus der Lesefibel Coquito, möchten weiß, blond und von den körperlichen Merkmalen her schön sein, ganz im Sinne westlicher Vorstellungen. Wenn der jüngeren Generation, etwa in meiner Heimatregion, über das Bildungssystem Selbstbewusstsein vermittelt würde, nämlich als Nachkommen von Menschen, die mehr als Hundert verschiedene Maissorten in einer einzigen Gemeinschaft angebaut und gezüchtet haben, die ihre Familien ernähren können, indem sie mit dem uns von Generation zu Generation weitergegebenen Saatgut produzieren – dies im Wissen um die ökologischen Höhenlagen, in denen verschiedenste Pflanzen mit Heilwirkung, als Nahrung oder für sonstige Zwecke gedeihen –, dann wäre die 319

Gespräch mit Tarcila Rivera Zea

jüngere Generation stolz auf ihre Vorfahren. Rassismus, fortwährende Diskriminierung und Exklusion, flankiert von Machismo und der Unterschätzung unserer Fähigkeiten, haben die strukturelle Ungerechtigkeit legitimiert. Nachdem in meiner Provinz und Heimatregion in den 80er-Jahren die politische Gewalt ihren Anfang genommen hatte, wir fortgehen und die Gemeinschaft verlassen mussten, so zeigt sich heute an generationenübergreifender Kommunikation und Übermittlung in Familien, Dörfern und der Gemeinschaft, dass wir nicht umhinkommen, anzuerkennen und festzustellen, dass jenes System von früher zerbrochen ist. Die Rückkehrer und ihre Nachkommen sind nicht mehr wie früher, sie hören nicht länger auf die Älteren. Die Straße, die wir so gepflegt haben, Steintreppen, die wir in Gemeinschaftsarbeit gebaut haben, das wird nicht mehr wertgeschätzt, denn jetzt muss »modernisiert werden«, damit der Wagen des Enkels durchkommt, der zu den traditionellen Festlichkeiten mit dem eigenen Auto anreist. Im Besitz einer eigenen Sprache, einer eigenen Gemeinschaft und einer eigenen Lebensanschauung zu sein, darf nicht länger eine Hürde darstellen für den Zugang zu voll umfänglichen Rechten. Welche Kämpfe erachten Sie als die derzeit wichtigsten und wie stehen die Chancen, dass sie zugunsten der indigenen Gemeinschaften und Campesinos entschieden werden? Was sind die größten Schwierigkeiten, denen Sie bei der Umsetzung Ihrer Agenda begegnen? Seit ich denken kann, versuche ich, besser zu verstehen, warum wir uns in der heutigen Lage befinden. Man kann nun wirklich nicht behaupten, dass unsere Älteren sich einfach abgefunden hätten! Der Weisheit eines Santos Zea folgte das Übereinkommen, das Land zu kaufen, das wir als Gemeinschaft San Francisco de Puccas bewohnen. Wir mussten die Berge und ihre Hänge von den unrechtmäßigen Besetzern in der Hoffnung zurückkaufen, frei zu sein und frei auf unserem eigenen Land zu leben, das uns Leben schenkt, dort Landwirtschaft zu betreiben und den jüngeren Generationen eben diesen Naturraum auch zu hinterlassen. Verschiedene Formen der Ideologisierung und Politisierung haben dazu geführt, dass wir uns nicht miteinander verbündet haben. Der Mangel an nötiger Schulbildung hatte seinen Anteil daran und bei Angeboten sind wir leichtgläubig. Von autochthonen Gesellschaften und Indigenen wurden wir allmählich zu Campesinos – wurden wir dadurch als Menschen in unseren Rechten besser respektiert? Bei der Landreform 1969 gab es vielleicht viel guten Willen, aber wir waren nicht darauf vorbereitet, großflächig Land zu bearbeiten, also waren es andere, die an der Verwaltung unserer Erträge gut verdienten. 320

Epistemische Gewalt und die Transformation exkludierenden Rechts

Die Parteienpolitisierung hat uns gespalten, da wir untereinander, um einen Posten oder eine Gefälligkeit, mit der man in der Schuld stand, konkurrierten. Dann kam das, was uns angeblich befreien würde, und eine neue Form der Unterwerfung setzte ein. Wir standen einander gegenüber und wurden zu Kanonenfutter in einem gewalttätigen Konflikt, mit dem wir nichts zu tun hatten. Jegliche Bemühungen indigener Organisationen aus den Anden und dem Amazonasgebiet hinsichtlich der Umsetzung individueller wie kollektiver Rechte, die durch internationale und von unserem Land anerkannte Instrumente festgeschrieben wurden, prallen auf einen tiefgehenden Widerspruch zwischen staatlicher Wirtschaftspolitik und den Rechten indigener Völker. Es gibt eine nationale Agenda, die dem Landbesitz Vorrang einräumt, aber das an das Übereinkommen 169 der ILO – der Internationalen Arbeitsorganisation – anknüpfende fortschrittliche Gesetz zur vorherigen Anhörung, das Ley de Consulta, ist immerhin ein guter Ansatz, der weiter perfektioniert werden muss, damit er nicht zum Legitimierungsinstrument für die Konzessionen an die Rohstoffindustrie verkommt. Was sind zurzeit die größten Herausforderungen, denen Sie in Ihrer Arbeit als Aktivistin begegnen? Als ich in den 1980er-Jahren von den Rechten der autochthonen Völker sprach und wir in der Öffentlichkeit debattierten, dass auch kulturelle Rechte über die spezifischen politischen Rechte hinaus notwendigerweise beachtet werden müssen, da wurden wir als rückständig gebrandmarkt. Es hieß, wir würden zum Tawantinsuyu zurückkehren wollen etc. Ich habe meine Arbeit dann darauf ausgerichtet, Führungspersönlichkeiten eher in einer ganzheitlichen Perspektive auszubilden, als Frauen, Indigene, Verarmte und als Personen mit Rechten im politischen Raum. Es sind fast 40 Jahre vergangen und heute können wir mit Bestimmtheit sagen, dass die Bemühungen sich gelohnt haben. Wir sind nicht mehr die Einzigen, die von indigenen Rechten sprechen, und wir verteidigen kollektive Rechte auch nicht mehr nur aus unserer Perspektive und für uns allein. Es gibt inzwischen ein breiteres Verständnis für unseren Kampf um kollektive wie individuelle Rechte. Eine Herausforderung bleibt es allerdings, verstanden zu werden in diesem Kampf um kollektive und individuelle Rechte für unsere Gemeinschaften, auch wenn man eine Frau ist! Auch wenn man Quechua ist oder aus der Andenregion stammt, auch wenn man keiner Partei angehört und nicht um formale Macht kämpft. Bildung und Zugang zu Informationen sind meiner Einschätzung nach immer noch große Herausforderungen, ebenso wie es eine ist, die Differenzen unter uns zu überwin321

Gespräch mit Tarcila Rivera Zea

den und Vertrauen, Einigkeit und Klarheit in unseren Vorschlägen durch organische Organisation zu erzielen. Natürlich können wir überhaupt nichts erreichen, wenn wir nicht mit solidarischer Unterstützung und finanziellen Mitteln rechnen können. Meine Arbeit als Aktivistin besteht schließlich darin, dafür zu sorgen, dass unsere Gemeinschaften Informationen erhalten und sich aneignen, über die wir, die schon nicht mehr in den Gemeinschaften leben, verfügen: Etwa dass weitreichende Entscheidungen auf globaler Ebene lokale Auswirkungen haben und dass wir uns diese Information aneignen und sie nutzen müssen, sodass wir realitätsnah den Dialog mit Staaten und Unternehmen führen können. Aber als Gemeinschaften mit vereinten Kräften, organisiert, sich gegenseitig bestärkend, Rechte für jede und jeden. So, dass auf professioneller Ebene die jüngere Generation im Wissen um ihre eigene Würde und im Einklang mit unserer Art, zu denken und zu fühlen, sowie im Bewusstsein, dass die natürlichen Ressourcen endlich sind, zu dynamischen Akteuren in der wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes werden kann. Wie denken Sie über den Nationalstaat? Gelingt es ihm inzwischen besser, die verschiedenen indigenen Identitäten Perus zu repräsentieren? Wie viel Legitimität würden Sie ihm zuschreiben? Der peruanische Staat ist stets kolonial regiert worden, von Eliten, die sich dazu berechtigt fühlten, während unsereins als rückständig und ungebildet angesehen wurde. Auch wenn Politiker indigener Herkunft eine gewisse öffentliche Sichtbarkeit haben, so haben sie ihre kulturelle Herkunft (ancestralidad) jedoch gemeinhin noch nicht wertschätzend anerkannt. Sie sind nicht stolz darauf, woher sie kommen, und leider instrumentalisieren sie zuweilen ihre Gemeinschaften, um im eigenen Interesse oder für eine bestimmte Gruppe Macht zu erlangen oder auszuüben. Sie sind in ein den gesamten Staat durchziehendes System der Korruption verstrickt, was zu tiefer Enttäuschung bei der Bevölkerung geführt hat und die Konsequenz nach sich zog, dass politischen Parteien nicht mehr geglaubt wird. Die politische Partizipation der indigenen Gemeinschaften innerhalb der repräsentativen Demokratie steht noch ganz am Anfang. Zurzeit haben wir beispielsweise nur eine einzige sich selbst als indigen bezeichnende Parlamentarierin, Tania Edith Pariona Tarqui, die sich für die Verabschiedung von Gesetzen zur Stärkung kollektiver Rechte einsetzt und dabei auf massiven Widerstand trifft. Bei den weniger umstrittenen Fragen indigener Rechte lassen sich allerdings Fortschritte verzeichnen, zum Beispiel bei der Anerkennung der indigenen Sprachen oder beim Recht auf interkulturelle Gesundheit. Wir sind auf dem Weg zur Selbstanerkennung. Damit das 322

Epistemische Gewalt und die Transformation exkludierenden Rechts

glückt, muss es in den Gemeinschaften viel Raum geben für Reflexion und Analyse. Die Selbstbestimmung oder auch autonome Verwaltung steht ebenfalls auf der Agenda, und es gibt hier bereits einige gezielte Bemühungen wie die der Wampis. Nichtsdestotrotz steht immer noch aus, Indigenität ausgehend von voll umfänglichen Rechten aus zu denken und sich von einer Festlegung auf das Konzept des Campesinos zu verabschieden, anzuerkennen, dass wir Indigene sein können, ohne Campesinos zu sein, aber auch indigene Campesinos, indigene Arbeitnehmende oder Angestellte, in der Stadt lebende Indigene oder indigene Landbewohner*innen. Wir orientieren uns immer noch an den Unterschieden und nicht etwa an Gemeinsamkeiten oder übergeordneten Zielen. Die Vorstellung, dass wir als Andenoder Bergbewohner*innen, Campesinos oder Quechua keine Indigenen seien, ist ein Vorurteil. Dass die im Amazonasgebiet lebenden Menschen nicht nur Indigene, sondern auch Rechtssubjekte sind, all das muss endlich zu öffentlicher Gewissheit und zu unserer eigenen Überzeugung werden, damit wir im Kampf um unsere Rechte geeint auftreten können. Erst wenn es uns gelingt, die aus unterschiedlichen Gründen Ausgeschlossenen allesamt zusammenzubringen, dann erst sind wir wahrscheinlich wirklich dabei, eine soziale Bewegung für vollumfängliche Rechte für alle soziokulturellen Sektoren wirklich ins Leben zu rufen. Sie sind Aktivistin und verstehen sich als Indigene beziehungsweise Campesina und als Frau. Ergeben sich dabei Spannungen? Welche Reaktionen erleben Sie seitens der Männer Ihrer Gemeinschaft? Für mich persönlich existieren diese Spannungen in meiner Identität nicht mehr. Vor ungefähr 25 Jahren, als wir damit begonnen haben, weibliche Führungspersönlichkeiten aus dem Andenraum und dem Amazonasgebiet auszubilden, habe ich mich ausführlichst damit auseinandergesetzt. Die entschiedensten und in ihren Anliegen klarsten Anführerinnen, die sich damals in den andinen Gemeinschaften für Landbesitz eingesetzt haben, bezeichneten sich selbst als Campesinas (als Folge von Politisierung und Ideologisierung). Die Frauen aus dem Amazonasgebiet sahen uns als Campesinas, Hochlandbewohnerinnen (serranas) oder Kleinbäuerinnen (colonas) an. Indem wir eine wertschätzende Beziehung bei der Zusammenarbeit entwickelten, gelangten wir zu gegenseitigem Verständnis, fragten uns ganz einfach, wer wir sind, wo wir herkommen, wie es uns geht und wohin wir gehen … Die Antworten waren schmerzhaft und entfalteten eine große Wirkung, sodass es heute Frauen und Männer, Junge und Alte gibt, die sich selbst als Indigene, Quechua und Aymara bezeichnen. Meine Ge323

Gespräch mit Tarcila Rivera Zea

meinschaft erkennt mich als ihre Tochter an und sie sind stolz auf das, was ich tue, aber sie hätten gerne, dass es nur ihnen zugutekommt. Die Schwierigkeiten, mit denen ich aufgrund meiner Eigenschaft als Frau, Hochlandbewohnerin und Ältere, und aufgrund der Tatsache konfrontiert bin, dass ich nicht über die politische Macht verfüge, die für bessere Zugangsmöglichkeiten und Chancen nötig wäre, bleiben aber bestehen. Welche Auffassungen von Geschlechterverhältnissen gibt es innerhalb der Gemeinschaft und inwiefern können sie westlichen Gesellschaften möglicherweise als eine Art Referenz dienen? Von einer Art von Genderbeziehungen kann nicht die Rede sein, denn das hängt stark von der spezifischen Gesellschaft ab. Die Wayú aus Venezuela zum Beispiel sind matrilinear organisiert, in anderen Kulturen spricht man von Komplementarität, von Dualität usw. Gegenwärtig müssen wir jedoch der Tatsache ins Auge blicken, dass sich die Geschlechterbeziehungen im Ungleichgewicht befinden. Unter den Männern sind Machismo, die Diskriminierung von Frauen und von Mädchen sowie das physische Durchsetzen von Macht oder das Sprechen eines Machtworts in der Familie und Gemeinschaft immer noch sehr verbreitet. In meiner Heimatregion spielte die Kirche durch Evangelisierung und Katechisation eine wichtige Rolle. Denn der Glaube, wir seien aus der Rippe des Mannes gemacht, ließ uns denken, wir seien lediglich das unvollkommene Stück eines Ganzen. Und wenn wir dann das heiratsfähige Alter erreichten, stellte der Priester eine Autorität dar, die uns versicherte, um eine Familie zu werden, hätten wir dem Mann Folge zu leisten und ihm zu gehorchen, denn so erfülle man den Willen Gottes. Die Armut und die alle gleichermaßen betreffende Chancenlosigkeit, der Machismo und die kulturelle Legitimation männlicher Stärke, emotional wie körperlich, verschafften eher den Söhnen Zugang zu Bildung und anderen Vorteilen. Schließlich sollten sie ja der Verantwortung als Familienvorstand nachkommen. Meine Mutter erfüllte dagegen nie die von Kirche oder Gemeinschaft vorgesehenen Rollen. Als älteste von vier Schwestern wurde sie nicht Luisa, sondern Luico genannt – als ob sie ein Mann wäre – und wuchs zu einer starken, unabhängigen Frau heran, die bei der Wahl ihres Partners nicht etwa familiären Absprachen folgte, sondern selbst eine Entscheidung traf. Auch mein Vater nahm es nicht einfach hin, dass ich als Frau zur Welt gekommen war, und behandelte mich immer wie einen Mann, Tarcinio, den von ihm erhofften Sohn. Die Zweitälteste wurde zu Machico. Als Ehemann hat mein Vater den Beitrag und Anteil seiner Frau am Vorankommen der Familie immer anerkannt. Ich kam also 324

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als Frau zur Welt und sie glaubten daran, den Charakter und die Stärke eines Mannes in mir auszubilden. Ihr Vorbild zu Hause aber machte uns zu starken und befähigten Frauen, die die Botschaft ihrer feministischen Mutter aufgenommen hatten, vielleicht ohne dass sie sich dessen voll bewusst war: »Macht euch bloß nicht abhängig von den Launen und dem guten Willen eurer Männer, um euch Kleidung zu kaufen oder ein Bier trinken zu gehen. Man muss arbeiten und sein eigenes Geld verdienen«, sagte sie. Von den Eltern arrangierte Ehen gibt es heute nicht mehr und wir haben besseren Zugang zu Schule und Bildung, aber dieselben politischen Rechte haben wir noch nicht. Es muss uns noch gelingen, uns selbst als eigenständig und stark wahrzunehmen, ganz im Bewusstsein unserer Rechte, und uns gut zu informieren über alles, was innerhalb und außerhalb der Familien und Gemeinschaften und im Land passiert, um dann auch in vollem Umfang Anspruch auf unsere Rechte zu erheben. Schulbildung, Ausbildung, vielversprechende Chancen – genau das wollen wir. Die bisherigen Versäumnisse dürfen nicht länger rechtfertigen, dass wir ausgeschlossen, unsichtbar oder abwesend sind. Was wissen Sie über Geschlechterbeziehungen vor der Ankunft der Europäer? Wir haben im Jahr 1992, als sich der 500-jährige Zyklus der Invasion schloss, einige Vorsätze gefasst, nach denen wir uns bis heute richten: nämlich nicht der Vergangenheit nachzutrauern, sondern unsere Zukunft zurückzugewinnen und mit einer eigenen Interpretation von Pachakuti neu zu entwerfen. Damals wurde von den Männern stark hinterfragt, dass wir als Frauen zwar Teil der Bewegung sein, aber zugleich mit einer eigenen Stimme sprechen wollten und ein eigenes Bild von uns als Frauen hatten, die auch für die Rechte unserer Gemeinschaften kämpfen, auch für unser Recht auf Teilhabe und Gehörtwerden. Die Wortführer jener Zeit redeten von Komplementarität und der differenzierten Rolle, die jedes Mitglied der Familie und der Gemeinschaft innehat. Aber was sich im täglichen Leben abspielte, wie wir Frauen zwar körperlich anwesend waren, aber nicht dieselben Rechte hatten wie sie, das wurde von der Theorie nicht abgebildet. Und ich persönlich machte mir auch viele Gedanken, wie ich den Widerstand der Männer »neutralisieren« konnte. Als Aktivistin – als Frau – kam ich auch mit feministischem Engagement und der Frauenbewegung in Berührung, wo wir als indigene Frauen kritisiert wurden, weil wir Geschlecht nicht thematisierten. Ich musste erst einmal lernen, was Begriffe wie Gender, Selbstermächtigung oder Menschenrechte bedeuten. Tayta Ciprian Puthuri, Ältester und Quechua aus der Gegend um Ollantaytambo, Cusco, hielt in jenem Jahr eine Ansprache, und auf die Frage, wie er die

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Gespräch mit Tarcila Rivera Zea

Beziehungen zwischen sich und seiner Frau und allen anderen verstehe, antwortete er folgendermaßen: »Das Gleichgewicht ist entscheidend.« Dieses Konzept wendete er auf die Beziehung zu allen anderen lebenden Wesen an. »Es gilt, Pachamama zu bitten, uns bei ihr zu bedanken für alles, was wir benötigen, und nur zu nutzen, was wir auch benötigen. Ich achte meine Frau, denn aus ihren Händen essen meine Kinder und ich, sie ist meine Gefährtin im Leben und zusammen lösen wir die Probleme, die das Leben uns stellt. Ich darf sie nicht übergehen, ich berate alles mit ihr, und wir entscheiden gemeinsam. Wir achten uns. Dasselbe machen wir mit unseren Kindern, unseren Tieren, mit den Gottheiten der Berge, ob nun weiblich oder männlich, alle nach eigener Art.« Darauf gründen wir den Kampf um unsere Rechte als indigene Frauen, um zum Gleichgewicht zurückzukehren, zur horizontalen Beziehung zwischen Mann und Frau, zu Beziehungen gegenseitigen Respekts, zwischen Älteren und Jüngeren, zwischen Gleichen und Verschiedenen. Nach fast 40 Jahren Aktivismus kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass wir indigene Frauen vom Konzept der kollektiven Rechte dazu übergegangen sind, individuelle Rechte einzubeziehen, und für uns als indigene Frauen sind die individuellen Rechte und die kollektiven Rechte untrennbar, sie ergänzen sich gegenseitig und entsprechen uns als Menschen. Wie wurden vor der Ankunft der Europäer die natürlichen Ressourcen der Gemeinschaft verteilt und verwaltet und wie wurde für Gerechtigkeit gesorgt? Soweit wir wissen und nach dem, was uns in der Schule vermittelt wird, betrachtete man den Inka im Tawantinsuyu als eine Gottheit. Daher arbeitete und produzierte die gesamte Bevölkerung Güter für das Kollektiv, etwa Nahrungsmittel. Es wurden komplexe Techniken zur Erzeugung, Auswahl, Verarbeitung und Konservierung von Nahrungsmitteln entwickelt, da es aus verschiedensten Gründen zu langanhaltenden Mangelperioden kam. Die Bevölkerung litt keinen Hunger, so viel wissen wir heute … Archäologische Funde bestätigen immer wieder die Existenz großer Nahrungsmittellager, die jahrelange Versorgung sicherstellten. Im Hinblick auf Recht wissen wir nur wenig, allerdings dass der Dreisatz »Nicht stehlen. Nicht lügen. Nicht faul sein.« grundlegend für die sozialen Normen war, denn die Strafen waren ausgesprochen hart. Allen Gesetzen zum Trotz ist heute das Gegenteil Realität …

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Epistemische Gewalt und die Transformation exkludierenden Rechts

Könnten Sie etwas zur indigenen Justiz, zur justicia campesina, sagen und dazu, wie in diesem Rahmen gegenwärtig Recht angewendet und umgesetzt wird? Wie verhält es sich dabei im Hinblick auf geschlechtsspezifische Gewalt? Mit Nachdruck setzen wir uns dafür ein, dass gegenwärtiges gewohnheitsrechtliches Gemeinschaftsrecht anerkannt wird und dass es möglich ist, ausgehend von der eigenen Kultur und in der eigenen Gemeinschaft Recht zu sprechen, genannt justicia comunitaria. Das funktioniert erfahrungsgemäß in einigen Bereichen ziemlich gut, etwa wenn es um Sachbeschädigungen oder die falsche Nutzung materieller Güter geht. Ich höre aber von indigenen Frauen, dass es für sie nicht unbedingt ein Fortschritt ist, weil die Rechtsausübung zumeist in den Händen der Männer liegt und den Frauen – sowohl den älteren als auch den jüngeren – ihre Rechte vorenthalten werden. Wenn geschlechtsspezifische Gewalt angezeigt wird, wird die Aussage der Frau, des Mädchens oder der jungen Frau immer in Zweifel gezogen. Das Recht dient noch immer den Männern. In der Vergangenheit sollen es vor allem die Eltern und Älteren gewesen sein, die man zur Maßregelung der Misshandler zur Hilfe rief; man führte Gespräche und versuchte – je nach Schwere des Vergehens des Mannes – zu einer entsprechenden Einigung zu kommen. Ich war zum Beispiel Zeugin von Verbannungen aus der Gemeinschaft und der Familie, wenn sich der Mann ein schweres Vergehen hatte zuschulden kommen lassen. Der Ehebrecher etwa, der seine Frau misshandelte, wurde für sein Vergehen entsprechend streng sanktioniert. Die vorherige Anhörung, consulta previa, soll dazu beitragen, inoffizielle Verabredungen zwischen Nationalstaat und internationaler Rohstoffindustrie zu begrenzen. Allerdings können diese Verfahren auch umgangen oder manipuliert werden. Wie schätzen Sie die vorherige Anhörung ein? Taugen internationale Abkommen dazu, indigene Gemeinschaften, ihre Ökosysteme und ihre Ernährungssicherheit zu schützen? Ich komme gerade von einem Partizipationsprozess zur Ausarbeitung der Erklärung zu den Rechten der indigenen Völker. Das Ideal ist die vorherige freie und informierte Anhörung, die durch das Recht auf Anhörung ergänzt wird, wie es im ILO-Übereinkommen 169 festgeschrieben ist. Für eine wirksame Umsetzung des Rechts auf vorherige Anhörung muss allerdings im Vorfeld sichergestellt sein, dass die nötigen Informationen im Rahmen adäquater und realitätsnaher Mechanismen zugänglich gemacht werden. Die indigenen Gesellschaften müssen bei der Ausarbeitung und

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Entwicklung dieser Mechanismen ein Mitspracherecht haben. In Peru gibt es ein nationales Gesetz, das Ley de Consulta, das mit seinen Durchführungsbestimmungen die vorherige Anhörung regeln soll. Dennoch ist weiterhin umstritten, wie es genau umgesetzt und angewendet werden soll – gerade weil die vorgelagerten Prozesse nicht entsprechend bedacht wurden. Ein Beispiel: Wie kann ich denn ohne Sachkenntnis – wenn ich also nicht gut informiert bin hinsichtlich der Schäden, die das Waldsterben für mein Zuhause, den Wald, genau bedeuten würde, hinsichtlich des Todes Hunderter oder Tausender Lebewesen in diesem Wald und hinsichtlich der Folgen für meine eigene Gesundheit und Ernährung – überhaupt Stellung beziehen zum Waldsterben durch die Öl- und Gasförderung? Wohin sollen zukünftige Generationen denn gehen, wenn es dieses Zuhause, dieses Dach über dem Kopf, diese Unerschöpflichkeit an Medikamenten und Nahrung nicht mehr gibt? In den Quechua- und Aymaragemeinschaften ist der Widerstand gegen die vorherige Anhörung groß, denn sie zielt darauf ab, eine Einigung mit den Minengesellschaften zu erzwingen, die für gewöhnlich hoch in den Bergen aktiv sind, wo unsere Apus leben, woher das Süßwasser stammt, das wir trinken und mit dem wir unsere Pflanzen wässern und unsere Tiere tränken. Wie wird sich also eine solche Entscheidung auf zukünftige Generationen und das Leben unserer Gemeinschaft auswirken? Genau das steht auf dem Spiel und wir müssen uns informieren und Gedanken machen, um noch vor der Erteilung von Genehmigungen geeignete Lösungen zu finden und nicht erst, wenn wir die schädlichen Auswirkungen des Quecksilbers, das auf unser Land gekippt und von den Kindern zum Spielen benutzt wird, am eigenen Leib erfahren haben. Innerhalb und außerhalb der Gemeinschaften braucht es viel Informationsarbeit hierzu. In der Stadt und in der Gesellschaft generell muss man verstehen, dass Rechte für alle gelten und dass wir die herrliche Natur nicht töten sollten – für ein paar Dollar, die uns dann außerdem noch nicht einmal bleiben. Wie wirkt sich die Ausbeutung von Rohstoffen auf die indigenen Frauen auf dem Land aus? Wie wehren sie sich gegen die im Bergbau und der Agrochemie tätigen transnationalen Unternehmen? Die indigenen oder nichtindigenen Frauen, die in den vom Rohstoffabbau betroffenen Gebieten arbeiten oder leben, haben den Mut aufgebracht, mit den Umweltschäden an die Öffentlichkeit zu gehen, weil das Wasser für die Nahrungszubereitung nicht mehr sauber ist oder weil die Fische des vergifteten Flusses beim Verzehr schädlich sind oder weil sie einen Zusammenhang zwischen den schwachen Schulleistungen ihrer Kinder und 328

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dem Bleigehalt in deren Blut bemerken. Unsere Arbeit auf internationaler Ebene, nämlich die Einflussnahme auf Entscheidungsprozesse und die Kanalisierung der Anliegen mutiger Frauen, die über alle sprachlichen, geografischen und kulturellen Grenzen hinaus ihre Stimme erheben, um solchen Missbrauch anzuprangern, hat die Auswirkungen dieser Industrien sichtbar gemacht. Wir haben begriffen, dass die transnationalen Konzerne zwar ihren Verpflichtungen in den Heimatländern nachkommen, aber in unserem Land unser Leben nicht respektieren. Dies hängt auch damit zusammen, dass diejenigen, die bei uns Regierungsgewalt ausüben, eine koloniale Mentalität haben, sich nur mit denen von anderswo gut stellen wollen und ihre eigenen Leute nicht zu schätzen wissen und noch viel weniger das Erbe, das ihrer Bevölkerung, den Nachfahren, eigen ist, und die nicht so regieren, wie Recht und reale Demokratie es eigentlich vorsehen. Verschiedene Aspekte im Zusammenhang mit der Geringschätzung des Lebens und der Rechte der indigenen Gemeinschaften, aber auch deren eigenes Unwissen bezüglich der Fortschritte in der Anerkennung der Menschenrechte und spezifischer Rechte wirken sich gegen uns aus. Der Staat trägt eine große Verantwortung durch den Import von Agrochemikalien, die anderswo längst nicht mehr erlaubt sind. In unserem Land wird jedoch nicht über die schädlichen Auswirkungen auf Böden, Erträge und Gesundheit informiert. Wir dagegen setzen auf eine ökologische Landwirtschaft, auf eine auf Wissen und geeigneter Technologie basierende Nahrungsmittelerzeugung, auf die Produktverarbeitung für den lokalen Markt als Alternative zu Mangelernährung und Anämie. Wird es den Tag geben, an dem das vom Staat ausgegebene Schulfrühstück die besten andinen Nährstoffe enthält? Quinoa, Amarant, Tarwi und Cañihua? An dem wir Kochbananen, Yukka, Früchte und Proteine aus der Region nutzen? Wie ist das Verhältnis zu den westlichen Nichtregierungsorganisationen, den NGOs? Welche Auswirkungen hat deren Arbeit in den Gemeinschaften? Wie stehen Sie persönlich dazu? Seitens der indigenen Organisationen und Gemeinschaften hat die erfolgreiche Verständigung mit den NGOs ziemlich viel Zeit und Arbeit gekostet. Schon 1992 haben wir gesagt, dass wir kein Studienobjekt und daher auch nicht Gegenstand eines Projekts sein wollen. Heute sind unsere durch Informationen und Rechte ermächtigten Organisationen in der Lage zum Dialog und dazu, mit den NGOs zu Vereinbarungen gegenseitiger Unterstützung zu gelangen. Fördergelder sollten in unsere schon existierenden Strukturen investiert werden, sowohl in unsere Humanressourcen als auch in die natürlichen Reichtümer unserer Regionen. Wir sollten 329

Gespräch mit Tarcila Rivera Zea

uns an unsere Traditionen des Säens, Produzierens, Verarbeitens und Teilens halten. Heute sind wir uns bewusst, dass Fördergelder notwendig sind und dass wir verstehen müssen, wie man sie einsetzt, um die Nachhaltigkeit der Pachamama und auch unserer Leben sicherzustellen. Die internationalen NGOs sollten mehr Vertrauen in unsere Organisationen mitbringen und wissen, dass wir Maßnahmen zu unserem eigenen Wohl umsetzen können. Noch fehlt es an einer solchen komplementären Beziehung, die zu Verbesserungen beiträgt, und am Wissen, dass wir mit kleinen und sporadischen Fördergeldern nichts erreichen. Es muss investiert werden, gelernt werden, wie Geld zu verwalten, zu kontrollieren und Buch zu führen ist. Das ist unsere Lehre aus den letzten 35 Jahren. Wir brauchen Fördergelder für die Stärkung von Prozessen der Kompetenzdefinition und -entwicklung, sodass wir zum Beispiel Herausforderungen wie die Leitung einer Kommunal- oder Provinzverwaltung meistern können. Ich erinnere mich an die Worte einer Quechuaautorität, die es in einer Provinzregierung auf einen verantwortungsvollen Posten als Ratsfrau schaffte: »Schwester, wir müssen mehr darüber wissen, wie Verwaltung und Regierung funktioniert, denn jetzt bin ich in der Stadtverwaltung und weiß nicht, wie ich vorgehen soll, um mehr Förderung zu erlangen, ein größeres Budget zugewiesen zu bekommen oder die Unterstützung der anderen zu erreichen. Nur das Wort des Bürgermeisters zählt. Du hast uns unsere Rechte gelehrt, aber wir müssen auch lernen, zu regieren und uns für die Menschen durchzusetzen.« Das Gespräch führten Jorge J. Locane und Karina Theurer.

Übersetzung von Dania Schüürmann. Es lektorierte Karina Theurer.

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Kolonialverbrechen, transgenerationale Exklusion und Aufarbeitung Gespräch mit Rupert Hambira und Kamutuua Hosea Kandorozu

Ende des 19. Jahrhunderts hatte das deutsche Kaiserreich auf dem Gebiet des heutigen Namibia formell ein »Schutzgebiet« errichtet, in dem die dort lebenden Herero, Nama, Damara und San systematisch rassistisch diskriminiert wurden. Ermöglicht wurde dadurch ein massiver Transfer von Land, Vieh und natürlichen Ressourcen zugunsten der deutschen Siedler, Händler und Unternehmen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erließ General Lothar von Trotha einen Vernichtungsbefehl gegen die Herero und es folgte eine unermesslich brutale Verfolgung und systematische Tötung von Herero und Nama. Im März 2019 trafen sich Vertreter*innen von Herero und Nama aus Namibia und der Diaspora in Swakopmund. Reverend Rupert Hambira und Chief Kamutuua Hosea Kandorozu sprachen dort über die von der deutschen Kolonialmacht ausgeübte Gewalt, über die transgenerationale soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Exklusion und über das kollektive Trauma, aber auch über Möglichkeiten der Transformation und Versöhnung. Rupert Hambira: Mein Name ist Rupert Hambira, ich bin Pastor bei der Vereinigten Kongregationalistischen Kirche des südlichen Afrika und ein Nachfahre der Hereroopfer des Völkermords 1904 bis 1908. Derzeit lebe ich in Botswana. Inzwischen sind alle, die den Völkermord überlebt haben, gestorben, auch deren Kinder und Kindeskinder. Ich gehöre zur dritten Generation, die praktisch alles verloren hat. Wir sprechen kein Otjiherero und wir verstehen auch die Otjihererokultur nicht wirklich. Gestern habe ich in Windhoek zum ersten Mal in meinem Leben das Heilige Feuer gesehen. So akkulturiert sind wir, so sehr haben wir unsere Identität, unsere Kultur, unsere Sprache verloren. Über die anderen Verluste, die wir hinnehmen mussten, will ich erst gar nicht anfangen zu reden. Ich bin in Botswana. Nicht weil ich da sein will, sondern weil es für mich keinen Grund gibt, in das Land des Todes zurückzukehren, in dem die Meinigen praktisch ausgelöscht wurden. Aber das ist, wer ich bin.

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Gespräch mit Rupert Hambira und Kamutuua Hosea Kandorozu

Kamutuua Hosea Kandorozu: Mein Name ist Kamutuua Hosea Kandorozu. Ich komme aus Südafrika. Auch ich gehöre der dritten Generation an; meine Vorfahren flohen vor der Brutalität des Krieges zwischen den Deutschen und den Ovaherero im damaligen Deutsch-Südwestafrika. Sie kamen durch Botswana. Letztlich gingen sie nach Südafrika, unter der Führung der drei Chiefs David Kaonjonjua Kambazembi, Matthews Humu Mutate und Samuel Maherero, der im Krieg gekämpft hatte. Die Chiefs Kambazembi und Humu starben beide in Südafrika, wo sie auch begraben sind. 1921 entschied Chief Samuel Maherero, nach Botswana zurückzugehen. Er wollte heimkehren und war auch bereit dazu. Leider ging das aber aufgrund des Versailler Vertrags von 1919 nicht – denn Deutsch-Südwestafrika wurde darin unter die Verwaltung Südafrikas gestellt. Meine Eltern – oder besser gesagt meine Großväter und Großmütter – haben erzählt, wie sie unter dem langen Marsch gelitten haben, etwa 2.000 Kilometer sind sie durch Botswana gegangen. In Botswana angekommen, blieben sie zunächst in Tsau; später gingen sie hoch nach Maun, bis sie schließlich nach Serowe in Südafrika weiterzogen, in die Nordprovinz, die jetzt Limpopo Province heißt. Einige unserer Leute rannten davon, sie flohen durch Mahikend in Südafrika nach Vryburg, Ganyesa, Tlaakgameng und Morokweng. Wir sind direkt betroffen von diesem Krieg, da die meisten von uns weder die Sprache der Herero noch die der Nama sprechen. Wir leiden unter dem, was unsere Vorfahren durchgemacht haben. All diese Identitätsfragen erschweren – gerade wenn man auf fremdem Land lebt – das Zusammenleben mit den anderen dort lebenden indigenen Menschen. Unsere Kinder fragen uns ständig: »Warum leben wir überhaupt in Botswana und in Südafrika, und nicht in Namibia?« Das sind die Identitätsfragen, die ich meine, und unsere Kinder sprechen nicht einmal die Sprache, ihnen ist verwehrt, Teil des Landes zu sein, aus dem ihre Familien ursprünglich kamen. Diese unglückliche Situation hatte enorm negative Auswirkungen auf uns. Die Deutschen haben uns ausgeschlossen: Wir sind nicht an den Gesprächen beteiligt, wir werden in den Dialog, der derzeit in Namibia stattfindet, nicht einbezogen, obwohl wir diesen Krieg am allermeisten zu spüren bekommen haben, sogar mehr noch als die Namibier selbst, denn wir leben in einem fremden Land. Wir müssen mit all den Umständen leben, für die die Deutschen uns eigentlich entschädigen sollten. Mein Kollege hier sagte, dass wir unsere eigene Kultur kaum kennen, und erst, wenn wir unsere Leute besuchen, merken wir, dass der Verlust sogar noch größer ist, als wir dachten. Die Älteren unter uns, unsere Großmütter, haben uns vom Beginn des Krieges erzählt und davon, wie sie flüchteten. Manche wurden von deutschen Soldaten vergewaltigt, manche umgebracht, sie haben ihre Brüder und Schwestern im Krieg verloren. Manche 332

Kolonialverbrechen, transgenerationale Exklusion und Aufarbeitung

haben ihre Kinder verloren, die auch den Deutschen angehörten. Manche haben ihre Schwestern und Brüder verloren, sie wussten nicht, ob ihre eigenen Brüder und Schwestern tot, von deutschen Truppen gefangen genommen oder zwangsumgesiedelt worden waren. Soweit wir wissen, wurden einige ihrer Schädel aus Deutschland zurückgegeben. Wir wissen also nicht, was mit den Menschen passiert ist. Aber wir haben verstanden, dass einige der Geschichten, die unsere Vorfahren uns erzählten, wirklich so passiert sind, denn ich war Teil der Gesandtschaft, die nach Berlin gereist ist, um die Schädel unserer Leute zurückzuholen. Florence Handura: Wie haben Ihre Eltern ihre Kinder verloren? Wie haben Sie Ihre Brüder und Schwestern verloren, die nach Deutschland gebracht wurden? Kamutuua Hosea Kandorozu: Was unsere Großmütter erzählt haben, ist, dass wir die meisten unserer Kinder verloren haben, weil es niemanden mehr gab, der sie hätte stillen können. Die Deutschen spielten mit diesen Kindern, warfen sie einander zu wie einen Basketball, machten Fotos mit den Toten. Und dann wurden diese Kinder auch in Konzentrationslager gebracht. Hier in Swakopmund, wo dieses Interview stattfindet, gibt es Gräber, von denen wir nicht wissen, wer in ihnen begraben ist. Einige der Kinder haben die Deutschen wegen ihrer Hautfarbe mit nach Deutschland genommen, nach Berlin, weil sie sich mit ihnen identifizierten. Das wurde uns erzählt. Die meisten Kinder, besonders solche von Frauen, die vergewaltigt wurden, kamen sogar erst in Botswana und Südafrika zur Welt. Schauen Sie mich und Herrn Hambira an – unsere Haut ist relativ hell, es gibt also eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit, dass wir auch direkte Nachfahren von Deutschen sind und nicht nur Nachfahren der Herero. Von solcher Brutalität war es, was sich hier zutrug, und das passiert, wenn man Brüder und Schwestern im Krieg verliert. Ja, ich kenne viele Leute, die durch den Völkermord traumatisiert wurden ... Und die noch am Leben waren, als ich aufwuchs. Sie haben uns vom Völkermord erzählt. Aber Sie müssen wissen, es war schwierig für sie, uns alles zu erzählen, sie wollten nicht, dass wir wussten, wie sehr sie tatsächlich gelitten hatten. In unseren eigenen Nachforschungen, in dem, was wir Informationsaustausch nennen, konnten wir die Puzzleteile über das Leiden unserer Leute aber selbst zusammenfügen. Aus diesem Grund wollen wir in Südafrika auch nicht einfach herumsitzen und warten, sondern organisieren selbst Reisen für unsere Kinder, damit sie verstehen, wie wir hierhergekommen sind, wie dieser lange Marsch unserer Leute von Okahandja durch Ohamakari 333

Gespräch mit Rupert Hambira und Kamutuua Hosea Kandorozu

und Otijinene, auf diese Wüste zu und durch die Wüste hindurch bis nach Botswana und schließlich nach Südafrika war. Wir wollen unsere Geschichte aufzeichnen für unsere Kinder. Außerdem wollen wir, dass unsere Kinder über diese Vergangenheit sprechen, damit sie daraus lernen und auch mit ihr abschließen können. Wir wollen mit dem Geschehenen abschließen, aber leider helfen die Deutschen uns und unseren Leuten in der Diaspora nicht dabei, voranzukommen. Sie wollen nur mit der namibischen Regierung sprechen und mit den Herero und Nama in Namibia. Wir können nur nochmals betonen, dass gerade wir aufs Brutalste vom Krieg getroffen wurden. Denn wir haben wirklich alles verloren. Alles – unsere Traditionen, unsere Sprache, unsere Existenz als Volk – ist verloren. Sie geben Namibia Entwicklungsgelder, aber uns in der Diaspora haben sie vergessen. Wir erhalten nichts von den Entwicklungsgeldern oder finanziellen Hilfen, die Namibia bekommt. Das ist unsere Ausgangslage in der Diaspora. Wir finden, es reicht nicht, dass zwischen Deutschland, der namibischen Regierung und einigen Leuten in Namibia Gespräche stattfinden. Wir wünschen uns einen triangulären Dialog, in den auch wir eingebunden sind und in dem wir für uns selbst sprechen. Ich glaube, dass wir dazu sehr wohl in der Lage sind, mit der Hilfe unseres Paramount Chiefs, der uns, die wir in der Diaspora leben, mehr hilft als irgendjemand sonst in diesem Land, Namibia. Karina Theurer: Was haben Ihnen Ihre Großeltern darüber erzählt, wie es war, bevor die deutschen Truppen und die deutschen Siedler kamen? Was haben sie über den Beginn des Konflikts erzählt und darüber, was genau passiert ist? Kamutuua Hosea Kandorozu: Ich spreche vor allem für die Herero, ich denke, Reverend Hambira wird noch mehr über die Nama sagen. Die Herero waren sehr friedvoll. Das zentrale Südwestafrika hatte ihnen gehört. Wir sprechen hier über Omaruru, Okahandja, Otjomuise, das heutige Windhoek, Otjikango, Okakarara, Otjinene und dann bis nach Tsumeb und Grootfontein (Otjivanda). All diese Regionen, Omaheke, die Gegenden um Aminuis (Omongua) und Mariental haben den Herero gehört. Sie hatten dort große Flächen Weideland für ihr Vieh und für ihre kleineren Nutztiere. Sie konnten das Land nutzen, wie sie wollten, sie konnten dort Hirse und all diese Dinge anbauen und kultivieren. Was sie uns erzählt haben, ist, dass alles friedlich war, bis die deutschen Siedler kamen. Zwischen den indigenen Völkern hatte es sporadisch Auseinandersetzungen gegeben, aber nichts Großes, es ging dabei nur um Weideland für ihre Tie334

Kolonialverbrechen, transgenerationale Exklusion und Aufarbeitung

re. Als die Deutschen kamen, nahmen sie nach und nach alles. Irgendwann aber sagten sie [die Herero]: »genug ist genug« und begannen, sich zu wehren. Auch die Missionare, die ihnen das Christentum bringen wollten, spielten eine Rolle. Sie müssen wissen, dass dort damals nur Menschen lebten, die ihre eigene Kultur und Tradition – also Ombazu – hatten und das Christentum nicht praktizierten. Aber die Deutschen brachten das Christentum, und das Christentum brachte Probleme. Viele von uns wurden ja sogar in den Kirchen ermordet. Während sie die Bibel und den Willen Gottes predigten, überlegten die Deutschen, wie sie uns töten könnten. Das spaltete, so wurde uns erzählt, die Gemeinschaft der Herero – in diejenigen, die Christen wurden, und diejenigen, die weiterhin gemäß der Tradition lebten. Die Deutschen haben diese Konflikte der Menschen untereinander ausgenutzt, um sie gegeneinander auszuspielen. So wurde uns erzählt, wie die Deutschen vorgingen: Sie trieben einen Keil zwischen die Herero, sodass diese sich untereinander bekämpften. Sogar noch vor dem Vernichtungsbefehl von Lothar von Trotha haben die Deutschen einige Leute gefangen genommen, damit diese gegen ihre eigenen Leute kämpften. Das wurde uns erzählt. Sie konnten einander nicht mehr vertrauen. Ein paar der Leute haben Informationen über die versteckten Pfade der Ovaherero oder über Wasserquellen preisgegeben, sodass sie [die Deutschen] die Quellen vergiften konnten, und solche Dinge. Die Deutschen kannten das Land nicht, sie waren Fremde. Sie haben die Herero benutzt und gegeneinander ausgespielt, um sie zu besiegen. So wurden uns die Geschichte und das Leid überliefert. Die, die bis nach Botswana kamen, hatten Glück, da die Deutschen nicht in englisches Gebiet vordringen konnten. Botswana litt damals unter einer Dürre, wie wir sie auch dieses Jahr wieder haben, es war unmöglich, Getreide oder Gemüse anzubauen. In Botswana litten die Leute also erneut, aber aus anderen Gründen. Deswegen hatten einige von ihnen keine andere Wahl, als nach Südafrika weiterzuziehen, wo sie in den Minen von Witwatersrand bei Johannesburg arbeiteten. Sie sind dorthin gegangen, um Geld zu verdienen und um Geld nach Hause bringen zu können zu denen, die in Overrysel -auf den Farmen Groenefontein und Nagwag – in der Gegend um Lephalale geblieben waren. Die Farmen wurden den Herero von Minenbetreibern zur Verfügung gestellt.

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Gespräch mit Rupert Hambira und Kamutuua Hosea Kandorozu

Florence Handura: Und wie erging es denen, die nach Südafrika gegangen sind? Wie wurden sie dort behandelt? Kamutuua Hosea Kandorozu: Die Mehrzahl der Menschen, die nach Südafrika geflohen sind, kam dort 1907 an, unter Chief David Kaunjonjua Kambazembi. Matthews Mutate Humu und Samuel Maharero kamen später dazu. Das war eine sehr abgelegene ländliche Gegend im nördlichen Transvaal. Sie konnten dort keinen Handel treiben oder auf andere Art und Weise Geld verdienen. Samuel Maharero war daher gezwungen, einige Männer auszuwählen, die in den Minen arbeiten konnten. 1913 erlitten sie einen Rückschlag, als der Natives Land Act in Kraft trat. Auf den beiden Farmen hatten sie nur im Tausch gegen Minenarbeit wohnen dürfen. Der Natives Land Act zwang sie, diese Farmen zu verlassen. Das Gesetz bestimmte, dass nicht mehr als fünf Familien auf einer Farm leben durften. Sie verteilten sich also auf andere Farmen. Schlussendlich mussten sie sich auch als sogenannte Drei-Monats-Arbeiter verdingen, um auf einer Farm bleiben zu können. Sie mussten ihre Arbeitskraft verkaufen, um auf einer Farm bleiben zu dürfen. Das war schwer, und das ist ein Grund, warum die Armut bis in unsere Generation reicht. Noch heute, im unabhängigen Südafrika, leben wir unter prekären Bedingungen. Minderheitengruppen wie wir, unsere Sprachen werden in den Schulen nicht unterrichtet. Zu überleben oder auch nur unsere eigene Sprache zu sprechen, ist für uns sehr schwer. Nichtsdestotrotz ist die Lage jetzt seit der Befreiung Südafrikas viel besser, denn die, die für Fördergelder qualifiziert sind, bekommen sie auch. Aber unsere Gemeinschaften leben auch heute noch in den von Armut am stärksten betroffenen ländlichen Gebieten. Florence Handura: Meine Urgroßeltern haben mir erzählt, dass sie über Lieder kommunizierten, mithilfe des Okaumburiro-Liederbuchs, da sie sich nicht in ihren eigenen Sprachen unterhalten durften. Kamutuua Hosea Kandorozu: Ja. Besonders abends. Die, die das Christentum praktizierten, hatten ein – wie ich meine – sehr wertvolles Buch mit Liedern, die sie die ganze Nacht singen konnten. So haben einige von ihnen auch ohne Schulen abends gelernt, ihre eigene Sprache zu schreiben. Ich kann Otjiherero schreiben, da ich alles von ihnen vererbt bekam. Die Lieder haben Botschaften, die die Seelen und Herzen der Menschen berührten und ihnen das Gefühl gaben, dass sie noch am Leben waren. Denn sie konnten nicht glauben, dass sie noch lebten nach all dem.

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Kolonialverbrechen, transgenerationale Exklusion und Aufarbeitung

Natalia Schmidt: Wie groß ist die Exilgemeinschaft der Ovaherero in Südafrika? Kamutuua Hosea Kandorozu: Als die Ovaherero ankamen, waren es nicht viele Menschen. Vielleicht 200 oder 300 Gemeinschaften, die nach Südafrika kamen. Aber mit der Zeit, seit 1907, ist die Bevölkerung in der Limpopo Province gewachsen. In einigen Regionen wie der im Nordwesten gelegenen südafrikanischen Provinz Nordkap leben inzwischen recht viele Ovaherero. Wie viele es genau sind, weiß ich nicht, aber sie sind in der Gegend sogar in der Mehrheit. Insgesamt, wenn wir auch Familien mit Tswana und Angehörige anderer südafrikanischer Bevölkerungsgruppen einrechnen, sprechen wir von 15.000 Menschen, die direkte Nachfahren der Ovaherero in Südafrika sind. Rupert Hambira: Ich würde gerne darüber sprechen, wie die Menschen gestorben sind. Wie er schon sagte, starben viele von ihnen aufgrund der Strapazen. Diejenigen, die von hier aus Richtung Osten geflohen sind, nach Botswana und später Südafrika, wurden zuerst in die Wüste Namib gedrängt, in der es kein Leben gibt, weder heute noch damals. Tausende von ihnen starben in der Wüste. Von dort kamen sie in eine andere Wüste, weniger lebensfeindlich, die Kalahari, in der es jedoch wilde Tiere gab: Löwen, Tiger, Wölfe und alles, was man sich vorstellen kann. So viele von ihnen wurden von diesen wilden Tieren getötet. Sie waren im wahrsten Sinn leichte Beute für sie, menschliche Beute. Viele starben an vergiftetem Trinkwassser. Und einige derjenigen, die zunächst überlebt hatten, starben, als sie in der Diaspora ankamen, oder kurz danach. Viele, viele starben. In Botswana gibt es einen kleinen Ort namens Ersterest, der erste Ort der Ruhe außerhalb der deutschen Herrschaft. Die Herero lebten dort, mein Vater heiratete dort seine erste Frau und sie starb dort. Und er heiratete seine zweite Frau – meine Mutter –, und direkt nach meiner Geburt starb auch sie. Wenn man heute diesen Ort aufsucht, findet man Gräber und nichts als Gräber. Wir denken darüber nach, ob wir diesem Gebiet einen Namen geben und ein Denkmal errichten sollten, um sichtbar zu machen, wie viele Menschen dort ums Leben kamen. Die Menschen sind auch aus anderen Gründen gestorben, zum Beispiel an Tuberkulose, mit der sie sich in den Konzentrationslagern angesteckt hatten. Viele hatten sich mit Tuberkulose infiziert und steckten, sofern sie freikamen und in ihre Gemeinschaften zurückkehrten, andere Menschen an. In Botswana sind sehr viele Leute gestorben. Außerhalb Namibias dürfte die zahlenmäßig größte Hererogemeinschaft in Botswana leben, um die 100.000 Leute, 337

Gespräch mit Rupert Hambira und Kamutuua Hosea Kandorozu

vielleicht sogar 200.000. In Botswana existiert keine einzige Region, in der es keine Hererogemeinschaft gibt. Diejenigen im Norden Botswanas sprechen immer noch ein wenig Otjiherero, auch wenn es sich um eine »setswanisierte« Version handelt. Diejenigen von uns, die am Fluss Molopo im Süden leben, haben unsere Sprache vollständig verloren. Manche schämen sich, sich als Herero zu erkennen zu geben. Denn Herero zu sein ist eine beschämende Identität, es bedeutet, zu einem bezwungenen Volk zu gehören, zu Geflüchteten, die mit leeren Händen kamen. Unsere Vorfahren mussten ja nicht nur für die Weißen arbeiten, sondern auch für unsere afrikanischen Landsleute, so mittellos und verzweifelt waren sie. Gestorben jedenfalls sind die Menschen nach ihrer Ankunft also an vielfachen Ursachen. Das Dorf, in das wir als Erstes kamen, als wir Botswana erreichten, heißt Tsabong. Tsabong bedeutet so viel wie Zufluchtsort. Das Dorf wurde also nach unserer Notlage benannt und nach denen, die aus dem Osten flohen, aus Südafrika, weg von den Kriegen. Wir haben also Glück und wir müssen ein ganz schön zähes Volk sein, dass wir die Deutschen überlebt haben, die Wüsten, die Kälte, die Arbeitslosigkeit, wir haben die diversen Epidemien überlebt und hier sind wir nun, 115 Jahre später, um die Geschichte unserer Vorfahren zu erzählen. Wir schätzen uns glücklich, dass diese Geschichte noch erzählt werden kann. Meine Großmutter erinnerte sich an Namibia mit tief empfundener Nostalgie, sie starb 1970. Sie ist die einzige Person, die ich kannte, die es tatsächlich geschafft hat … Die überlebt hat, die eine direkte Überlebende des Völkermords war. Sie sagte immer: »Wir kommen aus einem Land, in dem …« So konnte sie es am besten in Worte fassen ... »Wir kommen aus einem Land, in dem die Welt endet. Ein Land mit weitem, grenzenlosem Wasser.« Als Kind dachte ich immer, Südwestafrika wäre sehr weit weg. Ich dachte, das wäre irgendwo im Himmel, denn es war so unerreichbar in Gedanken. Unsere Eltern erinnerten uns nicht daran, wo sie herkamen, denn sobald wir darüber sprachen, war da die Erinnerung an die Deutschen. Wir kamen aus einer Gemeinschaft, über die gesagt wurde: »Bring sie uns, tot oder lebendig. Der Kopf eines Hereromannes ist soundso viel wert. Der Kopf einer Hererofrau soundsoviel. Der Kopf eines Hererokindes soundso viel.« Deswegen haben wir die Sprache verloren. Wir haben die Sprache verloren, weil wir dazu gezwungen wurden, sie zu verlieren. Deswegen gaben wir uns Namen wie Januar, Februar, April, September, August, nur so konnten wir uns Halt geben in unserer Identität. Wer damals einen Hererovor- oder -nachnamen hatte, lebte gefährlich. Ich lebe also, genauso wie mein Bruder, in der Diaspora. Wir leben in relativ friedlichen Demokratien, in relativ gut situierten Gemeinschaften. Aber nirgends ist es wie zu Hause. Wo wir leben, sind wir immer noch 338

Kolonialverbrechen, transgenerationale Exklusion und Aufarbeitung

Fremde, wir sind immer noch Geflüchtete. Nichts hat sich geändert. Wir sind immer noch die Verdammten dieser Erde, die bezwungen wurden und die man aus ihrem Land vertrieben hat. Sind wir aus freien Stücken dort, wo wir sind? Nein, wir hatten nie eine Wahl. Wir sind keine Touristen, keine Wanderarbeiter, wir sind Menschen, denen Gewalt angetan wurde und die entwurzelt wurden und die alles verloren haben, was wir einmal waren und was wir hätten werden können. Im Wesentlichen ist es das, was wir sind. Werdet ihr nach Namibia zurückkehren, jetzt, da es unabhängig ist? Nun, die heutige namibische Regierung hat von unserer Unterwerfung profitiert. Es sind Menschen, die sonst nie die Stellung innehätten, die sie heute haben, die heute in der Mehrheit sind, die zugeschaut haben, als wir getötet wurden wie Fliegen. Diese Leute bilden jetzt die Regierung, und das ist nicht die Regierung, das ist nicht das Land, aus dem unsere Eltern geflohen sind. Das ist nicht das Land, das für uns und unsere Nachkommen als Erbe bestimmt war. Diejenigen, die sich mit den Deutschen auf Verhandlungen eingelassen haben. Nicht erst jetzt, sie haben sich schon auf Verhandlungen eingelassen, als wir ausgelöscht werden sollten. Es waren Ovambopriester, die Hand in Hand mit den verschiedenen lutherischen Kirchen und den Deutschen gearbeitet haben, um uns zu ermorden. Sie erzählten uns, dass sie es auf ihrer Flucht in die Wüste vielleicht drei, vier, fünf Tage, maximal eine Woche weit geschafft hätten, dann hätten die Deutschen auf ihren Pferden sie eingeholt und zurück in die Kirche gebracht. Dort wurden sie für einen Monat oder zwei versorgt und dann ganz plötzlich eines Morgens einfach umgebracht. Nur einer oder zwei Bauern überlebten und konnten die Geschichte erzählen. Wissen Sie, heute tragen unsere Frauen diese langen Kleider, was ich mit gemischten Gefühlen sehe. Im Krieg wurden diese Kleider bewusst zum Schutz getragen, da Kinder und jüngere Menschen sich darunter verstecken konnten. Die Deutschen dachten dann: »Das war ja nur eine Frau« und ließen diese eine Frau ziehen und überleben. Das ist, wer wir wirklich, wirklich sind. Ich meine, ich bin auf eine Schule gegangen, auf der meine Sprache nie gesprochen werden wird. Was ist denn Bildung, wenn du als kleiner Junge in die Schule gehst – ihm erging es genauso – und dann gezwungen wirst, Englisch oder die Sprache der vor Ort dominierenden Gruppe zu sprechen. Du musst Prüfungen absolvieren in Sprachen, von denen keine deine Muttersprache ist. Keine dieser Sprachen sprichst du zu Hause. Dass wir es im Bildungssystem überhaupt so weit gebracht haben, grenzt an ein Wunder, denn uns wurde wirklich nichts geschenkt. Diejenigen von uns, die überlebt haben, die wenigen, die überlebt haben, mussten sehr hart arbeiten für diejenigen, die überlebt haben. Ich bin einfach froh, dass ich 339

Gespräch mit Rupert Hambira und Kamutuua Hosea Kandorozu

nicht bitter geworden bin. Ich bin wirklich froh, dass ich nichts suche. Nicht einmal bin ich hier, um Forderungen zu stellen. Ich bin nur hier, um zu fragen: »Wie können wir alle zusammenkommen und mit all dem Schmerz abschließen, den wir erleiden mussten?« Denn wir können nichts tun, um die Verluste rückgängig zu machen, die wir erlitten haben. Kein Geldbetrag, wie hoch er auch sei, kann je die Schmerzen und den Verlust wiedergutmachen, die wir erlitten haben. Wir sind hier, um zu sagen: »Weil du ein Mensch bist, weil du ein Mensch bist, weil du, wie wir, als Ebenbild Gottes geschaffen wurdest. Weil du ein Christ bist, lass uns gemeinsam eine Lösung finden.« Und die lutherische Kirche darf niemals das Leid vergessen, das wir durchlitten haben. Denn diese Kirche kam zuerst und sagte den Deutschen: »Hier ist unbesetztes Land.« Die deutsche Kirche ist genauso schuldig wie die deutsche Regierung an dem, was unsere Leute durchgemacht haben. Ich wünschte, ich könnte an das Bewusstsein der christlichen Kirche in Deutschland appellieren, von der sie ein Teil sind. Wir setzen auf sie und darauf, dass sie uns helfen, mit dem Leid abzuschließen, das unsere Leute durchgemacht haben. Wir hoffen einfach, dass es nicht nochmals passieren wird, nicht nur den Herero, sondern niemandem, dass nie wieder 85 Prozent einer Bevölkerung in der denkbar grausamsten und unmenschlichsten Weise ausgelöscht werden. Und wir hoffen, dass unsere Kinder nicht vergessen, was geschehen ist, damit auch wir es nicht morgen anderen antun werden. Ich bin hier, um das heute zu sagen, und ich hoffe, dass wir eine reife Lösung finden, die der Zeit, in der wir leben, angemessen ist, die den Fortschritten angemessen ist, die wir in Wissenschaft, Technologie und Bildung gemacht haben, dass wir eine Lösung finden, die in die heutige Zeit passt. Die Deutschen selbst haben die Berliner Mauer zu Fall gebracht, da sie der Meinung waren: »Diese Vergangenheit wurde uns aufgezwungen.« Warum sollten sie nicht anderen Leuten zuhören, wenn sie sagen: »Was ihr uns angetan habt, war falsch. Wir müssen die Mauer, die ihr zwischen euch und uns errichtet habt, abtragen, damit die nächste Generation, die Generation unserer Kinder, sich nicht gegenseitig an die Gurgel geht.« Meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, war ein kleines Baby, als sie flüchteten. Ein Mann war auch dabei, mein Urgroßvater, und seine Schwester und seine Frau. Sie waren zu dritt, mein Urgroßvater, seine Frau und seine Schwester. Morgens, am ersten Tag, als sie in der Wüste aufwachten, erschossen die Deutschen den Mann. Die zwei Frauen mit dem Baby entkamen. Sie rannten den ganzen Tag. Um die Mittagszeit setzten sie sich hin, mit der Hererokalebasse, um daraus Milch zu trinken. Die zwei Frauen und das Baby. Das Baby hatte sehr helle Haut, obwohl meine Urgroßmutter mit einem sehr dunklen Herero verheiratet war. Sie flohen 340

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also und nachdem sie die Milch aus der Kalebasse getrunken hatten, ruhten sie sich aus. Sie vergaßen die Kalebasse und gingen weiter. Nach einer Weile sagt meine Urgroßmutter zu ihrer Schwägerin: »Schwester, ich habe meine Kalebasse vergessen.« Sie rennt also zurück, um sie zu holen, und in dem Moment, als sie den Rastplatz erreicht, erschießen die Deutschen auch sie. Meine Großmutter entkam also als Baby mit ihrer Tante nach Botswana, wo sie auch aufwuchs, und brachte meinen Vater und seine zwei Geschwister zur Welt. Wir sind nach wie vor Geflüchtete. Wir sind keine in der Diaspora Lebenden, das ist ein beschönigendes Wort. Wir können nicht nach Namibia zurückkehren, weil die Bedingungen dafür nicht ausreichen. Wir sind keine in der Diaspora Lebenden, wir sind Geflüchtete, wie unsere Eltern. Sie waren Geflüchtete, also sind auch wir Geflüchtete, auch 120 Jahre später noch. Man gibt uns alle möglichen anderen Namen, aber das ist nicht richtig. Die Tatsache, dass ich hierherkommen kann, die Tatsache, dass ich nicht die Voraussetzungen der heutigen UN-Charta für Flüchtlinge erfülle, macht mich dennoch nicht weniger zu einem Geflüchteten. Ich bin ein Geflüchteter. Ich bin ein Kind Geflüchteter. Ich bin ein Geflüchteter. Florence Handura: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie vom Befreiungskrieg hören? Unsere Regierung erkennt Menschen nur als Kriegsveteranen an, wenn sie Namibia 1963 verlassen haben. Wenn sie nun, da Namibia unabhängig ist, dorthin zurückkehren, bekommen sie Geld, 250.000 [NAD], um ihr eigenes Geschäft zu eröffnen, einige erhielten auch Farmen und Häuser. Sie dagegen sind im Exil, man kann sagen Exil, da Sie ja Zuflucht in all diesen fremden Ländern gesucht haben. Wenn Sie nach Namibia zurückkehren wollen, bekommen Sie all das nicht. Wie geht es Ihnen damit? Rupert Hambira: Nun ja, wenn es irgendeinen Widerstand gegen die Deutschen gab, dann ging er von meinen Vorfahren aus. Sie waren die ersten, die aufstanden und sich gegen die Deutschen wehrten. Sie legten den Grundstein für den späteren Befreiungskrieg unter Sam Nujoma und seinen Leuten. Aber wir bekommen dafür praktisch keine Anerkennung. Das ist wirklich bedauernswert. Wissen Sie, kürzlich haben wir versucht, eine Völkermordstiftung in Botswana anzumelden. Die botswanische Regierung schrieb uns einen Brief, den ich immer noch habe, in dem es heißt: »In Botswana hat es niemals einen Genozid gegeben.« Wenn wir nach Namibia kommen, sagt die namibische Regierung: »Ihr seid keine Bürger Namibias.« Wir sind schlicht staatenlos, wenn Botswana sagt: »Wir können in dieser Sache nicht für euch einstehen« und Namibia ebenfalls sagt: »Wir 341

Gespräch mit Rupert Hambira und Kamutuua Hosea Kandorozu

können das nur für namibische Bürger tun«, vielleicht nicht einmal zu Unrecht. Die namibische Regierung will unsere Existenz nicht anerkennen und dass wir im Exil sind. Obwohl ich seit 29 Jahren – seit der Unabhängigkeit Namibias – in Botswana lebe und ein in der Gemeinschaft ziemlich bekannter Pastor bin, wurde ich zu keinem einzigen Unabhängigkeitsempfang im namibischen Hochkommissariat eingeladen. Erkennen sie unsere Existenz in Botswana an und dass wir nicht als Touristen gekommen sind, sondern als Opfer eines schrecklichen Krieges? Nein, tun sie nicht. Sie tun es nicht. Es ist bequem für sie, uns nicht anzuerkennen. Also ja, selbst auf dieser Basis, selbst dann bitte ich nicht darum. Selbst dann hoffe ich tief in meinem Herzen, dass es, wenn ich nach Namibia zurückkehren möchte, nicht so sein wird, dass man mir sagt: »Du musst dich in Grootfontein niederlassen.« Wenn ich nach Namibia zurückkehre, muss ich meine Verwandten suchen, ich muss sehen, wo meine Großmutter herkam, wo mein Großvater herkam, ich muss sehen, ob ich bei den Leuten Anschluss finde und zurückkehren kann, denn ich kehre ja zurück zur Familie, zu Leuten, die meiner Familie nah waren. Ich will nicht zurückgehen und dann in eine andere Art von Konzentrationslager gesteckt werden, wo die Regierung entschieden hat, wie und wo ich mich niederlassen darf. Dahin will ich nicht zurück. Kamutuua Hosea Kandorozu: Sie haben eine sehr relevante Frage gestellt – zur doppelten Staatsangehörigkeit. Wir sagen, dass wir vor dem Krieg fliehen mussten. Also muss die Regierung in der Lage sein, die namibische Verfassung zu ändern, um doppelte Staatsangehörigkeit zu erlauben. Denn einige von uns sind nie in Namibia gewesen. Unser ganzes Leben haben wir in fremden Ländern verbracht, wir können also auch nicht einfach unsere Staatsangehörigkeit in diesen Ländern aufgeben. Die Verfassung muss doppelte Staatsangehörigkeit erlauben, die es den Leuten außerhalb des Landes, den Ovaherero- und Namakriegsflüchtlingen ermöglicht, die Staatsangehörigkeit zu beantragen, sofern sie das wollen. Jetzt sagen sie, dass wir nicht patriotisch genug sind, um die Staatsangehörigkeit zu erhalten. Für mich ist gerade das Gegenteil der Fall, darin liegt die Lüge. Wir sind sehr patriotisch, unsere Familien, unsere Vorfahren haben uns von Namibia erzählt und davon, wie sie damals gelebt haben. Sie waren friedlich. Wir in der Diaspora, wir sind auch friedlich Namibia gegenüber. Niemand ist patriotischer als wir, die wir in der Diaspora leben. Die Situation erlaubt nicht uns allen, nach Namibia zurückzukehren, um dort zu leben. Wir haben nichts gegen die, die das tun wollen, wir unterstützen sie. Aber selbst jetzt mit der Unabhängigkeit ist es noch so, dass die Gegenden, in denen unsere Leute Land bekommen haben, nicht erschlossen sind, die 342

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Gegenden von Gam. Wir wollen nicht schon wieder in eine schwierige Lage kommen, denn wir haben uns schon in den verschiedenen Ländern, in denen wir leben, entbehrungsreichen Umständen angepasst. Deswegen setzen wir uns für doppelte Staatsangehörigkeit ein, die zu unseren Lebzeiten noch kommen wird. Warum erhalten die Deutschen, die Weißen, die doppelte Staatsangehörigkeit und wir, die Schwarzen, nicht? Wir sind der Ansicht, dass Namibia zu Afrika gehört hat, und Namibia sollte von uns in der Diaspora wissen. Wir wollen keine Bürger zweiter Klasse sein. Wir wollen teilhaben an der Demokratie in Namibia, so patriotisch sind wir, und niemand hat das Recht, über uns zu urteilen und zu behaupten, wir seien nicht patriotisch. Rupert Hambira: Wenn Abstammung über Nationalität entscheidet, dann sind wir auch Deutsche, wie Sie. Wir sind Nachfahren deutscher Männer, die hierhergeschickt wurden, um das Deutsche Reich und seine Herrschaft auszuweiten. Wir sind also auch Deutsche, ein bisschen dunkler vielleicht in der Hautfarbe, aber wer sagt, dass wir keine Deutschen sind? Wir verlangen daher nicht nur die namibische Staatsangehörigkeit, sondern auch, dass Deutschland uns anerkennt als Menschen, die vielleicht in das Land ihrer Großväter zurückkehren. Wenn ein deutscher Mann mit einer afrikanischen Frau und mit einer europäischen Frau geschlafen hat, dann haben beide Kinder dieselbe Abstammung. Wir haben auch eine deutsche Abstammung. Wir sind ein Teil des Teils von Deutschland, den die Deutschen vernachlässigt haben. Diejenigen von uns mit Herero- und Namawurzeln haben oft auch deutsches Blut in ihren Adern. Das sollte anerkannt werden. Karina Theurer: In Deutschland ist bisher noch kaum bekannt, wie viele Frauen hier vergewaltigt wurden. Könnten Sie noch etwas zu den Auswirkungen sagen, die die Vergewaltigungen der Frauen hatten – auch als dann Kinder zur Welt kamen, deren Väter diese Gewalt verübt haben? Kamutuua Hosea Kandorozu: Viele Frauen wurden vergewaltigt. Sie müssen wissen, dass die deutschen Soldaten, als sie nach Südwestafrika kamen – das waren ja nur Männer, sie kamen allein, ohne ihre Familien. Die Familien kamen dann viel später nach, Ende der 1920er-Jahre, da kamen auch die meisten der Frauen. Aber die Mehrzahl der Soldaten zwangen die Frauen hier, mit ihnen zu schlafen. Da ging es nicht um Liebe oder so. Uns wurde erzählt, dass die meisten der Deutschen Frauen sogar vergewaltigten. Reverend Hambira hier hat also ganz recht, dass wir nicht einmal 343

Gespräch mit Rupert Hambira und Kamutuua Hosea Kandorozu

sagen können, wir wollen nur die namibische Staatsbürgerschaft. Ein Großteil der Menschen hier könnte auch ohne Weiteres deutsch werden aufgrund dessen, was unsere Vorfahren einander angetan haben. Rupert Hambira: Natürlich haben wir keine Zahlen, und das geht weit über das hinaus, was wir anstreben. Wissen Sie, die Sache ist die: Die Geschichte der Herero in Namibia ist gut erforscht, aber die Geschichte der Herero in der Diaspora kaum. Dieses Kapitel wurde noch überhaupt nicht aufgeschlagen. Wir wissen also nicht genau, um wie viele Menschen es hier geht. Was ich aber von meinen Großeltern ganz klar mitbekommen habe, ist, dass Frauen, die Kinder mit helleren Hautfarben zur Welt brachten, aus diesem Grund zu Opfern wurden. Sie waren die ersten unter den Frauen, die getötet wurden: entweder schon während sie ein Kind erwarteten oder direkt nach der Geburt. Beide, Mutter und Kind, wurden getötet. Meine eigene Großmutter und ihre Eltern wurden verfolgt, weil sie ein Kind mit hellerer Hautfarbe hatten. Wir können also die Zahl der Frauen gar nicht wirklich schätzen, weil sie von den Deutschen sofort umgebracht wurden. Sie müssen wissen, dass die Herero zu Fuß auf der Flucht waren. Und zugleich gab es 1904 in Namibia bereits gute Zugverbindungen. Die Deutschen waren entweder zu Pferd unterwegs oder mit noch besseren Transportmitteln, um die Herero zu verfolgen. Außerdem hatten sie Schusswaffen, anders als viele Herero, die Schusswaffen nur ergattern konnten, wenn sie es schafften, eine Gruppe von Deutschen zu überwältigen und ihre Waffen zu nehmen. Also ja, viele von uns wurden umgebracht. Herero halten traditionell Vieh. In Botswana kamen sie mit kaum einer einzigen Kuh an. Das Vieh, das sie jetzt haben, haben sie dort bekommen. Ihr gesamter Viehbestand war verloren. Kühe, Ziegen, Schafe, das war alles weg. Sie müssen verstehen, dass die Tatsache, dass sie so verarmt und verzweifelt ankamen, auch bedeutete, dass sie die ersten Opfer der Wanderarbeit in Südafrika waren. Sie arbeiteten in Kuruman, Kimberley oder Vryburg in Asbest- oder Manganminen. Sie wurden krank aufgrund der Luft, die sie bei der Arbeit atmeten, und starben. Viele starben. Jetzt gibt es sogar in Botswana und Südafrika einen Aufruf, damit alle, die wissen, dass ihre Eltern für diese Minen gearbeitet haben, bestimmte Leistungen beantragen können. Das spiegelt doch einfach die Geschichte wider, dass in unserem Teil der Welt praktisch alle Männer, die von hier weggegangen sind oder direkte Nachfahren dieser Menschen waren, aufgrund der Arbeitsbedingungen in Südafrika starben.

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Kolonialverbrechen, transgenerationale Exklusion und Aufarbeitung

Natalia Schmidt: Sie haben über die Arbeit in den Minen gesprochen. Ich habe mich gefragt, was etwa die Kalahari (Omaheke) symbolisiert: Ist das ein heiliger Ort für Sie? Natürlich ist das Land zu großen Teilen traumabelastet, aber ich habe gelesen, dass dort Minen gebaut werden sollen. Solange der Völkermord nicht anerkannt wird, wirkt das auf mich wie eine Wiederholung. Wie empfinden Sie das? Rupert Hambira: Ich würde gerne eine Gruppe von Menschen zusammenbringen, ungefähr in meinem Alter, sei es auch nur einmal, vielleicht fünf oder zehn Personen, und mit ihnen nach Namibia kommen und durch die Wüste nach Tsabong gehen, um nachzuempfinden, wie sich die Menschen damals gefühlt haben müssen. Einfach nur gehen. Frauen und Kinder waren dazu in der Lage. Wenn also zehn oder so von uns losgingen und sich auf ihre Spuren bis nach Botswana begeben könnten, und sei es nur, um den vielen zu sagen, von denen wir nicht einmal wissen, wo sie liegen, einfach nur um ihnen zu sagen: »Wir sind hier, wir haben überlebt und wir versuchen immer noch, eure Geschichte zu erzählen.« Die Kalahari wird für die Herero für immer ein heiliger Ort sein – wegen der vielen Frauen, Kinder und Männer, wegen der vielen, die verletzt wurden und dennoch weiter flohen und in der Wüste starben. Viele Leute kamen mit abgehackten Daumen, mit abgehackten Füßen, abgehackten Ohren, viele erreichten ihre Zufluchtsorte mit solcherlei Malen. Selbst für diejenigen von uns, die wirklich überlebt haben, wenn du nach Südafrika oder nach Botswana gehst und ich sage: »Das hier ist mein Cousin«, dann sage ich eigentlich nur, dass das die Person ist, die gemeinsam mit meinen Eltern ankam, denn in Wirklichkeit weiß niemand, wer mit wem verwandt ist von den Menschen, die flohen. Man wurde verwandt dadurch, dass man gemeinsam auf der Flucht war. Verstehen Sie, was ich meine? Es ist wirklich nur ein ganz kleiner Teil der eigentlichen Gemeinschaft, der flüchtete. Wir sind also nicht einmal sicher, mit wem wir verwandt sind. Manchmal heiraten Leute, die nah verwandt sind, aber niemand hat es ihnen je gesagt. Sie konnten nie herausfinden, wer wer ist. Ich hoffe einfach auch, dass wir ein genetisches Mapping der Herero in der Diaspora durchführen können, damit wir herausfinden können, wer wer ist, zum Beispiel auch, wer von uns deutsch ist. Manche von uns haben vielleicht nur deswegen eine hellere Hautfarbe, weil die Buren aus Südafrika unseren Frauen das Gleiche angetan haben. Vielleicht brauchen wir eine Art genetischer Kartografie, um zu verstehen, wer wir sind, denn im Moment wissen wir es einfach nicht. So sehe ich die Dinge. Ich hoffe, dass wir noch in meiner Lebenszeit die Last, die unsere Eltern tragen mussten, und die Last, die wir immer noch 345

Gespräch mit Rupert Hambira und Kamutuua Hosea Kandorozu

tragen, ablegen können. Und ich hoffe, dass meine beiden kleinen Jungen meine Erfahrung nicht mit in die Zukunft nehmen müssen. Dass sie und die deutschen Kinder einander wo auch immer begegnen können, dass sie einander die Hände reichen und gemeinsam als Brüder und Schwestern weitergehen statt als Vertreter verfeindeter Lager wie heute. Wir haben als Freunde begonnen, wir haben euch als Freunde empfangen, aber dann seid ihr mit euren Waffen auf uns losgegangen. Lasst uns wieder Freunde werden. Dieses Treffen zeigt, dass wir schon auf dem Weg sind. Unser Treffen als Freunde, können wir es auch als Freunde beenden? Oder vergesst ihr uns, weil ihr neue Freunde in Namibia gefunden habt? Kamutuua Hosea Kandorozu: Ich würde auch gerne noch etwas Abschließendes sagen: Sie haben darüber gesprochen, dass der Krieg zwischen den Ovaherero und den Deutschen in Schulen in Deutschland kein Thema ist und dass die jüngere Generation nichts über diesen Völkermord weiß. Wir wollen dazu aufrufen, dass die Geschichte in Deutschland erzählt werden muss. Das ist unsere Bitte an Deutschland. Ich hatte das Glück, deutsche Studierende in meiner Gewerkschaft empfangen zu können, in der National Union of Mineworkers in Südafrika. Ich habe ihnen gezeigt, wo die Ovaherero gewohnt haben, denn sie wussten das nicht. Ich habe ihnen die Website gezeigt, damit sie sich informieren können, wofür sie sehr dankbar waren. Sie haben mir erzählt, dass sie nichts über den Völkermord wussten. Es stimmt, dass es an der Zeit ist, dass all das in den Medien erzählt wird. Ich möchte zum Abschluss gerne sagen: Danke, dass Sie uns die Möglichkeit geben, unsere Geschichte zu erzählen. Vielleicht gibt es ja am Ende einen dokumentarischen Film – zu unserem eigenen Besten und zum Besten der Deutschen. Vielen Dank. Das Gespräch führten Florence Handura, Natalia Schmidt und Karina Theurer.

Übersetzung von Miriam Frank. Es lektorierte Karina Theurer.

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Macht durch Deutungshoheit: Eigentum und Land als zentrale Fragen materialer Dekolonisierung Gespräch mit Simon Masodzi Chinyai

Simon Masodzi Chinyai wurde 1930 geboren und steht der Gemeinschaft der Chinyai vor, die seit dem 17. Jahrhundert in der Region Chinyaieni in Chimanimani im südöstlichen Simbabwe lebt. Im Verlauf der britischen Kolonisierung, aber auch während des gesamten 20. Jahrhunderts verloren Simbabwes autochthone Gesellschaften nahezu vollständig ihr Land. Teile Chinyaienis befinden sich heute im Eigentum von Border Timbers Limited (BTL), einem Unternehmen, das mehrheitlich der deutsch-schweizerischen Familie von Pezold gehört. Die Umverteilung von Land war im unabhängigen Simbabwe als gesellschaftlich und politisch notwendig anerkannt, wurde jedoch stark erschwert durch die verfassungsrechtlichen Grundsätze, die im Rahmen des Lancaster-House-Abkommens 1979 ausgehandelt worden waren. Damals verfügten in Simbabwe etwa 6.000 weiße Farmer über 15 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche. Angesichts zunehmender sozialer Unruhen und einer Welle von Landbesetzungen beschleunigte die Regierung mithilfe von entschädigungslosen Zwangsenteignungen im Jahr 2000 ihr Landreformprogramm. BTL und die von Pezolds gingen gegen die Enteignungen ihrer Holzplantagen in nationalen und internationalen Foren vor. Chief Chinyai berichtet vom andauernden Kampf der ChinyaiCommunity um die Anerkennung ihrer kollektiven Landrechte und davon, welche Auswirkungen die Auseinandersetzungen mit BTL auf ihren Alltag haben. Wie sind Sie Oberhaupt der Chinyai geworden? Nach dem Tod von Chief Joseph Hlebani Chinyai wurde ich 2009 zum Oberhaupt von Chinyai Village ernannt. Joseph Hlebani war mein Onkel; vor ihm war mein Vater Mwaparadza Oberhaupt. Meine Ernennung erfolgte nicht nur durch die Mitglieder der Gemeinschaft, sondern auch durch spirituelle Medien, die mich als zukünftigen Chief ausmachten, um unser Volk anzuführen. Die Älteren brachten bei der Amtseinführung Vieh und auch andere Leute steuerten etwas bei. Die Zeremonie war sehr schön, alle Älteren waren da, der oberste Chief, Chief Musha, einige weitere Funktionsträger und verschiedene andere Chiefs. 347

Gespräch mit Simon Masodzi Chinyai

Wie sieht Ihre Rolle aus? Wie verteilt die Gemeinschaft ihr Land? Wenn neue Mitglieder in Chinyai Village aufgenommen werden, tue ich das normalerweise mit der Hilfe meines Rates, der aus meiner Polizei und meinen Beratern besteht. Als Oberhaupt muss ich unser Land sehr gut kennen und wissen, wo seine Grenzen sind. Zusammen mit dem Rat bin ich im gesamten Gebiet unterwegs, um zu sehen, wo Leute siedeln und Häuser bauen können. Der Rat ist verpflichtet, Leute, die neu ankommen, zu empfangen. Ich setze mich mit den Personen hin und frage, woher sie kommen, welcher Art ihre Probleme sind, warum sie ihre Gegend verlassen und in unser Gebiet kommen. Und dann gebe ich ihnen ein Stück Land, auf dem sie gut leben können. Normalerweise sind das vier bis fünf Hektar. Die Größe der Familie berücksichtigen wir dabei nicht wirklich, alle bekommen gleich viel. Wir müssen so viel Land geben, dass selbst die Kinder von morgen noch dort leben können. Aus Ausgleichsgründen muss jede Person, die aufgenommen wurde und ein Stück Land zum Leben bekommen hat, zwei Tontöpfe mit traditionellem Bier brauen, um zu zeigen, dass sie sich an alle Regeln und Vorschriften von Chinyai Village halten wird. Wir rufen die Nachbarn dieser Person zusammen, trinken mit ihnen und informieren sie über die Regeln und Vorschriften der Chinyai. Dann wird sie zu einem Mitglied unserer Gemeinschaft und muss ihr gegenüber loyal sein. Alle müssen die sie umgebenden natürlichen Ressourcen respektieren, alle sollen mit gutem Beispiel vorangehen und in der richtigen Weise mit ihren Mitmenschen in der Gemeinschaft leben. Wenn sie das Land nicht gut nutzen, wenn sie willkürlich Bäume fällen und so den Boden zum Erodieren bringen, werden sie vom Rat einberufen. Wenn eine Person sich anderen gegenüber nicht angemessen verhält, berufe ich meinen Rat ein, setze mich mit der Person hin und spreche mit ihr, damit sie sich in Zukunft hoffentlich mitmenschlicher verhält. Wenn jemand zum dritten Mal vorgeladen wird, wird er beziehungsweise sie gebeten, das Land der Chinyai zu verlassen. Die Chinyai sind eine kulturell eigenständige Rozvigruppe. Während des Mutapa-Manyika-Kriegs, der in den 1670er-Jahren begann, kämpften sie gegen die Portugiesen. Nachdem die Kolonialmacht aus dem Mutapastaat vertrieben worden war1, sprach ihnen Mwene Mutapa im Gegenzug für ihren Einsatz Land in der Region zu. Im späten 19. Jahrhundert drang die British South Africa Compa1 D. N. Beach. The Shona and Zimbabwe 900–1850: An Outline of Shona History. London, Heinemann: 1980, S. 134; schriftliche Erklärung von Phineas Zamani

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ny (BSAC) unter Cecil Rhodes mit einem Mandat der britischen Krone in die Region ein, was zur Gründung Südrhodesiens und zu 90 Jahren weißer Minderheitenherrschaft führte.2 Unter der Kolonialregierung mussten indigene Bevölkerungsgruppen Zwangsarbeit leisten und wurden exorbitant besteuert; zudem wurde ihnen ihr Viehbestand entweder zu niedrigen Preisen zwangsweise abgekauft, oder er wurde konfisziert – unter Androhung der Vertreibung aus dem Gebiet.3 Ab den 1950er-Jahren wurden weite Landstriche in Chimanimani zu Holzplantagen ausgebaut, ursprünglich von der BSAC selbst.4 Bis 1959 wurden die Chinyai gezwungen, in Arbeitersiedlungen oder überfüllte Reservate zu ziehen. Einige zogen sich in ein Teilgebiet von Chinyaieni, nach Makotowe, zurück.5 Wie haben Sie während der Kolonialzeit gelebt? Ich wuchs bei meinen Eltern in Chinyai Village auf, habe aber auch einige Zeit anderswo verbracht. Als kleiner Junge arbeitete ich außerhalb von Chinyai Village. Mehrere Male zog ich weg und wieder zurück. Ich wurde von John Ball als »Baumschulenjunge« angestellt. Herr Ball war der erste Manager der Holzplantagen und wollte an einer bestimmten Stelle eine Baumschule aufbauen. Er ernannte meinen Vater zum Leiter der Baumschule und ich half meinem Vater. Welche Erinnerungen haben Sie an die Zeit, als die ersten Pinien angepflanzt wurden? Als die Baumschule eröffnet wurde, sagte John Ball, dass fünf Ältere ihm jeweils eine Milchkuh geben müssten, damit er mit dem Ertrag der Milch den Wurzeldip bezahlen könne. Wenn eine Kuh keine Milch mehr gab, wählte er fünf neue Familien aus, die Milchkühe hergeben mussten, damit er die Chemikalien bezahlen konnte. Auf der Thornton Farm – in der Ge-

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Ngorima, 7. Juli 2010, Rn. 5. [Anm. d. Hg.: Alle im Folgenden unter Angabe von Randnummern zitierten schriftlichen Erklärungen von Personen liegen den Gesprächspartnern Christian Schliemann und Ciaran Cross vor.] Schriftliche Erklärung von Thomas Chikukwa, 2. November 2000, Rn. 5; schriftliche Erklärung von Jameson Mupodyi, Rn. 10–15. Vgl. auch Jocelyn Alexander, The Unsettled Land: State Making and the Politics of Land in Zimbabwe, 1893–2003, Ohio University Press: 2006, S. 37. Schriftliche Erklärung von Siyapeya Njini Chinyai, 4. Juni 2007, Rn. 18–19; schriftliche Erklärung von Itai Chiinyai, 3. Mai 2003, Rn. 9–14. Border Timbers Ltd. Website: www.bordertimbers.com/about.php. Schriftliche Erklärung von Itai Chinyai, 3. Mai 2003, Rn. 14; schriftliche Erklärung von Joseph Hlebani Chinyai, 18. November 2001, Rn. 10–11.

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gend, die wir als Gadyadzani kennen – richtete er eine Molkerei ein. Als dann alles fertig war, sagten sie, wir bräuchten kein Vieh mehr, alles Vieh müsse verkauft werden … Der Weiße, der das ganze Vieh kaufte, wurde Shiri Muputa genannt. Zur selben Zeit wurden Leute aus Chinyai Village und auch aus anderen Gegenden vertrieben. Ihnen wurde gesagt, sie sollten gehen. Wenn sie für die Firma arbeiteten, sollten sie in die Arbeitersiedlung gehen, andere wurden in felsige Gegenden wie Rusitu und Biri Iri geschickt. Die Weißen nahmen sich das gesamte Vieh und rechtfertigten das, indem sie sagten, wenn wir wegzögen, dürften wir das Vieh nicht mitnehmen. Als in der Baumschule der Zeitpunkt kam, zu dem umgepflanzt werden musste, befahlen sie den Leuten, alle heimischen Bäume zu fällen. Dann sollten sie weggehen, und sie begannen, die Reihen für die Anpflanzung der Pinien abzustecken. Als die Setzlinge gepflanzt wurden, sollten wir in die Arbeitersiedlung gehen. Wer sich weigerte, wurde weggeschickt. Ich habe das alles miterlebt, obwohl ich so jung war. Zu dieser Zeit arbeitete ich in Mr. Balls Küche. Wieviel vom Gebiet Chinyaienis war von den Baumpflanzungen betroffen? Alles außer Makotowe. Dieses Gebiet, das in den Bergen liegt, wurde nicht angerührt. Dorthin ging auch mein Vater, als er sich weigerte, Chinyaieni zu verlassen. Ihm wurde gesagt, er könne bleiben, aber er dürfe kein Feuer machen. Einige der Chinyai gingen in die Arbeitersiedlung und arbeiteten für John Ball. Andere gingen ebenfalls in die Berge und blieben dort. Wie muss man sich die Arbeitersiedlung vorstellen? Wie waren die Lebensbedingungen dort? Ziemlich schlecht. Es gab Häuser, einige waren bedeckt mit Stroh, einige waren aus Ziegeln gebaut. Sobald die Leute dort waren, mussten sie arbeiten. Davor hatten sie ein entspanntes Leben gehabt, in der Arbeitersiedlung wurden sie zusammengepfercht. Und jeden Tag muss man zusehen, woher man sein Essen bekommt. Aber wie macht man das, wenn man kein Feld hat? Woher bekommt man das Maismehl? Es gibt kein Feld. Mit anderen Worten: Das Geld, das den Arbeitern gezahlt wurde, genau dieses Geld sollte wieder im Laden genau desselben weißen Farmbesitzers landen. Nur dort konnten die Leute ihr Maismehl und ihr Gemüse oder was auch immer sie brauchten einkaufen. Musste man für das Unternehmen arbeiten, wenn man dort lebte? In der Siedlung lebten nur Arbeiter und ihre Familien.

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Macht durch Deutungshoheit

BTL wurde 1979 gegründet; heute umfassen die Plantagen des Unternehmens nahezu 50.000 Hektar.6 Als die Plantagen in Chinyaieni angelegt wurden, weigerten sich einige der Chinyai – darunter der Vater des derzeitigen Oberhaupts –, ihr Land zu verlassen. Sie lebten und bewirtschafteten daraufhin Makotowe, die bereits erwähnte Gegend in den Bergen.7 Im November 1999 kehrte eine Gruppe Chinyai zurück in die übrigen Gebiete von Chinyaieni, um auch dort wieder zu leben.8 Im Jahr 2000 boten die Chinyai gemeinsam mit anderen indigenen Gruppen an, die Plantagen zusammen mit dem Unternehmen und dem Staat zu bewirtschaften. Wussten Sie über die Veränderungen im Unternehmen Bescheid, zum Beispiel über ihren Übergang von der British South Africa Company (BSAC) zu Border Timbers Limited? Ja, ich habe eine Veränderung festgestellt, denn unter der BSAC wurden Arbeiter als Dauerarbeiter betrachtet. Bei BTL demgegenüber sind es Zeitarbeiter, die den Großteil der Arbeit machen. In den 1990er- und 2000er-Jahren gab es zwischen den Chinyai und BTL Bemühungen, den Zugang zum Land zu verhandeln. Was ist genau passiert? BTL war stark in die Amtseinführung unseres Oberhaupts Joseph Hlebani Chinyai involviert. Das Unternehmen half sowohl bei den Vorbereitungen als auch bei der eigentlichen Zeremonie. Es schien fast, als würden sie ihn als Anführer des Gebiets anerkennen. Wir dachten, wir werden als Volk wahrgenommen, weil sie uns bei den Feierlichkeiten halfen und sie damit tatsächlich ausdrücken wollten, dass wir gut zusammenarbeiten können. Aber zu unserer Überraschung wollten sie überhaupt nicht mit uns arbeiten. Sie nannten uns »Besetzer« und sagten, dass sie uns nicht einen einzigen Zentimeter Land überlassen würden. Das ist für uns sehr verwirrend, bis zum heutigen Tag. In den 2000ern führte die Regierung Simbabwes Gesetzes- und Verfassungsänderungen durch, um im großen Stil Enteignungen von Land für Wiederansiedlungen zu ermöglichen, wobei den jeweiligen vormaligen Eigentümern jeglicher Anspruch auf Entschädigung abgesprochen wurde. Dies wurde explizit als Folge des

6 Border Timbers Ltd. Website: www.bordertimbers.com/about.php. 7 Schriftliche Erklärung von Simon Masodzi Chinyai, 20. Mai 2009, Rn. 22–35. 8 Schriftliche Erklärung von Joseph Hlebani Chinyai, Juni 2002, Rn. 4a.

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kolonialen Erbes bezeichnet und vor diesem Hintergrund gerechtfertigt. Dementsprechend wurde Großbritannien – die frühere Kolonialmacht – als für jegliche Kompensationsansprüche zuständig ausgemacht. Der Umfang der Landneuverteilung in dieser Zeit war dramatisch: Vor 1999 wurden um die 3,4 Millionen Hektar neu vergeben. Zwischen 2000 und 2009 wurden zehn Millionen Hektar Land geschätzten 169.000 Farmern formal übertragen.9 Bei der Umverteilung gab es zwei Kategorien: A1 für die Ansiedlung von Kleinbauern, A2 für die Übertragung großer Flächen landwirtschaftlich nutzbaren Landes für kommerzielle Zwecke. Knapp 20 Jahre später sind immer noch viele Fragen zu Umverteilung und Entschädigung ungeklärt. Welche Wirkung hatten die staatlichen Enteignungen vor Ort? Wir waren mit der Intervention der Regierung ziemlich zufrieden, denn die Regierung hat uns das komplette Gebiet von Chinyai Village übertragen und gesagt, wir könnten uns dort ansiedeln. Wir waren glücklich, weil wir fanden, dass wir damit zu unserem traditionellen Grund und Boden zurückkehren und ohne Angst unsere traditionellen Zeremonien praktizieren können, in Respekt vor unseren Vorfahren. Wurde das Land den Chinyai zugesprochen oder anderen? Nein. Einige A2-Stücke wurden abgesteckt. Das hat die Kreisverwaltung gemacht, die für die Zuteilung der A2-Stücke in der Region zuständig ist. Die A2-Angebotsbriefe verbleiben im Moment bei den Begünstigten, aber unserer Erinnerung nach wurden diese Angebote später annulliert. Kein Mitglied der Chinyai hat einen solchen Angebotsbrief erhalten. Als Chiefs haben wir dafür – für die Verteilung – natürlich unsere eigenen Methoden. Die A2-Stücke sind, als würde man etwas erzwingen wollen, was einfach nicht passt.

9 Die offiziellen und inoffiziellen Zahlen variieren leicht. Auch berücksichtigen sie solche Landbesetzungen nicht, bei denen es nie zu einer offiziellen Landübertragung kam. Zu den Zahlen: Moyo, Sam: Land Reform and Redistribution in Zimbabwe Since 1980. In: Sam Moyo und Walter Chambati (Hg.): Land and Agrarian Reform in Zimbabwe. Beyond White-Settler Capitalism. Dakar: Codesria & Aias, 2013, S. 42; auch Hanlon, Joseph, Majengwa, Jeannette, und Smart, Teresa: Zimbabwe Takes Back Its Land. Virginia: Kumarian Press, 2013, S. 7–12.

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Hat sich von denjenigen, die A2-Angebotsbriefe erhalten haben, irgendjemand an Sie als Chief gewendet? Sehr wenige. Zwei oder drei. Diese Leute – wir leben jetzt gemeinsam mit ihnen, wir haben die Situation erklärt und sie befolgen nun unsere Regeln. Sie haben akzeptiert, dass sie vier oder fünf Hektar bekommen, so wie alle anderen auch. Aber bei A2-Stücken geht es um mehr, es sind 40 oder 50 Hektar pro Person. Im Jahr 2010 reichten BTL und die von Pezolds unter Berufung auf zwei bilaterale Investmentabkommen gemeinsam gegen die Regierung Simbabwes Klage ein. Sie machten geltend, dass ihre Grundstücke gegen Zwangsenteignung geschützt seien, und verlangten die vollständige Wiederherstellung ihrer Eigentumsrechte oder alternativ die vollständige Entschädigung nach Marktwert. In Kooperation mit Chief Chinyai und drei anderen Gruppen beantragte das ECCHR 2012, als Amicus Curiae beim Schiedsgericht zugelassen zu werden, das nach den Regeln des Internationalen Zentrums zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (International Centre for the Settlement of Investment Disputes, ICSID) für die Behandlung der Investitionsstreitigkeit gebildet wurde. Die Betroffenen forderten, dass die Kollektivrechte der indigenen Bevölkerung in Bezug auf ihr Land nach internationalem Recht geschützt werden. Die Petition wurde abgelehnt. Im Schiedsspruch aus dem Jahr 2015 bezeichnete das Tribunal die indigene Bevölkerung als »Invasoren« und forderte den Staat auf, ihre Umsiedlung, wenn nötig, zu erzwingen und so die Eigentumsrechte der Investoren wiederherzustellen. 2018 wurde durch ein weiteres Tribunal bestätigt, dass Simbabwe eine Entschädigung von knapp 200 Millionen US-Dollar zahlen müsse.10 Was ist seit unserer Petition beim ICSID-Schiedsgericht passiert? Ich erinnere mich, wie BTL und von Pezold über all diese Dinge berichteten. Aber hier in Simbabwe haben wir unsere eigenen Gerichte. Wir warten noch auf eine Entscheidung unseres eigenen High Courts. Dann sehen wir, wie es weitergeht. Dieser ICSID-Fall wurde zwischen BTL und der Regierung Simbabwes entschieden, und die Regierung hat verloren. Und weil sie verloren hat, spüren wir nun die negativen Konsequenzen. Wir fühlen uns bedroht, denn wir leben hier. Die Schiedsgerichtsentscheidung

10 Bernhard von Pezold et al v. Simbabwe, ICSID-Fall Nr. ARB/10/15, Schiedsspruch vom 28. Juli 2015. Der Fall wurde zusammengelegt mit Border Timbers Limited et al v. Simbabwe, ICSID-Fall Nr. ARB/10/25.

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war hart. Sie sagen, wir sollen ihnen das Geld erstatten, wir müssen für das Land bezahlen, wir müssen ihnen Geld geben … aber welches Geld? Entschädigung? Wenn wir sie nicht entschädigen, nehmen sie das ganze Land. Wessen Land? Es ist unser Land … Was passiert da draußen? Ich weiß nicht, ob das überhaupt auf uns anwendbar ist. Sie sind nicht in Simbabwe, aber wenn sie nach Simbabwe kommen, dann ist das, was sie sagen, eben etwas, was sie außerhalb Simbabwes entschieden haben. Vor der Kolonialzeit haben wir mit Soshangane und Mzilikazi um unser Land gekämpft. Aber wir haben nicht wirklich mit den Weißen um unser Land gekämpft. Zuerst kamen sie, um bei uns zu bleiben, und wir dachten, wir könnten auf freundliche Art mit ihnen leben. Später mussten wir feststellen, dass sie unser Land wegnahmen, unser Vieh, und wir hatten nichts mehr. Das ist, was wir erinnern. Jetzt fragen wir uns, was da vor sich geht. Es sieht so aus, als würden sie sagen, dass wir nicht über unser eigenes Land bestimmen können. BTL hat auf nationaler Ebene viele weitere Rechtsmittel eingelegt, um die Chinyai und andere indigene Gemeinschaften von den Plantagen zu vertreiben. Aber auch Mitglieder der indigenen Gemeinschaften haben aktiv Kontakt zur Justiz gesucht, um ihre Rechte geltend zu machen, und mit einer Sammelklage gegen das Unternehmen und den für Landfragen zuständigen Minister of Lands and Rural Resettlement versucht, eine Lösung zu erwirken. In den noch laufenden High-Court- und Supreme-Court-Verfahren fordern die Chinyai – zusammen mit anderen indigenen Gemeinschaften aus Chimanimani – die Anerkennung ihrer traditionellen Landrechte, ihres Konsultationsrechts und ihres Nutzungsrechts.11 Wie hat BTL darauf reagiert, dass die Gemeinschaft in den Verfahren vor den nationalen Gerichten ihre eigenen Rechte geltend gemacht hat? Und was war die Reaktion auf den Vorschlag der Gemeinschaft für einen gemeinsamen Forstbewirtschaftungsplan, das Joint Forest Management Scheme (JFM)? Es ist sehr vertrackt, denn seit sie uns sagten, dass wir nicht einen Zentimeter Land bekommen würden, was uns sehr schmerzt, war die Beziehung wirklich vergiftet. Sie sagten, dass unser Volk ohne Land bleiben wird. Wir dachten, dass das JFM eine Verbindung zwischen BTL und uns herstellen könnte, aber das ist gescheitert, weil sie das abgelehnt haben. Wir hatten

11 High Court Simbabwe, Harare, Fall Nr. 7213/15, HH 556–16.

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gehofft, dass wir durch das JFM eine Beziehung mit ihnen aufbauen könnten, aber BTL hat einfach Nein gesagt. Was halten Sie von den Gerichten in Simbabwe? Wir sind mit der Arbeit der simbabwischen Gerichte sehr zufrieden. Bis jetzt sieht es so aus, dass sie sich einschalten und uns helfen. Auch wenn wir uns hier und da mit Herausforderungen konfrontiert sehen, sind wir hier zu Hause, mit unseren Leuten, und diese Leute bringen uns den Respekt entgegen, den wir von ihnen erwarten. Was denken Sie, wie Ihr Kampf um das Land weitergehen wird? Wir fragen uns, ob wir verlieren werden. All diese Gerichtsverfahren, die wir durchlaufen mussten … Wir hoffen, dass wir gewinnen, mit allem, was dazugehört. Im Moment sieht es so aus, dass das Ganze zum High Court und zum Supreme Court geht. Wir hoffen, dass wir gewinnen. Aber wenn wir in die Zukunft schauen, dann gibt es noch weitere Möglichkeiten, wie unsere Siedlungen rechtlich organisiert und anerkannt werden können. Mir wäre ein Ansatz mit einem »institutionellen Angebotsbrief« am liebsten, mit dem ich im Sinne unserer Gemeinschaft über das Land verfügen kann und mit dem wir das gesamte Chinyaigebiet nutzen und darüber bestimmen können. Es ist ein großes Gebiet, und wenn man über Produktivität nachdenkt, lohnt es sich, über das JFM nachzudenken und darüber, wie es in Zukunft strategisch genutzt werden kann, auch um einen Beitrag zu den Bedürfnissen des Landes und seiner Wirtschaft zu leisten. Also dürfen wir nicht mit leeren Händen dastehen, damit ich dafür sorgen kann, dass es meinen Leuten und mir gut gehen wird. Das Gespräch führten Christian Schliemann und Ciaran Cross.

Übersetzung von Miriam Frank. Es lektorierte Karina Theurer.

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Globalisierung und »Hunger by Design«: der Kampf für soziale und wirtschaftliche Rechte Gespräch mit Colin Gonsalves

Nachdem Colin Gonsalves sein Bauingenieursstudium in Mumbai beendet hatte, arbeitete er bei einer Gewerkschaft und engagierte sich in den 70er-Jahren für Arbeiter*innen und gegen die Zwangsräumung von Slums. Aufgrund seiner damaligen Erfahrungen und obwohl seine Familie letzte Ersparnisse für sein Studium hatte aufbringen müssen, entschloss er sich, zusätzlich Rechtswissenschaften zu studieren und Anwalt zu werden. 1989 gründete er das Human Rights Law Network (HRLN) und entwickelte es zu einer Organisation mit gegenwärtig über 200 Rechtsanwält*innen, die in 28 Büros über ganz Indien verteilt arbeiten. Er brachte zahlreiche Präzedenzfälle vor dem indischen Supreme Court und vor Berufungsgerichten in unterschiedlichen Bundesstaaten ein. Zu diesen Fällen zählt derjenige zum Recht auf Nahrung, der eine enorme Ausweitung von Verfassungsrechten beinhaltete und für Kinder und weitere vulnerable Gruppen von Menschen ein Mindestmaß an Nahrung sicherstellt, etwa ein tägliches Mittagessen an Schulen. HRLN setzt sich gegen Polizeigewalt, für von Gewalt betroffene Frauen und Kinder, für Slumbewohner*innen sowie für die Durchsetzung von sozialen und wirtschaftlichen Rechten ein und ist international vernetzt. 2017 wurde Gonsalves mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Könnten Sie uns einen knappen Überblick über die europäische Kolonialisierung des Gebiets geben, das heute Indien ist? Was waren aus Ihrer Sicht wesentliche Merkmale? Die britische Kolonialherrschaft wurde durch eine private Handelsgesellschaft ausgeübt. Diese wurde mit der Zeit immer stärker, auch militärisch, und damit wuchsen ihre Ansprüche auf Landerträge und Landbesitz. Um die vielen Einzelstaaten zu unterwerfen, aus denen Indien damals bestand und die alle ihre eigenen Armeen hatten und teils mit den Briten kooperierten, sich teils aber auch der Kolonialherrschaft widersetzten und bis aufs Letzte kämpften, kam mehr britisches Militär. Die East India Company war immer eine Kombination von Handel und militärischer Macht. Zur Zeit der Unabhängigkeit Indiens hatte Großbritannien formale Herr357

Gespräch mit Colin Gonsalves

schaft über das gesamte Gebiet Indiens mit der Ausnahme von Goa, wo die portugiesische Armee war. Diese Zeit war eine Zeit voller Gewalt. Es ist der größte Mythos, der durch Wiederholung zur Wahrheit wird, dass die indische Unabhängigkeitsbewegung gewaltfrei gewesen sei. Es gab jahrelange gewalttätige Auseinandersetzungen. Erst später kamen Mahatma Gandhi und sein Plan für eine friedliche Machtübergabe. Eine der Hauptthesen dekolonialer Rechtstheorie ist, dass aus Europa stammende Wissensbestände, philosophische Ideen, politische Theorie, ein spezifisches Rechtssystem und eine spezifische Form des Strukturierens von Wirtschaft und Handel im Verlauf der gewalttätigen Kolonialisierung in die einstigen Kolonien transplantiert wurden und bis heute fortwirken. Was halten Sie von dieser These und was wären aus Ihrer Sicht koloniale Kontinuitäten des europäischen Empire im heutigen Indien? Nun, ich habe eine sehr nuancierte Perspektive. Jegliche Kolonialherrschaft zerstört im beherrschten Gebiet, was es dort an Gutem gibt. Und Indien hatte großartige indigene Traditionen. Aber das ist nur eine Seite der Geschichte. Westliche Ideen, westliche Systeme, westliche Technologie und bis zu einem gewissen Punkt westliche Bildung, Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit und die Vereinigung des Landes, auch wenn sie gewalttätig war, haben auch ihre positive Seite und es ist sehr schwierig, exakt zu bestimmen, wo die Trennlinien verlaufen. Es wäre falsch zu sagen, dass der britische Einfluss auf Indien gänzlich negativ gewesen wäre. Und es wäre genauso falsch zu sagen, die Briten hätten Indien zivilisiert. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Aus meiner eigenen praktischen Erfahrung, aus meiner Fallarbeit zum Recht auf Nahrung kann ich sagen, dass es unter den britischen Eintreibern Ansätze von Versorgung in Zeiten von Hungersnöten gab. Verglichen damit gab es Situationen, in denen die indische Verwaltung in der Zeit nach der Unabhängigkeit schlimmer agierte. Eine Professorin der JNU, Utsa Patnaik, hat ein Buch geschrieben – The Republic of Hunger –, in dem sie darlegt, dass die abgeführte Menge an Getreide in absoluten Zahlen im letzten Jahrzehnt mehr gewesen sei als unter britischer Herrschaft direkt vor der Unabhängigkeit. Wenn man sich die Gewaltausübung durch die indische Polizei heute anschaut und wenn jemand sie vergleichen wollte mit der Gewaltausübung durch die britische Polizei, könnten erstaunliche Ergebnisse zutage kommen. Wir sollten keinen vereinfachenden nationalistischen Blickwinkel zugrunde legen.

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Globalisierung und »Hunger by Design«

Eine weitere These dekolonialer Rechtstheorie ist, dass der europäische Kolonialismus dem Transfer von Reichtum diente. Auch heute lassen sich weltweit eine sehr ungleiche Verteilung von natürlichen Ressourcen und der Transfer von Reichtum beobachten. Welche Muster sehen Sie im Hinblick auf die soziale und wirtschaftliche Situation einer Mehrheit der indischen Bevölkerung und auch im Hinblick auf die internationale Regulierung von Wirtschaft und Handel? Wenn Macht von einem britischen kapitalistischen System auf ein indisches kapitalistisches System übertragen wird und die kapitalistische Elite in Indien zahlreiche der Praktiken, Prinzipien und Politiken übernimmt, wird es starke Kontinuitäten geben. Aber es wäre falsch, diese Kontinuität überzubewerten. Der indische Nationalkongress nahm wesentliche Änderungen vor, unter anderem über das Non-Aligned-Movement, vor allem aber die Schaffung eines sozialdemokratischen Systems durch Jawaharlal Nehru, Gesetze zur Eindämmung exzessiven Landbesitzes oder auch die Verstaatlichung von Banken. Einige dieser wirtschaftlichen Veränderungen waren grundlegend und ihr Ziel war die Schaffung eines robusten sozialdemokratischen Systems. Seit 1980 ist Indien zum Laissez-faire-Kapitalismus zurückgekehrt, die sozialdemokratischen Strukturen wurden zerstört und es gibt keine Regulierung mehr. In Zeiten der Globalisierung sind wir zurück zur rohen Macht des Kapitalismus. Als Sie im Dezember 2017 in Berlin waren, sprachen Sie in Bezug auf die Region von Jaipur beziehungsweise Rajastan von »Hunger by Design«. Könnten Sie uns von Ihrem Fall zum Recht auf Nahrung erzählen? Globalisierung ist ein ungemein schreckliches Weltsystem. Es dauert wahrscheinlich eine Weile, bis man das in einem entwickelten Land versteht, wo man ein wenig in einer Komfortzone ist und nicht direkt unter Beschuss steht – jedenfalls bisher. In Indien jedoch ist es so klar, weil es sich unmittelbar in Wirtschaftspolitiken zeigt. Sozialdemokratie ist ein Versuch, Reiche und Arme zugleich voranzubringen, indem der Staat sich um bestimmte Leistungen kümmert. Globalisierung gibt vor, dass Märkte sich kümmern werden. Warum sollte die Regierung an Gesundheit, Bildung, Wohnraum beteiligt sein? Lass uns lieber die Richtung ändern und Ressourcen von unten nach oben verteilen. Wenn also in der Sozialdemokratie Ressourcen von oben nach unten fließen, fließen nun Millionen von Dollars von unten nach oben. Krankenhäuser verfallen. Schulen. Häuser für Arme werden gar nicht gebaut. Kein Wunder, dass das indische Brutto-

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inlandsprodukt 8 Prozent beträgt und gleichzeitig die Armut steigt. Das ist das Design. Wir sind damals eher zufällig nach Jaipur gefahren – die Erfahrung aber war alarmierend. Wir hatten von Hungertoten gehört und sind frühmorgens los zu den Dörfern, um sie zu dokumentieren. Als wir wegfuhren, bemerkten wir riesige Silos mit Getreide, jeweils 15 bis 18 Meter hoch und so voll, dass das Getreide herausgeweht und auf dem Boden im Regen verdorben war und von Ratten geholt wurde. Uns wurde klar, dass die Regierung bereit war, die Menschen vor Hunger sterben zu lassen – in unmittelbarer Nähe zu den Hütten, in denen die Menschen gestorben waren. Wir haben uns damals gesagt: Warum bringen wir keinen Fall zum Recht auf Nahrung vor den Supreme Court? Und so verlangten wir in unserem Schriftsatz zum Staat Rajastan, dass die Regierung das Getreide den Bedürftigen kostenlos geben solle, anstatt es im Regen verderben zu lassen. Ich erinnere mich an den ersten Tag im Gericht und an den Obersten Richter, der nicht gerade bekannt dafür war, sich für Menschenrechte einzusetzen. Es war einer der ersten Fälle, die ich im Supreme Court vertrat, und ich war unsicher. Er sah von den Papieren auf und sagte: »Das kann nicht sein.« Ich fragte mich, was er damit wohl meinte. Bezog er sich auf den Fall oder auf die Verhältnisse? Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Er sagte zu mir: »Herr Gonsalves, machen Sie daraus einen Fall für das gesamte Land. Wir können eine solche Situation nicht zulassen.« Da wusste ich, dass wir recht hatten und dass gerade etwas Historisches geschah. Wir erweiterten den Fall auf die 26 indischen Staaten. Es wurde zu einem langjährigen PublicInterest-Verfahren, 17 Jahre lang, und endete erst im Jahr 2017. Der Supreme Court erließ insgesamt 40 Entscheidungen. Darunter etwa zum Mittagessen für Schulkinder, zu stillenden Müttern, zu Schwangeren vor der Entbindung, damit sie zumindest vor der Geburt essen können, zu Menschen, die im Winter auf den Gehsteigen sterben, weil sie so wenig gegessen haben, dass sie der Kälte nicht standhalten, und zum Recht auf Arbeit. Ein unglaubliches Bündel an Anordnungen. Die Verfahren wurden vor verschiedenen Kammern verhandelt. Alle Richter*innen blieben im Wesentlichen standhaft. Es war die Blütezeit des Supreme Court. Inzwischen ist es anders. In Kontinentaleuropa ist es schwer vorstellbar, eine derartige Entscheidung vor Gericht zu bekommen. Aus Kolumbien hingegen sind ähnlich progressive Entscheidungen von Gerichten bekannt. Wie erklären Sie sich diese Unterschiede? Richter*innen in entwickelten Ländern tendieren dazu, konservativ zu sein. Sie sind in einer Umgebung aufgewachsen, in der die Theorie der Ge360

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waltentrennung besagt, dass es die Aufgabe der Regierung sei, Menschenrechte umzusetzen. Sie hingegen verstehen sich als diejenigen, die das bestehende Recht anwenden, aber nicht darüber hinausgehen. Wenn es ein Problem gibt und die Regierung dem nicht nachkommt, ist die Antwort: Wählt sie ab. Aber kommt nicht zu den Gerichten und verlangt von uns, die Regierungen anzuweisen, den Bedürftigen Essen zu geben – oder Zugang zum Gesundheitssystem oder Bildung. Europäische Studierende lernen an Universitäten, dass Gerichte Menschenrechte nicht durchsetzen können und dies auch nicht tun sollten. Ein Statement in diesem Zusammenhang ist, dass Menschenrechte nicht justiziabel seien, dass sie vor Gericht nicht unmittelbar durchgesetzt werden können. Im globalen Süden wurde diese Theorie in den Papierkorb verfrachtet. In Lateinamerika wird von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte und den Gerichtshöfen wunderbare Arbeit geleistet. Natürlich werden sie intervenieren. In Indien haben wir diese Theorie 1975 verworfen: Wenn die Regierung nicht handelt, müssen die Gerichte eingreifen. Gewaltentrennung heißt hier: Wenn die Regierung wieder und wieder nicht reagiert – werden die Gerichte stumm bleiben und darauf verweisen, dass die Menschenrechte nicht unmittelbar einklagbar seien? Wir gehen davon aus, dass es zur verfassungsrechtlichen Pflicht der Gerichte gehört, Menschenrechte durchzusetzen – und dazu gehören Nahrung, Wohnraum, Bildung und Gesundheit. Das ist der Grund für die wunderbare Rechtsprechung, die westliche Richter*innen nicht anerkennen. Viele von ihnen sind so selbstgefällig, bis heute: Es sei ein gänzlich unregierbares System. Es sei nicht ausreichend austariert. Sie machen Scherze und lachen über den indischen Supreme Court und über das, was dort geschieht. Könnte es mit der verinnerlichten Auffassung zusammenhängen, dass die »richtigen« Ideen aus der Metropole kommen? Ja, es ist Kolonialismus. Es ist koloniale Rechtslehre, es ist koloniales Denken und es ist koloniales Benehmen. Sie stecken in ihren Elfenbeintürmen. Und: Was sollen wir in Europa von Nepal oder Indien lernen können? Und dieser verinnerlichte Kolonialismus dauert so lange an – das zeigt, wie hartnäckig er ist. Europa lebt in der Vergangenheit, als ob es immer noch Kolonialmacht wäre. Sie beharren auf Individualrechten. Kollektive Rechte wollen sie nicht anerkennen. Warum? Eine wirkliche Antwort darauf geben sie nicht. Ich war in Nantes zu einem Treffen von Kommissionsmitgliedern und Vertreter*innen des globalen Südens eingeladen, bei dem es um den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ging. Es ist noch gar nicht so lange her und sie meinten, es 361

Gespräch mit Colin Gonsalves

solle im Hinblick auf Menschenrechte ein À-la-carte-System geben. Jeder Staat sollte in der Lage sein, darüber zu entscheiden, welche Rechte aus dem Gesamtpaket umgesetzt und welche auf später verschoben werden. Es sollte eine progressive Umsetzung sein: Das wird justiziabel sein und der Rest soll nicht justiziabel sein. Ich widersprach und sagte, dass ich das nicht verstehe. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde schon vor geraumer Zeit unterzeichnet. Und Sie sagen mir – es mag im Jahr 2010 oder 2011 gewesen sein –, dass Sie die Menschenrechtserklärung à la carte behandeln? Und Sie wollen, dass wir das als Standard akzeptieren? Die Weltbank kam so viele Jahrzehnte später. Sie sagt Staaten nicht, dass es ein À-la-carte-System sei, dass sie dies akzeptieren können und das nicht. Sie werden dich rauswerfen. Und das Weltbanksystem ist nicht einmal eine UN-Konvention. Da sagen Sie: alles oder nichts. Nimm es oder lass es. Und zu Menschenrechten sagen Sie: à la carte? TWAIL-Theoretiker*innen kritisieren, der gegenwärtige Kampf um individuelle zivile und politische Rechte gehe reibungslos Hand in Hand mit neoliberalen Wirtschaftspolitiken weltweit. Makau Mutua verweist darauf, dass die Wurzel von Machtlosigkeit in wirtschaftlicher Machtlosigkeit liege und somit in der Art und Weise, wie Wirtschaft organisiert sei. Er fordert, dass grundsätzliche Fragen zum Konzept von Eigentum gestellt werden müssen und dass sich mehr NGOs insbesondere die großen im globalen Norden, für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte einsetzen sollten. Was meinen Sie? Ich muss sagen, dass ich froh bin, von akademischen, zu Pessimismus tendierenden Diskursen entfernt zu sein, die teils unverständlich sind. Ich glaube nicht, dass es ein guter Trend ist, NGOs zu kritisieren. Obwohl es viele Bereiche geben mag, in denen es bei internationalen NGOs Raum für Verbesserung gibt, wird gegenwärtig exzessiv kritisiert. Im Hinblick auf meine eigene NGO habe ich gehört, dass wir durch Public Interest Litigation – selbst wenn sie erfolgreich ist – nur dazu beitragen, das kapitalistische System zu stärken. Ein Universitätsprofessor fragte mich am Ende einer Veranstaltung: Glauben Sie nicht, dass Sie das kapitalistische System legitimieren, indem Sie Public Interest Litigation betreiben? Ich freue mich, wenn die Jurastudierenden dabei sind und die Antwort hören. Ich habe ihm gesagt: Professor, versetzen Sie sich in meine Lage und stellen Sie sich vor, Sie seien ein Anwalt in Indien und ein Mann kommt zu Ihnen und sagt: Hier gibt es Getreide, warum bekomme ich nichts davon? Oder: In diesem Krankenhaus gibt es keine Blutkonserven und Schwangere sterben bei der Geburt. Oder: Hier in der Schule gibt es keine Lehrkräfte. Oder: Ich lebe in einem Slum und warum baut der Staat hier keine Häuser? Und 362

Globalisierung und »Hunger by Design«

was würden Sie zu diesen Menschen sagen? Würden Sie sagen: »Geh weg, ich kann deinen Fall nicht übernehmen, denn das System ist so korrupt, und wenn ich das mache, stärke ich das kapitalistische System.«? Ich fragte ihn: Vermitteln Sie Ihren Jurastudierenden, besser keine Gerichtsprozesse zu führen? Vermitteln Sie ihnen, diesen Fall nicht zu übernehmen? – Wenn es so formuliert ist, haben Sie keine Antwort darauf und die Studierenden beginnen, nachzudenken. Wenn ich einem Menschen in einem verrotteten System helfen kann, wenn ich einem Menschen helfen kann: Was ist falsch daran? Selbst wenn es den Kapitalismus stärkt. Sollten Menschen nicht das Beste in ihrer Macht Stehende tun und ihre Fähigkeiten und ihre Bildung einsetzen und dadurch den Arbeiter*innen helfen, wo immer sie nur können? Könnte es ein Zusammenwirken von pragmatischem Handeln und dem Einfordern einer Veränderung des Rechts sein? Ich würde den Begriff Pragmatismus nicht verwenden. Wenn Leben als Kampf verstanden wird, als Kampf der Armen gegen die Reichen, der Enteigneten gegen die Mächtigen, als Klassenkampf (obwohl der Begriff etwas grob ist, mag er hier genügen) – wenn es im indischen Sinn als große Schlacht verstanden wird wie die im Mahabharata beschriebene Schlacht der Mächte des Gerechten gegen die Mächte des Bösen, dann ist es eine Verpflichtung, zu kämpfen. Es ist keine praktische Angelegenheit – es ist von zutiefst philosophischer Bedeutung. Es ist die Verpflichtung, das eigene Leben kompromisslos und in vollen Zügen zu leben, bis es erlischt – sei es auf natürliche Weise oder nicht. An eine Sache glauben und sich mit voller Kraft dafür einsetzen, bis das Leben vorbei ist. Nur diese Hingabe kann den Mächten des Bösen etwas entgegensetzen. Denn sie ist unbeugsam. Eine Person mag arm sein, sie mag weder lesen noch schreiben können, sie mag in erbärmlichen Verhältnissen leben, aber sobald sie die Entscheidung trifft, sich gegen Ungerechtigkeit und Massenbewegungen zu stellen, ist es wie jenes berühmte Bild des Menschen in Peking, der vor dem Panzer steht. Wenn jedes Individuum die Entscheidung trifft, sich für eine Sache einzusetzen und für diese Sache zu sterben, ist die Arbeiterklasse unbesiegbar. Wie könnte mehr Bewusstsein für diese eigene Macht geschaffen werden? Mein Eindruck zumindest im Hinblick auf Europa ist, dass Menschen ihren politischen Handlungsspielraum als schrumpfend wahrnehmen. Ich würde nicht sagen, dass wir den Begriff der Bewusstseinsschaffung verwenden sollten. Als ob jemand zu den Arbeiter*innen gehen und ihnen et363

Gespräch mit Colin Gonsalves

was erzählen müsste, was sie nicht wissen. Arbeiter*innen haben ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Ungerechtigkeit, der sie ausgesetzt sind und die sie erleiden, und die Macht, der sie ausgesetzt sind und die sie zerschmettern kann, wenn sie protestieren. Manchmal werden Stille und Unterwerfung als mangelndes Bewusstsein gedeutet. Dies zu denken, ist einer der größten Fehler, die gemacht werden können. Arbeiter*innen in Indien sind stumm, denn sie kennen die schreckliche Macht der indischen Polizei. Angehörige der Mittelschicht verstehen das nicht und fragen, warum sie denn nicht protestieren. Denn sie haben niemals die zügellose Gewalt der Polizei erlebt, die dein Leben zerstören kann wegen eines einfachen friedlichen Protests. Deshalb sollten alle Angehörigen der Mittelschicht aufhören, den Begriff zu verwenden – und sollten stattdessen ihr Leben auf authentische Weise leben und durch das eigene Vorbild anderen Menschen zeigen, dass du für Widerstand stehst, für kompromisslosen Widerstand, dass du nicht über deine Schulter schaust, ob jemand bei dir ist, dass du nicht nur demonstrieren gehst, wenn genügend Menschen dabei sind, und dass selbst dann, wenn du allein bist, völlig allein, und selbst wenn dein Leben durch das, was du sagst und tust, gefährdet wird, du es dennoch tust. Und wenn du dein Leben verlierst, dann sei es so. Dieses Vorbild ist mitreißend und es lehrt Menschen. Es lehrt Menschen die Macht des Individuums. Das Foto des Menschen, der vor dem Panzer steht, zeigt Menschen, dass sie unbesiegbar sind. Das einzige, was ein Staat machen kann, ist dein Leben zu nehmen. Und in hinduistischer Philosophie glauben wir ja ohnehin an die Wiedergeburt. Könnten Sie uns noch etwas zur Gründung des Human Rights Law Network und der Arbeit der Organisation sagen? Wir haben es 1989 gegründet, offiziell registriert wurde es 1993. Zu Beginn war es eine kleine Arbeitsrechtsorganisation und von dort aus haben wir weitere Fälle übernommen. Mit der Hilfe einer schwedischen Organisation konnten wir sie ausweiten. Einer unserer wichtigsten Fälle war die außergerichtliche Tötung von 1.500 Menschen im Staat Manipur. Das Gericht ordnete eine Untersuchung an, was niemals zuvor geschehen war. Das war ein Meilenstein. Wir arbeiten zu indigenen Gemeinschaften, etwa wenn transnationale Unternehmen versuchen, die Menschen von ihrem Land zu vertreiben, um dort Bergbau betreiben zu können. In einem Fall ordnete der Supreme Court an, die staatlich geduldeten paramilitärischen Einheiten aufzulösen. Außerdem arbeiten wir zu Frauenrechten, Kinderrechten, zu Rechten von Personen mit Behinderungen, HIV, Wohnraum, Menschenhandel und moderner Sklaverei. 364

Globalisierung und »Hunger by Design«

Vor Kurzem haben Sie das Institute of the Global South for Public Interest Litigation gegründet. Was sind die Anliegen und Ziele? Das Institut bezweckt, Public Interest Litigation zu unterrichten. Wir wissen, dass es keine indische Erfindung ist, sondern ein Instrument, das weltweit angewendet wird, etwa in Lateinamerika und Afrika und vielen Ländern Asiens, und dass es inzwischen mindestens 300 grundlegende Gerichtsentscheidungen gibt. Rechtstheorie und Rechtslehre werden weiterhin vom Westen dominiert. Wir wollen die Anwält*innen zusammenbringen sowie die grundlegenden Gerichtsentscheidungen sammeln und in einem Buch veröffentlichen, um Public Interest Litigation auf eine neue Stufe zu heben. Das Gespräch führte Karina Theurer.

Übersetzung von Karina Theurer.

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Private Unternehmen, demokratische Handlungsspielräume und die Dekolonisierung des Wissens Gespräch mit Alejandra Ancheita

Alejandra Ancheita ist eine aus Chiapas stammende Anwältin, die sich seit 20 Jahren für Menschenrechte einsetzt, indem sie vor nationalen wie internationalen Gerichten streitet und auch Kampagnen und Initiativen anführt, um die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte indigener Gemeinschaften sowie weiterer strukturell diskriminierter Menschen zu verteidigen, etwa Frauen, Kinder, Arbeiter*innen oder Migrant*innen. Sie ist zudem als Gründerin und Geschäftsführerin der Nichtregierungsorganisation Proyecto de Derechos Económicos, Sociales y Culturales (ProDESC) bekannt. Die Organisation setzt sich für die Einhegung der Aktivitäten transnationaler Unternehmen ein und arbeitet dabei eng mit indigenen Bevölkerungsgruppen zusammen, etwa um deren Landrechte gegen Bergbauunternehmen zu wahren oder Umweltzerstörung aufzuhalten. Alejandra Ancheita prägte das Konzept der »genuine transnational collaboration«, um aufzuzeigen, wie internationale Zusammenarbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen dekolonisiert werden könnte. Wie verlief die Kolonisierung des heutigen Mexiko und inwiefern wirken damals aufgezwungene rechtliche und politische Strukturen sowie Zuschreibungen etwa zu Ethnizität und Gender noch heute? Die erste Phase der Kolonisierung begann im 16. Jahrhundert mit der Ankunft der Spanier, wird auch als Phase des Vizekönigreichs bezeichnet und dauerte von 1521 bis zur formellen Unabhängigkeit Mexikos im Jahr 1810. 1910 kam es zur mexikanischen Revolution und damit, wiederum einer offiziellen Lesart folgend, zur Schaffung des modernen mexikanischen Staates. Die bis heute geltende Verfassung Mexikos entstand 1917. Im Rechtssystem und im politischen System setzt sich ganz offensichtlich vor allem die Diskriminierung aufgrund von zugeschriebener Ethnizität, Geschlecht und Klasse fort. Mittels normativer und institutioneller Praktiken werden die offene strukturelle Diskriminierung und die Ausschlussmechanismen im Hinblick auf betroffene Gruppen – also Frauen, Indigene und Verarm-

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Gespräch mit Alejandra Ancheita

ten – reproduziert, was sich wiederum unmittelbar auf den Zugang zu Rechtssystem und Gerechtigkeit auswirkt. Warum haben Sie ProDESC gegründet und weshalb ist der Kampf für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte so wichtig? Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte beziehen sich auf soziale und wirtschaftliche Grundvoraussetzungen für ein würdevolles und freies Leben, wie das Internationale Netzwerk für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ESCR-Net) meiner Meinung nach ganz richtig formuliert. Es geht um Arbeit, soziale Sicherheit, Gesundheit, Bildung, Ernährung, Wasser, Wohnen, Umwelt und Kultur. Für Mexiko kann ich sagen, dass diese Rechte durch das ratifizierte Freihandelsabkommen zwischen Mexiko, den USA und Kanada – NAFTA – geschwächt wurden. Dies betrifft insbesondere die kollektiven Rechte der indigenen Gemeinschaften und der Arbeiter*innen. Die privatwirtschaftliche Durchdringung des Staates wurde dadurch begünstigt, was im Wesentlichen bedeutet, dass private Unternehmen in staatlichen Sphären der Entscheidungsfindung zunehmend unangemessen großen Einfluss ausüben. Die Verteidigung der bereits erwähnten Rechte wird daher zu einem Instrument kollektiver Behauptung von Macht, um demokratische Räume zu verteidigen. Die Gründung von ProDESC im Jahr 2005 hängt entsprechend mit der Schwächung dieser Rechte durch zehn Jahre NAFTA zusammen. Für ProDESC ist die Perspektive des Kollektivs seit jeher von zentraler Bedeutung. Die von uns betreuten Fälle sind kollektiver Art und wir arbeiten eng mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zusammen, eben weil sie diejenigen Rechte einfordern, die strukturelle Veränderungen verkörpern und Möglichkeiten kollektiven Widerstands schaffen. Können Sie uns ein wenig von der ProDESC-Arbeit erzählen, etwa von der Arbeit auf kommunaler Ebene und im Bereich Gender? ProDESC setzt auf eine integrative Verteidigungsmethode, die eine ganze Reihe an zusammenhängenden Aspekten berücksichtigt, um zu Einforderbarkeit und Justiziabilität von Rechten beizutragen. Zu den Faktoren gehören strategische Prozessführung, die Stärkung selbstorganisatorischer Prozesse, die Überprüfung unternehmerischen Handelns, die Begleitung nationaler wie transnationaler Politik und die politische Kommunikation. Wir von ProDESC halten es für wichtig, eine Methode zu nutzen, die in jeweils angepasster Form die von uns begleiteten gemeinschaftlichen Prozesse möglichst stärken kann. An diesen Prozessen sind im Allgemeinen Mitstreiter*innen aus den ländlichen Gemeinden, Indigene und Campesi368

Private Unternehmen, demokratische Handlungsspielräume

nas, oder Arbeiter*innenkollektive beteiligt, die sich häufig in sich ähnelnden Kontexten befinden, oft solche der wirtschaftlichen und individuellen Marginalisierung. Sie sind gemeinhin konfrontiert mit komplexen, von externen Akteuren ausgelösten Zwangslagen und einer Machtlosigkeit hinsichtlich der Ausübung und Einforderbarkeit ihrer Menschenrechte, unter denen besonders und zweifellos das Recht auf ein würdevolles Leben heraussticht. Im Unterschied zu der Arbeit von internationalen Organisationen ist die von ProDESC auf den beständigen Dialog und auf die Begleitung der kollektiven Akteure, mit denen wir zusammenarbeiten, ausgerichtet. Dieser Dialog wird auf der Grundlage gegenseitigen Respekts geführt, wobei aber die asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen begleitender Organisation und begleiteten Gruppen sowie kulturelle Differenzen anerkannt werden. Außerdem verfolgt ProDESC einen transnationalen Ansatz, bei dem wir keine leere Rhetorik der Menschenrechtsstandards ohne substanziellen Gehalt bemühen, sondern uns auf die Erfahrung der konkreten von uns begleiteten Fälle und Prozesse stützen. Von diesem Standpunkt aus schmieden wir politische Allianzen und gehen transnationale Kooperationen mit Organisationen und Gruppen ein, mit denen wir politische Schnittmengen haben. Wie genau verhalten sich Aktivismus und zivilgesellschaftliche Organisationen des globalen Nordens und des globalen Südens zueinander? Die Hegemonie des globalen Nordens ist keine rein wirtschaftliche, sondern kann auch als ideologisch verstanden werden. Für Letzteres ist die hegemoniale Ideologie der Menschenrechte kennzeichnend, eine vom globalen Norden entwickelte Ideologie, die der globale Süden zwecks »Fortschritt« und »Entwicklung« zu akzeptieren hatte. Bestandteil dieses ideologischen Widerstreits ist die artifizielle Unterscheidung zwischen politischen Bürgerrechten (also individuellen Rechten, einem Produkt des politischen Liberalismus) und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten (also kollektiven Rechten, die ein Konzept sozialer Gerechtigkeit aufgreifen). Die hegemoniale Ideologie der Menschenrechte, wie sie vom globalen Norden entworfen wurde, ist durch folgende drei Merkmale gekennzeichnet: Ihr Dreh- und Angelpunkt ist das Individuum – hierbei stimmt sie völlig mit Ideologie und Phänomen des Neoliberalismus überein. Der Staat (als Nationalstaat) ist zweitens der einzige Garant der Menschenrechte und daher als Einziger zu ihrer Verletzung imstande. Und nur der Staat ist drittens vom internationalen Recht zur Wahrung der Menschenrechte verpflichtet. Doch sollte man dazu folgende Überlegung anstellen: Wenn sowohl Globalisierung als auch Neoliberalismus neue Akteure und Aktivi369

Gespräch mit Alejandra Ancheita

täten, die nicht unter den traditionellen Nationalstaat subsumiert werden können, haben entstehen lassen, warum sollte dann die Ideologie der Menschenrechte auf den Nationalstaat beschränkt bleiben? Wie soll man – im Kontext einer privatwirtschaftlichen Durchdringung des Staates – darauf vertrauen können, dass der Nationalstaat die Interessen seiner Bürger*innen auch verteidigen wird und seine verfahrensrechtlichen Instrumente allein für die Justiziabilität und Einforderbarkeit der Menschenrechte ausreichend sind? Wenn die aktuelle Menschenrechtsideologie also vom globalen Norden erdacht worden ist, sollte der globale Süden diesen konzeptionellen Apparat dann über Bord werfen und bei null beginnen? Wir sind der Überzeugung, dass im Rahmen einer Epistemologie des Südens der Dekolonisierungsprozess des Wissens zu einer Resignifikation des Konzepts der Menschenrechte und ihrer Verteidigung führen könnte – zu einer Resignifikation, bei der man sich von vorgefertigten und den Wirklichkeiten des globalen Südens fremden Konzepten verabschiedet und den Stimmen derjenigen zuhört, die historisch gesehen Opfer von Unterdrückung waren. Eine solche Dekolonisierung des Wissens wird nur vonstattengehen, wenn offene Räume für Dialog und Begegnung geschaffen werden, aus denen heraus neue Strategien entwickelt werden können. So wurde vorgeschlagen, die Menschenrechte aus einer kritischen Perspektive neu zu interpretieren, bei der alle institutionellen wie auch faktischen Mächte, die Menschenrechte fördern beziehungsweise verletzen, mitgedacht werden. Damit die Dekolonisierung des Wissens vollbracht werden kann, muss ihr Gelingen auf verschiedenen Ebenen gefördert werden: zunächst einmal durch die Schaffung beziehungsweise Stärkung von »kollektiven Subjekten«, die sich vor allem aus Unterdrückten und aus Menschen, die aus dem hegemonialen Denken des globalen Nordens ausgeschlossen sind, zusammensetzen, und durch die Anerkennung, dass die Menschenrechte dieser kollektiven Subjekte ebenfalls gefördert und eben auch verletzt werden können. Die Kategorie der kollektiven Subjekte lässt sich nicht unter einen spezifischen Staat oder eine Nation subsumieren. Wenn man beispielsweise an Bürger*innen wie an ein im Nationalstaat verankertes Konzept denkt, dann lässt man die Problematik der Migrant*innen – insbesondere derjenigen aus dem globalen Süden – außen vor, die ihre Heimat verlassen, weil die wirtschaftliche Logik der Globalisierung und des Neoliberalismus diese Orte zu Unterentwicklung verdammen. Einem globalen Phänomen wie der Migration kommt man also nicht allein mit traditionellen nationalstaatlichen Logiken bei, vielmehr muss eine kollektive Strategie der Verteidigung der Menschenrechte von Migrant*innen entwickelt werden. Zudem müssen die Akteure gestärkt werden, die diese neuen kollekti370

Private Unternehmen, demokratische Handlungsspielräume

ven Subjekte verteidigen und dafür nicht nur rechtliche Mittel nutzen, sondern auch quasirechtliche und außergerichtliche. Die Kooperation innerhalb des globalen Südens ist von zentraler Bedeutung, basierend auf dem Verständnis, dass den Regionen des Südens verschiedenste strukturelle Bedingungen gemein sind, die sie einander viel näher bringen als dem globalen Norden. Hilfreich kann auch die Kooperation mit denjenigen Akteuren des globalen Nordens sein, die Interesse zeigen, in den (noch) hegemonialen Machtzentren Einfluss auszuüben, damit den Stimmen der Unterdrückten Gehör verschafft wird. Zudem müssen alle Akteure anerkannt werden, die an der Verteidigung beziehungsweise der Verletzung von Menschenrechten teilhaben, das heißt, es muss ein Übergang stattfinden von einem auf den Staat als einzigem Garanten basierenden Menschenrechtsmodell zu einem, in dem sowohl Unternehmen als auch die kollektiven Subjekte selbst Menschenrechte fördern beziehungsweise verletzen können. Solange dies nicht geschieht, werden die Unternehmen und das transnationale Kapital weiterhin die Menschenrechte ganzer Gemeinschaften verletzen und argumentieren, sie seien nicht verantwortlich oder hätten keine Sachkenntnis, und man wird weiterhin allein den Nationalstaat in die Verantwortung nehmen, obwohl es in Wirklichkeit eine geteilte Verantwortung ist. Eine solche Dekolonisierung wird den unterdrückten Frauen und Männern und dem globalen Süden ermöglichen, neue Instrumente zur Verteidigung, Einforderbarkeit und Justiziabilität der Menschenrechte an die Hand zu bekommen. So wie der einfache Import makroökonomischer Rezepte des globalen Nordens nicht reichen wird, um Entwicklung zu befördern, so wenig wird auch der Import von Ideologien zu Menschenrechten reichen, um deren Verteidigung, Einforderbarkeit und Justiziabilität im globalen Süden zu bewerkstelligen. Man muss hervorheben, dass die neuen Akteure des globalen Südens, die für die Verteidigung der Menschenrechte der Unterdrückten eintreten, keinesfalls eine neue globale Hegemonie etablieren wollen, die den globalen Norden schwächen oder ersetzen soll. Es geht schlicht darum, Menschenrechte neu zu denken – auf der Grundlage kollektiver Kosmogonien und Lebensformen mit einem besonderen Augenmerk auf benachteiligten Menschen, die im aktuellen Kontext zudem doppelt benachteiligt sind, nämlich auch durch den systematischen Anstieg der Ungleichheit.

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Gespräch mit Alejandra Ancheita

Das Recht auf Vollbeschäftigung ist eine von ProDESC vertretene Forderung, die als Maxime »Recht auf Arbeit« durch internationale Abkommen, auch durch die mexikanische Verfassung, geschützt ist. Wie wird dieses Recht durch Freihandelsabkommen wie das NAFTA beeinflusst? Für die Verteidigung von Arbeits- als Menschenrechten hält ProDESC die geführten Prozesse zur uneingeschränkten Ausübung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit und Tarifverhandlungen für grundlegend. Unseren Analysen zufolge hängt der Zugang zu anderen Arbeits- und Menschenrechten, zum Beispiel zufriedenstellende Arbeitsbedingungen, angemessene Löhne, Wohnen, Gesundheit und Sozialversicherung, davon ab, dass Arbeiter*innen sich frei organisieren und kollektiv verhandeln können. Im spezifischen Fall Mexikos hat der Rückstand beim Zugang zu den Arbeitsrechten und mit deren vollumfänglicher Ausübung mit strukturellen Phänomenen wie der privatwirtschaftlichen Vereinnahmung und Durchdringung des Staates zu tun. Seit dem Ende der revolutionären Epoche wurde ein Großteil der gewerkschaftlichen Bewegung von der herrschenden Partei (dem Partido Revolucionario Institucional) kooptiert. Aus der Partei heraus wurden die Forderungen der gewerkschaftlichen Bewegung kontrolliert und es wurden institutionelle Strukturen für arbeitsrechtliche Angelegenheiten geschaffen, die die Interessen der Unternehmer*innen und des Staates bevorzugten – mit Schlichtungsverfahren, die keine ordentlichen Arbeitsgerichte darstellten, sondern in ihrer Einberufung und Praxis von der Exekutivgewalt auf Bundesebene abhingen. Es ist daher nur verständlich, dass solche Strukturen auch mit einem Wechsel des Wirtschaftsmodells beibehalten wurden. Da es nämlich Strukturen waren, die im Grunde ein System der Kontrolle möglicher Forderungen fortsetzten, sind sie zwei Hauptzielen des neoliberalen Wirtschaftsmodells sehr zuträglich: der Ausweitung der Kapitalgewinne und der Prekarisierung der Arbeitsbedingungen. In diesem Zusammenhang kommt noch die Tendenz zum Tragen, den freien Fluss von Gütern und Kapital mit Freihandelsabkommen zu erleichtern. Nach heutigem Stand hat Mexiko zwölf Freihandelsabkommen mit 46 Ländern geschlossen, unter denen sich Wirtschaftsmächte wie die USA, Kanada, die Europäische Union und Japan befinden. Die ausländischen Direktinvestitionen in unserem Land stiegen nach Angaben des Wirtschaftsministeriums im Jahr 2018 auf mehr als 31,604 Milliarden US-Dollar. Mit einem Blick auf diese Zahlen sollte man vermuten, dass sich mit diesen Investitionen die Lebensbedingungen der Bewohner*innen des Landes verbessert haben, aber dem ist nicht so. Mehr 372

Private Unternehmen, demokratische Handlungsspielräume

als die Hälfte der mexikanischen Bevölkerung lebt in Armut. Nach Angaben der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik besitzen in Mexiko 10 Prozent der mächtigsten Unternehmen 93 Prozent der materiellen Güter und 10 Prozent der reichsten Haushalte kontrollieren acht von zehn Pesos, die sich im Umlauf befinden. Zweifelsohne dienen die Handelsabkommen in erster Linie der Gewinnmaximierung des Kapitals, indem der Warenfluss erleichtert und günstige Investitionsbedingungen geschaffen werden. Die Umsetzung solcher Abkommen führt dann naturgemäß just wegen der Priorisierung der Handelsbeziehungen gegenüber der Wahrung und dem Schutz der Menschenrechte zu einer Schwächung dieser Rechte. Angesichts eines solchen Szenarios, bei dem das transnationale Kapital Gemeinschaften und Arbeiter*innenkollektive ihrer Rechte beraubt, hat sich ProDESC entschlossen, das Phänomen der privatwirtschaftlichen Vereinnahmung des Staates sichtbar zu machen und an die Öffentlichkeit zu bringen und darüber hinaus Bedingungen dafür zu schaffen, dass Unternehmen auf nationaler wie transnationaler Ebene Rechenschaft ablegen und Verantwortung übernehmen müssen. Die transnationale Perspektive unserer Arbeit bei ProDESC zielt darauf ab, dass nicht nur die Unternehmen, sondern auch deren Herkunftsstaaten für die von den Unternehmen im Ausland begangenen Menschenrechtsverletzungen Verantwortung übernehmen. Bilden Nationalstaat und mexikanisches Rechtssystem die Bedürfnisse der autochthonen Bevölkerung in ihrer Diversität ab? In Mexiko steht das Sozialrecht in einer langen Tradition schützenden Charakters, ob es nun der Schutz gemeinschaftlichen Eigentums oder der Arbeitnehmendenschutz ist, und die mexikanische Verfassung aus dem Jahr 1917 war sogar die erste weltweit, die sich der Dimension der kollektiven Rechte zuwandte, wie sie später im Agrargesetz und im Bundesarbeitsgesetz formalisiert wurden. Dass diese Rechte immer noch in den Gesetzen fortbestehen, bedeutet allerdings nicht, dass sie von den Gemeinschaften beziehungsweise Kollektiven bei Menschenrechtsverletzungen eingefordert werden können. Tatsächlich hat die von Globalisierung und Neoliberalismus geprägte Politik dazu geführt, dass kollektive Rechte eingebüßt wurden. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir in Mexiko gesehen, wie eine ganze Reihe an politischen Maßnahmen und Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht werden, die dazu dienen, die Rückabwicklung von kommunalem Landbesitz und die Prekarisierung von Arbeitsbedingungen zu legitimieren. Das hat angesichts der weiterhin bestehenden strukturel373

Gespräch mit Alejandra Ancheita

len Diskriminierung eine ganz besondere Wirkung auf indigene Gemeinschaften und vor allem auf die Frauen – sowohl in den Gemeinschaften selbst als auch am Arbeitsplatz. Das Gespräch führten Jorge J. Locane und Karina Theurer.

Übersetzung von Dania Schüürmann. Es lektorierte Karina Theurer.

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