Dekoloniale Kunstgeschichte: Eine methodische Einführung 9783422800861, 9783422987586

This book is a long overdue study of art history from a decolonial perspective. It first presents decoloniality as a new

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German Pages 302 Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Dank
Einleitung .
Erstes Kapitel: Was ist Dekolonialität und welche Bedeutung hat sie für die Kunst?
Zweites Kapitel: Warum wird Kunst studiert und warum stellen wir sie her?
Drittes Kapitel: Wie steht Kunst mit den westlichen Wissenschaften in Beziehung und was ist ihr Potenzial?
Viertes Kapitel: Wie stehen Philosophie und Theologie zur Kunst und ihrem Machtpotenzial?
Fünftes Kapitel: Was ist die Beziehung zwischen den verschiedenen Geschichtsmodellen, Kunst und ihrem Studium?
Sechstes Kapitel: Was ist Kritik? .
Siebtes Kapitel: Wie wird Kunst als wissenschaftliche Disziplin studiert?
Achtes Kapitel: Was ist brasilianische Kunst und wie wird sie studiert?
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Dekoloniale Kunstgeschichte: Eine methodische Einführung
 9783422800861, 9783422987586

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DEKOLO­NIALE KUNSTGESCHICHTE

DEKOLO­NIALE KUNSTGESCHICHTE CAROLIN OVERHOFF FERREIRA

EINE METHODISCHE EINFÜHRUNG

Für meine Schätze: Benny, Cauã, Kiki und Sabine

Inhalt Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Erstes Kapitel: Was ist Dekolonialität und welche Bedeutung hat sie für die Kunst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Zweites Kapitel: Warum wird Kunst studiert und warum stellen wir sie her? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Drittes Kapitel: Wie steht Kunst mit den westlichen ­Wissenschaften in Beziehung und was ist ihr Potenzial? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Viertes Kapitel: Wie stehen Philosophie und Theologie zur Kunst und ihrem Machtpotenzial? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Fünftes Kapitel: Was ist die Beziehung zwischen den ­verschiedenen Geschichtsmodellen, Kunst und ihrem Studium? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Sechstes Kapitel: Was ist Kritik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Siebtes Kapitel: Wie wird Kunst als wissenschaftliche Disziplin studiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Achtes Kapitel: Was ist brasilianische Kunst und wie wird sie studiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Über die Autorin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

Inhalt

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Dank Dieses Buch ist das Resultat von fast dreißig Jahren Lehre und Forschung. Ich habe es in Gedanken an die vielen Student:innen, die ich seit 1995 in verschiedenen Ländern unterrichte, geschrieben. Es richtet sich an eine neue Generation, der ich all das, was ich gelernt habe, zur Verfügung stellen möchte. Der intellektuelle Austausch mit meinen Student:innen im Unterricht hat mich nachhaltig beeinflusst und bereichert. Ich bin ihnen und denjenigen, deren Diplom-, Master-, Promotions- und Postdoktorarbeiten ich betreut habe oder für die ich als Prüferin tätig war, für ihr Talent, ihr Interesse und ihre Zuneigung, die mich nachhaltig geprägt haben, von Herzen dankbar. Es handelt sich bei dem vorliegenden Text um eine überarbeitete und erweiterte Übersetzung meines Buches Introdução brasileira à teoria, história e crítica das artes (Brasilianische Einleitung in die Theorie, Geschichte und Kritik der Künste; Almedina Brasil, 2019). Sie wurde durch zwei großzügige Partner ermöglicht: Pablo Schneider, Verantwortlicher des Programmbereichs Kunst und Wissenschaft des Deutscher Kunstverlag, der das Buch angenommen hat sowie Matthias Makowski, Direktor, und Julian Fuchs, Leiter Kulturprogramme Südamerika, des Goethe-Instituts São Paulo, die es finanziell ermöglichten. Ich danke ihnen sehr für ihre Unterstützung. Der indigene brasilianische Künstler Denilson Baniwa hat mir freundlicherweise seine beindruckende Monalisa indígena (Indigene Monalisa) für das Cover zur Verfügung gestellt. Ich danke ihm herzlich.

Dank

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Einleitung Dieses Buch ist das Ergebnis meiner Vorlesungen „Einführung in die Kunstgeschichte“, die ich seit 2014 im Rahmen des Bachelorstudiengangs Kunstgeschichte an der Bundesuniversität von São Paulo (Unifesp), in Brasilien, halte. Die neuen Einsichten dieser überarbeiteten und erweiterten deutschen Ausgabe, die auf Portugiesisch als Introdução brasileira à teoria, história e crítica das artes (Brasilianische Einführung in die Theorie, Geschichte und Kritik der Künste) veröffentlicht wurde, resultieren aus dem Seminar „Dekoloniale brasilianische Kunst“ von 2019 und dem Hauptseminar in den Masterstudiengängen Kunstgeschichte und Philosophie „Kunst, Kultur, Dekolonialität und Philosophie“ von 2021.

Kolonialität und Dekolonialität Ausschlaggebend für das Schreiben dieses Buches war die Erkenntnis, dass es in Brasilien keinen einführenden Text für die verschiedenen Kunstwissenschaften gibt, der den kolonialen Kontext Amerikas mitdenkt, andere Epistemologien berücksichtigt und mit ihnen die westliche problematisiert. Auch wollte ich deutlich machen, dass die Entwicklung der Ästhetik und der Kunststudien die europäische Kolonialität durch ein hierarchisierendes und eurozentrisches Identitätsverständnis begleiteten und somit Völker-, Kultur- sowie Epistemenmord nicht nur sekundierten, sondern aktiv unterstützten. Die hier vorliegende neue Fassung für ein deutschsprachiges Publikum vertieft die Diskussion der Kolonialität in den Kunstwissenschaften und arbeitet die Notwendigkeit ihrer Dekolonisierung noch stärker heraus. Neben der dafür unumgänglichen Dekonstruktion der westlichen Epistemologie lässt sie andere deutlicher zu Wort kommen. Meine Hoffnung ist es, damit eine Grundlage für eine zukünftige dekoloniale Kunstwissenschaft zu schaffen. Die Unentbehrlichkeit der Dekolonialisierung liegt darin begründet, dass die Kunststudien gemeinsam mit der Philosophie und anderen Human- und Sozialwissenschaften, vor allem der Anthropologie und Ethnologie, einen Universalitätsanspruch vertreten, der für die vermeintliche Alterität anderer Kulturkreise verantwortlich ist (Fanon, 1952; Rodney, 1972; Nascimento, 1978; Dussel, 1993; Wiredu, 1996; Jecupé, 1998; Rivera Cusicanqui, 2010; Mignolo, 2011; Mignolo et al., 2013; Munduruku, 2009; Kilomba, 2016; Gonzalez, 2020; Esbell, 2020; 2021). Es ist absurd, aber eine Tatsache, dass die Gleichwertigkeit der Kulturen, die die Europäer kolonialisierten und deren Vertreter im Namen des jüdisch-christlichen westlichen Weltbildes als minderwertig abstempelt wurden, was ihre Unterdrückung, Ausbeutung, Versklavung, und Vernichtung ermöglichte, noch immer kein Allgemeinplatz ist. Man versuchte, oft mit Erfolg, außereuropäische Kosmologien zu zerstören, wofür der christliche Glaube instrumentalisiert wurde. Dies wurde durch den Einfluss der griechischen Philosophie auf die christliche Botschaft, was zu einer Hellenisierung durch die Kirchenväter führte (P’Bitek, 2011), erst möglich. Denn die Idee einer teleologischen Metaphysik – einer der physischen Welt überlegenen Sphäre – gab es in der ursprünglichen christlichen Lehre nicht.

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Einleitung

Durch die Hellenisierung, die man auch als Hierarchisierung der nichtsichtbaren gegenüber der sichtbaren Welt bezeichnen kann und die mit der Ausbreitung griechischen Denkens im Mittelmeerraum in Verbindung steht, ging der christliche Grundgedanke verloren. Dieser bestand in der Idee, dass die im Judentum noch äußerliche Gesetzgebung in eine innerliche verwandelt werden müsse. Innere Gesetzgebung bedeutet, dass jeder Mensch immer schon weiß, wie er sich ethisch Verhalten sollte, ohne dass dies durch Verbote und Gesetze von Außen aufgezwungen werden muss. In den kolonialisierten und heute als indigen betitelten Kulturen gibt es dieses Verständnis einer verbindlichen und universellen Ethik für das Zusammenleben in der Gemeinschaft selbstverständlich ebenso (Wiredu, 1996; Jecupé, 1998; Munduruku, 2009; Rivera Cusicanqui, 2010; Gonzalez, 2020; Esbell, 2020; 2021). Die hellenistische Metaphysik und ihr Einfluss auf das Christentum führte in Europa jedoch zur Idee der Macht des Logos und damit zur Überlegenheit durch Rationalität. Die Institutionalisierung dieser Idee als Glaube durch die christliche Kirche ermöglichte die Entwicklung eines politischen Instruments, das den europäischen Imperialismus im Namen der christlichen „Heilslehre“ als Subalternisierungsmechanismus ermöglichte und rechtfertigte. Griechenland und Rom kannten schon in der Antike die Unterdrückung und Versklavung Anderer, was ihnen ihre imperialistischen und kolonialistischen Praktiken überhaupt erst ermöglichte. Aber die durch das Christentum eingeführte Hierarchisierung und Dichotomie zwischen sichtbarer und nichtsichtbarer Sphäre, physischer und metaphysischer Welt, die es in traditionellen oder außereuropäischen Kulturen nicht gibt (Jecupé, 1998; Sodré, 2017; Wiredu, 2011), boten ein als universell deklariertes Fundament, das die scheinbare moralische und religiöse Superiorität der Europäer ideologisch untermauerte und die Entmenschlichung Anderer in nie zuvor gekannter Form nach sich führte. Das Lancieren herabwertender Identitätskategorien war dafür grundlegend. Die Alterität Anderer wurde durch ethnisierende und rassialisierende Konzepte wie „Indios“ und „Schwarze“ eingeführt und durch die notwendige Errettung dieser „Ungläubigen“ und „Primitiven“ legitimiert. Universalitätsanspruch durch hierarchisierende Metaphysik und Superiorität durch erniedrigende Identitätskategorien wurden elementarer Bestandteil der kolonialen Machtausübung. Die selbsterklärte Überlegenheit des angeblich rationalen, aber letztlich irrationalen Westens (Kilomba, 2019), seiner Kunst und Kultur, zieht sich immer noch wie ein roter Faden durch die Kunstwissenschaften und die Publikationen, die zu ihrer Lehre herangezogen werden. Dazu gehört auch die verquere Vorstellung der Fähigkeit, die Anderen zu retten, um sie auf denselben zivilisatiorischen Stand zu bringen, der aber eigentlich nichts anderes ist als Barbarei (Benjamin, 1980). Auch wenn es Konflikte zwischen den europäischen Ländern in Bezug auf die Eroberungen Amerikas und später Afrikas, Asiens und Ozeaniens gab, ist das christliche Projekt letztlich ein gesamteuropäisches, das von der Idee der Hegemonie in Religion, Wissenschaft, Kultur, Gesellschaft und Politik getragen wurde und wird. Dabei ist die Metaphysik, auf die die Kolonialität sich stützt, im Grunde nicht humanistisch, da sie sich auf einen Gott als außermenschlicher Instanz beruft. Diese übergeordnete Instanz erlaubt(e) es den Europäern, ihre Sitten als moralisch überlegen zu behaupten und sie als Moral anderen Kulturen aufzuzwingen (Wiredu, 2011). Außereuropäische Kosmologien sind im Vergleich zur jüdisch-christlichen humanistisch, da ihre Gottheiten – Entitäten oder Wesen sind treffendere Begriffe  – Ahnen und Vorfahren sind und somit nicht

Kolonialität und Dekolonialität

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außerhalb der menschlichen Sphäre angesiedelt sind. Der Begriff der Gottheit wurde aus dem Westen übernommen, hat aber zumeist keine Äquivalenz in außereuropäischen Sprachen (Wiredu, 2011). Es gibt zumeist eine genealogische Beziehung zwischen allen Wesen und keine übergeordnete außermenschliche Instanz (Jecupé 1998; Munduruku, 2009; Wiredu, 2011). Das Problem der Metaphysik findet in der Dekolonialisierungsdebatte noch wenig Beachtung, obwohl es durch ihre immanente Hierarchisierung das epistemologische Fundament der Kolonialität bildet. Als wissenschaftliche Methode (Bernardino-Costa et al., 2016; 2019) versucht die Dekolonialität, die Kolonialgeschichte und die zeitgenössischen Auswirkungen des kolonialen Erbes zu verstehen, auszuweisen und, so möglich, rückgängig zu machen. Dabei untersucht sie die Mechanismen der Kolonialität, die aus Unterdrückung, Zerstörung, Mord, Raub, Verschleppung, Versklavung und Dehumanisierung durch Ethnisierung und Rassismus bestehen. Die Subalternen und Post-kolonialen Studien, die den Dekolonialen Studien vorausgingen, werden heute kritisch betrachtet, da sie als Teil der westlichen Epistemologie verstanden werden (Rivera Cusicanqui, 2010; Grosfoguel, 2019). Aber auch die Dekolonialität bleibt oft im hegemonialen wissenschaftlichen System verankert (Rivera Cusicanqui, 2010). Um die Kolonialität nicht nur zu erklären, sondern ihrem Fortbestand Einhalt zu gebieten, zeigen die Dekolonialen Studien deshalb auch epistemologische Alternativen auf. Damit wird die Inklusion der historisch Subalternisierten in den kulturellen, philosophischen und wissenschaftlichen Dialog und die gesellschaftliche Praxis angestrebt. Ihre Vertreter kämpfen z. B. in Brasilien seit mehr als 500 Jahren gegen den Kolonialismus und haben aufgrund ihrer historischen und aktuellen Erfahrungen eher wenig Hoffnung, dass ihnen dieses Recht gewährt werden wird (Nascimento, 1979; Jecupé, 1998; Gonzalez, 2020; Munduruku, 2009; Esbell, 2020; 2021). Dennoch wird der Kampf nicht aufgegeben, den eigenen Epistemologien Gehör zu verschaffen und ihre Praxis vor Unterdrückung und Ausrottung zu schützen. Auch wenn Subalternisierte ein Bewusstsein haben, dass sie nur sprechen können, wenn sie auch die Grammatik der Kolonialherren, d. h. deren Epistemologie beherrschen und sich mit deren Konzepten ausdrücken können (Spivak, 1988; 2005). In Kunst und Kunstwissenschaften wurde zunächst mit den Konzepten global und postkolonial operiert. Sie haben jedoch nicht zur Überwindung ihrer Kolonialität beigetragen. Der Begriff der globalen Kunst erschien im Rahmen der Postkolonialität erstmals Ende der 1980er-Jahre. Er drückt zumeist nur ein Interesse an zeitgenössischer Kunst indigener  – damit meine ich sowohl die ursprünglichen Einwohner Afrikas, Amerikas, Asiens und Ozeaniens ehemals kolonialisierter Länder – und afrodiasporischer Künstler:innen aus, mit denen man sich vorher nicht beschäftigt hatte. Letztlich belegt die „globale“ Kunst somit nur das Einbeziehen außereuropäischer Kunst in die westliche Kunstwelt und ihren Markt. Denn außereuropäische Epistemologien kommen bei dieser Integration nicht wirklich zu Wort, wenngleich Dezentrierung und Dekonstruktion angestrebt werden. Darüber hinaus haben die Kunstwissenschaften in kolonialisierten Ländern, etwa in Lateinamerika, beim Versuch, die eigene, vor allem indigene und afrodiasporische Kunst zu verstehen, große Schwierigkeiten, sich von der vorherrschenden eurozentrischen Perspektive zu befreien und die parallel existierenden Epistemologien miteinzubeziehen.

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Einleitung

Statt diese anzuerkennen und zu respektieren, hat man sie anfangs pathologisiert und folklorisiert (Rodrigues, 1988) und konzentrierte sich auf die Anwendung westlicher Meistererzählungen und Schlüsselkonzepte. Mein Ansatz in diesem Buch ist deshalb weder global noch postkolonial, sondern versucht, die westliche Epistemologie, die den Kunststudien in den letzten 2.500 Jahren zugrunde lag – genauer gesagt seit der Erfindung des alphabetischen Schriftsystems im antiken Griechenland –, zu dekonstruieren, um dann die Herausforderung der Dekolonialisierung, im Sinne der Integration und eines besseren Verständnis außereuropäischer Epistemologien, angehen zu können. Ich bin mir der Grenzen meines Versuchs bewusst, da erstmal die westliche Epistemologie dekonstruiert werden muss. Dennoch ist mein Ansatz von der Hoffnung getragen, dass die hier vorgestellten Überlegungen und Einsichten es ermöglichen, einen Beitrag zu der seit den 1970er und 1980er-Jahren laufenden und noch nicht abgeschlossenen Revision der Kunstwissenschaften zu leisten.

Dekolonialer Kunstbegriff Dafür brauchen wir vor allem einen differenzierteren Kunstbegriff, der sowohl seine europäische Entstehung nach der Renaissance als auch seine Ausdehnung auf die jahrtausendealte Kunstproduktion anderer Kulturkreise beinhaltet. Die Kenntnis und Anerkennung der Epistemologien, die für die Kunstproduktion außereuropäischer Kulturen verantwortlich sind, ist dabei unabdingbar. Ich gehe davon aus, dass Kunst – und wir kommen, wie ich noch zeigen werde, um den Begriff nicht wirklich herum – eine universelle Praxis ist. Sie hat unterschiedliche Beweggründe, die sich entweder auf das Diesseits – die Welt und ihre Lebewesen sowie menschliche Gemeinschaften unterschiedlicher Größe – oder das Jenseits – Wesen, Ahnen und Vorfahren – bezieht. Kunst ist eine machtvolle Art der Kommunikation und des Handelns. Erst das hierarchisierende europäische Denken hat versucht, der Kunst diese Macht zu nehmen, sie zu instrumentalisieren oder durch ihr Studium zu ersetzen. Dabei wurden Funktionen zugeschrieben, Hierarchisierungen wie hohe und niedrige Kunst geprägt und Bewertungskategorien eingeführt, die in außereuropäischen Kulturen keinen Sinn machen. Um einen allgemeingültigen Kunstbegriff zu definieren, müssen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf unterschiedliche Kulturen und ihre Epistemologien verstanden werden. Eine zentrale Gemeinsamkeit besteht darin, dass in allen Kulturen die Kunst die Aufgabe hat, das Nichtsichtbare sichtbar zu machen. Dies geschieht jedoch unter unterschiedlichen kosmologischen Vorzeichen, die als spirituell, hierarchisch-metaphysisch oder gleichwertig verstanden werden. Bei der Beobachtung der Unterschiede sind ideologische und soziopolitische Komponenten miteinzubeziehen. Hofkunst in Afrika ist nicht mit Hofkunst in Europa zu vergleichen, da die Begriffe von Herrschaft und Gemeinschaft gänzlich andere sind. Obgleich überall auf der Welt künstlerisch gearbeitet wird und man den Begriff der Artefakte für immer ad acta legen sollte, gilt es, wie gesagt, die epistemologische Andersartigkeit zu erkennen, zu verstehen und miteinzubeziehen. Denn aufgrund der durch den Kolonialismus verursachten Machtverhältnisse bestehen sie auch in der zeitgenössischen sogenannten globalen Kunst fort.

Dekolonialer Kunstbegriff

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Kunst im Singular Als ich anfing über die Struktur dieses Buches nachzudenken, kamen mir alle grundlegenden Fragen zur Kunst in den Sinn: Was ist Kunst? Wie und von wem wurde und wird sie definiert? Weshalb wird sie gemacht? Warum studieren wir ihre Geschichte? Welche Geschichten gibt es und von wem wurden und werden sie erzählt? Welche Methodologien und Paradigmata wurden entwickelt, von wem und mit welcher Absicht? Was sind die Kriterien für Kunstkritik? Von wem und wann wurden sie bestimmt? Wie haben sich Methodologien und Kriterien verändert, wenn überhaupt? Wie ist das Verhältnis zwischen den verschiedenen Künsten? Warum werden die verschiedenen Künste getrennt studiert und wie ist das gekommen? Wie studieren Länder, die unter Kolonialismus litten und leiden Kunst? Ich werde diese Fragen in den einzelnen Kapiteln mehr oder weniger der Reihe nach beantworten. Bevor ich die Struktur des Buches erläutere, möchte ich aber noch kurz auf die Frage der Pluralität der Künste eingehen, da sie für die dekoloniale Konzeption des Buches wichtig ist. Bei meinen Überlegungen spielte die Tatsache, dass es in der Kunst Afrikas, Asiens, Ozeaniens und des indigenen Amerikas keine vergleichbare Trennung in der Anschauung verschiedener Medien gibt, eine wichtige Rolle. Alle Medien – Skulpturen aus Bronze, Holz und Stein, Throne, Masken, Flechtwerke, Webarbeiten, Stoffe, Frisuren, Körperbemalungen, Musiken, Tänze usw. – sind Teil des Wissenssystems der jeweiligen Gesellschaft, die ihre Kosmologie widerspiegelt. Die unterschiedlichen Medien beruhen auf einer Codierung, die Aussagen über die Besitzer und Träger innerhalb der Gemeinschaft machen oder ihre Handlungen bestimmen. Die Bedeutung ist allen Beteiligten bekannt, setzt die Menschen in Beziehung zum Weltlichen und zum Außerweltlichen und somit zu anderen Zeiten und Räumen, die parallel, vergangen oder zukünftig seien können. Die Ahnen und Vorfahren werde dabei immer mitgedacht, wobei es zumeist keine Hierarchie zwischen Mensch, Tier und (Natur-) Wesen gibt. Wie bereits kurz angeschnitten, handelt es sich beim Außerweltlichen nicht um ein Überweltliches im griechisch-hellenistischen Metasinn. Obgleich heute oft die Begriffe Religion, geistige Welt, Spiritualität, Sakralität oder Heiligkeit benutzt werden, vor allem für diasporische oder hybride Kontexte, sind dies jüdisch-christliche Vorstellungen. Das Verständnis für die Komplexität außereuropäischer Epistemologien wird erst durch die Verwendung der Begriffe in den jeweiligen Sprachen ermöglicht, die deshalb herangezogen werden sollten. Aufgrund der sie zusammenhaltenden kosmologischen bzw. epistemologischen Systeme käme niemand außerhalb des westlichen Denkens auf die Idee, die unterschiedlichen Medien als voneinander getrennt zu sehen. Im Gegenteil. Sie ergeben zwar auch einzeln einen Sinn, aber zusammen drücken sie die verschiedenen Facetten einer Weltsicht aus. Wenn man darüber nachdenkt, gilt für Europa genau dasselbe. Die Kunstwissenschaften haben aber alles getan, um eine Trennung zwischen ihnen herbeizuführen, damit der übergeordnete Zusammenhang verloren geht. Wie wir noch sehen werden, ist dies Teil des Versuches die Kunst zu entmachten oder sie für imperialistische Zwecke zu instrumentalisieren. Zu bedenken ist auch, dass sich die verschiedenen Medien und Gattungen nicht nur immer gegenseitig beeinflussten, sondern anfangs auch zusammen gedacht wurden. Erst ab dem 18. Jahrhundert wurden Ideen zu ihrer Einzigartigkeit entwickelt, indem sie

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Einleitung

in Beziehung gesetzt, verglichen oder unterschieden wurden. Oft geschah dies, um eine gewisse Kunstform überhaupt als solche kenntlich zu machen oder aber um ihre Bedeutung in Bezug auf andere Künste hervorzuheben. Es ging, wie immer im europäischen Denken, um Hierarchisierung. Aber selbst dann, wenn die Spezifität einer Kunstform oder eines Mediums diskutiert wurde, war es notwendig, die anderen zu kennen, um mögliche Unterschiede und Grenzen zu behaupten. Dabei sind die westlichen Kunstgattungen, heute nach Medien getrennt, zumeist entweder miteinander verbunden, historisch auseinander hervorgegangen oder an sich unrein und komponierten Charakters, wie etwa Theater, Tanz und audiovisuelle Medien. Nicht zufällig hat es sich die zeitgenössische Kunst zur Aufgabe gemacht, Medien zu kombinieren oder ihr Verhältnis auszuloten. Dennoch bezieht sich der eurozentrische Kunstbegriff immer noch zumeist auf die „bildenden“ Künste (Skulptur, Malerei, Architektur), unter deutlicher Ausklammerung von Musik, Literatur, außereuropäischer Kunst, aber auch zeitgenössischen Ausdrucksformen wie Fotografie, Film, Videokunst, Performances oder Installationen, die in den Fachbereichen Anthropologie, Sozial- und Medienwissenschaft oder Theater- und Filmwissenschaft studiert werden. Obwohl die Wissensbereiche über Kunst und die zugrunde liegenden Epistemologien durchlässiger geworden sind, haben wir uns meiner Meinung nach noch nicht ausreichend darüber Gedanken gemacht, wie ihre Theorien, Geschichten und Kritiken miteinander verbunden sind und deshalb gemeinsam studiert werden sollten, wie ich es in diesem Buch tun werde. Dies ist auch der Grund, warum ich Beispiele aus allen gerade genannten Kunstbereichen heranziehen werde. Eine theoretische Anregung, die Spezifität unterschiedlicher Kunstgattungen oder Medien auch für den westlichen Kulturraum als hinderlich anzusehen, findet sich beim französischen Philosophen Jacques Rancière (2006b). Er schlägt vor, dass wir alle Künste als integralen Bestandteil derselben Geschichte verstehen sollten. Auch der britische Künstler David Hockney hat zu diesem Punkt in Secret Knowledge (Geheimes Wissens, 2001) und mit dem Kunsthistoriker Martin Gayford in A History of Pictures: From the Cave to the Computer Screen (Eine Geschichte der Bilder: von der Höhle zum Computerbildschirm, 2016) einen Beitrag in diesem Sinne geleistet. Hockney und Gayford setzten sich dafür mit einer für den Westen spezifischen Dimension der Welterfassung auseinander: dem Blick. Sie unterscheiden zwischen der Beobachtung mit den menschlichen Augen und dann, seit der Renaissance, dem technologisierten Blick mithilfe der einäugigen Camera obscura. Die Autoren betonen den Einsatz von Linsen und anderen optischen Werkzeugen und hinterfragen die Trennung der Künste entsprechend der technischen Methode ihrer Entstehung (Malerei, Zeichnung, Mosaik, Fotografie, Film, Animation, Cartoon, Comic, Collage, Videospiele, usw.). D. h., sie denken die Kunst auch im Singular und erzählen die Geschichte der von Menschen geschaffenen Bilder als eine einzige, aber keineswegs evolutionäre medientechnische Entwicklung. Dieser Ansatz bringt die westlichen Künste wieder zusammen, insbesondere Malerei, Fotografie und Film. Das Verstehen von Kunst im Singular, das die Singularitäten der Medien angesichts ihrer unterschiedlichen Techniken nicht leugnet, aber als weniger wichtig ansieht, ermöglicht es auch zu verdeutlichen, dass die eurozentrischen Meistererzählungen der Kunstgeschichte hinsichtlich ihrer Geschichte, Theorie und Kritik an die nachfolgenden Disziplinen Literatur, Theater, Fotografie und Film zumeist unreflektiert weitergegeben wurden.

Kunst im Singular

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Eurozentrische Geschichten von der Kunst Es gibt viele Standardwerke der Kunstgeschichte, die immer noch einen hohen kulturellen Stellenwert haben, aber dies nicht berücksichtigen. Sie müssen allerdings in Bezug auf ihre Kunstdefinition – die bildende Kunst – und ihren Ausschnitt – Europa – längst als überholt betrachtet werden. Eine brasilianische Studie von Amália dos Santos, Bruno Moreschi und Gabriel Pereira (2016) zeigt, welche Art der Kunstgeschichte an brasilianischen Universitäten gelehrt wird. Sie belegt, dass die verschiedenen Bachelorstudiengänge sich zumeist auf elf europäische Bücher verlassen, die nichts über Kunst und die Epistemologien der Neuen Welt zu sagen haben, selbst wenn sie zeitgenössische Kunst miteinbeziehen. Um einen Überblick über die europäische Kunst zu gewinnen, sind sie zweifellos wichtig; sie machen aber gerade das Ausschlussszenario der offiziellen Kunstgeschichte deutlich, da in ihnen weder außereuropäische noch brasilianische Kunst erwähnt wird. Zumeist handelt es sich um Bücher zur bildenden Kunst, die die Medienspezifizität aufrechterhalten. Die brasilianische Studie macht auch bewusst, dass die Bücher nicht nur nationale, sondern vor allem sogenannte rassisch-ethnische und genderspezifische Ausgrenzungen aufrechterhalten. Dazu kommt, dass obgleich es einige wenige Überblickswerke über brasilianische Kunstgeschichte gibt (Zanini, 1983; Oliveira, 2008; Battistoni Filho, 2008; Barcinski, 2015), diese kaum auf den Bücherlisten der Kurse zu finden sind. Die Notwendigkeit einer dekolonialen Perspektive für diese Art Wissenschaft, die man nicht anders als kolonialistisch bezeichnen kann, da sie den Eurozentrismus in Brasilien naturalisiert, könnte nicht anschaulicher sein.

Kunstgeschichte als Disziplin Die Kunstwissenschaften wurden in Europa vor etwas mehr als zweihundert Jahren begründet. Es ist aufschlussreich, sich ihre Geschichte kurz anzusehen. Ich konzentriere mich dabei auf die erste wissenschaftliche Disziplin, die Kunstgeschichte, da sie alle nachfolgenden prägte. Sie entstand als akademisches Fachgebiet in Europa Ende des 18. Jahrhunderts mit der Gründung einer Professur an der Universität Göttingen. Johann Dominik Fiorillo (1748–1821), ein Maler und Archivar italienischer Abstammung, war der Erste, der einen Kunstgeschichtelehrstuhl 1799 als außerordentlicher Dozent bekam. 1813 wurde er ordentlicher Professor. Im Laufe des 19. Jahrhunderts vervielfachten sich dann die Professuren im deutschsprachigen Raum mit dem erklärten Ziel, Kunst als historisches Kulturerbe zu etablieren. Die ersten Professuren besetzten 1810 Aloys Hirt an der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin, 1852 Rudolf Eitelberger an der Universität Wien, 1855 Jacob Burckhardt an der Polytechnischen Universität Basel sowie 1870 Friedrich Salomon Vögelin und Johann Rudolf Rahn an der Universität Zürich. 1875 gründete Berlin das erste Institut für Kunstgeschichte, das in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das größte Europas war. In Frankreich wurde zwischen 1925 und 1930 das Institut für Kunst und Archäologie in Paris aus der Schenkung der Bibliothek des Modedesigners und Mäzens Jacques Doucet errichtet. In England wurde Kunstgeschichte seit 1870 zunächst an der Londoner

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Einleitung

Kunsthochschule, der Slade School, gelehrt, wo die erste Professur 1920 eingerichtet wurde. Diese wurde später von den Emigranten Rudolf Wittkower und Ernst Gombrich besetzt. Der erste englische Studiengang in Kunstgeschichte stammt aus dem Jahr 1965, als der Fachbereich am University College in London etabliert wurde. G. W. F. Hegels (1770–1831) Vorlesungen über Ästhetik von 1835 folgend, wählte die Kunstgeschichte einen historiografischen Ansatz. Die Ästhetik hatte sich innerhalb der Philosophie zunächst als eine auf das Sensible ausgerichtete Disziplin entwickelt, die, dem rationalen Paradigma der Moderne folgend, das Intelligible in den Vordergrund gestellt hatte. Die Aufmerksamkeit der Ästhetik galt dementsprechend der Wahrnehmung und Funktion der Kunst und wurde auf Konzepte wie Wahrheit, Schönheit und Geschmack reduziert. Obgleich in Hegels Fußstapfen, sah die Kunstgeschichte im historiografischen Ansatz auch die Möglichkeit sich von der Ästhetik zu emanzipieren. Es war Moritz Thausing, Professor in Wien, der bei seinem Antritt der zweiten Professur 1879 die Trennung von Ästhetik und Kunstgeschichte als Grundprinzip des neuen wissenschaftlichen Studiums vorschlug. An den Universitäten Berlin, Hamburg, Wien und München etablierten sich in den folgenden Jahrzehnten unterschiedliche methodologische Richtungen. Die junge Disziplin war stark vom politischen Kontext geprägt und das nationalsozialistische Regime Adolf Hitlers hatte in Deutschland und Österreich verheerende Auswirkungen, da es zahlreiche Schlüsselfiguren wie Ernst Gombrich, Max Friedländer, Oskar Wulff, Otto Pächt, Erwin Panofsky, Nikolaus Pevsner, Ernst Cohn-Wiener und Rudolf Wittkower ab der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre ins Exil zwang. Darüber hinaus hatte das faschistische Regime direkten Einfluss auf Lehre und Forschung und führte zu Veränderungen in der Objektwahl und Methodik. Die später als Moderne kanonisierte Kunst wurde als „entartet“ verachtet, und das Interesse an nationaler und regionaler Kunst, z. B. der deutschen mittelalterlichen Kunst, gefördert. Gelehrte, die mit der Politik Hitlers sympathisierten oder sie unterstützten, ersetzten diejenigen, deren multidisziplinäre und außereuropäische Interessen den Kurs des Fachs hätten verändern können. Der Einfluss der Zwangsemigration auf das Studium der Kunstgeschichte im englischsprachigen Raum ist nicht zu unterschätzen, da die exilierten Wissenschaftler am Aufbau wichtiger Institutionen in England und den USA beteiligt waren, etwa dem Warburg Institute und dem Courtauld Institute in London oder den Kunstgeschichtsabteilungen der amerikanischen Universitäten Berkeley, Columbia, Princeton und Stanford, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Kunstkritik hatte sich ihrerseits dank eines wachsenden Interesses der Bourgeoisie an Kunst seit der Renaissance entwickelt und wurde zunächst durch kritische Rezensionen und Artikel in den frühen Massenmedien  – Zeitungen oder Fachzeitschriften – für schnellen Konsum betrieben. Obgleich es nie eine vollständige Trennung zwischen Theorie, Geschichte und Kritik gab, bildete sich doch eine gewisse Rollenverteilung zwischen Philosophie, Kunstgeschichte und Kritik heraus. Dies änderte sich, als Künstler:innen, die seit der Renaissance oft Kritiker:innen gewesen waren, ihre Ideen im Laufe des 20. Jahrhunderts in Manifesten programmatisch auszuarbeiten begannen. Ihr wachsender Einfluss auf den Kunstdiskurs hatte auch Auswirkungen auf die Selbstbefragung der Disziplin. Während die Kunstgeschichte zunächst versuchte, ihren historiografischen Ansatz mit neuen Methoden – zuerst Formanalyse (Wölfflin, 1915) und

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Ikonologie (Warburg, 2010; Panofsky, 1978), dann Sozialgeschichte (Hauser, 1958)  – in Kulturgeschichte (Warburg, 2010) umzumünzen, formulierte sie später ihre Identität insgesamt neu. Der Begriff der Kunst sollte durch den des Bildes ersetzt und somit erweitert werden (Boehm, 1994, 2015; Elkins, 1994; Bredekamp, 2015; Belting, 1984, 1995, 2001; DidiHuberman, 2000; Mitchell, 1994, 2005). Aufgrund der Auswirkungen der Politik und trotz der in den vergangenen Jahrzehnten erworbenen methodologischen Komplexität behielt die Kunstgeschichte über weite Strecken des 20. Jahrhunderts eine historisierende Perspektive bei. Genaugenommen hat sie sich immer auf ihr ursprüngliches Interesse verlassen: das Studium der Entwicklung der europäischen bildenden Kunst, ihre Analyse, Einordnung und Datierung, um sie als kulturelles Erbe zu sichern. Das Fach war bis vor dreißig Jahren fast ausschließlich eurozentrisch und konzentrierte sich nahezu gänzlich auf die Geschichtsschreibung der westlichen Kunst als einziger Hochkultur, als deren Wiege die griechische Antike angesehen wird. Erst als in den 1980er-Jahren die Idee des Endes dieses Diskurses aufkam, verlor das zentrale Paradigma der Stilepoche seine Bedeutung und machte einer Reflexion über die Zukunft der Disziplin Platz. Hans Belting erklärte 1983 das „Ende der Kunstgeschichte“, und der amerikanische Philosoph Arthur Danto 1985 das „Ende der Kunst“. Die Erschöpfung des kunsthistorischen Diskurses resultierte aus der Wahrnehmung der Grenzen der historiografischen Meistererzählungen über kanonische Künstler:innen und ihre Werke, der Begrenztheit des Paradigmas der Stilepoche, der Gattungsunterschiede und Methoden wie Formanalyse und Ikonografie. Sowohl Belting (1984) als auch Danto (1985), wenn auch einer aus dem Blickwinkel des Endes der Disziplin und der andere aus dem der Pluralität der künstlerischen Stile, versuchten den geografisch und zeitlich definierten Rahmen der westlichen Kunst auszudehnen und das Studienfeld für andere Objekte, auch der sogenannten Reproduktionsund Massenmedien, zu öffnen. Dies war aber nur theoretisch der Fall, da die Erweiterung des Geltungsbereiches der Kunst die tief verwurzelten Vorstellungen der Zentralität und Überlegenheit der westlichen Kunst sowie die etablierten Methoden nicht wirklich ad acta legte und es keinen klaren Ansatz gab, der die Kunstwissenschaft tiefgreifend verändert und schon gar nicht dekolonialisiert hätte. Das Ende der Kunst zu deklarieren, hat in der deutschen Philosophie Tradition und trug dazu bei, die Kunstgeschichte und später die Kunstwissenschaften überhaupt erst ins Leben zu rufen. Die Idee bestand darin, die Kunst auf ihr Studium zu reduzieren, um ihr sinnliches Potenzial zu schmälern und es nur noch als lebloses Kulturgut zu verstehen. Als Hegel (1986) der Kunst erstmals den Totenschein ausstellte, war dies bereits Programm. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts fand der einflussreiche Philosoph, dass die ihm zeitgenössische Kunst der Romantik nicht mehr in der Lage war, die Wahrheit der Gesellschaft zu offenbaren, wie dies in der klassischen griechischen Kunst der Fall gewesen war. Er hielt es für sinnvoller, Kunst nicht als wesentlichen Teil der Gesellschaft anzusehen, sondern sie fortan nur noch intellektuell zu bewerten, d. h. sie als Objekt zu studieren. Dies stand im Zusammenhang mit dem westlichen Selbstverständnis, das sich während der Kolonialisierung Amerikas herausgebildet hatte und im transzendentalen Subjekt Immanuel Kants (1724–1804) seinen Höhepunkt fand. Denn das transzendentale europäische Subjekt hatte über Kunst und Natur Zugang zur universellen Moral, was

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Einleitung

nicht nur eine Abwendung von der christlichen Religion, sondern auch eine Bestätigung der Superiorität westlicher Rationalität bedeutete. Die Kritik an der Disziplin in den 1980er-Jahren stellte den Kunstbegriff infrage, den der vermeintlich erste Kunsthistoriker, der italienische Künstler und Schriftsteller Giorgio Vasari (1511–1574), zwar noch nicht benutzt, aber durch die Erhöhung der Künstler:innen im Unterschied zu Handwerker:innen ins Leben gerufen hatte. Diese Bedeutung wurde dann in der Ästhetik sowohl Kants als auch Hegels in der Idee des Künstlergenies verankert. Aber die Aufwertung war eigentlich an der Abwertung der Künstler:innen beteiligt. Denn sie waren von nun an zwar Auserwählte, aber ihre Tätigkeit am Rande der Gesellschaft und der Vernunft wurde für sie selbst gefährlich. Die Kunst verlor ihre Kraft, da sie nur noch als Sammel- und Kontemplationsobjekt gesehen wurde. (Agamben, 2012) Mit Vasaris (1910) Lebensbeschreibungen der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Architekten der Renaissance, von 1550, war der erste Anschlag auf Kunst und Künstler:innen ausgeführt worden. Paradoxerweise, indem das Buch die Künstler für die Nachwelt verewigte und der Kunst damit erstmals das Leben auszutreiben suchte. Nach der Todeserklärung der Disziplin im 20. Jahrhundert, die sich aus dem beständigen Versuch der Vernichtung des Lebendigen in der Kunst entwickelt hatte, suchten Anfang der 1990erJahre amerikanische, deutsche und französische Wissenschaftler wie Hans Belting, Horst Bredekamp, Gottfried Boehm, W. J. T. Mitchell und Georges Didi-Huberman, um nur einige zu nennen, eine neue Wissenschaftstheorie, die Bildwissenschaft, zu entwickeln. Gerade Beltings, Mitchells und Böhms Versuche bestanden darin, der Kunst mit dem Begriff des Bildes wieder Leben einzuhauchen. Ein Verständnis der Lebendigkeit von Bildern (oder Kunst im weiteren Sinne), wie sie in außereuropäischen Kulturkreisen immer zu finden ist, wurde damit jedoch nicht wirklich erreicht. Noch ein weiterer wichtiger Faktor führte zur Neuorientierung der Kunstgeschichte, nämlich die von anderen Disziplinen betriebene Multidisziplinarität. Kunst war schon immer für andere Wissensgebiete von Interesse gewesen. Dies intensivierte sich im 20. Jahrhundert, als die Human- und Sozialwissenschaften begannen, sich verstärkt auf sie zu konzentrieren. Denn die neue Bezeichnung des Fachs als Bildwissenschaft verdeutlicht vor allem, dass die Kunstgeschichte nicht nur von Wissenschaftler:innen anderer Disziplinen aufgenommen wurde, sondern dass die Kunsthistoriker:innen seit langem anthropologische, psychologische, soziologische, feministische, phänomenologische und andere Methoden übernommen hatten. Dies führte auch zu einer weiteren Öffnung auf außereuropäische Kunst sowie auf neue Medien und Technologien, auch im Kontext von Populär- und Massenkultur. Noch heute heißen die meisten Studiengänge Kunstgeschichte, auch wenn sie mehr und mehr durch Namen wie Kunstwissenschaft oder Bildwissenschaft ersetzt werden. Manchmal findet man auch die Verbindung von beiden. Im englischsprachigen Raum gibt es unterschiedliche Ansätze wie Visual Arts, Visual Studies, Visual Culture, usw. Während sich die Kunstgeschichte noch immer mit dem Kunstgedanken auseinandersetzt, obwohl sie Methodologien verwendet, die über die Geschichtsschreibung hinausgehen, weist die Bildwissenschaft bereits darauf hin, dass man auf der Suche nach einer neuen Epistemologie ist, die nicht mehr zwischen Kunst- und Populärkultur, europäischer und außereuropäischer Kunst unterscheidet. Sie behandelt Studienobjekte, die von paläolithischen Felsmalereien bis hin zu Werbebildern reichen.

Kunstgeschichte als Disziplin

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Inhalt der Kapitel Nach diesem kurzen Exkurs in die Geschichte der Kunstgeschichte beschreibe ich nun die Struktur des Buches. Im ersten Kapital frage ich: Was ist Dekolonialität und was ist ihre Bedeutung für die Kunstwissenschaften? Zur Beantwortung stelle ich zunächst die Definition der Dekolonialität sowie die Dekolonialen Studien und ihren Unterschied zu den Postkolonialen und Subalternen Studien, ihre Geschichte und einige ihrer Autor:innen vor (Joaze Bernardino-Costa, Enrique Dussel, Franz Fanon, Ramón Grosfoguel, Walter Mignolo, Anibal Quijano, Walter Rodney). Ich argumentiere, dass der Begriff der Dekolonialität einen breiteren politischen Ansatz als der der Postkolonialität verfolgt, denn er ist sowohl analytisch als auch programmatisch. Dennoch beobachte ich, dass letztlich nur nicht-hegemoniale Denker neue Wege weisen. Deshalb lasse ich afrikanische, afrodiasporische und indigene Autor:innen zu Wort kommen (Silvia Rivera Cusicanqui, Jaider Esbell, Lélia Gonzalez, Kaká Werá Jecupé, Grada Kilomba, Daniel Munduruku, Abdias Nascimento, Okot P’Bitek, Kwasi Wiredu, u. a.), die gegen die zeitgenössische koloniale Gewalt und den Universalitätsanspruch des Westens kämpfen sowie die koloniale Irrationalität durch Berufung auf außereuropäische Epistemologien kenntlich machen. Ich gebe zu denken, dass wir ohne ein Verständnis dieser Epistemologien die Kunstwissenschaften, die ein wesentlicher Teil der Kolonialität waren und sind, nicht dekolonialisieren können. Im zweiten Kapitel stelle ich zwei grundlegende Fragen: Warum studieren wir Kunst und warum produzieren wir sie überhaupt? Ich präsentiere meine Antworten in fünf Schritten. Der erste besteht aus einer Diskussion der Idee historischer und ahistorischer Menschen anhand des Films Die Höhle der vergessenen Träume (Werner Herzog, 1994), der sich mit den Felsmalereien in Chauvet, Frankreich, die kurzzeitig als die ältesten existierenden Kunstwerke der Welt galten, auseinandersetzt. Da der Westen den Schlüssel, d. h. das Wissen zu ihrem Verständnis verloren hat, sucht man sie zu verstehen und deshalb zu studieren. Im zweiten Schritt stelle ich einige westliche und nichtwestliche Autor:innen vor, die sich aus heutiger Sicht mit den Motivationen beschäftigen, die Menschen dazu bringen, Kunst zu produzieren. Dabei unterscheide ich zwischen indigener und westlicher Herangehensweise, die sich in Multiperspektivismus und Anthropozentrismus artikulieren. Ich zeige, dass die zeitgenössischen Bildtheorien der westlichen Idee der Individuation verpflichtet sind und dass sie deshalb nicht wirklich neuen Sichtweisen offenbaren. Deshalb plädiere ich in einem dritten Schritt für einen erweiterten Kunstbegriff. Danach kehre ich noch einmal zu Erklärungen zum Warum der Kunstproduktion zurück und erstelle ein historisches Kaleidoskop von Antworten, die vom Wunsch zu verbinden, zu wissen, zu vermitteln, zu verflachen bis zum Erinnern reichen. Zuletzt, im fünften Schritt, gehe ich noch auf die Frage der Medien ein, da die verschiedenen Arten der Kodierung weiteren Aufschluss über die Gründe der Kunstherstellung geben. Ich diskutiere mithilfe einiger Medienwissenschaftler und indigender Autor:innen die Bedeutung von Bildern, Texten und technologischen Codes. Das dritte Kapitel fragt: Wie verhält sich Kunst generell zu anderen Wissensformen und welches Potenzial hat sie? Es besteht aus zwei Teilen. Ich verwende zuerst Michel Foucaults Buch Die Ordnung der Dinge, das das Potenzial der Kunst  – Las Meninas/Die Hoffräulein von Diego Velazquez – nutzt, um zu zeigen, wann und wie Europa begann,

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Einleitung

hierarchisierendes Wissen über die Welt zunächst analytisch und dann historisierend zu organisieren. Ich verweise auf die Grenzen der foucaultschen Analyse, da sie die Verbindung zum Kolonialismus nicht bedachte. Um zu verdeutlichen, wie das dem analytisch-historisierenden vorhergehende interpretative christliche Denken funktionierte, das außereuropäischen Epistemologien näher steht, stelle ich Didi-Hubermans Interpretation der Verkündigung von Fra Angelico dar. Dessen Eurozentrismus erarbeite ich dann mit einem afrikanischen Beispiel, einer kongolesischen Nkisi Skulptur. Danach diskutiere ich in Anlehnung an Foucault das historisierende Denken mithilfe eines Kunstwerks – Pablo Picassos Version von Las Meninas aus den 1950er-Jahren. Im zweiten Teil setze ich mich mit René Magrittes Versionen von Der Schlüssel der Träume aus den 1930er-Jahren auseinander, da sie die Fähigkeit der Kunst aufzeigen, das analytisch-historisierende Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat und somit die westliche Epistemologie ins Wanken zu bringen. Die Bilder heben das Potenzial der Kunst im Gegensatz zu anderen Wissensgebieten hervor. Um das Problem des Kunstpotenzials noch deutlicher herauszustellen, diskutiere ich dann die Versuche verschiedener Philosophen dieses entweder zu reduzieren (Platon, Aristoteles) oder zu betonen (Martin Heidegger, Peter Sloterdijk). Das vierte Kapitel vertieft das Problem der Kunst als Epistemologie und den Umgang mit diesem bedrohlichen Potenzial in drei Schritten. Die zentrale Frage lautet: In welcher Beziehung stehen westliche Philosophie und Theologie zur Kunst? Zuerst werden diese beiden ältesten Vertreter des schriftlichen Wissens bezüglich ihrer vielen Ängste und wenigen Hoffnungen in Bezug auf die Macht der Kunst dargestellt. Dabei zeige ich, wie Philosophie und die jüdische, christliche und islamische Theologie die Theorie- und Konzeptbildung zur Kunst beeinflussten, zumeist um sie zu beschränken. Ich beschreibe den christlichen Weg, die Beschränkungen der Darstellbarkeit des Heiligen durch die Erfindung „göttlicher“ nicht von Menschenhand geschaffener Bilder, den acheiropoieta, zu umgehen. Dann gehe ich detailliert auf den Ikonoklasmus, der auf religiösen, politischen oder ästhetischen Ressentiments basieren kann, ein. Dieser Praxis stelle ich außereuropäische Kunstauffassungen gegenüber, die Kunst als Weg zum Nichtsichtbaren sehen. Im zweiten Schritt stelle ich dem chronologischen Zeitstrahl vom antiken Griechenland bis zur Romantik folgend dar, wie die westliche Philosophie versucht hat, das Sensible durch das Intelligible zu beherrschen. Platon, Aristoteles, Kant und Hegel werden erörtert. Dabei arbeite ich heraus, wie die Kolonialität ein wichtiger Grund für die Formulierung der Ästhetik, des transzendentalen Subjekts, der universellen Moral und anderer Konzepte war, die den Ausschluss außereuropäischer Menschen und Kunst zum Ziel hatten. Mit Agamben verweise ich noch auf einen weiteren Grund für die Beschränkung der Macht der Kunst: die Sammelleidenschaft und Begründung des Kunstmarkts. Im letzten Schritt gehe ich auf die Entdeckung der Idee eines emanzipatorischen Potenzials der Kunst in der westlichen Philosophie durch Schiller, Schelling, Nietzsche und Rancière ein. Im fünften Kapitel beschreibe ich ausführlich in drei Unterkapiteln die Beziehung zwischen Kunst, Geschichte und Kunstwissenschaften. Ich frage: Was ist die Beziehung zwischen den verschiedenen Geschichtsmodellen, Kunst und ihrem Studium? Zunächst stelle ich die Geschichtswissenschaft vor sowie deren wichtigste Modelle und Methoden. In Anlehnung an den Historiker E. H. Carr und den Philosophen Walter Benjamin erkläre ich die Konzepte „Positivismus“ und „Historismus“ sowie die evolutionär-teleologischen

Inhalt der Kapitel

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und zirkulären Geschichtsmodelle und ihre Entstehung. Während das evolutionäre Modell eine westliche Erfindung ist und auf der Idee des Fortschritts und des Niedergangs aufbaut, bezieht sich das zirkuläre Modell sowohl auf den Zyklus der Natur als auch auf die Kritik des westlichen politischen Machtmodells. Im zweiten Unterkapitel zeige ich dann auf, wie die Geschichtsmodelle in der zeitgenössischen Dramatik, im Film, im Theater, in Performances und der zeitgenössischen Kunst zum Tragen kommen. Im letzten Unterkapitel stelle ich dar, wie die Kunstgeschichte, die Film-, Medien und Theaterwissenschaft die Modelle in ihren Historiografien zunächst übernahmen und dann problematisierten. Das sechste Kapitel ist der Kritik gewidmet. Es hat zwei Teile: Was ist Kunstkritik? und Von den Methodologien der Kritik. Zunächst gebe ich einen Überblick über die Entwicklung der Kritik vom antiken Griechenland bis zur Aufklärung. Ich hebe hervor, wie die geschaffenen Kriterien über die Kanonisierung von Kunstwerken, -epochen und -stilen entschieden. Dies skizziere ich von der Poetik des Aristoteles und deren Einfluss auf die lateinisch-rhetorische Tradition von Plautus bis hin zu den Renaissance-Schriften von Jean Chapelain. Im zweiten Teil erarbeite ich drei unterschiedliche Methodologien von Kritik: die enzyklopädischen und biografischen Ansätze – insbesondere Plinius des Älteren, Giorgio Vasaris und Pierre Daniel Huets; die praxisorientierten Kunsthandbücher Polykleitos, Vitruvs, Leon Battista Albertis und Alfred Dürers. Anhand ihrer Schriften verdeutliche ich die zunehmende Ausarbeitung des Anthropozentrismus und der Virtualisierung. Schließlich beschreibe ich, wie seit dem 18. Jahrhundert Künstler wie John Richardson, Denis Diderot und Gotthold Ephraim Lessing begannen, die Unterschiede zwischen den Künsten zu etablieren, um ihre Besonderheiten zu ermitteln und somit die Unterteilung der Kunstwissenschaften in verschiedene Medien voranzutreiben. Ich beobachte, dass die Bewertungskriterien für außereuropäische Kunst bedeutungslos und im Westen Ausdruck eines ideologischen Projekts der Hierarchisierung sind. Im siebten Kapitel frage ich: Wie wird Kunst als wissenschaftliche Disziplin studiert? Ich zeige in drei Schritten die zwar umfangreichen, aber letztlich nicht so vielfältigen Methoden der Kunstwissenschaften. Als Grundlage für meine kritische Diskussion stelle ich zuerst zwei Konzepte der westlichen Wissenschaftstheorie vor: Paradigma in der Definition von Thomas Kuhn und Indisziplinarität nach Jacques Rancière. Auch beobachte ich, dass keine der angewandten Methoden für außereuropäische Kunst irgendeine Bedeutung hat. Im zweiten Schritt stelle ich das zentrale Paradigma der Kunstgeschichte, den Epochenstil, vor, der von großer Bedeutung für die europäische Identität und ihr suprematistisches Kolonialherrenverhalten war. Ich stelle einige berühmte Beispiele vor: Johann Joachim Winckelmann zur Antike sowie dessen Infragestellung durch Cheik Anta Diop und John Jackson, die Ägypten als Wiege der Menschheit beschrieben; Jacob Burckhardt zur Renaissance; Émile Mâle zur Gotik; Clement Greenberg zur Moderne; Rosalind Krauss zur Postmoderne; und Heinrich Wölfflins formale Analyse der Renaissance und des Barocks. Danach diskutiere ich die Hinterfragung des Paradigmas durch die Ideen des Stilpluralismus und der Transhistorie. Der Variante des Epochenstils als Autorenstil in der Film- und Literaturwissenschaft widme ich ebenfalls meine Aufmerksamkeit, wobei ich vor allem die Versuche seiner Dekonstruktion durch Roland Barthes und Michel Foucault hervorhebe. Der dritte Schritt beschreibt Methoden mit einer größeren Interund Multidisziplinarität. Ich erläuterte im Detail die Ikonologie Erwin Panovskys, die zentralen Begriffe der Kulturwissenschaft Aby Warburgs sowie die ikonische oder piktorische

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Einleitung

Wende hin zur Bildwissenschaft durch Gottfried Böhm und W. T. J. Mitchell. Obwohl sie versuchen, auch für außereuropäische Bilder zu gelten, zeige ich ihre Begrenztheit auf. Das letzte Kapitel ist ganz den Kunstwissenschaften in Brasilien gewidmet, mit einigen wenigen Hinweisen auf die Situation anderer lateinamerikanischer Länder. Es fragt: Was ist brasilianische Kunst und wie wird sie studiert? Dies wird in fünf Unterkapiteln dargelegt. Ich gehe zunächst von der Diskussion der Kolonialität Brasiliens in Film- und Literaturwissenschaft aus. Ich zeige, dass diese Reflexionen nicht fähig sind, außerhalb einer Dialektik mit Europa zu denken und somit indigene und afrodiasporische Kultur und Kunst ignorieren. Um eine neue Perspektive aufzuwerfen, stelle ich afrodiasporische und indigene Autoren vor. Dann verdeutliche ich den wissenschaftlichen Eurozentrismus in der Kunstgeschichte durch die Übernahme des europäischen Meisternarrativs der Periodisierung – präkoloniale, koloniale und brasilianische Kunst  – und der Erfindung zweier Ursprungsmythen: der Einführung einer Kunstakademie 1816 und die Moderne Kunstwoche von 1922. Im dritten Unterkapitel zeige ich, dass Eurozentrismus und Nationalismus auch in der brasilianischen Kunst allgegenwärtig sind, da sie immer Ausdruck einer ideologischen Agenda der weißen Bourgeoisie war und benutzt wurde, um den Kolonialismus zu beschönigen oder zu leugnen. Danach hebe ich hervor, dass Kunst nie einen großen Stellenwert in Brasilien hatte, auch wenn die Kunstwissenschaften das Gegenteil behaupten. Zuletzt stelle ich Veröffentlichungen wie Handbücher, Kunstkritik und die wichtigsten Publikationen der Kunstgeschichte sowie einige nationale und internationale Ausstellungen, die die Sicht auf die Kunst geprägt haben, vor. Meine Analyse zeigt, dass obwohl es in den Kunstwissenschaften immer das Bewusstsein gab, man müsse das Verhältnis zwischen Brasilien und dem Rest der Welt diskutieren, dies nie zu einer Dekolonisierung führte, d. h. dass die afrobrasilianische und indigene Kunst nie als Teil der nationalen Kunst verstanden wurde.

Dekolonialisierung der Kunstwissenschaften und der Kunst Während ich dieses Buch schrieb, war ich ehrlich überrascht, zu sehen, wie sich in der westlichen Epistemologie bestimmte Vorstellungen von Kunst in den letzten zweieinhalb Jahrtausenden nie wirklich verändert haben. Der Versuch, Kunst zu kontrollieren und dem Intelligiblen zu unterstellen sowie außereuropäische Kunst zu verunglimpfen, zieht sich wie ein roter Faden durch die westliche Kunstepistemologie. Die Bildwissenschaft hat zwar eine gewisse Redefinition unternommen, stellt aber keinen wirklichen Bruch mit der westlichen Epistemologie dar. Es ist nicht verwunderlich, dass die westliche Kontrolle der Kunst durch ihr Studium, vor allem durch die Objektwahl, Methodologien und Wertvorstellungen, in kolonialisierten Ländern, z. B. in Brasilien, direkt übernommen wurde. Dort kann man beide Dynamiken der Kolonialisierung der Kunst besonders gut beobachten, da sie sich sowohl auf die eurozentrische, als auch auf die indigene und afrodiasporische Kunst beziehen. In Brasilien haben sich jedoch in den letzten Jahren indigene, afrikanische und afrobrasilianische Autor:innen zu Wort gemeldet, die andere Sichtweisen auf die Kunst, auch wenn es in ihren Sprachen zumeist keine Wörter dafür gibt, und die Welt eröffnen. Sie ermöglichen es, die Komplexität der Notwendigkeit einer Dekolonisierung sowohl im Hinblick auf die westlich-hegemonische als auch auf die nicht-westliche, nicht-hegemonische

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Kunst zu verstehen. Denn letztlich wurde die erste in Politik, Philosophie, Theologie und Wissenschaften instrumentalisiert und die zweite subalternisiert. Die Bedeutung der Kunst als Sichtbarmachung des Nichtsichtbaren, d. h. der Verbindung der Menschen zu ihrer Spiritualität und ihrem kollektiven Wissen wurde im Westen gebrochen und im außereuropäischen Raum fast zerstört, da sie dort eine starke Anbindung ans Diesseits ausweist, was man als bedrohlich versteht. Da es sich bei Kunst um eine elementare menschliche Epistemologie handelt, die dem Leben Sinn gibt, dürfen die Auswirkungen der Unterdrückung der Kunst durch ihre Kolonialisierung nicht unterschätzt werden. Der Eintritt sowohl indigener als auch afrodiasporischer Künstler:innen in die zeitgenössische Kunst in den letzten zehn Jahren hat die Debatte in Brasilien maßgeblich erweitert und bereichert. Da ihre Kunst eine starke Verbindung sowohl mit dem Alltag als auch mit dem Nichtsichtbaren aufweist, machen sie und ihre Werke es heute möglich, die gerade beschriebenen Auswirkungen auf ihre und die westliche Welt besser zu verstehen. Dadurch verdeutlichen sie die Dringlichkeit, endlich den Versuch anzugehen, die Kunstwissenschaften zu dekolonisieren und einen universellen Kunstbegriff zu entwickeln. Dieser Kunstbegriff sollte die Bedeutung der Kunst für die Sinnstiftung im menschlichen Leben einklagen und dazu einladen, gegen die Einschränkungen ihres Potenzial vorzugehen. Dass dies auf Widerstand stoßen wird, ist kein Geheimnis. Auch haben wir noch keine Methoden, wie wir außereuropäische Kunst untersuchen sollten, da die Epistemologien, die dafür nötig sind, noch zu wenig bekannt sind. Es ist jedoch an der Zeit endlich den kolonialen Gehalt der westlichen Kunstepistemologie kenntlich zu machen, sowie deutlich zu sagen, dass sie vor allem dazu da war, erst Europa und dann die USA als imperialistische Kolonialmacht zu etablieren. Dies gilt, wie gesagt, sowohl für die sogenannte westliche als auch im Besonderen für die nicht-westliche Kunst. Zwei Herangehensweisen sind deshalb notwendig: Zum einen die Dekonstruktion der Kolonialität der Kunstwissenschaften im Allgemeinen in allen sie betreffenden Bereichen und Disziplinen. Dies beinhaltet die Untersuchung westlicher Kunst auf ihren kolonialen Gehalt. Und zum anderen, das Studium außereuropäischer Kunst und ihrer Epistemologien, um aufzuzeigen, dass sie imstande ist, der menschlichen Existenz Sinn zu geben, eben jenen Sinn, der ihr im Westen durch ihre Beschränkung durch Politik, Philosophie, Theologie und Wissenschaften oft vorenthalten wird. Auch müssen die jüngsten Debatten zur Rückgabe von Raubkunst intensiviert werden, da sie Aufschluss für beide Problematiken geben können. Für die Dekolonialisierung unseres Denkens ist es unabdingbar, andere Epistemologien heranzuziehen, die uns verstehen helfen, was Kunst – in einem universellen und für alle Völker und Kulturen geltenden Sinne – tatsächlich ist: Sinnstiftung und Wissen um unsere menschliche Existenz. Denn erst dann werden wir das Potenzial der Kunst in seiner ganzen Spannweite erfassen und seine Subalternisierung aufheben können. Dies gilt, wie gesagt, für die diskursive Entmachtung und Instrumentalisierung der Kunst im Allgemeinen durch die Wissensdisziplinen, aber eben ganz besonders für die Unterdrückung außereuropäischer Kunst. Einen Schritt in diese Richtung zu gehen, ist das Ziel dieses Buches.

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Einleitung

ERSTES KAPITEL :

Was ist Dekolonialität und welche Bedeutung hat sie für die Kunst? Der Begriff der Dekolonialität ist ein Begriff des Widerstands. Er bezieht sich auf die Notwendigkeit, noch heute existierende koloniale Denkmuster, Konzepte und Diskurse sowie die auf ihnen aufbauenden kulturellen, psychologischen, soziopolitischen, ökonomischen und ökologischen Machtstrukturen und Praktiken auszuweisen, um die ihnen zugrunde liegenden hierarchisierenden und subalternisierenden Mechanismen zu verstehen, bewusst zu machen, abzulegen und nicht-hegemoniale, bislang unterdrückt, bekämpfte und durch westliche Diskurse als „andere“ markierte Epistemologien als ebenbürtig zu behaupten. Die portugiesische Künstlerin und Psychologin santomensischer Abstammung Grada Kilomba (2019, S. 238) fasst die Dekolonialisierung so zusammen: „wir werden zu Subjekten.“ Es ist der Versuch, Jahrhunderte der Alterität zu konfrontieren. Um ein tieferes Verständnis für die Dekolonialität und ihre Bedeutung zu erlangen, werde ich in diesem Kapitel zunächst die historische und geografische Genese des Begriffs erklären. Dann werde ich die jüngsten Definitionen und Methodologien sowie deren Autor:innen vorstellen. Im Folgenden werde ich den Kampf gegen die Kolonialität, die zeitgenössische koloniale Gewalt und den sie ermöglichenden trügerischen Universalitätsanspruch der westlichen Epistemologie behandeln, den es zu dekolonialisieren gilt. Dafür werde ich aufzeigen, wie die europäische Epistemologie Konzepte wie Rationalität, Moral, Volk , Geschichte, Kultur und Kunst instrumentalisierte, um die angeblich Anderen durch philosophische, wissenschaftliche und kulturelle Ethnisierung und Rassialisierung beherrschbar zu machen. Dieser europäischen kolonialistischen Herangehensweise stelle ich nicht-hegemoniale Perspektiven aus kolonialisierten Kontexten gegenüber, die basierend auf ihren Epistemologien die Arglistigkeit dieses Vorgehens ausweisen und ihre eigene dagegenstellen. Was die Einbindung der Kunst in den kolonialen Diskurs angeht, werde ich mit der Dichotomie zwischen „europäischer“ und „außereuropäischer“ Kunst arbeiten. Ich bin mir dabei bewusst, dass dies viele Probleme birgt. Europäische Kunst wurde teilweise ebenso unterdrückt, instrumentalisiert und missverstanden wie außereuropäische. Deshalb möchte ich klarstellen, dass ich in diesem Buch den Begriff der europäischen Kunst immer im Kontext der hegemonialen und den Kolonialismus sekundierenden Kunstgeschichte verstehe, also für kanonisierte und überhöhte westliche bildende Kunst verwende.

Was ist Dekolonialität und welche Bedeutung hat sie für die Kunst?

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Zur Genese des Begriffs der Dekolonialität Dekolonialität als Begriff trat zunächst in Afrika in den 1980er-Jahren nach den neuen Staatengründungen auf, die den Unabhängigkeitskriegen und -erklärungen folgten. Diese ereigneten sich je nach Land, Region und Kolonialherrschaft seit den 1950er-Jahren. Die erste Euphorie über die politischen Entkolonialisierungsprozesse war verflogen und ihr Scheitern wurde augenfällig (Wiredu, 1996, S. 5), wollte von Intellektuellen, Politiker:innen, Wissenschaftler:innen und Künstler:innen benannt, dargestellt und verändert werden. Nach dem geopolitischen Paradigmenwechsel, der dem Zweiten Weltkrieg folgte und den europäischen Imperialismus fragwürdig machte, hatte es in Afrika und der Karibik schon vielfache Bestrebungen gegeben, politische (Fanon, 1961; Nyerere, 1966; Cabral, 1967; Nkrumah, 1965), rassisch-ethnische (Césaire, 1950; 1987; Fanon, 1952; Senghor, 1963) und kulturelle Gleichberechtigung (Jackson, 1939; 1974; Diop, 1974) einzufordern. Mahatma Gandhi war in Asien die wohl einflussreichste Figur, was Selbstbestimmung und Emanzipation von der Kolonialmacht anging. Der Begriff der Dekolonialität wurde dort jedoch nicht verwandt. In Bezug auf Afrika und Lateinamerika handelte es sich um die Fortsetzung eines jahrhundertelangen Kampfes gegen Kolonialherrschaft und Sklaverei, die von den eroberten Königen und anderen Aristokraten sowie der indigenen Bevölkerung durch diplomatischen Widerstand, Kriege, Aufstand, Meuterei, Flucht usw. geführt wurde (Lingna Nafafé, 2022). Die Geschichte des Widerstands gegen den Kolonialismus und die Versklavung ist nur unvollständig erzählt, wie der bissau- guineensische Historiker José Lingna Nafafé (2022) beschreibt. Die Dokumente, die die Widerstände belegen, sind entweder nicht bekannt oder es werden nur solche genannt, die dem europäischen Narrativ dienen. Deshalb wird auch die Abschaffung der Sklaverei zumeist weißen Vertretern der ehemaligen Kolonien und der Kolonialmächte zugesprochen. Dabei wurde sie aktiv von Anführern, Königen und Aristokraten in Afrika und den Amerikas seit dem 16. Jahrhundert gefordert und führte bereits im 17. Jahrhundert zu einem Gerichtsverfahren gegen die portugiesischen und spanischen Königshäuser vor dem Vatikan, das jedoch in zweiter Instanz verloren wurde (Lingna Nafafé, 2022). Die Notwendigkeit einer Dekolonialisierung des Denkens aufgrund des Fortbestehens des kolonialistischen eurozentrischen Weltbildes und der Konstruktion neuer imperialistischer Abhängigkeitsverhältnisse (Rodney, 1972) wurde nach der politischen Dekolonialisierung schnell als zentrale Herausforderung kenntlich. Sie wurde von afrikanischen Gelehrt:innen in Bezug auf verschiedene Künste wie Literatur und Film (Wa Thiong’o, 1986) sowie für wissenschaftliche Disziplinen wie Anthropologie, Philosophie, Religionswissenschaft usw. intensiv diskutiert (Mudimbe, 1988; P’Bitek, 2011; Wiredu, 1996; 2011). Die kritische Hinterfragung der realen Existenz einer Postkolonialität und Studien der Subalternisierung wurden dann sowohl auf dem afrikanischen (Said, 1994; 2009) als auch auf dem asiatischen Kontinent entwickelt (Spivak, 1988, 2005). In den späten 1980er und 90er-Jahren kam es zu einer Wiederbelebung des Begriffs der Dekolonialität durch lateinamerikanische Wissenschaftler:innen (Rivera Cusiquanqui, 2010; Mignolo, 2011; Quijano, 2006). Nicht zufällig waren sie vor allem, aber nicht ausschließlich an amerikanischen Universitäten tätig, denn dort hatte sich durch die

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Was ist Dekolonialität und welche Bedeutung hat sie für die Kunst?

schwarze Bürgerrechtsbewegung ein größeres politisches Potenzial entwickelt als in den von Diktaturen gebeutelten mittel- und südamerikanischen Ländern. Man versuchte dabei aus den Fehlern der Postkolonialen und Subalternen Studien zu lernen und den Unterschied der Kolonialität des lateinamerikanischen Kontextes herauszuarbeiten. Dieser besteht sowohl in der wesentlich früheren Kolonialisierung  – seit dem späten 16. Jahrhundert –, den nahezu vollkommenen Genoziden der ursprünglichen Bevölkerung und den damit verbundenen Kulturziden sowie den erzkonservativen politischen Unabhängigkeiten und Staatenbildungen nach westlichem Vorbild im 19. Jahrhundert, kurz bevor das europäische „Gerangel“ (scramble) um Afrika begann.

Von den zeitgenössischen Definitionen der Dekolonialität und ihren Autor:innen Maßgeblich für die Dekolonialität ist eine Umbewertung der Moderne, die in ihrer aggressiven subalternisierenden kolonial-kapitalistischen Dimension verstanden wird. Dabei spielt die Kritik an der eurozentrischen westlichen Epistemologie, die diese ermöglichte und rechtfertigte, eine maßgebliche Rolle. Die brasilianische Politikwissenschaftlerin Luciana Ballestrin benennt die zentralen Grundsätze der Dekolonialität: 1. Der Beginn der Moderne wird in der Eroberung Amerikas und der Kontrolle des Atlantiks durch Europa zwischen dem Ende des 15. Jahrhunderts und dem Beginn des 16. Jahrhunderts angesiedelt und nicht erst ab der Aufklärung oder der industriellen Revolution; 2. Die Strukturierung der Macht durch Kolonialismus und die konstitutive Dynamik des modernen/kapitalistischen Weltsystems und seiner spezifischen Formen der Akkumulation und Ausbeutung im globalen Maßstab wird betont; 3. Die Moderne wird als planetarisches Phänomen verstanden, das durch asymmetrische Machtverhältnisse konstituiert ist, die in Europa produziert und später auf den Rest der Welt ausgeweitet wurden; 4. Die Asymmetrie der Machtverhältnisse zwischen Europa und den kolonialisierten Ländern stellt eine konstitutive Dimension der Moderne dar und impliziert daher notwendigerweise die Unterordnung der Praktiken und Subjektivitäten der beherrschten Völker; 5. Die Unterordnung der Mehrheit der Weltbevölkerung basiert auf zwei Strukturachsen: auf der Kontrolle der Arbeit und der Kontrolle der Intersubjektivität; 6. Der Eurozentrismus wird als eine spezifische Form der Wissens- und Subjektivitätsproduktion der Moderne verstanden. (Ballestrin, 2013, S. 5)

Der peruanische Sozialwissenschaftler Anibal Quijano (2006) ist mit seinem Konzept der „Kolonialität der Macht“, d. h. dem Ausweisen des Fortbestehens kolonialer Machtstrukturen nach den Unabhängigkeiten und Staatsgründungen für viele der Vater der lateinamerikanischen Dekolonialität. Wie auch Enrique Dussel verstand er den Kolonialismus erstmals als globales europäisches Projekt des Kapitalismus. Für Dussel (1993, S. 9) war ausschlaggebend, dass die Moderne ein dialektisches Phänomen ist, während dem sich

Von den zeitgenössischen Definitionen der Dekolonialität

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die Europäer als „Zentrum der Weltgeschichte“ behaupteten, indem sie sich gegenüber dem Rest der Welt als Vertreter einer rationalen Emanzipation auswiesen. Die Geburt der Moderne im Jahre 1492, der „Entdeckung“ Amerikas – obgleich der Kontinent bereits den Afrikanern, Chinesen, Japanern, Wikingern etc. bekannt war –, sei in seinem Verständnis durch maßlose Gewalt und Hochmut gekennzeichnet. Die neue Religion des Kapitalismus wurde durch die Degradierung der außereuropäischen Anderen als „unreife“ und „unmündige“ Wesen, gemäß Hegels Formulierung, ermöglicht, die sie aus der Weltgeschichte verbannte (Dussel, 1993, S. 18). Da es sich dabei jedoch um einen „irrationalen Mythos“ handele, schlägt Dussel (1993, S. 9) die Überwindung der Moderne durch eine Trans-Moderne vor. Von den angeblich zivilisierten Christen als primitiv und heidnisch abgestempelt, wurden die eroberten Völker gezwungen, in die Moderne einzutreten, wobei ihre kulturellen, soziopolitischen, ökonomischen und ökologischen Strukturen, die in Einklang mit ihren Kosmologien und Lebensstilen waren, zerstört. Ihre Strukturen basierten auf dem Respekt gegenüber der Natur und deren Ressourcen, die nicht nur wie im Fall der Europäer ausgebeutet, sondern erhalten wurden. Die zwischenmenschlichen Verhältnisse wurden durch den Gedanken der Gemeinschaft und die Aktuation von Ältestenräten geregelt. Der Kolonialismus erkaufte sich dabei seinen eigenen Reichtum mit der Unterentwicklung, Marginalisierung und dem Abhängigmachen der Anderen (Rodney, 1972; Quijano, 2006), wobei deren traditionelle und gut funktionierenden kommunitären Strukturen zerstört wurden, da sie dem vermeintlichen Fortschritt im Wege standen (Jecupé, 1998, Fu-Kiau, 2001; Wiredu, 1996; Munduruku, 2009). Das christliche Europa benutzte dabei seine Religion als Legitimation und ging durch die Universalisierung seiner Moral davon aus, dass es nichts von anderen Kulturen und Völkern lernen könne, wie Hegel brutal feststellte (Dussel, 1993, S. 22). Indigenes Wissen besteht hingegen aus der Addition von Kenntnissen, die oral weitergegeben werden. Obgleich Postmoderne und Poststrukturalismus Fragen an dieser Art des Denkens, des Diskurses und der Geschichtsschreibung entwarfen, gibt es im Verständnis des afrobrasilianischen Philosophen Muniz Sodré (2017, S. 51) kaum westliche Denker, die ihre Zweifel am europäischen intellektuellen Prestige in einer Art und Weise formuliert hätten, die den über Jahrhunderte als primitiv und minderwertig bekämpften Epistemologien und Weltsichten wieder zu ihrem Recht verholfen hätten. Sodré nennt die Deutschen Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Sigmund Freud und die Franzosen Jacques Derrida und Gilles Deleuze aber mit Vorbehalten. Es ist bezeichnend, dass keiner von ihnen den Kolonialismus in Betracht zog. Dussel (1993, S. 25) erinnert daran, dass der angesehene deutsche Philosoph Jürgen Habermas komplett übersah, dass die „Entdeckung“ Amerikas konstitutiv für die Moderne war. Auch der kongolesische Philosoph Valentin-Yves Mudimbe (1988, S. 23) führt lediglich und mit Einschränkungen die Franzosen Claude Levi-Strauss und Michel Foucault als kritische europäische Stimmen an. Neue Wege weisen tatsächlich nur außereuropäische Denker. Sodré (2017, S. 12) begreift Philosophie als eine allen Völkern inne wohnende Leidenschaft zu denken, die dem Leben Würde zu verleihen und den Dingen Sinn zu geben versucht. Philosophie kann seiner Meinung nach auch ein körperlicher Vorgang sein, wie etwa im afrobrasilianischen Kandomblé (Sodré, 2017, S. 107). Dort und in vielen anderen außereuropäischen Epistemologien wird altes Wissen inkorporiert und nicht, wie im westlichen Modell, erworben.

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Denn Wissen wird als etwas Kollektives verstanden, was a priori vorhanden ist und sich in den Körpern intuitiv manifestiert. Es kann weitergegeben werden, sowohl körperlich, oral als auch schriftlich – hier sei an die afrikanischen Bibliotheken von Alexandria bis Timbuktu erinnert – oder in einer wie von Sodré (2017, S. 107) beschriebenen Zeremonie. Auch Träume und die Einnahme von Heilpflanzen, etwa Ayahuasca, Echinopsis pachanoi, Hyoscyamus niger, Leshoma etc. vermitteln Visionen des Wissens der Ahnen und Vorfahren. Der kongolesische Gelehrte Kimbwandende Fu-Kiau (2001, S. 37) fasst die Idee des Wissens, der im Begriff kundu erfasst wird, für die Bantu so zusammen: In der spirituellen Welt ist kundu, kindoki, das zentrale und wichtigste Element in einer unergründlichen Welt. Dieses Element besteht aus den Erfahrungen, der bibulu, d. h. der Menschen, der simbi, d. h. der Vorfahren und der mpève, d. h. des Seelen-Geists.

Die westlichen Denker haben zwar ein wenig am Lack der Rationalität gekratzt, sind jedoch nie von einem radikalen Zusammenhang zwischen Rationalität und Kolonialität ausgegangen, weshalb ihre Vernunftkritik keinen Beitrag zur Erklärung oder Aufarbeitung der modernen Unterdrückungsgeschichte leistet. In ihrem Eröffnungsvortrag des Humboldt Forums in Berlin erklärte die nigerianische Schriftstellerin und Feministin Chimamanda Ngozi Adichie (2021) treffend: „Europa erzählt die koloniale Geschichte in einer Art, die diese Geschichte auslöscht.“ Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, gründete Quijano in den 1990er-Jahren eine Forschungsgruppe „Moderne-Kolonialität/Dekolonialität“, an der u. a. Arturo Escobar, Ramón Grosfoguel, Catherine Walsh und Edgardo Lander beteiligt waren. Der Argentinier Walter Mignolo ging als bekannteste Figur aus ihr hervor. Auch, weil er mit dem kolumbianischen Kunsttheoretiker Pedro Pablo Gómez das dekoloniale Kunstprojekt „Decolonial Aesthetics“ (Dekoloniale Ästhetik) ins Leben rief. Diese wissenschaftlichen Stars der Dekolonialität werden von der bolivianischen Soziologin Silvia Rivera Cusicanqui (2010, S. 58) stark in die Kritik genommen, da sie sie als Teil eines konzeptionellen „Imperiums innerhalb des Imperiums“ versteht. Dieses neue akademische Imperium betreibt ihrer Meinung nach einen internen Kolonialismus. Sie selbst wird heute als Mutter einer praxisorientierten und militanten Dekolonialisierungstheorie gesehen. Denn in den oben aufgeführten Grundsätzen und den Arbeiten der genannten Autoren fehlt paradoxerweise sowohl Kenntnis und Erfahrung mit anderen Epistemologien. Auch gibt es keine Dringlichkeit, diese zu integrieren und sie über den kritischen Diskurs hinausgehend aktiv politisch umzusetzen. Rivera Cusicanqui (2010, S. 56–60), die sich selbst als Mestizin bezeichnet und ihre Theorie sowohl auf westlichen als auch auf indigenen Epistemologien aufbaut, betont die Entpolitisierung in den Texten Quijanos und Mignolos, die sie als Vertreter einer nur theoretischen, Lateinamerika nicht dienlichen marxistischen Weltanschauung sieht. Als weiße Männer der Mittelschicht hätten die von ihr bemängelten Autoren keine tatsächlichen Berührungspunkte mit den unteren sozialen Schichten. Weshalb sie deren Beharren auf Multikulturalität sowie ihr mangelndes Engagement für gesellschaftlich ausgegrenzte Gruppen, vor allem indigene Bauern und Arbeiter, anprangert.

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Im Sinne Rivera Cusicanquis versucht sich die Dekolonialität deshalb heute nicht nur von den postkolonialen und postmodernen Theorien abzusetzen, sondern eine radikalere Kurskorrektur vorzunehmen, die andere epistemologische Perspektiven miteinschließt und ihnen wieder zu ihrem aktiven Recht verhilft. Der Puertoricaner Ramón Grosefoguel fasst dies so zusammen: 1. Eine dekoloniale epistemische Perspektive verlangt einen breiteren Gedankenkanon als den westlichen, auch der der Linken ist nicht ausreichend; 2. Eine unabhängige, allgemeingültige dekoloniale Perspektive kann nicht auf einem abstrakten Universellen beruhen (…), sondern muss Ergebnis eines kritischen Dialogs zwischen verschiedenen Projekten in politischer, ethischer und epistemischer Hinsicht und auf eine pluriversale Welt ausgerichtet sein; 3. Eine Dekolonisierung von Wissen erfordert, die Perspektiven/Kosmologien und Ansichten von Denkern aus dem Globalen Süden ernst zu nehmen, die von ethnorassialisierten und sexuell subalternisierten Körpern und Orten entwickelt werden. Postmoderne und Poststrukturalismus als epistemologische Projekte sind im westlichen Kanon gefangen und reproduzieren innerhalb seiner Gedanken- und Praxisbereiche die bestehende Kolonialität von Macht und Wissen. (Grosfoguel, 2019, S. 117)

Gerade der Einbezug nicht-hegemonialer Epistemologien ist bislang der am schwierigsten zu verwirklichende Punkt der Dekolonialität, da selbst die bürgerlichen Intellektuellen, die an ihr arbeiten, diese zumeist nicht wirklich kennen oder existentielle Erfahrung mit ihnen haben. Die Möglichkeit der westlichen Epistemologie Sichtweisen nativer oder mestizischer Künstler:innen, Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen entgegenzusetzen, ist generell begrenzt, da diese nur in einer bescheidenen Minderheit in Kultur, Wissenschaft und Politik überhaupt vertreten sind. Ihnen wird dort und andernorts zumeist der Eintritt durch strukturellen und institutionellen Rassismus verwehrt, oder sie werden in ihrer Artikulierung aktiv behindert, da ihre Interessen die etablierten Privilegien ins Wanken bringen würden. Dadurch sind gerade die akademischen Dekolonialisierungsabsichten zwar gut gemeint, aber de facto problematisch, weil zumeist inkonsequent, manchmal sogar scheinheilig, da sie nur den individuellen akademischen Ruhm, wie Rivera Cusicanqui kritisch anmerkt, im Sinn haben. Damit der Begriff der Dekolonialität, der zurzeit auf viele Fahnen in Kultur, Politik und Wissenschaft geschrieben wird, nicht zum Modewort verkommt, muss er nicht nur mit Vorsicht definiert, sondern vor allem angewandt werden. Sonst verkommt er zur halbherzigen Fassade eines „Imperiums im Imperium“, die nur dazu da ist, das Antlitz der Kolonialität zu kaschieren.

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Vom Kampf gegen die koloniale Gewalt und ihren Symbolen in den heutigen Nationalstaaten Jaider Esbell, ein indigener brasilianischer Aktivist, Künstler und Kurator, nahm sich im November 2021 das Leben. Seine kurze Lebensgeschichte sagt sehr viel über die eben erwähnten Schattenseiten der Dekolonialsierungsversuche aus. Sie zeigt auf, wie beschwerlich es ist, mit dem Universalitätsanspruch des Westens zu brechen, der fest in der Idee des Nationalstaats und dessen ausgrenzendem Rechtssystem verankert ist. Sein Freitod macht deutlich, wie schwierig, wenn nicht unmöglich es für nicht-hegemoniale Denksysteme und Völker ist, ihren Platz darin zu behaupten oder auszuhalten. Esbell (2020, 2021) prägte zwei wichtige Begriffe innerhalb dessen, was heute offiziell als globale Kunst diskutiert wird: artivismo (aktivistische Kunst) und zeitgenössische indigene Kunst (statt indigene zeitgenössische Kunst). Damit drückte er aus, dass indigene Kunst immer militant, weil dekolonial ist und, dass indigene Kunst zeitgenössisch ist, da sie immer schon Kunst und nicht Artefakt war. Sein Kollege und Freund Denilson Baniwa (2021) sieht in seiner Integration mit dem Label des gefeierten dekolonialen Künstlers und Kurators in die weiße Kunstwelt den Grund, weshalb er sich das Leben nahm. Ein Text von Esbells Blog vom Vorjahr drückt eindrucksvoll die politische Bedeutung dekolonialer Performances als Überschreitung der Idee des Nationalen aus und deutet auf die Gefahren hin, die diese deshalb als staatsfeindlich verstandenen Unternehmungen für Aktivist:innen und Künstler:innen immer haben. Denn ganz im Sinne der verbliebenen kolonialen Macht hat es sich der moderne Nationalstaat zur Aufgabe gemacht, andere Subjektivitäten und Lebensweisen entweder nachhaltig zu unterdrücken oder gänzlich auszurotten: Über meinen eigenen Weg nachzudenken (…) kann auch ein ermutigendes Beispiel für diejenigen sein, die sich im Prozess der Durchsetzung ihrer eigenen Identität befinden. Seine eigenen Wurzeln zu suchen ist eine Praxis, die notwendig wird, wenn man sich entscheidet, sich tatsächlich denjenigen Schichten zu stellen, unter denen die kollektiven Körper begraben wurden, und die durch den Versuch, sie auszulöschen, aufgehäuft wurden. Die Bejahung einer dekolonialen Performance erfordert, dass wir uns bewusst werden, dass die Art und Weise, wie wir unsere sozialen und politischen Beziehungen herstellen, auf Werten basiert, die der [brasilianischen] Staatsgründung vorausgehen. Daher werden wir mit Sicherheit ständig Auseinandersetzungen mit Rechtsfrage haben, da wir zumeist als Rebellen und Antinationalisten angesehen werden, wenn wir nicht gleich kriminalisiert und bestraft werden. (Esbell, 2020)

Durch die mehr als acht Minuten lange Videoaufnahme der Ermordung des als Schwarzer rassialisierten Amerikaners George Floyd im Mai 2020 auf einem Smartphone wurde diese lebensbedrohliche Art der Ausgrenzung aus dem nationalen Staat der ganzen Welt unmissverständlich vor Augen geführt. Obgleich ein Staatsbürger wie jeder andere auch, führten seine Hautfarbe und Gesichtszüge dazu, dass er wie ein Staatsfeind behandelt wurde, der von der Staatsgewalt – der Polizei – in aller Öffentlichkeit und vor laufender Kamera gelyncht wurde.

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Aufgrund der Aufzeichnung zog dies, obgleich es sich um eine gängige Praxis moderner „post“-kolonialer Staaten gegen ihre nicht weiße Bevölkerung handelt, erstmals weltweit Proteste nach sich. Die Wut über die Brutalität entlud sich in ikonoklastischen Aktionen vor allem gegen Statuen von hoch angesehenen Figuren der Kolonialgeschichte. In den USA und verschiedenen lateinamerikanischen Staaten wurden u. a. der „Entdecker“ Amerikas, Kolumbus (1451–1506), in São Paulo der Bandeirante Borba Gato (1649–1718), der Indigene versklavte und das brasilianische Hinterland zugänglich machte, und in Bristol der britische Sklavenhändler Edward Colston (1636–1721) von ihren Sockeln geholt. An den unterschiedlichen Vorgehensweisen, wie dieser „Vandalismus“ an den Statuen geahndet wurde, kann man die politischen Einstellungen bezüglich des kolonialen Vermächtnisses sowie des Zusammenhangs zwischen dekolonialem Aktivismus und Kunst ablesen. Darüber hinaus wird der Unterschied zwischen den ehemals kolonialisierten Ländern und den Kolonialmächten sichtbar, wenn auch die Ambiguität dieser Unterschiede nicht augenfällig ist und deshalb vorsichtig analysiert werden muss. Colstons Bronzestatue des Künstlers John Cassidy (1860–1939), errichtet 1895, wurde im Juni 2020 während einer Manifestation für Black Lives Matter als Reaktion auf Floyd’s Ermordung besprüht, dann heruntergerissen und in Bristols Hafen, der ab 1730 der wichtigste britische Sklavenhafen war, geworfen. Bereits im 11. Jahrhundert wurden hier irische und englische Sklaven verkauft (Dresser, o. D.). Dass mehr als eine halbe Million versklavter Afrikanern in unmenschlicher Weise dort verschifft wurden, ist nirgends im Hafen vermerkt.

Abb. 1: Edward Colston, John Cassidy, 1895, Statue besprüht von Aktivisten, 2021, MShed, Bristol

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Es gibt in der ganzen Stadt keine Erinnerung an den Missbrauch und Ursprung des Reichtums der Stadt. Straßen, Gebäude, Pubs und Statuen tragen hingegen stolz den Namen des Sklavenhändlers Colston. Vier junge Weiße der Mittelschicht, darunter Studenten, von denen die Polizei die deutlichsten Beweise der Demolierung der Statue hatte, wurden im Januar 2022 von einer fast nur weißen Jury freigesprochen. Die besprühte Statue war schon vorher zum Kunstwerk erklärt worden und wird nun liegend im der Stadt Bristol gehörenden Museum MShed ausgestellt. Die Statue Borba Gatos, vom Künstler Júlio Guerra aus Holz geschnitzt und 1960 zu Ehren der 400-Jahrfeier der Stadt Santo Amaro in São Paulo aufgestellt, wurde von dem Kollektiv eines Armutsviertels, der Revolução Periférica (Periphäre Revolution), ein Jahr später, im Juli 2021, in Brand gesetzt. Als sie sich freiwillig der Polizei stellten, wurden die beiden Hauptakteure festgenommen und dann ohne Gerichtsverhandlung und länger als rechtlich zugelassen für einen Monat inhaftiert. Unternehmer der Region sammelten inzwischen Geld, um die Statue wieder instand zu setzen. Zu Ehren eines Massenmörders und Sklaventreibers steht sie deshalb noch immer 13 Meter hoch an ihrem ursprünglichen Ort. In einer reichen britischen Stadt, die sich ihrer Verbrechen der Sklaverei nicht erinnert, kommen heute junge weiße Leute ungeschoren davon, wenn sie sich mit ihrer kolonialen Geschichte auseinandersetzen. Ihr Aktivismus führte zu einer liberalen öffentlichen Diskussion und die Statue wurde in Kunst umgewertet. In einer ebenso reichen Stadt der ehemaligen Kolonie Brasilien hält man eine ähnliche Aktion, die Brandstiftung mitbeinhaltete, für staatsfeindlichen Vandalismus und die dafür Verantwortlichen, als Schwarze

Abb. 2: Borba Gato, Júlio Guerra, 1960, brennende Statue, Juli 2021, Santo Amaro, Brasilien

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rassialisiert, werden, obgleich sie sich als Artivisten deklarieren, als Marginalisierte betrachtet und dafür geahndet. In der brasilianischen Öffentlichkeit wurde eine hochgradig konservative Diskussion geführt, in der man einzig und allein die Beschädigung öffentlichen Eigentums und die Gefahr für die Bevölkerung verhandelte. Die koloniale Geschichte wurde ausgeblendet. Ist England in seiner dekolonialen Diskussion deshalb weiter als Brasilien? Was wäre gewesen, wenn die Anstifter in England wie in Brasilien einer Minderheit mit dunklerer Hautfarbe angehört hätten? Wir wissen es nicht. Das einzige, was man konstatieren kann, ist, dass in England ein medialer Moment genutzt wurde, um ein positives, scheinbar dekoloniales Selbstbild zu schaffen. Das Umstürzen von Statuten als politischem Akt der Befreiung war in Europa nach dem Ende des Ostblocks ein außerordentlich üblicher Akt, wie ich im dritten Kapitel zeigen werde. In Zeiten von Black Lives Matter ist in Großbritannien ein ähnlicher, ebenfalls rein symbolischer Akt gegen den Kolonialismus, der der als Schwarz rassialisierten Bevölkerung jedoch keinen Protagonismus gibt, willkommen. Andererseits wird dekolonialer Aktivismus, der durch die Betroffenen verübt wurde, in Brasilien verfolgt, wobei die öffentliche Diskussion die Kolonialgeschichte sowieso nicht beachtete. Diese Repression der Kolonialität sagt viel über den status quo aus. In Europa leistet man sich den Luxus, die weiße Mittelschicht gegen eine Geschichte, die sie nicht direkt betrifft, rebellieren zu lassen. Die Rebellion wird dann sehr schnell wieder in den vorherrschenden, weil ästhetisierten Diskurs, d. h. in eine öffentlich sanktionierte Institution, ein Museum, eingeführt. In Brasilien werden Aktivisten und Diskussion wie schon immer unterdrückt und kriminalisiert. Da der moderne Nationalstaat nur gewisse Identitäten schützt – die weiße Bevölkerung – und Andere – die rassialisierten Bürger – massiv bekämpft, ist der Versuch einer Stärkung der sogenannten Minderheiten – die in Brasilien die Mehrheit sind – in Alltag, Politik und Kunst ein ständiger und ungleicher Kampf, der das Ausmaß der historischen Unterdrückung sichtbar macht. Jaider Esbell war klar, dass er selbst als anerkannter Künstler und Kurator in Brasilien letztlich immer ein Staatsfeind bleiben würde. Es gibt zu denken, dass er, als er, wie die ästhetisierte und nun historisch umgedeutete Statue Colstons, in den offiziellen eurozentrischen Diskurs eingegliedert wurde und zu Ruhm und Erfolg gelangte, nicht mehr bereit war, als dekoloniales Aushängeschild zu fungieren und lieber aus dem Leben schied. Dies ist noch alarmierender, wenn man bedenkt, dass Kriminalisierung und Pathologisierung in Brasilien nach der Unabhängigkeit im Jahr 1822 und der Gründung der ersten Republik im Jahr 1889 gängige Formen waren, vor allem die aus der Sklaverei 1888 befreite subalternisierte Bevölkerung in Schach zu halten und aus der Gesellschaft weiterhin auszugrenzen. Nicht zufällig war einer der Hauptverantwortlichen für die Einführung ursprünglich europäischen eugenistischen Gedankenguts ein Arzt, Nina Rodrigues (1957). Er beschrieb die afrikanisch-abstämmigen Körper als minderwertig und führte anthropologische Studien über afrikanische und afrodiasporische Kunst und Kultur in Brasilien aus, um diese zu stigmatisieren (Rodrigues, 1988). Da er selbst Mestize war, ist es umso erschreckender zu sehen, wie sein pseudo-wissenschaftliches Verschränken von Biologie, Kriminalität, Kunst und Kultur die willkürliche, aber vermeintlich autoritative eurozentrische Hierarchisierung in Rationalität und Irrationalität aus der Kolonialzeit weiterführte. Erklärtes Ziel war es, die Privilegien einiger weniger Weißer zu sichern und das Ausbleichen der Bevölkerung zu forcieren. Für den afrobrasilianischen Aktivisten,

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Künstler, Politiker und Gelehrten Abdias Nascimento (2016) kommt die von Rodrigues angestrebte eugenistische Politik einem Völkermord an der als Schwarz rassialisierten Bevölkerung gleich. Europa hat tatsächlich einen nahezu unschlagbaren Narrativ entwickelt, der, basierend auf der „Ethnisierung des Denkens“ (Sodré, 2017, S. 8), des Glaubens und des Handelns, seine mörderische Hegemonie unantastbar gemacht hat. Die wichtigsten Mechanismen, um dies zu sichern, waren Philosophie, Religion, Wissenschaft und Kunst. Sodré (2017, S. 9) weist darauf hin, wie die griechische Philosophie seit Platon eine politische Grundlage entwickelte, die eindeutig in Verbindung mit einem in die Zukunft weisenden imperialistischen Interesse stand. Über die Jahrhunderte wurde dieser grundlegende philosophisch-politische Gedanke, der vom notwendigen Export einer auf totaler Rationalität aufbauenden Zivilisation ausging, verfeinert und naturalisiert (Sodré, 2017, S. 8). Dies war möglich, da die Philosophie von der Idee ausging, dass Sprache Logos ist und sie somit in der Lage sei, nicht nur sich selbst, sondern alles andere, etwa ein Imperium, durch Benennung zu erschaffen. Durch die bereits erwähnte Hellenisierung des Christentums wurden somit die Gleise für den modernen Kolonialismus gelegt (P’Bitek, 2011).

Vom indigenen Klang der Worte, dem christlichen Logos, angeblicher und tatsächlicher Universalität Die Macht des Wortes wird auch in indigenen Kulturen bedacht, jedoch, ohne dass man auf ihre Rationalität pocht oder versucht, andere von der eigenen Zivilisation zu überzeugen. Kaká Werá Jecupé (1998, S. 15), vom Volk  der Tapuia, erinnert daran, dass die jahrtausendealten indigenen Kulturen, deren Traditionen oral weitergeben werden, ebenfalls davon ausgehen, dass jedes Wort beseelt ist: Für den Indigenen hat jedes Wort eine Seele. Ein Name ist eine mit einem Platz versehene Seele, sagt man in der Ayvu-Sprache. Es ist gewissermaßen ein intoniertes Leben. Leben ist Seele in Bewegung. Seele ist für die Indigenen Stille und Klang. Der Stille-Klang besitzt einen Rhythmus, einen Ton, dessen Körper ist seine Farbe. Wenn die Seele intoniert wird, wird sie, ist sie, d. h. sie besitzt einen Klang. Bevor es das Wort „Indigene“ gab, um alle indigenen Völker zu benennen, gab es schon die Seele der Indigenen, die in vielfältigen Tönen verbreitet war. (Jecupé, 1998, S. 15)

Hier geht es nicht um die Erschaffung einer Welt oder eines Imperiums, sondern um das Erklingenlassen der Seele und der Kontaktaufnahme mit der Welt. Die Töne sind z. B. die Namen der verschiedenen Völker, etwa Guarani, Kaingang, Kalapalo, Kamayurá, Krahô, Tupi, Tupinambá, Tapuia, Xavante, Yanomami, Yawalapiti, usw., die sich die Indigenen selbst gaben oder die sie von anderen Völkern bekamen, um ihr Wesen auszudrücken. Diese Namen bezeichnen keine Klans, Stämme, Rassen, Nationen oder Ethnien – alles westliche Begriffe –, sondern sind „die lebendigen Erinnerungen an die Zeit, in der die Menschen mit dem Wald, den Flüssen, den Sternen und den Bergen im Herzen lebten und das Fließen des Selbst praktizierten“ (Jecupé, 1998, S. 19).

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Stille und Klang stellen Kontakt zur Seele, aber auch zur Welt, zu Mutter Erde und anderen existierenden Kräften der Natur und der Anzestralität her. Wörter sind dazu da, die Seele schwingen zu lassen, aber keinesfalls, um andere zu unterwerfen. Alles kann klingen: „Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen, Himmel, Erde“ (Jecupé, 1998, S. 18). Der Name der Tupi gibt beispielsweise ihrer Seele mit der Bedeutung „Klang der Füsse“ (tupy) Ausdruck, was sich im Aufstampfen der Füße im Tanz konkretisiert. Töne stellen Verbindungen her, weshalb es auch keine Idee von Religion im Sinne eines Re-ligare, einer Wiederaufnahme der Verbindung mit der Seele, der Welt und dem Nichtsichtbaren gibt. Die Verbindung ist immer schon da und wird nur zum Schwingen gebracht. Sie bedarf auch keiner Vermittlerfigur, etwa eines Priesters, sondern kann durch Wörter, Gesänge und Tänze direkt hergestellt werden. Schamanen, die bei Krankheit und Krisen helfen, werden durch Träume auf ihre stärkere Verbindung mit der nichtsichtbaren Welt hingewiesen und dann geschult, Nachrichten weiterzugeben und Krankheiten zu heilen (Kopenava, 2013, S. 92–93). Zeremonien, Tänze und Gesänge werden in der Gemeinschaft veranstaltet, um wichtige Momente des Lebens wie Geburt, Pubertät, Ernte und Tod zu markieren. Sie sind Ausdruck des Dankes an Mutter Erde, die Natur und schützende Entitäten, zu denen die ersten Ahnen, Vorfahren und Naturwesen gehören, aber auch um schlechte Wesen zu vertreiben (Jecupé, 1998, S. 14). Der große Bruch, der diese Art der Verbindung in neue Bahnen lenkte und unter die Führung der Rationalität stellte, begann in der antiken griechischen Philosophie. Die Philosophen wollten sich nicht mehr mit der Weltseele verbinden, sondern sie selbst erschaffen. Anstelle des Intonierens eines bestehenden Seele-Körper-Kontinuums in enger Verbindung mit der Natur trat die Trennung von ihr und somit die Möglichkeit des Hervorbringens einer eigenen, nur noch in der wörtlichen Erschaffung verankerten Welt, durch den Logos. Dies geschah, wie erwähnt, im Zusammenhang mit imperialistischer Ausbreitung und Fortschrittsdenken. Das Christentum, in seiner Bemühung als Staatsreligion Macht im Nichtsichtbaren zu fixieren, übernahm den griechischen Schöpfergedanken des Logos in der Idee eines erschaffenden und hierarchisch übergeordneten Gottes, der nur noch durch die hohen Ämter des Kaisers und der Priester zugänglich war. Der ugandische Gelehrte und Schriftsteller Okot P’Bitek (2011, S. 39) bezeichnete dies als Hellenisierung der Lehre Jesus, deren zentraler Gedanke ursprünglich die Empathie war. Dies wäre bereits durch die Hellenisierung des Judentums durch Alexander den Großen eingeleitet worden. Dabei löste das Christentum mit der Idee der Liebe, die Freude, wie sie sich in indigenen und Kulturen mit afrikanischer Matrix manifestiert, ab (Sodré, 2017, S. 149). Der Gedanke des Logos  – der Erschaffung durch das Wort anstelle des Verbindens durch den Klang – als Basis des Christentums wurde von den Kirchenvätern im Mittelalter weiterentwickelt (P’Bitek, 2011, S. 40). Die Vormachtstellung der Rationalität, nun als menschliche Schöpferkraft, zuerst in Philosophie und dann in einer hellenisierten Form der Religion verankert, führte so weit, dass Hegel, um ihre Macht zu erhalten, behauptete, die Philosophie erhalte die wahre Religion aufrecht (Sodré, 2017, S. 11). Der logische Schluss war, dass Europa die Wiege und Bewahrerin der absoluten Rationalität, d. h. der Schöpferkraft sei, und somit als Einzige zum Philosophieren und dem Erschaffen der Welt befähigt. Die sogenannten Anderen wurden im selben Atemzug dieses dichotomischen Weltbilds zu Anhängern von Irrationalität und Aberglaube

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degradiert, ihre Fähigkeit, die Seele der Welt klingen zu lassen als absurd abgetan. Der Humanismus diente dann seit der Renaissance als perfekte ideologische Fassade, die während der Aufklärung noch nachgebessert wurde, um tatsächlich eine neue Welt mit dem Wort zu erschaffen. Es ist nicht verwunderlich, dass dies genau in dem Moment geschah, als eine „neue“ Welt „entdeckt“ worden war. Aufbauend auf der Idee des Logos sprach sich die entstehende moderne kapitalistisch-kolonialistische Welt das Recht zu, andere Kontinente zu plündern und deren Völker zu versklaven oder auszurotten, um ihre Arbeitskraft und Bodenschätze für deren Konstruktion auszubeuten. Dabei ist gerade der Rassismus, der im Zuge dieser Entwicklung als zentrales Instrument verwandt wurde, von jeglicher Rationalität weit entfernt und als hochgradig irrational anzusehen. Grada Kilomba (2016, S. 40) macht dies eindringlich deutlich, wenn sie die Irrationalität des Rassismus als verantwortlich für den „traumatisierenden Kontakt mit der gewaltsamen Barbarei der weißen Welt“ bezeichnet. Den martinikanischen Psychiater und politischen Philosophen Frantz Fanon (2020) fortsetzend, zeigt sie auf, wie die Infantilisierung, Primitivisierung, Animalisierung und Erotisierung Anderer, vor allem der als Schwarz rassialisierten Menschen und Völker, nur Projektionen der eigenen Ängste und Gefühle von Schuld und Schande sind (Kilomba, 2016, S. 44). Das damit zum Objekt erniedrigte Subjekt wurde nicht nur durch die Barbarei der Versklavung zutiefst von der weißen Welt traumatisiert, sondern leidet auch weiterhin unter der Vorenthaltung eines würdevollen Selbstbildes. Universalität, Rationalität und Objektivität sind die Fallstricke, mit denen Europa seit Jahrtausenden an der Erniedrigung Anderer arbeitet. Deshalb besteht für den ghanaischen Philosophen Kwasi Wiredu (1996, S. 5) eine konzeptionelle Dekolonisierung vor allem darin, die vorgetäuschte Universalität der westlichen Ethik zu demaskieren, da sie diesen Namen gar nicht verdiene. Er mahnt an, dass gerade auch bei afrikanischen Autoren die Übernahme von westlichen Konzepten, die es in den afrikanischen Sprachen so gar nicht gäbe, oft zur Aufrechterhaltung der kolonialen Mentalität führe. Deshalb ist eine doppelte philosophische Arbeit – die Hinterfragung von Konzepten und die Infragestellung ihrer Sinnhaftigkeit im afrikanischen Kontext – vonnöten. Wiredus (1996, S. 6–20) These, die auf der Philosophie der Akan beruht, geht davon aus, dass die gesamte Menschheit grundsätzlich eine einzige universelle Moral teile und dass kulturelle Besonderheiten eher zufällig seien. Sie gälten nur für gewisse Kontexte, dürften aber niemals mit der grundlegenden moralischen Maxime in Kollision treten. Wiredu argumentiert überzeugend, dass alle Menschen nicht nur eine biologische Identität teilen, sondern auch diese eine normative Universalität, die er, Immanuel Kants (1724–1804) „kategorischen Imperativ“ variierend, als „mitfühlende Unparteilichkeit“ definiert (Wiredu, 1996, S. 29). Kant formulierte bekannterweise, aber nicht als Erster, die Maxime, der zufolge man nie jemandem etwas antun solle, was man nicht wolle, dass einem selbst angetan werde. Dieser eine, normative, moralische Grundsatz ist allen Kulturen wohlbekannt. Er wurde durch Sitten ergänzt, die in unterschiedlichen soziopolitischen Zusammenhängen Sinn ergeben, aber immer hinterfragt werden müssen, wenn sie diese eine allgemeine Regel brechen. Es ist offensichtlich, dass dieser Grundsatz der auf der Einfühlung in Andere aufbauenden „mitfühlenden Unparteilichkeit“ oder „empathischen Neutralität“ eigentlich für Genozid, Versklavung, Kulturzid und andere Formen der Unterdrückung

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keinen Platz haben sollte. Der Westen hat ihn jedoch in seinem kolonialen Projekt bis heute stets gebrochen. Um zu verstehen, wie die selbsternannten europäischen Hüter der Moral zu solchen Gräueltaten fähig waren, ist es erhellend, sich Wiredus (1996) Interpretation der christlichen Ethik, die er als eine Mischung aus reiner Moral (der empathischen Neutralität), aber auch aus Sitten und Tabus beschreibt, anzusehen. Sitten sind für ihn, wie gesagt, zwar ebenfalls Regeln, aber sie passten sich verschiedenen Zusammenhängen an und seien deshalb niemals allgemeingültig. Besonders wichtig ist hierbei Wiredus (1996, S. 30) Hinweis, dass die Europäer während der Kolonialisierung (und noch heute), ihre eigenen nicht verbindlichen Sitten durch die christliche Religion zu moralischer Universalität überhöhten, um sie dann den kolonialisierten Ländern oder Völkern aufzuzwingen. Die daraus resultierende Hierarchisierung in zivilisiert und unzivilisiert, rational und irrational, primitiv und entwickelt, machte die interkulturelle Unterdrückung erst möglich, da sie, obgleich sie die Maxime „empathischer Neutralität“ verletzte, einfach als verbindliche Universalidee behauptet wurde. Möglich war dies, da das Christentum durch seine Hellenisierung Gott als übermenschlichen, transzendenten Schöpfer konstruierte und die Erlösungslehre der Kirche als unumstößliches und einziges Dogma ausgab. Es war diese Autorität, die allen Kolonialisierten zur vermeintlichen Rettung ihres Seelenheils gewaltsam aufoktroyiert wurde. Denn wer sie nicht annahm, so der selbstgerechte Schluss, verdiente versklavt zu werden oder gar nicht erst zu leben. Anders als im Christentum ist in der Akan Weltanschauung, wie auch in den bereits erwähnten indigenen Kosmologien, die Moral nicht an ein höheres Wesen wie Gott gekoppelt (Wiredu, 1996, S. 47). Im Gegenteil. Es gibt keine Vorstellung von transzendenten, übernatürlichen Mächten oder Kräften. Diese gehören der nichtsichtbaren Welt an, stehen aber nicht über der Natur, sondern sind Teil der Natur. Die extra-menschlichen Wesen – ob Weltenarchitekt, Ahnen, Vorfahren oder Naturgeister – brauchen deshalb auch keine Verehrung, da sie bereits perfekt sind. Man ist ihnen gegenüber respektvoll oder dankbar, aber man betet sie nicht an, da sie dies nicht nötig haben. Das Verhältnis zu ihnen ist vielmehr eine säkulare Ehrfurcht, die das Erbitten von Hilfe und Schutz ermöglicht. Die Idee des Übernatürlichen oder der Transzendenz ist inkohärent, da es die Idee über die Natur hinauszugehen nicht gibt. Wie gesagt, die nicht-menschlichen Wesen nehmen selbst an der Natur teil bzw. sind Natur. Alle befinden sich im selben Universum, das jedoch viele Schichten hat und nicht alle sind von allen einsichtig (Wiredu, 1996, S. 48). In indigenen Weltanschauungen in Afrika und den Amerikas hat Gott, obgleich es diesen Begriff so nicht gibt, deshalb auch keinen direkten Einfluss auf den Alltag. Wenn es Figuren gibt, die zu Gottheiten erhöht wurden, dann geschah dies durch westlichen Einfluss. Die außereuropäische Idee ist die der Ahnen und Vorfahren. Sodré (2017, S. 85) erinnert darüber hinaus daran, dass es im asiatischen Raum auch Kosmologien ohne Gott oder Götter gibt, so etwa den Buddhismus, der aus dem Hinduismus hervorging. In allen Kulturen gibt es jedoch eine Phase der Erschaffung der Welt, die entweder auf Ahnen, Vorfahren oder kosmische Kräfte zurückgeführt wird. Schöpferfiguren sind mal Mann, mal Frau, oft Großmutter oder Großvater genannt, die sich dann zurückziehen, nachdem sie die Vorfahren geschaffen oder auf der Welt abgesetzt haben, die wiederum für die Erschaffung der Menschen verantwortlich sind. In Nigeria hat der Name dieser

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Schöpferfigur kein Gender (Oyewumi, 1997), da es generell diese Unterscheidung in Yoruba gibt. Heute wird in der Literatur von Indigenen und Afrikanern von spiritueller und geistiger Welt und Wesen gesprochen, da westliche Begriffe gebraucht werden, die es so, um es noch einmal nachdrücklich zu sagen, in den Sprachen der verschiedensten Völker nicht gibt. Eine göttliche Überlegenheit, die das Gute repräsentiert, kennt man auch nicht, da die menschliche Welt nicht niedriger, im Sinne einer Hierarchie oder einer Trennung zwischen säkular und heilig, ist, sondern gleichwertig (P’Bitek, 2011, S. 30). Dabei sei angemerkt, dass das, was im Westen heilig ist, zumeist in außereuropäischen Kontexten auf einen Ort oder eine Praxis verweist, die Kontakt zum Nichtsichtbaren herstellen kann. Deshalb gibt es auch nicht zwingend ein Gericht am Ende der Zeit, obgleich diese Idee seit dem ägyptischen Altertum existiert. Im indigenen Amerika, aber auch in anderen Kontexten, findet man hingegen die Vorstellung einer „Welt ohne Übel“ (terra sem males), wo die verstorbenen Vorfahren wohnen. Jaider Esbell hat sie in der Tradition der Macuxi in seinen Bildern dargestellt. Die verschiedenen Ahnen können, je nach Tradition und Volk , an unterschiedlichen Orten ansässig sein (Jecupé, 1998, S. 31). Auch in Afrika weiß man, dass sie ganz in der Nähe, auf Bergen, in Wäldern, unter der Erde, in Flüssen etc. anzufinden sind. Außerhalb des Christentums muss auch niemand erlöst werden. Menschen sollen sich in ihrem Leben lediglich an moralische und sittliche Regeln halten, um ihr Potenzial zu erreichen. So sehen es die Akan (Wiredu, 1996) und die Bantu-Kongo (Fu-Kiau, 2001). Das Böse widerspricht dem Menschlichen und dem gemeinschaftlichen Wohlbefinden, weshalb es moralisch verurteilt wird. Es ist aber keine dämonische Größe, sondern Teil des menschlichen Verhaltens, das es zu beherrschen gilt (Wiredu, 1996, S. 47–51). In asiatischen Kosmologien geht es um die Durchbrechung des Zyklus von Ursache und Wirkung, die als Karma bezeichnet wird. Die Menschen können sich ebenfalls nur selbst erlösen, indem sie ihre Emotionen und Handlungen zu dominieren lernen. Der Kontakt mit dem Quasi-materiellen oder Nichtsichtbaren – was als Spiritualität übersetzt wird, obgleich es dieses Wort etwa in der Akan-Sprache gar nicht gibt –, ist demnach direkt (Wiredu, 1996, S. 53). Um diesen Kontakt herzustellen, ist eine erhöhte Sensibilität für die weniger groben Aspekte der menschlichen Existenz nötig, wie z. B. die Möglichkeit der Wahrnehmung von nicht für jeden sichtbare quasi-materielle Wesen wie Naturgeister, Ahnen und Vorfahren. Im Westen gibt es sie genauso, man kennt die Naturgeister als Feen, Trolle und Riesen. Die Ahnen werden als Engel oder Heilige bezeichnet. Da das Christentum Gott als übermenschlichen, transzendenten Schöpfer, der dem Logos verpflichtet ist, konstruierte, sahen die Kolonialherren in der Ermangelung solch einer omnipotenten und omnipräsenten Figur, der man Ehrfurcht schuldig ist, weil sie im Gegensatz zu den Menschen das reine Gute vertritt, eine willkommene spirituelle und intellektuelle Unreife anderer Völker. Der arrogante Diskurs der Rettung aus dem Unglauben – im Sinne des christlichen Dogmas der Erlösung – war ein selbstgerechtes, jedoch unglaublich machtvolles Instrument, um sich selbst und andere von ihrer vermeintlichen Mission zu überzeugen (Wiredu, 1996, S. 48–49). Die Dichotomie zwischen Rationalem und Irrationalem, Materiellem und Nichtmateriellem sowie einem säkularen und transzendenten Raum wird in diesem überheblichen Weltbild erst nach dem Jüngsten Gericht aufgelöst. Indem die christliche Menschheit unter den Druck einer immer

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Abb. 3: Na terra sem males (In der Welt ohne Übel), Jaider Esbell, 2021, Archiv des Centre George Pompidou, Paris

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bereits bestehenden Schuld gesetzt wurde, war die Möglichkeit zur Unterwerfung der sogenannten Primitiven und Ungläubigen ein Leichtes und, wie mehrfach erwähnt, von unschätzbarer Bedeutung für den Kolonialismus. Es sei noch hinzugefügt, dass das Jüngste-Gericht ganz anders interpretiert werden kann, gemäß dem ursprünglichen christlichen Gedanken als Schau und Bewertung des eigenen Lebens nach dem Tod. Die Idee eines Gerichts nach dem Tod, das sie symbolisch umsetzt, gibt es wie gesagt seit dem alten Ägypten, wo es im Buch der Toten, im 3. Jahrtausend v. Chr. verfasst, beschrieben wurde. Das ägyptische Totengericht beurteilt die erbrachten Leistungen im Leben und beschließt darüber, ob die Ba-Seele ins Gefolge des Sonnengotts Re eintreten darf. Diese und fast alle anderen Ideen der ägyptischen Kosmologie wurden auf die eine oder andere Weise vom Christentum übernommen: der 25. Dezember als Geburtstag Jesu/Osiris, dem Tag der winterlichen Sonnenwende, der die Zeit der dunklen Tage durch die Zeit des Lichts ablöst; die jungfräuliche Mutter/ Isis; die vier Apostel, die den Kardinalpunkten des Himmels entsprechen; Tod und Auferstehung, die mit dem neuen Leben nach dem Winter zusammenfallen etc. (Jackson, 2015, S. 7–9). Aufbauend auf einer Ethik, die ständig das Jenseits im Blick hat, wurden im Christentum paradoxerweise genau diejenigen unterworfen, deren Moral und Vorstellung vom Nichtsichtbaren oder Quasi-materiellen geprägt ist und dadurch menschlicher, weil diesseitig ist (Wiredu, 1996, S. 54). Das Christentum, in der Umformulierung seiner ursprünglichen Absicht, hat, aufbauend auf einem unmenschlichen und den Menschen fernem Gott, ein entmenschlichtes System entwickelt. Dies geschah, indem es die diesseitige Ethik zwar postulierte, aber eigentlich vollkommen aus den Angeln hob. Verschleppung, Versklavung, Gewalt und Mord wurden während des Kolonialismus und noch heute als Bekehrung sanktioniert, um die eigene Gier nach materiellen Gütern in einer nur scheinbar nach Transzendenz strebenden Welt zu stillen. In Bezug auf Afrika und Amerika wurde diese Ausbeutung immer von der christlichen Kirche abgesegnet, ja sogar durch die päpstlichen Bullen und Patente der Jahre 1496, 1542 und 1565 sanktioniert und ermöglicht (P’Bitek, 2011, S. 2).

Vom Widerstand gegen die Zerstörung historischer Projekte, von westlicher Irrationalität und kolonialistischem Kulturgut Das Bewusstsein der Irrationalität und die Heuchelei dieses Weltbildes wurde früh erkannt und bewusst von Afrikanern und Indigenen in Briefen angeprangert und bekämpft (Lingna Nafafé, 2022; Rivera Cusicanqui, 2010). Am eindrucksvollsten war der transnational organisierte Prozess gegen die Versklavung im Vatikan, dem Zentrum des Christentums, der im 17. Jahrhundert geführt wurde. Prinz Lourenço da Silva Mendonça zeigte, dass die spanischen und portugiesischen Königshäuser und der Vatikan gegen das göttliche, zivile, menschliche und natürliche Recht verstießen (Lingna Nafafé, 2022). Der Prozess wurde jedoch in zweiter Instanz verloren, da es keinen politischen Willen gab, das einträgliche Geschäft der Europäer zu beenden und die eigene paradoxe Grausamkeit einzugestehen. Dies ist umso schockierender, da es sich bei einem Großteil der Versklavten bereits um Christen handelte, die in den Kolonien und in Europa in

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Christlichen Bruderschaften der Katholischen Kirche organisiert waren und ein Dossier des Missbrauchs vorlegten. Alle menschlichen und theologisch-rechtlichen Grundlagen sowie die universelle Moral der „empathischen Neutralität“ wurden ignoriert und durch die scheinbare Universalität der die Gewalttaten rechtfertigenden christlichen Heilslehre ersetzt. Diese setzte dabei ihre eigenen Regeln auf unmenschlichste Art und Weise und im Namen eines unmenschlichen Gottes außer Kraft. Es ist nicht verwunderlich, dass diese Geschichte vergessen wurde und erst jetzt wieder erinnert wird. Neben Philosophie und Religion waren Kunst und Wissenschaft wichtige Instrumente in der Konstruktion von Alterität und westlicher Überlegenheit. Deren „beleidigende Sprache“ und „schmutzigen Klatsch“ (P’Bitek, 2011, S. 11) auszuweisen, macht sich wie gesagt die Dekolonialität zur Aufgabe. Denn auch die anthropologischen oder ethnografischen Bilder und Texte sind weit davon entfernt, objektive, rationale oder aufschlussreiche wissenschaftliche Studien zu sein. Sie waren und sind lediglich Werkzeuge, um Wissen über die angeblich Anderen zu erlangen, um sie dann kontrollieren und ausbeuten zu können (Mudimbe, 1988). Nicht umsonst waren die ersten Anthropologen von der Kirche entsandte Priester und Missionare, die indigene Sprachen erlernten und Kulturen oberflächlich studierten, um dann ihr eigenes Gedankengut mehr schlecht als recht zu übersetzen und weiterzugeben (Wiredu, 1996). Um die gänzlich fantastische Dimension der europäischen Sichtweise anderer Kulturen kenntlich zu machen, die notwendig war, um den Kolonialismus als Zivilisationsprozess auszugeben, haben die Bücher dekolonialer Autoren der 1980er und 1990er-Jahre unmissverständliche Titel: Die Erfindung Afrikas (Mudimbe, 1988) oder Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen (Dussel, 1993). In beiden Fällen geht es um Diskursanalysen westlicher Anthropologen und Historiker und um die Darstellung von Gegendiskursen, etwa die bereits angeführte Negritud-Bewegung. Aufbauend auf Michel Foucault, diskutiert Mudimbe (1988, S. 25) das kolonialistische Epistem, das benutzt wurde, damit die Europäer ihr eigenes Selbstbild, das souverän als Norm ausgegeben wurde, entwerfen konnten: „Der Afrikaner ist nicht nur der Andere geworden, der alle anderen außer mir ist, sondern auch der Schlüssel, der in seinen anormalen Unterschieden die Identität desselben bestimmt.“ Andere kulturelle Praktiken wurden kategorisch herabgesetzt und mit pejorativen und zumeist absurden anthropologischen Begriffen wie Fetischismus, Animismus oder Artefakt besetzt. Während die Idee des Fetischismus erst mit zunehmendem Sklavenhandel eingeführt wurde (Mudimbe, 1988, S. 31), gibt es, wie P’Bitek (2011, S. 27) rigoros feststellt „in Afrika keine Animisten“. Auch der Begriff des Artefakts ergibt keinen Sinn, da, im Gegenteil zur Idee eines ethnografischen Studienobjekts, außereuropäische Kunst nicht nur, wie Alfred Gell (1998) bemerkt, eine konkrete Handlungsabsicht hat (agency), sondern weil ihre verschiedenen Medien – Skulpturen, Körperbemalung, Flechtwerke, Tonarbeiten, Webkunst, Tanz, Musik usw. – Teile komplexer Bedeutungs- und Kommunikationssysteme sind, die den Zyklus des menschlichen Lebens begleiten und Kontakt zur nichtsichtbaren Welt herstellen (Jecupé, 1998; Munduruku, 2009; Esbell, 2020). Der brutalen europäischen Überheblichkeit im philosophischen, religiösen, anthropologischen, ethnologischen und pseudobiologischen Diskurs setzt die Argentinierin Rita Segato (2012), Vertreterin einer den Anderen „dienenden“ Anthropologie, den Vorschlag entgegen, den Begriff der Kultur durch den der Geschichte zu ersetzen. Sie versteht

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Geschichte als kollektives Projekt eines Volkes und den Kolonialismus als den Versuch, dieses Projekts zu sabotieren: Was ist denn ein Volk ? Ein Volk  basiert auf dem Projekt, eine gemeinsame Geschichte zu entwickeln. Wenn eine kollektiv gewobene Geschichte, die wie die Fäden in einem Wandteppich Figuren zeichnet, die sich manchmal annähern und zusammenlaufen, manchmal entfernen und in entgegengesetzte Richtungen gehen, durch äußere Eingriffe aufgehalten und unterbrochen wird, dann will dieses Subjektkollektiv die Fäden wieder aufgreifen, kleine Knoten machen, seine Erinnerungen zusammennähen und fortfahren. In diesem Fall geschieht, was man die Rückgabe der Geschichte nennen kann. Sie besteht im Wiederherstellen der Fähigkeit, den eigenen historischen Weg zu weben, das Entwickeln unterbrochener Figuren wieder aufzunehmen, sie bis in die Gegenwart zu verweben und sie in die Zukunft zu projizieren. (Segato, 2012)

Für alle Kulturen, die mit dem Kolonialismus in Berührung kamen, war das Verhindern der Entwicklung einer eigenen Geschichte fatal. Wenn der Kulturzid ihre Strukturen nicht gänzlich zerstörte, wurden sie zumindest auf den Kopf gestellt und die Verwirklichung des eigenen Projekts undenkbar gemacht. Nach der politischen Dekolonisierung war durch die bereits erfolgte Verwestlichung der Schaden nicht mehr gutzumachen. In der sogenannten Neuen Welt, in Amerika, wo Nationalstaaten nach europäischem Vorbild entstanden, war dies niemals erwünscht, sondern wird, wie wir am Beispiel von Brasiliens Umgang mit der Statue der Kolonialgeschichte gesehen haben, immer noch als staatsfeindlich verstanden. In Afrika verhielt es sich nach den Staatengründungen, die den Unabhängigkeiten folgten, nicht wirklich anders. Fu-Kiau gibt ein beeindruckendes Beispiel der Zerstörung des historischen Projekts der Bantu, vor allem bezogen auf ihr Verständnis von Recht und gesellschaftlicher Verantwortung. Das philosophische System dieser 400 verschiedene Völker umspannenden Gruppe in Zentral-, Ost- und dem südlichen Afrika, baut, wie viele außereuropäische Kulturen, auf dem Gedanken der Gemeinschaft auf. Es gibt keine Herrscher im westlichen Sinne, sondern Räte, die eine leitende Figur, die zumeist gewählt wird, beratend unterstützen. Die grundlegende Idee besteht darin, dass die Gemeinschaft und ihre Individuen gemeinsam wachsen, um zu ihrem vollen Potenzial heranreifen zu können (Fu-Kiau, 2001, S. 26). Die Idee der Gemeinschaft wird an dem rechtlichen Gedanken deutlich, dass es für Verbrechen keine individuelle Schuld gibt, da immer alle zur Verantwortung gezogen werden, wenn jemand etwas Verbotenes tut. Deshalb heißt es auch nicht, „ein Verbrechen begehen“, sondern „ein Verbrechen tragen“. (Fu-Kiau, 2001, S. 69–70) Die Gruppe, in der etwas Verbrecherisches begangen wird, trägt gemeinsam die Verantwortung dafür. Es gibt zwar eine individuelle Bestrafung, aber danach werden Ratsversammlungen abgehalten, um auf den Grund des als symptomatisch angesehenen Vergehens zu kommen und dann die nötigen gesellschaftlichen Veränderungen vorzunehmen, um es zu beseitigen (Fu-Kiau, 2001, S. 73–74). Es handelt sich hier natürlich nicht um ein perfektes System, da Menschen immer fehlbar sind, aber um einen Mechanismus, der das die Gemeinschaft bedrohende Verhalten eines Individuums als Gruppe angeht und den Verantwortlichen nicht aburteilt, sondern bestraft, um ihn dann wieder aufzunehmen.

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Da dies die traditionelle Gesellschaftsstruktur war, ist, laut Fu-Kiau (2001, S. 46), das heutige Leiden Afrikas durch seine korrupten Staatschefs, das Ergebnis der Kolonialherrschaft. Während des Kolonialismus sei der Gedanke der guten Führung einer Gemeinschaft durch die des Eigennutzes ersetzt worden. Infolgedessen gäbe es heute nur noch törichte Regierende, die gegen ihr eigenes Volk  agierten, da sie die inhumane westliche Rechtssprechung, die keinen Zusammenhang zwischen Gemeinschaft und Verbrechen herstellt, angenommen habe. Diese diene wiederum den ehemaligen europäischen Kolonialherren, die die jungen Staaten von sich abhängig gemacht hätten, nicht aber den weiterhin ausgebeuteten Gesellschaften, die weit entfernt davon seien, Souveränität für ihr geschichtliches Projekt zurückzuerlangen und ihre Entwicklung gemeinsam fortzusetzen (Fu-Kiau, 2001, S. 52). Nicht alle afrikanischen Autoren teilen Fu-Kiaus Auffassung. Der angesehene kamerunische Philosoph Achille Mbembe (2014; 2019) hat sich einen Namen mit seinen Reflexionen über Nekropolitik und seiner Kritik – in Anlehnung an Kant – der Schwarzen Vernunft gemacht. Obgleich seine Beiträge zur zeitgenössischen Biopolitik – ein Begriff Foucaults, den er schlüssig im Zusammenhang mit Rassismus denkt – und zur Versklavung der Weltbevölkerung nach kolonialem Model höchst relevant sind, macht er doch in seinen Thesen zur Kritik der Schwarzen Vernunft zwei grobe Fehler. Zum einen hat er keinen Sinn für das von Rita Segato in Lateinamerika erkannte historische Projekt in Bezug auf die afrikanischen Völker, sondern sucht, wie es im Westen immer schon üblich war, die Schuld – das Kernkonzept des kolonialistischen Christentums –, bei den Afrikanern selbst. Dies bedeutet dann, zum anderen, dass er historisch ungenau ist und die Teilnahme am Kolonialismus und der Sklaverei erneut den Afrikanern in die Schuhe schiebt. Dabei zeigt die jüngste Forschung Lingna Nafafés (2022), dass die Afrikaner südlich der Sahara keine Sklaverei betrieben. Afrikaner zu versklaven war ein europäisches Projekt, mit dem die Portugiesen Ende des 15. Jahrhunderts ins Königreich Kongo kamen, wie der portugiesische König in seinem ersten Brief ganz unverhohlen bekundete. Das Beispiel der europäischen Eroberung Angolas, eines kongolesischen Vasallens, das mit einem harmlosen Handelsstützpunkt und der Erbauung von Kirchen und Schulen auf einem den Portugiesen großzügig überlassenen Landabschnitt begann, steht stellvertretend für die Geschichte der europäischen Kolonialität. Denn der Handel führte rasant zur Einführung eines neuen Rechts- und Gesellschaftssystems, zur Einmischung in die Wahl der Regierenden und zu Eroberungskriegen. Die Gesetze besagten von nun an, dass ein Krieg dann gerecht war, wenn er gegen Ungläubige geführt wurde, die dann gekidnappt und versklavt werden konnten. In kürzester Zeit sahen sich die zu ihrer Überraschung eroberten angolanischen Könige und Aristokraten, basierend auf der Forderung eines Tributs, dem baculamento, mit Waffengewalt unter Druck gesetzt, ihr Volk  in die Sklaverei zu schicken (Lingna Nafafé, 2022). Es wird immer wieder gern vergessen, dass die Sklaverei eine europäische Erfindung ist, wie Nell Irvin Painter (2010) in ihrem Buch The History of White People (Die Geschichte der Weißen) darstellt und belegt. Die Idee, andere Menschen als Ware zu behandeln, wurde bereits im antiken Griechenland und Rom zeitgleich mit der Einführung des Rationalitätsglaubens der Philosophie als Basis für das imperialistische System entwickelt und dann in der Moderne für die kapitalistischen Beweggründe Europas systematisch als globales System weiterentwickelt.

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Die Araber praktizierten ebenfalls Sklavenhandel im Norden Afrikas. Aber südlich der Sahara gab es nur das Konzept der zeitlich begrenzten Unfreiheit, sowohl für Kriegsgefangene als auch für Schuldner. Die Unterstellung, Afrikaner hätten schon immer Sklaverei betrieben und deshalb sofort mit den Europäern kooperiert, kann durch die bereits erwähnten Briefe, die afrikanische Könige empört an ihre europäischen Äquivalente oder den Papst schrieben sowie durch die vielen Unabhängigkeitskriege, die bereits im 16. und 17. Jahrhundert stattfanden, widerlegt werden (Lingna Nafafé, 2022). Der angebliche, aber inexistente afrikanische Sklavenhandel war immer ein wesentliches Argument, um die Barbarei der Europäer zu rechtfertigen. Dafür wurde das Gerücht der afrikanischen Sklaverei, das nicht zu belegen ist, in die Welt gesetzt. Mbembe spielt deshalb, wie viele andere afrikanische Autoren, mit seinen nicht empirisch belegten Behauptungen und seiner historischen Unkenntnis den Europäern weiter in die Hände. Er greift den zentralen europäischen Narrativ nicht an, sondern bestätigt ihn: Dass man bei der Konstitution des Subjekts immer noch der Kolonie solch ein gewaltiges psychisches Gewicht beimisst, ist streng genommen eine Folge des Widerstands gegen das Eingeständnis: der Unterwerfung der Neger unter das Begehren, der Tatsache, dass sie sich von diesem „dicken Faden der Fantasiemaschine“, der die Ware war, haben einnehmen, verführen und täuschen lassen. (Mbembe, 2014, S. 226)

Die Idee, dass die oft außergewöhnlich reichen afrikanischen Könige und andere Führungsfiguren sich von den europäischen Waren hätten blenden lassen – obgleich sie mit ihnen seit mindestens zwei Jahrtausenden Salz-, Gold- und Elfenbeinhandel betrieben –, ist abstrus. Die afrikanischen Könige in Kongo und Angola hatten diplomatische, kulturelle und bildungspolitische Interessen. Deshalb wäre es viel wichtiger, darauf hinzuweisen, dass die Portugiesen nicht nur Könige unterwarfen, sondern Waffen an diejenigen lieferten, die niemals zu Oberhäuptern gewählt worden wären, aber so einen Weg an die Macht sahen und wahrnahmen. Mit seinen Behauptungen betreibt Mbembe deshalb ebenfalls, was Achibie als die Auslöschung der europäischen kolonialen Geschichte bezeichnet und nimmt am wissenschaftlichen „Imperium im Imperium“ und der Aufrechterhaltung der Annihilation des geschichtlichen Projekts afrikanischer Völker teil. Was Mbembe nicht sieht, ist, dass die Afrikaner, im Gegensatz zu den Europäern, sehr wohl glaubten, von anderen lernen zu können. Was sie dabei nicht ahnen konnten, war, dass ihre Gastfreundschaft und ihr diplomatisches und bildungspolitisches Interesse brutal ausgenutzt werden könnte und dass illegitime Anführer die Chance nutzten, in die Machtspiele und das Versklavungsprojekt der Europäer einzusteigen. Fu-Kiau weiß, im Gegensatz zu Mbembe, dass es in Afrika gesellschaftliche Organisationsformen gab und gibt, die den angehörenden Völkern wesentlich adäquater, wenn nicht sogar den Europäern überlegen waren und sind. Das europäische Recht ist, wenn man den Gedanken der gemeinsamen Verantwortung für die Verbrechen der Mitglieder einer Gesellschaft aufnimmt, letztlich für das korrupte und fahrlässige Verhalten der nun in Afrika regierenden Politiker verantwortlich. Dass andere Kulturen für die Realisierung ihres eigenen geschichtlichen Projekts besser organisiert waren und soziopolitische

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Strukturen aufwiesen, die ihrer Gemeinschaft besser dienten, musste jedoch, damit das moderne kolonial-kapitalistische System funktionieren konnte, als falsch dargestellt werden. Es mutet grotesk an, dass man auf einem so banalen Fakt wie der Möglichkeit einer zumindest gleichwertigen soziopolitischen Organisation und Kultur unterschiedlicher Völker bestehen muss. Aber dies macht nur umso deutlicher, wie unreflektiert der westliche Superioritätsdiskurs übernommen wurde und wird. Deshalb ist Rivera Cusicanqui (2010), wie erwähnt, ausgesprochen unzufrieden mit dem kulturellen Relativismus und der Idee von Multikulturalität. Sie verhelfe den Subalternisierten nicht zu ihrem Recht und mache das begangene Unrecht und die Unterwerfung nicht rückgängig. Auch würde keine Veränderung in Angriff genommen, geschweige denn über sie nachgedacht. Die Frage der Multikulturalität und der Pluralität der Epistemologien ist komplex. Da die Dekolonialität die koloniale Dimension der westlichen Epistemologie als unterdrückerisch ausweist, muss sie mehr einfordern, als nur eine Anerkennung der Differenz. Wenn man jedoch realistisch denkt, ist die Anerkennung von Pluralität im Moment schon ein Fortschritt. Deshalb sei hier kurz die von Walter Mignolo und Rolando Vazquez formulierte Hinterfragung der Normatisierung aller Wissensbereiche durch den Westen angeführt, die auf der Idee der Pluralität aufbaut. Die Autoren beschäftigen sich mit der westlichen Ästhetik als Unterdrückungsmechanismus, die sie, um den griechisch/römischen Ursprung des Konzepts hervorzuheben, ÄstheTic nennen. Ihr Ziel ist es, deutlich zu machen, dass es eine Vielzahl der Art und Weisen gibt, sich mit dem Sensiblen zu verbinden und dass die westliche Ästhetik eben nur eine davon ist. Deshalb beschreiben sie sie als einen von vielen Bereichen des menschlichen Lebens, die durch die Postulierung der westlichen Perspektive als Norm anderen Völkern ihre spezifische Weltsicht und Lebensweise nahm. Der Gedanke der Universalität westlicher Rationalität und geistiger Überlegenheit zerstörte sie: Über die spezifischen Wörter oder die Sprache hinaus, die wir sprechen, ist es also wichtig zu sagen, dass „ÄstheTic“ die westliche Norm wurde, obgleich jede Gesellschaft ihre eigene Vorstellung von Ästhetik, dem Sinnlichen, dem Schönen hat. Dasselbe kann über die Menschenrechte gesagt werden, die zur westlichen Norm wurden, obgleich jede Gesellschaft ihre eigene Vorstellung von Gerechtigkeit hat. Das Gleiche gilt für Fortschritt, der zur westlichen Norm wurde, obgleich jede Gesellschaft ihre eigene Vorstellung von gutem Leben hat. Das Gleiche gilt für den Kapitalismus, der zur westlichen Norm wurde, obgleich jede Gesellschaft ihre eigene Vorstellung von Handel und Ökonomie hat. Das Gleiche gilt für Bildung, die zur westlichen Norm wurde, obgleich jede Gesellschaft der Welt ihre eigene Vorstellung vom Lernen hat. Und so weiter und so weiter für Vorstellungen von Natur, Geschlecht, Demokratie… (Mignolo et al., 2013)

Im Museumswesen gibt es heute dekoloniale Tendenzen, um den verschiedenen Ästhetiken gerecht zu werden und sie als Kunst auszustellen. Aber wenn man ehrlich ist, sind sie der Idee der zeitgenössischen Kunst untergeordnet und nicht-hegemoniale Kunst wird selten und zaghaft eingegliedert. Es geht nicht um das Kennenlernen anderer Epistemologien, sondern vor allem um das Ausstellen und den Ankauf sogenannter globaler Künstler, deren Arbeiten sich einfügen lassen.

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Was ist Dekolonialität und welche Bedeutung hat sie für die Kunst?

Das Problem der Unkenntnis von und des Desinteresses an anderen Weltsichten und Lebensweisen ist besonders an der Diskussion um anthropologische und ethnografische Sammlungen und um die Rückgabe von gestohlenem Kunstgut aus Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika zu beobachten. Nach wie vor wird dabei, wie Chimamanda Ngozi Adichie (2021) so treffend bemerkt, nur ein Teil der kolonialen Geschichte erzählt. Die Frage, wohin die gestohlenen Kulturschätze, wie etwa die Benin-Bronzen, gehören, zeigt klar und deutlich die Arroganz und Machtpolitik Europas. Niemals würde man diese Frage in Bezug auf europäische Werke stellen, wenn man sie gestohlen hätte. Man müsste sie zurückgeben, egal was dann mit ihnen gemacht würde. Deshalb muss Adichies Meinung nach der Mut, die ganze koloniale Geschichte zu erzählen, überhaupt erst einmal aufgebracht werden. Erst am Ende des 20. Jahrhunderts gab es zaghafte und, wenn man ehrlich ist, halbherzige Versuche, europäische Kunst, die sich in der historischen Avantgarde durch den Kontakt mit außereuropäischer Kunst erneuerte, gemeinsam mit dieser zu denken. Letztlich manifestierten diese Versuche nur erneut das hierarchisierende westliche Denken und dessen Versuch Überlegenheit zu demonstrieren. In der Ausstellung Primitivism in the 20th Century (Primitivismus im 20. Jahrhundert) im Museum of Modern Art, in New York (Moma), von 1984, lässt schon der Titel aufhorchen. Das Ausstellen einer Mbulu-ngula Maske im selben Raum mit Pablo Picassos (1881–1973) berühmten Les demoiselles d’Avignon (1907) führte zu einem Streitgespräch um Kunst und Artefakt, der zugunsten der europäischen Kunst entschieden wurde, da kein anderer Deutungshorizont außerhalb ihrer ästhetisierenden Intention denkbar war. Dabei muss bedacht werden, dass gerade, wenn nicht-hegemoniale Kunst in Europa in hegemonischer Weise ausgestellt wird, es zwei Formen der Gewaltanwendung gibt: zum einen sind viele Sammlungen größtenteils Ergebnis von Beutezügen – das Berliner Humboldt Forum weißt dies nun aus, was den Raub aber nicht rückgängig macht –, und zum anderen erfolgt durch das Ausstellen eines vermeintlich wissenschaftlichen Objekts einer „anderen Kultur“ sowohl eine Auslöschung und Negierung der Kolonialität als auch die Dekontextualisierung des Werks. Unendlich oft sind Urnen und andere Objekte darunter, die die Ruhe und das Andenken der Vorfahren stört oder es werden Kosmologien auf andere Art und Weise verletzt. Nur sehr langsam wird das Kunstverständnis außereuropäischer Kulturen integriert, etwa durch das Konzept des immateriellen Kulturerbes, das Oralität und andere Ausdrucksformen wie etwa Körperbemalungen berücksichtigt. In Brasilien besteht der Großteil des von der UNESCO ausgezeichneten Kulturguts nicht zufällig vorwiegend aus der von den Eroberern erschaffenen Kultur. Es handelt sich dabei um koloniale Architektur – Gebäude, Plätze und Kirchen –, die zentrale Instrumente im Genozid und Kulturzid waren. Nur zwei von siebzehn von der UNESCO ausgezeichneten brasilianischen Stätten wurden nicht von den Kolonialherren erbaut. Dabei handelt es sich um die jahrtausendealten Felsenmalereien in der Serra da Capivara, angefertigt von den Vorfahren der heutigen indigenen Bevölkerung (ihren Großvätern und Großmüttern) sowie um das archäologische Zentrum Museu dos Escravos Novos (Museum der neuen Versklavten), am Cais des ehemaligen Hafens Valongo in Rio de Janeiro, das Überreste des gigantischen Massengrabs abertausender in Brasilien gerade angekommener und durch die Entbehrungen der Überfahrt auf den Sklavenschiffen gestorbener Afrikaner ausstellt. Es wäre

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wichtig, in der Zukunft die als UNESCO Kulturerbe ausgewiesenen kolonialen Stätten nicht als ästhetische Errungenschaften, sondern im Kontext des begangenen Genozidos und Kulturzids zu sehen und ihre Anerkennung zu überdenken. Denn die Frage von Patrimonium und Kanon ist von zentraler Bedeutung für das westliche koloniale Kunstverständnis. Das Beispiel der Colston-Statue zeigt, dass Europa keine Schwierigkeiten hat, eine Umdeutung vorzunehmen, solange dies von Vertretern der Hegemonie selbst geschieht. Die Statue bleibt dabei innerhalb des Kanons, nun aber als Symbol der kritischen Auseinandersetzung mit der Kolonialität, die jedoch de facto innerhalb der Gesellschaftsstruktur durch institutionalisierten und systematischen Rassismus beibehalten wird. Größer ist der Widerstand in Brasilien, wo der eurozentrische Kanon weiter behauptet und der Versuch, die Machtverhältnisse zu verändern, schwer geahndet wird. Der dekoloniale Anspruch dieses Buches besteht deshalb darin, die Geschichte, Theorie und Kritik der Kunst im Westen in ihrer Kolonialität darzustellen und außereuropäische Kunst und Epistemologien als Alternativen und Möglichkeiten eines Umdenkens vorzustellen.

Kurze Schlussfolgerungen Zu meiner Frage, was Dekolonialität ist und welche Bedeutung sie für die Kunst hat, möchte ich nun folgende Antworten zusammenfassen: 1. Dekolonialität ist ein Begriff des Widerstands. Er wird benutzt, um verbliebene koloniale Denkmuster, Konzepte und Diskurse sowie die auf ihnen aufbauenden soziopolitischen, ökonomischen, ökologischen, kulturellen und psychologischen Machtstrukturen und Praktiken auszuweisen (Dussel, Grosfoguel, Mignolo, Mudimbe, P’Bitek, Quijano, Wiredu, Wa Thiong’o). Dadurch sollen die Mechanismen, die für die Subalternisierung angeblich Anderer verantwortlich sind, bewusst gemacht werden, damit sie nicht mehr angewandt werden. Die Dekolonialität versucht auch, unterdrückte Epistemologien entweder als Alternativen zur westlichen oder zumindest als gleichwertig in den wissenschaftlichen Diskurs und die politische Praxis zu integrieren (Esbell, Jecupé, Gonzalez, Kilomba, Munduruku, Nascimento, Rivera Cusicanqui, Wiredu). 2. Die Dekolonialität trat zunächst in Afrika in den 1980er-Jahren nach den neuen Staatengründungen auf, die den Unabhängigkeitskriegen und -erklärungen in den 1950er-Jahren folgten (P’Bitek, Wiredu, Wa Thiong’o). Es handelt sich dabei um die Verlängerung eines jahrhundertelangen Kampfes gegen die Sklaverei (Lingna Nafafé). Man suchte seit den 1950er-Jahren nach politischer (Fanon, Nyerere, Cabral, Nkrumah), rassisch-ethnischer (Césaire, Fanon, Senghor) und kultureller Gleichberechtigung (Jackson, Diop). Dekolonialisierung wurde zunächst in Bezug auf Literatur und Film (Wa Thiong’o) und wissenschaftliche Disziplinen wie Anthropologie, Philosophie, Religionswissenschaft usw. (Mudimbe, P’Bitek, Wiredu) diskutiert. Diesen ersten Debatten folgten die Postkolonialen und Subalternen Studien, die sich kritisch mit der westlichen Epistemologie auseinandersetzten (Said, Spivak). 3. Der lateinamerikanische Begriff der Dekolonialität sucht die Moderne neu zu definieren. Ihr Beginn wird mit der Eroberung Amerikas und der Kontrolle des Atlantiks

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Was ist Dekolonialität und welche Bedeutung hat sie für die Kunst?

durch Europa zwischen dem Ende des 15. Jahrhunderts und dem Beginn des 16. Jahrhunderts angesetzt. Ihre konstitutive Dynamik wird im modernen/kapitalistischen Welt- und Wertesystem gesehen. Die Moderne wird außerdem als planetarisches Phänomen verstanden, das auf asymetrischen Machtverhältnissen aufbaut und zur Unterordnung der Praktiken und Subjektivitäten der beherrschten Völker führte. 4. Gründungsfiguren der Dekolonialen Studien in Lateinamerika waren Quijano und Dussel in den 1990er-Jahren. Beide verstanden Kolonialismus erstmals als ein globales europäisches Projekt des Kapitalismus. Dieser Gedanke wurde von weiteren Autor:innen (Escobar, Grosfoguel, Walsh, Lander und Mignolo) aufgenommen. Als Angehörige der weißen Mittelschicht sieht Rivera Cusicanqui sie als Teil eines „Imperium im Imperium“, da sie am eigenen Ruhm interessiert sind, ihnen ein tieferes Verständnis nicht-hegemonischer Epistemologien fehlt und sie kein ausreichendes politisches Engagement haben. 5. Ideen und Konzepte wie Rationalität, Moral, Volk , Geschichte und Kultur wurden von der westlichen Epistemologie instrumentalisiert, um außereuropäische Völker zu Anderen abzustempeln. Die wichtigsten Mechanismen, um dies zu sichern, waren und sind Philosophie, Religion, Wissenschaft und Kunst. Der Kolonialismus erkaufte sich seinen Reichtum mit der Unterentwicklung, Marginalisierung und dem Abhängigmachen der Anderen (Rodney, Quijano), wobei traditionelle und gut funktionierende kommunitäre Strukturen zerstört wurden, da sie dem westlichen Fortschritt hinderlich waren (Jecupé, Fu-Kiau, Wiredu, Munduruku). 6. Es gibt eine Anzahl westlicher Denker, die die Hegemonie der Rationalität anzweifelten und Vernunftkritik leisteten (Nietzsche, Levi-Strauss, Foucault, Heidegger, Freud, Derrida und Deleuze). Sie zogen dabei aber nicht den Kolonialismus in Betracht. Nicht-hegemoniale Denker weisen hingegen neue Wege, da sie Philosophie auch als körperlichen Vorgang begreifen, oder zeigen, dass Wissen etwas Kollektives ist, was sich in den Körpern intuitiv manifestieren kann (Sodré). Träume und die Einnahme von Heilpflanzen vermitteln ebenfalls Visionen des Wissens der Ahnen und Vorfahren. 7. Nicht-hegemonische Völker, Autor:innen und Künstler:innen werden selbst heute nicht als Teil von Nationalstaaten mit kolonialer Geschichte gesehen und sind Verfolgung und Unterdrückung ausgesetzt. Proteste, wie der dekoloniale Aktivismus gegen Statuen der Sklavenhändler Colston und Borba Gato im Zusammenhang von Black Lives Matter, demonstrieren weißen Liberalismus in Europa und konservative Unterdrückung in Lateinamerika. 8. Das Christentum in seiner hellenisierten Form (P’Bitek) war durch seinen Universalitätsanspruch zentraler Mechanismus der Kolonialität. Obgleich es eine Universalität der Moral gibt, die für alle Menschen gültig ist, wurden europäische Sitten als Moral deklariert (Wiredu). Die Idee eines allmächtigen und omnipräsenten, nicht-humanen Gottes wurde zur Primitivisierung, Animalisierung und Infantilisierung anderer Völker und ihrer Kulturen genutzt, die diese Art Gott nicht besaßen. Dabei wurden deren historische Projekte (Segato) unmöglich gemacht und ihre Kunst, die u. a. zur Sichtbarmachung des Nichtsichtbaren dient, zu Artefakten degradiert. Ein neu zu definierender Kunstbegriff sollte, wie der der Moral, allgemeingültig sein. 9. Außereuropäische Epistemologien haben soziopolitische Strukturen, die auf der Idee der Gemeinschaft aufbauen. Sie wurden aber vom Westen zerstört (Fu-Kiau).

Kurze Schlussfolgerungen

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Dabei gab es viele Formen des Widerstandes, die jedoch nicht erinnert werden (Lingna Nafafé). Es gibt unterschiedliche und für verschiedene Völker adäquatere Formen des Sensiblen, der Gerechtigkeit, des richtigen Lebens, der Ökonomie, des Lernens etc. (Mignolo et al.). 10. Ein dekoloniales Verständnis von Kunst sollte nicht zwischen Kunst und Artefakt unterscheiden. Alle Kulturen bringen Kunst hervor. Auch sollte das Kunstverständnis nicht auf die Idee einer globalen Kunst, die nur eine zeitgenössische Ausrichtung hat, reduziert, sondern generell auf die symbolische Produktion aller Völker ausgedehnt werden. Die Frage des Kanons und des Patrimoniums eines vermeintlichen Weltkulturerbes muss deshalb neu überdacht werden.

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Was ist Dekolonialität und welche Bedeutung hat sie für die Kunst?

ZWEITES KAPITEL :

Warum wird Kunst studiert und warum stellen wir sie her? Damit wir den Ursprung unseres Interesses am Studium von Werken und Praktiken, die Resultat eines Willens sind, unsere inneren und äußeren Welten, die sichtbar und nichtsichtbar sind, zu verstehen, in Bezug auf sie zu handeln, mit ihnen zu kommunizieren und sie auszudrücken, möchte ich mit dieser grundlegenden Frage weitermachen: Warum studiert man im Westen überhaupt Kunst (und warum verzichtet man in außereuropäischen Kulturen zumeist darauf)? Damit verbunden ist eine zweite, universellere Frage: Warum stellen wir Kunst her? Ich werde die beiden Fragen in fünf Schritten beantworten. Zunächst widme ich mich der ersten mithilfe eines zeitgenössischen Films über paläolithische Felsmalerei. Dann werde ich Perspektiven der Bildwissenschaft vorstellen, die den Begriff der Kunst durch die des Bildes abzulösen suchen. Drittens werde ich mehrere Erklärungen für die Produktion von Kunst vorstellen, die sowohl von Wünschen als auch von Ängsten bezüglich unserer menschlichen Existenz geprägt sind. Viertens mache ich mir über einen universellen Kunstbegriff Gedanken. Und zuletzt kehre ich zu den Beweggründen für das Kunstschaffen zurück, indem ich die Entstehung einiger ausgewählter Medien diskutiere und deren mögliche Unterschiede vorstelle: Bilder, Texte und technologische Codes.

Von historischen und ahistorischen Wesen Mein Ausgangspunkt zur Frage, warum man Kunst im Westen studiert, ist Die Höhle der vergessenen Träume, ein Film, der 2010 vom Regisseur Werner Herzog gedreht wurde. Er entstand auf Einladung der französischen Regierung, um die Höhlenzeichnungen im französischen Chauvet filmisch darzustellen. Sie waren 1994 entdeckt worden und man nahm damals an, es seien die ältesten von Menschen hergestellten Bilder, zwischen 36.000 und 42.000 Jahren alt.

Abb. 4: Die Höhle der vergessenen Träume, Film von Werner Herzog, 2010, Filmplakat

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Inzwischen weiß man, dass die ältesten Zeichnungen in der Blomberg Hölle in Südafrika zu finden sind. Dort wurden während einer in 2002 ausgeführten Grabung Steine mit abstrakten Zeichnungen und Gravuren gefunden, die zwischen 73.000 und 100.000 Jahren alt sind. Im Gegensatz zu Europa waren in Afrika, der Wiege der Menschheit, viele Felsmalereien Wind und Wetter ausgesetzt und wenige blieben erhalten. Blombos macht aber deutlich, dass das bestehende Narrativ, dass die ältesten Höhlenzeichnungen in Europa zu finden seien, nicht korrekt ist. Mit modernster 3D-Technologie ermöglicht Herzog im Film eine direkte Begegnung mit den beeindruckenden Zeichnungen. Die Entdeckung der Höhle war eine Sensation, die um die Welt ging. Schnell wurde sie zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt. Um diese „größte Entdeckung in der Geschichte der menschlichen Kultur“, wie Herzog sie im Film nennt, zu schützen, sperrte die französische Regierung sie sofort für die Öffentlichkeit. Abb. 5: Studie eines Pferdes, Leonardo da Vinci, Auch wurden keine Kosten gescheut, um sich mit 1490, Zeichnung, Royal Library, Windsor Castle dem Fund wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Ein multidisziplinäres Team von Forscher:innen aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen – Archäologie, Anthropologie, Paläontologie, Kunstgeschichte, Geologie usw.  – wurde beauftragt, das Rätsel der Höhle und ihrer Kunst zu untersuchen. Der Film beginnt deshalb mit Aufnahmen des multidisziplinären Teams auf dem Weg zur Höhle. Als sie sich der versiegelten Tür nähern, zählt Herzog in voice over alle Details und Daten zur Geschichte ihrer Entdeckung auf und erklärt ausführlich, wie umsichtig man in Studium und Erhalt der Zeichnungen vorgeht. Wir sehen und hören Einzelheiten über die vielen Vorkehrungen, die Film- und Rechercheteams treffen müssen, um sie nicht zu beschädigen. In Interviews mit den Wissenschaftler:innen manifestiert sich dann die Wertschätzung in Ausdrücken wie „große Kunstwerke“, „Qualität“, „Schönheit“ und „Magie“. Unabhängig von ihrem Wissensgebiet beteuern alle, dass die Tierbilder „einzigartig“ und „originell“ seien, da sie, wie Herzog bemerkt, im Verdacht standen, gefälscht zu sein, weil sie in der versiegelten Höhle so gut erhalten waren. Als ihr wahres Alter durch Kohlenstoffdatierung festgelegt wurde, kannten die Bemühungen, sie zu schützen und zu studieren, keine Grenzen mehr. In den Kommentaren der Forscher:innen werden die Höhlenbewohner:innen zu großen Künstler:innen stilisiert und somit in einen wichtigen Diskurs der Kunstwissenschaft, den des Künstlergenies, eingegliedert. Aber was die „Schönheit“ der Zeichnungen offenbart, ist etwas, was uns diese Diskurse verstellen: „Kunst entwickelt sich nicht“, wie es Hockney und Gayford (2016, S. 25) in einem kurzen, aber treffenden Satz zusammenfassen. Auch stellen sie trocken fest, was in Chauvet deutlich zu sehen ist und jegliche

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Abb. 6: Kunsthistorikerin in Die Höhle der vergessenen Träume, Film von Werner Herzog, 2010

Idee eines Kunstfortschritts verneint: „Einige der besten Bilder waren die ersten.“ (Hockney und Gayford, 2016, S. 25) Die ihnen zugeschriebene „Originalität“ und „Schönheit“ wird nicht zufällig aus ihrer Ähnlichkeit mit Werken abgeleitet, die auf dem Studium der Natur basieren und im Westen seit der griechischen Antike bewundert und geschätzt werden. Insbesondere seit der Renaissance wird die Fähigkeit der Naturnachahmung, wie etwa in der Zeichnung eines Pferdes von Leonardo da Vinci (1452–1519), gepriesen. Es wurde deshalb, wie wir noch sehen werden, zu einem der wichtigsten Kriterien der Kunstwertschätzung erklärt. Dabei sei daran erinnert, dass Felsmalereien nicht als Kunstwerke anerkannt wurden, als die Kunstgeschichte als Disziplin entstand. Im Gegenteil, sie galten als primitiv, da sie als minderwertiger evolutionärer Schritt hin zu einer verfeinerten Darstellung der Natur angesehen wurden. Gemäß dieser Denkart bestand der einflussreiche österreichische Kunsthistoriker Ernst Gombrich (1984, S. 75–89) darauf, dass der Begriff Kunst überhaupt erst seit den Griechen anwendbar sei. Sein Kriterium war, dass sie als Erste an der Lösung der Darstellung des menschlichen Körpers und des Raums in Skulptur, Architektur und Malerei interessiert waren. Darüber hinaus wären sie es gewesen, die in Epen eine fantastische Welt erschaffen hätten. Beides sind für ihn Gütesiegel der westlichen Kunst. Nicht umsonst spricht Gombrich (1984, S. 75) von einem „großen Erwachen“ und einer „Revolution“ in der griechischen Antike. Dass es damals schon eine lange Tradition des oralen Geschichtenerzählens und der Darstellung der Welt gab, wurde in diesem kunsthistorischen Gründungsmythos unterdrückt. Und dass es außer der Naturnachahmung noch andere wichtige ästhetische Lösungen gibt und diese Hierarchisierung willkürlich ist, hätte seine Pläne, Europas zentrale Stellung hervorzuheben, durchkreuzt. Ich werde

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in den folgenden Kapiteln noch auf die Wirkung und Wiederholung dieses Narrativs zurückkommen und ihn, wie Hockneys und Gayfords Kommentar verdeutlicht, als reinen Machtdiskurs ausweisen. George Didi-Huberman, der mit dieser Sichtweise der Dinge ebenfalls unzufrieden ist, hat sich deshalb darüber Gedanken gemacht, wann die Kunstgeschichte und ihre zentralen Diskurse erfunden wurden. Es war der italienische Künstler Giorgio Vasari (1910), der für seine eigene Zeit, die Renaissance, sowohl die Künstler:innen als auch ihre Werke erstmals wirkungsvoll verewigte. Die Verbindung zwischen der Erfindung der Künstler:innen als Schlüsselfiguren der Gesellschaft, den Kunstwerken als unverzichtbarer Praxis und der Entstehung der Kunstgeschichte als Disziplin ist, in den Worten des Autors, (…) so konstitutiv, so herausragend, dass man es nicht mehr genau zu sagen weiß, ob der Begriff Renaissance die Frucht einer großen Disziplin namens Kunstgeschichte ist, oder ob die Ermöglichung der Kunstgeschichte und deren Begriff nicht die historische Frucht einer großen Zivilisationsepoche ist, die (von ihr selber) Renaissance genannt wurde. (Didi-Hubermann, 2000, S. 61)

In den Erklärungen und Methoden der Forscher:innen der Chauvet-Höhle ist eine traditionelle Definition der Kunstgeschichte präsent, die dann vom Filmemacher ergründet wird, in dem er nicht nur auf ihre Grenzen verweist, sondern nach einer anderen Herangehensweise an die Bilder und ihre Künstler sucht. Neben der Frage, warum Felsmalereien überhaupt studiert werden, geht Herzog so auch auf die Probleme ein, die ein solches Studium mit sich bringen. Die Interviews mit den Forscher:innen dienen beiden Zwecken. Das Gespräch mit einem jungen Archäologen, der Herzogs Frage nach dem Nutzen modernster Höhlenscans beantwortet, ist besonders aufschlussreich. Die detaillierte Kartografierung vergleicht der Regisseur ironisch mit der Erstellung eines Telefonbuchs: Millionen von Einträgen, aber keine Geschichten. Ein steriler, wissenschaftlicher Ansatz, dem jeder Bezug zur Menschlichkeit fehlt, wie etwa zu den Träumen und Wünschen der Menschen, die die Höhle bewohnten. Der Archäologe, der Zirkusakrobat war, bevor er Forscher wurde, bestätigt die Unmöglichkeit, Fakten über die Höhlenbilder durch das Sammeln von Daten abzuleiten. Er konstatiert knapp, „die Vergangenheit ist tatsächlich verloren“. Das kurze Gespräch zwischen dem Archäologen-Künstler und dem Film-Archäologen weist auf zwei grundlegende Probleme hin, die das historische Studium der Künste im Westen immer mit sich führt. Erstens ist die Interpretation dessen, was in der Vergangenheit produziert wurde, begrenzt, da die zugrundeliegende Epistemologie verloren gegangen ist  – je weiter entfernt, desto unvollständiger  – und die von dem multidisziplinären Team gesammelten Daten werden niemals die Umstände dieser Produktion rekonstruieren können. Darin liegt aber genau der Grund, warum sie überhaupt studiert werden: Man kennt ihre Bedeutung nicht mehr. Für indigene Völker, die Kunst nicht studieren, wäre die Bedeutung ersichtlich, da sie paläolithische Zeichnungen als Ausdrucksweisen der Vorfahren und Teil einer jahrtausendealten Tradition wahrnehmen (Esbell und Berbert, 2021). Es handelt sich deshalb um eine Kunst, die mit ihnen immer noch kommuniziert. Sie bedarf gar keines Studiums.

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Abb. 7: Digitalisierte Karte in Die Höhle der vergessenen Träume, Film von Werner Herzog, 2010

Das epistemologische Wissen für ihr Verständnis wird jedoch vom Westen nicht herangezogen, obwohl der Archäologe darauf hinweist, dass die australischen Ureinwohner als mögliche Quelle herangezogen werden könnten. Die brasilianischen Archäolog:innen Alberto Martins und Glória Kok (2014, S. 33) merken an, dass einige Petroglyphen im Amazonasgebiet, insbesondere in der Nähe des Tipiaka-Wasserfalls am Caiauri-Uaupés-Fluss, Masken zeigen, die noch immer von den Kobeua, die heute in derselben Region leben, benutzt werden. Auch die indigenen Künstler Jaider Esbell und Daiara Tukano (2021), erinnern die Kunst ihrer Vorfahren und stellen sich in deren Tradition. Obgleich man sie aufgerufen hat, zeitgenössische Kunst zu machen, die in Museen und Galerien ausgestellt wird, nähert sich ihre Kunst zwar in der Technik, nicht aber in der Funktion an den Westen an. Durch die koloniale Geschichte der Überlegenheit, kommt der Westen aber gar nicht auf die Idee, diejenigen zu fragen, die das nötige Wissen besitzen. Man verlässt sich lieber auf wissenschaftliche Methoden, die nichts weiter tun, als in der jeweiligen Disziplin im Dunkeln zu tasten. Denn die aufgestellten Thesen hängen, zweitens, immer von der jeweiligen disziplinären Ausbildung  – Archäologie, Kunstgeschichte, Paläontologie usw.  – und den angewandten Methoden ab – zum Beispiel dem Höhlenscan. Es ist kein Zufall, dass uns ein ehemaliger Zirkuskünstler daran erinnert, dass vermeintlich Andere, epistemologisch besser ausgerüstet sind. Der Archäologe bedenkt auch, dass Gefühle und Emotionen nicht vergessen werden sollten, wenn Kunst aus einer anderen Zeit studiert wird, da das kollektive Unbewusste noch Zugang zu dieser Zeit habe.

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Abb. 8: Nashörner mit mehreren Hörnern in Die Höhle der vergessenen Träume, Film von Werner Herzog, 2010

Indem Herzog den Fokus weg vom Intelligiblen hin zum Sensiblen lenkt, macht er auf die Grenzen wissenschaftlicher Methoden aufmerksam  – eine wichtige Beobachtung, die ich in diesem Buch immer wieder in Erinnerung bringen werde. Ein weiterer Versuch, im Film über die herkömmlichen wissenschaftlichen Methoden hinauszugehen, besteht darin, die ästhetische Erfahrung der Bilder zur Zeit der Höhlenmenschen zu simulieren und somit erneut sinnlich erfahrbar zu machen. Dafür übernehmen die Filmscheinwerfer in einer Sequenz die Aufgabe, das Licht von Fackeln nachzuahmen. Dieses Vorgehen benutzt Herzog dann, um darauf hinzuweisen, dass die Bilder einiger Tiere, die mehrere Beine oder Hörner haben, nicht nur Teil der Kunstgeschichte sind. Er integriert sie in die Geschichte des Films als „Proto-Kino“, da sie Bewegung suggerieren. So konstruiert er eine Geschichte der Bilder und nicht der Kunst, darauf abzielend, alle Künste in eine gemeinsame Geschichte zu integrieren. Wie ich in der Einleitung kurz anmerkte, spricht der französische Philosoph Jacques Rancière (2006b) von „Kunst im Singular“ und auch die Bildwissenschaft betrachtet alle Bilder, die das Konzept der Kunst ersetzen sollen, als gleichwertig. Herzogs Film tut dasselbe. Indem er vorschlägt, dass die Höhlenmalereien auch Teil der Filmgeschichte sind, nehmen sie an der Geschichte aller Künste und aller Bilder teil. Herzog unterscheidet aber deutlich zwischen den Menschen der Chauvet-Höhle und den heutigen westlichen Menschen, wenn er etwas später anmerkt, dass einige Felsmalereien über einen Zeitraum von 5.000 Jahren entstanden sind. Mit anderen Worten, diese Menschen haben Tausende von Jahren auf dieselbe Wand gemalt. Wenn dies heute passierte, wäre es als wenn man ein Graffiti auf kanonische Kunstwerke, wie etwa die Fresken berühmter Renaissancekünstler malen würde. Man denke etwa an das JüngsteGericht an der Decke der Sixtinischen Kapelle, das Michelangelo Buonarroti (1475–1564)

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im Vatikan zwischen 1508 und 1512 anfertigte. Für die Menschen der Chauvet-Höhle blieb die Ausübung ihrer Kunst und die Fähigkeit, sie zu entschlüsseln, über viele Jahrtausende gleich, da sich die Wahl der Objekte (Tiere), die technische Ausführung (Zeichnung) und ihre Bedeutung (die wir nicht kennen) nicht geändert haben. Ausgehend von diesem Verständnis kommt Herzog zu dem Schluss: „Wir sind in der Geschichte gefangen und sie nicht.“ Herzogs Satz vom Gefangensein in der Geschichte ist für meine Eingangsfrage von grundlegender Bedeutung, da er die folgende Antwort enthält: Wir beschäftigen uns mit dem Studium der Kunst und halten sie für erhaltenswert, weil die Menschen im Westen historische Wesen sind, die die Kunst verstehen wollen, für die sie die nötige Epistemologie verloren haben. Denn ihre vermeintlich auf dem Logos aufbauende Epistemologie versteht die Beweggründe der Kunstproduktion anderer Zeiten nicht mehr. Es ist ein Paradox, denn durch den Logos wurde die Verbindung zu diesem Wissen abgeschnitten und was bleibt, ist die Sehnsucht, sie zu begreifen, um zu wissen, woher man eigentlich kommt. In indigenen Zusammenhängen wird das Wissen oral weitergegeben und ist deshalb zugänglich. Es basiert auf dem Respekt vor der Anzestralität und dem Verständnis der Welt als einem Verbund aller Wesen, auch denjenigen der quasi-materiellen oder nichtsichtbaren Schichten (Jecupé, 1998, S. 26). Die „Erfindung der Zeit“, im Sinne der westlichen Geschichte und ihrer historischen Wesen, die nichts mit dem historischen Projekt zu tun hat, setzte dabei erst nachhaltig mit der Kolonialisierung ein (Jecupé, 1998, S. 27). Und das ist ein weiteres Paradox, denn durch die Unterdrückung nicht-historischer Wesen wird die eigentliche Sehnsucht gewaltsam blockiert. Das westliche Denken ist historisch und sucht die Vergangenheit zu studieren, um den verloren gegangenen Zusammenhang mit sich und der Welt wiederherzustellen, macht dies aber gleichzeitig unmöglich. Es werden zwar Theorien über frühere Praktiken entwickelt, sie sind aber letztlich, unabhängig von den angeblichen Spezialisten und der modernsten Technologie, unzulänglich. Infolgedessen sind die theoretischen und historischen Studien sowie die kritischen Analysen immer von einem Paradox bestimmt: Trotz des Wunsches, die Vergangenheit zu rekonstruieren und zu erklären, sind sie dazu verdammt, unbefriedigend zu bleiben, weil das Wissen um die symbolische oder auch praktische Bedeutung abhandengekommen ist und man diejenigen, die Zugang zu ihm haben, subalternisiert. Viele Länder wurden von Europäern kolonialisiert und ihre Kulturen, wenn nicht vollkommen zerstört, so doch angegriffen und verleumdet. Dies bedeutete auch, dass sie gezwungen wurden, das westliche historisierende Denken zu integrieren. Auch wenn sie versuchten, ihre Kosmologien und Kunstpraktiken zu erhalten, wurden sie doch nachhaltig vom historischen Denken beeinflusst. Brasilien ist ein Beispiel für die Paradoxalität dieses Unterfangens. Um es besser zu verstehen, möchte ich noch kurz die Reflexionen des Medienphilosophen und brasilianischen Immigranten jüdisch-tschechischer Herkunft, Vilem Flusser, zum historischen und ahistorischen Denken anführen. In seiner Studie über die Besonderheiten des brasilianischen Volkes geht Flusser (1994) davon aus, dass der größte Teil unseres Planeten immer noch auf ahistorische Weise lebt. Mit dieser Aussage scheint er die herablassende Hegelsche Denkweise, dass bestimmte Kontinente, insbesondere Afrika, keine Geschichte haben, zu aktualisieren. Flussers Idee weicht jedoch von Hegels ab, denn sie hat nicht den rassistischen Unterton

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hinsichtlich der Nichtexistenz metaphysischen Denkens oder historischer Entwicklung, sondern kommentiert vielmehr die politische Handlungsfähigkeit und sieht ahistorisches Denken als wertvoll an. Historisch leben bedeutet für Flusser, dass ein Volk  Entscheidungseinfluss hat. Es gibt wenige Völker, die diesen Einfluss ausüben, und auch der zeitliche Raum, in dem diese Handlungen durchgeführt wurden, ist begrenzt: Die Geschichte, soweit man darunter die Summe der entscheidenden Taten (res gestae), und nicht auch die Summe der Leiden versteht, hat sich bisher, d. h. in den letzten 8000 Jahren, in einem breiten Band abgerollt, das die nördliche Halbkugel zwischen dem 25. und 60. Breitengrad gürtet. Gemessen am Alter der Menschheit ist dies eine relativ kurze Zeit und gemessen an der Oberfläche der Erde eine relativ enge Zone, besonders wenn man bedenkt, dass sich die entscheidenden Taten an wenigen Orten des Bandes ballen. (Flusser, 1994, S. 12)

Flusser ist hier nicht ganz präzise, da er das Alte Ägypten, das, wie wir noch sehen werden, nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent ist, sondern auch äthiopische Wurzeln hat, nicht berücksichtigt. Er tut dies aber wohl deshalb, weil es kein Imperium im griechischen oder römischen Sinn war. Warum er ausgerechnet 8.000 Jahre angibt, erklärt er nicht. Historisch bedeutet also Herrschaft, Unterdrückung, Kolonialität und Imperialismus. In Bezug auf Brasilien ist Flusser der Meinung, dass die Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985 versuchte, historisches Denken durch die Industrialisierung des Landes gewaltsam durchzusetzen. Wenn Flusser (1994, S. 69) feststellt, dass der Brasilianer ein „Ungeschichtlicher zweiten Grades ist“ sieht er dies als Möglichkeit, dass das Land sein wahres Potenzial entfalten könnte, wenn es ihm gelänge, nicht mehr die Herrschaftswünsche des Westens zu imitieren. Man könnte es heute so formulieren: Brasilien käme seiner Identität näher, wenn es sich in allen Bereichen dekolonialisierte und stärker auf sein ahistorisches, außereuropäisches, vor allem indigenes und afrikanisches Fundament besinnen würde, dass es vom prädatorischen Fortschrittsdenken und der damit einhergehenden Subalternisierung befreien würde.

Von Perspektivismus und Anthropozentrismus, Bildtheorien und symbolischen Systemen Westliches, historisches Denken steht am Ursprung der Kunststudien. Es will Vergangenes und Vergessenes verstehen, unterdrückt es aber gleichzeitig. Man könnte sagen, es führt zu Vergessen, da es Andere beherrschen will. Ich wende mich jetzt der zweiten Frage zu: Warum machen Menschen überhaupt Kunst? Für viele Völker ist diese Frage irrelevant, weil Kunst ein organischer Teil des sozialen Gefüges ist. Es ist Form der Kommunikation und des Wissens. Auch dies scheint der Westen vergessen zu haben, weshalb sie von vielen sogenannten Gelehrten über die Jahrhunderte gestellt wurde. Wie die Frage nach dem Verständnis der Kunst, ist auch sie von Paradoxalität geprägt, da sie mit der Eindämmung ihrer Wirkungsmacht einhergeht. Dies änderte sich jedoch in den letzten Jahrzehnten, wie wir gleich sehen werden.

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Warum wird Kunst studiert und warum stellen wir sie her?

Die Frage nach dem Warum der Kunst wurde seit dem Ende des 20. Jahrhunderts wieder gestellt, da man versucht, mit einem neuen erkenntnistheoretischen Ansatz eine neue Perspektive zu entwickeln. Man kann die dafür verantwortliche Bildwissenschaft als Versuch beschreiben, das jahrtausendealte menschliche Bilderarchiv besser zu verstehen. Man bemüht sich deshalb, den engen europäischen Begriff der Kunst mit dem des Bildes zu ersetzen. Damit soll über dessen Eurozentrismus und engen historischen Rahmen hinausgegangen und eine allgemeingültige Theorie entwickelt werden. Darüber hinaus versucht die Bildwissenschaft auch, neue Methodologien zum Verständnis des ästhetischen Schaffens hervorzubringen. In diesem Kapitel werde ich auf den ersten Aspekt eingehen, während uns der zweite erst ab dem fünften Kapitel beschäftigen wird. Obwohl die Bildwissenschaft darauf abzielt, das Forschungsgebiet und seine Methoden neu zu definieren und eine universelle Theorie anzubieten, und obgleich sie einige Schnittpunkte mit nicht-hegemonialen Epistemologien aufweist, werde ich zeigen, dass sie der westlichen Epistemologie fast gänzlich verhaftet bleibt. Unter Berücksichtigung brasilianischer indigender Autor:innen, Anthropolog:innen und Archäolog:innen werde ich vorschlagen, dass es für die Entwicklung einer neuen Bildtheorie notwendig wäre, ahistorisches Denken miteinzubeziehen. Denn die Kunstwissenschaft wird sich nur dann erneuern, wenn sie aus anderen Epistemologien lernt, dekolonial denkt und arbeitet. Die wichtigste Einschränkung in den westlichen Reflexionen über Bildschöpfung ist der Anthropozentrismus. Er geht von der Zentralität des Menschen in der Welt aus, während indigene Epistemologien sich als Teil der Welt begreifen und in enger Verbindung mit ihrer Umwelt – Natur, Tieren, nichtsichtbare Welt – leben (Kopenava, 2013; Krenak, 2020). Die ästhetische Praxis ist im Alltag, in Ritualen und Zeremonien gleichermaßen präsent. Sie drückt sich in der Ästhetisierung von geflochtenen, geschnitzten, gewebten oder getöpferten Alltagsobjekten, aber auch in Masken, Kleidung, Schmuck und Körperbemalung, in Tanz und Musik aus. Ihr Ziel ist es, Vorfahren und Ahnen der geistigen, menschlichen und tierischen Welt sowie die Natur zu ehren (Jecupé, 1998; Munduruku, 2019; Esbell, 2020; 2021). Die rationale westliche Epistemologie hingen versucht die Bildschöpfung mit der Abgrenzung des Menschen vom Tier zu erklären und trennt deshalb die unterschiedlichen Praktiken voneinander. Sie fokussiert das Visuelle durch den Begriff des Bildes, der dazu benutzt wird, Zusammenhänge innerhalb des bestehenden Archivs herzustellen, berücksichtigt dabei aber deren funktionalen Zusammenhang nicht, sondern betrachtet sie getrennt. Diese Herangehensweise ist in der Sichtweise der westlichen Geistes- und Sozialwissenschaften begründet, die davon ausgehen, dass, wie Eduardo Viveiros de Castro (2015, S. 52) sagt, „ein Subjekt ein Objekt ist, das studiert werden muss“. Das indigene ahistorische Denken geht von der gegenteiligen Sichtweise aus, nämlich dass „ein Objekt ein unvollständig interpretiertes Subjekt ist“ (Castro, 2015, S. 52). Interpretierendes Subjekt ist dabei eine analytische Idee. Ich würde sie durch verstehendes Subjekt ersetzen, da dies vielschichtiger ist. Zwei Begriffe sind für das indigene Denken bezeichnend: Perspektivismus und Multinaturalismus (Castro, 2015, S. 52). Aufgrund ihres Perspektivismus gehen Indigene nicht von einem Unterschied zwischen Menschen, Tieren und kosmischen Wesen aus, denn alle sind aus ihrer Perspektive gleichwertig. Im Gegensatz zum westlichen Multikulturalismus

Von Perspektivismus und Anthropozentrismus

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haben im indigenen Denken Tiere und Menschen dieselben Vorfahren und unterscheiden sich nur in ihrer Form. Der indigene Multinaturalismus sieht Tiere eigentlich noch als Menschen. Auch haben sich nicht die Menschen von der Natur in die Kultur, sondern die Natur hat sich von der Kultur zurückgezogen: Während unsere populäre Anthropologie die Menschheit als auf einem animalischen Fundament aufgebaut versteht, das normalerweise von der Kultur verborgen wird – da wir einst „vollständig“ Tiere waren und nun „verborgene“ Tiere sind – suggeriert indigenes Denken andererseits, dass Tiere und andere kosmische Wesen, die einst Menschen waren, dies immer noch sind, wenn auch auf eine Weise, die für uns nicht offensichtlich ist. (Castro, 2015, 60)

Im Gegenteil dazu ist in den westlichen Bildtheorien, die unter anderem von Gottfried Böhm, Horst Bredekamp, Marie-José Mondzain und Emanuele Coccia entwickelt wurden, die Idee der Hominisierung, der Unterscheidung des Menschen vom Tier ausschlaggebend. Bilder seien entstanden, weil sich der Mensch vom Tier entfernte und dann in der Kunst seine Subjektivierung ausdrückte. Der Mensch steht hier im Zentrum. In Definitionen der Kunst, die von zeitgenössischen indigenen Schriftsteller:innen und Künstler:innen formuliert werden, wird, andererseits die Herstellung einer Verbindung zum Nichtsichtbaren und die Allverbundenheit mit der Natur und allen Wesen hergehoben (Jecupé, 1998; Munduruku, 2019; Esbell, 2020; 2021). Der deutsche Kunsthistoriker Gottfried Boehm (2015, S. 28) geht in seiner Bildakttheorie vom Gegenteil, nämlich von einer „ikonischen Differenz“, aus. Er argumentiert, dass die Hominisierung mit der Entwicklung visueller Praktiken verbunden sei. Aus diesem Grund nimmt Boehm (2015, S. 27) an, dass sich der Mensch vor der Erfindung der Sprache bereits Gesten und Bilder bediente. Da er sich durch das Bildermachen auszeichne, sei er folglich ein homo pictor. Der Akt der Differenzierung – das Bildermachen – besteht für Boehm (2015, S. 27) aus drei Schritten. Zuerst werde etwas in einem Material verkörpert, dadurch entstehe etwas Sichtbares im visuellen Feld und dann werde ein Zuschauer von diesem Bild bewegt. Die beiden letzteren Aspekte machen deutlich, dass Boehms Theorie nicht universell ist, da der Verweis auf das Nichtsichtbare in nicht-hegemonialen Zusammenhängen zentral ist (Jecupé, 1998; Munduruku, 2019) und es dort auch keine Zuschauer, sondern Beteiligte gibt. Boehm (2015, S. 28) ist sich trotz seiner theoretischen Anstrengung der Grenzen des Logos in der Kunstwissenschaft bewusst: „Bilder sind zerbrechlich, man kann mit ihnen keine Wissenschaft machen.“ Der Autor weißt darauf hin, dass die Konzentration auf den Logos der Sprache, genauer gesagt auf die Diskurse über die Bilder, dafür gesorgt habe, dass die Macht im und des Bildes ignoriert wurde. Es sei nun an der Zeit zu erkennen, dass das Bild seinen eigenen Logos habe. Sprache sei nicht ausreichend, um sie zu verstehen: Bilder sind also gleichzeitig mehr und weniger als diskursive Sprache. Weniger, weil sie die dekontextualisierte Verallgemeinerung der Sprache nicht beanspruchen können. Mehr, weil sie eine Logik offenbaren, die sich nicht mehr auf die gegensätzliche Dimension von Zeichen beschränkt. Das Bild, das durch Verbindung und Konjunktion arbeitet, führt uns zum ursprünglichen Sinn des Wortes Logos: „légein“, Ligatur, Bindung,

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Abb. 9: Negative Hand, 36.000–40.000 v. Chr., Felsmalerei, Chauvet-Höhle, Frankreich

Verbindung. An das Bild zu denken bedeutet meiner Meinung nach, an die spannungsvolle Einheit zwischen Auge, Hand und Mund zu denken. (Boehm, 2015, S. 32)

Während die Hervorhebung der Einheit zwischen Sehen, Fühlen und Sprechen im Westen vielleicht eine neue Perspektive bedeutet, gehört in außereuropäischen Zusammenhängen der ganze Körper dazu. Dies zeigt wiederum, dass hier keine universelle Theorie entwickelt wurde. Die Bildtheorie der französischen Philosophin Marie-José Mondzain steht in derselben Tradition. Sie geht dabei von der Verbindung des Menschen mit der Welt aus und verwendet die Felsmalerei einer negativen Hand aus der Chauvet-Höhle für ihre Argumentation. Auch Mondzain beschreibt den Unterschied zwischen Mensch und Tier als Trennung. Sie betont dabei noch stärker als Boehm die Schaffung menschlicher Subjektivität durch das Bildschöpfen: Die negative Hand ist das erste Selbstporträt, ein nicht spiegelndes Selbstporträt, eines Menschen, der von sich und der Welt nur die Spur kennt, die seine Hände hinterlassen. Dieses Selbstverständnis ist der Beweis einer Trennung, der Etablierung eines Trennungsregimes und einer losgelösten Subjektivität. (Mondzain, 2015, S. 42)

Für Mondzain (2015, S. 43) beginnt die menschliche Existenz erst als „imaginäres Subjekt, das der Natur entgegenwirkt, weil alle imaginären und ikonischen Operationen Ausdruck

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menschlicher Reife und der Suche nach Freiheit sind.“ Die Essenz des westlichen Denkens – das Subjekt wird sich selbst zum Objekt – wird hier deutlich. Dabei handelt es sich jedoch ausschließlich um das Denken eines historischen Menschen. Auch erklärt Mondzain den Gedanken der Freiheit nicht weiter, der eher auf die zeitgenössische als auf die paläolithische Situation bezogen ist. Deren Künstler:innen dachten ahistorisch und sahen sich eher als Teil eines Universums gleichwertiger Wesen, als dass sie sich als Individuen verstanden. Man könnte die Hand auch ganz anders deuten, wenn man sich auf die indigenen Kosmologien besinnt (Jecupé, 1998; Kopenava, 2013; Munduruku, 2019; Krenak, 2020; Esbell, 2020; 2021). Etwa als Erinnerung an die Verbindung aller Wesen und Elemente, da sie den Kontakt zwischen Mensch und Felswand herstellt. Denn die benutzten Pigmente, die auf die Hand geblasen wurden, sind ebenfalls mineralischen Ursprungs. Dasselbe könnte für die Bilder der Tiere gelten. Statt an Porträts zu denken, könnten sie an den gemeinsamen Ursprung und die Verbindung allen Seins erinnern. Die Kraft dieser Tiere könnte auch als Schutz fungieren oder diese für den Menschen zugänglich machen, wie es etwa in afrikanischen Skulpturen der Fall ist oder während der Benutzung von Masken geschieht. Der italienische Philosoph Emanuele Coccia bietet seinerseits, indem er das Konzept eines dritten Raums prägt, eine Perspektive, die sich viel mehr mit der sinnlichen Dimension als mit dem Logos und der subjektivierenden Funktion der Bilder befasst. Seiner Argumentation zufolge sind Bild und Sinnliches austauschbare Begriffe, die einem dritten Raum außerhalb des Raums der Dinge – alltäglicher Objekte – und des Raums des Wissens – dem Intelligiblen – angehören. Sie müssen daher als jenseits von Körper und Geist gedacht werden: „Das Sinnliche (das Sein der Bilder) unterscheidet sich genetisch sowohl von bekannten Objekten als auch von Wissenssubjekten“ (Coccia 2015, S. 79). Der dritte Raum der Bilder sei außergeistig und außergegenständlich: „Dieser Zwischenbereich, dieses nicht-objektive Unbewusste oder nicht-psychische Wissen, ist weder anthropologisch noch kulturell oder natürlich“ (Coccia 2015, S. 85). Denn das Sensible existiere weder als Materie/Objekt, noch in unserer Seele/Subjektivität. Vielmehr „ist es der Ort, an den Natur und Kultur, Leben und Geschichte verbannt werden“ (Coccia 2015, S. 85). Coccia sieht den dritten Raum also als Auffangbecken sowie als Schaffung von etwas gänzlich Neuem. Warum dies negativ als Verbannung verstanden wird, erklärt er nicht. Obgleich sein Vorschlag weiter geht als der Boehms und Mondzains, bleibt er doch seltsam vage. Auch grenzt er Alltagsgegenstände, die in indigenen Kulturen eine große Bedeutung als Kunst haben, aus. Um von allen Künsten sprechen zu können, einschließlich jener, die sich der Schrift bedienen – dramatische Texte, Poesie, Literatur usw. –, lohnt es sich, noch zwei Autoren in die Diskussion um das Warum der Kunst einzubeziehen, deren Verständnis stärker mit der Semantik und dem Symbolischen verknüpft ist: Horst Bredekampf und Mircea Eliade. Der rumänische Philosoph Mircea Eliade (1959, S. 95) definiert den Menschen nicht als homo pictor, sondern als homo symbolicus, also als ein Wesen, das Zeichensysteme entwickelt. Die wichtigsten menschlichen Systeme sind für ihn Religion und Kultobjekte und -bilder. Eliades Idee baut auf dem Text Die Lehre vom Satz von Aristoteles (1962) auf. Schrift wird von ihm dementsprechend als Symbol der gesprochenen Sprache definiert, womit eine klare Hierarchisierung vorgenommen wird, da Schrift als wichtiger bewertet wird als die orale Tradition. Eliade teilt außerdem mit den genannten Bildtheoretikern die

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anthropozentrische Überzeugung, dass wir erst durch symbolische Aktivitäten zu Menschen geworden sind. (Eliade, 1995, S. 95) Man kann ihm, was die Erfindung von Zeichensystemen betrifft, jedoch zustimmen, da diese universell sind. Obwohl der deutsche Kunsthistoriker Horst Bredekamp (2015, S. 36) Boehms Konzept der „ikonischen Differenz“ zitiert, steht er auch Eliade nahe, der das Bild als semantische Form beschreibt. Darüber hinaus erweitert er die Definition dessen, was als Bilder zu verstehen ist durch deren Funktion und vergrößert den Zeitraum ihrer Existenz. Sein Beitrag besteht deshalb vor allem darin, die Entstehung des „differenzierten Bildes“, wie er es nennt, viel früher anzusetzen, als allgemein angenommen. Denn Bredekamp assoziiert Bilder mit der Herstellung von Waffen durch den Homo sapiens. Zur Entwicklung seiner Theorie weist er auf die Existenz eines ästhetischen Interesses an einer Axt hin, die eine dekorative Muschel hat und zwischen 100.000 und 10.000 v. Chr. datiert ist. Aber Bredekamp ist vorsichtig und weist darauf hin, dass es oft unmöglich sei, zu wissen, welchen Zweck Objekte hatten. Genau diese Unterscheidung gibt es in der indigenen Epistemologie jedoch nicht, da jedes Alltagsobjekt nicht nur benutzt wird, sondern immer auch eine Beziehung mit der nichtsichtbaren Welt herstellt und Abb. 10: Acheulean Axt, 100.000–10.000 diese dadurch erinnert und würdigt. Darin besteht der v. Chr., Handaxt mit Muschelfossil, Kontrast zwischen historischem und ahistorischem, Museum of Archaeology and anthropozentrischem und multiperspektivischem Anthropology, ­Cambridge Denken, wobei die jeweils letzteren nicht in den Überlegungen Bredekamps herangezogen werden. Der Autor bezeichnet auch perforierte Objekte und Steingravuren, die vor etwa 75.000 Jahren entstanden, als Bilder, da dieser Art der Bildschöpfung ebenfalls ein symbolischer Akt zugrunde liege, womit er den eben genannten Punkt trifft. Bredekamp (2015, S. 35) versteht jedoch den Menschen weder als homo pictor noch als homo symbolicus, sondern, um die Bildschöpfung im Allgemeinen zu verdeutlichen, als homo faber. Er betont, dass Menschen ihr Schicksal und ihre Umwelt anfänglich durch den Einsatz von Werkzeugen zu kontrollieren suchten, was wiederum eine sehr westliche Idee ist, die, wie wir noch sehen werden, von der Angst vor der Umgebung ausgeht und nicht, wie im indigenen Denken, von einer Verbundenheit mit ihr.

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Von eurozentrischer Wissenschaft und universeller Abstraktion Obgleich Bredekamp (2015, S. 39) den Bildbegriff zeitlich und dinglich auf Objekte mit ästhetischem Interesse ausweitet, ist er der Meinung, dass figurative Skulpturen erst zeitgleich mit den Felsmalereien entstanden sind. Mit ihnen lassen sich zwei weitere wichtige Fragen der Bildschöpfung – der wissenschaftliche Eurozentrismus beim Studium der Werke und die ihnen zugrundeliegende universelle Abstraktion – diskutieren. Was den Eurozentrismus betrifft, sind die in Österreich gefundenen Venus von Willendorf und Venus von Galgenberg die bekanntesten Figuren. Wie schon im Fall der Höhlenmalerei sind sie Teil des kolonialistischen Narrativs, dass Europa die Wiege der Zivilisation ist. Dabei gibt es wesentlich ältere afrikanische Skulpturen, die aber in den einschlägigen Publikationen nicht genannt werden. Es handelt sich um die Venus von Tan-Tan aus dem heutigen Marrokko und die Venus von Berekhat Ram aus Israel. Da sie

Abb. 11: Links – Venus von Willendorf, 29.500 v. Chr., Kalksteinskulptur; rechts – Venus von Galgenberg, 36.000 v. Chr., Skulptur aus grünem Serpentinenstein; beide Naturhistorisches Museum, Wien

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Abb. 12: Links – Venus von Tan-Tan, Marokko, 300.000 v. Chr., Museo de la Evolución Humana, Burgos; rechts – Venus von Berekhat Ram, 280.000–230.000 v. Chr, The Israel Museum, Jerusalem

zwischen 300.000 und 230.000 Jahren alt sind, widerlegen sie Bredekamps These von der späten Entstehung der Figur. Die brasilianischen Archäologinnen Anne-Marie Pessis und Gabriela Martin kritisieren vehement die Errichtung eines Zentrums – Europa – und einer Peripherie – etwa Brasilien  – durch die europäische Archäologie und Kunstgeschichte. Kunst sei immer gleichzeitig rund um den Globus hergestellt worden: „Der europäische Diffusionismus und Egozentrismus müssen bei der Diskussion über die Ursprünge der prähistorischen Kunst verworfen werden, da die Felskunst fast gleichzeitig an verschiedenen Orten der Erde entstand.“ (Pessis und Martin 2014, S. 25) Sie stellen damit den Versuch infrage, bestimmten Bildern – vor allem denen aus Europa – einen höheren Wert zuzuschreiben. Negative Hände z. B., die wir schon von Mondzains Idee der Subjektivierung kennen, wurden in unterschiedlichen historischen Momenten in Argentinien, Indonesien und in der genannten Höhle in Chauvet in Frankreich gemacht. Dabei gibt es natürlich Unterschiede, manchmal sind es viele, manchmal nur eine. Pessis und Martin stehen im Einklang mit Herzog, dass die Versuche, Felsmalerei heute zu interpretieren, begrenzt und letztlich zum Scheitern verurteilt seien. Sie warnen vor „oftmals fantastischen, jeder Logik und wissenschaftlicher Grundlage entbehrenden Analysen“ (Pessis und Martin, 2014, S. 28). Die Autorinnen schlagen aber in Übereinstimmung mit Bredekamp und Boehm eine „menschliche Tendenz, Bilder zu machen“ als Teil der Evolution des Menschen vor (Pessis und Martin 2014, S. 28). Doch anstatt sich auf die Hominisierung zu konzentrieren, stellen sie einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten und dem Hang zur Abstraktion als

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Abb. 13: Oben – Cueva de las manos, Argentinien, 7.000 v. Chr.; links – Höhle in Maros, Indonesien, nicht datiert

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Ergebnis der Interpretation der Welt her. Sie verweisen dabei auf die Vielfältigkeit der Sinnproduktion, da ähnliche paläolithische abstrakte Zeichnungen wie Spiralen, Kreise, Strahlenfiguren und parallele Wellenlinien, spezifische Bedeutungen haben, die je nachdem, welche Gruppe sie gemacht habe, unterschiedliche Bedeutungen hätten. Um die paläolithische Kunst zu verstehen, müsste man nur die westliche Epistemologie und den Glauben, man könne nichts von anderen Völkern lernen, ablegen und dann die Richtigen fragen. Denn eine ähnliche Sinnproduktion lässt sich bei der traditionellen Körperbemalung unterschiedlicher Völker beobachten. Dabei wird wieder deutlich, wieviele der zeitgenössischen Praktiken überliefert sind und Wissen, im Gegensatz zu der Behauptung seiner Begrenztheit, eigentlich in anderen Epistemologien zugänglich ist. Es ist zu beachten, dass, obgleich es diesen Zugang zum Wissen gibt, die Bedeutungsvielfalt der Bildproduktion nicht vergessen werden darf. Die verschiedenen geometrischen Muster der Kayapó-Xikrin beziehen sich auf Flora und Fauna: Schmetterlinge, den Panzer einer Schildkröte oder Teile einer Abb. 14: Körperbemalung der Kayapó-Xikrin, Palme. Systeme anderer Gruppen können nicht datiert formal ähnlich sein, verweisen aber mit vergleichbaren Mustern auf andere Dinge oder Wesen. Generell erlauben indigene Grafiken die grundlegende Frage der Abstraktion für das Bilderstudium aufzuwerfen, die von Bredekamp nur gestreift wird. Wie bereits bemerkt, versucht keine der Grafiken die Welt darzustellen oder zu imitieren. Stattdessen sind sie Teil eines Kommunikationssystems, dass auf die Natur verweist, aber von ihr abstrahiert. Obwohl die westliche Epistemologie den Gebrauch und die Bedeutung der steinzeitlichen Venus nicht sicher kennen kann – auch wenn es in indigenen Zusammenhängen diese Fruchtbarkeitsfiguren immer noch gibt  –, ist deutlich zu erkennen, dass auch sie nicht den weiblichen Körper reproduzieren, sondern abstrakte Formen aufweisen. Dasselbe gilt für die Chauvet-Höhlentiere, die zwar naturnah gezeichnet, aber nebeneinander organisiert sind und gleichermaßen als Ergebnis einer Abstraktion gesehen werden können. Sicherlich ging es hier nicht um Naturnachahmung. Folglich muss der westliche Begriff der Repräsentation für einen universellen Bilder- oder Kunstbegriff als ungeeignet angesehen werden.

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Abb. 15: Gongshi, anonym, 18. Jahrhundert, Kalkstein auf Holz, Metropolitan Museum of Art, New York

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Die Idee der Abstraktion findet sich auch in Bredekamps (2015, S. 42) Kommentar zu chinesischen gongshi, Zufallsbildern oder Gelehrtensteinen. Sie wurden während der TangDynastie (618–907) entwickelt und bestehen aus einem in der Natur gefundenen Stein, der dann auf einen Sockel gestellt wird. Die Gelehrtensteine sind ein interessantes Beispiel, um den Gedanken der Abstraktion von der Natur, die jeder ästhetischen Handlung zugrunde liegt, zu demonstrieren. Denn die gongshi sind einerseits reine Natur und andererseits, durch die Erhöhung, eine Abstraktion derselben. Dadurch machen sie den fundamentalen Gestus des Abstrahierens, der darin besteht, etwas aus einem Kontext herauszunehmen und in einen neuen einzufügen, deutlich. Die Beziehung zu beiden bleibt dabei bestehen. Durch das Herausnehmen eröffnen sich neue Möglichkeiten der Sinngebung, die zwar noch auf den vorherigen Kontext bezogen sind, aber auch über ihn hinausgehen. Dadurch entsteht ein umfangreiches Netz von Beziehungen zwischen den Menschen, die den Gestus vollziehen, und den möglichen Bedeutungen des geschaffenen Bildes. Die Natur wird in diesen chinesischen Kunstwerken sprichwörtlich auf den Sockel gehoben. Dabei wird die Nähe und Verehrung der Natur eben so deutlich, wie die menschliche Tendenz, eine symbolische Beziehung zu der in der Natur geborgenen Kraft herzustellen. Dies geschieht durch die Aktion der Abstraktion, hier nicht in neue Symbole übersetzt, sondern durch die Erhöhung der Natur zum Symbol. Die Abstraktion durch Menschenhand, die das Sinnliche konstituiert, wird bei Bredekamp mit dem Zitat der Gelehrtensteine als wichtiger Teil jeden ästhetischen Verhaltens kenntlich. Es ist wichtig, hervorzuheben, dass dies nicht von historischem oder ahistorischem Denken abhängig, sondern universell ist. Und das, obwohl, wie ich noch zeigen werde, die westliche Kunsttheorie die Naturnachahmung aus Gründen der Subjektivierung und des Anthropozentrismus immer ins Zentrum gerückt hat. Generell lässt sich beobachten, dass für die Frage, warum wir Kunst oder Bilder produzieren, die verschiedenen Bildtheorien hauptsächlich auf der Idee der Trennung aufbauen, während wir in der ahistorischen, paläolithischen, indigenen und orientalischen Praxis der Idee der Verbindung begegnen, die noch nicht genügend theoretisiert wurde.

Zum Kunstbegriff Bringt es dann überhaupt etwas, den Begriff der Kunst mit dem des Bildes zu ersetzen? Verstehen wir mit ihm besser, warum wir sie herstellen? Ist es mit ihm möglich, andere Epistemologien miteinzubeziehen? Meine bisherige Diskussion hat zumeist negative Antworten auf diese Fragen hervorgebracht. Der Anthropozentrismus wurde beibehalten und kein größeres Verständnis für ältere oder nicht-hegemonische Kunst geschaffen. Allein Bredekamps größeres Zeitfenster, die Bedeutung der Abstraktion und der Einbezug älterer Objekte eröffnen Perspektiven. Wie wir gesehen haben, akzeptieren indigene Autor:innen und Künstler:innen (Jecupé, 1998; Munduruku, 2009; Esbell, 2020, 2021; Esbell und Tukano, 2021) den westlichen Kunstbegriff und übernehmen ihn für das symbolische Wirken sowohl ihrer Vorfahren seit paläontologischer Zeit, aber gerade auch für ihre eigene zeitgenössische Kunst. Sie benutzen jedoch die Definition des Sichtbarmachens des Nichtsichtbaren. Der Westen hat im Gegensatz dazu lange Zeit die Ausgrenzung außereuropäischer Kulturen betrieben.

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Um die Notwendigkeit der Dekolonisierung des Kunstbegriffs und mit ihm die der Frage des Kunstschaffens auszuloten, scheint es sinnvoll, wenn wir kurz über indigene und afrikanische Kunst nachdenken. Ein zentrales Anliegen von Anthropologie und Ethnologie war anfangs, wie im ersten Kapitel beschrieben, die Andersheit außereuropäischer Kunst mit Begriffen wie Artefakt, Fetisch, Animismus usw. zu behaupten und sie damit zu diskreditieren. Heute wird etwa von Els Lagrou (2009, 18), einer in Brasilien lebenden belgischen Anthropologin, wie auch vom Briten Alfred Gell (2000), der Unterschied zwischen indigener und westlicher Kunst in ihrer Handlungsabsicht (agency) und ihrem produktiven Wert festgemacht. Dies ist deshalb wichtig, weil dadurch deutlich wird, dass jegliches indigene Werk seine Bedeutung verliert, wenn es in einem Museum ausgestellt wird, außer wenn es dafür gedacht wurde. Verschiedene Ausdrucksformen und künstlerische Bewegungen oder Kunstwerke des 20. Jahrhunderts wie Fluxus, Performance Art, Body Art, Happening usw. haben versucht, den produktiven oder Handlungswert auch für die westliche Kunst wiederzugewinnen. In der historischen Avantgarde und seit den 1960er-Jahren brachten sie die Kunstwelt erneut mit dem Alltagsleben in Verbindung. Aus diesem Grund vergleicht Lagrou indigene Kunstwerke mit Konzeptkunst: Wenn indigene Objekte Handlungen, Werte und Ideen kristallisieren, wie es die Konzeptkunst tut, oder Wertschätzung der gleichen Kategorie traditioneller Konzepte von Schönheit und formaler Perfektion provozieren wie wir [der Westen], warum sollten wir behaupten, dass diese Völker konzeptionell nicht wissen, was wir als „Kunst“ kennen? (Lagrou, 2009, S. 13)

De facto müsste es genau andersherum sein und Konzeptkunst sollte mit indigener Kunst verglichen werden. Jaider Esbell machte dies mit seinem Begriff der zeitgenössischen indigenen Kunst deutlich. Denn die indigene Kunst war vorher da und hat ihre Handlungsfunktion, Werte und Ideen und ihre Verschränkung mit Alltagsobjekten nie verloren. Es ist bezeichnend, dass in den Amerikas erst in den letzten Jahren der Kunstbegriff sowohl von weißen Kunsthistorikern und Kurator:innen, als auch von indigenen Künstler:innen für deren Kunst benutzt wird. In Museen werden jetzt sogenannte American wings, Abteilungen mit indigener Kunst eingerichtet, oder, wie in der Pinakotek in São Paulo, zeitgenössische indigene und afrodiasporische Kunst gekauft und ausgestellt. Was die afrikanische Kunst betrifft, war Carl Einstein bereits am Beginn des letzten Jahrhunderts der erste Europäer, der mit der Vorstellung brach, in Afrika gäbe es keine Kunst, sondern nur Artefakte. 1915 stellte er in seinem Buch mit dem der Zeit entsprechenden rassistischen Titel Negerplastik die europäische vorurteilsvolle Herangehensweise infrage, die den Afrikanern jegliche Kunstschöpfung und somit ästhetischen Willen von vorneherein absprach: Kaum einer Kunst nähert sich der Europäer dermaßen misstrauisch, wie der afrikanischen. Zunächst ist er hier geneigt, überhaupt die Tatsache, „Kunst“ zu leugnen und drückt den Abstand, der zwischen diesen Gebilden und der kontinentalen Einstellung sich auf tut, durch eine Verachtung aus, die sich geradezu eine verneinende Terminologie schuf. Dieser Abstand und die Vorurteile, die hieraus folgen, erschweren jegliche

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ästhetische Einschätzung, ja verhindern sie gänzlich; denn eine solche setzt zunächst ein Angenähertsein voraus. (Einstein, 1915, S. V)

Einsteins Nobilitierung wurde im Westen bis ins späte 20. Jahrhundert nicht wirklich angenommen, denn noch 1984 in der Ausstellung „Art or Artefact“ im New Yorker Museum of Modern Art (Museum für Moderne Kunst) gab es, wie erwähnt, eine lange Diskussion, die zur Bestärkung des Konzepts Artefakt führte. Einstein schrieb hingegen in einem Moment, in dem die europäischen Künstler:innen sich für paläolithische, japanische, ozeanische und afrikanische Kunst interessierten und sie, obgleich als primitive Kunst verstanden, zur ästhetischen Erneuerung in ihre eigene integrierten. Es zeichnet Einstein aus, dass er nicht nur ein Verständnis afrikanischer Formen suchte, sondern auch eine These zu ihrer Funktion entwickelte. Spannenderweise nutzte der Autor seine Studie, um gegen die westliche Kunst, vor allem die christliche Gegenreformationskunst vorzugehen. Barocke Skulptur und Malerei wurden von ihm mit der für ihn wesentlich transzendentaleren afrikanischen Kunst verglichen. Er blieb damit zwar einem westlichen Begriff verhaftet, benutzte ihn jedoch zur Aufwertung sonst als rückständig angesehener Artefakte. Dies liegt darin begründet, dass der Barock von ihm als Versuch der Manipulation der Betrachter:innen gesehen wurde, während er in der afrikanischen Skulptur das, was er religiöse Wahrheit nennt, fand. Er machte dies an ihrer geschlossenen kubischen Formen fest, über deren formale Konzentration der Kontraste, Integration und Intensität er ausgiebig und in expressionistischer Sprache reflektierte. Seiner Meinung nach „sei“ die Skulptur, anstatt etwas zu symbolisieren. Gleichzeitig setzte er für ihre Analyse Kriterien fest, indem er sich auf die ihm zeitgenössische Kunst, den Kubismus bezog. Dabei widersprach er der Idee der Abstraktion: Der Künstler erarbeitet ein Werk, das selbständig, transzendent und unverwoben bleibt. Dieser Transzendenz entspricht eine räumliche Anschauung, die jede Funktion des Beschauers ausschließt; ein vollständig erschöpfter, totaler und unfragmentarischer Raum muss gegeben und verbürgt sein. Abgeschlossenheit des Raumes bedeutet hier nicht Abstraktion, sondern ist unmittelbare Empfindung. Die Geschlossenheit ist nur garantiert, wenn das Kubische völlig geleistet ist, dem nichts hinzugefügt werden kann. (Einstein, 1915, S. XIII)

Dieser europäischen Sichtweise, der auch Einstein erlag, widersprechen Okot P’Bitek (2011) und Kwasi Wiredu (1996). Sie kritisieren, dass der Westen alles in Afrika als religiös sieht und prangern an, dass dies auf einer Fehleinschätzung und falschen Übersetzung der Begriffe und Praktiken beruhe. Obgleich Einstein bemerkte, dass man zu seiner Zeit wenig über afrikanische Kunst wusste, machte auch er den Fehler, anzunehmen, dass Skulpturen der Verehrung dienten: Die Transzendenz des Werkes ist im Religiösen bedingt und vorausgesetzt. Es wird in Adoration, in einem Grauen vor dem Gott geschaffen und das Gleiche ist seine Wirkung. Verfertiger und Anbeter sind a priori seelisch, das ist wesentlich identisch; der Effekt liegt nicht im Kunstwerk, sondern in seinem vorausgesetzten, unbestrittenen Gottsein. (Einstein, 1915, S. XII)

Zum Kunstbegriff

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Wiredu (1996, S. 59) stellt im Gegenteil zu Einsteins falscher Vorstellung einer Transzendenz in der afrikanischen Kunst klar, dass es sich bei dem Verhältnis zu den Figuren um Respekt handelt. Von Grauen kann gar keine Rede sein, denn die afrikanischen Kosmologien haben einzig und allein die Funktion, ein gesellschaftliches Gleichgewicht herzustellen. Als Beispiel können wir eine Nimba (große Seele) der Bagu und Nalu aus dem heutigen Guinea-Bissau nehmen. Sie ist eine Fruchtbarkeitsfigur mit einer spezifischen zeremoniellen Funktion. Es gibt sie nicht nur als Skulptur, sondern auch als Maske, die zu Beginn der Pflanzungs- und zur Erntezeit benutzt wird, um die Ernte und somit die Gesundheit des Volks zu garantieren. Außerdem fungiert sie als Danksagung und wird auch noch bei Bestattungen verwendet. Sie erinnert nicht zufällig an die verschiedenen paläolithischen Venusfiguren. Abgesehen von der Fehleinschätzung in Bezug auf die religiöse Dimension afrikanischer Kunst ging Einstein bereits, wie die zitierten indigenen Autoren Jecupé, Munduruku und Esbell, davon aus, dass die Skulpturen und Masken das Nichtsichtbare sichtbar machen, d. h. an es erinnern oder zu ihm Kontakt aufnehmen. Auch wird Abb. 16: Nimba, Volk  der Nalu, von Einstein die Transformation des Selbst zum heutiges Guinea-Bissau, nicht datiert, Wohl der Gemeinschaft in seiner Diskussion der Holzskulptur Tätowierungen und Masken behandelt. Die inadäquate Insistenz des Autors in Bezug auf das Religiöse lässt sich auf seine Kritik der Gegenreformation zurückzuführen. Von ihr abgesehen, eröffnet Einsteins Text tiefere Einsichten in die afrikanische Kunst, als zeitgenössische Autoren wie Frank Willet (1998), die immer noch einem ausgesprochen ethnografischen Blick verpflichtet sind, aber aufgrund mangelnder Publikationen zum Thema als Referenz gelten. Wir können zusammenfassen, dass sowohl der Bild- als auch der Kunstbegriff immer die westliche koloniale Geschichte der Ausgrenzung in sich tragen, auch wenn Kunstwissenschaft und Anthropologie jetzt an einer Integration arbeiten, ohne jedoch ihre epistemologische Basis zu reflektieren oder Definitionen und Sichtweisen nicht-hegemonialer Epistemologien einzubeziehen. Diese werden von den indigenen zeitgenössischen Künstler:innen artikuliert, die den europäischen Kunstbegriff angenommen haben. Aufgrund der Akzeptanz im Bereich der zeitgenössischen Kunst, mit all ihren Problemen, scheint kein Weg am Kunstbegriff vorbeizuführen. Er müsste jedoch als pluriepistemologischer Begriff neu definiert werden. Ich kehre jetzt zur Frage nach den Motivationen der Bild- oder Kunstschöpfung zurück.

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Warum wird Kunst studiert und warum stellen wir sie her?

Vom Wunsch zu verbinden, zu wissen, zu vermitteln, zu verflachen und zu erinnern Außerhalb der Bildwissenschaft und der Anthropologie finden wir in anderen Disziplinen wie Philosophie, Medienwissenschaft und Psychoanalyse noch vielfältige Erklärungen für die menschlichen Beweggründe, Kunst zu schaffen und sie in unterschiedlichen Medien auszudrücken. Die indigene, afrikanische, asiatische und ozeanische Welt sieht in der Kunst, wie gesagt, vor allem eine Möglichkeit der Handlung und der Verbindung, sowohl mit der hiesigen Welt und ihren verschiedenen Schichten, als auch mit der jenseitigen Welt, die mal als nichtsichtbare, mal als geistige oder spirituelle Welt bezeichnet wird. Dadurch ist Kunst Ausdruck traditionellen Wissens und Kontakt mit Vorahnen und Vorfahren. Jaider Esbell fasst die verschiedenen Medien und ihre Funktion in der indigenen Kunst so zusammen: Weil wir Indigene von einer sehr oralen, sehr visuellen Tradition kommen, ohne dass wir uns auf bestimmte Sprachen festlegen. Es ist eine sehr sensible und spirituelle Tradition. (Esbell, 2021, S. 37)

Die zeitgenössische indigene Kunst betritt seit ein paar Jahren neue Wege innerhalb des westlichen Kunstmarkts und Museumswesens, da sie weiterhin mit diesem spirituellen Weg in Verbindung steht. Auch geht sie immer von einem direkten Kontakt des Menschen mit der Natur aus. Obgleich etwa die land art seit den 1960er-Jahren diesen Kontakt ebenfalls sucht, steht Kunst im indigenen Kontext auf einem anderen Boden, der sich auch mit der modernen Kosumkultur auseinandersetzt: Und die zeitgenössische indigene Kunst hat diese Kraft, die Erwartung an diese anderen Anforderungen der Sinne zu erfüllen, vor allem die subtilsten, die mit der Frage der Spiritualität zusammenhängen. Und die mit der Notwendigkeit einer engeren Beziehung mit der Natur zusammenhängen. Dies wiederum stellt, auf praktischer Ebene, auch eine neue Beziehung zum Konsum und der Idee einer Distanz zwischen den Welten her. (Esbell, 2021, S. 46)

Esbell verweist dann noch auf das Gefühl der Gemeinschaft als zentralem Element in der indigenen künstlerischen Praxis. Denn selbst wenn von indigenen Künstler:innen die westliche Idee der Kunst angenommen wird und sie am Kunstmarkt teilnehmen, baut ihre Produktion, Verbreitung und Kommerzialisierung auf dem Gedanken auf, dass dies für die Gemeinschaft geschieht. Reflexionen über die Funktion, das Kunst Kontakt mit der nichtsichtbaren oder spirituellen Welt herstellt, oder auf den Kontakt zu ihr verweist, ist auch im westlichen Denken zu finden. Im 20. Jahrhundert gab es verschiedene theoretische Versuche in diese Richtung. Ich möchte an einen Text des deutschen Philosophen Martin Heidegger (1889–1976) erinnern, Die Entstehung des Kunstwerks, aus dem Jahr 1936. Seine Definition hatte einen sehr großen, wenn auch nicht anerkannten Einfluss auf zeitgenössische Überlegungen, vor allem in Bezug auf den Logos des Bildes in der Bildwissenschaft. Man könnte sagen, Coccias Konzept des dritten Raums hat seine Grundlage in Heideggers

Vom Wunsch zu verbinden, zu wissen, zu vermitteln, zu verflachen und zu erinnern

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(1977, S. 27) Feststellung „das Werk gehört als Werk einzig in den Bereich, der durch es selbst eröffnet wird“. Tatsächlich machte Heidegger bereits in den 1930er-Jahren den Vorschlag, Kunstwerke nicht mehr als Dinge zu analysieren, wie es seit dem Idealismus in der Ästhetik und später in der Kunstgeschichte der Fall war. Er unterschied daher zwischen dem Kunstwerk (das keinen täglichen Gebrauch hat), der Sache (dem Material selbst) und dem Zeug (das einen täglichen Gebrauch hat). Seine Sichtweise ist somit zwar innovativ, schließt aber außereuropäisches Denken aus, da der Bezug zum Alltag als nicht wünschenswert erscheint. Das Kunstwerk nicht als Ding, Sache oder Zeug zu sehen heißt, es als Erschaffer einer eigenen Welt anzuerkennen: „Werksein heißt: eine Welt aufstellen.“ (Heidegger, 1977, S. 30) Diesen Gedanken finden wir dann bei Els Lagrou in Bezug auf indigene Kunst, aber auch beim Philosophen Martin Seel (2013) in Bezug auf das Medium Film wieder. Um darüber nachzudenken, was das Kunstwerk eigentlich ist, ging Heidegger zu dem griechischen Begriff technē (τέχνη), der Wissen bedeutet, zurück. Seine Rückbesinnung wollte in erster Linie zeigen, dass das Kunstwerk Ausdruck eines Erkenntniswillens ist. Deshalb ging Heidegger einer Frage nach, die auf die Unterscheidung zwischen Ding und Zeug zielte: „Was heißt hier Geschaffensein und Schaffen im Unterschied zum Verfertigen, Angefertigtsein?“ (Heidegger, 1977, S. 44) Er beantwortete sie damit, dass Künstler:innen an allen Dreien teilnähmen. Damit wollte er auch daran erinnern, dass die alten Griechen vor der Existenz der ersten ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts nicht zwischen Künstler:innen und Kunsthandwerker:innen unterschieden, denn man betrachtete beide als technitēs: Die großen Künstler schätzen das handwerkliche Können am höchsten. Sie zuerst fordern seine sorgfältige Pflege aus der vollen Beherrschung. Sie vor allen anderen mühen sich um die stets neue Durchbildung im Handwerk. Oft genug hat man schon darauf hingewiesen, dass die Griechen, die von Werken der Kunst einiges verstanden, dasselbe Wort τέχνη [technē] für Handwerk und Kunst gebrauchen und den Handwerker und den Künstler mit demselben Namen τεχνίτης [technitēs] benennen. (Heidegger, 1977, S. 46)

Generell wollte Heidegger zeigen, dass es in der griechischen Antike keine Vorstellung von Kunst gab, sondern ein Ins-Werk-setzen der Wahrheit, was gleichbedeutend mit der Offenbarung des Seienden in einem bestimmten Werk wäre. Dies zeigt, dass die Idee eines bereits bestehenden Wissens, wie es im indigenen (Jecupé, 1998; Munduruku, 2009), afrikanischen (Wiredu, 1996; P’Bitek, 2011) und afrodiasporischen Kontext (Sodré, 2017) vorhanden ist, auch in Europa existiert. Heidegger begriff dieses Wissen jedoch in westlicher Tradition als ein Verständnis des eigentlichen Selbst oder Seienden. Die Motivation jeden Kunstwerkes sei es, dieses zu offenbaren. Ich sage bewusst „offenbaren“, da die Hellenisierung des Denkens – die Einführung einer hierarchisch höheren transzendentalen Sphäre – der logozentrische Schritt war, den es so im Altertum und seiner Kunstauffassung noch nicht gab: Das Wort τέχνη nennt vielmehr eine Weise des Wissens. Wissen heißt: gesehen haben, in dem weiten Sinne von sehen, der besagt: vernehmen des Anwesenden als eines

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solchen. Das Wesen des Wissens beruht für das griechische Denken in der άλήθεια [ale¯󼀖 theia], d.  h. in der Entbergung des Seienden. (Heidegger, 1977, S.  46–47)

Wissen ist ale¯󼀖 theia, also Wahrheit. Es ist spannend zu sehen und letztlich ein Widerspruch, dass Heidegger in seiner Theorie vom Hellenismus geprägt ist – indem er vom Kunstwerk als dem Träger eines Wissens und somit der Wahrheit sprach, die sich nur in ihm offenbart, obgleich er darauf verwies, dass es den Kunstbegriff so gar nicht gab und das Handwerk und mit ihm die Gebrauchsgegenstände – man denke nur an griechische Vasen – ebenfalls Bedeutungsträger des Wissens und somit der Wahrheit waren. Was mich bei Heidegger außerdem interessiert, ist die Verschiebung des Fokus vom Machen eines Werkes (und der daraus folgenden formalen Analyse dieses Machens, wie es die Kunstgeschichte nach Hegel einführte) auf etwas Komplexeres, das Seinswissen, das der Autor als Ergebnis eines Konflikts zwischen Bergen und Verbergen beschreibt. Das Kunstwerk wäre damit sowohl durch handwerkliches Können als auch durch die Produktion von Wissen und Wahrheit motiviert, wobei Heidegger diese auf das Seiende als Ganzem bezog. Indem es den Konflikt zwischen Bergen und Verbergen beinhalte, sei Kunst in der Lage, Wahrheit zu enthüllen. Die Darstellung dieser Dynamik ist von der Idee des Sichtbarmachens des Nichtsichtbaren durch Abstraktion nicht weit entfernt, trägt jedoch die westliche Idee eines Kampfes, um die Bedeutung der Schwierigkeit der Enthüllung kenntlich zu machen, in sich. Interessanterweise ist Heideggers Theorie nahe am indigenen Kontext, was den Zugang zur jenseitigen Welt und der Natur betrifft. Tatsächlich könnte man sagen, dass Heideggers Rückkehr zur griechischen Definition von technē (Wissen) und ale¯󼀖 theia (Wahrheit) einen Versuch darstellt, die Kunst in der Moderne systematischer zu re-sakralisieren als Friedrich Nietzsche (1844–1890) dies tat, als er von der Sakralität der griechischen Tragödie ausging. Beide Autoren reagierten dabei auf die Entsakralisierung durch die Ästhetik des deutschen Idealismus. Wie wir später sehen werden, wurde die Kunst in einen Ausgangspunkt für Moral oder Geist verwandelt, erkennbar in ihrem Verständnis als Studien- und Kontemplationsobjekt, wobei man ihr die Aura „fast religiöser Verehrung“ (Lagrou, 2009, S. 12) verlieh, sie aber aus der Fähigkeit herauslöste, Wissen und Wahrheit weiterzugeben. Denn diese Fähigkeit wurde auf die Ästhetik als Subdisziplin der Philosophie übertragen. Das von Coccia vorgeschlagene Konzept des dritten Raums erinnert erneut an diese Beziehung, aber der Autor entfernt sich von der Idee des Kunstwerks – das jetzt als Schuldner des Renaissance-Denkens verstanden wird –, um alle sinnlichen Welten zu erfassen, die über Objekt und Psyche hinausgehen. Wie schon bemerkt, besteht der Unterschied zur indigenen Kunsttheorie sowohl in Heideggers Ausgrenzung von Zeug (Alltagsobjekten), als auch in der Idee eines Konflikts im Werk, der notwendig ist, um sich mitzuteilen. Während Jecupé, Munduruku und Esbell nur vom Sichtbarmachen sprechen, ist bei Heidegger ein Widerstand eingebaut, ein sich Verweigern der Enthüllung. Das ist wiederum in der Hellenisierung und der hierarchisierenden Idee eines Heiligen und Sakralen begründet, die die Vorstellung unmöglich macht, dass es einen konfliktfreien Zugang zum Wissen und zur Wahrheit gibt. Auch der Begriff der Wahrheit ist letztlich hellenistisch. Neben der Idee, Kunst sei Ausdruck von Wissen und Wahrheit und Sichtbarmachen des Nichtsichtbaren, möchte ich noch einige kulturpessimistische Perspektiven zur

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Motivation des Kunstschaffens vorstellen. Die erste ermöglicht, aufgrund ihrer Zeitgenossenschaft, neue Technologien wie das Internet einzubeziehen. Die deutsche Philosophin Sybille Krämer spricht nicht von einer Welt der Bilder oder des Sinnlichen, sondern nähert sich mit den Begriffen Grammatik und Diagrammatik der Logik des Schreibens an. Sie sieht sie als Resultat des Instinkts, das unkontrollierbare Leben, das verantwortlich für alle menschlichen Ängste ist, in eine insbesondere in räumlicher Hinsicht abgesicherte Umgebung zu verwandeln. Krämer steht Bildern daher eher skeptisch gegenüber, denn sie suggeriert, dass Menschen weniger vom Willen getrieben sind, Verbindungen herzustellen, Welten zu konstruieren oder Wissen, Wahrheit und Nichtsichtbares zu offenbaren, als die Welt zu verflachen, sei es in paläolithischen Felsmalereien oder durch die Erfindung des Internets: Die Schnittmenge von „Grammatik“ und „Diagrammatik“ ergibt sich daraus, dass Schriften, Grafiken und Diagramme Kulturtechniken sind, die eine Verflachung ermöglichen. Die Entdeckung, dass die Verflachung ein Darstellungsmittel ist, ist anthropologisch gesehen ein entscheidendes Moment. Unser Körper und seine Ausrichtung nach oben und unten, vorne und hinten, rechts und links ist unsere erste Referenz zur Orientierung in der realen und dreidimensionalen Welt. Das bedeutet jedoch, dass es immer eine nichtsichtbare und nicht kontrollierbare Zone von hinten und unten gibt. Durch die Schaffung von zweidimensionalen Oberflächen, in die wir Worte und Bilder einschreiben, schaffen wir einen besonderen, vollständig sichtbaren und vor allem kontrollierbaren Raum, in dem das Dahinter und Darunter ausgelöscht ist. Ich glaube, dass die Entdeckung einer beschreibbaren Oberfläche für Worte und Bilder in unseren Köpfen die gleiche Beweglichkeit und Kreativität hervorrief, wie die Erfindung des Rades neue körperliche Fähigkeiten erzeugte. Vielleicht sollten wir das Internet als Medium einer gigantischen Verflachung sehen, da es tausende verschiedener Aktivitäten in einer aufeinander abgestimmten, übersichtlichen und zugänglichen Darstellung organisiert. (Krämer, 2016)

Kurioserweise ist genau das Nichtsichtbare, hier im wörtlichen, aber auch im übertragenen Sinne, der Auslöser für Unbehagen und Ängste. Erneut können wir erkennen, dass es sich um eine westliche, von der Trennung von der Natur und einer großen Angst ihr gegenüber geprägten Theorie handelt. Der Vater der Psychoanalyse, der Österreicher Sigmund Freud (1856–1939), formulierte erstmals die dem westlichen Menschen zugrunde liegende Existenzangst psychologisch und trieb damit Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die Erforschung des Unterbewusstseins voran. Freud (2010) sprach in seinem 1930 veröffentlichten Buch Das Unbehagen in der Kultur die menschliche Unfähigkeit an, Leid mit Kultur zu bekämpfen. Sein Wissen basierte dabei nicht auf anderen Epistemologien, sondern bestenfalls auf dem Stand der damaligen Anthropologie. Dabei fand er die Quelle des Leids in drei Bereichen: dem menschlichen Körper und seinem Verfall, der Außenwelt und ihren Bedrohungen – Krämers Fokus – und in zwischenmenschlichen Beziehungen. Angesichts dieses Szenarios suche die Psyche nach Wegen zur Leidenslinderung, die von der Luststeigerung bis zum Todestrieb reichen: Wunschverweigerung durch Isolation, Wunschbefriedigung, Rausch, Triebverweigerung durch intellektuelle und künstlerische Arbeit,

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ästhetische Erfahrungen etc. Freud reduzierte dabei die Kunstproduktion und -rezeption auf einen Mechanismus der Psyche, um mit dem durch das Leben verursachten Leid fertig zu werden. Mit anderen Worten, sowohl Freud als auch Krämer gehen davon aus, dass Menschen mit Kunst versuchen, sich gegen das Leben zu wehren, um ihr Überleben zu sichern. Eine Perspektive, die deutlich macht, wie krank die westliche Zivilisation ist, da sie ihre Verbindung zu Natur und zur nichtsichtbaren Welt großteils verloren hat. Da sich die freudsche Kritik auch auf Religionen und Philosophie erstreckte, in denen er nichts weiter als infantile und illusorische Erklärungsversuche der menschlichen Existenz sah, wurde von ihm jegliche spirituelle Dimension des menschlichen Lebens infrage gestellt. Was Freud blieb, war allein die menschliche Psyche, deren wissenschaftliche Analyse im Mittelpunkt seiner Beschäftigung stand. Es war seine Art und Weise, mit dem Leid der Welt fertig zu werden. Krämers These ist noch radikaler, fokussiert dabei aber stärker das symbolische Handeln des Menschen. Sie ist dabei ebenso desinteressiert an spirituellen Impulsen wie an psychologischen Bedürfnissen. Ihre Perspektive ist dadurch noch kälter als die Freuds, da sie sich auf das menschliche Verlangen, sich in der Technologie selbst durch Verflachung zu vernichten, konzentriert. Krämers Hypothese beweist sich als sehr beschränkt, wenn wir wieder auf Herzogs Film zurückkommen und die mangelnde Fähigkeit historischer Wesen in Höhlenmalereien verlässliche Bedeutungen zu finden erinnern. Auch wenn wir nicht die richtigen Fragen stellen  – etwa welche Bedeutung die Tiere haben –, so ist offensichtlich, dass ihre These an diesem Beispiel ihre Schwachstellen zeigt: beim Betrachten der Felsmalereien ist die Intimität mit den Löwen und anderen Tieren wesentlich deutlicher als das vermeintliche Bannen der gefährlichen paläolithischen Welt. Zentral ist hier die Unfähigkeit, die Natur als Partner zu sehen. Oder wie im indigenen perspektivistischen Denken, keinen Unterschied zwischen Menschen, Tieren und Geistern zu machen. Um noch eine weitere Dimension menschlicher Beweggründe für die Kunst zu erschließen – das Erinnern –, ziehe ich den ersten Autor heran, der sich Fragen zur Zeit stellte: der frühchristliche römisch-afrikanische Theologe Augustinus von Hippo (354–430). In seinen Bekenntnissen, die zwischen 397 und 398 geschrieben wurden, betrachtete er die Kategorien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und stellte fest, dass keine von ihnen stabil sei. Für Augustinus (2004) existierten weder Vergangenheit noch Zukunft und die Gegenwart sah er zum Zeitpunkt ihrer Benennung als bereits vorbei. Dennoch erkannte er die Möglichkeit an, aus der Vergangenheit zu lernen, in der Gegenwart zu leben und über die Zukunft nachzudenken. Aus einer ahistorischen Perspektive ist die Idee der Zeit, da nicht linear wie in der Schriftkultur Augustinus, wesentlich komplexer. Einerseits ist sie an die Natur gebunden, mit ihrem ständigen zyklischen Entstehen, Werden und Vergehen. Andererseits verschränkt sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf eine komplexere Art und Weise. Rivera Cusicanqui (2015, S. 11) zitiert ein Aymara Sprichwort, dass diese Komplexität der menschlichen Beziehungen mit der Zeit ausdrückt: „Wenn wir zurück und nach vorne blicken (auf die Zukunft-Vergangenheit), können wir in der Gegenwart-Zukunft wandeln.“ Gegenwart ist immer Zukunft (auch Augustinus wusste das, aber er bewertete es negativ) und der Blick in die Vergangenheit muss die Zukunft mitdenken. Rivera Cusicanqui (2010, S. 54) erklärt: „Rückschritt oder Fortschritt, Wiederholung oder Überwindung

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der Vergangenheit stehen an jedem Punkt auf dem Spiel und hängen mehr von unseren Taten als von unseren Worten ab.“ Es gibt kein Vorher oder Nachher, keine Entwicklung, sondern Kreise und Spiralen. Im Gegensatz dazu ging Augustinus bereits von einer linearen Entwicklung aus und konnte diese Gleichzeitigkeit nicht mehr denken, weshalb er sie vereinfachte und in der Flüchtigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kein Potenzial, sondern ein Problem sah. Trotzdem ist es interessant, dass der Theologe den Begriff des Bildes benutzte, um zu erklären, wie die Erinnerung Aufzeichnungen der Vergangenheit in unserem Geist hinterlässt. Dabei schwang eine Skepsis dem Wort gegenüber mit, die in oralen Traditionen nicht existiert und die Augustinus noch vertraut gewesen sein mag: Freilich, wenn wir Vergangenes wahrheitsgemäß erzählen, holen wir aus der Erinnerung nicht die Dinge selbst hervor, die vergangen sind, sondern nur Worte, die die Bilder wiedergeben, die jene Dinge im Vorübergehen durch die Sinne dem Geiste wie Spuren eingeprägt haben. (Augustinus, 2004, S. 561)

Augustinus war Afrikaner der christlichen Schriftkultur. Seine Idee der Erinnerung erweitert Krämers Vorschlag, dass die kodifizierte Welt in erster Linie aus unseren Ängsten vor äußeren Gefahren resultiert, denn das Aufzeichnen materieller Bilder, in welchem Medium auch immer, entsteht auch aus dem Wunsch, unsere Existenz zu registrieren und zu erinnern. Dieses Register ist jedoch in Schrift gefasst und deshalb schwingt Skepsis mit. Cusicanquis Zitat demonstriert, dass alle Zeiten immer zugänglich sind und gemeinsam gedacht werden sollten, um einen sinnvollen Weg in die Zukunft zu beschreiten. Dieser geschichtliche Weg wurde jedoch, wie Segato so nachdrücklich deutlich macht, durch den Kolonialismus für die meisten Völker unterbrochen.

Von Bildern, Texten und technologischen Codes Augustinus erkannte sehr deutlich die Probleme, die die Schriftkultur und ihre Linearität verursachten. Zum Abschluss meiner Ausführungen über die Gründe, warum wir Kunst studieren und sie machen, möchte ich einige Medienwissenschaftler und einen Yanomami Schamanen vorstellen, die sich mit diesem Thema genauer befasst haben. O mundo codificado (Die kodierte Welt), stammt von Vilem Flusser (2007), dessen Reflexionen über den historischen Menschen wir bereits kennengelernt haben. Das Buch beinhaltet zwei Methoden, die im Westen üblich sind, wenn die Entfaltung menschlicher Aktivitäten wissenschaftlich zu organisieren und zu verstehen sind: Periodisierung und Differenzierung der Kunstmedien. Ich möchte kurz darstellen, was der Autor über Medienproduktion sagt, die er nach ihrer historischen Entwicklung ordnet: erst das Bild, dann die Schrift, und als letztes der technologische Code, der von mechanischen, elektronischen und digitalen Geräten wie Camara obscura, Laterna magica, Fotoapparat, analoger und digitaler Kamera usw. erstellt wird. In Bezug auf Bilder geht Flussers (2007, S. 131) Theorie davon aus, dass sie seit Jahrtausenden eine Möglichkeit sind, die Welt durch Szenen zu verstehen. Wie Boehm, Bredekamp, Mondzain und Coccia sieht Flusser in der Codierung in Bilder ebenfalls die

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Abb. 17: Jagdszene, ca. 10.000 v. Chr., Felsmalerei, Tassili n’Ajjer, Algerien

Möglichkeit den Mensch vom Tier zu trennen, was ihn – in Anlehnung an Krämers Skepsis und Eliades Überlegungen – letztlich aber nur zu einem symbolischen Tier mache. Anstatt auf die Verbindung von Schauen, Sprechen und Tun, die Schaffung von Subjektivität oder auf einen außerpsychischen und außergegenständlichen Raum hinzuweisen, war Flusser daran interessiert, die Codierung der Welt als eine Interpretationsmöglichkeit derselben zu begreifen. Er war dabei pragmatischer als Heidegger mit seinem Erkenntniswillen und fantasievoller als Krämer in ihrem Verflachungswunsch oder Augustins und seine Vergangenheitsaufzeichnung. Die Idee eines Kontakts zur Natur oder zur nichtsichtbaren Welt, wie Jecupé, Munduruku, Kopenava, Krenak und Esbell sie formulieren, kam ihm jedoch nicht. Dafür war er zu diesseitig. Denn Grundlage der Codierung war für ihn die menschliche Vorstellungskraft und Fähigkeit, die umgebende Welt in Szenen zusammenzufassen und so Informationen über sie zu formulieren. Diese Codierung entspricht der Schaffung einer eigenen Welt im Sinne von Landkarten. Flusser legte nicht fest, ob diese real sind oder unsere Ängste und Wünsche registrieren. Die undatierte Felszeichnung, in Tassili n’Ajjer, in der Sahara Algeriens, die etwa 12.000 Jahre alt ist, könnte auf eine vergangene Jagd oder den Wunsch nach einem zukünftigen Jagderfolg verweisen. Der Gedanke, es könnte eine Ehrung, eine Danksagung oder, ganz pragmatisch, der Hinweis auf einen guten Jagdgrund sein, kam Flusser nicht. Er konstatierte nur, dass es unmöglich sei – und diese Feststellung kennen wir schon –, die Gründe für diese imaginierte Szene zu kennen. Es handele sich aber auf alle Fälle um das Ergebnis einer verschlüsselten Vorstellung und somit um eine Abstraktion.

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Abb. 18: Ägyptische Hieroglyphen der Grabstätte Setis, Theben, Ägypten, 1290–1279 v. Chr., Fresko, The British Museum, London

Flusser (2007, S. 132) interessierte sich vor allem für die zeitliche Dimension, die in der dargestellten Erklärung der Welt enthalten ist. Er schlug vor, dass das Bild das Ergebnis und die Bestätigung eines mythisch-magischen Denkens sei. Diesen Gedanken entwickelte er in zwei Stufen: zuerst durch eine synchrone Lektüre der Szene, die alle Elemente gleichzeitig erfasst und es ermöglicht, sie als Jagdszene zu identifizieren; dann durch eine analytisch-diachrone Lektüre, die die verschiedenen Elemente im Detail betrachtet. In dieser zweiten Lesung, die die Elemente sukzessiv untersucht – Flusser sprach vom Abschweifen des Blicks –, wurde der Faktor Zeit eingeführt. Aber diese Zeit bezog sich nicht auf ein lineares Modell mit Anfang, Mitte und Ende, sondern auf das zyklische Modell der Natur und ihre ewige Wiederkehr: Geburt, Leben und Tod, Tag und Nacht, Saat und Ernte. Der Übergang vom zyklischen zum linearen Zeitmodell erfolgte laut Flusser (2007, S. 132) mit der Erfindung der Schrift und führte vom ahistorischen ins historische Denken. Allgemein assoziiert man dies mit der Entstehung der ersten Zivilisationen, die das Nomadentum gegen Siedlungen tauschten, den Urbanisierungsprozess einleiteten, wodurch sich – da sie nicht mehr im Kontext der Natur lebten – ihr Zeitbewusstsein veränderte. Dabei wird jedoch vergessen, dass die frühen Städte immer von der Agrikultur und somit vom zyklischen Denken geprägt, weil abhängig waren. Es sollte außerdem angemerkt werden, dass die ältesten Siedlungen alle äthiopischen Ursprungs sind. So erklären es zumindest John J. Jackson (1939; 1974) und Cheikh Anta Diop (1974), die die

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Migration der Äthiopier zu Flusstälern in Ägypten, Mesopotamien und Indien, wo sie zwischen 10.000 und 7.000 v. Chr. Städte gründeten, als Beginn aller urbanen Zivilisation sehen. Flusser (2007, S. 136) schätzte Bilder mehr als Schrift und glaubte, dass nur sie eine komplexere Lesart der Welt ermöglichen. Das Medium Schrift, das sich aus der diachronen Positionierung von Bildern ergab, habe zu einer ersten Medienrevolution mit schwerwiegenden und reduktiven Folgen geführt. Wir können anhand der ägyptischen Hieroglyphen des Grabs von Seti in Theben, Ägypten, sehen, dass die Schrift ein Ergebnis der Entfaltung von Bildern in Linien ist. Es ist bemerkenswert, wie Hieroglyphen Bilder synthetisierten und ausrichteten, um die Vermittlung der Welt durch neue Codes auszudrücken. Flusser (2007, S. 139) beobachtete, dass, indem die Elemente der Szene durch Symbole ersetzt wurden, bereits in diesem ersten Schritt das Lesen analytischer wurde. Das Abschweifen des Blicks entfiel und wurde durch eine lineare Lesart ersetzt, die den freien Fluss und die Idee einer ewigen Wiederkehr durch ein progressives Verfahren unterdrücke. Diese tiefgreifende Veränderung ließ den Autor vermuten, dass die Kausalität der Existenz einsetzte, um die Vorstellung einer historischen Existenz zu formen. Mit anderen Worten, die Welt begann, auf andere Weise erklärt und somit konstruiert zu werden. Tatsächlich gerieten mit dem Erscheinen von Texten und vor allem der sogenannten „Heiligen“ Schrift die Bilder stark unter Beschuss, wie wir im vierten Kapitel sehen werden. In Reaktion auf ihre potenzielle Macht wurden sie einerseits zu Propagandaund Verehrungszwecken genutzt, bis hin zur extremen Form des Götzendienstes, um religiöse und/oder politische Inhalte zu kommunizieren. Andererseits wurden sie verboten, angegriffen oder in ikonoklastischen Aktionen zerstört. Wohl deshalb interpretierte Flusser (2007, S. 143) das Schreiben als Erfindung, die sich gegen den Götzendienst wandte. Diese neuplatonische Sichtweise basiert auf der von Platon (2017) formulierten Idee, dass Vorstellungskraft nur Halluzination sei, worauf ich ebenfalls im vierten Kapitel zurückkommen werde. Rivera Cusicanqui (2015) arbeitet in ihrer Soziologie des Bildes genau diesen politischen und letztlich kolonialistischen Dimensionen der Schrift entgegen. Sie unterscheidet ihre eigene Methode dabei deutlich von der westlichen visuellen Anthropologie und erklärt dies damit, dass sie nicht versuche, das Nichtbekannte des Anderen zu verstehen, sondern vielmehr das eigene Bekannte zu verfremden: „die Soziologie des Bildes sucht eine Verfremdung, Distanz aufzunehmen vom extrem Bekannten, dem Rotinären und Gewohnten“ (Cusicanqui, 2015, S. 21). Im Kontext Boliviens sind die Bilder, die sie analysiert – Fotografien, Filme und einen 1180 Seiten langen Brief, El primer nueva corónica y buen gobierno (Die erste neue Chronik und gute Regierung), von Felipe Guamán Poma de Ayala an den spanischen König Phillip III aus dem frühen 17. Jahrhundert, der den Missbrauch durch den Kolonialismus aufzeigt und die Inka-Kultur dagegenhält –, eine Möglichkeit aufzuzeigen, wie diese kritisch gegen die Schrift vorgehen und unterdrücktes Wissen ausdrücken. Gerade die Dimension der Zeit ist in den Bildern des Briefs von Poma de Ayala festgehalten. Er kommuniziert durch sie die Unterdrückung und Ausbeutung der Quechua zur Zeit der Zerstörung des Inkareichs durch die Spanier. Die Bilder drücken das InkaBewusstsein zyklischer Zeit und ihre harmonische Koexistenz mit der Natur in Ackerbau,

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Ritualen und Zeremonien aus, das mit der spanischen Ausbeutung und ihrem linearen Zeitdenken kontrastiert wird. Die egoistische Plünderkultur der Spanier, die im Überfluss lebten, führte dazu, dass die indigene Bevölkerung verhungerte. Die Bilder sind eindringliche Zeugen der gerechten InkaRegierung, deren Kultur auf dem Interesse der Gemeinschaft aufbaute und darin bestand, gemeinsam das Land zu kultivieren und das Jahr durch Arbeit, Danksagungen und Feste zu strukturieren. Das soziale Gleichgewicht des Lebens in Harmonie mit dem Zyklus der Natur wurde vom gierigen Kolonialismus zerstört. Die Kolonialherren werden für ihre ausbeuterische Regierung angegriffen, wie etwa in dem Bild, in dem ein kleiner Indigener  – die Größe drückt hier die Hierarchisierung aus – an der reich gedeckten Tafel des Konquistadoren, an dem auch ein Mestize und ein „Mulatte“ sowie der eroberte Inka als Gäste sitzen, leer ausgeht. Das Ergebnis der Kolonialisierung  – die Verdrängung des Volkes in den Bettelstand –, wird Abb. 19: Zeichnung in El primer neuva corónica y bildlich festgehalten. buen gobierno, Guamán Poma de Ayala, 1615 Nach diesem kurzen Exkurs in die koloniale Realität des Widerstandes durch Bilder  – einer Dimension, die in westlichen Theorien keine Beachtung findet –, kehre ich zur Wertschätzung optischer Medien zurück. Neben Rivera Cusicanqui und Flusser wird sie vom Amerikaner Marshall McLuhan (2005) geteilt. Er definierte Medien als eine Möglichkeit der Selbsterkenntnis und Verbindung mit anderen Menschen, da sie – etwa der Computer – in der Lage seien, „mittels Technologie ein Pfingstwunder universaler Verständigung und Eintracht“ (McLuhan apud Kittler, 2002, S. 23) zu schaffen. Sein Kulturoptimismus wird deshalb von Friedrich Kittler (2002), einem deutschen Medienwissenschaftler, als zu metaphysisch angesehen. In Anlehnung an Autoren wie den Franzosen Paul Virilio (1989) betont Kittler den technisch-militaristischen Charakter optischer Medien sowie die Fähigkeit von Kunst und Medien, unsere Sinnesorgane zu täuschen. Aus seiner kulturpessimistischen Sicht sind Medien dazu da, unser „Selbstverständnis zu täuschen und zu hintergehen“ (Kittler, 2002, S. 32). Die Mediengeschichte ist nichts anderes als eine „Geschichte des Verschwindens“, da Medien das „Sichtbarkeitspostulat“ beendeten, das nur bis zur Renaissance in Kraft war (Kittler, 2002, S. 35). Danach sei es zu einer Mathematisierung und Virtualisierung der Realität gekommen. Anders als Heidegger, der an die Enthüllung von Wissen und Wahrheit in der Kunst glaubte, oder Cusicanqui, die das dekoloniale Widerstandspotenzial von Bildern hervorhebt, schlägt der Autor unter Berufung auf den Amerikaner Claude Shannon (1949) vor,

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dass „ewige Wahrheiten“ – die sich in Mathematik und Religionen ausdrückten – keine Medien bräuchten (Kittler, 2002, S. 43). Mit anderen Worten, für Kittler wurde im Westen seit dem 16. Jahrhundert mit den optischen Medien der Wille zum Wissen durch den Willen zum Vergessen und Verschwinden ersetzt. In seiner Interpretation Shannons übersieht er jedoch, dass alle Kulturen immer abstrakte Symbolsysteme entwickelt haben, um mit dem Nichtsichtbaren zu kommunizieren. Die Gleichsetzung von Mathematik und Religion macht deshalb keinen Sinn. Auch wenn Kittler einen sehr verallgemeinernden Standpunkt einnimmt, der die unterschiedliche Verwendung von Medien durch verschiedene Völker und in verschiedenen Epistemologien nicht berücksichtigt, stoßen wir im dekolonialen Denken Davi Kopenawas (2013) auf eine ähnliche Sichtweise, die sich aber nur auf schriftliche Medien bezieht. Gemeinsam mit dem französischen Anthropologen Bruce Albert hat Kopenawa sowohl die Kosmologie der Yanomami, als auch seine Geschichte als Schamane und politischem Widerstandsführer schriftlich festgehalten, damit Weiße die indigene Position besser kennenlernen können. Dabei präsentiert er eine robuste Schriftkritik und betont die Tatsache, dass die jahrtausendealte orale Tradition der Yanomami, mit der das gesamte Wissen weitergegeben wird, nie von der Schrift abhängig war. Er verwendet den Begriff der „Bildhäute“ für das Buchmedium und demonstriert damit, dass in seiner Sprache das Wort Bild, nicht aber das der Schrift existiert. Die Weißen hingegen seien gänzlich von ihren „Linien“ abhängig und verlören ohne sie ihr ohnehin limitiertes Wissen, das auf Papier gebracht nur verworrene Wörter enthalte: Die Denkweise der Weißen ist eine andere. Ihr Gedächtnis ist schlau, aber in rauchige und obskure Worte verstrickt. Der Pfad ihres Denkens ist oft verschlungen und dornig. Sie kennen die Dinge des Waldes nicht wirklich. Sie betrachten Bildhäute, auf die sie stundenlang ihre eigenen Worte gezeichnet haben. Wenn sie diesen Linien nicht folgen, gehen ihre Gedanken verloren. Unsere Ältesten hatten keine Bildhäute und schrieben keine Gesetze darauf. Ihre einzigen Worte waren die, die sie mit ihrem Mund aussprachen, und sie zeichneten sie nicht. Ihre Worte gingen also nie weit von ihnen weg und deshalb haben die Weißen sie nie gekannt. (Kopenawa, 2013, S. 23)

Das einzige adäquate Medium für Wissen sei das Wort. Auch hinterfragt Kopenawa die westliche Subjektivität als Quelle von Wissen, da in seiner Kosmologie Worte entweder von Omama, dem Schöpfer der Welt oder von den xapiri, den Geistern oder Vorfahren kommen, die in Trance an die Schamanen weitergegeben werden. Das Wort gibt Wissen weiter, der Körper und die inneren Visionen können es abfragen, Gegenstände können es aufnehmen und in Ritualen wird es erinnert und vermittelt. Wie bereits erwähnt, versuchen westliche Künstler seit Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls zum Körper als Medium zurückzukehren. Diese Rückkehr ist aber durch die Erfahrungen der Moderne, den Kapitalismus und den Kolonialismus geprägt. Kopenawas Standpunkt hat einen Schnittpunkt mit Kittler, der vor der Paradoxalität der Medien warnt. Doch Kittler denkt europäisch und sieht darin ein Ablenken von unserem wahren Selbstverständnis. Auch schreibt er aus der Perspektive der Zivilisationsmüdigkeit, während Kopenava aus dem engen Kontakt mit der Natur und allen Wesen

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Abb. 20: Lichtspiel vor Felszeichnungen in Die Höhle der vergessenen Träume, Film von Werner Herzog, 2010

spricht, die in ihrer Existenz von der linearen Zeit und somit dem Gedanken des Fortschritts, der in der Schrift ausgedrückt wird, bedroht sind. Anders als Kittler und Kopenawa endete Flussers (2007, S. 150) Medienkritik hoffnungsvoll, da er in den technologischen Codes eine neue Art von Imagination mit großem Potenzial sah. Seine Hoffnung war ausschließlich philosophischer Natur, da er keine ökologische Dimension reflektierte. Die technologisch berechneten Bilder stellten für Flusser keine Mathematisierung, sondern einen Fortschritt dar, da sie eine Welt ausdrückten, die von ihren Machern bereits analysiert wurde. Das bedeutet, dass technologische Bilder hypothetisch ein analytisches Potenzial haben, weil die Anwesenheit eines Mittlers – des technischen Apparats – die Möglichkeit gewähre, die lineare Welt der schriftlichen Erklärungen zu überwinden. Folglich seien die Codes potenziell Begriffsbilder, denn um ein technisches Bild zu produzieren, müsse man die Welt erst verstehen, um sie dann technisch zu kodieren. Auch hier sprach Flusser nicht von einer schöpferischen Konzeption im Sinne der Erschaffung von Welten, sondern von einer intelligiblen Interpretationskonzeption. Der analytische Schritt, den Flusser mit dem neuen Medium in Verbindung setzte, macht aber eigentlich keinen Sinn, denn auch jemand, der zeichnet oder malt, muss sich erst Gedanken über die Welt und sein Ausdrucksmittel machen, bevor er es verwendet. Cusicanquis Beispiel der Bilder von Felipe Guamán Poma de Ayala können hier als eines von unendlich vielen Beispielen genannt werden. Außerdem muss betont werden, dass das Medium Film, wie jedes andere, nur ein Potenzial und keine Garantie für Begriffsbilder ist, da es für jegliche Ideologie verwandt werden kann.

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Warum wird Kunst studiert und warum stellen wir sie her?

Die Flussersche These vom Potenzial technologischer Codes beseelt auch Werner Herzogs Film und in seinem Fall könnte man von einer Bestätigung des Potenzials sprechen. Ausgehend von den Höhlenbildern stellt der Filmemacher vermittelte Bilder her – etwa wenn er mit den Scheinwerfern spielt – und kommentiert aus dem off und mit Interviews. Dabei baut er ein dichtes Netz audiovisueller Referenzen auf, die über die Bedeutung der prähistorischen Zeichnungen von Löwen und anderen Tieren für die heutige Welt hinausgehen. Ich habe argumentiert, dass Herzog sich mit dem Studium der paläolithischen Bilder und ihren Motivationen beschäftigt und gleichzeitig diese Versuche hinterfragt, indem er ihre Begrenztheit aufdeckt. Möglich wird dies gerade durch seinen Einsatz von technologischen Codes. Damit geht der Film deutlich über die Methoden der verschiedenen Spezialisten, die in der Höhle arbeiten, hinaus. Mit modernster 3D-Technik handelt er von der Unmöglichkeit, die Felszeichnungen aus historischer Perspektive zu verstehen. Tatsächlich basiert Die Höhle der vergessenen Träume auf einer Interpretation – einem Konzept –, die in Bezug auf die vorgefundenen Bilder und ihre Untersuchung entwickelt und dann auf eine Art und Weise in Bild und Ton umgesetzt wurde, die die westliche Fähigkeit, sie zu entschlüsseln, anzweifelt. Man sollte sowohl die Technologiebegeisterung Flussers als auch die Technologiephobie Kittlers mit Vorsicht betrachten. Medien sind Formen der Kommunikation und des Ausdrucks. Man kann durch sie mit der sichtbaren und der nichtsichtbaren Welt kommunizieren, Verbindungen mit der diesseitigen Welt und allen Wesen aufnehmen, sie unterdrücken oder der Unterdrückung widerstehen. Schrift drückt sicherlich zumeist lineares Denken aus, sie kann aber auch, wie Kopenawa und andere indigene Autoren zeigen, benutzt werden, um andere Epistemologien zu vermitteln. Medien als Antwort auf die westliche Logophilie zu hierarchisieren, hat demnach wenig Sinn.

Kurze Schlussfolgerungen Zu meinen Fragen, warum der Westen sich für das Studium der Künste interessiert, und was die Menschen dazu veranlasst, sie herzustellen, möchte ich nun folgende Antworten zusammenfassen: 1. Im Westen handeln die Menschen als historische Wesen (Herzog und Flusser). Sie wissen nicht mehr, aus welchen Gründen frühere Menschen Bilder hergestellt haben, wie sie lebten und dachten. Deshalb versuchen sie, den verlorenen Schlüssel zu diesem Wissen zu finden. Ahistorische Menschen haben keine Notwendigkeit, das, was man heute Kunst nennt zu analysieren. Sie haben das nötige Wissen, da es ihnen oral vermittelt wird (Jecupé, Munduruku, Esbell). Auch wenn es keinen Kunstbegriff gibt, verstehen sie die jahrtausendealten Ausdrucksformen ihrer Vorfahren und könnten deshalb über paläontologische Kunst Aufschluss geben. 2. Als historisch sind diejenigen Völker anzusehen, die res gestae vollziehen, also Handlungen, die in das Schicksal anderer Völker eingreifen, wie etwa durch Kolonialisierung (Flusser). Ahistorisches Denken hat nicht dieses Macht- und Gewaltpotenzial. Es wurde aber vom historischen Denken und seiner Fortschrittsidee stark beeinflusst und somit unter Gewaltanwendung entweder absorbiert oder assimiliert. Das ahistorische

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Denken ist andererseits ein Potenzial, gegen das im politischen Zusammenhang unterdrückerische historische Denken vorzugehen (Rivera Cusicanqui, Esbell, Jecupé, Kopenava, Munduruku, P’Bitek, Wiredu). 3. Die westliche Bildwissenschaft sucht die Ablösung des historisch begrenzten Kunstbegriffs (Boehm, Bredekamp, Coccia, Mondzain, usw.), der sich erst nach der Renaissance entwickelte, aber dazu verwandt wurde, andere Kulturen auszugrenzen. Die Bildschöpfung wird im westlichen Denken und in jüngsten Bildtheorien mit Hominisierung und Subjektivierung erklärt. Deshalb wird der Homo sapiens auch als Bildschöpfer, homo pictor (Böhm), Schöpfer, homo faber (Bredekamp), oder symbolisches Wesen, homo symbolicus (Aristoteles, Eliade), verstanden. Indigenes Denken basiert auf Multiperspektivismus (Viveiros de Castro) und sieht Menschen, Tiere und nichtsichtbare Wesen (Naturkräfte, Vorfahren und Ahnen) als gleichgestellt (Jecupé, Munduruku, Esbell, Wiredu). Kunst macht das Nichtsichtbare sichtbar, wobei anzestrales Wissen kommuniziert wird. 4. Es gibt unterschiedliche Annahmen, wann das menschliche ästhetische Bewusstsein und die Kunstproduktion entstanden. Es ist möglich, den Beginn der Bildschöpfung vor 200.000 Jahren (Bredekamp) anzusetzen. Bilder entstanden in Afrika und dehnten sich durch Migration auf alle Kontinente aus. Es gibt ähnliche Bilder, etwa die negative Hand, die in unterschiedlichen Momenten auf der ganzen Welt realisiert wurden. Deshalb ergibt es keinen Sinn, eurozentrisch ein Zentrum zu behaupten. Auch sollte bei der Bildschöpfung die ihr zugrundeliegende Abstraktion beachtet werden, die universeller ist als die vermeintliche Naturnachahmung des westlichen Kunstbegriffs. Denn Abstraktion findet sich in allen Bildschöpfungen und Kunstformen, selbst wenn Naturnähe behauptet wird. 5. Bild- und Kunstbegriff basieren beide auf westlicher Epistemologie. Der Bildbegriff eröffnet nicht notwendigerweise eine neue Perspektive, vor allem wenn man den Gedanken der Hominisierung als auf den Westen beschränkt versteht. Der Kunstbegriff wurde auf unterschiedliche Zeiten und Kulturen angewandt, sowohl am Anfang des 20. Jahrhunderts (Einstein) als auch am Anfang des 21. Jahrhunderts (Lagrou). Zeitgenössische indigene Künstler haben den Kunstbegriff für sich übernommen, weshalb er einflussreicher bleiben wird als der Bildbegriff. 6. Es gibt mehrere westliche Interpretationen, um die Gründe für die Entstehung von Kunst zu erklären: als Hominisierung, d. h. Differenzierung und Trennung vom Tier (Boehm, Mondzain, Bredekamp), Bejahung der Subjektivität (Mondzain), Wille zur Verflachung und damit zur Kontrolle einer als gefährlich und quälend empfundenen Welt (Krämer), als Quelle der Freude (Freud), als Wunsch, Wissen und Wahrheit zu erkennen und zu enthüllen (Heidegger), als Möglichkeit, unsere zeitliche Existenz festzuhalten (Augustinus), als Widerstand gegen Kolonialisierung und zur Darstellung der eigenen Kultur (Cusicanqui) oder um sich als Teil des Ganzen zu verstehen und Verbindung zur nichtsichtbaren Welt herzustellen und an sie zu erinnern (Jecupé, Munduruku, Esbell). Das Studium der Kunst im Westen ist so paradox wie dessen Kunstproduktion, da das Studium aus Vergessen und Sehnsucht nach Wissen resultiert und das Kunstschaffen aus der Unterdrückung der Macht der Kunst. 7. Die Vorstellung, dass Menschen Künstler:innen sind, entwickelte sich erst nach der Renaissance, nachdem sich das historische Denken im Erinnern an große Meister

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ausdrückte (Vasari), die es zu verewigen galt. Davor gab es auch im Westen keine Unterscheidung zwischen Handwerker:innen und Künstler:innen, wie der Begriff technitēs im antiken Griechenland oder artífices im Mittelalter und der Renaissance in Italien deutlich macht. 8. Während ahistorische Menschen hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, ihren Körper und ihre Stimme und Objekte als Medien (Kopenawa) nutzen, um Wissen zugänglich zu machen, haben historische Menschen vielfältige Ausdrucksformen entwickelt  – Bilder, Schrift, technologische Codes  –, die entweder als Abkehr vom Wissen (Kopenawa, Kittler), als Widerstand (Rivera Cusicanqui) oder als Potenzial für Wissen und Wahrheit bewertet (Heidegger, Flusser) werden. Gerade die Schrift, die als Ausdruck des Übergangs vom ahistorisch-zyklischen zum historisch-linearen Denken verstanden wird, wobei letzteres mit der Gewalt und Ausgrenzung Anderer durch Kolonialisierung verbunden ist, wird stark kritisiert (Flusser, Kittler, Kopenawa). Dabei schwanken die Autoren zwischen Hoffnung und Zivilisationsmüdigkeit, Technologiebegeisterung und -phobie (Flusser, Kittler).

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DRITTES KAPITEL :

Wie steht Kunst mit den westlichen ­Wissenschaften in Beziehung und was ist ihr Potenzial? Ich werde in diesem Kapitel noch nicht darauf eingehen, wie die verschiedenen Bereiche des westlichen Wissens – von der Philosophie bis zu den Geisteswissenschaften – Kunst untersucht haben. Die in der Moderne und ihrem kolonialistischen Kapitalismus entwickelten unterschiedlichen kunstwissenschaftlichen Methoden, die den Künsten zugewiesene Rolle, die ihnen auferlegten Beschränkungen sowie die Analysen und Interpretationen ihrer Werke werden ab dem vierten Kapitel vorgestellt. Zuvor möchte ich die im vorhergehenden Kapitel aufgeworfenen Probleme des historischen Denkens und die Gründe, warum Menschen Kunst produzieren, vertiefen. Dies führt mich zu folgenden Fragen: Wie steht Kunst mit den westlichen Wissenschaften in Beziehung? Was ist ihr Potenzial? Die Antworten werde ich in drei Schritten erarbeiten. Zuerst werde ich Michel Foucaults These in Die Ordnung der Dinge von 1964 zu den zwei Revolutionen im westlichen Denken vorstellen, die uns seiner Meinung nach zu analytisch-historisierenden Wesen machten. Er geht von der Analyse eines Bildes (Las Meninas von Diego Velazquez, 1656) aus, das als Potenzial gesehen wird, den Wendepunkt zu diesem neuen Epistem  – dem klassisch-analytischen Denken  – zu erklären. Dann ziehe ich noch zwei weitere Bilder (Die Verkündigung von Fra Angelico, 1400–1441, und Las Meninas von Picasso, 1957) mit ähnlichem Potenzial hinzu, um das vorherige nichtwissenschaftliche und das dem klassisch-analytisch folgende historisierende Denken darzustellen. Eine kongolesische Nkisi Skulptur wird herangezogen, um den Unterschied in der Rezeption und dem Verehrungsstatus kenntlich zu machen. Ich argumentiere, dass das außereuropäische dem nichtwissenschaftlichen Denken nahe steht und dass Foucault den kolonialen Kontext der Epistemenbegründung außer Acht ließ, obwohl das Bild, das er heranzog, deutlich auf ihn verweist. Deshalb hebe ich auch den kolonialen Bezug in Picassos Las Meninas hervor. Danach werde ich die Beziehung zwischen Kunst und Wissensproduktion anhand modernistischer Bilder (Der Schlüssel der Träume von René Magritte) diskutieren und zeigen, wie die Kunst das analytisch-historisierende Denken herausfordert. Zuletzt stelle ich Künstler und westliche Philosophen vor, die im 20. und 21. Jahrhundert die Möglichkeit problematisieren, die von Foucault beobachtete Öffnung eines Raums zwischen den Dingen und den Wörtern mit Wissen zu füllen. Im selben Schritt diskutiere ich die Grenzen der Philosophie sowie das Potenzial der Kunst im Vergleich mit anderen Wissensgebieten.

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Zur Entstehung der westlichen Wissenschaften Um die gestellten Fragen zu beantworten, müssen wir die Entstehung des westlichen Wissens in der kolonialistischen Moderne betrachten, da die Kunst an deren Produktion nicht nur teilnahm, sondern auch benutzt wurde, um diesen Prozess zu verstehen. Foucault tut dies in seinem Buch Die Ordnung der Dinge, in dem er keine Ideengeschichte großer Denker erzählen, sondern die wichtigsten historischen Episteme des Wissens ausgraben wollte. Das Wort Epistem bezeichnet gewöhnlich ein System. Bei Foucault bedeutet es aber vor allem ein a priori, d. h. die Grundlage, die das Denken in bestimmten historischen Momenten ermöglicht. Um die Schwierigkeit zu unterstreichen, dieses auf den ersten Blick nicht erkennbare Fundament zu identifizieren, bezeichnete er seine Methode als Archäologie (Foucault 1974, S. 25). Der Autor ging davon aus, dass wir erst seit kurzem historische Wesen sind, da dies „eine junge Erfindung“ (Foucault 1974, S. 27) sei. Alle historischen Studien waren seiner Meinung nach das Ergebnis zweier großer Veränderungen im westlichen Denken: zuerst die Einführung des klassischen analytischen Denkens im 17. Jahrhundert und dann des historisierenden Denkens im 19. Jahrhundert, das zum modernen analytisch-historisierenden Denken führte. Das Selbstverständnis des westlichen Menschen als Subjekt – das durch die Idee der Existenz von Geheimnissen um ihn herum objektiviert wurde – wie etwa das der Kunst – entstand demnanch erst vor knapp vier Jahrhunderten. Kurioserweise und für unsere Zwecke wichtig beschrieb Foucault den ersten Wandel in diese Richtung anhand von Las Meninas. Das Bild enthüllte dem Philosophen den Moment – in der Mitte des 17. Jahrhunderts –, in dem westliche Denker damit begannen, den Menschen zu ihrem Hauptforschungsgegenstand zu machen. Eigentlich hatte Velazquez den Auftrag erhalten, den spanischen König Felipe IV . mit seiner Familie zu porträtieren, doch am Ende malte er die Prinzessin mit dem Hofstaat und ein Selbstporträt. Tatsächlich ist der König in dem Gemälde fast abwesend, abgesehen von seinem verwischten Spiegelbild, in dem er als ungenauer Fleck im Hintergrund erscheint. Foucault nahm an, es gäbe hier erstmals ein abwesendes Objekt – den Souverän – auf den jedoch alle Aufmerksamkeit und Blicke – des Malers, der Prinzessin, einiger Hofdamen und eines Mannes im Hintergrund – gerichtet sind. Laut Foucault steht das Fehlen des Hauptthemas im Bild in Einklang mit einer neuen Art des Denkens, dass er das klassische nannte: Es handelt sich insgesamt um eine Geschichte der Ähnlichkeit; unter welchen Bedingungen hat das klassische Denken Beziehungen der Ähnlichkeit oder der Äquivalenz zwischen den Dingen reflektieren können, die die Wörter, die Klassifikationen und den Austausch begründen und rechtfertigen? (Foucault, 1974, S. 27)

Um diese revolutionäre Dimension im menschlichen Denken besser zu verstehen, erinnere ich an Viveiros de Castro (2015, S. 52) und seine Behauptung, dass das westliche, im Gegensatz zum indigenen Denken, auf der Idee basiere, dass „ein Subjekt ein Objekt ist, das studiert wird.“ Genau diese Veränderung – das Subjekt wird zum Objekt – beobachtete Foucault in Velazquez Gemälde. Indem das Bild des abwesenden Souveräns nur noch im Spiegel erscheint, verdoppele sich das Subjekt als Objekt (Foucault, 1974, S. 37).

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Abb. 21: Las Meninas, Diego Velazquez, 1656, Öl auf Leinwand, Museo del Prado, Madrid

Anstatt die Identität der Dinge zu zeigen  – das Bild eines Souveräns  – sähen wir nur noch die äußere Beziehung. Dies stelle eine Veränderung für die Betrachter:innen dar, die aufgerufen seien, die plötzlich leere Stelle zwischen dem Objekt und seiner schemenhaften Repräsentation zu füllen. Es entstehe ein neuer analytischer Standpunkt. Dieser könne im seltenen Fall mit dem Objekt identisch sein – wenn der Souverän das Bild betrachtet und sich im Spiegel erkennt – oder eben – und das ist die neue analytische Sichtweise – nicht identisch ist (Foucault, 1974, S. 33).

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Velazquez hätte damit die Verdoppelung dessen, was er das klassische Denken nannte, sichtbar gemacht. Das Dargestellte wäre fortan von seiner Repräsentation getrennt. Der Mensch als Objekt existiere im Bild jedoch noch nicht buchstäblich, sondern wäre durch eine Lücke repräsentiert, die eine analytische Sichtweise eröffne. Dies sei der erste Schritt in Richtung Wissenschaften gewesen. Nach der zweiten Wende im westlichen Denken – im 19. Jahrhundert – wäre die Lücke dann von der Menschheit und ihrer Geschichtlichkeit gefüllt worden. Es ist faszinierend zu sehen, dass Foucault in einem Bild diese radikale Veränderung im westlichen Denken fand. Hier geht es nicht um die Illustration eines Gedankens, sondern um das Erkennen einer Episteme, auf der die Denkweise und Wissensproduktion der westlichen Welt begann, sich ab einem bestimmten historischen Moment aufzubauen. Las Meninas machte für Foucault die unsichtbare Episteme sichtbar. Ein deutliches Indiz des Potenzials der Kunst. Foucault nahm im Rahmen seiner These an, dass die vorklassische westliche Welt aus einem Zeichensystem resultierte, das die Dinge als unmittelbare und repräsentative Korrelation dieser Welt in Worte übersetzte. Das Wort „König“ war zuvor die direkte Darstellung des Königs und es gab keinen Zweifel daran, was es bedeutete. Das klassische Denken, das Velazquez Bild für Foucault sinnlich erfahrbar machte, brach mit dieser scheinbar engen Beziehung zwischen Ding und Wort: „Die tiefe Verwandtschaft der Sprache mit der Welt wurde so aufgelöst“ (Foucault, 1974, S. 47). Dem sei dann eine Neuordnung gefolgt, in der es von nun an einen Raum gab, der durch analytisches Denken gefüllt werden musste. Ab dem 17. Jahrhundert sei eine neue Beziehung zwischen Benanntem/Signifikat und Benennendem/Signifikanten entstanden. Die Identität zwischen Wörtern und Dingen sei aufgehoben worden. Ein König hätte sich nun in den Blicken anderer und in der verschwommenen Reflexion eines Spiegels verborgen. Vergleiche und Differenzierungen zwischen den beiden, nur durch eine Leere getrennt, hätten dann zur Bildung einer Mathesis, eines geordneten Feldes aller Repräsentationen geführt. Die gesamte empirische Welt – alles, was wahrgenommen wird, d. h. das Sinnliche – hätte seit dem 17. Jahrhundert an der Schaffung dieses Wissensfeldes teilgenommen. Und dessen Analyse – was darüber gesagt werden könne, d. h. das Intelligible – wäre zur vermeintlich universellen Methode geworden. Ein Buch hätte aufgehört, heilig zu sein und wäre zu einem Untersuchungsobjekt geworden, das mit anderen Objekten verglichen und somit klassifiziert und differenziert werden konnte. Da Sehen nun Analysieren bedeutete, hätten sich die Wissensgebiete verändert. In Foucault Argumentation ging deshalb die Trennung von Dingen und Wörtern mit der Trennung von Geschichte und Wissenschaft einher. Zuvor wäre die Geschichte nach interpretativem, vorklassisch-christlichem, man könnte auch sagen, ahistorischem Denken additiv interpretiert worden. Das neue Denken, das den Unterschied betrachte, ordne aber gemäß Foucault jetzt alles hierarchisch. Kommentare zu Texten, insbesondere zu den beiden „Heiligen“ Schriften, die durch die Interpretation der Ähnlichkeit der Dinge scheinbar die Wahrheit sagten, wären durch eine auf Analyse abzielende Beurteilung und Kritik ersetzt worden. Foucault meinte, dass in dieser tiefgreifenden Revolution die Welt aufhörte, ein offener, heiliger und mysteriöser Raum zu sein. Sie hätte die Form eines Tableaus angenommen, das nun von einer Wissenschaft der Zeichen organisiert würde und somit ermögliche, auch die Zentralität Gottes und weltlicher Herrscher anzuzweifeln. Deshalb

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habe der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) behauptet, dass das Denken direkt zum Sein – „cogito, ergo sum“ – führe, in einer Welt, in der nichts ewig, aber das Wissen endlos sei (Foucault, 1974, S. 85). Menschenleben wären nicht mehr von Gott und dem Souverän abhängig, sondern begännen als Ergebnis analytischen Denkens und des daraus hervorgehenden Wissens zu existieren. Dieser neue Machtzusammenhang zwischen Wissen und Hierarchie besiegelte die Unterordnung und Ausbeutung Anderer. Ihr Leben und ihr Tod hingen nun von der Wissenschaft und ihren erniedrigenden Diskursen ab: ihrer Primitivisierung, Animalisierung, Exotisierung etc. In afrikanischen Epistemologien gibt es kein „cogito, ero sum“. Der Entsprechende Ausdruck wäre ubuntu: „wir sind, deshalb bin ich“, da die Gemeinschaft immer an erster Stelle steht. Mit Foucault lässt sich das Ausmaß der modernen kolonialistischen Unterdrückung erklären, denn seine These bezeugt, wann, warum und wie sich das historische Denken, mit dem sich Herzog in Die Höhle des vergessenen Schatzes auseinandersetzt, in Europa als Wissenschaft strukturiert wurde. Aber so überzeugend Foucaults Darstellung der ersten Wende im westlichen Denken auch sein mag, er verschwieg gerade diese zentrale Dimension. Es ist sogar ausgesprochen kurios, dass der Kolonialismus, der die Triebfeder für die Umstrukturierung des westlichen Denkens war, von Foucault außer Acht gelassen wurde. Denn er ist in Velazquez Bild ebenso sichtbar wie das Einführen der hierarchisierenden Analyse, wie ich gleich zeigen werde. Außerdem war die Hierarchisierung, die Foucault im 17. Jahrhundert beobachtete, schon längst im Gange. Es handelt sich hier also nicht um den Beginn, sondern um den Endpunkt einer Entwicklung. In Bezug auf die Kunstgeschichte war sie mindestens seit Vasaris berühmten Buch über die Renaissancekünstler 1550 eingeführt worden und, was die westliche Weltsicht generell betrifft, seit dem maritimen europäischen Expansionsprojekt, dass durch die Bulle Romanus Pontifex des Papstes Nikolaus V. im Jahr 1455 abgesegnet worden war. Der Papst gab darin dem portugiesischen König Alfons V. nicht nur das Handelsmonopol mit Afrika, sondern auch das Recht, die Saracener, Heiden und andere Feinde des Christentums zu überfallen, zu versklaven und ihren Besitz zu übernehmen. Auch erhielten die Portugiesen das alleinige Recht, neue Gebiete und Eroberungen südlich vom Kap Bojador zu beanspruchen. Obgleich Foucault über das veränderte Wissensepistem nachdachte, ist der Eroberungswille Europas, bemäntelt durch die Christianisierung der Welt im Namen des Vatikans, von dieser Veränderung nicht zu trennen und wurde von ihm nicht im Entferntesten erwähnt. Dabei sind in Las Meninas die Auswirkungen der Kolonialisierung zentrales Thema. Ein Hoffräulein reicht der Prinzessin ein rotes Krüglein, ein sogenanntes búcaro. Der Kunsthistoriker Byron Ellsworth Hamann (2010) fand heraus, dass es aus einer spanischen Kolonie, aus Guadalajara in Mexiko, stammt und in europäischen aristokratischen Zirkeln damals groß in Mode war. Die Mischung von Kräutern, die einem speziellen Lehm hinzugefügt wurde, hatte verschiedene Wirkungen, wenn man das Krüglein aß. Es machte die Haut sehr weiß, was ein ästhetischer Wunsch der Zeit war. Man mag hier erste Anzeichen einer rassisch-ethnischen Hierarchisierung vermuten, da Menschen anderer Völker und Hautfarben sowohl aufgrund der arabischen Eroberung Spaniens im 8. Jahrhundert, aber vor allem wegen des florierenden Sklavenhandels seit dem 16. Jahrhundert zwischen Afrika, Europa und Amerika verstärkt zirkulierten.

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Des Weiteren half das búcaro das Gewicht zu kontrollieren und, das ist besonders wichtig, es veränderte den Bewusstseinszustand. Nicht zufällig hat die Prinzessin eine fast geisterhafte weiße Farbe und wirft einen intensiven Blick auf die Betrachter:innen, so als sei ihr Bewusstseinszustand verstärkt. Ellsworth Hamann (2010) beschreibt zudem ihre Zentralität im Bild und wie der Schatten unter ihrem Kleid den Eindruck vermittele, sie würde schweben, was er ebenfalls als Hinweis auf eine veränderte Wahrnehmung interpretiert. Auch das Königspaar stellt er in diesen Zusammenhang und bezeichnet sie als gespenstische Erscheinungen und nicht als das Ergebnis einer Leerstelle zwischen Repräsentation und Dargestelltem. Die rote Farbe des Krügleins ist auch die Farbe, die wir auf Velazquez Pinsel finden, auf dem Kreuz auf seiner Brust, dem Vorhang im Spiegel mit dem Königspaar und an der Kleidung sowohl der Prinzessin als auch eines der Hoffräuleins. Sowohl das Krüglein als auch das Silbertablett stammten aus den Kolonien und waren von indigenen Händen hergestellt worden (Ellsworth Hamann, 2010, S. 6). Dieser deutliche Bezug auf Spaniens Imperium wirft Fragen auf: Was bedeutet die rote Farbe, die an Blut erinnert? Was ist ihr Symbolcharakter (Leben, Tod, beides)? Was geht in dem Bild wirklich vor? Welche Wirkung der sogenannten Neuen auf die Alte Welt hält das Bild fest? Die Präsenz einer außereuropäischen Epistemologie, die von Foucault nicht erkannt wurde, da ihn nur die westliche interessierte? Welche Beziehung gibt es zwischen der Bewusstseinerweiterung amerikanisch-indigener Epistemologie und der westlichen Episteme, die die Betrachter:innen vermeintlich zu Analytiker:innen macht? Foucault war nur an der Frage der Sichtbarkeit und der europäischen Epistemologie interessiert und entpolitisierte damit das Bild, denn er sah weder dessen soziopolitischen Zusammenhang noch die koloniale Dimension. Wenn man bedenkt, dass Foucault als einer der bedeutendsten und politischten westlichen Denker des 20. Jahrhunderts gilt, ist dies beunruhigend, weil seine Argumentation ein deutliches Symptom für das bereits beobachtete Auslassen der kolonialen Geschichte ist. Mehr als das, sie zeigt, wie dieses Übersehen des Kolonialismus ein tiefsitzender Mechanismus ist, der es den europäischen Philosophen ermöglicht hat, abgesehen von der dekonstruktiven Dimension ihres Denkens die Auslöschung der Kolonialgeschichte, wie Achibie anprangert, aufrechtzuerhalten. Man könnte behaupten, dass – erstaunlicherweise –, Velazquez Bild nicht nur die Veränderung im westlichen Denken sichtbar macht, sondern eben auch auf eine andere Epistemologie und ihre Wirkung im Westen verweist. Macht Velazquez hier in seiner Kunst etwas verdrängtes sichtbar? Denn außerhalb der Kunst, in Philosophie und Wissenschaften, wurden außereuropäische indigene Epistemologien bis heute unterdrückt und verdrängt. Darin besteht das von Foucault übersehene Potenzial auch der westlichen Kunst. Doch zurück zu Foucaults These. Um seine Genese des klassischen Denkens in Bezug auf das vorklassische westliche Denken besser zu erklären und auch um das Potenzial der Kunst noch deutlicher zu machen, möchte ich ein Bild und seine Studie von Georges DidiHuberman verwenden. Sie werden uns zeigen, dass im Westen der Zugang zum Nichtsichtbaren vor dieser Wende zum analytisch-historisierenden Denken genauso verankert war wie in außereuropäischen Völkern und Kulturen. In der Kunst, möchte ich behaupten, und Las Meninas ist ein Beispiel, ist er es noch immer. Denn wir können erkennen, dass Kunst sich immer um diese Dimension bemüht, oft auch in der kanonisierten westlichen.

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Didi-Huberman bezieht sich auf ein Fresko aus dem Mittelalter, um  – Foucaults Terminologie benutzend  – die damals bestehende enge Beziehung zwischen Dingen und Wörtern zu veranschaulichen. Ich möchte hinzufügen: bevor sie durch den leeren Raum des kolonialistischen und von Foucault als klassisch bezeichneten Denkens getrennt wurden. Didi-Hubermans Analyse hat zwei Ziele: auf die komplexe Dimension von Bildern im Allgemeinen hinzuweisen und zu zeigen, dass die Disziplin der Kunstgeschichte bei der Bilduntersuchung das darin enthaltene „Wirrwarr“ des Wissens (Didi-Huberman, 2000, S. 23) auf eine unvollständige Semiologie reduziert. Der Autor ist, wie vor ihm Heidegger, der Meinung, dass das Kunststudium durch Spezialisten auf die Weitergabe von Wissen reduziert wurde. Deshalb versucht er, diese Limitierung mit der Idee des Wissensdurcheinanders zu erweitern. Sie ist jedoch nicht universell, da Didi-Huberman nicht davon ausgeht, dass es wie in nicht-hegemonialer Kunst eine Kodifizierung gibt, die von allen durch weitergegebenes Wissen lesbar ist. Vielleicht ist der Begriff des Wissensdurcheinanders auch einfach unglücklich gewählt, denn offensichtlich kann das Nichtsichtbare, das Bilder sichtbar machen, vielschichtig sein. Maßgeblich ist für den Autor aber die Dimension des christlichen Glaubens, dessen Epistemologie er sich jedoch nicht widmet. Didi-Huberman wählt also ein christliches Bild, Die Verkündigung von Fra Angelico, das in einer Mönchszelles des Klosters San Marco zwischen 1400 und 1441 gemalt wurde. Er benutzt es, um vorzuschlagen, dass wir Bilder auf eine Weise betrachten sollten, die sich eben gerade nicht auf analytisches Denken reduziert, sondern sich dem Nichtwissen öffnet. Beobachter:innen und potenzielle Analytiker:innen werden somit ermutigt, sich dem Bild in einer unbeschwerteren Art und Weise zu nähern, bevor sie sich auf eine Interpretation einlassen. Diese Methode einer „schwebenden Aufmerksamkeit“ (Didi-Huberman, 2000, S. 23) zielt darauf ab, sich dem offenen, heiligen und geheimnisvollen Raum, von dem Foucault in Bezug auf das Mittelalter sprach, wieder zu öffnen. Der Autor gibt zu bedenken, dass zur Zeit der Freskomalerei die Verkündigung bei der Betrachtung nicht auf ein Thema oder Konzept reduziert wurde und auch heute sei dies nicht nötig: Als Alternative verlangt sie einen Blick, der sich nur nähert, um zu unterscheiden und zu erkennen und um jeden Preis, das, was er erfasst, zu benennen, sondern der sich zunächst einmal etwas entfernen und vermeiden würde, alles sofort zu erklären. (DidiHuberman, 2000, S. 23)

Didi-Huberman problematisiert somit das vermeintliche analytisch-historische Wissen und hebt gleichzeitig Fra Angelicos Fähigkeit, mit seinem Bild unbekannte Wege des Wissens zu eröffnen, hervor: Wir würden zulassen zu imaginieren, abgesichert allein durch unser armes historisches Wissen, wie ein gewisser Dominikaner aus dem 15. Jahrhundert namens Frau Angelico die Kette des Wissens in sein Werk hineinnehmen konnte, sie aber auch auseinandernehmen konnte bis hin zum völligen Zerreißen, um ihre Ausrichtung zu verschieben und sie woanders wieder mit neuen Bedeutungen zu ersehen. (DidiHuberman, 2000, S. 24)

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Abb. 22: Verkündigung, Fra Angelico, 1440–1441, Fresko, San Marco Kloster, Florenz

Didi-Hubermans Vorschlag einer schwebenden Aufmerksamkeit versucht, an den christlichen Glauben des Mittelalters anzuknüpfen, aber auch daran, dass Bilder immer mehr sind als das Sagbare und das Intelligible. Er scheint davon auszugehen, dass eine offene Betrachtung im Westen nur wiederbelebt werden kann, wenn man sich traut, den Blick zu öffnen, den die Kunstgeschichte und ihre Methodologien verstellt haben. Gemäß dieser

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post-strukturalistischen Lesart, die gegen die Idee eines einzigen Sinns arbeitet, und da es sich um ein Bild handelt, das in der christlichen Epistemologie verankert ist, kannte Fra Angelicos Verkündigung wohl den leeren, zur Analyse anregenden Raum, den Foucault in Velazquez Gemälde ausmachte, nicht. Foucaults Erklärung, warum das klassische Denken und seine analytische Betrachtung der Welt entstand, liegt aber gerade darin begründet, dass die Menschen den Wunsch hatten, die diesseite Existenz zu bejahen, da sie Angst hatten, dem christlichen Jüngsten Gericht ausgeliefert zu sein (Foucault, 1974, S. 441). Um dieser Angst zu entgehen – ich werde noch genauer zeigen, dass Foucault hier ähnlich wie Krämer und Kittler denkt –, kam es zu einer Abwendung vom spirituellen Denken des Mittelalters. Wenn man die koloniale Dimension mitdenkt, kam es darüber hinaus zur Dämonisierung anderer Epistemologien, die den Kontakt zum Nichtsichtbaren als selbstverständlich ansehen und keine Schuld kennen. Die Ideen eines schwebenden Betrachtens und eines Wissenswirrwarrs als Methodologie ist nicht unbeding auf andere Kosmologien übertragbar. Der Unterschied kann mit dem Begriff Fetisch deutlich gemacht werden. Er zeigt, dass es in afrikanischen Epistemologien Abb. 23: Nkisi nkondi, anonym, 19. Jahrhundert, keine Offenheit der Bedeutung gibt, sondern Holzskulptur mit Nägeln, Brooklyn Museum, klar definierte Funktionen und Formsprachen. New York Natürlich gibt es einen gewissen Spielraum, aber das Mystische in Didi-Hubermans Mittelalter-Rezeption gibt es so nicht. Fetisch kommt aus dem Portugiesischen feitiço/Zauber und resultiert aus einer Fehlinterpretation afrikanischer Kunstwerke und der ihr zugrundeliegenden Epistemologie. Die Anthropologie suchte damit fälschlich zu suggerieren, dass Afrikaner Skulpturen verehrten, da sie ihnen übernatürliche Fähigkeiten zusprachen. Dabei gibt es weder die Vorstellung des Übernatürlichen noch die Verehrung von Skulpturen, wie ich bereits mit Wiredu dargestellt habe. Es gibt jedoch eine Kommunikation mit dem Nichtsichtbaren und die Möglichkeit, die Ahnen um Hilfe zu bitten. Dies geschieht zum Beispiel mit den kongolesischen Nkisi-Figuren. Nkisi bedeutet Medizin, da in den Skulpturen oft in kleinen Kammern Heilpflanzen deponiert werden und ihre generelle Funktion im Heilen besteht. Manchmal wird nkisi auch als Geist übersetzt, was aber ein westlicher Begriff ist. Die Figuren sind aus Holz und man schlägt Nägel in sie, um die Energie zu aktivieren,

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die durch die Darstellung eines Ahnens oder eines Tieres zugänglich ist. Die Skulpturen ermöglichen, Bitten zu formulieren, die durch das Freisetzen dieser Energie dann erfüllt werden können, etwa Heilenergie für Kranke. Dabei ist der Körper des Ahnen kubistisch abstrahierend dargestellt, da es nicht um ein Individuum, sondern um dessen Energie im Allgemeinen geht. Abgesehen vom klassischen Denken beschrieb Foucault noch eine zweite Wende, die der ersten folgte. Ich erinnere kurz, dass das klassische Denken zwei Möglichkeiten hatte, Repräsentationen zu konzipieren: Die Philosophie benannte ihre Existenz und die frühe Wissenschaft ordnete sie in einer Mathesis. Während die Philosophie über die Trennung von Dingen und Wörtern im Allgemeinen nachdachte und Wissenstheorie und analytisches Denken – „cogito, ergo sum“ – einführte, organisierte die frühe Wissenschaft die Dinge in drei große Bereiche: Naturgeschichte (alle Dinge), allgemeine Grammatik (alle Wörter für Dinge) und Reichtum (von Menschen geschaffene Dinge). Laut Foucault (1974, S. 300) änderte sich dies an der Schwelle des 18. zum 19. Jahrhundert, da der leere Raum, der mit der Ordnung der Mathesis gefüllt worden war, durch Geschichte ersetzt wurde. Die entstehende Wissenschaft entwickelte dann spezifische Disziplinen  – Philologie, Biologie und Nationalökonomie  –, weil sie statt Objekte zu analysieren und zu erklären nun deren Umstände zu berücksichtigen begann. Foucault schlug aus diesem Grund vor, dass es nicht zu einer größeren Rationalisierung des Wissens gekommen sei, wie oft in Bezug auf das Denken des 19. Jahrhunderts gesagt wird, sondern eine Welt außerhalb der Repräsentationen in ihren Umständen entdeckt wurde, d. h. die historische Dimension allen Lebens. Obwohl Foucault kein Kunstwerk als Ausgangspunkt oder zur genaueren Erklärung verwandte, werde ich eine von Pablo Picassos 58 Versionen benutzen, die er von Velazquez Las Meninas im Jahr 1957 anfertigte, um den Übergang vom klassischen zum historisierenden Denken zu beschreiben. Denn in Picassos Bild können wir genau dies in der Abwesenheit von individualisierten Figuren und Blicken beobachten. Die multiperspektivischen oder maskenhaften Gesichter verweisen nicht auf ein Spiel der Repräsentationen, sondern sind nur noch ein Verweis auf das historische Original. Dieses ist dabei auf eine Schwarz-Weiß-Farbpalette reduziert, als wäre es eine alte Fotografie. An die Stelle des leeren Raums zwischen den Dingen und ihren Repräsentationen ist das frühere Bild und seine Umstände getreten, auf das sich der Künstler als externe historische Referenz bezieht. Dabei ist wichtig hervorzuheben, dass der historische Kontext des Kolonialismus, das Gerangel um Afrika, das von Foucault auch bei der Darstellung der zweiten Revolution übersehen wurde, in Picassos Interesse für außereuropäische Kunst im Bild zugegen ist. Seit 1907 setzte Picasso sich mit afrikanischer Kunst auseinander, übersetzte ihren Formenkanon und interpretierte ihre Funktion in seiner sogenannten „afrikanischen Phase“ um. Seine Beschreibung eines Besuchs im Völkerkundemuseum Museé de l’homme in Paris, nachdem Henri Matisse (1869–1954) ihn mit afrikanischer Skulptur bekannt gemacht hatte, ist aufschlussreich: Aber ich zwang mich zu bleiben, um diese Masken zu untersuchen, all diese Objekte, die Menschen für einen heiligen, magischen Zweck geschaffen hatten, um als Vermittler zwischen ihnen und den unbekannten, feindlichen Kräften zu dienen, die sie

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Abb. 24: Las Meninas, Pablo Picasso, 1957, Öl auf Leinwand, Museo Picasso, Barcelona

umgaben, und auf diese Weise zu versuchen, ihre Ängste zu überwinden, ihnen Farbe und Form geben. Und dann habe ich verstanden, was Malen wirklich bedeutet. Es ist kein ästhetischer Prozess. Es ist eine Form der Magie, die sich zwischen uns und das feindliche Universum stellt, ein Mittel, um die Macht zu ergreifen, indem wir sowohl unseren Schrecken als auch unseren Begierden eine Form aufzwingen. An dem Tag, an dem ich das verstand, hatte ich meinen Weg gefunden. (Picasso apud Meldrum, 2006)

Picassos Kunstverständnis ist eindeutig westlich, weil er, wie die zeitgenössische Bildund Medientheorie, bei seinen Überlegungen von der Angst des Menschen und nicht von seiner Verbindung mit der Natur und dem Nichtsichtbaren, wie wir es etwa in der Nkisifigur gesehen haben, ausgeht. Auch beschreibt er in typisch eurozentrischer Manier seine Selbstfindung und Subjektivierung als Künstler im Kontakt mit der „anderen“ Kunst. Die Historisierung des Wissens, um die es Foucault ging, stammt, obgleich sie sich dem Diesseitigen zuwandte, aus genau derselben Weltsicht, d. h. der Angst vor dem, was Picasso sowohl das „feindliche Universum“ als auch „unbekannte, feindselige Kräfte“ nennt. Obwohl die afrikanische Kunst nicht aus der Angst, sondern aus der Verbindung und dem Respekt geboren ist, gewinnt Picassos Kunst eine neue Kraft, die – wie schon Velazquez Bild – aus der Begegnung mit einer anderen, wenn auch fehlinterpretierten Epistmologie stammt.

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Picassos Version von Las Meninas offenbart nicht nur den kolonialen Kontext, sondern auch die historische Äußerlichkeit, auf die sich das moderne Denken laut Foucault konzentrierte. Von nun an würden die Wissenschaften alles von außen und im Hinblick auf die Vergangenheit untersuchen: Arbeit gemäß der Produktion, die Natur gemäß der objektiven Erfahrung des Seienden und die Sprache  – zu der die Kunst gezählt werden kann, gemäß ihrer Form (Foucault, 1974, S. 300). Die westliche Philosophie hätte somit im 19. Jahrhundert einerseits die Bedeutung empirischer Erfahrung  – kein Wissen geht ihr voraus – und andererseits die Idee eines transzendentalen Subjekts  – dessen Wissen der Dingwelt vorausgeht  –, etabliert. Beide seien das Resultat einer Veräußerlichung. Picassos Bild zeigt, dass dieses Epistem auch Mitte des 20. Jahrhunderts noch aktuell war, Abb. 25: Superimposition Las Meninas von Velazquez denn es bezieht sich auf die Umstände der und Picasso Bildgeschichte, in denen er sich selbst als transzendentales Subjekt verhält. Foucault (1974, S. 301) sah in der Wendung, die das neue Denken in der Philosophie nahm, die Schaffung eines Raums für eben dieses transzendentale Subjekt. Jede Erfahrung sei diesem Subjekt a priori bekannt, wodurch auch die Wissenschaft einen transzendentalen Raum schaffe, wenn sie sich auf die empirische Arbeits-, Kultur- und Lebenswelt beziehe. Betrachtet man Picassos Bild mit dieser analytisch-historisierenden Denkweise, dann ist der transzendentale Raum die Kunstgeschichte, die nicht nur äußerlich ist, sondern dem transzendentalen Künstler vorausgeht. Wenn wir die Gemälde von Velazquez und Picasso im Vergleich betrachten, sehen wir, dass Picasso das frühere Bild umdeutete, um das transzendentale Wissen seiner eigenen Geschichtlichkeit auszudrücken. Diese Herangehensweise ermöglichte ihm das Anfertigen unendlich vieler Versionen – im Fall von Las Meninas machte er 58 – je nachdem, mit welchem Aspekt der Künstler sich bezüglich dem, ihm vorausgegangenen Kunstwerk befassen wollte. Außereuropäische Epistemologien kennen das a priori auch. Es muss aber nicht analytisch erarbeitet werden, sondern wird von den Ahnen und Vorfahren vermittelt und oral oder durch das Sichtbarmachen des Nichtsichtbaren in Kunst und Zeremonien zugänglich gemacht (Wiredu, 1996; Jecupé, 1998). Mit seiner These der Revolutionen im westlichen Denken ersetzte Foucault die übliche Erklärung für das Interesse an Geschichte seit dem 19. Jahrhundert durch eine neue Sichtweise. Er sah die Veränderung nicht mehr im Wunsch der Bourgeoisie motiviert, sich als politische Klasse zu behaupten und ihren Sieg durch die Darstellung ihres

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historischen Aufstiegs zu demonstrieren. Das Gegenteil war für ihn der Fall. Die Erkenntnisgegenstände wurden im klassischen Denken zunächst von der Last des mit dem Jüngsten Gericht verbundenen teleologischen Geschichtsmodells befreit, um dann am Ende des 18. Jahrhunderts durch die Geschichtlichkeit aller Dinge ersetzt zu werden und so die Transzendenz des Subjekts zu behaupten. Dabei sei die jüdisch-christliche einer modernen Geschichtsauffassung gewichen, die als vermeintlich weniger bedrohlich, da äußerlich vom Menschen verstanden wurde: (…) die Natur spricht ihm nicht mehr von Schöpfung oder vom Ende der Welt, von seiner Abhängigkeit oder von seinem baldigen Urteil; sie spricht nur noch von einer natürlichen Zeit. Ihre Reichtümer zeigen ihm nicht das Alter und die baldige Rückkehr eines goldenen Zeitalters an. Sie sprechen nicht mehr von den Produktionsbedingungen, die sich in der Geschichte verändern. Die Sprache trägt nicht länger die Merkzeichen aus der Zeit vor Babel oder die der ersten Schreie, die im Wald haben widerhallen können. Sie trägt das Zeichen ihrer eigenen Filiation. Der Mensch hat keine Geschichte mehr oder vielmehr: da er spricht, arbeitet und lebt, findet er sich in seinem eigentlichen Sein völlig mit Geschichten verflochten, die ihm weder völlig homogen noch untergeordnet sind. (Foucault, 1974, S. 441)

Der Westen hatte zunächst in der griechischen Philosophie und dann im Christentum das Nichtsichtbare in der Metaphysik transzendentalisiert, um dann in den beiden von Foucault beschriebenen Revolutionen im Denken den als sakral behaupteten Raum durch das transzendentale Subjekt und seine Vergeschichtlichung zu ersetzen. Damit schien die Bedrohung durch das „Heilige“ oder Nichtsichtbare in weniger bedrohliches Format gebannt. Diese Verdiesseitigung und Anthropozentrierung verlief parallel zur Dehumanisierung vermeintlich Anderer durch Kolonialismus und moderne Sklaverei, mit der sich der Westen gewaltsam als historisch-analytisches Subjekt behauptete und diejenigen unterdrückte und ausbeutete, die sich in ihrer dem Diesseits und der Natur zugewandten Lebensweise problemlos mit dem Nichtsichtbaren verbanden. Foucault variierend könnte man sagen, dass eine von Geschichte besessene und von Angst besetzte scheinbar transzendentale Weltsicht seitdem die Furchtlosen mit unmenschlicher Grausamkeit im Namen einer Religion, vor deren erklärten Endpunkt, dem Jüngsten Gericht, man sich dadurch zu schützen sucht, subalternisiert.

Vom Sichtbaren und Sagbaren Ich möchte nun genauer auf die Frage der Kunst und ihrer Beziehung zur westlichen Wissensproduktion eingehen sowie auf ihr Potenzial. Dieses Potenzial haben wir bereits in den unterschiedlichen Werken, die zur Erklärung von Epistemen herangezogen wurden, kennen gelernt. Am Beispiel des Belgiers René Magrittes möchte ich jetzt zeigen, dass westliche Kunst aktiv an der Infragestellung der gerade dargestellten analytisch-historisierenden Epistemologie teilgenommen hat und das bevor Philosophen und Kunstwissenschaftler sich dazu Gedanken machten. Da dieses Kapitel sich mit der westlichen Wissenschaft auseinandersetzt, gehe ich vor allem auf das Visuelle ein. Viele andere

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Kulturen sind durch ihre orale Tradition mehr oder mindestens genauso auf das Auditive fokussiert. In Europa ist dies, wie Flusser so treffend beobachtete, durch die Schrift großteils verloren gegangen. Dem britischen Künstler und Kritiker John Berger diente in seinem 1972 erschienenen Buch Vom Wunder des Sehens René Magrittes (1898–1967) Gemäldeserie Der Schlüssel der Träume als Beispiel, um die Diskrepanz zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren aufzudecken. Der Autor ging davon aus, dass Babys die Welt vor dem Sprechen visuell (und, möchte man hinzufügen, mit Mund und Ohren) wahrnehmen. Berger hielt es für unmöglich, die Kluft, die das Sehen vom Wissen über das Gesehene trennt, zu überwinden: Durch das Sehen bestimmen wir unseren Platz in der Umwelt, die sich mit Worten wohl beschreiben, nicht aber in ihrer räumlichen Existenz und Vielfalt erfassen lässt. Zwischen dem, was wir sehen und dem, was wir wissen, herrscht keine festbestehende Beziehung. (Berger, 1994, S. 7)

Abb. 26: Der Schlüssel der Träume, René Magritte, 1935, Öl auf Leinwand, Private Sammlung

Diese Diskrepanz fand er in Magritts Der Schlüssel der Träume. In einer englischen Version dieser Gemäldeserie von 1935 gibt es nur einmal – im Fall des Koffers – eine Koinzidenz zwischen dem gemalten Objekt und dem gemalten Wort. Die anderen drei Objekte  – Pferd, Uhr und Krug – haben keinerlei Synchronizität zwischen Signifikant und Signifikat. Das Bild öffnet sich damit einem Wissen, das über das der Philosophie und der Naturwissenschaften hinausgeht, da es offensichtlich nicht daran interessiert ist, die Dinge zu klassifizieren oder ihre Äußerlichkeit zu studieren. Die Lücke zwischen den Bildern und Wörtern öffnet keinen analytischen Raum, wie Foucault es in Bezug auf Velazquez Gemälde suggerierte, noch wird dieser mit historischen Umständen gefüllt, wie bei Picasso. Der Schlüssel der Träume öffnet sich einem undefinierten Raum, der durch den Titel auf das Unbewusste verweist, das Assoziationen außerhalb des Reichs der Vernunft ermöglicht. Man kann sagen, dass Magrittes Bild die Absurdität des analytisch-historisierenden Denkens ausweist, denn wir werden mit dem konfrontiert, was die westliche Philosophie und später die Kunstgeschichte immer bekämpft haben: dem Potenzial der Kunst, Wissen zu vermitteln. Der Erste, der bekanntermaßen sein Mißtrauen gegenüber der Kunst formulierte, war der Philosoph Platon (428–348). In Der Staat (um 380 v. Chr.) finden wir sein berühmtes „Höhlengleichnis“ im siebten und seine „Allegorie der geteilten Linie“ im sechsten Buch. Die platonische Vorstellung von Kunst als bloßem Simulakrum wurde dann von

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Abb. 27: Antrum platonicum, Jan Saenredam, 1604, Grafik, The British Museum, London

Aristoteles (384–322) in seiner Poetik (335–332 v. Chr.) durch das Konzept der Mimesis oder Nachahmung ersetzt. Aristoteles Interpretation der Rolle der Kunst erkannte im Gegensatz zu Platon in Tragödie, Malerei, Musik, Poesie und Tanz eine wichtige soziale Dimension. Heute wird Platon gern für seine Stigmatisierung der Kunst zur Verantwortung gezogen. Das Unbehagen, das er schuf, erkannte dabei, wie Horst Bredekamp (2015, S. 45) erinnert, indirekt die Macht der Kunst an. Platons zentrale Anschuldigung im Kontext seiner Beschreibung eines vollkommenen Staates bestand gerade in der Umkehrung dieser Macht. Er behauptete, Kunst sei nicht in der Lage, Wahrheit auszudrücken. Mehr noch: ihre Wahrheit sei nur äußerlich, reiner Schein, nichts als Illusion. Nur der metaphysische Bereich der Ideen, also die kognitive Dimension, könnte die Menschheit zum Wissen erheben. Die Hellenisierung, die P’Bitek in Bezug auf die christliche Religion beobachtet, führte nachhaltig zur Hierarchisierung zwischen Sensiblem und Intelligiblen. Sie war die Grundlage aller Unterdrückung, politisch, religiös und kulturell. Im Stich Antrum platonicum des Niederländers Jan Saenredam (1565–1607), aus dem Jahr 1604, der das „Höhlengleichnis“ illustriert, ist Kunst nur Schatten. Sie wird von den Zuschauer:innen dummerweise für die Wahrheit gehalten, während die Gelehrten auf der linken Seite der Höhle bereits über die Wahrheit diskutieren. Die wahren Philosophen haben die Höhle bereits verlassen und stehen im Licht der Ideen, auf die sie deuten.

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Platons (2017) Dichotomie zwischen dem sinnlichen Verständnis der Welt in der Kunst – als begrenzt betrachtet – und der Welt der Ideen der Philosophie – als vollständig und wahr gesehen – war von einer unglaublichen Wirkung. Der französische Philosoph Alain Badiou ist der Meinung, dass die Dichotomie zwischen Schein und Wahrheit eines der einschneidendsten Vermächtnisse ist, das Platon uns hinterlassen hat: Die platonische Polemik in Bezug auf die Mimesis bezeichnet in ihrem Kernpunkt die Kunst weniger als Nachahmung der Dinge, sondern vielmehr als Nachahmung der illusionären Wahrheitswirkung. Und diese Nachahmung bezieht ihre Stärke aus ihrer Unmittelbarkeit. Platon wird also daran festhalten, dass das Betört-Werden durch ein unmittelbares Bild der Wahrheit vom Umweg ableitet. Denn wenn es Wahrheit als Charme geben kann, so würde uns für die langwierige dialektische Arbeit, für die schwerfällige, den Wiederaufstieg zum Prinzip vorbereitende Argumentation langsam die Kraft ausgehen. Folglich ist es notwendig, die sogenannte unmittelbare Wahrheit der Kunst als falsche Wahrheit, als eigentlichen Schein der illusionären Wahrheitswirkung zurückzuweisen. (Badiou, 2001, S. 8–9)

Badiou (2001, S. 8) stuft Platons „Schema“ dementsprechend als didaktisch ein, weil es die Kunst, um ihre Macht zu kontrollieren, auf eine erzieherische Funktion reduzierte und sie den Ideen ein für allemal unterordnete, worauf ich noch zurückkommen werde. Denn Kunst, die vor der griechischen Philosophie ebenfalls die Aufgabe hatte, eine Beziehung zum Nichtsichtbaren herzustellen, wurde nun als reine Chimäre denunziert. Wir werden im nächsten Kapitel sehen, wie der Feldzug der Philosophie gegen die Kunst über die Jahrhunderte weiterging und zur Abschottung der westlichen Kunst in den Kunstwissenschaften und der Erniedrigung der außereuropäischen Kunst in Anthropologie und Ethnografie führte. Platons Schüler Aristoteles, und neben ihm einer der einflussreichsten Figuren des westlichen Denkens, löste das Wahrheitsproblem, indem er davon ausging, dass die Mimesis – die Nachahmung des Handelns – zur Katharsis führe, d. h. dem Freisetzen von Emotionen. So wurde der Kunst auf weniger offensichtliche Weise der Stachel genommen und sie als therapeutisches und förderliches Mittel für die Gesundheit der Polis umgedeutet. In Badious (2001, S. 10) Worten unterschrieb Aristoteles so „eine Art Friedensvertrag zwischen Kunst und Philosophie“. Magrittes Der Schlüssel der Träume beschäftigt sich mit beiden Sichtweisen. Wir stehen vor einer Herausforderung an unsere Vernunft – dem Intelligiblen –, denn die Diskrepanz zwischen Bildern und Worten lässt sowohl die Vorstellung von Kunst als Illusion als auch als Imitation der Wahrheit zusammenbrechen. Darüber hinaus lässt das Bild jede direkte Beziehung zwischen dem Sagbaren und dem Sichtbaren einstürzen. Die Koinzidenz zwischen Objekten und Wörtern ist die Ausnahme und nicht die Regel. Der Künstler stellt damit einerseits eine neue Ordnung der Dinge her  – der Schlüssel zum Traum ist ein Missverhältnis – und lädt uns andererseits ein, die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant zu erfahren –, denn auch das Objekt ist nur gemalt, also ein Bild, und kann deshalb gar nicht mit dem für ihn bekannten Wort benannt werden. Folglich sehen wir auf neue Weise, sowohl das Bild und seine Wahrheit – unabhängig von Signifikat und Signifikant – als auch die Wahrheit der Wörter selbst. Die Wahrheiten

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von Signifikat und Signifikant erscheinen beide getrennt in diesem Spiel der freien Assoziationen und befreien die Kunst von der Idee der Reproduktion, Repräsentation oder Imitation. Dadurch zeigt das Bild sein Potenzial, die Diskrepanz zwischen Ding und Wort aufzudecken und auf etwas nichtsichtbares, das Wissen um eine größere Komplexität, zu verweisen. Der Kunst die Fähigkeit zuzusprechen, Wissen und Wahrheit zu enthüllen, war Martin Heideggers Ziel in dem bereits zitierten Der Ursprung des Kunstwerks. Er schrieb den Text vielleicht nicht zufällig wenige Jahre nachdem Magritte sein Bild malte. Heidegger (2011, S. 38) argumentierte darin, dass die Definition von Wahrheit strenger sein müsse, damit sie nicht nur mit einer gewissen Wahrheit verwechselt werde. Mit der Wissensproduktion über Kunst – sei es in der Ästhetik, dem Kunstmarkt oder der Kunstwissenschaft – war er nicht einverstanden. Sie führe entweder durch das Studium ihrer Eigenschaften vom Kunstwerk weg, durch die Fokussierung ihrer sinnlichen Eindrücke zu nahe an es heran, oder mache Kunst zum Ding, wenn man der Beziehung zwischen Materie und Form übermäßige Bedeutung beimesse (Heidegger, 2011, S. 58). Um sich diesen Methoden  – die wir noch kennenlernen werden –, zu widersetzen und die Kunst vor Experten und Kunsthändlern zu retten, sei es notwendig, das Kunstwerk vor ihnen zu schützen. Heidegger sah in der Philosophie diese Rettung, da nur sie der Aufgabe, das Kunstwerk zu schützen, gewachsen sei. Alain Badiou (2001, S. 14) erkennt deshalb in Heideggers Vorschlag ein weiteres Schema, das „romantische“. Sowohl die deutsche Hermeneutik als auch die Romantik ist für ihn Teil der Verherrlichung von Wahrheit, Kunst und Künstlergenie. Er kritisiert deshalb Heideggers Anliegen, die von Friedrich Nietzsche eingeführte Rolle des Philosophen-Künstlers um die des Dichter-Denkers zu erweitern. Im Gegensatz zu Heidegger, der die Kunst als Ort der Wahrheit bestätigte, bemängelt der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk (2014) die Fähigkeit der Philosophie, Kunst zu erklären. Auf die Beschäftigung der Ästhetik mit der Wirkung von Kunst zurückkommend, weist der Autor darauf hin, dass auf die Frage nach dem Warum der Unverzichtbarkeit ästhetischer Erfahrungen, also nach der Bedeutung der Kunst, niemals eine endgültige Antwort gefunden werden könne. Philosophisches Denken und Schreiben seien begrenzt: Die Antwort hierauf ist so elementar und der Anspruch dieses Elementaren so radikal, dass man beides, Antwort und Anspruch philosophisch nicht formulieren kann, da das philosophische Denken weder elementar noch radikal genug ist, um dieser Antwort zu genügen (Sloterdijk, 2014, S. 478).

Kunst ist zwar unverzichtbar, aber, was sie leistet, lässt sich nicht in Worte fassen. Obwohl es im 20. Jahrhundert zu Veränderungen im westlichen Denken zur Kunst kam, wird deren Erkenntnispotenzial immer über die diskursive Sprache, die sie zu beschreiben versucht, hinausgehen. Dies ist auch in außereuropäischer Kunst der Fall. Dort aber weiß man um Wissen und Wahrheit, und würde nie infrage stellen, dass Kunst eine abstrakte Brücke zum Sichtbaren wie zum Nichtsichtbaren baut. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert versuchte die Kunst weiterhin, die Philosophie und ihre Wahrheitsdebatte durch die Bezugnahme auf das Intelligible mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Zentral war die Idee der Konzeptkunst  – ein Begriff, der

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erstmals 1961 von Henry Flynt geprägt wurde, aber auch auf die historischen Avantgarden anwendbar ist, insbesondere auf die Werke von Marcel Duchamp. Er wurde vom philosophischen Begriff Konzept inspiriert. 1969 theoretisierte Joseph Kosuth dann die Bedeutung der Kunst in seinem Text „Die Kunst nach der Philosophie“ und kommentierte ihre Neudefinition. Künstler:innen zweifelten nun „das Wesen der Kunst an, indem sie neue Vorschläge zum Wesen der Kunst präsentierten“, denn Künstler:in zu sein bedeute nun, „das Wesen der Kunst zu hinterfragen“. (Kosuth, 1993, S. 18) D.h, die Rolle der westlichen Künstler:innen war fortan philosophisch geprägt: Sie sollten dem Kunstbegriff etwas hinzufügen und neue Funktionen vorschlagen. Dementsprechend kam Kosuth (1993, S. 24) zu dem Schluss: In dieser neuen Periode der Menschheit, an die Bedeutung von Philosophie und Religion anschließend, kann Kunst heute möglicherweise ein Unterfangen sein, das das befriedigt, was ein anderes Zeitalter das „spirituelle Bedürfnisse des Menschen“ genannt hätte.

Es war nicht mehr und nicht weniger als der Versuch, 2.500 Jahre Hellenisierung der Reflexionen zur Kunst rückgängig zu machen. Interessanterweise war Sloterdijk der erste Nicht-Künstler, der im 21. Jahrhundert eine ähnliche Behauptung innerhalb der Philosophie aufstellte. Er warnt jedoch davor, dass die Unverzichtbarkeit der ästhetischen Erfahrung von der Beteiligung der Betrachter:innen und dem jeweiligen Kunstwerk abhänge. Dabei lehnt er jegliche Definition der Kunst als didaktisch, therapeutisch oder wahrheitsfähig ab. Um diesen Punkt in der Philosophie zu erreichen, war es notwendig, dass der französische Philosoph Gilles Deleuze und der Psychiater Félix Guattari (2000) Ende des 20. Jahrhunderts in ihrem Buch Was ist Philosophie? Philosophie und Kunst als gleichberechtigt erklärten. Nachdem die Philosophie ein Jahrhundert lang stark von der Kunst beeinflusst worden war, wurde sie ihr gleichgestellt indem man ihr die Fähigkeit des Denkens zusprach. Kosuth war da ganz anderer Meinung. Sein Argument war, dass die Einzigartigkeit der Kunst in ihrer Ferne von der Philosophie bestände: „sie wird lebensfähig bleiben, indem sie nicht eine philosophische Haltung einnimmt; denn im einzigartigen Charakter der Kunst liegt die Fähigkeit, sich von philosophischen Urteilen fernzuhalten“ (Kosuth, 1993, S. 24). Obgleich von der Idee des Intelligiblen geleitet, taten Deleuze und Guattari einen wichtigen Schritt, um die anderen Wissensbereiche der Kunst näherzubringen und sie dadurch auf das hohe Podest der Philosophie zu heben. Dabei suchten sie im selben Zug allen Disziplinen oder Wissensgebieten eine zentrale künstlerische Charakteristik zuzuschreiben: Kreativität. In ihrem zweiten argumentativen Schritt wurde Kunst dann als ebenso reflexiv beschrieben wie Philosophie und Wissenschaft, auch wenn sie dies auf andere Weise artikuliere: „Die Kunst denkt nicht weniger als die Philosophie, aber sie denkt in Affekten und Perzepten.“ (Deleuze und Guattari, 2000, S. 75) Die Autoren bewirkten damit einen Perspektivwechsel, der nun den Beitrag der Kunst zum Wissen, verstanden als Denken oder Erkenntnis, in den Mittelpunkt rückte. Damit schlossen sie den von Heidegger eingeleiteten Wandel in der Anerkennung des Erkenntniswillens der Kunst und ihrer Fähigkeit, die Wahrheit offenzulegen, ab.

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Sloterdijk ging noch einen Schritt weiter, indem er endlich den Gedanken in die Philosophie brachte, den Kosuth schon Jahrzehnte zuvor befürwortet hatte: dass die Kunst mächtiger sei als die Disziplin der (vermeintlichen) Wahrheit und dass diese Macht niemals durch sie erklärt werden könne. Es muss betont werden, dass es mehr als zweieinhalb Jahrtausende gedauert hat, bis die Kunst diese Anerkennung von der Philosophie erhielt. Sloterdijks (2014, S. 478–479) Wertschätzung hebt, wie gesagt, die Bedeutung der ästhetischen Erfahrung hervor. Er begründet das damit, dass sie der einzige Weg sei, um einen bestimmten Zustand zu erreichen, den er „Geistesgegenwart“ nennt. Diese bestehe darin, durch Kunst dem westlichen Menschen ein Gefühl der Dezentralisierung seiner Subjektposition zu ermöglichen. Sloterdijk stellt sich somit gegen den philosophisch-naturwissenschaftlichen Ansatz der Konstitution eines transzendentalen Subjekts durch Erkenntnis und der damit verbundenen Verwandlung desselben in ein Untersuchungsobjekt. Nicht zufällig vergleicht er diese Dezentralisierung mit Meditation: Von den Künsten aus ist der Weg nicht weit zu dem, was im philosophischen Jargon dezentriertes Bewusstsein heißt, also zu jener Bewusstseinsform, in der sich das Ich als strategische Mitte des In-der-Welt-Seins verloren gibt zugunsten eines mittelpunktlosen Dazugehörens. (Sloterdijk, 2014, S. 479)

Während Heidegger das Ergebnis der von der Kunst aufgedeckten Wahrheit als Schock bezeichnete, ist Sloterdijks Geistesgegenwart radikaler, da er damit sowohl den Dualismus zwischen Theorie und Praxis als auch die Idee eines kantischen antizipierenden Bewusstseins aufgibt. Ich möchte betonen, dass sich Sloterdijk einer östlichen Art der Bewusstseinserweiterung – des Buddhismus – zuwendet, um das rationale Denken aufzugeben und die westliche Kunsttheorie anzuzweifeln. Folgt man dieser Argumentationslinie, kann man sagen, dass die ästhetische Erfahrung uns potenziell dazu bringen könnte, all unsere Ängste und Wünsche zurückzulassen, weil sie uns das Gefühl vermittelt, Teil eines entindividualisierten Ganzen zu sein. Das entindividualisierte Ganze, die Gemeinschaft und das Einssein mit der Natur und allen Wesen entspricht der Grundlage der Kunstproduktion in außereuropäischen Kulturen. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied. Für Sloterdijk hängt diese Erfahrung nicht nur von den Betrachter:innen ab, sondern auch von der Kunst selbst, weil sie, wie der Philosoph neuplatonisch andeutet, gefährlich sein kann. Das liegt nicht nur an ihrer angeblichen Fähigkeit zur Täuschung, wie Platon uns weismachen wollte. Sloterdijk (2014, S. 480) gibt der Kunst selbst die Schuld, insbesondere der westlichen, da sie manchmal vergäße, was sie sei, oder – könnte man hinzufügen –, was ihre eigentliche Funktion ist. Ein weiteres Problem, das der Autor anmerkt, ist die Fetischisierung der Künstler:innen  – ein Projekt, das, wie wir gesehen haben, mit ihrer Verewigung durch Vasari am Anfang der kolonialistisch-kapitalistischen Moderne begann. Angesichts ihrer Verherrlichung in den zeitgenössischen Medien seien Künstler:innen oft wichtiger als ihre Arbeit. Ein Phänomen, dass indigene Künstler in ihrem Bezug auf die Gemeinschaft nicht übernommen haben.

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Kurze Schlussfolgerungen Auf meine Fragen zum Verhältnis von Kunst zu anderen Wissensformen und ihrem Potenzial möchte ich nun folgende Antworten zusammenfassen: 1. Das Potenzial der Kunst wurde von Foucault u. a. in ihrer Fähigkeit ausgemacht, eine große Veränderung im Denken aufzuzeigen, die aus den westlichen Menschen analytisch-historisierende Wesen gemacht hat. Foucault interpretierte die Öffnung eines Raums zwischen Signifikant und Signifikat in Las Meninas von Velazquez, was zur Gründung einer Mathesis führte. In einer zweiten Wende, wurde dieser Raum mit Geschichte gefüllt, wie in Picassos Versionen desselben Gemäldes erkennbar ist. Bei der Beschreibung dieser Revolutionen, die die westlichen Wissenschaften begründeten, wurde die Dimension des Kolonialismus, der an ihr maßgeblich beteiligt war und dessen hierarchisierendes Denken ihnen vorausging, übersehen. Im 17. Jahrhundert sind in Velazquez Bild darüber hinaus zwei Epistemologien sichtbar: die westliche analytische und die Wirkung der indigenen, die aus dem kolonialisierten Mexiko kam. Das Potenzial des Bildes ist damit umso größer, da es die in westlicher Geschichte und Wissenschaften unterdrückte außereuropäische Epistemologie ebenfalls sichtbar macht. In Picassos Bild des 20. Jahrhunderts ist ebenfalls nicht nur das historisierende Denken präsent, sondern gerade auch die Kolonialisierung durch den Verweis auf afrikanische Masken, die im Modernismus starken Einfluss auf die westliche Kunst ausübten. Foucault übersah somit, wie so viele andere westliche Denker, die imperialistische Attitüde der Wissensproduktion. 2. Bevor die Lücke zwischen Signifikant und Signifikat geöffnet wurde und ihre Differenz im Westen zu analytischem Denken führte, wurde im europäischen Mittelalter wie in nicht-hegemonialen Gesellschaften beider Verhältnis als identisch wahrgenommen. Didi-Huberman reflektiert deshalb über das Verkündigungsfresko von Fra Angelico und versucht, die Betrachter:innen zur Wahrnehmung eines Wissensdurcheinanders einzuladen, die sich an die mystische und geheimnisvolle mittelalterliche Welt, in der Gott der Schöpfer aller Dinge und Garant der Identität war, anzunähern sucht. Im außereuropäischen Denken gibt es dieses Wissensdurcheinander nicht, da das anzestrale Wissen für die bildlichen und performativen Codes oral weitergegeben wird. 3. Die neue Form des analytischen Denkens, die die westlichen Menschen dazu veranlasste, die Vorstellung einer offenen, heiligen und geheimnisvollen, aber auch unberechenbaren Welt zu verlassen, entstand, laut Foucault, um sie aus ihrer Abhängigkeit von Gott zu befreien. Der nächste Schritt war der Eintritt in die moderne Geschichtlichkeit, in der westliche Menschen zu transzendentalen Subjekten wurden, die somit ihre Angst vor Apokalypse und Jüngstem Gericht durch eine Zuwendung zum Außen zu überwinden suchten. Das westliche transzendentale Subjekt des modernen analytisch-historisierenden Denkens befreite sich aber nicht von den etablierten Kunstvorstellungen der Philosophie, die die Macht der Kunst, Wissen oder Wahrheit zu vermitteln, seit der Antike zu begrenzen versucht. Dies geschah vor allem auf Kosten der durch Kolonialisierung unterdrückten Völker, die sich den direkten Zugang zum Nichtsichtbaren bewahrten. Ihre Kulturen waren nicht von Angst geprägt, sondern immer schon diesseitig ausgelegt, was den Argwohn der Europäer erregte.

Kurze Schlussfolgerungen

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4. Außereuropäische Kunst, wie etwa das kongolesische Nkisi, besitzten das Potenzial, Energie aus der nichtsichtbaren Welt auf die sichtbare Welt zu übertragen oder aber, wie das mexikanische búcaro, die nichtsichtbare Welt sichtbar zu machen oder Kontakt mit ihr herzustellen. Das Wissen um die Funktion und Macht der Nkisi ist im Kongo allen geläufig, während Velazquez Auseinandersetzung mit dem búcaro in Europa vielleicht nie bekannt war und erst jetzt erinnert wird. Picasso interpretierte seinerseits die afrikanischen Masken, die ihn inspirierten, falsch. Alle drei Kunstwerke sind als Wissensträger kenntlich, aber ihr Verständnis hängt von der Kenntniss ihrer Epistemologien ab. 5. Die Kunst wird im westlichen Denken seit zweieinhalb Jahrtausenden in Bezug auf ihre Fähigkeit, Wahrheit sinnlich erfahrbar zu machen, diskutiert. Sie wurde als drohende Gefahr und Illusion gesehen (Platon); als Therapieform (Aristoteles); als Wahrheit, die sich enthüllen will und von der Philosophie bewahrt werden muss (Heidegger); oder, neuerdings, als dezentriertes Bewusstsein (Sloterdijk). Durch die Hellenisierung, d. h. die Hierarchisierung des Intelligiblen in Bezug auf das Sensible, kann der Westen die Fähigkeit der Kunst, das Nichtsichtbare sichtbar zu machen, nicht denken. Obgleich es sich bei Heidegger um einen Resakralisierungsversuch handelte, wurde nur die Philosophie als in der Lage gesehen, Kunst zu verstehen und zu bewahren. Die Hellenisierung wurde somit nicht rückgängig gemacht. 6. Die Reduktion des Sichtbaren auf das Sagbare, des Sensiblen auf das Intelligible wurde in der Philosophie erstmals im 20. Jahrhundert mit der Definition des Kunstwerks durch Heidegger und in der Kunst von Magritte und Kosuth angezweifelt. Magrittes Bilder verweisen auf die Inkompatibilität zwischen gemalten Bildern und Worten und verweisen auf Dimensionen außerhalb der Rationalität der Wissenschaften, die sonst diesen Raum füllen. Während Matisse die Beziehung zwischen beiden träumerisch neu definiert, betont Kosuth die Fähigkeit der Kunst, sich selbst zu definieren. Außer Heidegger haben noch andere Philosophen mit der Idee gebrochen, Kunst sei dem Intelligiblen unterlegen. Deleuze und Guattari blieben dem Intelligiblen zwar verhaftet, als sie behaupteten, die Kunst würde denken und Wissensproduktion sei immer kreativ. Sie gingen aber zumindest einen Schritt weiter in Richtung Gleichberechtigung zwischen Kunst und Philosophie. Erst Sloterdijk erklärte die Philosophie dann im 21. Jahrhundert für unfähig, die Kunst gebührend zu beschreiben. Auch näherte er sich der außereuropäischen, vor allem der orientalischen Perspektive, an, Kunst führe zu einer Form des Wissens, die er Geistesgegenwart nennt, und ermögliche den Menschen, sich zu entindividualisieren, was das Ende des transzendentalen Subjekts wäre. 7. Künstler:innen und ihre Werke verteidigten das Potenzial der Kunst im gesamten 20. Jahrhundert, zuerst in der historischen Avantgarde und dann in der zeitgenössischen Kunst. Heute wird die ästhetische Erfahrung nicht mehr als belehrend (Platon), therapeutisch (Aristoteles) oder verstörend (Heidegger) angesehen, sondern als fähig, sich als Teil eines Ganzen zu fühlen, indem sich das Subjekt nicht mehr als Individuum versteht (Sloterdijk). Man könnte sagen, dass dieses Subjekt zu lange und im Zusammenhang mit der Kolonialität die Welt und die vermeintlich Anderen zu Objekten degradiert hat, um Wissen zu konstituieren und Wahrheit zu behaupten. Die westliche Philosophie erkennt heute an, dass die Kunst, die dies schon seit einem Jahrhundert proklamiert, ein größeres Potenzial für die Produktion von Wissen als andere Wissensdisziplinen hat – obwohl oder weil sie über intelligibles Wissen hinausgeht.

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WIE STEHT KUNST MIT DEN WESTLICHEN ­WISSENSCHAFTEN IN BEZIEHUNG …?

VIERTES KAPITEL :

Wie stehen Philosophie und Theologie zur Kunst und ihrem Machtpotenzial? In den beiden vorherigen Kapiteln haben wir gesehen, dass die westliche Menschheit Kunst studiert, weil sie sich als historisches Wesen versteht oder behauptet. Denn dies bedeutet vor allen Dingen, dass sie darauf abzielt, andere zu beeinflussen, indem sie sich hierarchisch über außereuropäische und ahistorische Völker stellt. Die Bedeutung der Dekolonialität für das Denken generell und die Kunstwissenschaften im Allgemeinen sind deshalb fraglos von großer Bedeutung. Im Zusammenhang mit dem Wunsch, frühere Kunst zu verstehen, habe ich die Frage nach dem Warum des Kunstschaffens aufgeworfen und einige westliche und außereuropäische Theorien vorgestellt. Die Kunst kann der westlichen Wissenschaft – dem analytisch-historischen Denken –, die sich im Westen ab dem 17. Jahrhundert entwickelt hat und eng mit der Kolonialität in Verbindung steht, als überlegen angesehen werden. Aus diesem Grund ist sie in nicht-westlichen Kulturen wichtigste Quelle des Wissens. Einige Künstler und zuletzt auch Philosophen haben im 20. Jahrhundert versucht, dies auch im Westen wieder ins Bewusstsein zu bringen. Das Potenzial der Kunst ist in außereuropäischen Kulturen selbstverständlich und der Hauptgrund für ihr Schaffen. Im Westen hat die Kunst seit der Entstehung der Philosophie und dann der Theologie, d. h. in Wissensformen, die die Bedeutung der Kunst und ihrem Kontakt zum Nichtsichtbaren abzulösen versuchten, ambivalente Reaktionen hervorgerufen. Um diese besser zu verstehen, frage ich in diesem Kapitel: Welche Rolle spielten die westlichen Philosophen und die monotheistischen Theologen für die Eingrenzung der Kunst und ihrer Macht im Laufe der Geschichte? Welche Konzepte waren an dieser zumeist unterdrückerischen Beziehung beteiligt? Um Antworten zu finden, werde ich zunächst die Beziehung zwischen dem Sensiblen und dem Intelligiblen diskutieren. Sie ist, wie wir bereits ansatzweise gesehen haben, vom philosophischen und theologischen Unbehagen in der Antike und dem frühen Mittelalter geprägt und besteht weiter fort. Deshalb werde ich auch zeitgenössische Beispiele für politischen, religiösen und ästhetischen Ikonoklasmus nennen. Im ersten Kapitel habe ich dies bereits in Bezug auf den dekolonialen Aktivismus gegen Monumente von Kolonialherren oder Sklavenhändlern kurz angerissen. Dann werde ich zeigen, dass – um das Potenzial der Kunst diskursiv weiter zu reduzieren – die Diskussion um das Verhältnis zwischen Sensiblem und Intelligiblem im deutschen Idealismus und in der Romantik fortgesetzt wurde, was zur Erklärung des Endes der Kunst und dem Vorschlag führte, sie nur noch als Objekt zu studieren. Um die westliche Tendenz, die Macht jeglicher Kunst zu zähmen – die westliche als Studienobjekt und Patrimonium und die außereuropäische als Artefakt oder Fetisch –, schließe ich dieses Kapitel mit einer Diskussion ihres emanzipatorischen Potenzials.

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Von der Angst vor der Macht der Kunst in Philosophie und Theologie Die Beziehung zwischen philosophischem Denken und Kunstproduktion ist mehr als zwei Jahrtausende älter als ihre analytisch-historisierende Untersuchung. Sie hat sie tief geprägt. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass das antike Griechenland zur Zeit der ersten Überlegungen zur Kunst bereits die Sklaverei praktizierte und sie als Basis seiner imperialistischen Expansion nutzte, wie die amerikanische Historikerin Nell Irvin Painter (2010, S. 1–16) betont. Damit will ich sagen, dass die Art und Weise, wie die Macht der Kunst von Anfang an im Westen betrachtet wurde, eine Tradition der Eindämmung, Kontrolle und Instrumentalisierung hat, die wir dann wieder verstärkt während der Kolonialisierung zunächst Amerikas und dann Afrikas, Asiens und Ozeaniens beobachten können. Mit anderen Worten, Imperialismus und Unterdrückung der Kunst sind in Europa immer Hand in Hand gegangen. Andererseits wurde die Kunst natürlich für repräsentative und ideologische Zwecke benutzt. Zu diesem Kontext gehört auch die Dämonisierung und Zerstörung außereuropäischer Kunst durch die Kolonialmächte, die wie z. B. das Nkisi als magisch-heidnisch verstanden oder in besitzergreifender Sammelleidenschaft – oft als Beutekunst gestohlen – entkontextualisiert und säkularisiert wurde. Dem zugrunde liegt die in der griechischen Antike eingeführte Spannung zwischen dem Intelligiblen der Philosophie – die, nach Wissen suchend, die Funktion und Wirkung von Kunst reflektiert, um sie beherrschbar zu machen – und dem Sensiblen der Kunst – die, im Idealfall Nichtsichtbares sichtbar macht oder Kontakt zu anderen Dimensionen unserer Welt herstellt, die Welt erklärt, Wissen (und Wahrheit) produziert oder erinnert. Sämtliche monotheistischen Religionen hatten deshalb zumeist größere Schwierigkeiten mit der Kunst als die Philosophie. Dabei lehnten sie sich sowohl an Platon als auch an Aristoteles an und konzentrierten ihre Auseinandersetzung hauptsächlich auf die Frage der Darstellbarkeit des Sakralen oder Heiligen und deren Hauptfiguren. Diese Fragestellung resultierte, wie bereits bemerkt, aus einer hellenistischen, d. h. hierarchisierenden Interpretation der Lehre Jesus. Ihm war es, in der afrikanischen Tradition, eigentlich um lebensnahe und praktische Dinge gegangen. Seine politische Botschaft der Liebe und des verinnerlichten Rechts wurde dann durch die Institutionen sowohl der Ost- als auch der Westkirche vereinnahmt und als effizientes Machtinstrument durch die Anbindung an den Staat, zunächst im byzantinischen Reich, ausgehebelt. Doch schon im Judaismus wurde Götzendienst geahndet und auch im Islam wurde Idiolatrie verboten. Nur das Christentum fand eine Lösung: das archeopoeiton, ein Bild, nicht von Menschenhand gemalt, das ich noch genauer erklären werde. Die Philosophie instrumentalisierte die Kunst auf andere Weise. Der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch (2007) weist drei verschiedene Arten aus, wie die Philosophie in Bezug auf die Kunst immer von Eigeninteressen bestimmt war, 1) um durch die Abgrenzung zur Kunst eine disziplinäre Einheit zu konstruieren; 2) die Kunst zu nutzen, um philosophische Probleme zu demonstrieren, und 3) die Überlegenheit der Philosophie gegenüber der künstlerisch-symbolischen Praxis zu demonstrieren. Daniel Huntingtons Gemälde Philosophie und Christliche Kunst von 1868 fängt alle drei Punkte ein. Die Kunst, personifiziert als junge schöne Frau, verweist auf ein Gemälde. Ein bärtiger, vermeintlich weiser Mann verweist auf sein Buchwissen. Er will durch das Wort das Bild erklären.

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Abb. 28: Philosophie und Christliche Kunst, Daniel Huntington, 1868, Öl auf Leinwand, Los Angeles County Museum of Art

Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, dass diese hierarchische Beziehung zwischen dem Sagbaren und dem Sichtbaren im 20. Jahrhundert sowohl in der westlichen Kunst als auch in der Philosophie hinterfragt wurde. In außereuropäischer Kunst hat man, wie ebenfalls bemerkt, die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Erklärung niemals eingeführt, da das Wissen oral weitergegeben wird und allen zugänglich ist. Ich habe auch schon kurz die grundlegende Rolle kommentiert, die Platon und Aristoteles bei der Definition der Kunst spielten. Platon hat dabei nie explizit über Kunst geschrieben. Horst Bredekamp (2015, S. 44) ist der Ansicht, dass sich die Philosophie im Gegensatz zur Theologie eigentlich nie viel um Bilder gekümmert hat. Das ist sicher eine Verharmlosung. Der Autor unterstreicht dennoch, dass, obwohl es unmöglich sei, eine ästhetische Theorie aus Platons verschiedenen Schriften zu extrahieren, sie sich auf die eine oder andere Weise mit Kunst befassten. Ich würde behaupten, er muss kulturgeschichtlich unfraglich als Protagonist für die Disqualifizierung des Sensiblen gelten. Denn er schürte die Angst vor der Macht der Kunst in einem Moment, in dem die Philosophie andere Epistemologien abzulösen suchte. Er wusste sicher genau, dass dazu das Potenzial ästhetischer Erfahrungen kontrolliert werden muss. So reduzierte er die Kunst im Höhlengleichnis, wie bereits kommentiert, auf bloße Schatten, von denen nur das

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Abb. 29: Inneres der Hagia Sophia, 537–1453, Moschee, Istanbul

Licht der Ideen befreien könnte. Damit etablierte Platon zweifelsohne eine einflussreiche Hierarchisierung, denn mit seiner Unterstellung, dass Dichter Lügen über Menschen und Götter erzählten und ungesunde Leidenschaften heraufbeschwörten, hatte er einen tiefgreifenden Einfluss auf Politik und Kultpraxis. Bredekamp (2015, S. 45) ist sich bewusst, dass Platons „angelegte Kritik der Bilder“ in „einer Anerkennung ihrer Wirkmacht“ zweifelsohne wusste, dass das Licht der Ideen weniger stark war als das der „Schatten“ der Kunst. Darüber hinaus seien seine Ansichten widersprüchlich. Die Einschränkung ihrer Macht durch Verbote wurde im Kratylos ausgearbeitet, in dem er durch Sokrates argumentierte, dass die verabscheuungswürdigsten Bilder diejenigen seien, die wie ein Spiegel nur die Natur imitierten. Wahre Kunst wäre eine Kunst des Weglassens oder, wie wir schon gesehen haben, des Abstrahierens. Bredekamp (2015, S. 46) schlägt deshalb vor, dass Platon Kunst dementsprechend auch als aktive Kraft sah. Das ist uns schon in Badious Idee des didaktischen Schemas begegnet. Der Autor zitiert eine weitere Parabel Platons, die weniger bekannte und bereits erwähnte „Allegorie der geteilten Linie“. Darin erkannte Platon an, dass Bilder jungen Menschen als Beispiele dienen und deshalb eine erzieherische Funktion haben könnten. Dennoch stellte er unmissverständlich fest, dass die Erkenntnisse der Philosophie denen der Kunst überlegen seien und dass sie nur eine dienende Rolle spielen könne. Dieses Verständnis wurde, wie ich später erörtern werde, im Deutschen Idealismus bekräftigt

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Abb. 30: Rothschild Pentateuch, 1296, Manuskript, Getty Museum, Los Angeles

und neu formuliert. Insgesamt ist Platon demnach raffinierter, als sein Ruf vermuten lässt, und unterschied zwischen zwei verschiedenen Arten von Bildern: solche, die Wissen durch Auslassung ermöglichen, und Simulakren, die nur den Schein der Wahrheit imitieren und daher als gefährlich anzusehen seien. Die eng an den Staat gebundenen monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – sahen in der Macht der Kunst ebenfalls entweder eine Möglichkeit oder eine Gefahr. Außerdem widersetzten sie sich vehement dem, was sie als Götzendienst bezeichneten, d. h. der Verehrung der Bilder ihrer Protagonisten. Dies führte in verschiedenen Momenten der Geschichte zu Verboten mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die künstlerische Praxis. Im Islam ist eine generelle Neigung zum Nicht-figurativen und eine Bevorzugung der Verwendung geometrischer und arabesker Motive, ornamentaler Schrift und Kalligrafie zu beobachten, auch wenn dies nicht auf Vorschriften aus dem Koran beruht. Bei den Verboten wird zwischen sakralen und profanen Darstellungen unterschieden, wobei die Herstellung figurativer Bilder von der jeweiligen Region und dem historischen Moment abhängt. Die Dominanz abstrakter Formen und Schriften ist dennoch weit verbreitet, etwa in der zwischen 537 und 1453 erbauten Hagia Sophia in Istanbul. Sie war fast neun Jahrzehnte ein Museum, zeigt aber noch heute (seit 2020 wieder) als Moschee figurative Spuren aus ihrer Zeit als christlicher Kirche.

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Abb. 31: Heilige Veronika mit Tuch, Meister der Veronika, 1425, Öl auf Holz, Alte Pinakothek, München

Abb. 32: König Abgar V. erhält das Mandylion, Anonym, nach 944, Encaustische Malerei, Kloster der Heiligen Katharina, Ägypten

Konservative und orthodoxe Juden verbieten immer noch, basierend auf dem jüdischen Gesetz Halacha, bestimmte Arten von Bildern. Dennoch gibt es die Tradition einer figurativen Praxis, z. B. in den Manuskripten mittelalterlicher Thoras. Generell gilt, dass Gott nicht dargestellt werden darf, sakrale Bilder können jedoch erstellt werden. Es geht darum, Götzendienst zu verhindern, nicht aber um eine generelle Bild- oder Kunstfeindlichkeit. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird auch der Begriff der jüdischen Kunst verwendet (Kraus, 1901, S. 45). Das Christentum fand sehr früh einen fantasievollen, aber letztlich machtorientierten Weg, um das Problem des Darstellungsverbots zu umgehen. Ausgehend von der Idee der Existenz eines autoritativen und heiligen Bildes formulierte die frühchristliche Kirche das Problem als Gegensatz zwischen Kopie und Original neu. Die Erfindung eines ursprünglichen unerklärlichen göttlichen Bildes setzt sich, wie in der antiken und modernen Philosophie, mit dem Problem der Wahrheit von Bildern auseinander, hier jedoch in Bezug auf ihre Verwendung und Wirkung im religiösen Kontext. Um die Wahrheit des Dargestellten zu garantieren, erfand das Christentum zwei Bildtypen mit angeblich göttlichem Ursprung: das Vera-Ikon der westlichen und das Mandylion der östlichen orthodoxen Kirche. Da sie vermeintlich nicht von Menschenhand

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hergestellt wurden, werden beide acheiropoieton genannt, griechisch für „nicht von Hand gemacht“. Es sind Bilder, die durch ihren göttlichen Ursprung autorisiert sind, was ihnen das Recht verleiht, außerhalb jeden Verbots zu existieren. Aufgrund ihrer wundersamen Herkunft bauen sie erneut eine Brücke zwischen dem Intelligiblen (der göttlichen Weisheit) und dem Sensiblen (der irdischen Welt) und heben gleichzeitig den Unterschied zwischen Körper und Bild auf. Konsequenterweise werden Vandalismus und Zerstörung religiöser Bilder als direkte Aggression gegen die dargestellten Figuren verstanden. Obwohl es im Islam und im Judentum keine solchen Bilder gibt, gilt die gleiche direkte Beziehung zwischen Bild und Repräsentation. Gemäß einer Legende des 11. Jahrhunderts zeigt das Vera-Ikon in verschiedensten Varianten die Heilige Veronika mit dem „wahren“ Bild Jesus. Es ist ein Tuch, mit dem sie ihm während seines Wegs zur Kreuzigung auf Golgatha das Gesicht reinigte und auf dem sich dann auf wundersame Weise sein Gesicht verewigte. Die Ostkirche hingegen erfand das Mandylion, dessen Geschichte viel älter ist und bis ins 1. Jahrhundert der christlichen Ära zurückreicht. Es erschien ebenfalls auf einem Tuch – nicht durch direkten Kontakt, sondern auf noch wundersamere Weise von ganz allein. Es wurde Abgar V. von Edessa angeboten, der als erster christlicher König gilt. Er hatte Jesus eingeladen, um ihn von einer Krankheit zu heilen. Einer seiner Jünger überbrachte ein Bild des Gottessohns, das ihn heilte und somit seine Kraft bewies. Ein Fresko aus dem 10. Jahrhundert im Katharinenkloster auf dem Berg Sinai in Ägypten zeigt die Übergabe des Bildes. Es stammt aus einer Zeit, in der sich das Abgarbild in den östlichen Kirchen rasant ausbreitete. Wenn man darüber nachdenkt, handelt es sich bei der wundersamen Heilung um eine ähnliche Idee der Übertragung von Heilenergie, wie wir sie beim kongolesischen Nkisi gesehen haben. Nur dass das Nkisi als Fetisch abgeurteilt wurde und seine Wirkungsmacht vermeintlich auf magischem Denken aufbaut. Dabei könnte man behaupten, dass der Glauben an die Kraft und die Entstehung des Mandylion tatsächlich auf magisches Denken zurückgeht, da es ein Wunder wirkt  – das Nkisi vermittelt Energie  – und sich außerdem auch selbst reproduzieren kann. Das Christentum glaubt bekanntlich an Wunder, bezichtigt aber fälschlicherweise andere Kulturen des magischen Denkens, obwohl diese von fließenden Grenzen und der Vermittlung von Energie zwischen Sichtbarem und Nichtsichbaren ausgehen. Der Glaube an die Macht der Bilder oder an die Energie der Skulpturen ist heute ungebrochen, auch jenseits spiritueller oder religiöser Kontexte. Ein aktuelles Beispiel sind Karikaturen, insbesondere religiöser Persönlichkeiten. Während das Zeitalter der Aufklärung und die Säkularisierung des Staates und der Kultur einen Wandel in der westlichen Sensibilität gegenüber religiösen Bildern bewirkte und satirische Darstellungen zulässt, wurde das im Koran inexistente, aber dennoch oft praktizierte Repräsentationsverbot des Propheten Mohammed im 20. Jahrhundert durch Fundamentalisten revitalisiert. Heutzutage ist jede Art von humorvoller oder kritischer Darstellung nicht mehr akzeptabel. Im Gegenteil, sie wird oft politisch verfolgt, etwa durch eine Fatwa – ein Todesurteil, das bei Verbrechen gegen den Islam ausgesprochen wird. Berühmt war die Fatwa von Ayatollah Ruhollah Khomeini, dem ehemaligen obersten Führer des Iran gegen den indischen Schriftsteller Salman Rushdie im Jahr 1989, da sein Roman Die Satanischen Verse als blasphemisch angesehen wurde.

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Im Jahr 2015 war die Welt über die Ermordung der Karikaturisten der französischen Zeitschrift Charlie Hebdo, die den Propheten Mohammed verunglimpft hatten, entsetzt. Das Cover des Magazins, das erschien, nachdem Terroristen in die Büros der Zeitschrift eingedrungen waren und zwölf Menschen getötet hatten, ist Ausdruck des Wunsches nach Frieden in diesem Bilderkrieg. Die Karikatur zeigt einen geschockten Mohammed, der sich auf die Seite der Zeitschrift stellt und ein Schild mit der Aufschrift „Ich bin Charlie“ hält, dem Slogan, mit dem weltweit Solidarität mit den ermordeten Karikaturisten bekundet wurde. Der Titel verzichtet auf bissigen Humor und verweist vielmehr auf christliche Gnade, denn „Alles ist vergeben“ steht in denselben Buchstaben geschrieben. Zum ersten Mal wird der Prophet in Charlie Hebdo nicht als Sexist oder Gewaltverbrecher verunglimpft oder außerhalb westlicher Moral positioniert. Anstelle eines aggressiven Abb. 33: „Tout est pardonné“, 2015, Zeitschriftencover Bildes entschied man sich, die Bildermacht zu von Renald Luzier, Charlie Hebdo, Nr. 1178 befrieden. Dies bezeugt erneut die Macht der Bilder sowie ihre zweideutige Rolle in einem gesellschaftspolitischen Konflikt zwischen säkular-westlichem und religiös-muslimischem Denken. Im vorherigen Kapitel habe ich darauf hingewiesen, dass es im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrere Versuche in der westlichen Philosophie gab, die Macht der Kunst zu nutzen, um die Lücke, die das analytisch-historisierende Denken zwischen Mensch und Welt im Kontext der Kolonialität geöffnet hat, wieder zu schließen. Heidegger griff auf die Begriffe technē und ale¯󼀖 theia zurück, um Kunst mit Wissen zu assoziieren und ihre Fähigkeit zu bezeugen, die Wahrheit zu enthüllen. Deleuze und Guattari versuchten ebenfalls, die Lücke zwischen Bewusstsein und Erfahrung zu schließen, indem sie Kunst als fähig ansahen, in Affekten und Perzepten zu denken. Flusser hingegen behauptete, technologisch codierte Bilder könnten am besten die Kluft, die die Schrift zwischen den Menschen und ihrer Welterfahrung aufgerissen hat, überwinden. Schließlich fand Sloterdijk in der Kunst die höchste Form der Dezentralisierung und Reintegration des Selbst in die Welt. Die Philosophie kennt demnach nicht nur die Angst, sondern auch die Begeisterung für Kunst. Ich zeigte schon, dass Aristoteles in der Poetik der Erste war, der einen Schritt in Richtung Anerkennung der positiven Kraft der Kunst machte. Er prägte mit der Mimesis einen Begriff, der uns bis heute begleitet, und problematisierte mit ihm das Argument seines Meisters Platon, wonach die Kunst nicht in der Lage sei, die Wahrheit zu sagen. Tatsächlich löste er das Problem, indem er feststellte, dass die Wahrheit der Kunst unwahr sei.

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Während Platon die Kunst großteils ablehnte, weil sie nur der Schein einer unbegründeten oder falschen Wahrheit sei – im besten Fall didaktisch –, erhielt das Wahrheitsproblem für Aristoteles, der sich der Kunst in Poesie und Tragödie widmete, eine neue Perspektive. Dies war möglich, da er sie mit der Nachahmung menschlichen Handelns verband. In Anlehnung an Platons Idee, dass Kunst niemals nur eine Nachahmung der Wirklichkeit, sondern immer eine schöpferische Ergänzung sei, verstand Aristoteles die Mimesis als eine natürliche, instinktive Tendenz des Menschen, die seinen Unterschied zur Tierwelt markiere. Ein Gedanke, der heute wieder in der Bildtheorie auftaucht. Aristoteles hat diesen Unterschied nicht nur als Erster angedeutet, er hat Kunst und Wissen auch zwingender verknüpft als Platon. Aristoteles wies auf zwei Gründe hin, warum Nachahmung Wissen hervorbringt: zum einen, weil sie die intelligible Welt sensibel mache; und zum anderen, weil dies Lust erzeuge, die wiederum die sensible Welt mit der intelligiblen verbände: Denn das Nachahmen ist ein Teil des dem Menschen von seiner Natur her eigentümlichen Verhaltens, und zwar von Kindheit an – ja gerade dadurch unterscheidet sich der Mensch von den anderen Lebewesen, dass er die größte Fähigkeit zur Nachahmung hat; auch die ersten Lernschritte macht er durch Nachahmen –, und auch, dass alle Freude an Nachahmungen empfinden, gehört zur Natur des Menschen. (Aristoteles, 2008, S. 6)

Aristoteles kannte keinen Konflikt zwischen Intelligiblem und Sensiblem, zwischen Wissensproduktion und lustvoller Rezeption. Er verwies in der Tat auf verschiedene Wege zur Erkenntnis und die Kunst erkannte er zweifellos als einen von ihnen: „Ursache auch dafür ist, dass etwas zu erkennen nicht nur für Philosophen höchste Lust ist, sondern genauso auch für alle anderen – freilich ist ihr Anteil daran beschränkt.“ (Aristoteles, 2008, S. 6) In seiner Bewertung der aristotelischen Theorie analysiert Alain Badiou ein weiteres seiner Konzepte zur ästhetischen Erfahrung, nämlich die Rezeption der Tragödie, die kátharsis, eine Reinigung der Seele durch emotionale Entladung. Aufgrund ihrer Fähigkeit unsere Emotionen anzuregen und sie dann zu lindern, beteiligte sie sich an dem, was Badiou (2001, S. 10) ein „klassisches Schema“ nennt und das im aristotelischen Friedensvertrag zwischen Philosophie und Kunst bestehe. Wie bereits bemerkt, sieht der Autor in Aristoteles Theorie vorrangig eine therapeutische Funktion, was seiner Meinung nach die Kunst letztlich zum öffentlichen Nutzen und für die Behandlung von Affekten degradiere. Wie ich zu zeigen versuchte, widerspricht dies aber Aristoteles Ideen zur Kunst als Quelle von Wissen. Michel Haar (2000, S. 30) kommt zu einem ähnlichen Schluss, wenn er den Unterschied zwischen Platon und Aristoteles betont: „Im Gegensatz zu Platon ist [für Aristoteles] Kunst nicht Unwissenheit, sondern Erweiterung des Wissens“. Während Platon das Bild von Huntington gutheißen würde, weil es die Rolle des Philosophen und die Welt der Ideen aufwertet, hätte Aristoteles kein Problem, an Stelle des Gelehrten einen einfachen Menschen zu setzen, da er jeden als fähig ansah, sich Wissen durch Kunst aneignen zu können. Die Rolle des Philosophen als Interpreten wäre nicht erforderlich, so wie sie auch in außereuropäischen Kulturen nicht vorkommt. Ich habe bereits mit Bredekamp argumentiert, dass es falsch wäre, einfach zu sagen, dass Platon gegen die Kunst und Aristoteles für sie war. Platon erkannte ihre Macht

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zumindest in einem seiner Texte an. Aristoteles teilte seine Sichtweise, arbeitete sie jedoch aus, um der Kunst eine positivere Wirkung zuzuerkennen. Zweifellos war beiden Autoren das Verhältnis von Wissen, Wahrheit und Kunst bewusst, auch wenn sie zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen kamen. Wir können deshalb zusammenfassen, dass für Platon und Aristoteles, die die Kunsttheorie im Westen einführten und nachhaltig prägten, Kunst entweder das Wissen erweiterte oder sie einen Weg dorthin darstellte. In außereuropäischen und vorgriechischen Kulturen wäre dies kein Grund, sich den Kopf zu zerbrechen, da es als Binsenweisheit gelten kann.

Vom Ikonoklasmus Mit den Reflexionen zur Kunst kamen auch Kunstverbote, wenn auch etwas später. Sie waren vor allem mit der Ausübung politischer Macht durch die Verknüpfung von Staat und christlicher Religion verbunden. Bredekamp (2015, S. 206) bemerkt, dass dies eine direkte Folge der Idolatrie sei, die ich bereits in Bezug auf die acheiropoieta diskutiert habe. Tatsache ist, dass die Verfolgung und das Verbot von Bildern, die während des

Abb. 34: Buddhistische Statue, 6. Jahrhundert, vor und nach der Zerstörung durch die Taliban 2001, Sandstein, Bamiyan, Afghanistan

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Abb. 35: Entfernung einer Lenin-Statue in Kharkiv, Ukraine

Bildersturms im 8. Jahrhundert – einer Phase intensiver Auseinandersetzung um die Verwendung von Bildern, die von byzantinischen Kaisern eingeleitet wurde – zur Zerstörung von Kunstwerken als politischem Akt führte und dass diese Art des Vorgehens bis heute andauert. Der Bilderkrieg war vielleicht noch nie so intensiv wie in den zeitgenössischen Medien, die als ständiges Schlachtfeld für religiöse und politische Ideen dienen, wie wir im Fall von Charlie Hebdo, aber auch im ersten Kapitel in Bezug auf die Debatte um die Dekolonialität gesehen haben. Dass man heute mit Facebook, Whatsapp etc. Wahlen gewinnen kann, ist ein starkes Indiz. Im Lauf der Geschichte war Kunst immer ein wichtiges Instrument in politischen und religiösen Umwälzungen und der mit ihnen verbundenen Kriegsführung. Neben dem Ikonoklasmus des 8. Jahrhunderts sind Beispiele u. a. bereits im römischen Reich, während der Reformation in Deutschland, der Französischen Revolution oder auch, im Falle Brasiliens, zur Zeit der holländischen Invasion 1624 zu finden. Es kam zu Plünderungen von Tempeln und Kirchen und zur Zerstörung von Sakralgegenständen. Ein aktueller Fall, der zeigt, wie Kunst im Kontext politisch-religiöser Konflikte instrumentalisiert werden kann, ist die Zerstörung der buddhistischen Statuen im Bamiyan-Tal, in Afghanistan, einem UNESCO -Weltkulturerbe, durch die Taliban im Jahr 2001. Ikonoklastische Aktionen, die mit dem Ende totalitärer Regime zusammenhängen, werden von den betroffenen Gesellschaften zumeist mit großer Einstimmigkeit angenommen. Als die Sowjetunion zusammenbrach, wurden Tausende von Statuen politischer Führer, vor allem Lenins und Stalins, in den Ostblockstaaten aus ihren Fundamenten gerissen, um das Ende einer Ära durch die Zerstörung ihrer Bilder kenntlich zu machen. Damit wurde der Niedergang ihrer Omnipräsenz im öffentlichen Raum deutlich. In der Ukraine wurden z. B. 1.320 Lenin-Statuen entfernt.

Vom Ikonoklasmus

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Abb. 36: Installation von Ai Weiwei vor der Zerstörung, Perez Museum, Miami, 2014

Obwohl Ikonoklasmus häufiger aus religiösen oder politischen Gründen resultiert, gibt es auch ästhetische Auslöser, die der gleichen Prämisse folgen: dem Wunsch, eine direkte Wirkung auf eine Person oder ein System zu haben. In der Öffentlichkeit werden nicht nur Nationalflaggen und Puppen von Politikern als Protest gegen Hegemonien und Ideologien verbrannt, es gibt auch Angriffe auf die Gemälde berühmter Künstler:innen in Museen oder Galerien. Die Mona Lisa (1503) von Leonardo da Vinci und Die Nachtrunde (1642) von Rembrandt van Rijns (1606–1669) sind nur zwei der zahlreichen Gemälde, die mit Messern, Säure oder Tinte attackiert wurden, weil Betrachter:innen aggressiv auf sie reagierten. Im Jahr 2014 zerstörte ein mexikanischer Einwanderer im Perez Museum in Miami antike Urnen, die vom chinesischen Künstler Ai Weiwei mit poppigen Farben bemalt wurden. Sie waren Teil einer Werkausstellung, zu der auch eine Fotoserie gehörte, in der der Künstler im Rahmen der Performance Drop a Han Urn, von 1995, absichtlich eine alte chinesische Urne auf den Boden fallen ließ. Der aggressive Akt des Museumsbesuchers gegen die modernisierten Urnen war in der destruktiven Handlung des Künstlers inspiriert. Der Unterschied lag im Eigentumsverhältnis, denn der Künstler zerstörte etwas wertvolles, das er selbst besaß. Dem mexikanischen Einwanderer, der ein Werk beschädigte, das ihm nicht gehörte und das auf dem Kunstmarkt von hohem Wert ist, wurde hingegen Vandalismus vorgeworfen. Zu seiner Verteidigung machte er einen kulturpolitischen Grund geltend: Er wollte, dass das Museum lokale und nicht globale Kunst zeige. In der internationalen Presse ließ die Geschichte Zweifel an Ai Weiweis ikonoklastischer Geste aufkommen. Obwohl er ein

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politischer und ökologischer Aktivist ist, der deshalb schon oft in China festgenommen wurde, ist er auch einer der berühmtesten und bestbezahltesten Künstler unserer Zeit und kann es sich leisten, die Welt zu schockieren, indem er alte chinesische Kunstwerke zerstört, während ein armer mexikanischer Immigrant von der Justiz verfolgt wird, wenn er ein politisches ikonoklastisches Statement abgibt. Ikonoklasmus drückt die unterschiedlichsten Konflikte in Bezug auf religiöse, kulturelle, politische und ästhetische Weltsichten aus. Er dient sowohl zur Unterdrückung als auch zur Rebellion. Missionare in Amerika, Afrika, Asien und Ozeanien haben immer Kunst zerstört, weil sie sie mit Magie und Heidentum in Verbindung brachten. Jeder Bildersturm besteht somit aus dem Versuch, eine äußere Wahrheit sowohl symbolisch als auch gewaltsam durchzusetzen. Im kolonialen Kontext sind ganze Kulturen dadurch vernichtet worden, da ihnen die Legitimität von dem sie zerstörenden System entzogen und ihre weitere Praxis unmöglich gemacht wurde. Kolonialität, Politik und Religion sehen folglich in der Zerstörung von Kunst ein Mittel, den Gegner anzugreifen und dessen Weltsicht in seinen Grundfesten zu erschüttern. Es sei angemerkt, dass es in außereuropäischen Kulturen keinen Ikonoklasmus gibt. Objekte werden nur zerstört, nachdem sie ihren Dienst in einem Ritual erfüllt haben (Lagrou, 2009), oder wenn sie keine Antwort mehr geben (Wiredu, 1996). Der Ikonoklasmus wurde eingeführt, als erkannt wurde, dass Kunst ein wichtiger Bestandteil politischer und religiöser Kriegsführung ist. Obgleich die Philosophie zweifelsohne das diskursive Fundament für Verfolgung und Zerstörung schuf, war sie nie so radikal und hat nie Bildersturm gepredigt. Ihr Interesse lag in der Kontrolle der Kunst, oder im Versuch, sie durch die Bedeutung der Intelligibilität und ihr Studium zu entmachten. Denn Philosophie hatte, wie beobachtet, eher einen didaktischen Anspruch an die Kunst. Badiou (2001, S. 12) sieht dementsprechend die unterschiedlichen westlichen philosophischen Schemata auch als erzieherische Programme. Platons Schema beschreibt er als Erziehungsüberwachung und das aristotelische als Erziehung des Subjekts. Am Ende des Absolutismus, als der Kolonialismus und die Sklaverei in der Neuen Welt ihren Höhepunkt erreichten und sich das analytisch-historisierende Denken etablierte, schlug das romantische Schema, das später bei Heidegger nachhallte, seinerseits eine subjektive Erziehung vor und erklärte die westliche Kunst zum einzigen Weg zur Wahrheit. In den Schriften des deutschen Dramatikers Friedrich Schiller (1759–1805) nahm diese Idee philosophisch-politische Ausmaße an. Denn Schiller vertrat die Idee einer emanzipatorischen Kunst. Sie wurde zur Zeit des Faschismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Schriften des deutschen Philosophen Walter Benjamin und des Dramatikers Bertolt Brecht dann noch stärker hervorgehoben und von der Konzeptkunst und später von dem bereits genannten Rancière in die Philosophie übernommen. Zuvor hatte der deutsche Idealismus jedoch die Ästhetik erfunden und somit der Macht der Kunst dauerhaft Schaden zugefügt. Denker des 20. Jahrhunderts versuchten dieser Haltung dann wieder entgegenzuwirken. Keiner von ihnen tat dies jedoch mit einem Blick auf außereuropäische Kunst, deren Macht noch viel tiefgreifender von der Kolonialität beschädigt worden war. Diese Beschädigung fand nicht nur durch Zerstörung und Stigmatisierung statt, sondern auch durch Synkretisierung und Folklorisierung, wovon im letzten Kapitel über brasilianische Kunst noch zu reden sein wird. Ich wende mich jetzt dem Schaden, den die Ästhetik verursacht hat, zu.

Vom Ikonoklasmus

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Zur Unterdrückung der Kunst durch Ästhetik und Kunstmarkt In den 1735 von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) verfassten Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes bezeichnete der Autor erstmals die Ästhetik als Wissenschaftsform. Er bezweckte damit, das neue Studium der Logik mit Überlegungen zur Schönheit in der Kunst zu verbinden. Durch die Verwendung der Schlüsselbegriffe Schönheit und Geschmack wollte er Urteile auf der Grundlage der Sinne und nicht des Intellekts ermöglichen. Es ging ihm nicht um Fragen individuellen Geschmacks, sondern, wie schon Aristoteles, um neue Parameter zur Aneignung von Wissen durch die Kunst, die er der Rationalität gleichsetzte. Baumgarten entwarf de facto mit seinem Interesse für das Sensible eine mögliche Alternative zum analytischhistorisierenden Denken. Obwohl diese Idee später von Künstler:innen und Kunsthistoriker:innen aufgegriffen wurde, hatte sie im frühen 18. Jahrhundert keinen Erfolg. Denn zwei der berühmtesten deutschen Philosophen, Kant und Hegel, setzten Baumgartens Methode eine Herangehensweise entgegen, die sich weniger dem Sensiblen als der Zentralität des Subjekts und seiner Wahrnehmung zuwandten. Gemäß dem kolonialistischen Klima der Zeit, das wie gesagt von Foucault übersehen wurde, führten sie somit den eingeschlagenen Weg der Rationalität und der analytisch-historisierenden Methode fort. Die Ausbeutung der amerikanischen Kolonien, die Unterwerfung afrikanischer Könige und die Versklavung ihrer Bevölkerung, der Genozid und die Versklavung der indigenen Einwohner Amerikas blickten zu dieser Zeit bereits auf eine lange Geschichte, die Europa und ihr Selbstverständnis maßgeblich geprägt hatte, zurück. Denn die europäische Identität hatte sich entscheidend durch die Begegnung mit den Anderen formuliert und behauptet. Deshalb darf der koloniale Zusammenhang des deutschen Idealismus, der kaum je genannt wird, nicht unterschätzt werden. Im Gegenteil, er kann nicht deutlich genug gemacht werden. José Lingna Nafafé erinnert daran mit Nachdruck: Europa lernte seine eigene Subjektivität durch seine Begegnungen mit Anderen kennen. Es erlangte nicht nur Selbsterkenntnis, sondern etablierte auch seine unverwechselbare Identität (Strath, 2002, S. 483–498). Europa wurde in seiner politischen und weltanschaulichen Dimension nicht nur im Verhältnis zum Rest der Welt geprägt, sondern auch von ihm geschaffen. Auf die gleiche Weise wurde Afrika „erfunden“ oder in einem anderen Licht dargestellt (Mudimbe, 1988; Mengara, 2001). (Lingna Nafafé, 2012, S. 59)

Deutschland hatte zwar vergleichsweise geringe Präsenz in Afrika und der Neuen Welt, nahm aber seit dem 16. Jahrhundert aktiv am Seehandel und an der Besetzung und Besiedlung sowie am Sklavenhandel teil. Da die deutsche Geschichte sich im 20. und 21. Jahrhundert in Bezug auf Gräueltaten zumeist auf den Holocaust konzentriert, wird dies gern vergessen und als unwesentlich abgetan. Dabei ist die historische Verknüpfung der unterschiedlichen europäischen Königshäuser mit dem Kolonialismus als deren gemeinsames Projekt von großer Bedeutung. Das selbe gilt für die Dehumanisierung während der Sklaverei und dem Holocaust.

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Karl V. (1519–1556) führte als deutscher Kaiser des Heiligen Römischen Reichs die spanische Kolonialisierung Amerikas im 16. Jahrhundert fort. Die Besiedlung Venezuelas (Klein-Venedigs) war eine der Initiativen, die er durch den Erlass einer Charta, um das berühmte El Dorado zu finden, anregte und von den Welsern finanziert und ausgeführt wurde. Im 17. Jahrhundert unterstützte der Großfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Preußen (1620–1688) durch seine enge Verflechtung mit dem holländischen Königshaus, das 1648 aus dem Heiligen Römischen Reich ausgeschieden war, kolonialistische Tätigkeiten im Rahmen der Niederländischen Ost- und Westindien Kompanien durch und profitierte maßgeblich von ihnen. Auch hatte Brandenburg drei kleine afrikanische Kolonien mit Forts: Arguin (1685–1721) im heutigen Mauretanien, Groß Friedrichsburg (1681–1725) im heutigen Ghana, und Whydah (um 1700) im heutigen Benin. Man nimmt an, dass von der Festung Groß Friedrichsburg, die von Brandenburg erbaut wurde und später in holländische und englische Hände fiel, mehr als 300.000 Afrikaner als Versklavte nach Amerika verschifft wurden. In der Karibik hatte Brandenburg Besitzungen auf St. Thomas und der Krabbeninsel. Im 18. Jahrhundert vermietete Herzog Karl Eugen von Württemberg (1728–1789) Truppen an England und die holländischen Kompanien, u. a. zur Besiedelung von Kapstadt. Dies sind nur die bekanntesten Beispiele deutscher kolonialistischer Aktivitäten vor der berühmteren, aber ebenfalls verdrängten Kolonialisierung Afrikas im 19. Jahrhundert, die mit Handelshäusern begann und dann zur Gründung der Kolonien Kamerun (1884–1919), Togo (1884–1915), Deutsch Ost-Afrika (1885–1919, Burundi, Ruanda und Tansania) und Deutsch Süd-West-Afrika (1884–1915, Namibia) führte. Das deutsche Kaiserreich unter Wilhelm I., Friedrich III . und Wilhelm II . zeichnete sich wie alle anderen europäischen Kolonialherrschaften durch Ausbeutung der Ressourcen, Versklavung, Vergewaltigung, Kulturzid und Genozid aus. Die Kolonien wurden nach dem 1. Weltkrieg im Friedensvertrag von Versailles vom Kriegsverlierer Deutschland an Frankreich, Großbritannien und Südafrika abgegeben. Doch zurück zum deutschen Idealismus und seinem Beitrag zum Kolonialismus, u. a. durch den Begriff der Ästhetik, und dem damit verbunden transzendentalen europäischen Selbstverständnis. In Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft von 1790 hat die Ästhetik vornehmlich die Aufgabe, wie schon bei Platon, die Transzendentierung des Sensiblen durch die Vernunft zu bewerkstelligen. Kant (2008) etablierte dementsprechend, dass die Beziehungen des Subjekts zu Welt und Wissen über Rationalität (als universellem Wahrheitsregulator) und Ästhetik (als philosophischer Disziplin, die die universelle Empfindsamkeit reguliert) definiert würden. Die Dimension des Intelligiblen wurde dabei nicht mehr als Ideenwelt verstanden, sondern entsprechend den sich vollziehenden gesellschaftspolitischen Veränderungen von Monarchie zu Republik, durch die Ideale Moral und Freiheit ersetzt. Diese hohen Leitbilder waren jedoch, wie ich gleich zeigen werde, auf die europäische Identität beschränkt und aus dem (unterschlagenen) Wissen um den Konflikt mit kulturell Anderen dialektisch erklärt. Denn die Entwicklung des klassischen Denkens und seines Programms, die Welt zu analysieren und als Mathesis darzustellen, fiel nicht nur mit dem Ende des Absolutismus und der Französischen Revolution zusammen, sondern eben auch mit der Entwicklung des europäischen Selbstverständnisses durch die Begegnungen mit und Unterwerfung anderer Kulturen im Kolonialismus.

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Kants Versuch bestand demnach hauptsächlich darin, eine im Subjekt verankerte universelle Theorie der sinnlichen Wahrnehmung zu entwickeln, die jegliche Referenz zum Nichtsichtbaren kappte und somit die Bedeutung von Religion und Kunst ein für allemal auf die Philosophie übertrug. Um diese universelle ästhetische Theorie einzuführen, verwendete Kant den Begriff der ästhetischen Urteilskraft/Geschmacks. Die ästhetische Urteilskraft wurde als Möglichkeit definiert, durch ästhetische Erfahrungen des Schönen und Erhabenen in Natur und Kunst den Menschen für die universelle Moral empfänglich zu machen: „Das Schöne bereitet uns vor, etwas, selbst die Natur, ohne Interesse zu lieben; das Erhabene, es, selbst wider unser (sinnliches) Interesse, hochzuschätzen.“ (Kant, 1963, S. 190) Diese neue Definition veränderte die menschliche Identität, indem sie Gläubige zu moralischen Menschen machte und die in der christlichen Religion vorgegebenen Gesetze durch Ethik ersetzte. Diese Ethik hatte jedoch weder eine genaue Definition noch Grenzen, da sie als universelle Moral dem Subjekt a priori bekannt war und deshalb nicht auf eine Formel reduziert werden konnte. Der Mensch wurde zum transzendentalen Subjekt. Damit war er nicht mehr von einem transzendenten Gott abhängig und musste auch nicht mehr erlöst werden, sondern hatte durch Natur und Kunst Zugang zur höchsten Sphäre: der Moral. Die Idee einer universalen Ethik ist der Akan Philosophie sehr nah, wie wir in der kritischen Auseinandersetzung Wiredus (1996) mit Universalien und Besonderheiten gesehen haben. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass Kants Projekt, wie die brasilianische Philosophin Denise da Silva (2019, S. 39) feststellt, auf der Idee einer Trennung basierte. D. h. es beschäftigte sich ausschließlich mit den Dingen der hiessigen Welt und trennte sie von anderen, nichtsichtbaren oder spirituellen Dimensionen ab, die für nichtig erklärt wurden: „Alle anderen Kategorien in Bezug auf die Dinge der Welt bleiben unzugänglich und daher für das Wissen irrelevant.“ (Silva, 2019, S. 39) Das transzendentale Subjekt erfasst in diesem Model die Dinge nur mit dem Verstand. Es braucht nichtsichtbare Entitäten nicht mehr, sei es ein übermenschlicher, christlicher Gott oder Ahnen und Naturgeister. Dadurch kam es in der scheinbar zentralen Bedeutung der menschlichen Wahrnehmung zu einer Reduktion derselben auf das Sehen, das direkt zum Denken führe. Laut Mignolo und Vazquez (2013) wurden von Kant die Ästhesien, die die visuellen, auditiven, gustatorischen, haptischen oder synästhetischen Erfahrungen umfassen, durch die nun als im Subjekt verankerte und somit rationalisierte Ästhetik kolonialisiert. Generell wurde das von Foucault schon wahrgenommene Projekt einer Entsakralisierung und Entmystifizierung der Welt weitergeführt. Dies steht in starkem Gegensatz zu anderen Epistemologien, wie etwa der Auffassung der Bantu-Kongo, die Fu-Kiau (2001, S. 38–39) folgendermaßen beschreibt: „Nichts im Leben der kongolesischen Gesellschaft geschieht außerhalb ihrer kosmologischen Praktiken.“ Wir haben schon mehrfach gesehen, dass dies auch für Indigene in Brasilien gilt. Da Kants Herangehensweise universalen Anspruch hatte, wurden automatisch alle anderen Epistemologien, die auf dem Kontakt mit dem Nichtsichtbaren aufbauen und deren Kunst und Kultur in Zeremonien und Übergangsriten mit Tanz, Musik, Körperbemalung und Inkorporation von nichtsichtbaren Energien usw. nicht nur das Diesseits bejahen, sondern auch alle sinnlichen Wahrnehmungen ansprechen, als irrational abgestempelt. Es ist kein Zufall, dass dies zu einem Zeitpunkt geschah, an dem das europäische Subjekt durch dreihundert Jahre Kolonialisierung und Sklavenhandel und basierend

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auf seiner behaupteten kulturellen Superiorität eine jetzt durch revolutionäres Gedankengut bedrohte Vormachtstellung verteidigen musste. Die transzendentale Philosophie und ihre Kunsttheorie waren nichts anderes als die theoretische Zusammenfassung des Wunsches einer Fortführung der Unterdrückung Anderer, obgleich sie behaupteten, das genaue Gegenteil zu tun. Es überrascht nicht, dass die neue ästhetische Theorie vom Verschwinden jeglichen Interesses an Kunst begleitet war, denn deren Macht war seit Platon ja gefürchtet. Michel Haar stellt treffend fest, dass sich die Idee des ästhetischen Urteils eben nur noch auf die philosophischen Reflexionen konzentrierte. Das Kunstwerk wurde gar nicht mehr in Betracht gezogen: Das ästhetische Urteil weicht naturgemäß von jeder Betrachtung des Objekts ab und kümmert sich nicht darum, ob es sich um ein Kunstwerk oder um Naturschönheiten handelt. Die Geschmacks- oder Schönheitsfragen (…) sind dagegen ein „reflektierendes“ Urteil, durch das wir eine notwendige Verbindung zwischen einer Repräsentation und einem Lustgefühl finden. (Haar, 2000, S. 33)

Die Schlüsselidee war, dass das ästhetische Urteil über Natur und Kunst Zugang zu einem universellen Gefühl ermöglichte, einer übergeordneten, dem transzendentalen Subjekt zugänglichen Vernunft. Die war vollkommen esoterisch, denn sie hatte keine Praktikabilität oder ein Interesse am täglichen Leben, wie es etwa bei den Bantu-Kongo oder Akan der Fall ist. Dabei wurde die universelle Moral als grundlegendes Element für den Austritt der Menschheit aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit  – sprich Religion  – angesehen, ohne vorgeschriebene oder definierte Handlungen, um diesen emanzipatorischen Weg zu beschreiten. Kants Moral behauptete somit eine abstrakte, von der Realität losgelöste und übergeordnete Intelligenz des europäischen Menschen ohne konkrete Anwendung, zeitgleich mit dem Wunsch, die Entmenschlichung der Bevölkerungen Afrikas und Amerikas aufrechtzuerhalten. Didi-Huberman (2000, S. 99) interpretiert Kants Konzept des ästhetischen Urteils wesentlich positiver, als sich „eng an die Ursprungsforderung Platons anlehnend, in der das Verhältnis zu den Künsten variiert wird.“ Im Gegensatz zu Platon, der Ideen nicht als von den Sinnen abgeleitet ansah, hätte Kant die Kunst als ihren eigentlichen Ausdruck verstanden. Wir haben bereits gesehen, dass Bredekamps Lesart der „Allegorie der geteilten Linie“ eine andere Auffassung Platons von der Beziehung zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen vertritt als Didi-Huberman es darstellt. Unabhängig von diesen unterschiedlichen Interpretationen ist wichtig, dass Platons Vorstellung mit dem politischen Streben nach einem vollkommenen Staat verbunden war, in dem Kunst als Zugang zu den Ideen dienen konnte, aber eigentlich gemaßregelt gehörte. Ich erinnere auch, dass Aristoteles der Meinung war, dass Kunst immer einen Nutzen in Bezug auf Wissen oder die Reinigung der Seele und somit eine wichtige Funktion für die Gesundheit der Polis habe. Im Gegensatz zu Aristoteles blieb Kants Ansatz wie bei Platon abstrakt (a priori) und politisch totalitär. Die Freiheit behauptend, ging es bei dieser Freiheit nur um einige wenige: die Europäer und ihr seit Platon bestehendes Projekt der Rationalität und Dominanz. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Kant stärker auf den möglichen Zugang zum Intelligiblen durch das Sensible setzte. Vielleicht, weil er anders als Platon

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auf achtzehn Jahrhunderte christlicher Kunst zurückblickte, die immer versuchte, dies zu ihrem Vorteil zu nutzen. Dazu kommt, dass Kunst als Stimulus universeller Moral nur ein Teil des ästhetischen Projekts Kants war. Der andere Teil bestand in einer paradoxen Aufwertung der Künstlerrolle, die wie im Fall der Kunst letztlich deren Abwertung beförderte. Im Einklang mit anderen Autoren seiner Zeit erklärte Kant Künstler:innen als genial, da sie kein Talent hätten, das gelehrt werden könne, da „Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse“ (Kant 1963, S. 236). Antike und Renaissance hatten das noch ganz anders gesehen. Kant verglich den Künstler deshalb mit der unreflektierten Spontanität der Natur, denn er könnte „nicht sagen, woher seine Ideen kommen und wie er sie finde“ (Haar, 2000, S. 37). Er ist also nichts weiter als ein Instrument, das unfreiwillig das Intelligible ins Sensibles übersetzt. Dadurch wurde Kunst, die von einem halbbewussten Menschen gegenüber der größeren Schöpfung – der Natur – ausgeübt würde, als Zugang zur Moral zwar aufgewertet, aber auch auf eine schlafwandlerische Praxis reduziert. Die Verherrlichung der Künstler:innen und ihrer Arbeit, die in der Antike begann und in der Renaissance fortgesetzt wurde, aber noch fest ans Handwerk gebunden war, resultierte bei Kant nicht mehr aus ihrer Kompetenz als Künstler-Ingenieur:innen oder Künstler-Erfinder:innen, sondern aus ihrer eher unfreiwilligen Medialität, die eine höhere, nun moralische Bestimmung, erhielt. Verglichen mit Platon ist diese Sichtweise wiederum ein Weg, das bedrohliche Potenzial von Kunst und Künstler:innen einzudämmen. Welsch (2007) führt einen Grund an, der zu Kants Denken über Kunst und Künstler:innen führte. Unter Verwendung des Begriffs Genie und der Disziplin Ästhetik sei es möglich gewesen, die Einheit des Subjekts wiederherzustellen, die die moderne Welt nach der Französischen Revolution von 1789 zersplittert hatte. Angesichts eines tiefgreifenden gesellschaftspolitischen und religiösen Paradigmenwechsels in Europa, der mit dem Ende des Absolutismus und dem Beginn der Arbeitsteilung durch die Industrialisierung einsetzte, war die ästhetische Urteilskraft die Chance, eine Brücke zwischen der sinnlichen Realität der Phänomene und dem übersinnlichen Bereich der Moral zu schlagen. Hier muss wiederum angemerkt werden, dass der Kolonialismus ignoriert wird. Wenn man ihn bedenkt, kann man argumentieren, dass die Einheit des Subjekts auf einen möglichen Aufstand gegen das europäische Selbstbewusstsein, das in Ablehnung Anderer entwickelt wurde, reagierte. Ich werde dies noch genauer im Zusammenhang mit Hegel erläutern, der Kants ästhetisches Projekt fortführte und die Haitianische Revolution von 1791 – und somit die Bedrohung des europäischen Kolonialismus – in seinen Schriften wissentlich unterschlug. Welsch (2007) bewertet die ideen- und kulturgeschichtliche Bedeutung und Wirkung Kants letztlich negativ und wirft dem Philosophen vor, an der Degradierung der Kunst mitgewirkt zu haben. Er argumentiert, dass Kant versuchte, der Philosophie die leitende Rolle im Moment eines profunden Wertewandels und dem Rückgang des religiösen Glaubens zuzuweisen. Denn die Kunst – z. B. die gegenreformatorische des, wie Einstein sagte, manipulativen Barocks – hatte großen Einfluss gewonnen. Hegel beförderte dann in seinen Vorlesungen zur Ästhetik die Bedeutung der Philosophie weiter, indem er behauptete, sie wäre die einzige Disziplin, die in der Lage sei, die der Kunst innewohnende Wahrheit zu enthüllen.

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Nach Kants Diskussion der ästhetischen Urteilskraft als Zugang zur Moral war die von Hegel in Angriff genommene analytisch-historisierende Kunstwissenschaft ein zweiter Schritt, um die Kunst definitiv zu entthronen. Dabei ersetzte Hegel (1986) die Idee der universellen Moral durch die des noch radikaleren „absoluten Geistes“. Dieser wurde von ihm als die höchste Form der Erkenntnis angesehen, da der sich als absolut begreifende Geist die Natur aufhebe, die er wiederum als Außersichsein des Geistes verstand. Der absolute Geist wäre demnach, in einer Variation Platons, die sich selbst wissende Idee. Bevor ich auf Hegels Kunstgeschichte und – theorie eingehe, möchte ich kurz einige Bemerkungen zu seiner Rolle im Kontext der Kolonialität machen. Ich möchte damit zeigen, dass der deutsche Idealismus Teil eines größeren Projekts, nämlich der Verteidigung der europäischen kolonialen Identitätspolitik in Anbetracht revolutionärer Ereignisse war. Es ist wichtig hervorzuheben, dass der Kolonialismus und auch der Kampf gegen ihn in Europa zur Zeit Hegels ein viel diskutiertes Thema war. José Lingna Nafafé setzt sich intensiv mit Hegels Wissen um die haitianische Revolution auseinander, die 1791–1804 zur Abschaffung der Kolonialherrschaft auf der karibischen Insel führte. Er zeigt die Diskussion um Hegels Kenntnis und Unterschlagung der Revolution in seiner berühmten Phänomenologie des Geistes von 1807 auf. Es sei erinnert, dass Hegel in seinem Kapitel über „Herrschaft und Knechtschaft“ die Idee einer Dialektik der gegenseitigen Abhängigkeit als Grundlage des Selbstbewusstseins, d. h. der menschlichen Identität entwickelte. Obgleich Hegel regelmäßiger Leser der Minerva war, einer politischen Zeitschrift, die alle Ereignisse der Zeit beschrieb, ignorierte er die Implikationen der haitianischen Revolution laut Lingna Nafafé (2012, S. 61) gänzlich. Der Autor diskutiert die Begrenztheit der hegelschen Identitätstheorie und zitiert den Philosophen Emanuel Levinas, der zwei Jahrhunderte später nach der Erfahrung des Holocaust bewusst die Identität des Anderen in seine Reflexionen einbezog. Lingna Nafafé benutzt Levinas, um eine komplexere Theorie zu entwickeln, für die er dann den Begriff des Kreolischen benutzt. Sein Anliegen ist es, ihn gegen den provinziellen Eurozentrismus der Hegelschen Dialektik einzusetzen und mit dem Kolonialismus in Zusammenhang zu bringen. Im Gegensatz zu traditionellen afrikanischen Gesellschaften, die immer eine kreolische Haltung anderen Identitäten gegenüber hätten – d. h. sie versuchten sie nicht in einer Synthese aufzuheben, sondern ließen sie als gleichwertig neben ihrer eigenen stehen –, sei Hegel nicht in der Lage gewesen, den Anderen anzuerkennen, sondern ihn nur auszuschließen. Somit wäre die Theorie der Abhängigkeit zwischen Herr und Knecht, Meister und Sklave Ausdruck genau dieses Ausschlusses. Der Horizont der Synthese sei letztlich unmöglich, da sie erneut, wie im Kolonialismus, nur ein neues Machtverhältnis ausdrücke: Nicht-koloniale Begegnungen erzeugen meiner Meinung nach zwischenmenschliche, kreolische Beziehungen, die Nuancen und Komplexität verschiedener Diskurse nebeneinander stehen lassen, und über das starre Selbstbewusstsein der Hegelschen Idee von These, Antithese und Synthese hinausgehen. Kreolisch steht im Kontext der nichtkolonialen Begegnungen für multiple Diskurse, die die Fixierungen des im Anderen lokalisierten Selbstbewusstseins infrage stellen und stören. Aufgrund der Fluidität und Koexistenz dieser Diskurse werden deren Grenzen durch das eigene Selbstbewusstsein neu erschlossen. Es ist das, was Levinas den „Einbruch des Anderen“ ins Selbstbewusstsein nennt. (Lingna Nafafé, 2012, S. 63)

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Vielleicht gibt es deshalb zwei Gründe, warum Hegel bewusst die haitianische Revolution der „schwarzen“ Sklaven gegen die „weißen“ Meister in seinem fundamentalen Text ignorierte: erstens, weil dies das angeblich rationale, doch letztlich irrationale Selbstverständnis der Europäer ins Wanken gebracht hätte, und zweitens, weil die Pluralität der Diskurse, die diese Revolution versprach, seine These der Synthese gesprengt hätte: Schwarze Herren, die keine Knechte mehr sein wollten und sich unabhängig und ebenbürtig neben den weißen Unterdrückern denken konnten. Hegels (1986) Identitätsprojekt der Ausgrenzung durch seine Synthese-Ideologie ist auch in seiner Ästhetik zentral. Als er Afrika als „Kinderland“ bezeichnete, demonstrierte er seine Ignoranz in Bezug auf afrikanische Geschichte und Kunst und die Tatsache, dass ägyptische Kunst äthiopischen Ursprungs ist. Hegel unterschlug die umfangreiche und jahrhundertealte Kunst verschiedener Völker und KönigreiAbb. 37: Nok Figur, anonym, 298 v. Chr., Terrakotta, che, wie etwa der Punt (2.500–980 v. Chr.) Palacio de Santa Cruz de Valladolid und Querma (2.500–1.100 v. Chr.) in Nubien, die Königreiche Kusch und Meroe (2.500 v. Chr.–350 n.Chr.), Nok (1.500 v. Chr.–500 n. Chr.), Axum (80 v. Chr.–960 n. Chr.), die Imperien von Gahna (600–1.200 n. Chr.), Mali (1.240–1.645 n. Chr.), Zimbabwe (11.–15. Jahrhundert), Benin (12.–19. Jahrhundert), Songhai (1460–1591) und das Königreich Kongo (14.–19. Jahrhundert). Abgesehen von der Kunst hunderter anderer Völker, die nicht Teil dieser größeren Verbünde waren, die von Europäern gemäß ihrer eigenen Epistemologie als Imperien oder Königreiche verstanden wurden und deshalb bislang kaum europäische Aufmerksamkeit erhalten haben. Hegels Ästhetik hatte die Ambition, die erste philosophische Systematisierung der Kunstgeschichte zu sein. Dabei irrte er nicht nur in seiner Periodisierung und Bewertung anderer Kulturen, sondern fällte auch ein kraftvolles und vernichtendes Urteil über die Kunst seiner eigenen Zeit, die Romantik. Denn Kunst wurde von Hegel kategorisch als unwichtig abgetan: „In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes.“ (Hegel, 1986, S. 25) Der Tod der Kunst war erklärt, und die Philosophie durch die Erfindung einer neuen Disziplin, die sie bewerten und ihre Geschichte schreiben sollte, wiederbelebt. Ich werde später noch zeigen, wie Vasari als Erster das Ende der Kunst mit seiner Kunstgeschichte einläutete, indem er die Renaissance und die Unsterblichkeit ihrer Künstler:innen und ihrer Kunst erfand.

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Hegels grundlegendes Bewertungskriterium in seiner Kunstgeschichte war die notwendige Ausgewogenheit zwischen dem Sensiblen und dem Intelligiblen. Er kam zu dem Schluss, dass nur die klassische griechische Kunst dieses Gleichgewicht erreicht hatte, und nutzte dies, um die zeitgenössische Kunst und ihre ästhetische Wirkung zu disqualifizieren. Tatsächlich hat keine Zivilisation Hegels Urteil unbeschadet bestanden, insbesondere die außereuropäische Kunst. Der „symbolischen“ Kunst des Ostens, Asiens und Ägyptens attestierte er, dass das Intelligible das Sensible überschatte, und der Romantik, dass das Sensible das Intelligible übersteige. Angesichts des Versagens der Kunst, ein Gleichgewicht zwischen Sensiblem und Intelligiblem herzustellen, musste die Philosophie nun diese Aufgabe übernehmen, und die Geschichte der Kunst erzählen und erklären. Kosuth suchte, wie bereit gesagt, im 20. Jahrhundert diesen Schritt umzukehren. Er erklärte im Umkehrschritt den Tod der Philosophie und bekräftige die Vitalität der Kunst und ihren Kontakt mit dem Leben. Hegel führte noch ein untrügliches, wenn auch falsches Argument gegen die Kunst ins Feld: Sie sei immer von ihrer Beschäftigung mit der religiösen Sphäre bestimmt. Dies galt ihm sowohl für die historische als auch für die ihm zeitgenössische Kunst. Denn auch die Romantik war in der hegelschen Kunstauffassung nur auf Themen wie christliche Liebe und somit auf Religiosität bedacht. Aufgrund dieser beiden Einschränkungen – der Unfähigkeit, das Sensible und das Intelligible in Einklang zu bringen, und der Reduktion auf religiöse Thematik –, proklamierte Hegel, dass die Kunst fortan im Dienst der Philosophie stehen müsse. Kunst wurde zum wissenschaftlichen Objekt, das dazu einlud, philosophisch betrachtet zu werden. Das Sensible war nicht mehr die Brücke zum Intelligiblen, sondern das Intelligible wurde zur Erklärung des Sensiblen berufen, dessen ästhetische Erfahrung irrelevant wurde. Somit war die Kunst ihrer Bedeutung, Macht und Funktion beraubt und machte der Philosophie als einzigem Weg zum absoluten Geist Platz. Trotz seiner Kritik an der Reduzierung der Rolle der Kunst durch Kant und Hegel meint Haar, dass der Tod der Kunst nicht nur ein Ergebnis der Überlegenheit der Philosophie war. Die Kunst habe ebenfalls ihren Anteil daran gehabt, denn „in der Logik ihrer Entwicklung interessierte sie sich nur noch für zufällige Details“ (Haar, 2000). Die Kunst hätte sich der Subjektivität der Künstler:innen überlassen, ihrem Genie, und alles wäre damit möglich und erlaubt. Wenn Sloterdijk sagt, zeitgenössische Kunst sei gefährlich, entwirft er eine ähnliche Kritik des künstlerischen Nihilismus. Diese Verallgemeinerung macht aber keinen Sinn, denn die beiden Autoren versäumen es, differenzierte Kriterien zu entwickeln oder Beispiele zu nennen. Auch übersehen sie den Zusammenhang zwischen dem Willen zur Eindämmung der Macht der Kunst und dem europäischen kolonialen Selbstverständnis und -bewusstsein. Das Problem muss zusätzlich innerhalb der Entwicklung des Kunstmarkts gefasst werden, weshalb ich nun dessen Genese durch die Entwicklung von Kunstsammlungen betrachten werde. Denn eine ähnliche Kritik wie Haar und Welsch an Kant und Hegel hatte bereits der italienische Philosoph Giorgio Agamben in den 1970er-Jahren formuliert, als er in Anlehnung an Nietzsche und Heidegger seine Unzufriedenheit mit der Ästhetik kund tat. Agamben beklagte zunächst den Verlust ästhetischer Erfahrungen, wie sie im Mittelalter und in der griechischen Antike noch möglich gewesen wären:

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Abb. 38: Dell’historia naturale, Museum Ferrante Imperato, 1599, Strichgravur

[…] so empfing der mittelalterliche Mensch vom Kunstwerk, das er betrachtete, nicht einen ästhetischen Eindruck, sondern entnahm ihm vielmehr das konkreteste Zeugnis der Grenzen seiner Welt, dessen er habhaft werden konnte. Das Wunderbare, nur mit Erstaunen zu Quittierende war nicht so sehr ein autonomer Gefühlston oder ein Effekt des Kunstwerks selbst; vielmehr war er eine diffuse Präsenz der Gnade, die im Kunstwerk die menschliche Aktivität mit der göttlichen Welt der Schöpfung zu verknüpfen wusste. (Agamben, 2012, S. 66–67)

Wie auch Didi-Huberman und Sloterdijk sehnte sich Agamben nach einer Rückkehr zum vorklassischen Denken, als es noch eine unvermittelte Beziehung zur Kunst gegeben hatte. Seltsamerweise wünschen sich alle diese Autoren ein ahistorisches Denken, in dem die Wechselbeziehung zwischen der nichtsichtbaren und der sichtbaren Welt ungebrochen ist. Auf andere Kulturkreise als den europäischen, wo dies noch der Fall ist, besinnen sie sich aber nie. Bestürzt über eine entleerte Welt rekonstruiert Agamben, wie die Philosophie die Kunst von den Betrachter:innen entfernte. Die Schuld wird dabei nicht ausschließlich der Philosophie zugeschoben. Die aristokratische Sammelleidenschaft und die Idee eines

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Abb. 39: Der Erzherzog Leopold Wilhelm in seiner Galerie in Brüssel, David Teniers der Jüngere, 1651, Öl auf Leinwand, Museo del Prado, Madrid

Geschmacksmenschen hätten auch ihren Anteil daran gehabt und werden als weiterer Grund für den Machtverlust der Kunst angeführt. Um diese Argumentation zu entwickeln, beschreibt Agamben, wie sich Kunstwerke im 17. Jahrhundert von Kultobjekten zu Sammelobjekten wandelten – eine Veränderung, die – allerdings durch Raub – für die außereuropäische Kunst dann auch im 19. Jahrhundert zu beobachten ist. Schon vor der Einführung der von Welsch als prägend interpretierten Idee des Geschmacksurteils  – hier verstanden als Qualitätsurteil  – hätten die großen Sammlungen des Adels den Stellenwert der Kunst und ihre Wirkung beeinflusst. Die moderne Kunstsammlung ersetzte die Wunderkammern, königliche Kompendien voller Objekte, Kuriositäten, Statuen und Gemälde unterschiedlicher Provenienz: Im Verständnis des mittelalterlichen Gelehrten bildete die Wunderkammer eine Art Mikrokosmos, und der Wust ihrer Inhalte war nur eine Erscheinungsform der Harmonie, mit der sie den tierischen, pflanzlichen und mineralischen Makrokosmos widerspiegelte“ (Agamben, 2012, S. 59–60).

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Ein Beispiel war das Museum Ferrante Imperato. In gewisser Weise war dort Platz für eine kulturelle Pluralität, wie sie Lingna Nafafé (2012) für die nicht-kolonialen kreolischen Begegnungen beschreibt. Ein Gemälde von David Teniers dem Jüngeren (1610–1690), aus dem Jahr 1651, zeigt den Erzherzog Leopold Wilhelm in seiner Galerie in Brüssel. Im Vergleich zur Wunderkammer sehen wir die moderne Sammlung eines Geschmacksmenschen, der Kunst als Ware sammelte und geordnet präsentierte. Agamben zitiert einen Text von Jean La Bruyère aus dem 17. Jahrhundert, Les Characters, ou les Moers de ce ciécle (Die Charaktere oder Moral dieses Jahrhunderts), der die Idee des Geschmacks für die europäische Gesellschaft ausarbeitete. Der Text sei für die Entstehung der Dichotomie zwischen gutem und schlechtem Geschmack verantwortlich gewesen, der aber nichts mit Kants Begriff zu tun hatte. Agamben leitet daraus den Gegensatz zwischen Künstler:innen als Genies und den zunehmend passiver werdenden Betrachter:innen ab. Dieser Gegensatz hätte zur Folge gehabt, dass die künstlerische Tätigkeit für ihre Schöpfer immer gefährlicher und für die Kunstkenner nur noch „interessant“ wurde: „Je mehr der Geschmack die Kunst von jeder Kontamination und Einmischung freihalten will, desto unreiner und nachtschwärzer wird das Gesicht, das sie denen zeigt, die sie hervorbringen.“ (Agamben, 2012, S. 36) Es ist nicht schwer an eine Reihe von Künstler:innen zu denken, die sich als Reaktion auf die dunkle Rolle, die ihnen in der Moderne zugeschrieben wurde, seit der Romantik das Leben genommen haben. Jaider Esbell ist ein betroffen machendes Beispiel der jüngsten Zeit. Agamben stellte auch eine direkte Beziehung zwischen dem in den Kunstsammlungen praktizierten Geschmack im 17. Jahrhundert und der Idee des kantischen Urteils her, da beide eine Verminderung der Rolle und der Wirkung der Kunst mit sich brachten. Während Welsch in Kants Kritik der Urteilskraft vor allem den Versuch sieht, die Fragmentierung des modernen Subjekts zu heilen, warf Agamben ihm in Anlehnung an Nietzsche vor, an der Konstruktion eines nihilistischen Kunstverständnises mitgewirkt zu haben. Deshalb drückte er auch seine Abneigung gegen die Überbewertung der Kunstanalyse aus und machte sie an den aufgeblasenen und arroganten modernen Kritiker:innen fest.

Zur ästhetischen Erziehung und dem Potenzial der Kunst Agambens Unbehagen an der Trennung zwischen Künstler:innen und kritisch-analytischer Rezeption von Kunst sowie seine Besorgnis um das daraus resultierende Risiko für Künstler:innen möchte ich mithilfe von zwei deutschen Autoren des 18. Jahrhunderts noch etwas genauer betrachten: Schiller und Friedrich Schelling (1775–1854). Sie reagierten auf Kants Ideen und modifizierten sie teilweise. Wie bereits erwähnt, sieht Badiou im romantischen Schema den Wunsch nach einer subjektiven Erziehung des Menschen durch Kunst. Wir werden jedoch feststellen, dass die Idee der ästhetischen Erziehung weit komplexer ist, wenn wir uns Friedrich Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung der Menschen von 1795 zuwenden. Als Reaktion auf das von Kant weiter ausgearbeitete hierarchische Verhältnis zwischen Sensiblem und Intelligiblem suchte Schiller (2000) eine realitätsbezogene Art und Weise, sich mit Ästhetik auseinanderzusetzen, die die politischen Entwicklungen nach

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der Französischen Revolution berücksichtigte. Tatsächlich betrachtete er deren humanistisches Versprechen als gescheitert und kam zu dem Schluss, dass die Menschheit von zwei Trieben beherrscht sei: Natur und Rationalität. Den Trieb der Natur sah Schiller als verantwortlich für die Wiederkehr der Gewalt, nachdem der Feudalismus durch die Macht des Volkes ersetzt worden war. Angesichts dieses jüngsten Gewaltausbruchs erkannte er in der Kunst nicht nur die Möglichkeit, den Menschen ästhetisch zu erziehen, was er mit dem persönlichen Glücksgefühl, das sie hervorruft, erklärte, sondern hob im Besonderen ihre Fähigkeit hervor, die Gesellschaft und den menschlichen Charakter zu verändern, da sie die Menschen sensibilisiere. Damit ging Schiller über die kantische Idee einer universellen Moral hinaus und führte den Gedanken eines sinnvollen Handelns in der (demokratischen) Gemeinschaft in die Kunsttheorie ein. Diese in der außereuropäischen Kunst immer schon übliche Sichtweise, dass Kunst der Gemeinschaft und der Entwicklung des Individuums dient, wurde im Westen erst im 20. Jahrhundert wirklich bedeutungsvoll, als man begann, allerdings aus einer marxistischen Position heraus, sich mit dem Verhältnis von Kunst und Politik auseinanderzusetzen und Strategien zu entwickeln, die Betrachter:innen zum sozialen Engagement anregen sollten. Schillers Vorschlag war zutiefst politisch, aber in einem ganz anderen Sinn als Platons. Er wünschte sich einen ästhetischen Staat, der von Menschen bewohnt sei, die den sozialen Raum als Arena der Freiheit nutzten. Seine Bürger:innen würden sich ihrer auferlegten Unmündigkeit nicht durch Moral, sondern durch Kunst entledigen. Schiller sprach damit der Kunst im Gegensatz zu Platon und Kant eine grundlegende und aktive Rolle bei der Schaffung eines demokratischen Staates zu. Jacques Rancière griff diese Idee zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf, um das Verhältnis von Kunst und Politik wiederzubeleben. Die Verantwortung und Fähigkeit sich zu emanzipieren läge vor allem bei den Betrachter:innen, die nicht aus ihrer Passivität befreit werden müssten, da sie immer schon aktiv und passiv auf ein Kunstwerk reagierten. Sie leisteten dabei poetische Übersetzungsarbeit: Die Emanzipation beginnt dann, wenn man den Gegensatz zwischen Sehen und Handeln infrage stellt, wenn man versteht, dass die Offensichtlichkeiten, die so die Verhältnisse zwischen dem Sagen, dem Sehen und dem Machen strukturieren, selbst der Struktur der Herrschaft und der Unterwerfung angehören. Sie beginnt, wenn man versteht, dass Sehen auch eine Handlung ist, die diese Verteilung der Positionen bestätigt oder verändert. Auch der Zuschauer handelt, wie der Schüler oder der Gelehrte. Er beobachtet, er wählt aus, er vergleicht, er interpretiert. (Rancière, 2009, S. 23)

Hier finden wir eine wichtige Neuformulierung des hierarchischen Verhältnisses von Künstler:innen und Betrachter:innen. Laut Agamben hatte ja die Einführung der Ästhetik und die Entstehung von Kunstmärkten die Beziehung zwischen Kunst und Betrachter:innen auf Kontemplation reduziert. Diese Passivität hat es dabei nie gegeben – auch wenn die Situation des Ausstellens dies vielleicht nahelegt. Wenn man Rancières These glaubt, war sie lediglich eine Erfindung der Ästhetik. Denn Rancière erkennt gerade in der Trennung in Unwissende und Wissende den dafür verantwortlichen diskursiven Mechanismus. Es sei daran erinnert, dass diese Hierarchisierung eine unumgängliche Praxis für

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das koloniale Projekt war, das die Welt nicht nur in Wissende und Unwissende, sondern vor allem in Primitive und Zivilisierte, Gläubige und Ungläubige teilte. Dass seine Überlegungen das Fundament der kolonialen Weltsicht beinhalten, ist jedoch nicht Teil von Rancières Horizont, der, wie immer, Kolonialität schlichtweg ignoriert. Während Schiller eine politische Antwort auf Kants Ästhetik mit dem Gedanken der ästhetischen Erziehung gab, die von Rancière aktualisiert und durch die Idee der Emanzipation radikalisiert wurde, suchte Schelling in seinem Vortrag „Die Philosophie der Kunst: Eine Rede über das Verhältnis der bildenden Künste und der Natur“ von 1807 im Gegensatz zu Kant und Hegel Künstler:innen weniger als Genies denn als gottgleiche Schöpfer:innen darzustellen, was uns wieder an Vasari erinnert. Künstler:innen imitierten Schellings (1983) Meinung nach weder die Natur noch eine Handlung im Sinne der Mimesis von Aristoteles, gegen dessen Einfluss, den er bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts beobachtete, schrieb. Schelling ersetzte deshalb die Idee der Mimesis durch die Vorstellung, dass wahre Natur nur in der Kunst zu finden sei. Denn sein Interesse lag nicht bei den zu erziehenden oder zur Emanzipation befähigten Betrachter:innen, sondern ausschließlich bei den Künstler:innen und ihrer Vermittlerrolle. Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, verwandte Schelling die Metapher der Natur als einem antiken Autor, der in Hieroglyphen schreibe, die nur Künstler zu entziffern wüssten. Während die Natur für gewöhnliche Menschen nicht mehr verständlich sei, könnten Künstler ihre tote Schrift wiederbeleben. Kunst wäre folglich diejenige menschliche Tätigkeit, in der sich der Geist der Natur und die menschliche Kreativität überschnitten. Da der Mensch auch Natur sei – Schelling ist einer der wenigen Autoren, die den Menschen nicht von der Tierwelt unterscheidet –, wäre sie der Ort, an dem der Mensch sein eigenes Wesen finden und wiedergeben könne. Um seine These zu untermauern, kritisierte Schelling die holländische Malerei und ihre detaillierte Naturnachahmung, bezog sich aber nicht auf andere Kunstwerke, schon gar nicht auf die seiner Zeit. Mit seiner Kritik zeitgenössischer Kunsttheorien wollte er eine akademische Kunstwissenschaft innerhalb der Philosophie begründen. Welsch beklagt wohl deshalb, dass die Kunst bei Schelling, wie schon bei Kant, nur der Philosophie diente und Schelling in seinen theoretischen Reflexionen die Kunst und ihre Werke vergäße. Obwohl er die Sensibilität der Künstler:innen und die Bedeutung der Natur anerkannte, kehrte er tatsächlich zum Ungleichgewicht zwischen Sensiblem und Intelligiblem zurück. Interessant sind Schellings Überlegungen zum Verhältnis von Natur und Kunst und der Fähigkeit der Künstler:innen, sie zu lesen, da sich ja der westliche Mensch von ihr entfernt hat. Die seit Mitte der 1960er-Jahre entstandene land art, die auch als earth art oder environmental art bezeichnet wird, ist einer der Versuche westlicher Künstler:innen, diese Vermittlerrolle einzunehmen. Dabei nähern sie sich paläolithischen und außereuropäischen Vorstellungen des Verhältnisses von Kunst und Natur an, um, in Schellings Worten, die Natur zu lesen und dadurch für die Betrachter:innen zu entziffern. Mit und in der Natur werden Kunstwerke gemacht, die eine Reaktion auf die extreme Kommerzialisierung der Kunst, besonders von Pop-Art und abstraktem Expressionismus, sind. Die land art arbeitet deshalb mit Landschaften, die sich oft weit weg von urbanen Zentren und somit von der zivilisierten Welt befinden. Sie nimmt die Natur als Ausgangspunkt, sowohl räumlich als auch materiell.

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Wie stehen Philosophie und Theologie zur Kunst und ihrem Machtpotenzial?

Abb. 40: Spiral Jetty, Robert Smithson, 1968, Skulptur aus Steinen und Erde, Great Salt Lake, Utah

In Robert Smithsons Spiral Jetty von 1968 gibt es folglich keine Dichotomie zwischen Natur und Kunst. Aus Steinen und Erde geschaffen, ist die Spirale, wie der chinesische Gelehrtenstein, zugleich Teil der Natur und ihre abstrakte Form. Tatsächlich ist sie eine Rückkehr zu steinzeitlichen geometrischen Formen, die jetzt als „abstrakte Geologie“ (Smithson 1968, S. 82) bezeichnet werden. Außerdem hängt Spiral Jetty vom Kreislauf der Natur ab, da die Spirale nur bei Ebbe sichtbar ist. Man könnte sagen, dass der Künstler hier dem Wissen der Natur auf der Spur ist, da er die intrinsische Beziehung zwischen der Erde und den Gezeiten, natürlichen und von Menschen geschaffenen Formen, sinnlich erfahrbar macht. Die Natur wird in ihrer Kraft anerkannt und von der Kunst durch eine ästhetische Erfahrung vermittelt. Wenn Schelling künstlerische Beispiele seiner Zeit studiert hätte, etwa die Gemälde Caspar David Friedrichs (1774–1840), wäre ihm vielleicht das Intelligible weniger wichtig gewesen. Und vielleicht hätte er, wie Rancière, festgestellt, dass die Betrachter:innen immer schon emanzipiert sind. Zu Beginn des Kapitels habe ich Aristoteles Schriften zur Tragödie zitiert und ihre These, Kunst für fähig zu erachten, die Welt durch das Sensible verständlich zu machen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die von Kant, Hegel und Schelling etablierte Ästhetik und ihre Hierarchisierung zugunsten des Intelligiblen erst Ende des 19. Jahrhunderts in einer Neuinterpretation der griechischen Tragödie durch Friedrich Nietzsche infrage gestellt wurde, abgesehen von Schillers Idee zur emanzipatorischen Kraft der Kunst. In Die Geburt der Tragödie, eines seiner berühmtesten Bücher, das 1872 veröffentlicht wurde, warf er der Philosophie vor, für den Tod der Künste verantwortlich gewesen zu sein. Nietzsche suggerierte, dass die griechische Tragödie den ersten großen Philosophen, Sokrates, nicht überleben konnte und nicht überlebte:

Zur ästhetischen Erziehung und dem Potenzial der Kunst

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Woran die Tragödie starb, der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen – wie? könnte nicht gerade dieser Sokratismus ein Zeichen des Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich lösenden Instinkte sein? (Nietzsche, 1987, S. 10)

Die Bedrohung der Macht der Kunst durch die Sehnsucht nach Macht der Philosophie ist hier klar formuliert. Wissenschaft war für ihn auch nichts anderes als Angst und Flucht vor Pessimismus, eine „feine Notwehr gegen die Wahrheit“ (Nietzsche, 1987, S. 10). Dem analytisch-historischen Interesse des Westens und der Philosophie wird hier der Bankrott erklärt. Obwohl Nietzsche in seinem Vorwort zur zweiten Auflage selbstkritisch war, liefert sein Text deshalb eine Theorie, die das Kunstwerk nicht außer Acht lässt. Seine zentrale Frage war, wie die Griechen mit der menschlichen Existenz und dem Schmerz umgingen, den sie hervorrufe. Wir sehen hier wieder die typische europäische Sichtweise, die sich außereuropäischen Kosmologien, die von der Freude am Leben ausgehen, diametral entgegensetzt. Nietzsche knüpft damit an Aristoteles Anliegen der Kunsttheorie an, und ist ebenfalls mit seinem Zeitgenossen Freud in Übereinstimmung. Denn Nietzsche kam zu einem ähnlichen Schluss wie Freud: dass die Kunst als Trost diene, weil sie uns zum Leben verführe. Für ihn war dies jedoch positiv; Freud hingegen glaubte nicht an Kunst, nur an die Psychoanalyse. Nietzsche verstand die Kunst sogar als eigentliche metaphysische Tätigkeit des Menschen, da sie der Vorstellung eines Jenseits nicht bedürfe – wie es in außereuropäischen Kulturen immer noch der Fall ist. Damit schloss er die Idee der Säkularisierung Kants in gewisser Weise ab, aber ohne erneut nach einer Transzendenz Ausschau zu halten. Mit seiner These fügt sich Nietzsche aber auch erneut in die von Platon angestoßene Debatte über das Verhältnis von Sensiblem und Intelligiblem ein. Er verstand die Tragödie als ersten Moment, in dem zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen ein Gleichgewicht in der abendländischen Kultur erreicht wurde (Nietzsche, 1987, S. 47). Hegel hatte dies, wie wir gesehen haben, schon generell für die altgriechische Kunst festgestellt. Nietzsche sah hier einen historischen Kompromiss, in dem die orgiastische Naturgewalt des sinnlichen Gottes Dionysos mit der Individuationskraft des Vernunftgottes Apollo in Einklang gebracht worden war. Dabei sei eine Eintracht zwischen der Trunkenheit von Tanz und Gesang der nichtbildenden Künste und der selbstbeherrschten bildenden Kunst des wahrsagenden Bildhauergottes hergestellt worden (Nietzsche, 1987, S. 47). Während Apollo Traum, Schönheit und Weisheit, und somit das principii individuationis und die Selbsterkenntnis repräsentiere, sei Dionysos Ekstase und Wiedervereinigung mit der Natur (Nietzsche, 1987, S. 31). In der Kunst wären Künstler:innen immer entweder Nachahmer:innen von Apollo oder von Dionysius gewesen: entweder zur Erkenntnis oder zur Ekstase geneigt. Erst in der „höheren“ Form der Tragödie hätten die Künstler:innen einen Weg gefunden, Selbstaufgabe und Offenbarung der Individualität zu vereinen. Sloterdijk (1986, S. 64) betont in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsches Tragödienbuch, dass dieser mit der Vereinigung der beiden Götter zeigen wollte, dass die griechische Kultur einen konstitutiven symbolischen Akt leistete, der die westliche Zivilisation begründete. Er ist der Meinung, dass der Wert von Nietzsches Text darin bestehe, die

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Wie stehen Philosophie und Theologie zur Kunst und ihrem Machtpotenzial?

Idee des modernen Subjekts zu untergraben. Nietzsches Archäologie kehre zu diesen kulturellen Archetypen zurück, um das autonome und heilige Subjekt der Moderne anzugreifen und zu zeigen, dass sich Dionysius dem Apollo unterwerfen musste: „Die Freiheit der Kunst wird mit dem Zwang zur Kunst bezahlt.“ (Sloterdijk, 1986, S. 54) Wenn wir uns an das vorherige Kapitel erinnern, wird offensichtlich, dass westliche Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Heidegger, Deleuze, Guattari, Sloterdijk, Badiou und Rancière ohne Nietzsche nie in der Lage gewesen wären, die Kunst außerhalb der Grenzen des deutschen Idealismus neu zu denken. Weder Schillers politischer Vorschlag noch Schellings Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Kunst und Natur waren radikal genug. Wenn man Nietzsche mit Kant und Hegel vergleicht, kann man verstehen, dass die Idee, dass unsere Existenz als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt sei, im späten 19. Jahrhundert geradezu revolutionär war. Aber letztlich griff Nietzsche nur wieder die Hegelsche Idee auf, dass die griechische Kunst in der Lage sei, ein Gleichgewicht zwischen dem Sensiblen und dem Intelligiblen herzustellen, um sie als Gründungsmythos zu behaupten. Sloterdijks Interpretation scheint eher seiner heutigen Perspektive und seiner eigenen These der Entindividualisierung durch Kunst zu entsprechen als dem Text Nietzsches. Während Hegel Philosophie als eigentliche Religion verstand, bestand Nietzsches Beitrag in der Idee, die Kunst, einschließlich der zeitgenössischen – vor allem Richard Wagners Opern  –, zur Religion zu erklären. Sie sei in der Lage, dem menschlichen Schmerz etwas entgegenzusetzen. Auch wenn Nietzsche damit versuchte, der Entmachtung der Kunst durch die Philosophie entgegenzuwirken, war er doch blind für deren Hauptursache: dass die Metaphysik Europa das Recht zugesprochen hatte, andere zu kolonialisieren und zu unterdrücken.

Kurze Schlussfolgerungen Zu meinen Fragen zur Rolle westlicher Philosophie und monotheistischer Theologien im Verhältnis zum Potenzial der Kunst möchte ich nun folgende Antworten zusammenfassen: 1. Kunst zeigt ihr Potenzial, wenn die westliche Philosophie sie als Brücke zu Ideen (Platon), als Ausdruck von Wissen und therapeutischem Vergnügen (Aristoteles) erklärt, oder wenn die christliche Theologie Bilder göttlichen Ursprungs erfindet (acheiropoieta). Islam und Judentum versuchen stärker die Ausnutzung der Macht der Kunst im religiösen Bereich, vor allem dem Götzendienst, zu vermeiden und sind strenger in ihren Verboten figurativer Darstellungen. Sie wählen deshalb abstrakte und ornamentale Bilder, um das Nichtsichtbare auszudrücken. Damit stehen sie außereuropäischen Kulturen, denen sie auch angehören, näher. Die clevere Erfindung göttlicher Bilder im Christentums ist sicherlich der Erkenntnis geschuldet, dass die Bilder große Macht haben und der Effekt des biblischen Narrativ von seiner figurativen Übertragung abhängt. 2. Kunst zeigt ihr Potenzial nicht nur, wenn die Philosophie sie als didaktisch (Platon) fürchtet oder als therapeutisch wirksam versteht (Aristoteles). Sondern gerade dann, wenn die Theologie entweder die Darstellung als heilig verstandener Personen mehr

Kurze Schlussfolgerungen

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oder weniger verbietet (Judaismus, Islam) oder diese Regel schlau umgeht (Christentum). Die Macht der Bilder zeigt sich aber gerade auch in ikonoklastischen Aktionen, wenn Kunst aus politischen, ästhetischen oder religiösen Gründen angegriffen oder zerstört wird. Dies ergibt sich aus der Annahme, dass das Dargestellte mit dem Bild oder der Skulptur identisch ist. Die Kolonialität hat diesen Vorwurf immer der außereuropäischen Kunst gemacht und im Disput um die Macht als Kriegsmittel eingesetzt. Religiöser Ikonoklasmus oder Bilderkrieg wurde in byzantinischer Zeit vehement diskutiert und eingesetzt. Heute ist er allgegenwärtig, sowohl in der soziopolitischen, der religiösen als auch in der ästhetischen Sphäre. 3. Obgleich die westliche Philosophie weniger radikal in ihrer faktischen Bekämpfung der Bilder ist, hat sie doch die theoretische Grundlage dafür geliefert. Das Infragestellen der Bedeutung der Kunst für die Gesellschaft und ihre Entwertung oder Kontrolle wurde im Kontext des westlichen analytisch-historisierenden Denkens am Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt. Dies begann mit der Einführung der Ästhetik als Teildisziplin der Philosophie. Mitte des 18. Jahrhunderte hatte dies auf den gegenteiligen Kurs abgezielt, nämlich Wissen innerhalb der Logik durch das Sensible zu studieren (Baumgarten). Dieser Vorschlag wurde bald in eine universelle Theorie der Wahrnehmung umgemünzt, die die ästhetische Erfahrung der Kunst (zusammen mit der Natur) als Weg zum Intelligiblen – der universellen Moral – begriff. Dem transzendentalen westlichen Subjekt war sie immer schon a priori bekannt (Kant). Der absolute Geist wurde dann eingeführt, um das Vorhaben weiter zu abstrahieren und die Kunst noch stärker dem Intelligiblen unterzuordnen (Hegel). Um das Sensible zu degradieren, wurde sowohl die zeitgenössische romantische, wie auch die außereuropäische Kunst als mangelhaft eingestuft. Im Kontext der Kolonialität, die die Konstitution des europäischen Subjekts auf eine einzige kulturelle Identität reduziert – entwickelt durch These, Antithese und Synthese – und keine Pluralität der Identitäten zulässt (Lingna Nafafé), wurde die Vormachtstellung der Kunst des antiken Griechenlands, der ein Gleichgewicht zwischen Sensiblem und Intelligiblem attestiert wurde, ausgewiesen. Die Kunst wurde dann für tot erklärt und interessierte fortan lediglich als Studienobjekt, dass vom absoluten Geist erklärt werden kann (Hegel). Künstler:innen, zum Genie erhoben, wurden letztlich in ihrer Bedeutung reduziert, da sie zwar als sensibel, aber nicht als gänzlich zurechnungsfähig angesehen wurden (Kant, Hegel). 4. Die Instrumentalisierung der Kunst innerhalb dieses Prozesses (Hegel), stieß auf Widerstand oder evozierte Vorschläge, die ihn variierten. So wurde die Kunst als Möglichkeit gesehen, den Menschen zur Demokratie zu erziehen und seine Emanzipation zu ermöglichen (Schiller). Dies bekräftigte die Ideen von Gemeinschaft und Diesseitigkeit, wie es in außereuropäischer Kunst immer der Fall ist. Oder die Kunst wurde als der Natur überlegen angesehen und Künstler:innen als befähigt, diese zu lesen und zu übersetzen (Schelling). Letzterer Vorschlag war erneut dem Intelligiblen verpflichtet. Die Idee der Emanzipation durch Kunst wurde im 20. Jahrhundert ausgearbeitet, aber erst im 21. Jahrhundert als immer schon gegeben angesehen, da Betrachter:innen nicht mehr als passiv, sondern immer als aktive und passive Interpret:innen verstanden werden (Rancière). 5. Einige Philosophen des 20. Jahrhunderts (Welsch, Haar, Agamben) bemängeln die Idee des kantischen ästhetischen Urteils, weil sie Künstler:innen und Betrachter:innen

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Wie stehen Philosophie und Theologie zur Kunst und ihrem Machtpotenzial?

trenne, indem sie Ersteren die gefährliche Rolle zuwies, das Intelligible sinnlich zu machen (unbewusst bei Kant und bewusst bei Schelling) und den Kontakt mit Kunst für Letztere auf passive Kontemplation reduzierte. Auch die Idee des guten Geschmacks und die Praxis des Kunstsammelns trugen dazu bei, Betrachter:innen vom Kunstwerk zu entfernen, da es fortan nur noch als Wertobjekt verstanden wurde, wobei der Kunstmarkt einen starken Einfluss auf die Rezeption hatte. Auf der einen Seite standen nun die passiven Betrachter:innen, deren ästhetische Erfahrung auf desinteressierte Kontemplation reduziert wurde, und auf der anderen Seite die Künstler:innen, die durch ihre Aktivität als gefährdete Genies an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden (Agamben). 6. Das Verhältnis von Politik und Kunst ist einigen Denkern bewusst: entweder wird Kunst als Gefahr für einen idealen Staat (Platon) oder, nach der Französischen Revolution, als Grundlage für einen demokratischen Emanzipationsstaat durch ästhetische Erziehung gesehen (Schiller). 7. Die antike griechische Kunst und die Tragödie werden im philosophischen Denken als Wiege der Zivilisation verstanden, da sie Sensibles und Intelligibles in Gleichgewicht brachten (Hegel, Nietzsche). Dies zementierte eine eurozentrische Sichtweise, da nicht außerhalb des Horizonts der Metaphysik gedacht wird: sei es, indem Philosophie als wahre Religion (Hegel) oder Kunst als wahre Metaphysik (Nietzsche) verstanden wird. Im ersten Fall wurde Kunst für tot erklärt und ihre poetische Interpretation durch eine historisierende Analyse ersetzt (Hegel). Im zweiten Fall wurde ihre Fähigkeit, das menschliche Leiden im Diesseits zu erleichtern, verherrlicht und Philosophie und Wissenschaft als Flucht vor der Wahrheit angesehen (Nietzsche). 8. Die westliche Philosophie und monotheistischen Theologien haben immer versucht, die Kunst in ihrer Macht zu beschränken oder sie zu zerstören. Die wenigen Philosophen, die versuchen, die Trennung zwischen Diesseitigem und Jenseitigem rückgängig zu machen, sind sich jedoch nicht wirklich bewusst, wie es dazu kam und dass sie in ihrer metaphysischen und anthropozentrischen Epistemologie gefangen sind. Selbst wenn sie die Macht der Kunst behaupten, reflektieren sie den Rahmen der Kolonialität nicht (Nietzsche, Sloterdijk, Agamben, Didi-Huberman, Rancière). Und das, obwohl außereuropäische Kunst immer um ihre Macht weiß und sie anwendet.

Kurze Schlussfolgerungen

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FÜNFTES KAPITEL :

Was ist die Beziehung zwischen den ­verschiedenen Geschichtsmodellen, Kunst und ihrem Studium? Wir haben gesehen, dass das von Hegel proklamierte Ende der Kunst aufgrund der angeblichen Unfähigkeit der Romantik, ein Gleichgewicht zwischen Sensiblem und Intelligiblem herzustellen, ihn dazu veranlasste, zu ihrer wissenschaftlichen und historischen Untersuchung durch die Philosophie aufzurufen. Auch wenn man mit seinem Appell nicht einverstanden sein sollte, müssen wir doch dessen Einfluss anerkennen. Bei Foucault haben wir eine Erklärung für das Interesse an historischen Studien in der westlichen Welt gefunden, die die Entwicklung, an dessen Ende Hegel steht, nachzeichnet: die Schaffung eines analytisch-historisierenden Raums, der im westlichen Denken die Korrespondenz zwischen Worten und Dingen aufhob. Die Begründung dieses analytischen Raums war für Foucault ein Emanzipationsprojekt vom metaphysischen Weltbild. Dadurch sei jedoch nicht nur die Notwendigkeit, die entstandene Entfremdung zwischen Signifikant und Signifikat zu füllen, entstanden, sondern auch zwischen dem Menschen und seiner Welt: Das ganze moderne Denken ist von dem Gesetz durchdrungen, das Ungedachte zu denken, in der Form des Für sich die Inhalte des An sich zu reflektieren, den Menschen aus der Entfremdung zu befreien (désaliéner), indem man ihn mit seinem eigenen Wesen versöhnt, den Horizont zu erklären, der den Erfahrungen ihren Hintergrund der unmittelbaren und entwaffneten Evidenz gibt, den Schleier des Unbewussten zu lüften, sich in seinem Schweigen zu absorbieren oder das Ohr auf sein unbegrenztes Gemurmel zu richten. (Foucault, 1974, S. 395)

Ich würde behaupten, dass der geöffnete Raum letztlich das Resultat eines viel früher begonnen Prozesses war. Denn bereits in der griechischen Antike begann die Vorstellung einer metaphysischen Welt, die vom Christentum aufgenommen wurde und deren Last – das Jüngste-Gericht und die notwendige Erlösung von der Schuld – der Westen seit der Renaissance und vor allem durch das klassische und dann historisierende Denken zu umgehen versuchte. Es sei hinzugefügt, dass die Metaphysik die Subalternisierung sogenannter Anderer möglich machte und zum modernen kolonial-kapitalistischen Modell führte. In der Kunst war die Überbewertung des westlichen Künstlers und gleichzeitige Abwertung und Kontrolle der Macht der Künste Teil dieses Prozesses, sowie die Stigmatisierung, Erniedrigung und Zerstörung außereuropäischer Kulturen. Anthropozentrismus und Metaphysik wurden den westlichen Menschen zwar eine Bürde, waren aber zur Kolonialisierung und Unterdrückung unabdingbar. Denn nur

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WAS IST DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN DEN ­V ERSCHIEDENEN GESCHICHTSMODELLEN …?

durch die eingeführte Hierarchisierung zwischen Diesseits und Jenseits, die sich mit der angeblich universellen europäischen Rationalität gegen außereuropäische Weltsichten durchsetzte, weil sie sie als minderwertig degradierte, war es möglich, das nötige ideologische Konstrukt für die Kolonialität zu entwickeln. Das Studium der Kunst und der Künstler:innen ist ein Beiprodukt dieses Prozesses, denn Bilder und Texte sind wichtige Faktoren in der Unterwerfung und dem dazugehörigen westlichen Emanzipationsdiskurs, der die Subalternisierung erst ermöglichte. Foucault wies indirekt auf diese Paradoxalität hin, aber, ohne dass er die Kolonialität mitdachte. Die Geschichten, die in der Moderne entstanden, sagte er, seien immer unvollständig und zweideutig, weil sie nie einen direkten Zugang zum Menschen darstellten. Die Produktion von Wissen ergäbe sich, und Hegels Fall gibt ihm recht, nur aus ihren Tätigkeiten: Sprache, Arbeit und menschliches Leben. Geschichte ist jedoch, wie Rita Segato bemerkt, ein Projekt, das von der Komplexität der Zeiten und Beziehungen abhängt und den Veränderungen der Lebensbedingungen, wirtschaftlichen Transformationen und der Entwicklung der Sprachen unterliegt. Während die Kolonialität die Geschichtsprojekte vermeintlich Anderer zerstörte oder behinderte, ist das geschichtliche Wissen, das im Westen produziert wird, konfuß. Foucault (1974, S. 442) hatte nicht unrecht, wenn er von „unentwirrbare[n] Knoten verschiedener Zeiten, die einander fremd und heterogen sind“ spricht. Der Mensch sei nie wirklich Protagonist, er bilde sich „nur als Subjekt der Geschichte durch die Überlagerung der Geschichte der Lebewesen, der Geschichte der Dinge und der Geschichte der Wörter“ (Foucault, 1974, S. 442). Die westliche Historiografie entziehe sich somit der Kontrolle ihrer Schöpfer. Foucault ist zuzustimmen, wenn er behauptete, dass angesichts der Unkontrollierbarkeit von Geschichte das Denken des 19. Jahrhunderts versuchte, das Wissen durch viele kleine Historiografien zu kontrollieren. Der Versuch der Ästhetik, die Kunst durch das Erzählen ihrer Geschichte zu dominieren, ist nur ein Beispiel: Es gäbe also auf einer sehr verborgenen Ebene eine Geschichtlichkeit des Menschen, die für sich seine eigene Geschichte wäre, aber auch die radikale Verstreuung, die alle anderen begründet. Diese ursprüngliche Erosion hat das neunzehnte Jahrhundert in seiner Sorge, alles zu vergeschichtlichen, über alles eine allgemeine Geschichte zu schreiben, unaufhörlich in der Zeit zurückzuschreiten und die festesten Dinge in die Befreiung durch die Zeit zu stellen, gesucht. (Foucault, 1974, S. 443)

Der Wunsch, allgemeingültige Geschichten der verschiedenen Künste zu erzählen, wird uns in diesem Kapitel beschäftigen. Der Versuch der historisierenden Kontrolle ist aber, wie wir feststellen werden, aufgrund seiner Instabilität unweigerlich zum Scheitern verurteilt: Da der historische Mensch der lebendige, arbeitende und sprechende Mensch ist, gehört jeder Inhalt der Geschichte zur Psychologie, zur Soziologie oder zu den Wissenschaften von der Sprache. Umgekehrt aber, da das menschliche Wesen durch und durch historisch geworden ist, kann keiner der von den Humanwissenschaften analysierten Inhalte in sich selbst stabil bleiben und der Bewegung der Geschichte entgehen. (Foucault, 1974, S. 443–444)

Was ist die Beziehung zwischen den ­verschiedenen Geschichtsmodellen

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Foucault (1974, S. 444) beobachtete die paradoxen, sowohl positiven wie negativen Aspekte dieser Vergeschichtlichung: „Die Geschichte bildet also für die Aufnahme der Humanwissenschaften ein gleichzeitig privilegiertes und gefährliches Gebiet.“ Als die Geschichtswissenschaft began, diese Gefahr zu erkennen und sie zu verstehen, nachdem Nietzsche zuerst auf sie hingewiesen hatte, fing sie an den Positivismus und die entstandenen Meisternarrative zu problematisieren. Ich werde dies im Laufe dieses Kapitels erläutern. In einem ersten Schritt skizziere ich, wie sich die Geschichtswissenschaft von einer positivistischen Sichtweise distanzierte, die an den wissenschaftlichen Fortschritt und die Erstellung einer endgültigen Geschichte glaubte. In einem zweiten Schritt zeige ich, wie die beiden Hauptmodelle der Geschichte – das zyklische und das lineare – von der Kunst – in Stücken, Filmen, zeitgenössischer Kunst, Theater und Performance  – umgesetzt und kommentiert werden. Im letzten Schritt erkläre ich, wie die geschichtlichen Modelle in den Disziplinen, die die Künste studieren  – in Kunstgeschichte, Film- und Medien- sowie in der Theaterwissenschaft  – zur Anwendung kamen und hinterfragt wurden.

Von den Modellen in der Geschichtswissenschaft Der klassischen Geschichtsschreibung liegt eine positivistische Methode zugrunde, die Daten und Dokumente benutzt, um eine scheinbar endgültige Geschichte zu schreiben. Sie geht davon aus, dass es möglich ist, über einen bestimmten Gegenstand vollständiges Wissen zu erlagen. Die daraus resultierenden Meistererzählungen folgen der Logik von Ursache und Wirkung. Sie behaupten, dass sich die Geschichte progressiv und geradlinig von einem weniger fortgeschrittenen zu einem fortgeschritteneren Zustand entwickelt hat. Diese Idee ist von der Entwicklung des Menschen von der Geburt, über das Kindesund Erwachsenen- zum Greisenalter abgeleitet. Es ist aber auch das kolonialistische hierarchische Modell, das Primitive von Zivilisierten unterscheidet, um zu rechtfertigen, dass erstere auf den Weg der vermeintlichen Evolution geführt werden müssen. Folglich erzählt das klassische Evolutionsmodell zumeist Geschichten, die drei Phasen haben: Anfang, Entwicklung und Verfall. Dieses Narrativ ist uns bereits bei Vasari und Hegel begegnet. Während Vasari die Entwicklung der Kunst der Renaissance bis zu ihrem Höhepunkt beschreibt, betrachtet Hegel die Kunst der Romantik als dekadent. Doch bevor die Entwicklung in einem solch degenerierten Zustand verblasst, erfährt sie einen Höhepunkt. Wenn ein historiografisches Modell dieses Ende beinhaltet, wird es teleologisch genannt. Dieser Begriff wurde vom deutschen Philosophen Christian von Wolff (1679–1754) geprägt. Die Teleologie stellt eine gewünschte Lösung oder ein gewünschtes Ergebnis dar, das innerhalb oder außerhalb der Geschichte eintreten kann. Je nach Kontext kann es religiös, politisch oder ästhetisch sein. Was ist Geschichte? des britischen Historikers E. H. Carr (1892–1982), das 1961 erstmals veröffentlicht wurde, war eines der ersten Bücher, das Zweifel an der klassischen Geschichtsschreibung ausdrückte. Der Autor erläuterte darin die Entstehung der evolutionären, teleologischen Geschichtsschreibung und benannte die wichtigsten Punkte der Grenzen, denen wir bei der Erforschung der Vergangenheit begegnen und die ich bereits in meiner Studie des Films Höhle der vergessenen Träume ein wenig kommentiert habe.

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WAS IST DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN DEN ­V ERSCHIEDENEN GESCHICHTSMODELLEN …?

Anhand der Einleitungen von zwei Ausgaben der Cambridge Modern History (Cambridge Moderne Geschichte), einem wichtigen britischen Nachschlagewerk, macht Carr deutlich, dass das evolutive Modell innerhalb weniger Jahrzehnte Kritik erfuhr. In der ersten Ausgabe aus dem Jahr 1896 bedankte sich der Historiker Lord Acton (1834–1902) für die Fortschritte, die die Disziplin im Laufe des 19. Jahrhunderts gemacht habe, lobte die bis dahin durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchungen und wies darauf hin, dass sie in Zukunft eine endgültige Geschichtsschreibung ermöglichen würden: Eine abgeschlossene geschichtliche Sicht ist unserer Generation freilich noch nicht möglich; aber wir verfügen über die herkömmliche Geschichtsschreibung und können jetzt, wo jegliche Information in Reichweite liegt und jedes Problem lösbar geworden ist, den Punkt angeben, den wir auf dem Weg von der einen zur anderen erreicht haben. (Acton apud Carr, 1963, S. 7)

Man erkennt deutlich die positivistische Absicht, eine endgültige Geschichte zu schreiben, wobei Acton sich auf die Erforschung von Dokumenten stützte, die er als objektive Fakten betrachtete. Sechzig Jahre später vertrat ein Historiker der nächsten Generation, Sir George Clark (1890–1979), eine ganz andere Haltung. Im Bewusstsein, dass die Geschichte immer wieder neu geschrieben werden müsse, zweifelte er in der Einleitung von 1956 die Möglichkeit an, sie abschließend erzählen zu können: Die Historiker einer späteren Generation haben keine derartigen Hoffnungen mehr. Sie glauben im Gegenteil, dass ihre Arbeit in der Folge immer wieder beiseite geschoben wird. Sie bedenken, dass sie ihre Kenntnis der Vergangenheit der Überlieferung eines oder mehrerer Menschen verdanken; dass diese Kenntnis dadurch einem „Prozess“ unterzogen wurde, folglich also nicht aus elementaren und unpersönlichen Atomen, die unveränderlich sind, bestehen kann… Der Geschichtsforschung scheinen keine Grenzen gesetzt, und einige ungeduldige Gelehrte nehmen ihre Zuflucht zum Skeptizismus oder zumindest doch zu der Auffassung, dass, da doch alle geschichtlichen Urteile persönliche Anschauungen einschließen, das eine so gut wie das ander sei und dass es keine „objektive“ geschichtliche Wahrheit gebe. (Clark apud Carr 1987, 7–8)

Obwohl Clark weniger von der Objektivität der Wissenschaft überzeugt war als Lord Acton, glaubte er dennoch an historische Wahrheit. In Herzogs Film kommentiert der junge Archäologe hingegen, die Vergangenheit sei für immer verloren. Die positivistische Geschichtsschreibung musste ihre Formachtstellung aufgeben, als die „Neue Geschichte“, angeführt von den französischen Historikern Jacques Le Goff, Philippe Ariès und Pierre Nora (1978), aufkam. Diese Autoren hatten kein Interesse mehr an der Idee, dass die Geschichte durch die Macht und den Willen einiger weniger Männer bestimmt worden war. Stattdessen studierten sie menschliche Aktivitäten, die weder endgültig noch wissenschaftlich messbar sind, wie Mentalitäten, Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühle. Diese neue Art der Geschichtsschreibung stellt den teleologischen Horizont, den Glauben an Objektivität und die Betonung männlicher Protagonisten und markanter Ereignissen infrage. Sie zeigt ein größeres Interesse an Brüchen und Diskontinuitäten, zu deren Verständnis verschiedene Arten von Material

Von den Modellen in der Geschichtswissenschaft

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als Quellenmaterial sowie angeblich sekundäre Charaktere und Ereignisse in Betracht gezogen werden. Es sei noch angemerkt, dass der erste Text, der den Positivismus aus den Angeln hob, bereits 1940 von Walter Benjamin (1980) mit dem Titel „Über den Begriff der Geschichte“ geschrieben wurde. Ich werde auf ihn zurückkommen, nachdem ich die Anfechtung des klassischen Modells der Geschichtsschreibung in der Kunst untersucht habe.

Von Geschichtsmodellen in der Kunst Die Infragestellung des auf der positivistischen Methode basierenden Evolutionsmodells ist nicht auf die Geschichtsdisziplin beschränkt. Kunst und Künstler:innen sind Philosophie und Wissenschaft meist weit voraus.

Zum zeitgenössischen Drama und Theater Die britischen Dramatiker Howard Barker, David Hare, Howard Brenton und Caryl Churchill revidierten z. B. die Meisternarrative in ihren dramatischen Texten der 1980er und 1990-Jahre. Dabei ist die Perspektive ihrer Dramen nicht historisch, sondern zeitgenössisch. Da ihre Geschichten von den Herausforderungen der Gegenwart inspiriert sind, verwenden ihre Stücke zwar Figuren und Ereignisse aus der Vergangenheit als Material, tun dies jedoch aus heutiger oder allegorischer Sicht. Ein gutes Beispiel ist Howard Barkers Victory: Choices in Reaction, das sich mit den von der britischen Premierministerin Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren eingeführten neoliberalen Veränderungen befasst. Das Stück, das ich für meine Magisterarbeit studierte, verdeutlicht die hohen Kosten des Versuchs, die eigene Menschlichkeit innerhalb dieses veränderten gesellschaftspolitischen Kontextes zu erhalten. Victory ist in der Regierungszeit von Karl II (1630–1685) angesiedelt. Dies ermöglicht einen doppelten Bezug auf zwei Regime mit einseitigen Interessen: einerseits die Restauration der Monarchie nach einer republikanischen Phase im 17. Jahrhundert und andererseits die Deregulierung, Privatisierung und Flexibilisierung der Märkte am Ende des 20. Jahrhunderts. In ästhetischer Hinsicht widersetzen sich die dramatischen Texte Howard Barkers und anderer britischer Dramatiker dieser Zeit der sogenannten aristotelischen Dramaturgie. Statt mit Mimesis, der Nachahmung von Handlungen, und der Einheit von Zeit und Raum zu arbeiten, folgen ihre dramatischen Strukturen keinem Ursache- und Wirkungsverhältnis und entwickeln die Ereignisse nicht auf lineare, progressive Weise. Stattdessen beruhen ihre Fabeln auf der Aneinanderreihung von Episoden, mit Brüchen oder in Kreisbewegungen, und kommen so zu keinem Abschluss im Sinne einer Lösung oder Moral. Diese Art der Dramaturgie ist keine britische Besonderheit. In meiner Doktorarbeit über lateinamerikanische Dramaturgie nach dem Ende der Diktaturen in Argentinien, Brasilien, Chile seit Mitte der 1980er-Jahre und dem Ende des Kalten Kriegs in Kuba, untersuchte ich dramatische Texte, die das lineare Modell der Geschichte ebenfalls aushebeln (Overhoff, 1998). Zwei Stücke der brasilianischen Autoren Luís Alberto de Abreu und Alcides Nogueira, A Guerra Santa (Heiliger Krieg) (1991) und As traças da paixão (Motten

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WAS IST DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN DEN ­V ERSCHIEDENEN GESCHICHTSMODELLEN …?

Abb. 41: Oben – As traças da paixão, Regie von Marco Antonio Braz, 2009; unten – A Guerra Santa, Regie von Gabriel Villela, 1993

Von Geschichtsmodellen in der Kunst

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Mechane

Mechane Skene

Paraskenion

Skene

Ekklyklema

Abb. 42: Deus ex machina und andere Bühneneffekte des griechischen Theaters

der Leidenschaft) (1994), sollen hier als Beispiele für eine kritische Haltung gegenüber dem evolutionären Geschichtsmodell angeführt werden. Die Autoren nutzten ihre Stücke, um die Konflikte zu erörtern, die aus dem Versuch des diktatorischen Regimes resultierten, Brasilien innerhalb der westlichen Geschichte und der globalen Wirtschaft zu etablieren. Die zitierten Stücke präsentieren in ihrer dramatischen Struktur eine nichtlineare Geschichtskonzeption als Ergebnis dieser kritischen Auseinandersetzung mit dem politischen Autoritarismus und europäischer Kultur. As traças da paixão ist eine Neuinterpretation der griechischen Tragödie König Ödipus von Sophokles (497–406 v. Chr.) und A Guerra Santa eine zeitgenössische Version der Göttlichen Komödie von Dante Alighieri (1265–1321). Durch ihre Intertextualität legen die dramatischen Texte nahe, dass Brasilien nicht an der westlichen Metaphysik teil hatte und daher auch nicht deren teleologische Vorstellungen teilt. Anstatt die philosophische Introspektion zu wiederholen, mit der Ödipus endet, oder die Erlösung der Seele in der Göttlichen Komödie, präsentieren beide Texte konkrete Lösungen durch eine „Ästhetik der Präsenz“, da sie außereuropäische Elementen der brasilianischen Kultur, wie Oralität, Körperlichkeit und Performativität, benutzen (Ferreira, 2001).

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Abb. 43: Passionsspiel, Kirche des Heiligen Franz Assisi, Ouro Preto, 2014

Im Gegensatz zu diesen Beispielen gibt es in der Theatergeschichte, die oft auf der Grundlage des ihr am leichtesten zugänglichen Dokuments – dem dramatischen Text – erzählt wurde, viele Beispiele für teleologische Ausgänge. Eines der berühmtesten Beispiele ist die Einführung der Demokratie in der griechischen Tragödie, insbesondere am Ende der Orestie-Trilogie von Aischylos (525–456 v. Chr.). Ich fasse kurz die Geschichte zusammen: Nach der Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg wird König Agamemnon von seiner Frau Klytämnestra und ihrem Liebhaber Aegisthus ermordet. Dieser Tod wird von Orest, dem Sohn des Königs und seiner mörderischen Mutter, gerächt, was ihn zur Zielscheibe der Furien macht, die ihn nun verfolgen. Doch die Göttin Athene setzt deren Macht ein Ende, indem sie eine Jury aus Bürgern einsetzt, deren Aufgabe es sein wird, die Rechte der Polis zu sichern. Dies bedeutet eine politische Neuordnung, denn an die Stelle des Stammeswesens tritt die Demokratie und an die Stelle der Rache das Recht. Dies wird jedoch nicht als menschliche Errungenschaft, sondern als göttliche Lösung dargestellt. Mit anderen Worten: Die Geschichte wird durch überirdisches Eingreifen verändert. Am Ende des Stücks und damit der Aufführung erscheint Athene als deus ex machina mithilfe eines Krans – der Mechane –, auf der Bühne – der Skene – und sorgt für Ordnung. Die Einführung der Demokratie kann als eine der ersten teleologischen Lösungen in der Dramatik gelten. Viele andere folgten, z. B. die Idee des marxistischen Klassenkampfs, die unter anderem von dem deutschen Theatermann Bertolt Brecht (1898–1956) dramatisch bearbeitet wurde. Seine Theorie des epischen Theaters schlug eine

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anti-aristotelische Dramaturgie vor, indem er die Fabel mithilfe von Musik, Erzählern und anderen Elementen fragmentierte, um die Zuschauer:innen von der Handlung zu distanzieren, was er „Entfremdung“ nannte. Dieser ästhetische Effekt sollte die Position des Zuschauers aktivieren, der aufgefordert wurde, das Gesehene kritisch zu reflektieren, um einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen zu wollen. Während die Orestie die Konstitution der Demokratie vorführt, verfolgen Brechts dramatische Texte eine materialistische Sichtweise, die auf der Möglichkeit einer Synthese der Geschichte – dem Sieg des Proletariats – aufbaut. Wir sollten uns jedoch davor hüten, die Brechtsche Theorie mit seinen Stücken zu verwechseln, und daran denken, dass jede Lesart immer von den Interpret:innen abhängt. Weitere teleologische Beispiele sind die mittelalterlichen Mysterienspiele, die die Jesusgeschichte vorführen. Das Passionsspiel der Kreuzigung an Ostern ist ein noch heute beliebtes Spektakel. Im Gegensatz zu diesen Stücken, die den Glauben an die christliche Transzendenz verbreiten, verweisen die oben genannten zeitgenössischen Dramen auf das Hier und Jetzt. Obwohl man in Brasilien und England ähnliche Ästhetiken findet, weisen die europäischen und lateinamerikanischen Stücke tiefgreifende Unterschiede auf. In Flussers Interpretation der Krise des europäischen Geschichtsdenkens, die er in der Methodologie der Neuen Geschichte manifestiert sah, stieß er auf unterschiedliche Motivationen für das Fehlen einer linearen Erzählung in Europa, die er mit Brasilien verglich: In den historischen Ländern handelt es sich um den bewussten Versuch, die lineare Diskursivität des Denkens gewaltsam zu brechen, weil man sich dort immer mehr des Umstands bewusst wird, dass die lineare Diskursivität in einen Abgrund führt. In Brasilien dagegen handelt es sich um den ebenso bewussten Versuch, die lineare Diskursivität des Denkens zu brechen, und zwar, weil diese Denkart schon längst dem Land nicht mehr entspricht, archaisch starr ist und es darum nötig ist, der echten Denkart zum Ausdruck zu verhelfen. (…) Dasselbe Phänomen beweist in den historischen Ländern, dass das geschichtliche Denken in einer Krise ist, und in Brasilien, dass ein ungeschichtliches Denken fähig ist, sich die Geschichte einzuverleiben. (Flusser, 1998, S. 154)

Obwohl sowohl das britische als auch die brasilianischen Stücke mit der narrativen Linearität und somit mit einem teleologischen Ausgang brechen, tun sie dies aus unterschiedlichen Gründen: Victory, da der Neoliberalismus die europäischen humanistischen Werte bedroht, und As traças da paixão und A Guerra Santa, weil die Wirkung des westlichen Geschichtsmodells nach der Erfahrung des Autoritarismus durch ein diesseitiges ersetzt wird. Die Stücke haben ähnliche Ansätze, aber resultieren jeweils aus unterschiedlichen Krisen: Europa stellt sein Geschichtsmodell infrage, während Lateinamerika auf der Suche nach einem eigenen Modell ist und sich dabei seiner indigenen Matrix und den afrikanischen Einflüssen annähert. In beiden Fällen werden dabei binäre Gegensätze, die integraler Bestandteil der teleologischen Weltsicht sind  – Klasse/Individuum, Natur/Kultur, hoch/niedrig, gut/ böse usw.  – verworfen. Stattdessen offenbaren die Dramaturgien den sich immer wiederholenden Machtmissbrauch, der in den Handlungsbrüchen kenntlich wird. Diese

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Abb. 44: Links – Bühnenbild von Emil Pirchan für Richard III , Regie von Leopold Jessner, 1919, Modell; rechts – Bühnenbildskizze

Wiederholungen sind Teil eines anderen Modells, von dem wir bereits kurz gesprochen haben: dem Kreislauf der Natur, der aus einem ständigen Werden und Vergehen besteht. Die Verwendung zyklischer Fabeln in der zeitgenössischen europäischen und lateinamerikanischen Dramaturgie warnt somit vor einer ewigen Wiederkehr, die sich aus der Aufrechterhaltung der Unterdrückung ergibt. Denn im kolonialistischen Kapitalismus der Moderne ist das zyklische Modell korrumpiert, es dient nicht der Erneuerung, sondern der Tyrannisierung. Um diese europäische Abwandlung des zyklischen Modells im Gegensatz zum evolutionären besser zu verstehen, möchte ich ein weiteres Beispiel aus der Theatergeschichte anführen. Der berühmteste Dramatiker der Welt, der Engländer William Shakespeare (1564–1616), entwickelt in seinen Geschichtsdramen bereits eine den zeitgenössischen Dramen vergleichbare Dramaturgie. Emil Pirchans Bühnenbild für Richard III , aus dem Jahr 1919, das von Leopold Jessner in Berlin inszeniert wurde, entstand aus der metaphorischen Umsetzung des Machtkreislaufs der Geschichte durch eine Treppe. Nach seinem Aufstieg zur Macht, der am Fuß der Treppe beginnt, findet die Krönung von Richard III auf der letzten Stufe statt. Sein Sturz und sein anschließender Tod bringen ihn dann wieder dorthin zurück, wo er begonnen hatte. Weder in Richard III noch in den zeitgenössischen britischen und brasilianischen Stücken finden wir eine Rekonstruktion der Vergangenheit. Walter Benjamin (1980) war, wie gesagt, der erste Denker, der das historiografische Modell problematisierte, das auf der Idee von Evolution oder Rekonstruktion beruht. Zu diesem Zweck prägte Benjamin den Begriff Historismus, mit dem er die Vorstellung verurteilte, dass wir fähig seien, die Geschichte zu kennen oder darzustellen. Nach Ansicht des Autors führe der Versuch, die Vergangenheit zu rekonstruieren, dazu, dass sich die Vergangenheit von der Gegenwart entferne. Das Hauptziel der Geschichtswissenschaft bestehe nicht darin, zu zeigen, wie die Dinge zu einer bestimmten Zeit wirklich waren, sondern zu erkennen, dass jede wissenschaftliche Untersuchung immer eine Interpretation der Geschichte beinhalte. Folglich sollte sich jede Studie an unseren zeitgenössischen Anliegen orientieren.

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Benjamin war davon überzeugt, dass wir nur dann wirklich mit der Geschichte in Berührung kämen, wenn wir den Historismus – den Versuch, die Vergangenheit als eine Geschichte von Ursache und Wirkung zu verstehen und uns auf Dokumente als unfehlbare Beweise zu stützen – vermieden und unsere gegenwärtige Perspektive in Betracht zögen: Der Historismus begnügt sich damit, einen Kausalnexus von verschiedenen Momenten der Geschichte zu etablieren. Aber kein Tatbestand ist als Ursache eben darum bereits ein historischer. Er ward das, posthum, durch Begebenheiten, die durch Jahrtausende von ihm getrennt sein mögen. Der Historiker, der davon ausgeht, hört auf, sich die Abfolge von Begebenheiten durch die Finger laufen zu lassen wie einen Rosenkranz. Er erfasst die Konstellation, in die seine eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist. Er begründet so einen Begriff der Gegenwart als der „Jetztzeit“, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind. (Benjamin, 1980, S. 704)

Genau in diesem Sinne setzen sich die oben beschriebenen zeitgenössischen dramatischen Texte mit ihren historischen Themen auseinander. Sie fragen nicht, wie das Leben von Männern wie Ödipus, Dante oder Karl II war, sondern welche Bedeutung, Relevanz und Wirkung sie heute noch haben.

Zum zeitgenössischen Film Ich möchte noch weitere Beispiele anführen, um das Verständnis für den Unterschied zwischen dem Geschichtenerzählen aus heutiger Sicht und einer historisierenden Sichtweise zu vertiefen. Wenn wir zum Beispiel an drei amerikanische Filme über die Sklaverei aus den letzten Jahren denken  – Lincoln (Steven Spielberg, 2012), Django Unchained (Quentin Tarantino, 2012) und 12 Jahre Sklave (Steve McQueen, 2013) – erweist sich das Konzept des Historismus als nützliches Instrument, um die Perspektiven und historischen Modelle zu erfassen, auf denen sie basieren. Obwohl Spielbergs Film versucht, die Vergangenheit des amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln und seines Kampfs für die Abschaffung der Sklaverei minutiös zu rekonstruieren, ist er weder nah an den tatsächlichen Ereignissen noch hat er eine zeitgenössische Perspektive. Lincoln, der vom Heldentum eines einzelnen Weißen ausgeht und erzählt, wie er sich einer Reihe korrupter Politiker entgegenstellt und sie für die Erreichung seines noblen Ziels einsetzt, legt den Schwerpunkt auf das Geschick der politischen Intrige sowie auf ein scheinbar mimetisches Bild des Vorgehens des Präsidenten. Dabei wird absichtlich die Beteiligung anderer historischer Akteure vergessen, Abb. 45: Lincoln, Steven Spielberg, die an diesem Kampf beteiligt waren und die ihn schon seit 2012, Filmplakat

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Abb. 46: Links – 12 Jahre Sklave, Steve McQueen, 2013; rechts – Django Unchained, Quentin Tarantino, 2012; Filmplakate

Jahrhunderten geführt hatten: die Versklavten oder ehemaligen Versklavten in den USA . So war zum Beispiel der Butler des Präsidenten selbst im Kampf gegen die Sklaverei aktiv, wird aber auf die Rolle eines typischen Dieners reduziert. Der Film konzentriert sich zwar auf eine detailgetreue Darstellung des 19. Jahrhunderts durch Kostüme, Make-up und Kulissen, ignoriert dabei aber völlig historische Tatsachen und ein brennend aktuelles Problem und die Folge des Sklavenhandels: den Rassismus. Die hitzige öffentliche Debatte, an der afroamerikanische Filmemacher wie Spike Lee oder die einflussreiche Fernsehmoderatorin und Journalistin Oprah Winfrey beteiligt waren, zeigt, dass Quentin Tarantinos Django Unchained den Finger direkt in die amerikanische Wunde bezüglich der Vergangenheit und Gegenwart des Rassismus legte. Die Zeitgenossenschaft des Films, der sich Freiheiten in Bezug auf die Geschichte nimmt und Tabus bricht, um eine historisierende Rekonstruktion zu vermeiden, wurde in der Kontroverse um die Hauptfigur deutlich, einem afroamerikanischen Cowboy, der die Sklaverei mit der für Tarantino-Filme üblichen grafischen Gewalt rächt. 12 Jahre Sklave des afrobritischen Regisseurs Steve McQueen, der 2013 bei der OscarVerleihung den Preis für den besten Film gewann, steht mit seiner Darstellung der Brutalität der amerikanischen Sklaverei zwischen Tarantinos freier Interpretation und dem vermeintlich realistischen spielbergschen Historismus. Der Film basiert auf einer wahren Geschichte, geschrieben von Solomon Northup, einem freien Afroamerikaner mit formaler

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Bildung und Vater einer bürgerlichen Familie, der auf den Straßen von New York entführt und an einen Farmer im Süden verkauft wurde. Obwohl er die Epoche rekonstruiert, gelingt es McQueen in seiner Verfilmung, dies aus einer zeitgenössischen Perspektive zu tun, die die aktuellen Probleme des Rassismus hervorhebt und so die weiße paternalistische Welt als gewalttätig und ohne Respekt für die erworbenen Rechte der Afroamerikaner darstellt. Im Gegensatz zu vielen anderen Hollywood-Filmen über Sklaverei gibt es keine angepassten weißen oder versklavten Männer. Alle Figuren spiegeln die Brutalität und Unmenschlichkeit der Sklavenhaltung wider. Im zeitgenössischen brasilianischen Kino zeigt die Kontroverse um einen der wenigen Filme zu diesem Thema, Vazante (2017) von Daniela Thomas, dass das Thema in Lateinamerika ebenso sensibel ist. Dem Film wurde nicht nur vorgeworfen, die Subjektivität der versklavten Charaktere zu verleugnen, sondern auch, sie nur als Kulisse zu verwenden, ohne tiefer auf die Fragen der Sklaverei oder des Rassismus einzugehen. Vazante zeigt zwar, Abb. 47: Vazante, Daniela Thomas, 2017, Filmplakat dass Kolonialismus und Sklaverei ein entmenschlichendes System geschaffen haben, das alle Menschen betraf (und immer noch betrifft), aber die Gefangenschaft einer jungen weißen Frau, die an den Plantagenbesitzer verheiratet wird, ist wichtiger als deren Leid. Der Protagonist des Films ist eben dieser portugiesische Plantagenbesitzer und Sklavenhändler, dessen Schmerz (der Verlust seiner Frau und seines Sohnes) und Gefühle (seine Leidenschaft für die junge Frau) im Mittelpunkt von Vazante stehen. Obwohl der Film versucht ausgewogen zu sein, indem er sowohl die Menschlichkeit als auch die Unmenschlichkeit des Aggressors erforscht, und mit einer sensiblen und taktilen Inszenierung in Schwarz-Weiß dem Historismus zu entgehen versucht, wird der Horror der Sklaverei fast ignoriert. Denn, wie fast immer in der brasilianischen Filmgeschichte, wird die Geschichte aus der Sicht der Täter und nicht der Opfer dargestellt. In der Tat bleibt die bürgerliche Perspektive des Films, den Privilegien und Gefühlen der weißen Mittelschicht verpflichtet. Wieder wird der status quo bestätigt und der Sklavenhalter fast entlastet, da er als sentimentaler Irrender allzu gut abschneidet. Vazante fügt dadurch nichts dem hinzu, was bereits in den Sozialwissenschaften oder sogar im Kino verhandelt wurde. Seine Lesart ist dem berühmtesten brasilianischen Text über Sklavenhaltung von Gilberto Freyre (1987), Herrenhaus und Sklavenhütte, der erstmals 1933 veröffentlicht wurde und maßgeblich für den falschen Mythos der rassischen Demokratie in Brasilien verantwortlich ist, sehr nah.

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Zur zeitgenössischen Kunst Ähnlich wie die zeitgenössische Theater- und audiovisuelle Dramaturgie beschäftigt sich auch die zeitgenössische Kunst mit der Geschichte und versucht, alternative Narrative zu etablieren. Ich werde sechs Beispiele vorstellen, mit denen ich Walter Benjamins Text noch näher beleuchte und eine seiner zentralen Idee, die „Geschichte der Besiegten“, einführe, die die defizitäre Meistererzählung der Sieger herausfordert: Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Massgabe von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten. (Benjamin, 1980, S. 696–697)

Benjamin ist heute in Bezug auf die Diskussion genauso aktuell wie schon in den 1940erJahren, als sein Text im Kontext des Faschismus, einer Verlängerung des kolonialistischrassistischen Denkens, entstand. In Bezug auf die aufgeführten Beispiele kann man sagen, dass Vazante und Lincoln Kulturgüter sind, die Teil der Barbarei sind. Sie bürsten die Geschichte der Sklaverei nicht gegen den Strich. Im Gegenteil, sie nehmen immer noch die Perspektive der Sieger ein, egal ob dies mit der Ästhetik des Hollywoodfilms oder des Autorenfilms geschieht. Die Perspektive der Besiegten wird absichtlich ausgespart. In As traças da paixão und A Guerra Santa hingegen wird die abendländische Kultur neu gelesen. Es werden Geschichten der Besiegten erzählt und das lineare Geschichtsmodell und die Rolle einiger berühmter westlicher Figuren umgewertet. In der zeitgenössischen Kunst wird die Geschichte durch die Wiederverwendung von Kunstwerken oder bestehenden kulturellen Referenzen oftmals gegen den Strich gebürstet. Die Mona Lisa mit Bazooka aus dem Jahr 2007 – ein Abb. 48: Mona Lisa mit Bazooka, Banksy, 2007, Graffiti, Graffiti von Banksy, einem britischen Soho, London

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Künstler, der seine Identität anonym hält und sich damit jeder Urheberschaftstheorie widersetzt  – ist ein Paradebeispiel für eine Neuinterpretation durch Aneignung. Sein Graffiti wirft unbequeme Fragen darüber auf, was die kanonisierten Kulturgüter des angeblich zivilisierten, aber letztlich barbarischen Westens heute bedeuten. Es greift somit auch die eurozentrische Kunstgeschichte als eine Disziplin an, die ihre Meisterwerke im Kontext einer MeisAbb. 49: Checkmate, Nelson Leirner, 1999, Holz tererzählung der Sieger bewahrt. und gemischte Medien, Privatsammlung Der brasilianische Künstler Nelson Leirner verwendet ebenfalls sehr unterschiedliche Referenzen aus Hoch- und Populärkultur und verwandelt sie in Spiele, die ihre ursprüngliche Identität verändern und soziopolitische Konflikte ausdrücken. Checkmate (Schachmatt), aus dem Jahr 1999, benutzt das Schachbrett als Metapher für einen kulturellen Konflikt zwischen den Vertretern der offiziellen katholischen Religion – industriell hergestellte und kommerzialisierte katholische Heiligenfiguren – und den Ureinwohnern – ebenfalls Plastikfiguren –, die von den Heiligen in die Enge getrieben werden. Checkmate zeigt, dass die Geschichte der brasilianischen Kolonialisierung im Namen des Christentums eine ungleiche Konfrontation war, bei der die Sieger von Anfang an

Abb. 50: Rechts –Natureza Morta, Denilson Baniwa, 2020, Fotografie; links: Moema, Victor Meirelles, 1866, Öl auf Leinwand, Museu de Arte de São Paulo

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feststanden. Anstatt die vermeintlichen Kulturschätze der westlichen Welt – die Mona Lisa oder katholische Heilige – auf ein Podest zu heben, enthüllen beide Werke deren verborgene Gewalt und ihre Beteiligung am Bilderkrieg, den die Kunstgeschichte zu befrieden versuchte. Es sind zeitgenössische Neuinterpretationen kanonisierter Kunstwerke oder Ikonen, die die Geschichte (der Kunst) gegen den Strich bürsten. Benjamins Text ermöglicht, zu verstehen, dass Künstler wie Banksy und Leirner die Geschichte der Sieger zu demontieren suchen. Die Künstler enthüllen die Barbarei in kanonischen Kunstwerken, in dem sie sie aus der Sichtweise der Besiegten umdeuten, wie auch die indigene Monalisa von Denilson Baniwa, die das Cover dieses Buches ist. Im Museu de Arte de São Paulo (Kunstmuseum São Paulo) kam es zu einer konfrontierenden Hängung einer Neuinterpretation des berühmten Bildes Moema von Victor Meirelles, von 1866, durch den selben Künstler. Es stellt eine indigene Frau, dar, die durch ihre Liebe zu einem portugiesischen Kolonialisten im 18. Jahrhundert starb, und romantisiert somit die Gewalt der Kolonialität. Ihr toter Körper bietet sich europäischer Ikonografie folgend erotisch den Betrachter:innen an. Baniwas Natureza Morta (Stilleben; im portugiesischen Tote Natur), von 2020, adaptiert

Abb. 51: Geburt von Oshun, Harmonia Rosales, 2017, Öl auf Leinwand

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den toten indigen Körper, der nun eine abgeholzte Fläche im Amazonasgebiet einnimmt. Damit formuliert er sowohl eine Kritik an der historischen als auch an der zeitgenössischen Barbarei, der erst portugiesischen und heute brasilianischen Kolonialmacht und Ausbeutung. Auch afrikanische und afrodiasporische Künstler haben diese Form der Auseinandersetzung mit dem Bilderarchiv der kolonialen Kunstgeschichte aufgenommen und sich deren Arbeiten angeeignet. Die Kubanerin Harmonia Rosales hat etwa Sandro Botticelis (1445–1510) Geburt der Venus (1486) zur Geburt von Oshun (2017), einer afrodiasporischen Gottheit, umgearbeitet, und in ihrem Bild die Figuren der Sieger durch die der Besiegten ersetzt. Ich möchte noch zwei Performances als Beispiele benutzen, die den Körper als Material verwenden und erst als Happening, ein von Allan Kaprow (1958) geprägter Begriff, bezeichnet wurden. I like America and America likes me (Ich mag Amerika und Amerika mag mich) war eine Performance des deutschen Künstlers Joseph Beuys, der 1974 einige Tage mit einem Kojoten in der René Block Gallery in New York verbrachte. Durch seine Interaktion mit dem wilden Tier versuchte er, die Beziehung zwischen Mensch und Tier wiederherzustellen. Hélio Oiticicas Parangolé ist hingegen ein Beispiel für die Entwicklung von Identitäten außerhalb des traditionellen Kunstsystems, das ebenfalls den Körper als Material verwendet. Es wurde im selben Jahr wie das Beuys-Happening für eine Performance verwendet. Der brasilianische Künstler versuchte weiterzugehen als der deutsche, denn er bezog auch den Körper der Zuschauer:innen mit ein. Ausgehend von seinen Studien

Abb. 52: I like America and America likes me, Josef Beuys, 1974, Performancefotografie

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zum Samba in den Armenvierteln von Rio de Janeiro, wo die Verlierer der brasilianischen Geschichte leben, schuf Oiticica ein Ereignis, um die Beziehung zwischen dem Publikum, dem Ort des Happenings und dem Kunstwerk neu zu definieren. Das Parangolé besteht aus einem Umhang aus verschiedenen Stoffen und Bannern, die von Zuschauer:innen getragen werden können. Wenn sie bewegt werden, schaffen sie einen Raum des Experimentierens und der spontanen Erfahrung, da der Körper zu einer bunten, bewegten Form wird. Ziel ist es, wie der Künstler selbst sagte, einen Moment der Freiheit zu schaffen: „Es geht darum, dem Menschen von heute die Möglichkeit zu geben, schöpferisch zu sein, durch die Teilnahme Vielfältiges zu entdecken, was ihnen einen Sinn gibt“ (Oiticica apud Jacques, 2007, S. 110). Die Verlagerung vom Künstler zu den Teilnehmer:innen, von der Kunst- Abb. 53: Parangolé, Hélio Oiticica, Standfoto aus HO , Ivan welt der Mittelschicht zu den benach- Cardoso, 1979 teiligten Bevölkerungsschichten, zielt darauf ab, die Grenzen zwischen diesen Räumen zu durchbrechen und den letzteren die Ausübung von zeitgenössischer Kunst zu ermöglichen, die historisch in Brasilien auf die weiße Elite beschränkt war. Obwohl hier nach Inklusion gesucht wird, kann man Oiticica den Vorwurf machen, dass er ein westliches Kunstdenken auf die Favelabwohner übertrug, denn letztlich hatte er ja aus ihren kulturellen Manifestationen seine Ideen bezogen, ohne deren Epistemologie miteinzubeziehen. Denn sie selbst brauchen die Befreiung des Körpers nicht. Die Mittelschicht, der Oiticica angehört, hingegen schon, da sie Teil der Kolonialität und deren eurozentrischer Vorstellung einer Dichotomie von Körper und Geist ist. Bei Oiticica und Beuys kann man wieder beobachten, dass sie vom westlichen Kunstverständnis und der Trennung zwischen Mensch und Natur ausgehen. Wie schon mehrfach beobachtet, haben außereuropäische Künstler:innen dieses Problem nicht. Die Bewegründe indigener und afrodiasporischer Künstler, mit der Geschichte der Sieger zu brechen sind andere, als die verwestlichter Künstler. Das Bewusstsein der Barbarei ist ihnen aber zumeist gemeinsam.

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Von Geschichtsmodellen und Kunststudien Ausgehend von dem, was ich bisher in diesem Kapitel vorgestellt habe  – Geschichtsmodelle und ihre Verwendung oder Hinterfragung in der Kunst –, möchte ich nun untersuchen, wie die Modelle von den Disziplinen, die sich mit Kunst befassen, angewandt werden und auf welche Weise sie deren Geschichtsschreibung beeinflussen. Obwohl ich bereits das linear-progressive Modell und die westlichen Meistererzählungen kritisiert habe, möchte ich ein weiteres Konzept einführen: Jacques Rancières (2006a) Fiktionalität, mit dem sich die Unmöglichkeit jeglicher Objektivität in Geschichtsschreibung noch besser herausstellen lässt. Für Rancière (2006a, S. 39) sind alle menschlichen Disziplinen und Aktivitäten nichts anderes als Fiktionen: Politik und Kunst konstruieren ebenso wie Wissensformen Fiktionen, d. h. materielle Neuanordnungen von Zeichen und Bildern, Beziehungen zwischen dem, was gesehen wird und dem, was gesagt wird, zwischen dem, was getan wird und dem, was getan werden kann.

Wir haben mehrere Beispiele aus der zeitgenössischen Kunst, dem Theater und dem Film gesehen, in denen das teleologische Modell einer angeblich evolutionären Geschichte angezweifelt oder gegen den Strich gebürstet wird. Es ist zu bedenken, dass in den verschiedenen Disziplinen, die sich mit den Künsten befassen, diese Art kritischer Auseinandersetzung noch recht jung und nicht vollständig assimiliert ist. Das liegt daran, dass die Disziplinen aus dem analytisch-historisierenden Denken des 19. Jahrhunderts hervorgegangen sind und Schwierigkeiten haben, sich von dieser Tradition zu befreien. Denn die historische Dimension war, wie Foucault zeigte, grundlegend für die Entstehung aller und somit auch der kunstwissenschaftlichen Disziplinen. Um zu eigenständigen Disziplinen zu werden, schrieben Kunst-, Literatur, Theater-, die Film-, Kommunikations- und Medienwissenschaften jeweils ihre eigenen Geschichten, blieben aber dem konventionellen historiografischen Modell treu. Und dies, obwohl sie schnell erkannten, dass es notwendig war, sie umzuschreiben und neu zu interpretieren, oder, um den benjaminschen Ausdruck zu benutzen, die Geschichten der Sieger herauszufordern.

Zur Kunstgeschichte Ich habe wiederholt daran erinnert, dass Giorgio Vasari den Grundstein für alle Fiktionen (oder Meistererzählungen) der Kunstgeschichte gelegt hat, indem er einen Kanon – große Autoren und ihre Werke – und Hierarchien – wer soll erinnert werden und warum – definierte, um bestimmte Künstler:innen der Renaissance zu verewigen. Die Kunsthistoriker:innen vor und nach ihm haben – je nach Kriterium – nicht nur Künstler:innen und Werke, sondern auch bestimmte Epochen als die künstlerisch erfolgreichsten hervorgehoben und so eine Geschichte der Sieger geschaffen. Während Vasari und der Schweizer Kunsthistoriker Jacob Burckhardt (1818–1897), die Renaissance in den Vordergrund stellten, erklärten Hegel und Nietzsche die griechische

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Kunst nicht nur zur Wiege sondern auch zum Höhepunkt der westlichen Kultur. In der Tat ist die Definition eines Ursprungs ein Schlüsselelement für jede evolutionäre Geschichtsschreibung. Die Definition der griechischen Kunst als Gipfelpunkt der europäischen Ästhetik machte sie zu Modell und Referenz für alles, was danach kam, und ermöglichte, scheinbare Fortschritte an ihr zu messen oder Dekadenzen zu behaupten. Vasaris Vorstellung von einer Wiederbelebung der Künste im 15. Jahrhundert ist nur eines von vielen Beispielen für diese Art der Geschichtsschreibung. Vasari würdigte zwar die griechische Kunst, jedoch mit dem Ziel, die Bedeutung seiner eigenen Zeit aufzuwerten und einen neuen Ursprungsmythos zu etablieren, der stark genug war, um den alten zu ersetzen. Didi-Huberman (2000, S. 69) sieht in Vasaris Strategie nicht nur die Begründung einer neuen Disziplin – der Kunstgeschichte –, sondern einer neuen Religion mit definiertem Endpunkt: „Aber eine Rinascità verlangt auch nach einer Zukunft, nämlich einer Vorstellung von Teleologie.“ Die Idee der Nachahmung der Natur war Vasaris Mittel zum Zweck: „Er ist es, der die Muttergöttin – die Nachahmung – formt und schwängert“ (Didi-Huberman, 2000, S. 84). Sie war das zentrale Bewertungskriterium, mit dem er seine Geschichte der Sieger etablieren konnte. Didi-Huberman (2000, S. 89) erläutert, dass es Vasaris Anliegen war, die Nachahmung als Bestimmung der Kunst durch die Begriffe einer Erkenntnisphilosophie intellektuell zu begründen. Dazu musste er die Nachahmung strategisch auf den Begriff des disegno, der Zeichnung, beziehen. Er ermöglichte, „die künstlerische Tätigkeit als eine ‚liberale’ Tätigkeit zu begründen und nicht als handwerkliche, und zwar deshalb, weil das Wort disegno ebenso sehr ein Wort des Geistes als eines der Hand war“ (Didi-Huberman, 2000, S. 86). Indem er sie als intelligibel erklärte, schirmte Vasari dadurch die Kunst gegen neue Angriffe der Philosophie oder der Theologie ab. Eine Tradition, die Deleuze und Guattari wieder aufnehmen würden. Mit dem Verweis auf seine herausragenden Fähigkeiten beförderte Vasari auch die soziale Rolle des Künstlers. Wenn man diese Aussage im Zusammenhang mit dem vorangegangenen Kapitel betrachtet, in dem wir gesehen haben, dass die Philosophie die Kunst immer entsprechend ihrer Fähigkeit, dem Intelligiblen zu dienen, bewertete, schlug Vasari – selbst ein Künstler – eine effizientere Definition vor, derzufolge Künstler:innen als befähigt angesehen wurden, eine Brücke zwischen dem Sensiblen und dem Intelligiblen zu schlagen. Diese Idee hatte bereits Aristoteles gehabt. Vasari zufolge war das Sensible nicht nur ein Weg zum Intelligiblen, wie Platon annahm, oder zur universellen Moral, wie Kant dachte. In der neuen Religion der Kunstgeschichte beschritt das Intelligible den umgekehrten Weg, indem es sich dem Sensiblen zuwandte: Eine zweite Religion, in welcher das Intelligible zum sinnlich Wahrnehmbaren herabsteigt und es dank einer magischen Operation, dem disegno, vereinnahmt; mit Göttern im Himmel einer eterna fama vereinen; schließlich mit der Begründung eines Wissens, jenes sapere dell‘artefice, das einer Rechtfertigung bedurfte und intelligibel, intelligent und „liberal“ sein sollte. (Didi-Huberman, 2000, S. 92)

Obgleich kritisch gegenüber der Art und Weise der Implementierung der Kunstgeschichte als neuer Religion, sieht Didi-Huberman in dem vasarianischen Vorschlag der Vereinigung

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Abb. 54: Petruswunder, Masolino da Panicale, 1432, Fotografie des Freskos mit Linien des ­Fluchtpunkts, Brancacci Kapelle, Santa Maria del Carmine, Florenz

von Hand und Verstand einen positiven Aspekt, der, wenn man sich an die Schwierigkeiten erinnert, die Philosophie und Theologie immer mit dem Sensiblen hatten, kenntlich wird. Der Autor weist auch darauf hin, dass Kant, wie wir bereits gesehen haben, diese Einheit zwischen Sensiblem und Intelligiblem wieder in zwei Teile zerlegte. Mehr noch, die kantische Definition der Künstler:innen als Genie widerspricht Didi-Hubermans (2000, S. 99) Meinung nach der von Vasari vorgeschlagenen Fähigkeit intelligibler Nachahmung. Obwohl Didi-Huberman die Nachahmung der Natur und das disegno als Vasaris Hauptbegriff in diesem ersten Projekt einer Kunstgeschichte herausstellt, wurde die Perspektive später zum zentralen teleologischen Endpunkt. Das Petruswunder von Masolino da Panicale aus dem Jahr 1432 gilt als das erste Bild mit einem Fluchtpunkt, der perfekt in den Hintergrund des Freskos übergeht. Die Bedeutung, die dem Bild beigemessen wurde, macht die Suche nach Ursprüngen und Höhepunkten in der Kunstgeschichte kenntlich. Sie sollen eine Teleologie der Form etablieren, die in diesem Fall mit der technischen Fähigkeit, eine Perspektive herzustellen, zusammenfällt. David Hockney (2001) widmete dem Mythos der Naturnachahmung und der Perspektive eine jahrelange Studie, die von dem Verdacht getrieben wurde, dass der Fluchtpunkt am Beginn und nicht am Ende der Suche nach einer künstlerisch-technischen Methodologie steht. Durch die Analyse und Rekonstruktion des Einsatzes verschiedener Geräte wie Linsen und Spiegel in Cameras obscuras, die Landschaften und Menschen projizieren können, kam der Maler zu dem Schluss, dass es einen „langen Dialog zwischen Bildern und Optik“ (Hockney und Gayford, 2016, S. 98) gegeben hat. Linsen, die 1286 von einem Handwerker in Pisa erstmals hergestellt wurden, dessen Name trotz der Bedeutung seiner Entdeckung in Vergessenheit geriet, hätten zur Veränderung in der künstlerischen Produktion geführt. Ihre Anwendung resultiere in der falschen Vorstellung, dass Naturnachahmung und Perspektive Errungenschaften sein. Deshalb sollten sie nicht als

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Erfindung, sondern als Bestätigung eines optischen Gesetzes gesehen werden. Durch die Verwendung von Linsen wäre tatsächlich eine neue Art von Bildern, nämlich jene „die eine natürliche Kamera erzeugt“ (Hockney und Gayford, 2016, S. 94) entstanden. Allerdings wissen wir nicht, ob Camaras obscuras nicht schon früher benutzt wurden. Diese Linsen waren es, die es Künstlern und Architekten wie Filippo Brunelleschi (1377–1446) und Leon Battista Alberti ermöglichten, den beweglichen Blick der Augen durch die Fokussierung auf einen einzigen mathematischen Punkt zu ersetzen (Hockney und Gayford 2016, S. 103). Brunelleschi benutzte höchstwahrscheinlich die Kathedrale Santa Maria del Fiore als natürliche Camara Obscura, um eine perspektivische Zeichnung des Baptisterium von San Giovanni herzustellen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst, so Hockney (2016, S. 96), wäre ein Bild gemacht worden, „nicht um eine Person, ein göttliches Wesen, eine Geschichte, ein Ereignis oder ein Objekt darzustellen, sondern um eine optische Wahrheit zu demonstrieren“. Friedrich Kittler (2002, S. 75–78) bietet eine Erklärung der Perspektive, die der von Hockney und Gayford (2016) nahekommt und darüber hinaus von der üblichen Erklärung einer stilistischen Entwicklung abweicht. Denn er sieht die Geschichte der Medien ebenfalls als Ergebnis der Verwendung von Cameras obscuras und damit als Teil eines größeren menschlichen Projekts zur Kodifizierung und folglich zur Virtualisierung der Welt. Seine These ist radikaler, denn er schlägt vor, dass diese Virtualisierung dem Wunsch nach der Selbstvernichtung der Menschheit entspränge. Er bringt dies allerdings nicht mit der Kolonialität in Verbindung, obwohl dies eine mögliche Assoziation wäre, da der Wunsch der Vernichtung und Unterdrückung Anderer ja zwangsläufig zur eigenen Vernichtung führen muss.

Abb. 55: Schema eines virtuellen Bildes des Baptisteriums von San Giovanni von Filippo Brunelleschi, Zeichnung von Federica Caldi

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Unabhängig von den Gründen für die technologischen Entwicklungen, die eine größere Beherrschung der geometrischen Darstellung der Welt ermöglichten, wurden Gründungsmythen, die Verherrlichung bestimmter Epochen, bestimmter Künstler:innen, bestimmter Werke und bestimmter Stile als Schlüsselelemente in den Fiktionen der Kunstgeschichte verwendet. Ich habe in der Einleitung darauf hingewiesen, dass diese Elemente und der anschließende Diskurs über evolutionäre und positivistische Geschichte ab den 1980er-Jahren eine Neubewertung erfuhren. Hans Belting erlangte weltweite Bekanntheit, als er die übertriebene Beschäftigung der Kunstgeschichte mit dem Stil und ihrem darauf aufbauenden teleologischen Diskurs zu entlarven suchte: Sich über das Ende der Kunstgeschichte Gedanken machen, heißt, nicht, das Ende der Kunstforschung prophezeien. Eher ist damit die in der Praxis oft schon vollzogene, aber noch wenig reflektierte Ablösung von bewährten Mustern der geschichtlichen Darstellung „der Kunst“ gemeint. Sie waren meist Spielarten von Stilgeschichte. (Belting, 1984, S. 7)

Ein formales Element, der Stil, wurde als zentrales Paradigma gewählt, um eine Meistererzählung zur Entwicklung und Exzellenz der europäischen Kunst zu entwerfen, wie wir im nächsten Kapitel noch genauer sehen werden, wenn wir die Kunstgeschichte als Teil der Humanwissenschaften betrachten werden. Ein weiteres Problem, auf das Belting hinwies, war der Eurozentrismus. Heute ist, laut Dana Arnold diese kritische Sichtweise bereits assimiliert. Sie stellt fest, dass die Schaffung eines Kanons europäischer Kunstwerke ein direktes Ergebnis des stilzentrierten Diskurses sei: Diese Weltsicht beginnt uns etwas darüber zu sagen, wie Kunstgeschichten geschrieben wurden, und zwar aus einer sehr westlichen Perspektive, basierend auf westlichen Ideen und unter Betonung der Werte, über die eine männlich dominierte Gesellschaft und Kultur lesen und die sie in den Werken selbst sehen möchte.“ (Arnold, 2004, S. 18)

Dennoch sind die Bücher, die an Universitäten gelehrt werden, wie bereits bemerkt, diejenigen, die weiterhin den weißen, männlichen, europäischen Kanon darstellen. Mit diesem restriktiven Diskurs unzufrieden, fragte Belting 1983, wie gesagt, ob die Kunstgeschichte nicht am Ende sei. Die Frage führte nicht zu einer positiven Antwort, sondern zur Verifizierung des Endes des teleologischen Diskurses. Zehn Jahre später reflektierte Belting (1995) erneut und kam zum Schluss, dass es sich um das Ende einer Tradition handele. Der positive Aspekt dieses „Endes“ war die Suche nach und die Schaffung eines neuen Rahmens, genauer gesagt, die Öffnung der Disziplin für neue Studienobjekte, entweder in geografischer oder technologischer Hinsicht. D. h. es wurde, wie bereits erwähnt, die Idee einer „globalen Kunst“ eingeführt, um der zeitgenössischen postkolonialen Produktion der letzten zwanzig oder dreißig Jahre Rechnung zu tragen, sowie diejenige Kunst zu berücksichtigen, die mit neuen technologischen Geräten hergestellt wird (Belting, 2013). Wenn man ehrlich ist, hatte das restriktive Konzept der hohen Kunst in der klassischen Kunstgeschichte – das vor allem mit den bildenden Künsten wie Architektur, Skulptur,

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Abb. 56: Links oben – Die kleine Straße, Johannes Vermeer, 1658, Öl auf Leinwand, Rijksmuseum, Amsterdam; rechts oben – Blick aus dem Fenster in Le Gras, Joseph Nicéphore Niépce, 1826, Fotografie; unten – Dächer in Neapel, Thomas Jones, 1782, Öl auf Papier, The Ashmolean Museum of Art and Archeology, Oxford

Ölmalerei, Fresken, illustrierten Evangelien usw. als Hauptgegenständen assoziiert wird – aufgrund der Auswirkungen der Reproduktionstechnologien und der Neuen Medien seit Jahrzehnten keinen Sinn mehr gemacht. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Bildwissenschaft aus dieser Einsicht heraus entstand. David Hockney und Martin Gayford (2016, S. 227) sind deshalb in ihrer Geschichte der Bilder der Meinung, dass die Geschichte der Fotografie als Erweiterung der Geschichte der Malerei neu geschrieben werden sollte. Denn Hockneys Studien zur Camera obscura und zur Verwendung optischer Geräte zeigten, dass fotografische Bilder weder einen Bruch darstellten, noch eine neue Perspektive oder Weltanschauung ausdrückten, sondern die der Ölmalerei fortführten. Johannes Vermeers Die kleine Straße von 1658, Thomas Jones Dächer in Neapel von 1782 und die erste Fotografie von Joseph Nicéphore Niépce, Blick aus dem Fenster von Le Gras

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von 1826, sind alle das Ergebnis des Einsatzes einer Kamera. Sie werden von Hockney und Gayford benutzt, um zu zeigen, dass verschiedene Künstler an denselben Rahmenbedingungen interessiert waren, die sie mit Technologien erreichten, deren einziger Unterschied darin bestanden habe, dass eines mit Chemikalien auf Papier fixiert wurde. Die Autoren drücken ihre Überraschung darüber aus, dass das Jahr 1839, in dem die Fotografie, „das Kind der Malerei“, offiziell in Paris geboren wurde, in der Kunstgeschichte nicht auftauche (Hockney und Gayford, 2016, S. 228). Denn um die Fotografie als Kunstform zu etablieren, wurde ihre Geschichte separat geschrieben. Dabei standen die neoplatonischen Ideen Realismus, Wahrheit und Illusion angesichts ihrer Technologie und Transparenz, die sowohl mit ihrer vermeintlichen Objektivität als auch mit ihrer Reproduzierbarkeit assoziiert werden, die mit dem Fehlen einer Künstlerhand verbunden ist, im Vordergrund. Interessanterweise war es ein französisches Gericht, das 1862 aus urheberrechtlichen Gründen die Fotografie erstmals zur Kunstform erklärte. Das Spezifische dieser neuen Kunst zu entdecken, wurde dann zur Aufgabe ihrer ersten Historiker. John Szarkowski (1966) fand es in ihrer Fähigkeit, Bilder zu schaffen, was aber an sich nichts Neues war. Hockney und Gayford (2016, S. 234) nennen dies einen Mythos. Es lohnt sich auch daran zu erinnern, dass es immer große Kontroversen über die Authentizität fotografischer Bilder, ihre Konstruktion und Inszenierung gegeben hat. Robert Capas Der fallende Soldat (1913–1954), das 1936 während des Spanischen Bürgerkriegs aufgenommen wurde, ist eine der hundert einflussreichsten Fotografien der Welt,

Abb. 57: Der fallende Soldat, Robert Capa, 1936, Fotografie

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obwohl es höchstwahrscheinlich nur eine gestellte Fiktion ist. Seine Komposition, die für die Darstellung des plötzlichen Todes im Moment eines Konflikts bekannt ist, erinnert nicht zufällig an ein anderes berühmtes Bild eines Attentats: Der dritte Mai 1808 (1814), das vom spanischen Künstler Francisco Goya (1746–1828) gemalt wurde. Das Foto hat zwar nicht die gleichen narrativen Elemente wie das Ölgemälde, ist aber Teil der gleichen christlichen Opferikonografie. Hockney und Gayford (2016, S. 265) vergleichen die beiden Bilder und sind der Meinung, dass Capas Bild inszeniert sei, was jedoch seine Qualität und Wirkung nicht schmälere. In den 1980er-Jahren, als Belting den klassischen Diskurs der Kunstgeschichtsschreibung hinterfragte, war das Interesse an neuen Objekten, wie etwa der Fotografie, nicht neu. Die Kulturwissenschaften hatten 1964 eine neue akademische Disziplin ins Leben gerufen, die sich mit der Populärkultur und reproduzierbaren Massenmedien befasste. Dieser interdisziplinäre Studienbereich erwuchs gerade aus der Problematisierung der zeitgenössischen Kultur und ihrer politischen Dynamik, nachdem sich die Aufmerksamkeit von der Kunst auf industriell produzierte Medien, einschließlich Werbung und Design, verlagert hatte. Die langsame Entthronung der Kunst als Banner nationaler Kultur wurde auch in den postkolonialen Studien vollzogen. In den Schriften des palästinensischen Gelehrten

Abb. 58: Der dritte Mai 1808, Francisco Goya, 1814, Öl auf Leinwand, Museo del Prado, Madrid

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Edward Said finden wir eine Definition von Kultur, die uns darauf aufmerksam macht, dass westliche Kunst nur eine von vielen menschlichen Praktiken und Wissensformen ist. Wenn man ihr zu viel Bedeutung beimesse, bestehe die Gefahr, dass sie feindselig und ausgrenzend würde – ein Gedanke, der sich mit Benjamins Geschichte der Sieger deckt: In dem Sinne, wie ich es benutze, bedeutet das Wort „Kultur“ insbesondere zweierlei. Erstens meint es jene Praktiken der Beschreibung, Kommunikation und Repräsentation, die relative Autonomie gegenüber dem ökonomischen, sozialen und politischen Sektor genießen und sich häufig in ästhetische Formen kleiden, die u. a. Vergnügen bereiten; eingeschlossen sind da sowohl der volkstümliche Sagenschatz über entlegene Weltgegenden als auch spezialisierte Kenntnisse in akademischen Disziplinen wie Ethnografie, Geschichtsschreibung, Philologie, Soziologie und Literaturgeschichte. Da mein ausschließlicher Gesichtspunkt hier die moderne westliche Herrschaft des 19. und 20. Jahrhunderts ist, habe ich besondere Aufmerksamkeit kulturellen Schöpfungen wie dem Roman gewidmet, die, wie ich glaube, eine hohe Bedeutung bei der Herausbildung imperialer Einstellungen, Referenzen und Erfahrungen gehabt haben. (…) Zweitens bezeichnet Kultur – und auf beinahe unmerkliche Weise – ein Konzept der Verfeinerung und der Erhebung, das Reservoir jeder Gesellschaft „am Bestem“, was je erkannt und gedacht worden ist, wie Matthew Arnold das in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ausgedrückt hat. Arnold glaubte, dass Kultur die Verheerungen einer modernen, aggressiven, merkantilen und brutalisierenden städtischen Lebensform zu besänftigen, wenn nicht gar zu neutralisieren vermöge. Man liest Dante oder Shakespeare, um mit dem „Besten“ Schritt zu halten, was gedacht und erkannt worden ist, und um sich selbst, die eigene Gesellschaft und Tradition im hellsten Licht zu sehen. Mit der Zeit wird die Kultur, häufig militant, mit der Nation oder dem Staat assoziiert, nahezu immer mit einem gewissen Grad an Xenophobie. Kultur in diesem Sinne ist eine Quelle der Identität, übrigens eine ziemlich heftige, wie wir an neueren Beispielen der „Rückkehr“ zu Kultur und Tradition beobachten können. (Said, 1994, S. 14–16)

Durch den Kolonialismus ist westliche Kultur maßgeblich an der Ausgrenzung Anderer und der eigenen Erhöhung beteiligt. Wir sind hier weit entfernt von Schillers Hoffnung auf eine ästhetische Erziehung. Der Kulturbegriff, der den westlichen Begriff der Kunst zu relativieren sucht, soll dabei helfen, dies kenntlich zu machen. Ein weiterer Autor, der die Meistererzählung eines einheitlichen Stils in der Kunst anzweifelte, war der bereits angeführte amerikanische Kritiker Arthur Danto. Kurz nach Belting schrieb er einen einflussreichen Essay mit dem Titel „Das Ende der Kunst“. Belting und Danto überschneiden sich in einigen ihrer Thesen, aber die Argumentation des Letzteren folgt stärker der Hegelschen Idee vom Ende der Kunst, da er sich auf künstlerische Praktiken konzentrierte. Wie bereits erwähnt, erklärte Hegel das Ende der Kunst aufgrund des angeblichen Ungleichgewichts zwischen dem Sensiblen und dem Intelligiblen in der romantischen Kunst. Danto wiederum verstand das Ende der Kunst als Befreiung der Künstler:innen, da sie seit den 1960er-Jahren über jeden ihnen genehmen Stil und jede Technik verfügen konnten und Elemente der Hoch- und Populärkultur mischten. Daher bezeichnete der Autor die Pop-Art als den Abschluss des Kapitels „Kunst“. Die Künstler:innen wären in ihre Nachgeschichte eingetreten, sie wurden pluralistisch und

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frei von jeglicher Hierarchie der Gattungen und Stile. Danto (1985, S. 175) zitierte Andy Warhol als Beispiel für stilistische Pluralität: In einem Interview von 1963 sagte Warhol: „Wie kann man sagen, dass ein Stil besser ist als ein anderer? Man sollte in der Lage sein, nächste Woche ein abstrakter Expressionist zu sein oder ein Pop-Künstler oder ein Realist, ohne das Gefühl zu haben, dass man etwas aufgegeben hat.“

Das Argument ist nicht überzeugend, da es auch vor der Pop-Art immer schon einen Pluralismus der Stile gab, wie ich später noch zeigen werde. Dennoch war es sehr einflussreich, da es Beltings Diskurs über das Ende der Kunst unterstützte. Tatsächlich wurde die Infragestellung der teleologischen Meistererzählung der Kunstgeschichte durch Danto und Belting von mehreren Disziplinen aufgegriffen, obwohl einige, insbesondere die Film- und Literaturwissenschaften, bereits ein Jahrzehnt zuvor, in den 1970er-Jahren, damit begonnen hatten, ihre Geschichten der Sieger zu überprüfen.

Zur Film- und Medienwissenschaft Wenn es nicht sinnvoll ist, die Geschichte der Fotografie von der Geschichte der Kunst oder besser gesagt der Bilder zu trennen, so sollte man auch die des Films und anderer bewegter Bilder nicht von beiden ablösen. Doch genau das ist geschehen. Wie wir bereits im Fall der Fotografie gesehen haben, wiederholte sich die historisierende Fiktion – oder Meistererzählung  – ebenso wie die Einführung eines Ursprungsmythos und die Idee eines ständigen Fortschritts, um einige Künstler:innen und ihre Werke zu kanonisieren. Die Suche nach der Besonderheit des bewegten Bildes folgte den selben Weg, den die Forscher des fotografischen Bildes eingeschlagen hatten. Die teleologische Idee der Entwicklung eines klassischen Erzählstils, zunächst im amerikanischen Film und dann auch anderswo, konstruierte in der Tat eine gleichwertige Fiktion wie die der Naturnachahmung und der Erfindung der Perspektive in der Kunstgeschichte oder die des Realismus in der Geschichte der Fotografie. Die Vorstellung einer „siebten Kunst“ suggeriert, dass Film sich vom „Stottern“ in seiner primitiven zu einer kohärenten „Sprache“ in seiner klassischen Phase entwickelt hat. Im Sinne eines Ursprungsmythos nahm der amerikanische Regisseur D. W. Griffith lange Zeit die Rolle des Gründervaters dessen ein, was man Abb. 59: „D. W. Griffith“, The New York Dramatic heute als dominanten Erzählstil bezeichnet. Mirror, 3. Dezember 1913, Anzeige

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Abb. 60: Das Reich der Feen, Film von Georges Méliès, 1903

Interessanterweise war es Griffith selbst, der diese Fiktion in Umlauf brachte. 1913 warb der Filmemacher in einer Theaterzeitschrift damit, dass er der Erfinder der Systematisierung einer narrativen Lösung für den Film sei, bezeichnete seine Leistung als „historischen Akt“ und erklärte sich selbst zum Begründer der modernen dramatischen Filmkunst. Wieder einmal Platon auf den Spuren, wählten die frühen Theoretiker und Historiker des Films die Dichotomie zwischen Realismus und Illusionismus. Damit wollten sie auf zwei angeblich unterschiedliche Arten des Filmemachens hinweisen: auf der einen Seite der realistische Kunstfilm und auf der anderen die illusionistische Industrieform. Dabei wurde vergessen und ignoriert, dass Film ein zusammengesetztes Medium ist, das Teil der Geschichte der Bilder, der Architektur, der Literatur und der Musik ist, und dass er als neues audiovisuelles Medium als unrein oder unbestimmt verstanden werden sollte. Für Martin Seel (2013) ermöglicht der Film – oder generell das audiovisuelle Medium, denn wir sollten Video- und Medienkunst sowie Videoinstallationen miteinbeziehen – deshalb eine unbestimmbare Vielfalt an Möglichkeiten, Bilder und Töne zusammenzusetzen. Deshalb spricht Badiou (2001) vom Film auch nicht als siebter Kunst, sondern, da er alle Künste berücksichtigt, als 6+1.

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Die Filme von Georges Méliès (1861–1938) sind gute Beispiele für die 6+1-These und um die zahlreichen Einflüsse anderer Künste auf das Medium vorzuführen. Der französische Regisseur, der als einer der ersten narrative Filme drehte, nutzte Elemente aus Malerei, Magie, Varieté sowie literarische Quellen, um seine intermedialen Werke zu schaffen. Das Reich der Feen, aus dem Jahr 1903, vermittelt einen Eindruck der vielfältigen Referenzen, die vor der unbewegten Kamera eingesetzt und neu erfunden wurden, um Bilder innerhalb und außerhalb der Tradition der Malerei zu erstellen. Angesichts der technischen Abhängigkeit audiovisueller Medien waren jedoch auch die Künstler:innen bestrebt, Fotografie, Film und Video als Kunst zu deklarieren und bestanden auf Besonderheiten. Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass wir heute wieder die gleiche Debatte über Videospiele führen. Die Strategie bestand immer darin, in Manifesten und theoretischen Texten die Gleichwertigkeit des Films – der als Unterhaltung für Arbeiter in einfachen Buden begann – mit der Literatur zu behaupten, um die mechanisch bewegten Bilder zu adeln. Begriffe wie Kamerastift (filmstylo), Autorenpolitik oder Essayfilm wurden ins Feld geführt, um das Filmen mit dem Schreiben gleichzusetzen und die Regisseur:innen als Autor:innen zu Künstler:innen zu erhöhen. Diese Konzepte wurden oft recht spät von den akademischen Disziplinen in ihre historisierenden Diskurse übernommen, um die reproduktiven Künste zu legitimieren. Neben der Dichotomie zwischen Realismus – angesichts der angeblichen Transparenz der Kamera – und Illusionismus – angesichts ihrer scheinbaren Undurchsichtigkeit – gibt es noch ein drittes filmtheoretisches Konzept: die Konstruktivität. Sie ergibt sich aus der Möglichkeit des Films, Bilder und Töne zusammenzufügen, d. h. zu montieren. Der Begriff wurde jedoch vor allem mit dem künstlerischen Potenzial des nichtnarrativen Films in Verbindung gebracht und diente somit dazu, seine ästhetische Qualität und sein Potenzial auszuzeichnen. Doch wie jedes Kunstwerk ist der Film – wie zuvor Malerei und Fotografie und später das Video oder andere digitale Formate – immer eine Konstruktion und Abstraktion, ein Fakt, der, wie Seel (2007) vorschlägt, die Debatte über Realismus und Illusionismus obsolet mache. Weitere Beispiele aus den Anfängen des Films, die die enge Verbindung des Audiovisuellen mit der Malerei und der Zeichnung deutlich machen, sind die ersten Animationsfilme der Künstler Hans Richter (1888–1976) und Viking Eggeling (1880–1925). Sie verbanden barocke Musiktheorie – Johann Sebastian Bachs Theorie der Fuge – mit der Möglichkeit auf Zelluloid zu zeichnen, um Bewegung in die Malerei zu bringen. Ihre Diagonale Symphonie von 1924, als Stummfilm konzipiert und als Musik für die Augen gedacht, macht die Beziehung des Films zur abstrakten Kunst sowie zur Musikgeschichte und -theorie deutlich. Aus den Beispielen von Méliès, Richter und Eggeling können wir lernen, dass es keinen Gegensatz zwischen konstruktivistischen  – die davon ausgehen, dass die Montage von Einstellungen als für den Film spezifisch sind –, realistischen – die davon ausgehen, dass die Kameralinse ein Fenster zur Welt ist – oder illusionistischen Theorien – die uns aufgrund der technologischen Opazität vermeintlich in die Irre führen, da wir sie für Realität halten –, gibt. Bei dem Versuch, eine zeitgenössische Filmtheorie zu entwickeln, warnt Martin Seel (2007) davor, dass die Antwort auf die theoretischen Anforderungen einer Ontologie des Films allein in der Anerkennung der Unbestimmtheit seiner Möglichkeiten liege. Ich würde jedoch anmerken, dass diese Unbestimmtheit

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Abb. 61: Diagonale Symphonie, Film von Hans Richter und Viking Eggeling, 1924

auch in der Malerei, der Literatur, der Bildhauerei usw. zu beobachten ist, nur eben mit anderen Mitteln. Seel (2013, S. 239) weist jedoch auf einen vermeintlich großen Unterschied des Mediums Film zu anderen Künsten hin, über den es sich lohnt, nachzudenken. Er ist davon überzeugt, dass er eine passivere Rezeption ermögliche als andere zusammengesetzte Medien, wie Theater und Oper. Denn der Film sei in der Lage, die Realität zu simulieren und den Zuschauer in seine Klänge und Bilder eintauchen zu lassen. Ich würde dem entgegen setzen, dass der Film sich dadurch nicht a priori von anderen Künsten unterscheidet, da seine Rezeption ebenso aktiv-passiv und deshalb potenziell emanzipatorisch ist wie alle anderen. Es scheint keinen Sinn zu machen, eine Besonderheit zu deklarieren, die das Audiovisuelle und seine Geschichte von anderen Künsten unterscheidet oder trennt. Wir würden nur wieder der westlichen hierarchisierenden Epistemologie auf den Leim gehen. Die Filmgeschichte ist bei weitem die kürzeste unter den Kunstgeschichten, obwohl Werner Herzog, wie wir gesehen haben (und er war nicht der Erste), versucht, die paläolithischen Zeichnungen in der Chauvet-Höhle als Proto-Kino zu behaupten. Auch David Hockney und Martin Gayford (2016) plädieren für eine Beziehung zwischen allen Bildern, von der Höhlenmalerei bis zu digital erzeugten Bildern. Wie ich mehrfach versucht habe zu zeigen, macht das schon deshalb Sinn, weil außereuropäische Kulturen sich als den Felsmalereien eng verwandt empfinden.

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Vielleicht liegt es an ihrer kurzen Existenz, dass die Filmwissenschaft schon sehr früh begann, ihre Gründungsmythen und Fiktionen zu widerrufen. Die teleologische Vorstellung von der Entwicklung einer dominanten Erzählform wurde erstmals 1978 problematisiert, als Filmhistoriker auf einer Konferenz in Brighton, England, das sogenannte „primitive“ Kino systematisch untersuchten. Es wurden neue Konzepte vorgeschlagen, von denen das berühmteste das „Kino der Attraktionen“ von Tom Gunning (1986) ist. Er prägte diesen Begriff für die Filme vor 1906 wegen ihres Interesses an der Darstellung der eigenen Sichtbarkeit und ihrer Bereitschaft, mit einer Welt der Illusion zu brechen, indem sie ihren Performancecharacter deutlich ausstellen. Gunning kritisierte auch vehement, dass die Geschichte des Films aus dem Blickwinkel der Hegemonie des narrativen Kinos geschrieben wurde. Andere und neue Konzepte, die sich an der Hinterfragung historisch bedingter Stile oder der Vorherrschaft gewisser Länder, die angeblich für deren Entwicklung verantwortlich waren, beteiligten, sind die problematischen da kolonialistischen Begriffe „Weltkino“ und „transnationaler Film“ (Higbee und Lim, 2010). Sie versuchen zwar, den Schwerpunkt vom westlichen Film, besonders dem Hollywood-Kino, zu verlagern und Länder und Regionen einzubeziehen, die entweder vor der politischen Dekolonialisierung keine Filmproduktion hatten oder bislang wenig akademisches Interesse weckten. Aber die Epistemologie bleibt letztlich immer westlich, wie es auch bei der „globalen Kunst“ der Fall ist. Weltkino sucht eine vermeintliche Integration, die jedoch keinen wirklichen Sinn ergibt. Und der transnationale Film läuft Gefahr, bestehende Unterschiede und Ungerechtigkeiten in einer harmonisierenden Perspektive zu ignorieren.

Zur Theaterwissenschaft Die Theaterwissenschaft begann etwas später als die Film- und Medienwissenschaften ihre Geschichtsschreibung zu revidieren. Dies geschah mehr oder weniger ab den 1990erJahren, als die Disziplin, zumindest in Europa und den USA , sich unter dem Einfluss der angloamerikanischen Kulturwissenschaft als integraler Bestandteil der Kulturgeschichte neu zu definieren suchte. Wie in der Kunstgeschichte fand eine Öffnung zu anderen Kulturen und Objekten statt. Theaterformen wie Performance und Ritual wurden nun untersucht, begleitet von einer Revision und Neudefinition der Begriffe Theatralität und Performativität. Diese Bewegung wurde auch von Künstler:innen und ihren Praktiken beeinflusst, in einer Welt, die sich geopolitisch als postkolonial zu definieren suchte. Dies geschah darüber hinaus im Kontext der Neudefinition der Beziehungen zwischen Leben und Kunst, Öffentlichkeit und Künstler:innen. Das Interesse europäischer Regisseur:innen an außereuropäischen Texten, wie die berühmte, aber umstrittene Inszenierung des altindischen Sanskrit-Epos Mahabharata durch den Briten Peter Brook im Jahr 1985 (1989 verfilmt), war ein provokativer Meilenstein. Die Kontroverse ergab sich aus der Verwendung eines heiligen Textes einer von Großbritannien kolonialisierten jahrtausendealten Kultur, mit der Absicht, das europäische Theater zu erneuern, indem man vom kulturellen Erbe der ehemaligen Kolonie profitierte, so wie man dies in der bildenden Kunst bereits im Modernismus getan hatte.

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Abb. 62: Mahabharata, Regie von Peter Brook, 1985

Es sei daran erinnert, dass die Theaterwissenschaft in Berlin durch Max Herrmann einige Jahrzehnte nach der Kunstgeschichte im Jahr 1923 gegründet wurde. Anfänglich waren die Forschungsinteressen recht begrenzt. Die britische Theaterhistorikerin Jacqueline Bratton (2003) stellte fest, dass der Gründervater dieses akademischen Fachs sich an der Geschichtswissenschaft und deren Interesse an Dokumenten und Fakten orientierte, ganz im Sinne von Lord Acton. Dementsprechend etablierte Herrmann als Modell (…) das strenge Studium der dokumentierten Fakten über die materiellen Überreste des Theaterlebens  – Theater oder ihre Ruinen, Souffleurbücher, Entwürfe, Rechnungen, Kostüme usw. Diesem Dogma zufolge beruht Geschichte auf Aufzeichnungen ihrer Artefakte; nichts kann ohne eine ausreichende faktische Dokumentation gewusst werden. (Bratton, 2003, S. 5)

Der amerikanische Theaterwissenschaftler Marvin Carlson (1993) beobachtete, dass in der neuen Disziplin vor allem die Produktionsbedingungen von Interesse waren. Er verwies einmal mehr auf das Problem des Eurozentrismus und der Hierarchie zwischen hoher und populärer Kunst. Die Untersuchung des Theaterphänomens in verschiedenen Zeiten und Orten auf der Welt ist eine Methodik, die erst viel später zum Tragen kommen sollte. Zuvor wurden die gleichen Hierarchien wie in der Kunstgeschichte etabliert, wobei die Antike und die Renaissance im Vordergrund standen, da die griechische Tragödie und das elisabethanische Theater als höchste Errungenschaften angesehen wurden. Ab den 1970er-Jahren begann die Disziplin dann sowohl in der Praxis als auch in der Theorie nicht mehr den Text, sondern die Aufführungen und das Theatralische zu privilegieren. Der Amerikaner RoseLee

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Goldberg (1979) definierte etwa die Performance als eine auf dem eigenen Körper der Künstler:innen basierende Kunst, die in nicht theatralischen Räumen stattfinden könne. Er begriff sie als eine Ausdrucksform, die versuche, die Grenzen zu anderen Künsten (Musik, bildende Kunst usw.) zu durchbrechen. Sein Landsmann Richard Schechner (1985, 1993) diskutierte Performance über den künstlerischen Bereich hinaus im Zusammenhang mit der Anthropologie und im Kontext kultureller Vielfalt, mit dem Ziel, sie zu politisieren. Der Deutsche Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann (2016) prägte dann den Begriff des postdramatischen Theaters, um den Bedeutungsverlust des Textes auf europäischen und amerikanischen Bühnen zu betonen. Als Antwort bot die Kanadierin Josette Féral (2015) eine Synthese dieser verschiedenen Autoren an, indem sie die Geschichte der Theatralität und Performativität sowohl in Bezug auf die Anthropologie als auch auf die Ästhetik verstand. Sie schuf für die verschiedensten bühnenbezogenen Aktivitäten, die seit den 1970er-Jahren auf westlichen Bühnen oder in anderen Räumen zu sehen sind, den Begriff des performativen Theaters. Trotz der neuen Definitionen und Konzepte sowie der kritischen Auseinandersetzung mit eurozentrischen und historisierenden Methoden ist die historische Forschung für die zeigenössische Performance- und Theaterkultur nicht ohne Bedeutung. Denn eine profunde Kenntnis der bestehenden und ehemaligen Theater- und Performancepraktiken ist notwendig, um eine zeitgenössische Lesart zu entwickeln. Ich möchte zwei sehr aufschlussreiche Beispiele anführen. Das erste ist die Inszenierung der Orestie-Trilogie von Aischylos, die 1993 an der Schaubühne vom deutschen Regisseur Peter Stein in Berlin zur Aufführung gebracht wurde. Sie setzte das Ekkyklema ein, eine kleine Plattform mit Rädern, die im griechischen Theater häufig verwendet wurde. Es rollte damals aus einer der Türen der Skene heraus – einem festen Bestandteil der Architektur des Amphitheaters, vor der das Stück aufgeführt wurde –, um ein tableau vivant, ein lebendes Bild, zu enthüllen. Das Bild zeigte das Ergebnis einer „obszönen“, außerhalb der Szene stattgefundenen Handlung im Inneren des Gebäudes, die zu schrecklich war, um sie dem im Theatrum sitzenden Publikum zu zeigen. In der Inszenierung der Schaubühne sah man Klytämnestra mit einem blutigen Schwert hinter den Leichen von Agamemnon und Kassandra, die sie wenige Augenblicke zuvor ermordet hatte  – ein obszönes Ereignis, das den Zuschauer:innen vorenthalten

Abb. 63: Links – Orestie, Regie von Peter Stein, Schaubühne, Berlin, 1993; rechts – antike Bühnentechnik, Zeichnung von Stefano Caciagli

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Abb. 64: Orestie, Regie von Peter Hall, Royal National Theatre/Channel 4, 1983

wurde. Indem die zeitgenössische Interpretation des Stücks das Wissen um die Produktionsmittel des antiken Griechenlands nutzte, entstand ein kraftvolles Bild der Gewalt, das ein Publikum in Erstaunen versetzte, das durch die täglichen Bilder bewaffneter Konflikte auf der ganzen Welt in den Fernsehnachrichten abgehärtet war. Peter Stein war nicht der Erste und sicher auch nicht der Letzte, der mit dieser antiken Theatertechnik arbeitete. Der britische Regisseur Peter Hall inszenierte das selbe Stück 1983 am Royal National Theatre in London und adaptierte es später für das Fernsehen. Diese Inszenierung hat einen stärker historisierenden, um nicht zu sagen musealen Ansatz, da sie viele weitere antike Inszenierungsmittel verwandte, darunter auch Bühnenmasken. Stein hingegen versuchte, die zeitgenössische Gesellschaft sowie ihr Demokratieverhältnis zu kommentieren und verwendete daher heutige Kostüme. In Bezug auf die detaillierte Untersuchung von Theaterpraktiken und ihren Geschichten auf globaler Ebene möchte ich noch eine weitere, kommerzielle Produktion erwähnen: das Disney-Musical Der König der Löwen, das 1998 von Julie Taymor inszeniert wurde. Die Produktion, die auf den Recherchen der Regisseurin zu afrikanischen Masken, balinesischen Kostümen und zum südasiatischen Schattentheater basiert, wurde zum erfolgreichsten Musical aller Zeiten und machte Taymor zur ersten Frau, die einen Tony Award für die beste Regie erhielt. Es gelang ihr, die Poesie außereuropäischer Kulturen für ihren Erfolg am Broadway und im West End zu nutzen.

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Abb. 65: Oben – Nang Yai Schattentheater, Thailand; unten – Der König der Löwen, Regie von Julie Taymor, 1998

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Natürlich kann man darüber diskutieren, dass es sich beim König der Löwen erneut um eine profitable Ausbeutung außereuropäischer Kunstformen handelt. Vielleicht kann man sie aber auch als einen gelungenen künstlerischen Dialog sehen. Denn die Musicaladaptation des preisgekrönten Films der Walt Disney Studios, die Elemente aus den darstellenden Künsten anderer Kulturen und Geografien verwendet, offenbart ein ästhetisches Potenzial, das sich niemand hatte vorstellen können. Durch die Nutzung des Theaterrepertoires der Welt wurde bei der Umsetzung des Zeichentrickfilms etwas geschaffen, das von beeindruckender Poesie ist und die Kraft asiatischer und afrikanischer Kunst im Westen zum Leuchten bringt.

Kurze Schlussfolgerungen Ich möchte nun die folgenden Antworten auf meine Fragen zum Verhältnis zwischen den Geschichtsmodellen in der Historiografie, der Kunst und den Kunstwissenschaften zusammenfassen: 1. Im 19. Jahrhundert entwickelte die Geschichtswissenschaft ein positivistisches Evolutionsmodell, das davon ausgeht, dass es möglich ist, eine endgültige Geschichte der menschlichen Aktivitäten zu schreiben (Lord Acton, Clark). Es stützt sich auf den angeblichen Wahrheitsgehalt von Dokumenten und Fakten, um Geschichten über große Männer und einschneidende Ereignisse zu erzählen. 2. Dieses teleologische Geschichtsmodell geht von der Existenz eines möglichen Abschlusses aus, sei es innerhalb (politisch) oder außerhalb (metaphysisch) der Geschichte, und wird auch in der Kunst verwandt, z. B. im Theater. Der dramatische Abschluss kann religiöse Motive haben, etwa die Kreuzigung und Erlösung im Christentum oder Klasseninteressen widerspiegeln, sei es das Ende des Feudalismus und die Einführung der Demokratie in der griechischen Tragödie oder der Sieg des Proletariats in marxistisch inspirierten Dramen der 1920er und 1930er-Jahre. 3. Bereits 1940 hatte Walter Benjamin die klassische Geschichtsschreibung vom materialistisch-marxistischen Standpunkt aus problematisiert und den Begriff Historismus vorgeschlagen sowie die Idee einer Geschichte der Sieger, die es gegen den Strich zu bürsten gilt. Die französische Neue Geschichte wiederum ersetzte in den späten 1970er-Jahren die auf herausragende Männer und gefeierte Ereignisse konzentrierte Methodik durch die Untersuchung weniger messbarer menschlicher Aktivitäten wie Mentalitäten, Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühle. 4. Obwohl auch sie oftmals das teleologische Modell der Geschichte übernehmen, stellen die westlichen Künste –Performance, Konzeptkunst, Theater, Film usw.  – häufig diese Meistererzählung oder Fiktionen (Rancière) infrage, indem sie alternative Strukturen entwickeln, die die Geschichten der Besiegten erzählen oder die der Sieger aushebeln. Dies geschieht in Dramen z. B. durch die Unterbrechung oder Fragmentierung der Handlung oder durch die Verwendung von Strukturen, die auf zyklische Wiederholungen hinweisen, insbesondere wenn es um Machtfragen geht. Im zeitgenössischen Film findet man unterschiedliche Varianten: vom Historismus über zeitgenössische, wenn auch historische Perspektiven, bis zur sehr freien Interpretation, z. B. um das Thema der modernen Sklaverei mit dem heutigen Rassismus

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WAS IST DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN DEN ­V ERSCHIEDENEN GESCHICHTSMODELLEN …?

in Beziehung zu setzen. In der zeitgenössischen Kunst wird die Geschichte oftmals durch die Wiederverwendung oder durch Referenzen zu westlichen kanonischen Werken oder Figuren problematisiert. Manche performativen Versuche der weißen Mittelschicht bleiben dabei in der eigenen Epistemologie gefangen. 5. Die Kunstwissenschaften, die sich je nach ihren Medien und zur Verteidigung ihrer Besonderheiten getrennt entwickelt haben  – vor allem, wenn die Kunstform mit technischen Mitteln wie in der Fotografie und den audiovisuellen Medien produziert wird  –, basierten zunächst in ihrer Historiografie auf dem teleologischen Modell. So suggerierten sie die Entwicklung jeder Kunst von einem weniger ausgefeilten zu einem höher entwickelten Zustand: Perspektive und Naturnachahmung in der Kunstgeschichte, Realismus und Wahrheit in der Fotografie, die klassische Erzählform in der Filmwissenschaft usw. Zu verschiedenen Zeitpunkten begannen die Disziplinen jedoch, ihre Gründerfiguren und Ursprungsmythen, ihre Kanons und Meistererzählung anzuzweifeln, indem sie versuchten, ihren Rahmen und ihre Methoden zu erweitern und so weniger eurozentrisch und exklusiv zu sein. Auch suchten sie ihre Objekte auf nicht-westliche Kunst auszuweiten, blieben aber zumeist westlicher Epistemologie verhaftet.

Kurze Schlussfolgerungen

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SECHSTES KAPITEL :

Was ist Kritik? Das Wort Kritik stammt vom griechischen κριτική, was soviel wie auswählen, trennen oder unterscheiden bedeutet. Wir haben gesehen, dass dieser Vorgang für das Entstehen des klassischen Denkens entscheidend war. Es existierte aber bereits seit der Antike, nur nicht in dem Maße, dass es zu einer Mathesis für alle Handlungen und Wesen, wie es dann im 17. Jahrhundert der Fall wurde, führte. In der Tat zielt die Kritik auf die Festlegung von Bewertungsparametern ab, die zur Beurteilung eines Gegenstands führt. Diese werden in Texten und Traktaten, die einen praktischeren Charakter haben, aber ebenfalls an der Festlegung dieser Parameter beteiligt sind, festgehalten. In außereuropäischen, vor allem oralen Kulturen, machen zumeist weder Kunstkriterien, -kritik, Traktate, noch das wissenschaftliche Studium der Kunst irgendeinen Sinn. Wie schon mehrfach erwähnt, wird das nötige Wissen sowohl für die Praxis als auch für das Verständnis der Kunst in der Gemeinschaft von Generation zu Generation weitergegeben. Die Vorstellung gute von schlechter Kunst zu unterscheiden oder jegliche andere Art der Hierarchisierung ist nicht von Bedeutung. Selbstverständlich gibt es Regeln zur Ausführung, aber das dazu nötige Handwerk wird als von allen erlernbar verstanden. In vielen Kulturen wird es innerhalb einer Familie weitergegeben, wie es auch in Europa bis zum Mittelalter üblich war. In Schriftkulturen gibt es, wie gesagt, die unterschiedlichsten Texte (Episteln, Vorworte, biografische Anekdoten, später dann Zeitungs- und Zeitschriftenartikel), um die richtige Ausführung zu befördern oder Kriterien für ihre Einschätzung zu formulieren. Dies gilt auch für die asiatische Welt, wo es seit dem 5. Jahrhundert Texte zu Musik und Malerei von Konfuzius (551–479 v. Chr.), Zhuangzhou (369–286 v. Chr.) und Hanfei (280–233 v. Chr.) gibt. Xie Hes (keine Daten) Guhua Pinlu, in dieser Zeit geschrieben, stellt beispielsweise die sogenannten Liu Fa (Sechs Gesetze) für die Malerei auf. Sie basieren auf älteren indischen Texten. Xie Hes Text wurde dann von Zhang Yanyuan (810–880), in seinem einflussreichen Lidai minghua ji (Eine Aufzeichnung der berühmten Maler der aufeinanderfolgenden Dynastien) von 847, wieder aufgenommen. Der Titel erinnert an Vasari. Leider habe ich hier nicht den Raum, die orientalische Tradition weiter auszuführen. Es sei nur bemerkt, dass Xie Hes Liu Fa in Bezug auf die nichtsichtbare Sphäre gedacht war, da es „in großen kosmischen Tönen“ denkt, und noch im 20. Jahrhundert prägend war (Mair, 2004, S. 95). In diesem Kapitel soll in groben Zügen aufgezeigt werden, wie die westliche Kritik sich langsam aus anfänglich verherrlichenden Bemerkungen, biografischen Anekdoten und Traktaten entwickelte und damit sowohl die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Kunst vorausnahm, als auch prägte. Bei der Erörterung der Kunstkritik werde ich in zwei Schritten vorgehen: Zunächst stelle ich die Ursprünge der Kritik in chronologischer Reihenfolge von der Antike bis in die Moderne vor, um dann auf einige Methoden einzugehen. Mein Ziel ist es, kenntlich zu machen, dass das zentrale Anliegen sowohl in der

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Was ist Kritik?

für kolonialisistische Kontexte üblichen Hierarchisierung als auch in der Verteidigung gewisser Medien als Kunst durch die Behauptung ihre Spezifität lag, was dann wiederum die vermeintlich objektivere Kunstwissenschaften beeinflusste.

Zur Kunstkritik Philosophen und Theologen widmeten sich, wie wir gesehen haben, bis zur Renaissance vor allem der Frage der Funktion der Kunst. Dieses Interesse verstärkte sich außerdem mit der Institutionalisierung der Monotheismen – Judentum, Christentum und Islam –, denn die Theologen befassten sich zum einen mit der Frage des Kunstverbots und zum anderen mit der Exegese von „heiligen“ Texten. Auch wurden, aufbauend auf einer falschen Interpretation von Aristoteles Poetik, Regeln für das Drama formuliert. An den europäischen Universitäten des Mittelalters waren es vor allem die Grammatik- und Rhetorikgelehrten, die Interesse daran hatten, Regeln auf der Grundlage griechischer und lateinischer Texte zu verfassen. Die zumeist von Künstler:innen formulierten Texte der Antike bezogen sich hauptsächlich auf ihr eigenes Handwerk, wobei der Schwerpunkt auf Grundregeln und technischen und theoretischen Vorschlägen lag. Die Situation änderte sich, als Latein und Griechisch ihre Bedeutung als Wissenssprachen verloren. Auch die Erfindung der Buchpresse durch Johannes Gutenberg (1400–1468) im Jahr 1450 war prägend. Ab dem 16. und 17. Jahrhundert wurde die Kritik, die von einem breiten Spektrum von Personen in verschiedenen europäischen Sprachen formuliert wurde  – darunter Künstler:innen, Theologe:innen und sogenannte Kritiker:innen –, zu einem Instrument nationaler Identität und Einigung, aber auch zu einer Waffe im Kampf um die Anerkennung der Nationen mittels ihrer künstlerischen Produktion. In der Geschichte der Kritik darf der Einfluss des ersten kritischen Textes über die Künste, Aristoteles Poetik, nicht unterschätzt werden. Er war es, wie wir gesehen haben, der zuerst Konzepte zur Ästhetik und Funktion der Kunst vorstellte. Die Poetik war eine Zusammenfassung von Vorlesungen. Dass sie über Jahrtausende als Modell fungierte, deren Wirkung nie nachgelassen hat, mag an ihrem theoretischen, deskriptiven und analytischen Ansatz zu den dramatischen und epischen Elementen sowohl älterer als auch zeitgenössischer Werke sowie an ihrer Bewertung und Hierarchisierung der verschiedenen Gattungen liegen. An der Poetik kann man gut beobachten, wie sich das hierarchisierende und normativierende westliche Denken entwickelte, da sie seit der römischen Antike und im Kontext der europäischen Imperien in strenge Normen gepresst wurde. Die Einheit von Zeit, Raum und Handlung als Empfehlung für eine gute Tragödie hat die Zeit überdauert, ebenso wie die bereits erwähnten zentralen Begriffe Mimesis und Katharsis. Tatsächlich wurde die Empfehlung der Einheit, wie ich später zeigen werde, als fakultativ verstanden und zum Leitprinzip für präskriptive Lektüren und Interpretationen. So wurden dramatische Texte oft in enge Regeln gezwängt, die sie unflexibel machten. Abhandlungen und Handbücher in vielen Sprachen waren das Ergebnis dieser Fehlinterpretation. Interessante neue Theorien waren eher selten und führten zu Disputen. Es ist hervorzuheben, dass Aristoteles zwar theoretische Thesen mit Urteilen, Analysen und Wertungen verband, diese aber keineswegs als verbindlich betrachtete.

Zur Kunstkritik

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Die Aneignung der Poetik durch normative Lektüre erfolgte, wie gesagt, im antiken Rom, nicht zufällig ein den gesamten Mittelmeerraum umspannendes Imperium, als man anfing, sie im Rahmen der Rhetorik zu lesen, einer Disziplin, die Regeln für öffentliche Reden entwickelte. Marvin Carlson (1993, S. 21) bringt deshalb das Ende der ersten Versuche, die Künste zu theoretisieren, mit dem Niedergang des intellektuellen Lebens in Athen in Verbindung. Die von der Rhetorik vorgeschlagene Normativität versteht er als Funktionalisierung: „Die philosophischen Überlegungen zur Kunst gingen zugunsten praktischerer Studien zurück und in der Literatur begann man, die Textkritik zu bevorzugen.“ An dieser Stelle sei an Nietzsches Beobachtung erinnert, die griechische Tragödie habe den ersten Philosophen Sokrates nicht überlebt. Carlson scheint diese Sichtweise zu teilen und versteht die Rhetorik hauptsächlich als einen Kunstgriff, der einen Autor dazu verleite, ältere zu imitieren, anstatt eine eigene Stimme zu entwickeln. Denn das Interesse für die zeitgenössische Situation würde zu Veränderungen führen, die Konservative stets zu vermeiden suchten. Diese Sichtweise entspricht dem Wunsch nach Zeitgenossenschaft der historischen Menschen, wie wir sie im vorherigen Kapitel gerade bei Benjamin gesehen haben. Während lateinische Autoren wie Plautus (254–184 v. Chr.) und Terentius (185–159 v. Chr.) in den Prologen ihrer Theaterstücke Definitionen ihrer Gattung und Ideen zu deren Anfertigung ausarbeiteten, befassten sich Cicero (106–43 v. Chr.) und Quintilian (40–118 n. Chr.) eher mit Fragen der Rhetorik. Horaz (86–5 v. Chr.) präsentierte in seiner Ars Poetica allgemeine Vorstellungen über die Poesie, die ein Dichter beachten sollte. Cicero, Quintilian und Horaz waren in der Tat diejenigen, die später den größten Einfluss auf die Debatten der Aufklärung ausübten und in den verschiedenen europäischen Ländern, insbesondere in Italien, Frankreich, Holland und Deutschland präskriptive Texte initiierten. Nur England und Spanien konnten sich diesem Einfluss entziehen, denn die Dramen von Shakespeare und Pedro Calderon de la Barca (1600–1681) widerstanden dem Neoklassizismus. Im Gefolge von Horaz, Aristoteles und Platon wurden auch wertende Studien über dramatische Autoren erarbeitet, zum Beispiel von Plutarch (50–125 n. Chr.). Das als Tractatus coislinianus bekannte anonyme Fragment, das nicht datiert ist, bietet einige Ergänzungen zur spätgriechischen und frührömischen Komödie. Die genannten Autoren und Texte hatten ebenfalls Einfluss auf die Dramen von Evanthius (unbekannt-358) und Elio Donatus (315–380) im 4. Jahrhundert und ihre Vorschläge wurden im Mittelalter und zu Beginn der Renaissance veröffentlicht und zitiert (Carlson, 1993, S. 22–24). Vergleichbar mit der Ikonophobie und dem Ikonoklasmus in Bezug auf die bildenden Künste, schloss die Debatte über die Bedeutung der Poesie auch die Diskussion um ihr mögliches Verbot ein. Angesichts seines öffentlichen Charakters galt dies insbesondere für das Theater. Die ersten Kritiken in diesem Sinne wurden innerhalb der christlichen Kirche von Autoren wie Tertullian (160–250) und Proclus Diadochus (410–485) formuliert. Beide waren neuplatonisch eingestellt, wobei der Erste die Bibel benutzte, um Komödie und Tragödie zu verurteilen, während der Zweite argumentierte, dass „sie die Seele zur Pluralität verführen, weg von der Einfachheit und Einheit, die sowohl die Tugend als auch Gott kennzeichnen“ (Diadochus apud Carlson 1993, S. 28). Obwohl Augustinus (2004) ihre Verurteilung des Theaters teilte, hob er in seinen Bekenntnissen die ästhetische Wirkung der Tragödie hervor, die er in ihrer Fähigkeit sah, Vergnügen und das als ehrenvoll verstandene Gefühle der Trauer zu bewirken.

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Was ist Kritik?

Die Missbilligung des Theaters war demnach nicht die einzige Position, die von den Theologen vertreten wurde. Während des gesamten ersten Jahrtausends erkannte die Kirche, wie schon Platon vor ihr, nicht nur dessen Gefahren, sondern auch seine lehrreiche und didaktische Dimension. Die dramatischen Elemente waren ausgesprochen nützlich für die christliche Liturgie und das religiöse Theater. Diese erzieherische Dimension wurde in der Renaissance abweichend von den mittelalterlichen Texten weiterentwickelt und sie war ein zentrales Moment der Katechese der Indigenen in der Neuen Welt. Erst ab dem 17. Jahrhundert führten neue Interpretationen der Poetik des Aristoteles wieder zu Kontroversen. Dabei gab es zwei gegensätzliche Positionen, die bis zur Romantik bestehen blieben: (…) eine konservative Position (Verfechter des Alten, Kodifizierung von Regeln, Beharren auf Anstand und Reinheit der traditionellen Gattungen, Unterordnung der Kunst unter moralische oder soziale Belange) und eine liberale (Verfechter des Modernen, pragmatischer und flexibler Umgang mit den klassischen Vorgaben, Kunst als Selbstzweck) (Carlson, 1993, S. 56).

Die Renaissance belebte das Wissen der Antike, behielt aber zunächst die Identität zwischen Worten und Dingen gemäß dem christlichen Denken bei. Obwohl die Welt allmählich aufhörte, der heilige und geheimnisvolle Raum des Mittelalters zu sein, blieb die Wissensproduktion interpretativ und basierte auf der Auffassung, dass Texte, nicht nur die „Heilige“ Schrift, sondern auch die der Antike, die Wahrheit sagten. Die kritische Rezeption der römischen und griechischen Autoren macht dies deutlich, besonders im Hinblick auf die Vorstellung, dass Texte Regeln und andere Arten von praktischen Orientierungen bieten. Folgt man der Argumentation Kittlers (2002, S. 123), so diente dies über zwei Jahrtausende vor allem rhetorischen Zwecken, was die Identität von Dingen und Worten im Kontext der westlichen Wissensproduktion aus seiner Sicht zu einem manipulativen Programm zur Aufrechterhaltung des status quo macht. Erst mit dem klassischen Denken begann – um Foucaults These nochmals in Erinnerung zu rufen –, die Suche nach einem Tableau des Wissens, was dazu führte, dass diese analogen Hierarchien durch eine Analyse der Zeichen ersetzt wurden. Es sei erinnert, dass sie ein zentrales Element in der modernen Kolonialisierung und Unterdrückung Anderer waren. Repräsentationen – Worte und Bilder – wurden nun sowohl als identisch als auch als verschieden von der Bedeutung der Dinge verstanden. Dies führte zu einer weniger rhetorischen und mehr analytischen Kunstkritik. Im Anschluss an Foucaults These kann man beobachten, dass Vasari zwar den Status des Künstlers erhöhte und die Kunst als Intelligibles sah, das zum Sensiblen herabsteigt, er sich aber letztlich auf diese Art rhetorischen Lobs beschränkte. Mit dem Wandel des westlichen Denkens im 17. Jahrhundert tauchte im Bereich der Kunst der Begriff des Spezialisten zum ersten Mal auf. Er wurde vom französischen konservativen Kritiker Jean Chapelain (1595–1674) eingeführt und von heftigen Debatten begleitet, die sich einmal mehr auf die dramatische Kunst bezogen. Die „heiligen“ Regeln, die fälschlicherweise mit Aristoteles in Verbindung gebracht worden waren (die bereits angeführte Einheit von Zeit, Raum und Handlung), wurden in heftigen Auseinandersetzungen diskutiert.

Zur Kunstkritik

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Der Wettbewerb zwischen den Nationen, der realiter bei der Kolonialisierung Amerikas und in Afrika in Bezug auf die Vormachtstellung im Sklavenhandel ausgefochten wurde, geriet zum zentralen Thema, sowohl in vergleichender Hinsicht als auch in Bezug auf die wechselnden Führungspositionen in den Künsten. Wie schon im Ikonoklasmus mischte sich die Politik in den Streit ein, um die Qualität und Anerkennung der Künste zu sichern. Dies geschah in vielfältiger Weise, z. B. indem sie durch die Vergabe von Aufträgen eine altmodische normative Poetik vertrat, oder indem sie Theateraufführungen verbot, etwa in England zwischen 1640 und 1660. Das moderne analytisch-historisierende Denken vollzog wenig später die Trennung zwischen akademischen Studien und Kritik, da vermeintlich komplexere und wissenschaftlichere Methoden entwickelt wurden, die sich nun an ein spezialisiertes Universitätspublikum richteten. Ich werde darauf detailliert im nächsten Kapitel eingehen. Die Kritik hat jedoch nie an Bedeutung verloren und fand während des gesamten 20. Jahrhunderts ihren Weg zurück in die akademische Welt. Gerade in der Neuen Welt, insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch in Lateinamerika, wurden Kritiker:innen und Künstler:innen an Lehrstühle berufen. Die Anthologien ihrer Kritiken, die zunächst in Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht wurden, hatten erheblichen Einfluss auf die Kunstdiskussion in Akademie und Gesellschaft.

Von den Methodologien der Kritik Nach dieser kurzen einführenden Darstellung der Geschichte der Kritik möchte ich mich der Entwicklung ihrer Methoden zuwenden. In Wirklichkeit unterscheiden sie sich nicht sehr von denen der westlichen Philosophie und späteren Kunstwissenschaften. Sie zielen stets darauf ab, Parameter und Kriterien für hierarchisierende und kanonisierende Zwecke festzulegen. Darüber hinaus zeigen sie ein Interesse an der Bewertung zeitgenössischer Produktionen, die älteren Werken gegenübergestellt werden. Der Unterschied liegt im Wesentlichen darin, dass die Texte von Künstler:innen geschrieben wurden und sich an ein breiteres und weniger spezialisiertes Publikum wenden. Darüber hinaus gibt es einige Unterschiede in der Ausarbeitung der Kritik. Ich werde drei Arten der kritischen Produktion vorstellen, wobei die Grenzen nicht immer klar gezogen sind. Zuerst kommentiere ich die Text mit pantologischen oder biografischen Interessen; dann stelle ich einige Abhandlungen vor, deren Ziel es war, Regeln und Methoden festzulegen; zuletzt wende ich mich kritischen Texten zu, die zeitgleich zu den analytischhistorisierenden Studien entstanden. Mein Anliegen ist es, dadurch die zunehmende Etablierung des hierarchisierenden Diskurses, der die westliche Kritikepistemologie bestimmt, und seine Kriterien – Naturnachahmung und Anthropozentrismus – herauszuarbeiten, wobei klargestellt werden muss, dass die Kunst nicht unbedingt die Parameter, in die sie diskursiv gepresst wurde, befolgte. In der ersten Kategorie werde ich einige klassische Autoren nennen  – den Schriftsteller, Naturforscher, Historiker, Grammatiker, Verwalter und römischen Offizier Plinius der Ältere (23–79), den schon genannten Renaissancemaler, Architekten und Schriftsteller Giorgio Vasari (1511–1574) und den französischen Theologen der Aufklärung Pierre Daniel Huet (1630–1721). Im Folgenden werde ich einige Bemerkungen zu Abhandlungen

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Was ist Kritik?

machen, die Leitlinien vorschlagen – des griechischen Bildhauers Polykleitos (450–415 v. Chr.), des römischen Architekten Vitruv (80–15 v. Chr.) und des Renaissance-Architekten Leon Battista Alberti. Ich schließe das Kapitel mit Kritikern der Aufklärung – dem britischen Künstler John Richardson (1667–1745), dem deutschen Dramatiker Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) und dem französischen Historiker Jean Baptiste Dubos (1670–1742). Wie bereits angedeutet, bekamen sie dann von den Disziplinen Ästhetik und Kunstgeschichte Konkurrenz. Sehr kurz werde ich am Ende auf die ambivalente zeitgenössische Figur des Kurators eingehen.

Von pantologischen und biografischen Methoden Ich beginne mit dem umfangreichen Kompendium Naturalis historiae (Naturgeschichte) von Plinius dem Älteren, dessen enzyklopädischer, historischer und bewertender Impetus noch keine theoretischen Fragen umfasste. In seinen 37 Büchern, die nach Disziplinen geordnet sind – u. a. Mathematik, Geografie, Physiologie, Zoologie, Botanik, Pharmakologie usw. – finden wir die Gesamtheit des Wissens der klassischen Epoche versammelt. Das Kompendium zeigt, wie das Wissen der Griechen von den Römern übernommen wurde und wie die Idee der Naturnachahmung, die die ganze westliche Kunsttheorie durchzieht, eingeführt wurde. Der Anthropozentrismus nimmt hier ebenfalls erstmals Form an. Vielfältige Formen des Wissens und des Kunstschaffens hatten ihren Weg aus Afrika, von Ägypten über Mesopotamien nach Griechenland genommen. Bezogen auf das Antike Griechenland wurde dann durch einen Gründungsmythos im 18. Jahrhundert, den ich im nächsten Kapitel behandeln werde, und reduziert auf die Naturnachahmung, die Idee des Beginns der europäischen Kunst und Zivilisation behauptet. In Plinius Büchern 33, 34 und 35, die sich mit Bergbau und Mineralogie befassen, sind Informationen über Malerei und Bildhauerei sowie Berichte über Künstler und Kunstwerke enthalten, die später die Identifizierung von römischen Kopien und griechischen Originalen ermöglichten. Da die Texte von Plinius dem Älteren biografische Angaben zu den Künstlern und Berichte über bestimmte antike Gemälde und Skulpturen enthalten, kann man davon ausgehen, dass der Autor an der Konstruktion der sozialen Bedeutung der Künstler:innen beteiligt war, die in der Tat bereits ein hohes Ansehen genossen. Außerdem geben seine Texte Aufschluss darüber, wie die Kunst öffentlich zur Schau gestellt  – der beste Künstler wurde während den Olympischen Spiele ausgezeichnet  –, wie sie finanziert wurde  – durch Abb. 66: Naturalis historiae, Plinius der Spenden und finanzielle Anerkennung – und wie die Ältere, 15. Jahrhundert, Manuskript, Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz Künste erlernt wurden – in einem Meistersystem.

Von den Methodologien der Kritik

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Obwohl die Renaissance angeblich für die Wiederentdeckung der Naturalis historiae verantwortlich war und sie durch die Gutenberg-Buchpresse leichter zugänglich wurde, überlebte sie zusammen mit anderen Texten griechischer und römischer Autoren in mittelalterlichen Klöstern, wenn auch nur für einen begrenzten Leserkreis. In einem kurzen Auszug über zwei berühmte griechische Künstler  – Parrhasio und Zeuxis – deutet Plinius auf den Wettbewerbsgeist unter den Künstlern im Hellenismus hin und verweist auf die Bedeutung, die der Naturnachahmung als Kriterium für handwerkliches Können und Kunstfertigkeit beigemessen wurde: Seine Zeitgenossen und Rivalen waren Timantes, Androcides, Eupompo und Parrhasio. Letzterer, so heißt es, hatte einen Streit mit Zeuxis. Er malte Weintrauben so perfekt, dass Vögel zu ihnen hinaufflogen. Parrhasio malte einen Vorhang so realistisch, dass Zeuxis, der sehr stolz auf das Urteil der Vögel war, sich darüber beschwerte, dass der Vorhang geöffnet werden sollte, um das Bild zu zeigen. Als er seinen Irrtum erkannte, gab er dem anderen in offener Bescheidenheit die Palme, denn „er täuschte die Vögel, Parrhasio aber sogar einen Künstler.“ (Plinius der Ältere, 2006, S. 75)

Abb. 67: Athlet, Lysippos, Griechenland, 4. Jahrhundert v. Chr. ­Bronzeskulptur, Museo Archeologico nazionale, Neapel

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Was ist Kritik?

Jacqueline Lichtenstein (2006, S. 73) ist zwar der Meinung, dass Plinius der Ältere in seinen Beschreibungen vor allem moralische und praktische Kriterien verwandte, aber die Idee einer perfekten Nachahmung der Natur, die so weit geht, dass die Menschen glauben, das Werk sei echt, taucht in seinen Texten eindeutig als Schlüsselparameter und Qualitätssiegel auf. Es ist wichtig festzuhalten, dass Platon diese Werke kannte und, wie schon bemerkt, ablehnte. Während Aristoteles die Mimesis nicht als wahre, sondern als falsche Wahrheit dachte, habe ich bereits festgestellt, dass die Nachahmung das Hauptkriterium in der Kunstwissenschaft blieb, von Vasari bis zu den modernen Universitätskursen weit ins 20. Jahrhundert. Wie wir im vorangegangenen Kapitel gesehen haben, wurde die „Beherrschung“ der Natur und der Perspektive zu einem zentralen Thema, entweder als Hauptbezugspunkt oder als anzufechtender Parameter, zum Beispiel in den Filmtheorien über Realismus und Illusionismus. Ich werde im nächsten Kapitel wieder darauf zurückkommen.

Abb. 68: Der Kampf bei Issus zwischen Alexander dem Grossen und Darius, Anonym, 100 v. Chr. Mosaik, Museo Archeologico nazionale, Neapel

Um die Bedeutung der Naturnachahmung in der griechischen und römischen Antike besser zu verstehen, die erstmals in den Schriften von Plinius dem Älteren zum Ausdruck kommt  – bei Aristoteles handelt es sich um die Nachahmung der Handlung  –, ist die Betrachtung einer Bronzeskulptur eines Athleten von Lysippos aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. aufschlussreich. Wir können den Wunsch sowie die Fähigkeit, den menschlichen Körper, seine Gesten und seine Mimik darzustellen, deutlich erkennen. Die Bronzeskulptur überrascht mit ihrer Ausdruckskraft und Lebendigkeit. Es ist erwähnenswert, dass die Skulptur der Dreidimensionalität treu ist, während ihr Material sie von der Realität abhebt. Obwohl die Naturnachahmung seit der Renaissance als Errungenschaft im Diskurs der Kunstgeschichte zentral ist, sind die kurzen enzyklopädischen Texte von Plinius dem Älteren nicht nur an der Würdigung der Technik von Malern und Bildhauern beteiligt, sondern auch an der hierarchischen Einordnung der Künstler:innen gemäß dem beschriebenen Wettbewerbsgeist. Dies war für den Aufbau eines auf Wahrhaftigkeit basierenden Kunstkanons unerlässlich. Dabei wurde von Plinius dem Älteren (2006, S. 78) deutlich die Leistung Einzelner hervorgehoben: „Aber alle, die vor ihm geboren wurden, und alle, die später kamen, wurden von Apelles von Kos in der 112. Olympiade überwunden. Er hat zur Malerei fast mehr beigetragen als alle anderen zusammen.“ So entstand der Mythos vom Künstlergenie des Apelles, was seine Werke, aber auch ihn selbst spätestens seit der Renaissance zum Gegenstand von Gemälden und Kupferstichen machte. Keines seiner Bild ist erhalten,

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aber ein Mosaik aus Pompeji zeigt, wie sie wohl ausgesehen haben könnten. Es lohnt sich, die Konstruktion des Raums genau zu betrachten, denn sie geht in ihren Effekten weit über die Idee einer Naturnachahmung hinaus. Die Aufwertung der Naturnachahmung und die sich daraus ergebende Hierarchie sowie die Schaffung von Mythen und Legenden zum Künstlergenie, sind, wie ich in den vorangegangenen Kapiteln zu zeigen versuchte, in ihrer kulturhistorischen Wirkung problematisch. Wir haben bereits gesehen, dass die Renaissance sich diese Idee zu eigen machte. Das Leben der hervorragendsten italienischen Maler, Bildhauer und Architekten von Giorgio Vasari (1910) ist das erste Werk, in dem wir beobachten können, dass dieses Kriterium nachhaltig dazu beitrug, eine noch ausgefeiltere Meistererzählung als die von Plinius dem Älteren zu etablieren. Vasari behauptete, dass es Genies gäbe, die sich schon früh in ihrem Leben durch ihre außergewöhnliche und fast göttliche Fähigkeit, die Welt darzustellen, auszeichneten. Die Naturnachahmung wurde bei Vasari Teil einer progressiven Entwicklung der Kunst. Aufgrund von Vasaris Einfluss, möchte ich mich noch etwas näher mit seinem Text befassen. Sein Buch ist in drei Teile gegliedert, die die Lebensläufe bedeutender italienischer Maler vorstellen, die zwischen 1270 und 1570 tätig waren. Dies führt von Cimabue und Giotto zu Michelangelo Buonarroti. Vasari behauptete, dass sie sich künstlerisch ständig verbesserten und schuf damit nicht nur einen Kanon, sondern auch eine linear-teleologische Fiktion, die bis heute dominiert. In seiner Euphorie in Bezug auf die Künstler:innen überschlug sich Vasari sprachlich voll Bewunderung mit Superlativen. In seinem Text über Leonardo da Vinci erschuf er etwa das Bild eines Mannes, dessen Perfektion sowohl sein Wesen als auch seine Kunst durchdrang: Reiche Gaben sehen wir oft von der Natur mithilfe der himmlischen Einflüsse über menschliche Geschöpfe ausgegossen, bisweilen aber vereinigt sich, wie ein überschwängliches und übernatürliches Geschenk, in einem einzigen Körper Schönheit, Liebenswürdigkeit und Kunstgeschick so herrlich, dass jede seiner Handlungen göttlich erscheint, alle anderen Sterblichen hinter ihm zurückbleiben und sich deutlich offenbart: was er leiste, sei von Gott gespendet, nicht aber durch menschliche Kunst errungen. Dies erkannte man bei Leonardo da Vinci; sein Körper war mit nie genugsam gepriesener Schönheit geschmückt, er zeigte in allen seinen Handlungen die größte Anmut und besass ein so vollkommenes Kunstvermögen, dass wohin sein Geist sich wandte, er das Schwierigste mit Leichtigkeit löste. (Vasari, 1910, S. 240–241)

Der Künstler wird in eine metaphysische Sphäre katapultiert, die später im deutschen Idealismus weiter ausgebaut und im transzendentalen Subjekt zur Vollendung gebracht wurde. Man kann beobachten, wie an der in der römischen Antike bei Plinius dem Älteren angelegten übernatürlichen Kunstkonzeption weitergearbeitet wird, die, wenn man wieder die zeitgleiche Kolonialisierung mitdenkt, eine Abwertung jeglicher außereuropäischer Kunst – die keiner Naturnachahmung verpflichtet ist und deren Epistemologie keine Metaphysik kennt  –, ermöglicht. Der Faden der Hellenisierung, der schon das Christentum durchdringt, wird für die Kunst kraftvoll weitergesponnen. Auch ist der Gedanke der Moral des philosophischen Idealismus durch den Begriff der Tugendhaftigkeit schon angelegt.

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Julia Conaway und Peter Bondanella (1998) heben Vasaris Fähigkeiten als Geschichtenerzähler hervor, indem sie seine Verwendung von farbenfrohen und lustigen Anekdoten betonen. Die Autor:innen weisen auch auf die wichtige und bisher nicht genannte Tatsache hin, dass das Wort Künstler in seinen Texten nicht vorkommt. Um zu betonen, dass Maler:innen, Bildhauer:innen und Architekt:innen über technisches Wissen und die nötige Anmut verfügen sollten, um über ihre Technik hinauszuwachsen, nannte Vasaria sie artífices – Kunsthandwerker:innen. Es handelte sich dabei nicht mehr um die griechische Idee der technē, an die sich Heidegger vierhundert Jahre später erinnerte. Der Begriff bezog sich in der Renaissance bereits auf die göttliche Schöpfung und macht diejenigen, die Kunst schaffen, zu einer Mischung aus Handwerkern und Schöpfern. Wir haben bereits gesehen, dass Didi-Huberman in seiner Analyse des von Vasari gewählten Begriffs des disegno dasselbe Problem anspricht, wenn er erklärt, wie dadurch das Intelligible mit dem Sensiblen verbunden wurde. Indem er der Zeichnung diese schöpferische Dimension zuwies, trug Vasari dazu bei, Künstler:innen als geniale und fast göttliche Wesen zu etablieren, was über den Geniebegriff von Plinius dem Älteren hinausging und die ambivalente Auffassung vorbereitete, die später im deutschen Idealismus vertreten wurde. Klaus Heinrich (1993) interpretierte diese Vorgehensweise der Renaissance als Wunsch, Künstler:innen als Sühneopfer zu etablieren. Dadurch wäre eine säkulare Figur geschaffen worden, die in der Lage sein sollte, die Menschheit von ihren Existenzängsten zu erlösen, den Klassenspannungen zu widerstehen und sie auszugleichen. Mit anderen Worten, Künstler:innen wurden dazu auserkoren, die Prüfungen, denen die westliche Gesellschaft unterworfen ist, auszuhalten. Sie wären damit in die Fußstapfen der Propheten Moses im Judentum, Christus im Christentum und Mohammed im Islam getreten. Die Renaissance war für Heinrich (1993, S. 87) eben dieser Wendepunkt, an dem die Religion von den Wissenschaften und Künsten absorbiert wurde: „Wissenschaftsgläubigkeit und Kunstreligion, die eine für das Kopf-, die andere für das Triebwesen Mensch bestimmt und beide es als tätiges in sich zerschneidend und so begrenzend, arbeiten Hand in Hand.“ Zuvor hatte die griechische Philosophie, indem sie die Religion abzulösen versuchte, dies bereits vorbereitet. Das macht durchaus Sinn. Denn, wie wir sahen, verstärkte Kant dann die Idee des Künstlergenies. Doch wie wir in Agambens Kritik ebenfalls beobachten konnten, birgt diese Radikalisierung für die Künstler:innen Risiken. Auch Heinrich (1993, S. 89) bemerkte, dass die ihnen zugemutete Rolle, sich mit den Spannungen der Gesellschaft auseinanderzusetzen, letztlich zu schwer für sie sei. Interessant ist, dass Heinrich zeigt, dass der Säkularisierungsversuch der Rolle der Künstler:innen immer wieder mit einer Resakralisierung zusammenhängt. In außereuropäischen Kulturen ist das unnötig und abwegig, da dort das Werk die Verbindung zum Nichtsichtbaren herstellt und keine Last auf diejenigen legt, die es herstellen. Das Hauptkriterium Vasaris zur Beurteilung guter Kunsthandwerker:innen war, wie gesagt, deren zeichnerische Fähigkeit, die wiederum von ihrer Ausbildung und Technik abhing. Der schöpferische Akt – die Begegnung zwischen Sensiblem und Intelligiblem – beruhte für den Autor sowohl auf Können als auch auf Inspiration. Vasari führte Tiziano Vecellio, besser bekannt als Tizian (1473–1576), als Beispiel für einen Künstler an, der keine profunden Kenntnisse der menschlichen Anatomie besaß, und kritisierte seine

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Zeichnungen als schlecht. Die Beherrschung der Perspektive und der Proportionsprinzipien wurde in der Tat als grundlegend betrachtet, was uns wiederum daran erinnert, dass die Naturnachahmung als Bewertungsparameter ins Zentrum gerückt wurde. Paradoxerweise wirft die vorgeschlagene Entwicklungsgeschichte von Giotto bis Michelangelo auch zum ersten Mal das Problem eines möglichen Endes der Kunst durch ihren späteren Verfall auf. Indem Varsari zwischen Früh- und Hochrenaissance unterschied – seine Periodisierung hob die beiden Momente hervor und verglich sie mit der hellenistischen Kunst  –, blieb nach diesen großen Errungenschaften nur noch der Niedergang. Giotto war demnach das „erste Licht“ der Renaissance, da mit ihm die Naturnachahmung begann. Dies wertete nicht nur andere künstlerische Ausdrucksformen ab – insbesondere des Mittelalters, aber eben gerade auch außereuropäische –, sondern verherrlichte ausschließlich die Leistungen einiger weniger. Vasaris Periodisierung sowie seine Begriffe Zeichnung, Anmut, Natur, Anstand und Manier trugen somit dazu bei, eine frühe evolutionäre Fiktion der Kunstgeschichte für die Renaissance zu schaffen. Es sei daran erinnert, dass Vasari keinen Zugang zu allen von ihm beschriebenen Kunstwerken hatte. Dies war tatsächlich ein Problem, dass vor der Erfindung der digitalen Technologie und dem dadurch möglichen Zugang zum Bildarchiv der Menschheit über das Internet viele Wissenschaftler:innen betraf. Es hielt sie aber oft nicht davon ab, über Kunst, die sie nicht kannten, zu schreiben. Ich habe bereits festgestellt, dass Vasari, der den Ursprungsmythos der Kunstgeschichte als Wissensdisziplin schuf, deshalb oft als ihr erster Historiker angesehen wird. Es ist wichtig, den überschwänglichen Tonfall in seinem Buch zu beachten, der seinen ganz persönlichen Stil und seine Art der Bewertung kennzeichnet. Denn das hilft uns, die Grenzen seiner Methodik deutlich zu erkennen, die in der Anwendung eines angeblichen Kriteriums besteht, das eine Rangfolge der Künstler:innen und ihrer Werke aufstellte und eine Meistererzählung entwickelte. Das ist auch der Grund, warum ich Vasari im Kontext der Kritik diskutiere. Im Allgemeinen sind die historiografischen Konstruktionen in den ersten kritischen Texten eher fragil, da sie weniger relevant als die Bewertungskriterien sind, wie etwa die Naturnachahmung und das Verhältnis von Sensiblem und Intelligiblem im Falle von Vasari. Dies zeigt sich auch in der berühmten Traité de l’origine des romans (Abhandlung zum Ursprung der Romane) des Bischofs von Avranches, Pierre Daniel Huet (1630–1721), die 1670 veröffentlicht wurde. Der Text verfolgt zwei Ziele: die Etablierung des Romans als neuer Gattung und die Darstellung seiner Entstehungsgeschichte. Huet gab einen ersten theoretischen Anstoß in Form einer vorläufigen Definition des Romans, skizzierte kurz seine Geschichte und legte Kriterien für seine Beurteilung fest. Man kann dabei den Wunsch beobachten, sowohl eine neue Gattung einzuführen, deren Studium zum neuen Wissensgebiet der Literatur wurde, ihre Wurzeln zu erklären, ihre Besonderheit zu verstehen und Bewertungskriterien vorzuschlagen. Mit Blick auf die ihm zeitgenössische Romanproduktion zeigte Huet auch ein Interesse an Regeln und machte Vorschläge, wie ein gut geschriebener Roman sein solle: „angenehm und vergnüglich, die Moral bewahrend, der Wahrscheinlichkeit gehorchend, einen historischen Inhalt habend und formal ausgeglichen“, wie Lígia Vasallo (2011, S. 75) zusammenfasst. Entsprechend der Sehnsucht des westlichen Denkens, die Geschichten aller menschlichen Handlungen zu erzählen, wurde der kurze Text später  – wie Vasaris viel

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umfangreichere Schrift – als erste Literaturgeschichte betitelt. Huet ist wie Vasari eindeutig dem klassischen und nicht dem historisierenden Denken verhaftet, denn sein Text ist wirklich nur ein erster Versuch, den Roman im Vergleich zu anderen literarischen Ausdrucksformen zu verstehen. Folgerichtig ist er in einem sehr persönlichen Stil gehalten, als Brief an den Autor, dessen Werk, der Roman Zayde, er ursprünglich als Vorwort diente. Obwohl dieser Roman in seiner ersten Veröffentlichung Jean Regnault de Segrais zugeschrieben wurde, ist seine wahre Autorin eine Frau, Marie-Madeleine de La Fayette. Dies sagt viel über die Schwierigkeiten von Künstlerinnen aus, öffentlich anerkannt zu werden. Die Epistel als Mittel der Kritik war eine übliche Form der Einleitung für Übersetzungen klassischer dramatischer Texte. Charles Estienne (1504–1564) hatte ein Jahrhundert zuvor seine Ideen in diesem Format vorgebracht, um das moderne Drama in Frankreich zu etablieren. Während er versuchte, die französische Dramatik seiner Zeit zu verstehen, indem er sie mit den großen Werken der griechischen Antike verglich, verfolgte Huet seinerseits keine vergleichende Methodik, da er sich mit einer gänzlich neuen Gattung befasste. Ihm ging es vielmehr darum, eine Reihe noch unbeantworteter Fragen zu stellen: Was ist ein Roman? Wie hat er sich entwickelt? Warum braucht die Menschheit Literatur? Welche Bedeutung hat sie für die Kultur? Bei der Beantwortung dieser Fragen stieß er auf die Fiktion als Hauptmerkmal des Romans. Natürlich ist dies, wie schon beobachtet, keine Besonderheit. Dennoch war es eine mutige These, wenn man bedenkt, dass zu dieser Zeit das Konzept der Mimesis, d. h. der Nachahmung, die Debatte über Theater und bildende Künste beherrschte. Es sei noch bemerkt, dass Huet, Estienne und Vasaris Texte sich von Aristoteles Poetik unterscheiden, da sie keine ästhetischen Theorien entwickelten, d. h. sie beinhalteten keine philosophischen Reflexionen über die soziopolitsche Funktion der von ihnen behandelten Kunst. Wie viele kritische Texte und spätere Manifeste versuchte Huets Epistel vor allem, den Roman als Kunstform zu etablieren. Die Prosa stand damals noch nicht im Blickpunkt der Öffentlichkeit und war erst kurz zuvor von Francesco Robertello (1516–1567), einem Verleger antiker Texte, legitimiert worden. Er hatte sich in In librum Aristoteles explicantiones (Erklärungen zu Aristoteles) von 1548 für eine Poesie ohne Verse ausgesprochen. Giambattista Giraldi Cinthio (1504–1573), ein zeitgenössischer Schriftsteller und Dichter, war der zweite Kritiker, der die Bedeutung des Romans in seinen Discorsi intorno al comporre dei romanzi, delle comedie, delle tragedie e di altre maniere di poesie (Diskurse zum Verfassen von Romanen, Komödien, Tragödien und anderen Arten der Poesie) anerkannte und die Huet wahrscheinlich beeinflussten. Heute können wir Antworten aus drei Jahrhunderten auf Huets grundlegende Fragen zum Roman betrachten. Eine stammt vom tschechischen Schriftsteller und Literaturkritiker Milan Kundera. In seinem Buch Verratene Vermächtnisse bestätigt er seinen mexikanischen Kollegen Octavio Paz, der auf der Suche nach einem Gründervater Miguel Cervantes (1547–1616) und seinen Roman Don Quichotte von 1605 etablierte. Während Huet die Fiktion als Hauptmerkmal des Romans sah, schlägt Kundera dessen Ambivalenz vor: Humor ist also nicht Lachen, Spott, Satire, sondern vielmehr eine spezifische Art des Komischen, über die Paz sagt (und das ist der Schlüssel, um das Wesen des Humors zu verstehen), er mache alles, was er berührt, vieldeutig’. (Kundera, 1996, S. 11)

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Die Besonderheit des Romans bestehe dementsprechend in der Aufhebung jeglichen moralischen Urteils. Der Roman habe vielmehr eine Moral, „die sich der unausrottbaren menschlichen Gewohnheit widersetzt, sofort, unablässig und jedermann zu beurteilen, zu urteilen, noch bevor und ohne dass man verstanden hat“ (Kundera, 1996, S. 13). Denn „unter dem Blickwinkel der Weisheit des Romans ist diese leidenschaftliche Bereitschaft zu urteilen die abscheulichste Dummheit, das gefährlichste Übel“ (Kundera, 1996, S. 11). Es ist offensichtlich, dass sowohl der vieldeutige Humor bei Paz und Kundera als auch die Fiktionalität bei Huet in allen anderen Künsten und in vielen anderen Gattungen zu finden sind. Aber die Idee der Ambivalenz diente am Ende des 20. Jahrhunderts dazu, die Bedeutung des Romans zu verteidigen, genauer gesagt, seine Bedeutung als kulturelles Instrument, das vorgefassten Meinungen keinen Platz einräumt. Es ist ein erbaulicher Gedanke, die Besonderheit des Romans in der Abwesenheit vorgefertigter Wahrheiten in Bezug auf die Menschheit zu sehen. Der Roman lehre den Leser, „neugierig zu sein in Bezug auf den anderen und zu versuchen, Wahrheiten zu verstehen, die sich von den eigenen unterscheiden“ (Kundera, 1996, S. 13). Kunderas Romantheorie ist somit klassische, westliche Subjektheorie und ähnelt darin der Bildtheorie. Der Autor hofft, dass sich Leser:innen „als Individuum konstituieren, sich selbst als solches betrachten und als solches betrachtet werden“ (Kundera, 1996, S. 13). Obwohl das sicher schön wäre, wenn alle Romane dies täten, so ist jede Kunstform offen dafür, Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit zu verteidigen, je nachdem, welche Interessen verfolgt werden. Und es muss hervorgehoben werden, dass der Roman als westliche Erfindung zumeist das westliche Subjekt im Blick hat. Da die erste Manifestation dieser Art von Individuation in Prosa Cervantes zugeschrieben wird, lohnt es sich daran zu erinnern, dass Michel Foucault nicht nur Las Meninas heranzog, um die Entstehung des klassischen Denkens und die Eröffnung eines analytischen Raums zu erklären, sondern auch den berühmten cervantinischen Roman. Foucault zufolge beschrieb Cervantes in Don Quichotte eine negative Version der Renaissancewelt: Die Schrift hat aufgehört, die Prosa der Welt zu sein. Die Ähnlichkeiten und die Zeichen haben ihre alte Eintracht aufgelöst. Die Ähnlichkeiten täuschen, kehren sich zur Vision und zum Delirium um. Die Dinge bleiben hartnäckig in ihrer ironischen Identität: sie sind nicht mehr das, was sie sind; die Wörter irren im Abenteuer umher, inhaltslos, ohne Ähnlichkeit, die sie füllen könnte. (Foucault, 1974, S. 79–80)

Foucaults These, dass der vermeintlich erste Roman mit dem Erscheinen des klassischen Denkens zusammenfiel, zeigt einmal mehr, dass der Westen Kunst und die ihr enthaltene Kritik immer als Teil derselben Dialektik sieht. Vielleicht könnte man auch ganz anders über Don Quichottes Fähigkeit, Nichtsichtbares zu sehen, nachdenken. Denn dies machte sich gerade dann bemerkbar, als die Welt in der Neuzeit begann, aus den Fugen zu geraten. Anstatt den Roman als die Einleitung des klassischen Denkens zu sehen, könnt er genauso als der Versuch verstanden werden, die vorherige und vielleicht komplexere Weltsicht zu bewahren. Der Begriff der Kritik, wie wir ihn heute verwenden, wurde im Zusammenhang mit Literatur kurz nach Huet eingeführt. Er wurde in Frankreich geprägt, wo der Roman schnell

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zum kulturellen Werkzeug schlechthin wurde, um das Verhältnis und die Spannungen zwischen Mensch und Welt zu verstehen. Das Dictionnaire historique et critique (Historische und kritische Wörterbuch), von 1697, des französischen Philosophen und Schriftstellers Pierre Bayle (1647–1706), gilt als diejenige Publikation, die in diesem Sinne nicht nur die Systematisierung des Wissens der Aufklärung, sondern gerade auch dessen kritische und historisierende Dimension aufzeigte.

Von den Traktaten Wenn in den bisher genannten Beispielen eine Entwicklung von der enzyklopädischen oder biografischen Organisation des Wissens hin zu hybriden Formen der Kritik zu beobachten ist, so verfolgten die Traktate ein ganz anderes Ziel, nämlich die Suche nach und die Aufstellung von Vorschriften und Regeln. Ich werde nun einige didaktische Beispiele vorstellen, die Richtlinien für Künstler:innen aus verschiedenen Bereichen und zu verschiedenen Zeiten anboten. Auch diese Texte sind unrein, da sie oft theoretische Überlegungen und kritische Kriterien enthalten. Wir können zwei Bewegungen beobachten: die Anthropozentrierung – d. h. die Idee der Trennung des Menschen von der Natur und die Zentralität des Subjekts, deren extremste Form das transzendentale Subjekt ist –, aber auch die Mathematisierung oder Virtualisierung der Kunst, die den Gedanken der Naturnachahmung radikalisiert. Erst im 20. Jahrhundert schrieben Künstler:innen Texte, die wieder andere Wege einschlugen. Wassily Kandinskys in Über das Geistige in der Kunst, von 1912, wandte sich erneut dem Nichtsichtbaren zu. Er reflektierte darin, wie die westliche Menschheit durch die Materialisierung der Wirklichkeit den Zugang dazu verloren hatte: Unsere Seele, die nach der langen materialistischen Periode erst im Anfang des Erwachens ist, birgt in sich Keime der Verzweiflung des Nichtglaubens, des Ziel- und Zwecklosen. Der ganze Alpdruck der materialistischen Anschauungen, welche aus dem Leben des Weltalls ein böses zweckloses Spiel gemacht haben, ist noch nicht vorbei. (Kandinsky, 1912, S. 10)

Die Abhandlungen, die ich jetzt vorstellen werde, beteiligten sich gewisserweise an dieser Materialisierung. Ihr Schreiben begann, soweit wir wissen, ebenfalls im antiken Griechenland. Das erste Traktat war von einem Künstler, Polykleitos, und hatte den Titel Kanon. In der historisierenden westlichen Logik wird dieser verloren gegangene Text manchmal als erste Kunsttheorie gesehen, obwohl er weniger einen spekulativen als vielmehr einen präskriptiven Charakter gehabt haben muss. So wie Plinius der Ältere als Vorläufer der Kunstgeschichte und Varsari als ihr erster Historiker gelten, so wurde Polykleitos zum ersten Kunsttheoretiker erklärt, während Huet, wie gesagt, als Vater der Literaturtheorie in die Geschichte einging. Wie bereits mehrfach erwähnt, zielen diese rückwirkenden Zuweisungen nur darauf ab, Ursprungsmythen zu etablieren, die dem evolutionären Modell der jeweiligen Disziplin dienen. Unser erstes Traktatbeispiel bot den Künstler:innen eine Methode zur Herstellung von Skulpturen mit perfekten Proportionen. Man könnte annehmen, dass dies ein wichtiger

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Schritt auf dem Weg zum westlichen Anthropozentrismus war, da hier die menschliche Figur nicht nur ins Zentrum gerückt, sondern als vollkommen dargestellt wurde. Aber vielleicht ist das nicht die ganze Geschichte. Obgleich der Text wie gesagt verloren ist, gibt es Hinweise darauf, dass Polykleitos ein System entwickelt hatte, das zur technischen Perfektion führte, die wir in seinen Skulpturen sehen. Das berühmteste Beispiel ist der Speerträger oder Doryphoros (450– 440 v. Chr.), von dem es mehrere Kopien in Bronze und Marmor gibt. Er gilt als eine der imposantesten Skulpturen des klassischen hellenistischen Stils. Der amerikanische Wissenschaftler Richard Tobin (1975) rekonstruierte den Kanon auf der Grundlage der damals verfügbaren philosophischen und mathematischen Grundlagen. Der Autor fand heraus, dass Polykleitos seine Messungen der menschlichen Proportionen auf dem distalen Fingerglied, dem kleinsten Knochen des kleinsten Fingers, als Modul aufbaute. Tobin (1975, S. 307) führte weiter aus, wie Polykleitos, in Übereinstimmung mit den griechischen Kenntnissen der Geometrie – Verhältnis, Proportion und Symmetrie  – mit diesem Modul „ein System der kontinuierlichen Progression“ entwickelte. In Zeichnungen können wir diese Progression nachprüfen und beobachten. Man sieht wie der menschliche Körper vermessen und das Modul auf eine Skulptur, nämlich den Doryphoros, Abb. 69: Doryphorus, Polykleitos, 450–440 angewandt wurde. Wichtig ist dabei zu beobachten, v. Chr. Marmorstatue, Museo Archeologico dass hier eine erste mathematische Grundlage für nazionale, Neapel die menschliche Figur geschaffen wurde. Tobin ging davon aus, dass das als Vorbild dienende Proportionssystem zeige, dass die Perfektion der griechischen Skulpturen nicht nur aus der Nachahmung der Natur, sondern gerade auch aus der Kenntnis der mathematischen Gesetze resultierte. Diese Feststellung ist vergleichbar mit der Entdeckung der Anwendung optischer Gesetze in den perspektivischen Bildern der Renaissance durch Hockney. In beiden Fällen liegt ein Interesse an der Mathematisierung der Welt zugrunde, die es möglich macht, sie proportionsgerecht darzustellen. Man kann aber genauso gut argumentieren, dass es sich dabei um Abstraktionen handelt, wie wir sie in Felsmalereien und -gravuren schon beobachtet haben. Die Mathematisierung muss nicht ausschließlich als eine Virtualisierung gesehen werden, die den Menschen von der Welt abtrennt, da er sie zu kontrollieren versucht. Die Virtualisierung kann genauso als eine Annäherung an die Modelle des Nichtsichtbaren verstanden

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Abb. 70: Rekonstruktion der Vermessungsmethode des Polykleitos für den Doryphoros, Richard Tobin

werden. Anders gesagt: Es ist möglich, dass die technitēs, die diese Körper herstellten, nicht so sehr an der Diesseitigkeit interessiert waren und den Menschen ins Zentrum stellen wollten, sondern sich als Teil eines größeren Ganzen, das auf einer mathematischen Matrix aufbaut, verstanden. Wie dies dann später für ideologische Zwecke in der Kunstgeschichte instrumentalisiert wurde, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Diese Instrumentalisierung geschah auch in der Kunst, als die ersten imaginären Bilder der indigenen Bevölkerung des heutigen Amerikas gemacht wurden. Es ist wichtig hervorzuheben, dass sie nicht Resultat direkter Beobachtung waren, sondern auf Erzählungen von Reisenden basierten. Es kam dadurch zu sehr paradoxen Darstellungen von Menschen, die Anthropophagie praktizieren, einer europäischen Erfindung, die auch schon in Afrika benutzt wurde, um die Menschen zu Monstern zu degradieren. Die angeblichen „Menschenfresser“ haben kurioserweise in den ersten von ihnen hergestellten Bildern durch Europäer dem antiken Griechenland entnommene perfekt anmutende Körper. Dasselbe ist auch in Bezug auf Afrikaner zu beobachten. Verblüffenderweise bauten Künstler wie der Franzose Theodor de Bry und der Deutsche Hans Brugkmeier bei ihrer Figurenkonzeption von Indigenen und Afrikanern auf Formen auf, die die Renaissance bekanntlich wiederentdeckt hatte und deshalb im 16. Jahrhundert en vogue waren. Mudimbe (1988, S. 27) argumentiert, dass dadurch die westliche diskursive Ordnung etabliert und die Menschen in deren hegemonische Epistemologie gewaltsam eingeordnet wurden. Die Bilder machen deutlich, wie Menschen aus anderen epistemologischen Kontexten auch visuell vereinnahmt wurden. Doch zurück zu den griechischen Beispielen. Tobin stellte unter Berufung auf Plinius den Älteren fest, dass nachdem sich die Skulpturen zur Zeit von Polykleitos auf

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Abb. 71: Theodore de Bry, America Tertia Pars, Frankfurt, 1592, Kupferstich

Abb. 72: Hans Burgkmeier, In Guinea, 1509, Holzschnitt

geometrische Symmetrie gestützt hatten, spätere Generationen von Bildhauern sich mehr für optische Symmetrie interessierten. Dies geschah als direkte Reaktion auf die starren Proportionen des Kanons des 4. Jahrhunderts v. Chr. (Tobin, 1975, S. 321). Das optische Interesse steht dabei stärker im Einklang mit dem menschlichen Blick, da es von der Benutzung beider Augen ausging, im Gegensatz zur Verwendung optischer oder mathematischer Technologie. Schon im Hellenismus vollzog sich also ein Wechsel von der Auffassung der Natur als von Gesetzen und Maßstäben bestimmt, hin zu einer Auffassung der Natur als visuellem Phänomen und Ergebnis von Erscheinungen und psychologischen Zuständen. Mit anderen Worten, nach Polykleitos wurde eine weniger abstrakte Darstellung für die Künstler interessant. Dies änderte sich erneut in der Renaissance, als die menschliche Sichtweise des Mittelalters durch ein Interesse an geometrischer Symmetrie und mathematischer Perspektive ersetzt wurde, unterstützt durch die optische Technologie der einäugigen Camera obscura. Der Barock ging dann wieder zur Darstellung psychologischer Zustände zurück. Es ist wichtig, diese Alternierung in der westlichen Kunst zur Kenntnis zu nehmen, die zwischen einer auf mathematischen Überlegungen basierenden Darstellung der Welt und ihrer Wesen, unterstützt durch technologische Geräte oder Maßeinheiten, und einer Darstellung, die sich mehr auf die menschlichen Sinne, optische Wahrnehmung und Psychologie, einschließlich der Raumempfindung beruft, oszilliert. Letztere kann als Antwort auf Erstere gelten. Dies zeigt einmal mehr, dass es keine lineare Geschichte der westlichen Kunst gibt, sondern Zyklen, die von der Entdeckung wissenschaftlicher Prinzipien und Technologien und der Notwendigkeit, diese Entdeckungen mithilfe der Augen und des Körpers zu überprüfen, angetrieben werden. Es handelt sich dabei um unterschiedliche Lösungen, nicht unbedingt um ideologische Herangehensweisen. Im außereuropäischen Raum gibt es diese Oszillation nicht in demselben Maße, aber es gibt genauso unterschiedliche Lösungen, die mal abstrakter und mal weniger abstrakt sind. Vergleicht man den Doryphoros von Polykleitos mit dem Farnesischer Herkules von Lysippos aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. und dem Gehender Mann von Alberto Giacometti

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Abb. 73: Links – Farnesischer Herkules, Lysippos, 4. Jahrhundert v. Chr. Marmorstatue, Museo Archeologico nazionale, Neapel; rechts – Gehender Mann I, Alberto Giacometti, 1947, Bronzeskulptur, Carnegie Art Museum, Pittsburgh

aus dem Jahr 1947, so wird dieser Zyklus ebenfalls deutlich, ebenso wie das wechselnde Interesse zwischen geometrischen Gesetzen und Symmetrie auf der einen Seite und der menschlichen Wahrnehmung und Interesse an der Naturnachahmung auf der anderen. Während die Skulptur von Lysippos weniger idealisiert und naturalistischer ist als die auf mathematischen Gesetzen beruhende Skulptur von Polykleitos, entfernt sich die Skulptur von Giacometti von der Natur, indem sie sich noch radikaler auf die menschliche Wahrnehmung stützt. Giacomettis Figur steht dabei in seiner Abstraktion und Veränderung der Proportionen paläolithischen Stelen und außereuropäischen Skulpturen am nächsten und war wahrscheinlich, wie viele seiner Künstlerkollegen der Zeit, von afrikanischer, asiatischer und ozeanischer Kunst beeinflusst. Giacometti betrat dabei einen neuen Weg in der westlichen Skulptur, da er sich mit verschiedenen Dimensionen auseinandersetzte. In der Tat berücksichtigt die langgestreckte Figur des Gehenden sowohl die Wahrnehmung des Menschen, als auch den Raum, in den er eingefügt ist und außerdem die Entfernung zwischen Betrachter:innen und dem Beobachteten. Sie ist weder nur an geometrischer noch an optischer Symmetrie interessiert, da sie einer anderen Vorstellung von der Realität des Körpers folgt, die unseren visuellen Eindruck erweitert. Ihr Bewusstsein für den Raum ist dabei der Existenz früherer Skulpturen geschuldigt. Es handelt sich dabei nicht um eine Evolution, sondern, ähnlich wie bei

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den paläolithischen Venusen, um eine andere Herangehensweise an den menschlichen Körper und seinen Platz in der Welt, sei es die sichtbare oder die nichtsichtbare. Während Polykleitos Doryphoros  – ein Soldat  – und Lysippos Herkules  – ein Halbgott – sich im Raum ausdehnen –, der eine entsprechend der Geometrie des Körpers, der andere entsprechend seiner Wahrnehmung –, verweist Giacomettis Gehender Mann – ein anonymer Mensch, der die Grundbewegung des Homo sapiens ausführt  – auf die Begrenztheit der Möglichkeit, einen menschlichen Körper darzustellen und vielleicht auch auf die Begrenztheit des menschlichen Körpers überhaupt. Es handelt sich also nicht um eine menschliche Gestalt im klassischen Sinne, sondern um das Ergebnis des komplexen Verhältnisses von Körper, Raum und (symbolischer) Wahrnehmung, was die Skulptur als poröses Medium in ihrer Form berücksichtigt. Jede der drei Skulpturen drückt ein Verständnis des Menschen und seines Verhältnisses zu seiner Umwelt in einer gewissen Zeit aus. Gemeinsam ist ihnen, dass sie auch über ihre Zeit hinausweisen, da sie über den vermeintlichen Anthropozentrismus hinausgehen – sei es mathematisch, als Teil des Nichtsichtbaren oder als Verweis auf das Nichtsichtbare. Zwischen Antike und Moderne setzten sich die Abhandlungen über Kunst deutlich mit der Vorherrschaft der Geometrie, der Symmetrie und der Proportion auseinander, d. h. der Anthropozentrismus war von großer Bedeutung. Sie spiegelten dabei die wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse ihrer Zeit wider und wandten die von ihnen gefundenen Lösungen an. Die Zehn Bücher über Architektur des römischen Architekten Marcus Vitruvius Pollio, kurz Vitruv, veröffentlicht zwischen 30 und 26 v. Chr., folgten einer ähnlichen Vorgehensweise des Polykleitos. Der mathematisch vermessene menschliche Körper war das Maß für die Gebäude, die er bewohnt oder die er zur Anbetung aufsucht: Die Gestaltung der Tempel beruht auf Symmetrie, deren Methode von den Architekten gewissenhaft eingehalten werden muss. Symmetrie entsteht aus Proportionen, die im Griechischen Analogie genannt werden. Das Verhältnis besteht in der Verhältnismäßigkeit der einzelnen Teile des Gesamtwerkes (…). Diese Kommensurabilität basiert auf der Annahme eines festen Moduls und erlaubt die Anwendung der Symmetrie-Methode: Kein Tempel könnte ohne Symmetrie und ohne Proportion ein rationales Design haben, d. h. ohne eine exakt proportionale Beziehung zu einem gut geformten menschlichen Körper. (Vitruvius, 1987, S. 159)

Der Anthropozentrismus – sei es in der Architektur oder in der Bildhauerei – stand im Mittelpunkt der griechischen und römischen Ästhetik, beeinflusste aber auch die mittelalterlichen Kirchenanlagen und spielte in der Renaissance eine entscheidende Rolle. Wieweit man dies als eine Zuwendung zum Diesseits oder aber immer noch als eine Verbundenheit zum Jenseits sieht, hängt sicher von den unterschiedlichen Werken ab. Dennoch sollte man nicht vergessen, dass es ein deutliches Interesse gab, den Menschen ins Zentrum der Welt zu rücken. Das berühmteste Beispiel ist die Zeichnung des Vitruv, in der er die perfekten Proportionen des Menschen in einem mathematischen Kreis darstellte und die von Leonardo da Vinci knapp 1450 Jahre später aktualisiert wurde. Beide Bilder sind Embleme der westlichen Kultur, im Sinne der Zentralität des Menschen und seiner Diesseitsgewandtheit

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Abb. 74: Links – Zehn Bücher der Architektur, Vitruv, 30–26 v. Chr.; rechts – Vitruvischer Mann, Leonardo da Vinci, 1490, Zeichnung, Galleria dell’Accademia, Venedig

und Naturnachahmung. Vielleicht werfen sie aber auch die Frage auf, woher diese Perfektion kommt. Indem er zwischen zwei Grundlagen der Architektur, der fabrica (Technik) und der raticionatio (geistige Arbeit), unterschied, bereitete Vitruv die Trennung zwischen manueller und konzeptioneller Arbeit und somit zwischen Ausführung und Planung vor. Sie wurde in der Renaissance mit Vasaris Begriff des disegno abgeschlossen. Vitruv war somit, wie viele andere, an der Fragmentierung des abendländischen Subjekts beteiligt, für die, wie wir bereits gesehen haben, die Philosophen des Idealismus und der Romantik eine transzendentale Lösung fanden. Die Bücher Vitruvs beeinflussten in der Renaissance das Verfassen neuer Texte. Die wichtigsten waren De pictura, De statua und De re aedificatoria, die zwischen 1435 und 1452 von Leon Battista Alberti geschrieben wurden. Sie gelten als theoretische Werke und sind wiederum das Ergebnis des Bestrebens, die Künste auf Rationalität und Wissen zu gründen. Mit anderen Worten, Alberti folgte einem wissenschaftlicheren Impuls als Polykleitos oder Vitruv, indem er ausgefeiltere Werkzeuge und Technologien vorstellte, die bei der praktischen Gestaltung helfen sollten. In De pictura, das zunächst in italienischer und später in lateinischer Sprache verfasst wurde, hob Alberti zum ersten Mal den Übergang von der Dreidimensionalität zur Zweidimensionalität durch eine Analyse des Blicks sowie durch die Demonstration der Fähigkeiten des menschlichen Geistes hervor. Er sah dabei die Arbeit von Künstler:innen, Ingenieur:innen und Erfinder:innen als gleichwertig an und würdigte so deren Rolle. Christoph Rodatz (2010) betont, dass Albertis berühmter Ausspruch, ein zentralperspektivisches Bild sei eine finestra aperta, ein offenes Fenster, nicht sagen wollte, dass die Malerei eine Öffnung zur Welt oder eine Möglichkeit sei, sie in ihrer Tiefe zu erkunden.

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Abb. 75: De pictura, Leon Battista Alberti, 1436

Abb. 76: Benutzung eines Velum in Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt, Albrecht Dürer, 1538

Es bedeute vielmehr, dass ein Bild ein Ausschnitt der Wirklichkeit sei, genauer gesagt ein mathematischer Ausschnitt. Alberti kannte bereits die Camera obscura, denn seine Theorie der Augenpyramide bezog sich nicht auf eine zweiäugige Perspektive, sondern auf die Mathematisierung, die durch die Reduktion auf ein Auge möglich ist. Die Augenpyramide zeigt die Kittlersche Virtualisierung mittels eines optischen Geräts  – eines einfachen Lochs, eines Spiegels oder einer Linse. Der Blick wird durch Strahlen dargestellt, die von einem einzigen Auge ausgehen, um die Täuschung der menschlichen Sicht zu vermeiden. Dieser mathematische Punkt ermöglichte es, einen dreidimensionalen Körper auf einer ebenen Fläche abzubilden. Die Nachahmung oder

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Abb. 77: Benutzung einer Camera obscura in De radio astronomica et geometrico, Gemma Frisius, 1545

Illusion der uns umgebenden Welt stand aber eigentlich nicht bei ihrer Mathematisierung auf der Tagesordnung, sondern die Abstraktion der Realität: Das Bild ist also weder als illusionistische Öffnung noch als Blick in einen tiefen Raum gedacht. Vielmehr ist es ein abstrakter Schnitt, der auf Gegenstände bezogen ist und einen eigenen Standpunkt hat. (Rodatz 2010, 198)

In seinem Buch schlug Alberti optische Hilfsmittel vor, mit denen dieser Übergang erreicht werden konnte: die Camera obscura und das Velum. Die Verwendung des Velums können wir im Buch des deutschen Künstlers Albrecht Dürer (1471–1528) Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt, in Linien Ebnene und gantzen Corporen…, beobachten. Es handelt sich um ein Traktat für Architekt:innen, Ingenieur:innen und Dekorateur:innen aus dem Jahr 1525. Dabei sei noch einmal vermerkt, dass die Mathematisierung nicht unbedingt eine Virtualisierung bedeutet. Die Zeichnung des niederländischen Arztes Gemma Frisius (1508–1555), die 1545 in dem Buch De radio astronomica et geometrico (Astronomisches und geometrisches Ratio) veröffentlicht wurde, zeigt die Funktionsweise einer Camera obscura, bei der die Sonne als Objekt dient. In beiden Fällen ist der Unterschied zwischen dem Objekt und der Projektion deutlich zu erkennen. Damit soll gesagt sein, dass es sich immer auch um eine von der Hand gezeichnete Abstraktion handelt, die ein Potenzial hat, etwas Nichtsichtbares sichtbar zu machen, da man z. B. nicht direkt in die Sonne schauen kann. Trotz der utilitaristischen Seite der Geräte ist das Aufzeichnen ein Akt, der die Vorstellungskraft einschließt und auf die eine oder andere Weise das geschaffene Bild beeinflusst. Sowohl beim Übergang des Objekts von der dritten in die zweite Dimension als auch nach seiner Fixierung obliegt es dem Künstler, der diese Fixierung vornimmt, den Grad der kreativen Beeinflussung des Bildes zu bestimmen.

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Die mathematische Beschreibung der Perspektive, die, wie gesagt, ein grundlegendes Element der Meistererzählung der Kunstgeschichte war, wurde 1470 von Piero della Francesca (1415–1492) in De prospettiva pigendi vorgenommen. Er konzentrierte sich jedoch mehr auf Ideen wie Harmonie, Aggregation und Synthese der Proportionen als auf eine optische Theorie wie Alberti (Elkins 1994, S. 108). Zu den anderen Veröffentlichungen Albertis ist zu sagen, dass er in De statua eher normativ und didaktisch vorging und wie Polykleitos ein System zur Vermessung von Körpern und Statuen anbot, um deren Herstellung zu erleichtern. De re aedificatoria ist ein noch lehrreicheres Buch, wenn auch eher für Baumeister:innen als für Architekt:innen. Es ist ausdrücklich von einem archäologischen Interesse geleitet, da es sich auf die Pflege und Erhaltung der Gebäude aus der römischen Antike konzentriert. Aufgrund seiner Popularität wurde es schon vor der Gutenberg Buchpresse als Bestseller bezeichnet. Diese Art von Vorgaben, hier für Bildhauerei und Architektur, waren bis zum 16. Jahrhundert auch für dramatische Texte üblich, und zwar innerhalb der durch Rhetorik und Theologie gesetzten Grenzen. Nach der Übersetzung der Poetik des Aristoteles aus dem Lateinischen im Jahr 1498 und aus dem Griechischen im Jahr 1508, begann eine Auseinandersetzung, um das Wesen und die Funktion des Theaters zu verändern. In Italien gab es eine intensive Debatte über Wahrhaftigkeit (Carlson, 1995, S. 38). Ausser den Kommentaren von Francesco Robortello (1548), Giambattista Giraldi (1554), Lodovico Castelvetro (1570), Alessandro Piccolomini (1575) und Antonio Riccoboni (1585) wurden neue Poetiken verfasst, die die dramatische Produktion der Zeit reflektierten. Es handelte sich um De Poeta von Antonio Sebastiano Minturno (1559), einem Bischof, der die zeitgenössische Poesie analysierte, Poetices von Julius Caesar Scaliger (1561), der die Naturnachahmung zugunsten eines didaktischeren Ansatzes infrage stellte, und Poetica von Giangiorgio Trissino (1563), einer eher treuen Übersetzung. Sowohl die Kommentatoren als auch die Autoren der neuen Poetiken boten verschiedene Argumente und Schlussfolgerungen an, hielten sich aber recht eng an die Methode des Aristoteles. Die Idee der Wahrhaftigkeit blieb ein Schlüsselbegriff, wurde aber nicht im Sinne von Aristoteles Idee der falschen Wahrheit verstanden. Piccolomini war einer der wenigen Kritiker, die argumentierten, dass Nachahmung nicht mit Wahrheit verwechselt werden dürfe, während Orazio Ariosto (1555–1593) das Recht verteidigte, sich Freiheiten zu nehmen, um neue dramatische Handlungen zu schaffen. Beide Autoren distanzierten sich von den konservativen und restriktiven Lesarten der Poetik, die sich mit der Rhetorik herausgebildet hatten (Carlson, 1993, S. 37–56). In England wurde eine liberalere Position von George Puttenham in seinem Werk The Art of English Poesie (Die englische Kunst der Poesie) von 1589 und von Sir Philip Sidney in seiner Defence of Poesy (Verteidigung der Poesie) von 1595 vertreten, die für fantasievollere Handlungen anstelle von historischer Wahrheit plädierten (Carlson, 1993, S. 82). In den Niederlanden wurde 1647, kurz nachdem eine Übersetzung von Aristoteles erschienen war, ein einflussreiches Handbuch, das Poeticarum institutionum libri tres (Drei deutsche Gedichtbände) von Gerardus Joannes Vossius veröffentlicht. Der westliche Wunsch, das Wissen systematisch und rational zu organisieren und der Bedarf an praktischen und didaktischen Texten für angehende Autor:innen, die dem Beispiel der rhetorischen Abhandlungen der griechischen und römischen Antike folgen sollten, hielt bis zur Renaissance an, insbesondere in Italien. Doch die Normativität, die

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sich in den Abhandlungen über Kunst, Architektur, Bildhauerei, Romane und dramatische Texte ausdrückte, fand immer weniger Zuspruch. Der Wandel hin zu einer modernen Kritik wurde von der Sehnsucht angetrieben, eine spezifisch nationale Kunst zu schaffen und sich dadurch auf europäischer Ebene hervorzuheben. Konkurrenzdenken und Nationalismus waren der Antrieb.

Zur modernen Kritik Das Land, das Italien als kritisches, wenn auch noch rhetorisches Forum der Kunst entthronte, war Frankreich, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als das klassische Denken im 17. Jahrhundert Gestalt annahm. Frankreich war zu diesem Zeitpunkt neben Portugal und Spanien eine aufstrebende Kolonialmacht. Die heutigen USA und Kanada wurden großteils von ihm in Anspruch genommen. Der intellektuelle Machtanspruch zeigte sich in der eifrigen Auseinandersetzung mit der aristotelischen Poetik. Eine der Regeln der Einheit, nämlich die des Ortes, wurde der Prüfstein für eine heftige Debatte unter den französischen Dramatikern. François Ogier (1597–1670), Jean Chapelain (1595–1674), André Mareschal (1601–1648) und Jean Mairet (1604–1686) begannen, in den Vorworten zu ihren Stücken die Starrheit dieser Forderung ebenso anzuzweifeln wie das Gebot der Wahrhaftigkeit, das sich aus der engen Interpretation der italienischen Übersetzungen des Aristoteles ergeben hatte. Nach dem großen Erfolg des ungewöhnlichen Dramas El Cid von Jean Corneille (1606–1684), 1636 in Paris uraufgeführt, kam es zu einem Konflikt, der zu einer heftigen Diskussion der Regeln, besonders der Einheit des Ortes, führte. Kritiker und Dramatiker warfen Corneilles Stück vor, es entbehre der Wahrheit im Allgemeinen und geschichtlicher Präzision im Besonderen. Es ging also um die Verteidigung der künstlerischen Freiheit der zeitgenössischen Autor:innen. Die Diskussion wurde ein Jahr lang in Briefen, Antworten des Autors und Flugblättern geführt und endete mit persönlichen Angriffen, die Kardinal Richelieu, oberster Minister König Ludwigs XIII ., veranlassten, persönlich einzugreifen, um die Gemüter zu beruhigen (Carlson, 1993, S. 95). Um die Debatte zu schlichten, gab er zwei Werke in Auftrag: eine erste französische Poetik, die Poétique von La Mesnardière (1610–1663), und das Handbuch Pratique du théâtre (Theaterpraktik) des Abtes von Aubignac (1604–1676). Er wollte damit Instrumente schaffen, um dem französischen Ehrgeiz, einen zentralen Platz in der europäischen Debatte zur Dramatik einzunehmen, gerecht zu werden. Corneille schrieb in den folgenden Jahren wichtige Vorworte für die drei Bände seiner Werke, in denen er seinen unorthodoxen Standpunkt zu den aristotelischen Regeln noch genauer erläuterte. Bis ins 18. Jahrhundert blieb die Dramatik das Aushängeschild der Kunstdebatten. Mit den ersten Ausstellungen von Ölgemälden in Paris und London erlangte die bildende Kunst dann ein theoretisches Interesse, das mit dem während der italienischen Renaissance vergleichbar war. Zu dieser Zeit war das Vereinigte Königreich wichtigste Seemacht der Welt und begann rasant seinen Einfluss im Atlantik und Pazifik durch Sklavenhandel und die Ostindien Kompanie auszubreiten. Somit ist es nicht verwunderlich, dass auch kunsttheoretisch eine Vormachtstellung gesucht wurde. In Bezug auf die Malerei gehören zwei Bücher des britischen Malers und Sammlers Jonathan Richardson zu den ersten

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Veröffentlichungen. Das erste, aus dem Jahr 1715, trägt den Titel An Essay on the Theory of Painting (Ein Versuch über die Theorie der Malerei) und leitete eine Unterscheidung zwischen Malerei, Literatur und Theater ein. Diese Unterscheidung wurde dann von Gotthold Ephraim Lessing in seinem bahnbrechenden Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie von 1766 weitergeführt. In seinem Text betonte Lessing (2012) zum ersten Mal vehement die Unterschiede zwischen Bildhauerei, Malerei und Literatur. Die Zeit wurde als Kriterium herangezogen, um zu argumentieren, dass sich die erzählenden Künste linear entfalten, während die Malerei und die Bildhauerei synchron betrachtet werden. Es sei daran erinnert, dass Flusser dieses Argument bei seiner Periodisierung von Bildern, Schrift und technologischen Codes erneut aufgriff. Richardson tat etwas Ähnliches, aber im Gegensatz zu Lessing hierarchisierte er, denn er befand, dass die Malerei der Schrift überlegen sei, womit er die gleiche Ikonophilie wie Flusser demonstrierte und für seine Kunst eine dominante Position einzunehmen suchte. Um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, erhob er die Malerei zunächst in den Rang einer Sprache und erklärte sie dann zu einer Hochsprache. Er machte die folgenden Gründe gelten: 1. Die Malerei hat eine größere Fähigkeit, Ideen zu vermitteln als Worte; 2. Sie vermittelt diese Ideen deutlicher als die Sprache; 3. Sie kann von jedermann verstanden werden, weil sie nicht von Muttersprachen abhängt; 4. Die vermittelten Ideen sind in unserem Geist fest verankert, im Gegensatz zu Worten, die lose sind; 5. Im Vergleich zum Theater schafft die Malerei unbewegte und nicht bewegte Bilder; 6. Sie hebt die Natur hervor und stellt edlere Vorstellungen von Menschen, Tieren, Landschaften usw. dar; 7. Sie verewigt die Menschen; 8. Sie zeigt nicht nur Dinge, sondern erklärt sie auch; 9. Sie illustriert und berichtet über Geschichte; 10. Sie ermöglicht es, Ideen zu entwickeln, die uns dann bei der Lektüre helfen, da wir lernen Bilder zu schaffen; und 11. Sie erhebt Ideen, Gefühle usw. In diesen Argumenten spürt man die aristotelische und vasarianische Tradition und stößt auf eine Strategie, die von Künstler:innen und Kritiker:innen sowie von Wissenschaftler:innen immer dann angewandt wird, wenn sie eine Kunst einführen oder ein neues Medium verteidigen: Die Kommunikationsfähigkeit dieser vermeintlich neuen Kunst wird hervorgehoben, besonders dann, wenn sie aus der Verwendung von Reproduktionsmitteln resultiert, die die menschliche Hand in den Hintergrund treten lässt. Dies geschah nach der Malerei mit der Fotografie, dem Film und den digitalen Künsten. Die Künstler:innen, die sich ihrer bedienen, fühlten sich immer verpflichtet, ihren intelligiblen Aspekt zu betonen. Sie taten dies aber aufgrund der damit verbundenen Technologie, um die allgegenwärtigen und seltsam allmächtigen platonischen Vorbehalte gegenüber dem Bild zu überwinden. Ich möchte daran erinnern, dass Film mit Literatur assoziiert werden musste, um als Kunst gelten zu können; die Fotografie wurde andererseits von der Malerei mit den Begriffen der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit abgekoppelt. Richardsons Text zeigt, dass Vasari zu jener Zeit wohl in Vergessenheit geraten war, dass aber die Argumente zur Verteidigung der Malerei sehr ähnlich ausfielen. Wenn man bedenkt, dass Richardson zu einer Zeit schrieb, in der es keine Poetik für die Malerei, sondern nur für dramatische Texte und Romane gab, ist seine Strategie, zunächst die Malerei mit der Schrift gleichzusetzen und sie dann für überlegen zu erklären, nicht überraschend. In der Tat kommt sie Vasaris Strategie sehr nahe, mit dem Begriff des disegno

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die Imagophobie der westlichen Philosophie und der monotheistischen Religionen zu überwinden. Wie ich bereits argumentiert habe, muss die Verteidigung und anschließende Hierarchisierung einer Kunst, eines Genres, einer Epoche oder eines Stils eher als Legitimationsversuch denn als faktische Überlegenheit verstanden werden, denn die angeführten Argumente, die zur Rechtfertigung einer Kunst dienen, sind immer auch für andere geltend. Die Unterschiede zwischen den Künsten sind eher technischer Natur, auch wenn sich einige, vor allem in Bezug auf die Rezeption, natürlich etwas unterscheiden. Wie schon in der Einleitung bemerkt, macht die Unterscheidung im Westen letztlich genauso wenig Sinn wie im Kontext außereuropäischer Kunst, wo alle Arbeiten Teil eines Ganzen sind und es keine Hierarchisierung gibt. Richardsons zweiter Text, An Essay on the Whole Art of Criticism (Ein Essay zur Kunst der Kritik), von 1719, geht über die Verteidigung der Malerei hinaus. Er schlug ein wissenschaftliches und vermeintlich objektives System vor, das es ermöglichen sollte, ein gutes Gemälde zu bewerten. Dabei gab er konkrete Beispiele antiker und zeitgenössischer Malerei, was an Huets Romanstudium erinnert. Der Autor betonte seine rationalen Prinzipien und deduktive Vorgehens- Abb. 78: Bewertungssystem in An Essay on the Whole Art of Criticism, Jonathan Richardweise, um den Kenner:innen  – wie er die Gelehrten son, 1719 und Sammler:innen von Kunst, für die er schrieb, nannte –, ein unparteiisches Werkzeug an die Hand zu geben. Er schlug auch vor, bei der Würdigung großer Meister wie etwa Van Dyck oder Michelangelo stets zu berücksichtigen, dass auch sie fehlbar seien, ein Fakt, der mit seiner Methode erkannt und diagnostiziert werden kann. Anders als Vasari wandte sich Richardson also gegen blinde Verehrung und ermahnte zur wohlüberlegten Bewertung eines jeden Werkes. Um zu dieser unparteiischen Beurteilung zu gelangen, sollte die von ihm ausgearbeitete Klassifizierung nur auf das zu analysierende Werk angewandt werden. Für die folgenden Kriterien gab er eine Skala von 0 bis 18 Punkten vor: 1. Komposition; 2. Farbgebung; 3. Handhabung (Ausführung); 4. Zeichnung; 5. Erfindung; 6. Ausdruck; 7. Vorteil und Vergnügen (die das Erhabene ermöglichen) (Richardson, 1719, S. 27–30). Seine Beispieltabelle zeigt Richardsons Bewertung von Jan Van Dycks Duchess Dowager of Exeter aus dem Jahr 1717, die heute verloren ist. Das System spiegelt das klassische Denken und dessen Vorstellung von einem analytisch-rationalen Raster wider. Während Richardson versuchte, die Malerei von anderen Künsten abzugrenzen und ein vermeintlich unfehlbares System für ihre qualitative Bewertung zu entwickeln, betrachtete sein Zeitgenosse, der Franzose Jean Baptiste Dubos, ein Theologe und

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Historiker, in seinen im selben Jahr, 1718, verfassten Réflexions critique sur la poésie et sur la peinture (Kritische Überlegungen zur Poesie und Malerei) beide als gleichwertig. Jérôme Roger (2002, S. 26–27) lobt Dubos Text als erste Abhandlung einer undogmatischen Ästhetik. Darüber hinaus sieht er den Autor als Vorläufer Kants, da er Begriffe wie Schönheit, Güte und Anmut in seine Bewertung einführte. Dubos vertrat die Auffassung, dass sowohl die Poesie als auch die Malerei in der Lage seien, die Betrachter:innen ästhetisch zu berühren und ihnen Freude zu bereiten. Er unterstrich die Genialität der Dichter:innen und Maler:innen und unterschied sie von einfachen Menschen. Sein Buch steht dem romantischen Geist nahe, denn er konzentrierte sich auf die Gefühle und das künstlerische Genie und nicht auf Rationalität oder Regeln wie die Bücher seines britischen Kollegen Richardson. In seiner Erörterung von Komödie und Tragödie interessierte er sich erstmals für die Schauspielerei und trat für eine realistischere Darstellung im Gegensatz zur künstlichen Deklamation ein. Dies hatte großen Einfluss auf die Autoren seines Jahrhunderts, u. a. Aaron Hill (1685–1750), Denis Diderot (1713–1784), die bereits erwähnten Lessing, Schiller und Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832). Dank dieser Autoren erreichte die Kritik ein neues Niveau und beschäftigte sich mehr und mehr mit dem, was zuvor eine philosophische Domäne gewesen war: Die Funktion der Kunst. Die Aufgabe, Regeln aufzustellen, wurde aufgegeben, stattdessen wurden sie durch Reformen infrage gestellt. Diese Reformen zielten darauf ab, die ästhetische Erfahrung des Bürgertums zu berücksichtigen, die nicht mehr den Parametern der Poetik des Aristoteles und der auf ihnen aufbauenden Interpretationen entsprach. Es war nun dringend notwendig, ein Theater oder ganz allgemein eine Kunst zu schaffen, die den gesellschaftlichen Veränderungen und dem bürgerlichen Geschmack gerecht werden konnte. Wie wir schon gesehen haben, wurden Moral und Freiheit in der westlichen Philosophie zu Schlüsselbegriffen und folglich auch in der Literatur- und Theaterkritik. Zu dieser Zeit, um 1830, begannen sich die Europäer mit der Abschaffung der Sklaverei, an der sie gemeinsam verdienten, zu beschäftigen. Dies sollte aber nur die Kolonialisierung Afrikas vorbereiten, denn man begann durch die Industrialisierung den afrikanischen Kontinent als Markt zu sehen (Rodney, 1972). Nach jahrhundertelanger Unterdrückung der Versuche afrikanischer König:innen und Edelleute, gegen die Versklavung Widerstand zu leisten und Einspruch zu erheben (Lingna Nafafé, 2022), entwickelte Europa eine neue Meistererzählung: Sie erklärten sich selbst zu den Protagonisten der Abschaffung, obgleich der Widerstand von Afrikaner eingeleitet und über Jahrhunderte aufrechterhalten wurde. Moral und Freiheit wurden auch in diesem Kontext ins Feld geführt. Sie waren jedoch nichts anderes als ein Vorwand, Afrika wenig später zwischen den europäischen Ländern aufzuteilen. Der Kampf um die Vormachtstellung spielte, wie wir in Bezug auf die Kunst schon mehrfach gesehen haben, zu dieser Zeit weiterhin eine große Rolle. Die Meistererzählungen zur Kunst sollten die Überlegenheit der westlichen „Zivilisation“ untermauern. So verlor die Kritik bald an Boden gegenüber der Ästhetik, die, wie ich in den vorherigen Kapiteln gezeigt habe, kurzzeitig als eine an den Künsten interessierte Teildisziplin auftauchte, wobei Kant sich auf ihr intelligibles Potenzial konzentrierte und Hegel ihnen durch ihre historisierende Untersuchung den Todesstoß gab. Dies führte zur Institutionalisierung der Kunststudien als akademische Wissenschaften im 19. Jahrhundert, einer Zeit, in der

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die Kritik dem historisierenden Denken erlag und die Künste nach ihrer vermeintlichen Besonderheit getrennt wurden: bildende Kunst, Literatur, Theater, Musik usw. Schriftsteller:innen und Künstler:innen spielten weiterhin ihre Rolle als Kritiker:innen, aber nun in Konkurrenz zu Philosophen und Universitätsexperten, deren „wissenschaftliche“ Studien im nächsten Kapitel behandelt werden. Die Kunst, das Sensible, stand nun unter ihrer historisierenden Kontrolle. Anthropologie und Ethnografie führten zeitgleich Konzepte und Studien ein, die die außereuropäische Kunst unterwarfen. Im 20. Jahrhundert erschien dann eine neue Figur in der Kunstkritik. Es lohnt sich, wenn auch nur ganz kurz, auf die Rolle der Kurator:innen hinzuweisen, die im heutigen Kunstsystem mehrere Funktionen gleichzeitig übernehmen, darunter die der Kritik. Der amerikanisch-nigerianische Gelehrte und Künstler Olu Oguibe weist auf einige Probleme und Möglichkeiten in Bezug auf diese einflussreichen Akteur:innen hin. Dabei unterscheidet er zwischen verschiedenen Typen von Kurator:innen: Bürokrat:innen, Kenner:innen und Kulturmakler:innen. Er ist von keinen sonderlich überzeugt und macht darauf aufmerksam, dass ihre Loyalität nicht dem Publikum gilt, sondern meist monetären und persönlichen Interessen folgt: Als Autorität und institutionellem Beamten ist der bürokratische Kurator zwei Hauptfaktoren treu: erstens der Institution seines Arbeitgebers und zweitens der Kunst, die sein Spezialgebiet ist und seine Hingabe bestimmt. Manche behaupten, dass es noch einen dritten Loyalitätsfaktor gibt: das Publikum. Dies ist jedoch fragwürdig, da das institutionelle Interesse dieses Anliegen ausschließt und verschleiert, da der Kurator die Öffentlichkeit als Mäzen oder Kunden betrachtet und daher nur innerhalb dieser Definition und in den entsprechenden Unternehmensbedingungen Verantwortung übernimmt. (…) Der Kurator-Kenner wählt eine Reihe von Kunstwerken nach seinen Interessen aus und versucht hartnäckig und um jeden Preis, deren Sichtbarkeit und Publizität zu erlangen. In diesem Fall konzentriert sich die Treue des Kurators ausschließlich auf das Kunstwerk oder ihn selbst; die Unterstützung von Werken und Künstlern durch den Kurator ist untrennbar mit seinem eigenen Bedürfnis verbunden, ein Gefühl des guten Geschmacks und der vermeintlichen Erleuchtung zu vermitteln. (…) Wie der Kurator-Kenner setzt auch der Kulturmakler-Kurator sein Wissen, seine Autorität und seine Kontakte ein, die er auf Kunstwerke und Künstler ausrichtet, die möglicherweise keinen unmittelbaren Zugang zu den Mäzenen oder der Öffentlichkeit haben. (…) Der Kulturmakler-Kurator folgt also dem Instinkt eines Galeristen, der Mobilität und Flexibilität eines Unternehmers und der Kühnheit eines Werbeagenten; seine Kenntnis der Eigenheiten und Frivolitäten des Mäzenatentums hilft ihm, diese nicht nur zu erahnen, sondern auch zu seinem Vorteil zu nutzen.

Als zweideutige, aber mächtige Figur sind Kurator:innen in der Lage, zusammen mit Sammler:innen neue Märkte zu schaffen. Sie können aber auch für nicht-hegemonische Kunst Räume öffnen, die außereuropäischer Kunst oder Minderheiten Visibilität verschaffen.

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Kurze Schlussfolgerungen Ich möchte nun die folgenden Antworten auf meine Frage, was Kritik ist, zusammenfassen: 1. Während die westliche Philosophie erste Reflexionen über Kunst entwickelte, um ihr Wesen, ihre Rolle und ihre Funktion innerhalb der Gesellschaft im antiken Griechenland zu definieren, und die Philosophie und Kunstgeschichte sich auf ihre historische Einordnung ab dem 18. Jahrhundert konzentrierte, suchte die frühe Kunstkritik Vorschriften (Polykleitos, Vitruv, Alberti, Dürer), Bewertungen älterer Kunst im Verhältnis zur zeitgenössischen Kunst (Piccolomini, Ariosto, Puttenham, Sidney) oder die Spezifität der Medien (Richardson, Lessing, Dubos) zu formulieren. 2. Ein wichtiges Kriterium, das im antiken Griechenland und Rom eingeführt wurde, ist die Naturnachahmung (Polykleitos, Plinius der Ältere, Cicero, Quintilian und Horaz). Deren Diskussion zieht sich in der bildenden Kunst bis in die Renaissance (Vasari), und wird in der Dramatik durch die Auseinandersetzung mit der aristotelischen Poetik bis ins 17. Jahrhundert betrieben (Robortello, Giraldi, Castelvetro, Piccolomini, Riccoboni Minturno, Scaliger, Trissino, Ariosto, Puttenham, Sidney, Vossius, Ogier, Chapelain, Mareschal Mairet, Corneille, Mesnardière, Abt von Aubignac). In Skulptur, Architektur und Malerei sind Anthropozentrismus und Mathematisierung eng mit der Idee der Naturnachahmung verwoben und können in ihrer theoretischen Ausarbeitung als eine Zuwendung zur Diesseitigkeit interpretiert werden. Das kommt jedoch auf die Werke an, die auch weiterhin mit dem Nichtsichtbaren kommunizieren. Die Perspektive ist ein Teil dieser Auseinandersetzung und wichtiges Element im teleologischen Kunstgeschichtsverständnis sowie der Suche nach Virtualisierung. 3. Die Vorschriften, insbesondere in Bezug auf dramatische Texte, sind das Ergebnis der ersten Poetik (Aristoteles) und ihrer Lektüre in der römischen rhetorischen Tradition, die sich erst mit dem klassischen Denken zu lockern begann. Frühe Versuche, bestimmte Regeln in der Kunstproduktion von Künstlern festzusetzen, wurden als Traktate bezeichnet (Polykleitos, Vitruv, Dürer, Alberti usw.), während die ersten Texte über Künstler:innen (Plinius der Ältere, Vasari), hauptsächlich bewundernde anekdotische Biografien sind, die die Fähigkeit der Künstler:innen, die Natur nachzuahmen, hervorheben und ihr vermeintliches Genie preisen. Sie hatten einen tiefen Einfluss auf die Vorstellungen über den Status des Künstlers und der Kunst in der westlichen Gesellschaft sowie auf die Definition und Praxis der Künste. 4. Im Kontext der Architektur, der Malerei und der Bildhauerei versuchten die Abhandlungen, Methoden zu etablieren. Polykleitos verwandte den digitalen Phalanx, um perfekte Körper zu schaffen; Vitruv die Dimension des menschlichen Körpers für symmetrische Gebäude, die ihm angepasst sind; und Alberti die Augenpyramide, um durch Mathematisierung den Übergang vom dreidimensionalen zum zweidimensionalen Raum zu ermöglichen. Diese Virtualisierung wurde jedoch zyklisch durch eine Rückbesinnung auf bzw. ein größeres Interesse am menschlichen Sehen – der psychologischen Wahrnehmung und dem Gebrauch der Hand ersetzt –, wodurch der Einsatz technologischer Geräte wieder in den Hintergrund rückte. Obgleich es erscheinen mag, dass sowohl Mathematisierung als auch Naturnachahmung in Richtung Anthropozentrismus arbeiten, hängt dies erneut von den Werken ab. Beides sind letztlich

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Abstraktionen, die auch das Verhältnis der Menschen zur sichtbaren und nichtsichtbaren Welt kommunizieren können. Der Diskurs über sie legt jedoch die Zentralität des Menschen und seiner Kapazität der Virtualisierung nahe. 5. Die Kritik hat oft versucht, Kunstformen gemäß ihrer Spezifität zu unterscheiden (z. B. Literatur und Skulptur bei Lessing) oder sie zu hierarchisieren (Naturnachahmung bei Plinio und Vasari), um festzulegen, welche Kunst, welches Genre, welcher Stil, welches Medium, welche Nation, welche Epoche usw. als besser, angemessener oder geeigneter anzusehen ist (Tragödie bei Aristoteles, Malerei bei Richardson usw.). Dies geschah und geschieht, um eine bestimmte Kunst oder ein Medium zu etablieren, die noch nicht durch eine eigene Poetik angesehen sind oder diskutiert wurden (der Roman im 17. Jahrhundert, die Malerei im 18. Jahrhundert, die Fotografie, der Film und die Videokunst im 20. Jahrhundert, Videospiele im 21. Jahrhundert). Ein anderer Grund ist der Kampf um die Vormachtstellung, die dem politischen Wettbewerb um kolonialistische Herrschaft entspricht, wenn es um den Vorrang einer Nation geht. 6. Ob in Form einer Abhandlung oder eines Textes für die breite Öffentlichkeit, die Kritik hat sich immer auch mit Geschichte und Theorie befasst, denn um ihre Bewertungskriterien, Urteile und Überlegungen zu entwickeln, musste sie einen moralischen, philosophischen, ästhetischen oder nationalen Kontext herstellen. Dies kann zu ideologischen (Kolonialismus) und monetären (Kurator:innen) Zwecken missbraucht werden. 7. Die Kritiker:innen verloren im 19. Jahrhundert ihren Platz an die Wissenschaftler:innen und Historiker:innen. Im 20. Jahrhundert tauchte die Figur der Kurator:in auf, deren Rolle auch die der Kritik umfasst. Sie betätigt sich in einem komplexen Feld von Einflüssen und Praktiken, die stark von ihrer Beziehung zum und ihrem Interesse am Kunstmarkt geprägt sind. 8. In außereuropäischen Kulturen gibt es Kunstkritik in Schriftkulturen u. a. in Indien und Asien. In oralen Kulturen ist die Idee von Richtlinien oder die Hierarchisierung von Kunst unnötig und letztlich absurd, da ihre Anfertigung von Generation zu Generation weitergegeben wird und es nicht um eine Bewertung formaler Aspekte geht. Auch sind Vorstellungen von Naturnachahmung, Perspektive, Mathematisierung und Spezifität irrelevant, da es keinen Anthropozentrismus gibt. Deshalb folgen abstrakte Muster auch keinen Regeln, verweisen jedoch auf andere Dimensionen des Seins und die Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits.

Kurze Schlussfolgerungen

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SIEBTES KAPITEL :

Wie wird Kunst als wissenschaftliche Disziplin studiert? Bislang habe ich die Beziehung zwischen Kunst und einigen hoch angesehenen Disziplinen des westlichen Wissens erörtert: Philosophie, Theologie und Geschichte. Ich habe die Beziehung zwischen dem Sensiblen und dem Intelligiblen diskutiert, die in Philosophie und Theologie ein Mittel zum Verständnis und zur Kontrolle der Kunst sind. Wir haben gesehen, dass die historiografischen Studien der Künste zumeist teleologische und/oder positivistische Modelle verwendeten, die zu Meistererzählungen oder Fiktionen führten, die diese Modelle widerspiegeln. Die Kunst selbst bricht oftmals diese Modelle oder zeigt die Zyklen der Macht. Ich habe Foucaults Untersuchung der analytisch-historisierenden Denkweise vorgestellt, die den Kolonialismus als Antriebskraft ignorierte und sie als Befreiung der Menschheit vor der Angst eines Endes der Geschichte, insbesondere durch das christliche Jüngste-Gericht, verstand. Zuletzt habe ich die Kritik als Mittel zur Hierarchisierung der Kunst vorgestellt, die Ideen wie Naturnachahmung, Anthropozentrismus und Mathematisierung vorangetrieben hat und die in Anthropologie und Ethnologie die Unterdrückung anderer Kulturen durch Vorstellungen wie Primitivität ermöglichte. In diesem Kapitel werden wir andere Methodologien, die über die der Geschichtlichkeit der Kunst hinausgehen, kennenlernen. Sie sind Resultat des Versuchs, aus dem Studium der Kunst eine Wissenschaft zu machen. Wir werden feststellen, dass das erste Paradigma, das die Disziplin etablierte – der Epochenstil –, trotz der Bemühungen, dieses komplexer zu gestalten, nie wirklich ersetzt wurde. Erst nach der Erklärung des Endes der Disziplin und seines Paradigmas durch Hans Belting im Jahr 1983 kam es zu Veränderungen, wie etwa der Bildwissenschaft, die jedoch ebenfalls in der westlichen Epistemologie stecken blieb. Um die Bedeutung des Paradigmas Epochenstil herauszustellen, werde ich zunächst den Begriff als solchen in der Definition des amerikanischen Wissenschaftshistorikers Thomas Kuhn vorstellen, den er 1962 prägte. Darüber hinaus führe ich den Begriff der Indisziplinarität ein, den Rancière erfand. Anschließend werde ich die verschiedenen methodischen Ansätze darstellen, die von den Disziplinen entwickelt wurden, die sich innerhalb der Geisteswissenschaften mit den Künsten befassen. Dazu gehört das bereits referierte Paradigma des Epochenstils, die vergleichende Formanalyse, Konzepte wie Autorschaft, die Ikonografie, die Untersuchung der Kunst als Kulturwissenschaft und die Idee einer ikonischen oder piktorischen Wende zur Bildwissenschaft.

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Zur Wissenschaft: Paradigma and Indisziplinarität Der Begriff Paradigma, in der Definition von Thomas Kuhn (1976), geht auf die Infragestellung der konventionellen Wissenschaftsgeschichte zurück. Diese wird in der Regel in Lehrbüchern zusammengefasst, in denen Fakten, Theorien und Methoden chronologisch dargestellt werden, um zu zeigen, was herausragende Wissenschaftler:innen wann getan haben. Im Einklang mit dem westlichen historisierenden Denken sprechen diese Bücher von der Wissenschaft, als gäbe es eine fortschreitende Entwicklung des Wissens, wodurch erkannte Probleme nach und nach gelöst wurden. Um sich dieser Denkweise entgegenzusetzen, entwickelte Kuhn eine ganz andere Sichtweise. Er ging von der These aus, dass es, um die Lösung eines wissenschaftlichen Problems durch ein anderes zu ersetzen, eine Krise geben müsse, die das Erkennen der Begrenztheit der vorherigen Lösung impliziert. Auf diese Krise folge dann eine Revolution, weil die Veränderungen in der neuen Lösung des Problems dazu führten, dass wir die Welt nun anders sähen. Diese Art von Revolution trat faktisch erst ab dem 17. Jahrhundert auf und steht, gemäß Foucault, mit dem Beginn des klassischen Denkens in Verbindung. Ein Paradigmenwechsel beginne immer mit einem Rätsel, das den Wunsch der Wissenschaft wecke, es zu lösen. Das klassische Beispiel für eine wissenschaftliche Revolution ist der Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild. Im Fall des Sonnensystems gab es seit Aristoteles Zweifel, ob sich alle Planeten um die Erde drehten.

Abb. 79: Karte eines Teils des Himmels, Ritzungen in Pedra Lavrada, Paraiba, Brasilien, nicht datiert

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Im Jahr 1543 kehrte Nikolaus Kopernikus mit einer neuen Lösung zu dem Rätsel zurück und „revolutionierte“ die Astronomie und die westliche Art und Weise, die Welt zu sehen, indem er behauptete, dass sich alle Planeten um die Sonne drehten (Kuhn, 1976, S. 127). Die gefundene Lösung  – das heliozentrische Modell  – wurde später von der wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkannt und zum neuen Paradigma. Dabei sei bemerkt, dass in paläontologischen Zeichnungen und Ritzungen (Galdino, 2011), aber auch in allen späteren Jahrtausenden astronomisches Wissen bereits festgehalten und vermittelt wurde. Was für das westliche Wissen eine Revolution war, war vielleicht schon seit Jahrtausenden bekannt. Erinnert sei hier auch an Statuen, Zeichnungen, Linien, Sternwarten, Pyramiden etc., die wir auf den Osterinseln, in Nazca, Paracas, Ollantaytambo, Machupichu, Cuzco, Sacsayhuaman und Paratoari im heutigen Peru, im Dogon Land in Mali, in Tassili n’Ajjer in Algerien, in Siwa und Gizeh in Ägypten, in Petra in Jordanien, in Ur im Irak, in Persepolis im Iran, in Mohenjo Daro in Pakistan, in Khajuahro in Indien, in Pyay in Burma, in Sukhothai in Thailand, in Angkor Wat in Kambodscha usw. finden. Ihre Konstruktion und Anordnung sind vom komplexen Wissen der Bewegung der Himmelskörper geprägt, auch wenn wir heute nicht mehr wissen, was sie wussten und bedeuteten. Abgesehen davon liegen sie all auf zwei unsere Weltkugel umspannende Linien, was auf eine Verbundenheit hinweist, sich sicher durch die Astronomie oder die Beziehung zur nichtsichtbaren Welt erklären ließe (Grimault, 2018). Heutige indigene Gesellschaften in Amerika, Afrika, Asien und Ozeanien blicken auf ein altes astronomisches Wissen zurück, das wichtige Informationen über die Jahreszeiten und somit für Jagd, Fischerei, Agrikultur und Kulte bereithält. Das Wissen wird oral weitergegeben, durch Träume, die Einnahme von Heilpflanzen und durch Naturbeobachtung gewonnen und akkumuliert. Dadurch gibt es den Gedanken einer revolutionären Veränderung des Weltbildes nicht. Der Respekt gegenüber den Ahnen und Vorfahren, die Überträger des Wissens sind, ist hier von großer Bedeutung. Vermeintlich westliche wissenschaftliche Einsichten zum Zyklus der Natur, über Pflanzen und die Tierwelt, aber eben auch zur Astronomie und Mathematik gibt es, wie gesagt, schon seit Jahrtausenden. Felsmalereien und Grafiken waren dabei wichtige Übermittler dieses Wissens, wie auch von Informationen für Agrikultur und über Jagdgründe (Galdino, 2011). Viele dieser Aufzeichnungen sind jedoch entweder von der Erosion oder von den europäischen Eroberern zerstört worden. Da dieses Wissen dem Westen nicht zugänglich ist, nimmt Europa für sich Entdeckungen in Anspruch, die zumeist schon bekannt gewesen sein dürften. Das heliozentrische Weltbild wäre ein Beispiel. Ein weiteres ist mit Sicherheit die angebliche Entdeckung des amerikanischen Kontinents, der von Afrikanern, Arabern, Chinesen, Indern, Japanern, Phöniziern und Wikingern (Riley at al., 1976) lange vor Christopher Kolumbus besucht und auch besiedelt wurde, aber eben nicht kolonialisiert. Zurück zu der vermeintlichen westlichen wissenschaftlichen Revolution des Heliozentrismus, um den Geozentrismus zu überwinden. Im Atlas Harmonia macrocosmica von Andreas Cellarius, der 1660 veröffentlicht wurde, werden die beiden Modelle zum Vergleich herangezogen. Anhand dieser und vieler anderer Beispiele von Theorien berühmter westlicher Wissenschaftler wie Isaac Newton (1643–1727), Charles Darwin (1809–1882) und Albert Einstein (1879–1955) erklärte Kuhn wissenschaftliche Untersuchungsverfahren

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Abb. 80: Links – Geozentrismus; rechts – Heliozentrismus; beide Harmonia macrocosmica, Andreas Cellarius, 1660

und die damit verbundenen Paradigmenwechsel. Er stellte fest, dass Revolutionen, wenn schließlich akzeptiert, zu Paradigmata der „normalen Wissenschaft“ würden, weil sie bei der Lösung einiger weniger Probleme erfolgreicher seien als die ihrer Konkurrenten (Kuhn, 1976, S. 25). Dies führe zu einem neuen Problem: Die neuen Paradigmata würden dann in wissenschaftlichen Handbüchern als endgültige Lösungen dargestellt. Aus diesem Grund sollten die wissenschaftlichen Lösungen niemals als stabil angesehen werden, da sie sich nach neuen Krisen und Revolutionen immer änderten. Kuhn warnte auch davor, dass jedes neue Paradigma nach seiner Anerkennung durch die Fachwelt bei einer neuen Krise gegen eine mögliche Revolution verteidigt werde. Es komme dabei zu Kämpfen, da die wissenschaftliche Gesellschaft in der Regel nicht in der Lage sei, das einmal behauptete Paradigma aufzugeben und neue Revolutionen zu akzeptieren. Kuhn vertrat die Ansicht, dass sich eine wissenschaftliche Gesellschaft umso mehr gegen ein neues Paradigma wehrte, je anspruchsvoller dieses ist, da es die einmal etablierte Weltanschauung zum Einsturz bringen würde, die unter großen Kosten erreicht wurde. Paradoxerweise sind wissenschaftliche Gesellschaften deshalb extrem konservativ und resistent gegenüber neuen Lösungen für ein und dasselbe Problem. Ein spannendes Beispiel ist die angebliche Wiege der Zivilisationen, die in Griechenland angesiedelt wird, obgleich Ägypten und seine Kultur die Matrix für alles was folgte, lieferte (Jackson, 1974; Diop, 1974). Wenn in wissenschaftlichen Büchern auf einmal Ägpten an die Stelle Griechenlands als Wiege der Menschheit treten würde, wären wir auf dem Weg der Dekolonialisierung einen deutlichen Schritt weiter. Da dies aber tiefgreifende Veränderungen für das europäische Selbstverständnis und seine vermeintliche Superiorität bedeuten würde, ist das wenig wahrscheinlich. Die Lösung von Rätseln sei darüber hinaus keine lineare Angelegenheit und verfolge kein bestimmtes Ziel. Es gäbe keine Teleologie, denn jede Lösung für ein wissenschaftliches Problem sei immer nur vorübergehend. Das ist völlig logisch, denn da es keine endgültige Antwort auf ein Rätsel gibt, ist es unmöglich, ein definitives Ergebnis

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zu erreichen. Kuhn verwendete das berühmte Beispiel der Theorie des Überlebens des Passendsten  – zumeist als Stärkerer übersetzt  – von Charles Darwin, um das Fehlen eines vorbestimmten Ziels in der Wissenschaft zu erklären. Kuhn (1976, S. 183) zeigte, dass Darwin die Evolutionstheorie, die bereits von Autoren wie Jean-Baptiste Lamarck (1744–1829), Robert Chambers (1802–1871) und Herbert Spencer (1820–1903) entwickelt worden war, nicht erfand, sondern lediglich erweiterte. Seine Revolution bestand in der Tat in der Abschaffung der Vorstellung von der Existenz einer teleologischen Evolution, denn Darwin hinterfragte in seinem Buch Die Entstehung der Arten von 1859 jedwedes Ziel der Evolution, sei es von Gott oder der Natur vorgegeben: (…) die natürliche Auslese, die in der bestimmten Umgebung und unter den tatsächlich existierenden Organismen wirkte, war für das allmähliche, aber stetige Auftauchen von komplizierteren, weiter artikulierten und weitaus spezialisierten Organismen verantwortlich (Kuhn, 1976, S. 183).

Die These, dass die Komplexität der Arten und auch ihre Schönheit auf einen brutalen Kampf der Natur mit Hunger und Tod zurückzuführen sei, löste einen tiefen Schock und heftige Reaktionen in der Gesellschaft, in der Wissenschaft und vor allem in der christlichen Kirche aus, deren Weltbild dadurch erschüttert wurde. Um die revolutionäre Dimension eines neuen Paradigmas wie das der Darwinschen Evolutionstheorie sowie den Widerstand dagegen besser zu verstehen, lohnt es sich, Rancières (2006a) Konzept der Indisziplinarität zu betrachten. Es verdeutlicht einen weiteren Aspekt, auf den Kuhn (1976, S. 91) hinwies, als er feststellt, dass die Experten nicht gerne mit wissenschaftlichen Revolutionen konfrontiert würden. Denn es ermöglicht die wichtige Feststellung, dass Epistemologien defensiv sind, da sich die Disziplinen abschotten, um ihre Paradigmata zu schützen. Um dies zu verdeutlichen, reflektiert Rancière über den Ausgangspunkt jeder Forschung, die Wahl eines Objekts, das der wissenschaftlichen Gemeinschaft eine Machtposition sichert, da dadurch vermeintlich stabiles Wissen etabliert wird. In der Tat sind es nicht die Methoden, die das Wissen bestimmen, sondern die Konstitution oder die Auswahl der Objekte. Durch diese Wahl werde das Wissen bestimmt oder, wie Rancière (2006a, S. 6) sagt, „eine bestimmte Vorstellung von der Beziehung zwischen Wissen und der Verteilung von Positionen“ etabliert. Mit anderen Worten, es war die Wahl der italienischen Kunst als Objekt durch Vasari – und nicht ihre biografische und chronologische Darstellung –, die über Jahrhunderte die Vorrangstellung der Künstler:innen der Renaissance in der von ihm begründeten eurozentrischen Kunstgeschichte garantierte. Dasselbe gilt für die Wahl der griechischen Tragödie durch Aristoteles. Dies erklärt, warum wir noch keine dekoloniale Kunstgeschichte haben, denn sie würde die epistemologischen und geopolitischen Machtverhältnisse infrage stellen, die in postkolonialen Zeiten noch immer in Kraft sind. Wir würden die europäische Kunst als Forschungsobjekt aus dem Zentrum nehmen und sie durch afrikanische, asiatische, ozeanische und indigen-amerikanische Kunst ersetzen. Erneut wäre das europäische Selbst- und Superioritätsverständnis in Gefahr. Ich habe bereits mehrere Autoren und ihre Voreingenommenheit gegen das Schreiben über Kunst vorgestellt, die dies aus der Kluft zwischen dem Sichtbaren und dem

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Sagbaren oder zwischen dem linearen Code der Schrift und der Welt erklären – ein Problem, das von westlichen Philosophen von Nietzsche, über Flusser bis Sloterdijk oder von modernen Künstlern wie Magritte und Kosuth formuliert wurde. Rancières Kritik an der Wissensproduktion ist im Vergleich zu diesen Autoren und zu Kuhn eher anthropologisch und politisch, denn er weist darauf hin, dass die Vertreter der Wissensdisziplinen sich immer zu behaupten versuchten, indem sie alles neutralisierten, was sich dem Konsens der wissenschaftlichen Gesellschaften entziehe. Während Kuhn wissenschaftliche Revolutionen verstehen wollte, interessiert sich Rancière für die politischen Gründe, die neue Theorien hemmen, und beäugt kritisch die Wissensproduktion innerhalb der etablierten Disziplinen. Beide Autoren sind der Ansicht, dass die akademische Welt hochgradig konservativ sei. Es ist kein Zufall, dass Rancière (2006a) die Metapher des Kriegs verwendet, um die Reaktion von Wissenschaftlern zu beschreiben, wenn sie mit der Bedrohung ihrer Weltanschauung konfrontiert werden. Dies offenbart ihre Tendenz, das zu bekämpfen, was die Rollenverteilung und die Besetzung ihrer hochgestellten Plätze in der Gesellschaft gefährden würde. Er verwendet den Begriff der „Aufteilung des Sinnlichen“, um den Kampf um die Verteidigung dieser hegemonialen Position zu verdeutlichen. Damit will er offenlegen, dass „das Vorhandensein von etwas Gemeinsamen“ durch „etwas Gemeinsames, das geteilt wird sowie Teile, die exklusiv sind“ bestimmt werde (Rancière, 2006b, S. 12). In Anlehnung an die Definition der Kunsthandwerker:innen oder technitēs in Platons Republik versteht Rancière diese politische Verteilung in einer Gemeinschaft als ästhetisch. Die Aufteilung des Sinnlichen weise nämlich darauf hin, dass jede menschliche Produktion festlege, wer einen bestimmten Raum einnähme, was wiederum die Möglichkeiten bestimme, in diesem Raum zu handeln: „Die Unterteilung der Zeiten und Räume, des Sichtbaren und Unsichtbaren, der Rede und des Lärms geben zugleich den Ort und den Gegenstand der Politik als Form der Erfahrung vor“ (Rancière, 2006b, S. 26). Die Teilnahme an einer Gemeinschaft sei ein ästhetischer Akt, denn sie mache sowohl die Aktionen als auch die beteiligten Personen sichtbar. Folglich gäbe es keine Trennung zwischen Kunst und Leben, ganz im Sinne der außereuropäischen Praktiken sowie der Avantgarde-Bewegungen, namentlich Dada und Fluxus. Anstelle der üblichen Stärkung des Intelligiblen wertet Rancière das Sensible als Indikator für die politische Verteilung auf. Was die wissenschaftliche Tätigkeit betrifft, so weist Rancière darauf hin, dass das wichtigste Ziel der Human- und Sozialwissenschaften die Institutionalisierung stabiler Beziehungen durch Grenzen sei, die den Dissens mit neuen Paradigmata regle. D. h., sie versuchen, das Entstehen von Revolutionen zu verhindern, die die etablierte Verteilung des Sensiblen beeinträchtigen könnten. Um die bestehende Aufteilung zu verändern und die Entstehung eines neuen Paradigmas zu ermöglichen – z. B. in der Kunst durch dekoloniale Studien –, sei es notwendig, die etablierten Grenzen zu analysieren. Denn sie würden genutzt, um zu verschleiern, dass die verwendeten epistemologischen Methoden nicht mehr und nicht weniger als Fiktionen seien – ein Begriff, den ich bereits in Bezug auf die Geschichte der Künste verwendet habe. Indisziplinarität sei genau das Gegenteil dieser Vorgehensweise. Sie sei eine Denkweise, die in der Lage wäre, diese von den Disziplinen errichteten Grenzen aufzudecken,

Zur Wissenschaft: Paradigma and Indisziplinarität

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die die alten Paradigmata verteidigten und als Kriegsinstrumente benutzten. Foucault würde dies Diskursanalyse nennen. Die Indisziplinarität gehe davon aus, dass jede Methode versuche, anstatt ein Gebiet zu untersuchen und ein Problem zu erforschen, sich über die Fiktionen zu definieren, die sie ermöglicht. Um Indisziplinarität zu gewährleisten und nicht wieder in den Mechanismus der Schaffung neuer Fiktionen zu verfallen, müsse jeder Wissensbereich seine Aufmerksamkeit auf die Erfindungen seiner Fiktionen und die der anderen Disziplinen, die als Methoden bezeichnet werden, richten. Dies ermögliche die Entstehung eines neuen Paradigmas, das in der Lage sei, die gegenwärtige Sichtweise der Welt zu verändern: Das disziplinäre Denken sagt: Wir haben unser Gebiet, unsere Gegenstände und die Methoden, die ihnen entsprechen. Das ist es, was die Soziologie oder die Geschichte, die Politikwissenschaft oder die Literaturwissenschaft sagt. Das sagt auch die herkömmliche Philosophie, die sich als Disziplin ausgibt. Aber in dem Moment, in dem sie ihren Status als Disziplin der Disziplinen begründen will, bringt sie diese Umkehrung hervor: Die Grundlage der Grundlage ist eine Fiktion. Und die Philosophie sagt zu denjenigen, die sich ihrer Methoden sicher sind: Methoden sind erzählte Geschichten. Das bedeutet nicht, dass sie null und nichtig sind. Es bedeutet, dass sie Waffen in einem Krieg sind; sie sind keine Werkzeuge, die die Untersuchung eines Territoriums erleichtern, sondern Waffen, die dazu dienen, ungewisse Grenzen festzulegen. (Rancière, 2006a, S. 11)

Es gibt bei Rancière doch wieder eine Verherrlichung der Philosophie und ihrer Intelligibilität. Aber anders als Deleuze und Guattari, die die Künste als Denken mit Affekten und Perzepten definierten, unterscheidet Rancière nicht zwischen den verschiedenen Wissensdisziplinen. Es sei die Konstruktion von Geschichten, die sie voneinander abzugrenzen versuche: Es gibt keine gesicherte Grenze, die das Gebiet der Soziologie von dem der Philosophie oder das der Historiker von dem der Literatur trennt. (…) Nur die Sprache der Geschichten kann die Grenze nachzeichnen, indem sie die Aporie der Abwesenheit der letzten Vernunft aus den Gründen der Disziplinen erzwingt. (Rancière, 2006a, S. 11)

Werner Herzog handelt in seinem Film Höhle der vergessenen Träume indisziplinär, indem er in Interviews eine Vielzahl von Fiktionen sammelt und seine eigene Fiktion als gesprochenen Kommentar hinzufügt. Dadurch sucht der Film eine andere Aufteilung des Sinnlichen, als die der Experten, die die Fiktion der „großen Kunst“ mit klassischen ästhetischen Begriffen wie Schönheit und Originalität artikulieren, um die herausragende Bedeutung der gefundenen Felsmalereien zu verteidigen. Die Fiktionalität, von der der Film ausgeht, ist das gemeinsame Bindeglied zwischen allen Formen des menschlichen Ausdrucks – Politik, Kunst, Geistes- und Sozialwissenschaften –, die, wie Rancière betont, unsere Wahrnehmung der Welt bestimme. Die Instabilität wissenschaftlicher Paradigmata, auf die Kuhn hinweist, wird in diesem Licht noch deutlicher. Der Wechsel eines Paradigmas – ein Begriff, der für Rancière nicht nur Methodologien, sondern auch Theorien und Werte umfasst – bedeutet innerhalb des untersuchten wissenschaftlichen Problems das Ersetzen einer Aufteilung des Sinnlichen

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Wie wird Kunst als wissenschaftliche Disziplin studiert?

durch eine andere. Die Aufhebung der Fiktionen, auf denen das Paradigma und die sinnliche Aufteilung beruhen, wäre jedoch durch Revolutionen (Kuhn) oder Indisziplinarität (Rancière) möglich. Im Falle der Disziplinen, die sich mit den Künsten befassen, geht die kritische Untersuchung der bestehenden Fiktionen, wie sie von Didi-Huberman, Belting und Danto unternommen wurde, nicht weit genug. Eine dekoloniale Kunstwissenschaft wäre nötig, um eine tatsächliche Revolution zu bewirken. Ich fasse kurz zusammen, was ich bisher gesagt habe, da es als Grundlage für meine Darstellung der wissenschaftlichen Methoden in den Kunstwissenschaften dienen wird. Der wissenschaftliche Prozess läuft folgendermaßen ab: Zunächst wird ein Rätsel identifiziert oder ein Objekt ausgewählt. Diese Wahl definiert den Wissensbereich  – etwa die Wahl europäischer statt außereuropäischer Kunst –; dies erzeugt angesichts der Begrenztheit der verfügbaren Antworten eine Krise, die eine neue Untersuchung des Rätsels/Objekts mit anderen Methoden bewirkt, um Theorien zu entwickeln, die von neuen Werten ausgehen; diese Krise führt zu einem neuen, revolutionären Paradigma als Lösung, das nichts anderes ist als eine neue Fiktion, die jedoch eine neue Aufteilung des Sensiblen mit sich bringen kann. Innerhalb der Kunstwissenschaften wäre eine dekoloniale Untersuchung ein neuer Wert. Er würde die Kunstproduktion derjenigen, die erniedrigt oder zum Schweigen gebracht und von den eurozentrischen Fiktionen der Künste ausgeschlossen wurden, darstellen und wertschätzen. Dies würde zu neuen Theorien gemäß ihrer eigenen Epistemologien führen, die den Objekten angemessen wären und konventionelle westliche Theorien infrage stellen würden. Mittels einer neuen Methodologie kämen wir zu einem neuen Verständnis von Kunst, würden die hierarchische Kanonisierung abschaffen und kämen, anstelle der Fiktionen durch Historisierung, zu einem tieferen Verständnis. Die formale und ikonografische Analyse, wie wir sie in diesem Kapitel kennenlernen werden, wären allerdings als Methodologien unbrauchbar. Bevor wir die wissenschaftlichen Kunstmethodologien betrachten, möchte ich, ausgehend von den vorgestellten Konzepten, kurz die vorangegangenen Kapitel und somit die westlichen Fiktionen in Philosophie, Theologie und Kritik rekapitulieren. Dazu sei bemerkt, dass es in außereuropäischen Kulturen die Kunst als Rätsel überhaupt nicht gibt. Diese Idee entstand in der westlichen Philosophie zur Zeit der Hellenisierung und führte zur Untersuchung ihrer Funktion in der Gesellschaft sowie ihrer Beziehung zur Wirklichkeit und Wahrheit. Ihr als sehr begrenzt wahrgenommener Wert wird in der Fähigkeit gesehen, das Intelligible durch das Sensible zu erreichen. Dies diente Autoren von Platon bis Deleuze und Guattari als Bewertungskriterium und verschaffte der Philosophie eine übergeordnete, vermittelnde Stellung. Die Philosophie versuchte an und für sich immer, die Bedeutung der Kunst zu untergraben und deren Vermittlungsstellung zum Nichtsichtbaren (als Ideen, Moral oder Geist rationalisiert) einzunehmen. Diese erste Fiktion führte zu zwei Schlussfolgerungen, die weitere Fiktionen hervorbrachte, die sich zu Paradigmata herauskristallisierten, ohne dass sie notwendigerweise durch das Studium von Objekten gestützt wurden (mit Ausnahme von Aristoteles und Deleuze): Die Kunst ist entweder eine Bedrohung oder sie ist nützlich für die Gesellschaft. Daraus wurden weitere Schlussfolgerungen hinsichtlich ihrer notwendigen Kontrolle oder ihres Verbots gezogen. Je nach Perspektive wird in verschiedenen Theorien behauptet, dass die Kunst zu den Ideen führt (Platon), dass die Ideen zur Kunst herabsteigen

Zur Wissenschaft: Paradigma and Indisziplinarität

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(Vasari), dass Kunst Emotionen heilt (Aristoteles), dass Kunst zur Erfahrung des moralischen Denkens führt (Kant) , dass Kunst die Ängste des Lebens bewältigt (Freud, Nietzsche) oder kontrolliert (Kittler, Krämer). Die monotheistischen Theologien begegneten dem Rätsel der Kunst entweder durch Einschränkungen und Verbote, die durch angeblich göttliche Interventionen umgangen werden konnten, oder nutzten sie zu eigenen Zwecken, etwa der Katechese. Auch hier handelt es sich um einen Kampf um Vormachtstellung. Da die Theologien Kunst nicht studieren, haben sie keine spezifischen Fiktionen zu bieten. Stattdessen arbeiteten sie einige Theorien aus, die zumeist auf dem Wert basieren, dass das Göttliche in der Kunst keine Form annehmen sollte. Dadurch wird kurioserweise von den Monotheismen die eigentliche Funktion der Kunst, mit dem nichtsichtbaren Kontakt aufzunehmen, reduziert. Um die figurative Darstellung zu ermöglichen, wurden Fiktionen über deren vermeintlich göttlichen Ursprung entwickelt. Anderenfalls wurde die abstrakte Kunst gefördert. Das Bewusstsein der Macht der Kunst, die sich im Ikonoklasmus ausdrückt, überlebt bis heute, vor allem in den Massenmedien und in der Art und Weise, wie wir an sozialen Medien teilnehmen. Der Wunsch, Bilder zu zerstören, der in kolonialen Kontexten zum Kulturzid führte, geht von der Überzeugung aus, dass mit dem Auslöschen der Kunst auch bestimmte Denk- und Lebensweisen zerstört werden können. Das Problem der Aufteilung des Sinnlichen könnte nicht deutlicher demonstriert werden als im Ikonoklasmus oder in der Unterdrückung und Erniedrigung außereuropäischer Kunst. Die Kunstkritik beteiligte sich aktiv an diesen Auseinandersetzungen, indem sie sich entweder gegen oder für die Macht des Bildes aussprach. Plinius der Ältere und Vasari verwandten in sehr unterschiedlichen Epochen dieselbe Methode  – die Biografie  –, denselben Wert – die Naturnachahmung – und dieselbe Theorie – das Genie des Künstlers – als Grundlagen ihrer Fiktionen. Da Kritiker:innen oft Künstler:innen waren, beteiligten sie sich aktiv an der Veränderung der Aufteilung des Sinnlichen und in Bezug auf ihre eigene Rolle. Sie widersprachen damit Platons Postulat, dass die technitēs nicht an gesellschaftspolitischen Fragen teilnehmen sollten. Mit dem Aufkommen des analytischhistorisierenden Denkens und den akademischen Kunststudiengängen wurde diese neue Verteilung erneut zugunsten derjenigen, die über Kunst schreiben, und zum Nachteil derjenigen, die Kunst produzieren, definiert. Ich werde nun das Hauptparadigma vorstellen, das von diesen Disziplinen verwendet wird sowie deren unterschiedliche und vermeintlich wissenschaftlichen Methodologien/ Fiktionen. Da es sich immer um dasselbe Rätsel handelt, auch wenn es im Medium variiert – Text, dreidimensionale Objekte, zweidimensionale Bilder, audiovisuelle Codes usw.  – und deshalb mit leicht variierenden Methoden untersucht wird, hat sich das Paradigma nie geändert. Die Auswahl der Objekte hat sich in Bezug auf Regionen und Technologien ein wenig erweitert. Die Methoden variieren heute zwischen biografischen, formalen, ikonografischen und ikonologischen Analysen, Untersuchungen des sozialen oder ideologischen Kontexts usw. Auch der Wert hat sich gewandelt: von der Naturnachahmung und der Erfindung der Perspektive zu Fragen der Identität (Geschlecht, Rasse, Klasse) usw. Theorien wurden neu formuliert. Anfangs konzentrierten sie sich auf Künstler:innen und dann etwas mehr auf Betrachter:innen. Statt vom Genie der Künstler:innen zu sprechen, diskutiert man heute den Tod des Autors, statt passive sieht man heute

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emanzipierte Betrachter:innen. In jüngerer Zeit wird im Westen über die mögliche Auflösung des Selbst in ein entindividualisiertes Ganzes nachgedacht. Nach dieser Zusammenfassung werde ich jetzt versuchen, bei der Darstellung der verschiedenen Objekte, Werte, Theorien und Methoden der Kunstdisziplinen eine indisziplinäre Haltung einzunehmen, d. h. auf die vorhandenen Fiktionen achten und sie kenntlich machen.

Vom einzigen Paradigma der Kunstgeschichte Anders als in den Naturwissenschaften, wo ein neues Paradigma in der Regel revolutionär ist, gibt es in den Geisteswissenschaften keine so tiefgreifenden Veränderungen der Weltanschauung, sondern eher Anpassungen und kleine Operationen innerhalb eines einzigen, zentralen Paradigmas. Es kommt vor, dass bestimmte Theorien und Methoden für eine gewisse Zeit in Vergessenheit geraten und dann aufgrund günstigerer, oft politischer Umstände wiederentdeckt werden. Wie ich bereits in der Einleitung erwähnt habe, führte der Faschismus und der Zweite Weltkrieg in einigen europäischen Ländern in den 1930er-Jahren dazu, dass wichtige Forscher mit eher „revolutionären“, da multidisziplinären Visionen von ihren universitären Positionen entfernt, verfolgt und ins Exil geschickt wurden. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der sich von den Naturwissenschaften unterscheidet, ist die Tatsache, dass sich die Kunstwissenschaft, die aus dem Interesse an der Geschichte des menschlichen Handelns hervorgegangen ist, hauptsächlich mit der Wiederentdeckung und Aufarbeitung früherer Epochen und Kulturen beschäftigt. Mit anderen Worten: Die Vergangenheit dient als unangefochtener Wert, um das einzige konsistente Paradigma jeweils neu zu definieren: der Epochenstil. Innerhalb dieses Paradigmas gibt es ein Unterparadigma, das jedoch als integraler Bestandteil des Paradigmas angesehen werden kann: der Künstler:innenstil. Ich werde nun zeigen, dass dieses einzige Paradigma lediglich durch die Idee einer Pluralität der Stile variiert wurde.

Von Epochen und homogenen Stilen Als die Lösung des Rätsels der Kunst systematischer und wissenschaftlicher wurde, entfernte sich die historisierende Analyse von den anekdotischen Biografien und stellte die Werke und ihren historischen Kontext in den Mittelpunkt. Das zentrale Paradigma der Kunstgeschichte, die Stilepoche, wurde zunächst auf vorwissenschaftliche Weise formuliert. Dies begann in der Renaissance mit dem Studium der römischen Kopien griechischer Werke und intensivierte sich im 18. Jahrhundert, als der Raum zwischen Signifikant und Signifikat mit Geschichte gefüllt wurde. Es war der deutsche Gelehrte Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), der in der klassischen griechischen Kunst die Wiege der westlichen Kultur fand und mit diesem Ursprungsmythos die Philosophie von Hegel bis Nietzsche und schließlich die Kunstwissenschaften zutiefst beeinflusste. Wie schon mehrfach gesagt, war dies von großer Bedeutung für das europäische Selbstverständnis, das sich in seiner kolonialistisch-kapitalistischen

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Abb. 81: Geschichte der Kunst des Alterthums, Erster Theil, Joachim Winckelmann, 1764

Souveränität gegen andere zu behaupten und diese zu unterwerfen suchte. Das afrikanische Ägypten konnte sichtlich nicht als Ursprung akzeptiert werden. Wir haben es also mit einer ideologisch-kolonialistischen Basis der Kunstwissenschaften zu tun, die an der Ausbeutung und Unterdrückung durch die Schaffung einer nur angeblich demokratischen Identität maßgeblich beteiligt war und ist. In seinem bekanntesten Werk, der Geschichte der Kunst des Altertums, aus dem Jahr 1764, entwickelte Winckelmann eine Methodik – das Studium der Werke ersetzte das der Künstler:innen –, die sich auf einen bestimmten Wert stützte  – die Schönheit und Ausgewogenheit der klassischen Kunst und der Geist, der sie beseelte –, um eine Theorie aufzustellen  – ihre edle Einfalt und stille Größe. Diese Theorie wurde erstmals in einem früheren Werk, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, von 1755 dargelegt:

Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele. (Winckelmann, 1885, S. 17).

Obwohl Winckelmann sich mit den Künsten der Völker des Altertums im Allgemeinen beschäftigte  – Ägypter, Phönizier, Perser, Etrusker und ihre Nachbarn, Griechen und Römer – erwählte er die griechische Kultur und betonte, dass „die Kunst der Griechen das Hauptthema dieser Geschichte ist“ (Winckelmann, 1885, S. 77). Angesichts seines Einflusses können wir nur spekulieren, was aus der Kunstgeschichte geworden wäre, hätte er nicht diesen groben Fehler begangen und sich für die Ägypter entschieden. Die Vorstellung der griechischen Antike als einem idealen Ort für die Entwicklung einer großen Seele basierte auf der Idee der Existenz eines Zeitgeistes, die später von Hegel ausgearbeitet und von mehreren Generationen deutscher Künstler:innen und Denker:innen übernommen wurde. Die Kernthese lautete, dass die kulturelle Produktion eines Volkes in einer bestimmten Epoche immer homogen und an der Autonomie eines bestimmten Stils erkennbar sei. In der sich etablierenden Disziplin Kunstgeschichte wurde sie von Heinrich Wölfflin (1864–1945) aufgegriffen, der sie noch stärker als

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Abb. 82: Laokoon, Rhodos, 27 v. Chr.–68 n. Chr., Marmorskulptur, Musei Vaticani, Rom

Winckelmann ausformulierte. Daraus wurde dann das Schlüsselparadigma, das auf die verschiedensten Zeiten und für alle Künste anzuwenden war. Auch wenn einige später, insbesondere die Studien der reproduktiven Künste, weniger den Epochenstil als den Künstlerstil fokussierten. Die winckelmannsche Theorie stützte sich auch auf den Wert der Naturnachahmung sowie auf die von Plinius dem Älteren und Vasari formulierte Idee des Künstlergenies. In der Tat beeinflusste Winckelmann mit seiner Verbindung von Kunst und Kultur und der Idee eines Epochenstils unzählige Studien. Diese Studien untersuchen verschiedene

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Epochen und Regionen und geben Einschätzungen über die Kulturen ab, die sie hervorgebracht haben: die gotische Kultur in Frankreich und Deutschland, die Renaissance in Italien, der Schweiz und Deutschland, der Barock in Italien, Spanien und Deutschland und so weiter und so weiter. Winckelmann war der Erste, der die Kunst mit den soziopolitischen und geografischen Gegebenheiten in Verbindung brachte. Dabei assoziierte er die Kunst Griechenlands und ihr vermeintlich demokratisches System – tatsächlich eine Sklavenhaltergesellschaft und ein Imperium – mit dem milden Mittelmeerklima. Kunst, Politik und Klima wurden dabei als gleichermaßen ausgewogen und perfekt interpretiert. Seine Theorie von der antiken Kunst, die sich durch ideale Schönheit und erhabene Züge auszeichne, die einen Stil der Einfachheit und Gelassenheit kreiere, geht auf Analysen der perfekten Proportionen des menschlichen Körpers antiker Bildhauer zurück. Anhand der von Winckelmann analysierten berühmten Laokoon-Skulptur, von Athanadores, Hagesandros, und Polydoros zwischen 27 v. Chr. und 68 n. Chr. hergestellt, beschreibt Gerd Bornheim (2012) ausführlicher die Weltsicht, auf der das eingeführte Paradigma beruhte. Es sollte den Ängsten und Befürchtungen, die die Welt bietet, eine positive Perspektive entgegensetzen: Die Laokoon-Gruppe wird nicht als Manifestation des Pathologischen – das war Berninis These – oder der Gewalt, eines ephemeren, der Kunst unwürdigen Zustands, analysiert, sondern als Triumph der Seele, eines extremen Schmerzes, der triumphiert und gerade deshalb mit der Ewigkeit des Göttlichen vereinbar ist. Die Analyse von Laokoon legt nahe, dass für Winckelmann stille Größe nicht mit toter Statik zu verwechseln ist; die berühmte Skulptur wird als Verkörperung des Sieges des Lebens verstanden, des Triumphs des Adels und der Balance über Schmerz und Unvollkommenheit. (Bornheim, 2012, S. 155)

Um die griechische Kultur zum Vorbild erklären zu können, verglich Winckelmann sie mit anderen Epochen – dem Hellenismus, dem Barock und dem Rokoko –, die er als exzessiv und degeneriert ablehnte. Er beschuldigte den Architekten und Bildhauer Gian Lorenzo Bernini (1598–1680), für die „Verderbnis in der Kunst“ verantwortlich zu sein (Winckelmann, 1764, S. 239). Damit hielt der deutsche Philologe an dem von Vasari eingeführten Modell einer teleologischen Geschichte fest, in der auf den Höhepunkt ein Verfall folge. Bevor ich auf einige Beispiele, die sich an der Aufrechterhaltung des Paradigmas der Stilepoche beteiligten, eingehe, möchte ich Winckelmanns Vorschlag, den afrikanischen Ursprungsmythos entgegenhalten. Wie bereits bemerkt, erklärten John J. Jackson (1939; 1974) und Cheikh Anta Diop (1974) die ägyptische Kunst zur Wiege der Menschheit und siedelten den Beginn aller Zivilisation somit nicht in Europa, sondern in Afrika an. Dies widersprach nicht nur der Vereinnahmung Ägyptens als einer weißen Kultur, sondern behauptete auch die kulturelle Ebenbürtigkeit einer von als schwarz rassialisierten Menschen geschaffenen Kunst. Die beiden Autoren konterten damit die Vorstellung, dass Afrikaner unfähig seien, Zivilisationen zu entwickeln und führten sie als Verantwortliche ein. Sie argumentierten, dass die Äthiopier Ägypten gegründet hätten, ja dass es anfangs eine äthiopische Kolonie gewesen sei. Auch zeigten sie, dass die Äthiopier und ihre Nachfahren für alle wichtigen

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Wie wird Kunst als wissenschaftliche Disziplin studiert?

Abb. 83: Pharao Narmer oder Menes, 1. Dynastie, Petrie Museum of Egyptian Archaeology, London

menschlichen Erfindungen wie Ingenieurswesen, Landwirtschaft, Astronomie, Bergbau, Herstellung von Waffen und Geräten, Mathematik etc. verantwortlich waren. Perser, Griechen und Römer profitierten von diesem Wissen und Letztere gaben es später als das ihre aus. Der Fakt, dass Ägypten und sein Einfluss ursprünglich „schwarz“-afrikanisch war, wurde durch Skulpturen und Studien belegt. Etwa durch die des ersten Pharaos Narmer (3273–2987 v. Chr.) oder Menes. Cheik Anta Diop (1974, S. 45) sah deutlich, dass der Imperialismus für die Geschichtsverfälschung verantwortlich war: Ägyptologen waren vor Bewunderung über die vergangene Größe und Perfektion, die damals entdeckt wurde [1828–29], verblüfft. Sie erkannten sie nach und nach als die älteste Zivilisation, die alle anderen hervorgebracht hatte, an. Aber da der Imperialismus ist, was er ist, wurde es zunehmend „unzulässig“, die  – bis dahin offensichtliche  – Theorie eines schwarzen Ägyptens weiter zu akzeptieren. Die Geburtsstunde der Ägyptologie war also geprägt von der Notwendigkeit, die Erinnerung an ein schwarzes Ägypten um jeden Preis und in allen Köpfen zu zerstören.

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Obgleich der erste Ägyptologe, Jacques-Joseph Champollion-Figeac (1778–1867), dies durchaus wusste, war sein jüngerer Bruder Jean-Jacques Champollion (1790–1832) für die Bleichung der ägyptischen Kunstgeschichte verantwortlich (Diop, 1974, S. 51). Gerade die Behauptung, dass sich die Zivilisationen von Norden nach Süden ausgebreitetet hätten, war eine – wie heute umfangreich wissenschaftlich belegt ist – komplette Fehlbehauptung. Letztlich war es genau umgekehrt. Durch Zerstörung und Verfälschung wurde eine Fiktion behauptet, die keinen wissenschaftlichen Boden hatte. Jackson (1939) widmete sich darüber hinaus der Darstellung, wie das Christentum die ägyptische Kosmologie für sich beanspruchte und assimilierte. Erneut müssen wir erkennen, dass die Kunstwissenschaften und die Archäologie letztlich ideologische Konstrukte sind. Nach dieser Infragestellung des antiken Griechenlands als Wiege der Zivilisation kehre ich zu weiteren Beispielen des Paradigmas Stilepoche zurück, um einige der berühmtesten Bücher der Kunstgeschichte kurz vorzustellen. Es gibt vielfache Aufwertungen bestimmter Epochen, die von methodischen und theoretischen Veränderungen begleitet wurden. Vasaris Renaissancebegeisterung teilend, entfernte Jacob Burckhardt, ein Zeitgenosse und Kollege Nietzsches an der Universität Basel, sich in seinem als bahnbrechend geltendem Werk, Die Cultur der Renaissance in Italien, von 1860, von der Wertschätzung des klassischen Griechenlands, auch wenn er sich später dem Studium der griechischen Kunst widmete. Als studierter Historiker schrieb er das Buch mit dem Ziel, eine kulturelle und nicht eine politische Geschichte zu verfassen. Indem Burckhardt die Renaissance zum Beginn der modernen Welt erklärte, schuf er einen zweiten wesentlichen Mythos für die westliche Welt. Wie nicht anders zu erwarten, stellte er dabei keinerlei Beziehung zur Kolonialisierung Amerikas her. Er verherrlichte den tiefgreifenden Wandel der westlichen Gesellschaft und ihren Individualismus, wobei er deren individuelle Kreativität und Wettbewerbsfähigkeit pries. Das Verdienst dieses heute als Schlüsselbuch der Kunstgeschichte geltenden Texts besteht vor allem darin, dass das Studium der Kunst in das Studium der Geschichte einbezogen und die Ereignisse und Personen, die an der Verwirklichung der Kunst beteiligt waren, gewürdigt wurden. Der Franzose Émile Mâle (1862–1954), in L’Art religieux du XIIe siècle en France (Religiöse Kunst im 12. Jahrhundert in Frankreich), präsentierte eine Studie der Ursprünge mittelalterlicher Ikonografie, um vor allem seiner eigenen Nation zu Ruhm zu verhelfen. Das Buch wurde 1898 geschrieben und legte die erste große Studie über mittelalterliche Kathedralen vor. Es war maßgeblich dafür verantwortlich, die gotische Kunst in den europäischen Kanon einzuführen. Alexandra Gajewski (2015, S. 34) stellt fest, dass der Autor in seiner Studie „ein Wissen wiederfand, das seiner Ansicht nach seit der Reformation verloren gegangen war.“ Mâle (1978) las die Kathedralen Nordfrankreichs als wären sie Bücher und arbeitete somit als Erster nach der ikonografischen Methode. Sein Ziel war es, zu beweisen, dass es sich um die größten nationalen Kunstwerke handelte, die je geschaffen wurden. Folgerichtig stellte er sie als Enzyklopädie der christlichen Weltanschauung dar. Mit seiner Apologie der gotischen Kunst eröffnete Mâle eine nationalistische Dimension in der Kunstgeschichte. Denn die Kathedralen waren für ihn das Sinnbild der „verlorene[n] Identität von Kunst, Glauben und Leben“ (Eisenwerth, 1985, S. 14). Erneut spielte er damit dem Imperialismus in die Hände, da ja die Ausbeutung Afrikas im Namen des Christentums in vollem Gange war. Wir haben gesehen, dass es im westlichen Denken des 20. Jahrhunderts eine Bestandsaufnahme und Trauer um diesen

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Verlust bei vielen Kunsthistoriker:innen und Philosoph:innen, etwa Agamben, Belting und Didi-Huberman, gibt, die den Zusammenhang zwischen Christentum und Unterdrückung, der im Mittelalter mit den Kreuzzügen begann, nicht sehen. Obwohl die meisten Wissenschaftler:innen von demselben Paradigma ausgehen – ein homogener Epochenstil –, unterscheiden sich die daraus resultierenden Studien erheblich in Bezug auf die Methodik oder, in Rancières Worten, in Bezug auf die Fiktionen. Diese Unterschiede bestehen im Schwerpunkt und in der zunehmenden Raffinesse und Akribie der Analyse, die sich aus dem besseren Zugang zum Forschungsmaterial ergaben. Patrons and Painters (Mäzene und Maler), von 1963, des amerikanischen Wissenschaftlers Francis Haskell (1928–2000), ist das Ergebnis eines Archivprojekts. Indem er sich auf außerkünstlerische Einflüsse konzentrierte, insbesondere auf private und kirchliche Mäzene, die zur Zeit des Barocks Kunstwerke in Auftrag gaben, öffnete er das Paradigma für eine soziologische Dimension. Das Interesse an der Sozialgeschichte der Kunst war zuvor bereits von Arnold Hauser (1958) aus einer marxistischen Perspektive eingesetzt worden. Die Stärke des Stilepochenparadigmas wurde im Zusammenhang mit der Erforschung der Moderne und Postmoderne erneut bekräftigt. Die Rolle des amerikanischen Kritikers Clement Greenberg (1909–1994) bestand darin, die Kunst der historischen Avantgarde im Kanon der Kunstgeschichte zu etablieren. Seine Texte wurden zunächst in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht und 1961 unter dem Titel Art and Culture (Kunst und Kultur) publiziert. Um die Moderne als eine Epoche mit eigenem Stil zu würdigen, behauptete der Autor, dass sie keinen Bruch, sondern eine Kontinuität der europäischen Kunsttradition darstelle. Greenberg (1989, S. 7) sah diese Kontinuität als positiv und verstand die Kunst der Avantgarde als „Nachahmung der Nachahmung“, da die Künstler:innen nun „ihre Hauptinspiration aus dem Medium ableiten, in dem sie arbeiten“. Ausgehend von dieser Beobachtung entwickelte der Kritiker die Theorie der Selbstreflexivität der AvantgardeKunst. Sie besagt, dass die Künstler:innen nicht mehr daran interessiert sein, was sie taten, sondern wie sie es taten. Mit anderen Worten, sie waren angesichts ihres „höheren historischen Bewusstseins“ (Greenberg, 1989, S. 4) nicht mehr an den Techniken der traditionellen Kunst interessiert. Folglich stellte die Historische Avantgarde keine künstlerische Veränderung dar, sondern diente den Künstler:innen lediglich als Instrument zur Analyse der ihnen vorausgegangenen Kunst. Genau diese Methode ist uns in den verschiedenen Versionen begegnet, die Picasso von Las Meninas malte. Der Einfluss dieser Theorie ist nicht zu unterschätzen, insbesondere im Hinblick auf die Fortführung eines formalistischen Ansatzes in den Kunstwissenschaften, einer wichtigen Methodologie innerhalb des Paradigmas, die zum ersten Mal in Heinrich Wölfflins (1915) Grundbegriffe der Kunstgeschichte von 1888 formuliert wurde, wie wir noch sehen werden. Interessanterweise steht Greenbergs positive Bewertung der Geschichte und die Einführung der Analyse als Motor der modernen Kunst ganz im Einklang mit dem historisierend-analytischen Ansatz des 19. Jahrhunderts. Noch interessanter als seine Beibehaltung des klassischen Paradigmas der Kunstgeschichte ist seine Neudefinition des Status der Künstler:innen: Sie werden nicht mehr als Genies gesehen, sondern mit wissenschaftlichen Forscher:innen oder einfach mit Arbeiter:innen verglichen. Womit wir zur Idee der artífices zurückkehren. Wie Winckelmann vergleicht auch Greenberg die Moderne mit einem anderen Stil. Seine Wertschätzung der historischen Avantgarde resultierte aus seiner Bemängelung

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des Kitsches, der von ihm als autonome Kunstform verstanden wurde, die die Bourgeoisie übernahm, um zu verhindern, dass die Kunst im Rahmen des Klassenkampfes eine größere Macht ausüben könnte. Die Pop-Art sei somit die Folge einer Tendenz der Elite, sich den unteren sozialen Schichten anzunähern, um das ästhetisch-politische Potenzial der Kunst zu begrenzen: Kitsch hält einen Diktator in engerem Kontakt mit der ‚Seele’ des Volkes. Wäre die offizielle Kultur eine, die dem allgemeinen Massenniveau überlegen ist, bestünde die Gefahr der Isolation. (Greenberg, 1989, S. 19)

Nach Greenbergs Argumentation ist der Kitsch die einzig wahre ästhetische Manifestation der Moderne, die sowohl im Kapitalismus als auch im Kommunismus dazu diente, die Bevölkerung ruhig zu stellen. Die Postmoderne ist dabei die einzige Epoche, die von Anfang an im Hinblick auf eine Pluralität der Stile analysiert wurde. Als Antwort auf Greenberg präsentierte die amerikanische Kritikerin Rosalind Krauss (1985) zum ersten Mal die Idee eines Bruchs im evolutionären Narrativ der Kunstgeschichte. Die Greenbergsche Vorstellung von der Kontinuität der modernen Kunst revidierend, untersuchte die Autorin die Postmoderne mithilfe von Michel Foucaults archäologischem Interesse an Brüchen, Diskontinuitäten und möglichen Transformationen, anstatt sie mit Begriffen wie Tradition, Einfluss, Evolution und Entwicklung zu historisieren. Anna Lovatt (2015, S. 329) findet ihren Versuch, Methoden aus verschiedenen Humanwissenschaften – Linguistik, Strukturalismus, Poststrukturalismus, Psychoanalyse, Phänomenologie usw. – in die Kunstgeschichte einzubringen, aber widersprüchlich und kommt zu dem Schluss, dass Krauss der Heterogenität der Postmoderne nicht gerecht werde. Lovatt (2015, S. 338) erkennt jedoch an, dass Krauss in den 1970er-Jahren Neuland betrat – lange vor Belting und Danto –, kritisiert aber ihre formalistische Herangehensweise. Nach diesem kurzen Ausflug ins 20. Jahrhundert, kehre ich nun zum 19. Jahrhundert zurück, um mich mit einer der einflussreichsten Methoden der Kunstgeschichte, der Formanalyse, und ihrem zentralen Paradigma, dem Epochenstil, zu befassen. Dies ist wichtig, um hervorzuheben, wo die westlichen Kunstwissenschaften ihren Ausgang nahmen und warum sie noch heute so geprägt sind. Dies ist auf den europäischen Universalitätsanspruch zurückführen. Die formalistische Analyse entleerte auf erschreckende Weise die Auseinandersetzung mit der Kunst, da sie sich nur über deren Ästhetik Gedanken machte. Der soziopolitische Kontext, wie etwa der Kolonialismus, wurde ausgegrenzt.

Von der komparativen formalen Analyse In dem Bestreben, die Kunstgeschichte als Wissenschaft zu etablieren – und sie inhaltlich auszuhöhlen –, versuchte Wölfflin (1915), ein Schüler Jacob Burckhardts, das Epochenstilparadigma durch eine anspruchsvollere Methodik, nämlich die formale Analyse, zu erweitern. Er vertrat die Auffassung, dass universelle Darstellungsformen als das vorherrschende Element von Kunstwerken betrachtet werden sollten. Seine Herangehensweise

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bestand in einer vergleichenden Analyse der Kunst des Barocks und der Renaissance, um „die Art der Auffassung, die den darstellenden Künsten in diesen verschiedenen Jahrhunderten zugrunde liegt“ (Wölfflin, 1915, S. 14), aufzudecken. Um die Kunstgeschichte von der Diskussion über die Schönheit und die Naturnachahmung sowie von der Untersuchung ihres ikonografischen Inhalts zu lösen, beschloss der Autor, sich darauf zu konzentrieren, wie die Künstler ihre Wahrnehmung der Welt in Formen umsetzten. Wölfflin wählte den Vergleich als Grundlage seiner Methode, um den formalen Aspekt der Kunstwerke zu betonen, der nach seinem Verständnis die stilistischen Transformationen, d. h. den gemeinsamen Nenner einer Epoche, anzeigen könnte, ohne sie nach der Logik des teleologischen Modells als Höhepunkt oder Dekadenz zu bewerten. Es ging ihm dabei um stilistische Entwicklungen, die aus dem Erlernen bestimmter Techniken resultierten. Seine Studie stellte Werke der Renaissance und des Barock anhand von fünf zuvor festgelegten Begriffspaaren gegenüber. Ein Konzept war jeweils charakteristisch für die Werke der Renaissance, und ein zweites charakteristisch für die Werke des Barocks. Die fünf Paare sind: – das Lineare und das Malerische – Fläche und Tiefe – Geschlossene und offene Form – Vielheit und Einheit – Klarheit und Unklarheit Um die stilistischen Veränderungen zu verdeutlichen, wurden ähnliche Themen in der Bearbeitung verschiedener Künstler ausgewählt, zumeist kanonische Vertreter der europäischen Kunst wie Albrecht Dürer, Rembrandt van Rijn und Peter Paul Rubens (1577–1640). Ich werde jedes Paar kurz vorstellen, um Wölfflins Methodik besser zu demonstrieren und anschließend zu problematisieren. Wie gesagt, ging es dem Autor vor allem um die formale Weltanschauung, die jedem Stil zugrunde liege. Im Vergleich zwischen dem Linearen und dem Malerischen argumentierte er, das lineare Sehen in der Renaissance „heißt dann, dass Sinn und Schönheit der Dinge zunächst im Umriss gesucht werden“ (Wölfflin, 1915, S. 20). Der Barock wiederum könnte, nachdem er die Linie dominiert hätte, das Malerische schätzen, indem er das Bild nun ohne definierte Grenzen behandelte: „Dann ist es, als ob es plötzlich in allen Winkeln lebendig würde von einer geheimnisvollen Bewegung.“ (Wölfflin, 1915, S. 21) In dieser Veränderung der Wahrnehmung und damit der Form sah Wölfflin den Ausdruck eines veränderten aber nur formalen Interesses an der Welt. In der Renaissance hätte die Hand des Malers noch die körperliche Welt erkundet, während im Barock das Auge für den Reichtum der Textur empfänglich geworden wäre. Dementsprechend hätte die Renaissance eine starrere, lineare Form verwendet, die gemessen und in einzelne Objekte aufgefaltet werden konnte. Die malerische Form hingegen bestünde aus Schwingungen, aus Bewegung, und sei in der Lage, die Gegenstände in ihren Zusammenhängen zu zeigen. In den Zeichnungen von Dürer und Rembrandt werde deutlich, dass Dürer die Linie betonte, um die Silhouette hervorzuheben, während Rembrandt dem malerischen Strich größere Bedeutung beigemessen hätte. Das zweite Paar, Fläche und Tiefe, wird als eine Vertiefung des Raums im Barockbild erklärt, die auf ein größeres Interesse an der Beziehung zwischen Vorder- und Hintergrund zurückzuführen sei.

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Abb. 84: Links – Eva, Albrecht Dürer, 1504, Zeichnung, Pierpont Morgan Library, New York; rechts – Weiblicher Akt, Rembrandt van Rijn, 1658, Zeichnung, Rijksmuseum, Amsterdam

Beispiele dafür sind u. a. das als flächig betrachtete Bild Lukas die Maria malend von Dirk Bouts (1415–1475), aus den Jahren 1435–1440, und Jan Vermeer van Delfts Die Kunst der Malerei (1632–1675), aus den Jahren 1662–1665, das größere Tiefe habe. Im dritten Paar stellte Wölfflin die geschlossene Form der Reaniassance der offenen Form des Barocks gegenüber. Er argumentierte, dass in den Bildern des 15. Jahrhunderts horizontale und vertikale Linien vorherrschten, um tektonische Werke zu schaffen, wie in der Magdalena von Jan van Scorel (1495–1562), aus dem Jahr 1530. Alle Elemente der Komposition sind tatsächlich rechtwinklig – der Körper, der Baumzweig usw. – wodurch der Eindruck von Solidität und Unveränderlichkeit entstehe. Die Magdalena von Guido Reni (1575–1642), aus dem Jahr 1635, diente zur Erklärung des barocken Kontrapunkts, bei dem es weder eine gerade Haltung noch ein organisiertes System von Vertikalität und

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Abb. 85: Links – Lukas die Maria malend, Dirk Bouts, 1435–1440, Öl auf Leinwand. Museum of Fine Arts, Boston; rechts – Die Kunst der Malerei, Jan Vermeer van Delft, 1662–1665, Öl auf Leinwand, Kunsthistorisches Museum, Wien

Abb. 86: Links – Magdalena, Jan van Scorel, 1530, Öl auf Leinwand, Rijksmuseum, Amsterdam; rechts – Magdalena, Guido Reni, 1635, Öl auf Leinwand, Galleria Nazionale d‘Arte Antica, Rom

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Abb. 87: Links – Venus von Urbino, Tizian, 1538, Öl auf Leinwand, Gallerie degli Uffizi, Florenz; rechts – Rokeby Venus, Diego Velazquez, 1599–1600, Öl auf Leinwand, The National Gallery, London

Horizontalität gäbe. Die offene Form wird deshalb als Entwicklung der Kunst hin zu einer Wahrnehmung der Einheit gesehen. Warum das so sei und was das bedeuten könne, erklärte Wölfflin nicht. Gemäß seinem evolutionären Geschichtsmodell stellte Wölfflin noch Vielheit und Einheit gegenüber und schlug vor, dass es dem Barock gelungen sei, eine verfeinerte Komposition zu erzielen. Es geht also wieder um die Entwicklung zu einer größeren Fähigkeit, wie wir dies schon von Vasari kennen. Dies zeigte er durch den Vergleich der Venus von Urbino von Tizian, von 1538, und der Rokeby-Venus von Diego Velazquez aus den Jahren 1599–1600. Während auf dem ersten Gemälde der Raum mehrere Elemente aufweise, die sich in den Hintergrund erstreckten, sei der Raum auf dem zweiten Bild einheitlicher, da er sich auf die Figur der Venus konzentriere, die von hinten gezeigt werde, wobei der Hintergrund auf raffinierte Weise mit einem Spiegel eingeführt werde.

Abb. 88: Links – Pietà, Joos van Cleve, 1520–1525, Öl auf Leinwand, Louvre, Paris; rechts – Pietà, Jacopo Tintoretto, 1563, Galleria dell’Accademia, Venedig

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Abb. 89: Links – Grablegung Christi, Tizian, 1559, Kunsthistorisches Museum, Wien, Öl auf Leinwand; rechts – Pietà, Tizian, 1576, Öl auf Leinwand, Galleria dell’Accademia, Venedig

Das letzte Paar ist Klarheit und Unklarheit. Der Autor meinte, die barocke Sensibilität habe die Klarheit aufgegeben, mit der frühere Künstler arbeiteten. Die Unklarheit eröffne nun als künstlerische Möglichkeit einen Reiz, der im Verhältnis von Licht und Schatten erforscht würde. Zur Veranschaulichung seiner These analysierte Wölfflin die Klarheit der Pietà von Joos van Cleve (1485–1540), aus den Jahren 1520–1525, und kontrastierte sie mit der dramatischen Beleuchtung in der Pietà von Jacopo Tintoretto (1518–1594), aus dem Jahr 1563. Obwohl die vorgeschlagenen Paare auf den ersten Blick überzeugend wirken, ist es leicht, ihre Fehlbarkeit im Sinne der Homogenität eines Epochenstils unter Beweis zu führen. In der Tat wurde Wölfflin trotz des Einflusses seiner Methodik von wichtigen Kunsthistorikern wie Erwin Panofsky (1978) stark kritisiert, insbesondere in Bezug auf die Frage der stilistischen Entwicklung. Ich werde dafür ein Beispiel anführen, das zeigt, dass die vermeintlichen Gegensätze zur gleichen Zeit und sogar bei demselben Künstler auftraten. Betrachten wir das Paar Fläche und Tiefe. Tizian malte Bilder, in denen sowohl der Vordergrund – in der Grablegung Christi von 1559 –, als auch die Tiefe – in der Pietà von 1576 –, von Bedeutung sind. Diese zwei Werke liegen nur 16 Jahre auseinander. Es handelt sich bei beiden zwar um dem Barock zugeordnete Gemälde, aber um grundlegend unterschiedliche Lösungen, die weder eine stilistische Entwicklung noch verschiedene Epochen markieren, sondern einfach unterschiedliche Herangehensweisen an ein und dasselbe Thema aufweisen. Wölfflin (1915, S. 239) war sich bewusst, dass seine Begriffe „nur ein Schema“ und sehr allgemein waren. Doch mit dem Ziel, eine „allgemeine Physiognomie jeder Epoche“ zu schaffen, brauchte er diese Abstraktionen (Wölfflin, 1915, S. 239). Seine Studie zeigt vor allem, wie eine Methodologie eine bestimmte Fiktion – die Unterschiede der Epochen aufgrund ihrer einzigartigen Formstile – garantieren kann, um ein Paradigma zu stärken, das aufgrund seiner Vereinfachung alle Kunststudien beeinflusste. Es ist bemerkenswert,

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dass Wölfflin innerhalb des evolutionären Geschichtsmodells den Barock nicht als einen Niedergang, sondern als eine Entwicklung im Verhältnis zur Renaissance bewertete. Dies war eine neue Perspektive im Vergleich zu anderen Autoren, wie wir gleich sehen werden. Aber es muss vor allem bedacht werden, dass inhaltliche Aspekte der manipulativen Gegenreformation, wie sie Einstein z. B. sah, und die in engem Verhältnis mit Macht- und Herrschaftsinteressen, auch in den Kolonien, standen, in seinem formalistischen Ansatz vollkommen verloren gingen.

Von der Pluralität der Stile, dem Untergang und der Transhistorie Wir haben gesehen, dass die sukzessive Verteidigung verschiedener Stilepochen als Momente der Zivilisation  – klassische griechische Kunst, Gotik, Renaissance, Barock, Moderne und Postmoderne  – die Stärke des Paradigmas sowie seine Formbarkeit für verschiedene Momente, Regionen und Protagonisten demonstriert. Das westliche Selbstverständnis oder der Nationalismus waren zumeist ein wichtiger Motor dieser Untersuchungen. Es sei daran erinnert, dass alle genannten Studien große Anerkennung fanden und Auswirkungen auf die Kunst ihrer Zeit hatten, insbesondere in der Romantik, im Klassizismus und im Historismus. Im Falle der Moderne und der Postmoderne können die Studien als direkte Antworten auf die zeitgenössische Kunst gesehen werden. Gemäß dem österreichischen Kunsthistoriker J. A. Schmoll gen. Eisenwerth (1985, S. 11) war die Stilanalyse bestimmter Epochen seit dem 19. Jahrhundert tatsächlich „die Grundlage für die Organisation und Periodisierung der Kunstgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin“. Der Autor fasst die Funktionsweise des Paradigmas, das er als System versteht, wie folgt zusammen: Die Gültigkeit des vom 19. Jahrhundert überlieferten Stilepochensystems impliziert Stileinheit in einer bestimmten Zeitspanne, also gleichsam monolithe Stilblöcke. Innerhalb dieser gibt es zwar eine gewisse Entwicklung mit Früh-, Hoch- und Spätstufen, diese sind aber wiederum in sich geschlossene Stileinheiten, besser Unterabteilungen des Epochenstils. Die Hauptentwicklungslinie – quasi ein Einbahnsystem – bildet das Rückgrat jeder Epoche. Gegenströmungen gehören schon nicht mehr zur Toleranz des Systems, sondern liegen eigentlich außerhalb; sie werden jenseits der Macht des jeweils herrschenden Stiles mehr oder weniger geduldet. (Eisenwerth, 1985, S. 22)

Eisenwerth war sich der Auswirkungen des Paradigmas bewusst und warnte vor der mangelnden Beachtung der Stilpluralität, die jede Epoche mit sich bringt. Damit weitete er die Thesen von Rosalind Krauss und Arthur Danto, die die Vielfalt der Stile nur in der Postmoderne vorfanden, auf alle anderen Epochen aus. Auch das evolutionäre Geschichtsmodell wurde von Eisenwerth infrage gestellt, wonach Stile nach ihrer Blütezeit in Dekadenz verfallen. Die Barockdebatte kann als anschauliches Beispiel dienen. Im Anschluss an Hegel und im Gegensatz zu Wölfflin verwendete Nietzsche diesen Stil als Synonym für den Niedergang der Kunst in allen Epochen. Auch er bleibt dabei dem Formalismus verhaftet und macht keine inhaltlichen Beobachtungen:

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Der Barockstil entsteht jedes Mal beim Abblühen jeder großen Kunst, wenn die Anforderungen in der Kunst des klassischen Ausdrucks allzu groß geworden sind, als ein Natur-Ereignis, dem man wohl mit Schwermut – weil es der Nacht voran läuft – zusehen wird, aber zugleich mit Bewunderung für die ihm eigentümlichen Ersatzkünste des Ausdrucks und der Erzählung. (Nietzsche, 2000, S. 144)

Der Barock wird als ein transhistorisches Phänomen betrachtet, sei es als Zeichen der Dekadenz im griechischen Hellenismus oder in der Musik des späten 19. Jahrhunderts, um nur zwei Beispiele zu nennen. Die Bewertung des Barocks hat sich grundlegend geändert, seit er in Frankreich und Italien als unsympathischer Spitzname aufkam. Sein etymologischer Ursprung ist nicht geklärt. Er könnte sich von einem portugiesischen Wort für eine unregelmäßige Perle oder von einem italienischen Wort für bizarr oder extravagant abgeleitet haben. Zum Stil wurde er erst, als Burckhardt ihn 1869 zur Analyse einiger bedeutender Kunstwerke benutzte, als Heinrich Wölfflin ihn 1888 der Renaissance gegenüberstellte, als Walter Benjamin ihn 1928 in seiner Studie des Barockdramas einsetzte oder als Gilles Deleuze ihn 1988 zur Beschreibung von Leibniz Denkweise heranzog. Auch Angela Ndalianis (2004, S. 10) stellt die Verwendung des Barockbegriffs infrage und schlägt vor, ihn nicht als einen kanonisierten Stil zu betrachten, der sich in einer bestimmten Zeit herauskristallisierte, sondern, in Anlehnung an Henri Focillon und den bereits genannten Nietzsche, als eine Kunstform, die zu allen Zeiten und auch im letzten Jahrhundert, präsent war: Während des gesamten 20. Jahrhunderts haben die barocken Formen ihre Identität als Stil in den verschiedensten Bereichen der Künste modifiziert, indem sie sich ständig in neuen metamorphen Konfigurationen und kulturellen Kontexten bewegten.

Monika Kaups (2012) argumentiert ebenfalls in Neobarock in Amerika, dass es sich beim Barock um ein sich wiederholendes Phänomen handele, das sie in Literatur und Film untersucht. Aber es gibt auch Stimmen gegen diese Idee der Transhistorizität. Obgleich die Transhistorizität für die Problematisierung des Stilepochenparadigmas nützlich ist, verstärkt sie andererseits die Meistererzählung des teleologisch-evolutionären Modells des Verfalls und eine eurozentrische Sichtweise auf die Kunst. Der brasilianische Barock, so der Begriff überhaupt passt, kann als Argument betreffend der Ambivalenz der Transhistorizität dienen. In der brasilianischen Kunstgeschichte wird die Verwendung des Begriffs generell mit Argwohn betrachtet, und zwar aus dem einfachen Grund, weil die vermeintlichen Barockwerke Brasiliens fast ein Jahrhundert später als in Europa und in einem sehr unterschiedlichen Kontext und Stil entstanden sind. Die Behauptung, dass es einen brasilianischen Barock gegeben habe, lasse außerdem nationale und historische Besonderheiten außer Acht. Obwohl es eine umfangreiche Bibliografie zu diesem Thema gibt (Andrade 1993; Ávila 1971; Levy 1941, 1944; Machado 1978), greife ich erneut auf Flusser (1994) zurück, um die Komplexität der Frage der Transhistorie zu vertiefen. Flusser sprach einerseits von einer glücklichen Assimilation des barocken Stils und betonte andererseits die Gefahr der Anwendung europäischer Konzepte außerhalb des alten Kontinents:

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Das Wesen des europäischen Barocks kann ungefähr als Ellipse veranschaulicht werden, deren beide Brennpunkte „Natur“ und „Geist“ in ganz spezifischer Bedeutung dieser Begriffe sind (nämlich Natur als Mechanismus und „Geist“ als Rationalismus). (…) Von all dem ist in Ouro Preto außer Ellipse und Spirale überhaupt nichts zu spüren. Der Immigrant, der diese sogenannte barocke Stadt besucht, verfällt immer wieder der Versuchung, in Lachen auszubrechen, denn die rührende Naivität (…) ist das direkte Gegenteil jener raffinierten Illusionstechnik, die den echten Barock kennzeichnet. Die Propheten des Aleijadinho (des größten dortigen Bildhauers) verhalten sich zu Bernini etwa wie ballspielende Kinder zu Schachweltmeistern. Und seit Bernini sind ja auch 150 Jahr vergangen (Flusser, 1994, S. 72–73).

Es gibt hier eine klare Abwertung – „ballspielende Kinder“ und „Schachweltmeister“ –, die auf die Proportionen des Barocks als Machtinstrument verweisen. In Europa entstand der Barock als Teil eines erbitterten Kampfes gegen die lutherische Reformation als Gegenreform. Um die Vormachtstellung der katholischen Kirche zu verteidigen, in deren Namen sich die Kolonialisierung Amerikas vollzog, wurden alle Register gezogen. Dies war im katholischen Brasilien nicht nötig. Andererseits war der Barock in der Neuen Welt noch deutlicher Ausdruck des Kolonialismus und Resultat der Ausbeutung von Bodenschätzen und dem damit einhergehenden Reichtum. Sowohl die Arbeit in den Gold- und Diamantenmienen, die für die Errichtung der Kirchen benutzt wurden, als auch ihre Konstruktion wurde von Versklavten verrichtet. Hier gibt es also eine doppelte Ausbeutung, die mit dem Ausdruck „ballspielende Kindern“ nicht gewürdigt wurde, auch wenn die Bauten an sich weniger pompös ausfielen, weil sie es gar nicht mussten. Andererseits stammte auch das Gold, dass die barocken Kirchen in Europa schmückte, allesamt aus dem kolonialisierten Amerika. Dieser Zusammenhang wird in Barockstudien weder in Europa noch von Flusser berücksichtigt. Damit sehen wir erneut, dass es sich beim Epochenstil und seiner Diskussion zumeist um eine formale und kanonisierende Diskussion handelt, die die soziopolitische Realität der Ausbeutung, die sowohl die Bauten in Europa als auch in Amerika ermöglichte, nicht in Betracht zog.

Zum Autor in der Filmwissenschaft Obwohl wir die Künste heute in separaten Disziplinen studieren, hat die Kunstgeschichte in allen ihre Spuren hinterlassen. Im vorletzten Kapitel habe ich gezeigt, wie die Film- und Theaterwissenschaft deren Meistererzählung übernommen hat. Das Stilepochenparadigma hatte auch einen tiefgreifenden Einfluss und ich möchte dies an einem konkreten Beispiel zeigen. Die Filmwissenschaft hatte anfangs  – in der vorwissenschaftlichen Tradition von Vasari, aber auch weil damit die Autorenschaft aus der Literaturwissenschaft half, die neue Kunst zu etablieren – ein größeres Interesse daran, den Stil von Autor:innen zu erörtern. Die Periodisierung der Filmgeschichte beruht allerdings ebenfalls auf bestimmten festgelegten Epochen. Als jüngste Disziplin der Kunstwissenschaften, die erst in den 1970er-Jahren in Großbritannien entstand, orientierte sich die Filmwissenschaft an der Historiografie, der Theorie und den Konzepten der früheren Disziplinen, insbesondere den Philologien. In

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Anlehnung an sie wurden die ersten Theorien, Geschichten und Bewertungsgrundsätze für die „7. Kunst“ von Kritikern formuliert. Einer der bekanntesten und einflussreichsten Texte war „Eine gewisse Tendenz im französischen Kino“, den der sehr junge Filmkritiker und spätere Filmemacher François Truffaut (1932–1984) 1954 als Manifest in der inzwischen legendären Filmzeitschrift Cahiers du Cinema veröffentlichte. Truffaut (1964) vertrat die Ansicht, dass wahre Autor:innen des Kinos nicht nur Drehbücher schrieben, sondern sich auch durch einen unverwechselbaren visuellen Stil als metteurs-en-scène auszeichnen sollten. Das Kino seiner Zeit basierte auf Romanen, deren Verfilmungen durch bekannte Drehbuchautoren in Truffauts Augen nichts anderes als seichtes, konservatives Kino produzierte. Sein Konzept der Autorenpolitik (politique des auteurs), mit dem er Filmemacher:innen den literarischen Autor:innen gleichsetzte, um deren Ruf in der kulturellen Arena auf das selbe Niveau zu heben, war sowohl für die Analyse – das Erkennen des spezifischen Stils –, als auch für das Verständnis des Films als Kunst von zentraler Bedeutung. Die Annahme, dass alle großen Filmemacher:innen, auch die von kommerziellen Filmen wie etwa Alfred Hitchcocks (1899–1980), einen eigenen Stil hätten, machte sie zu wahren Autor:innen. Deshalb war das Konzept wesentlich für die Entstehung eines ersten filmischen Kanons, mit amerikanischen Regisseuren wie Howard Hawks (1896–1977), John Ford (1894–1973), Samuel Fuller (1912–1997) und Orson Welles (1915–1985), neben Franzosen wie Jean Renoir (1894–1979), Robert Bresson (1901–1999), Jean Cocteau (1889– 1963), Jacques Becker (1906–1960), Abel Gance (1889–1981), Max Ophuls (1902–1957), Jacques Tati (1907–1982) und Roger Leenhardt (1903–1985) verantwortlich. Die Autorenpolitik etablierte das Stilparadigma, Film als Kunst und wertete den Status der Filmemacher:innen auf, ganz so wie es Vasaris disegno etwa fünf Jahrhunderte zuvor getan hatte. Sie wurde später als ideologisches Konstrukt problematisiert, war aber in den 1950er-Jahren wesentlich, um die schlechte Qualität der französischen Filme anzuprangern und künstlerische Veränderungen in Gang zu setzen. (Meskin, 2008, S. 16) Wie einflussreich der Begriff international war, lässt sich am Beispiel Brasiliens und seiner Filmkritik beobachten. Daran sehen wir auch nochmals den Einfluss der europäischen Epistemologie, ebenso wie deren Adaptierung. Glauber Rocha (1939–1981), der international bekannteste Filmemacher des Landes, war auch Kritiker und schrieb 1963 ein Buch, Revisão crítica do cinema brasileiro (Kritische Revision des brasilianischen Kinos). Dort erfand er einen Ursprungsmythos  – den Film Ganga Bruta (1933) von Humberto Mauro (1897–1983) –, eine Entstehungsgeschichte – die Werke von Humberto Mauro –, und einen Kanon für das brasilianische Kino – einschließlich der Werke des Cinema Novo (Neuer Brasilianischer Film). Rocha folgte Truffauts Agenda der Autorenpolitik, insbesondere in Bezug auf die Bemängelung des konventionellen Filmemachens, modifizierte sie aber durch eine antiindustrielle Haltung. Diese spiegelte seinen Wunsch wider, eine politisch engagiertere Sicht auf die ernsten soziopolitischen Probleme Brasiliens zu entwickeln. Das Cinema Novo als unabhängige Filmform sollte als ihr primäres Stilelement die Authentizität der Realität haben. In vielen Filmen wurde dies durch die Verwendung einer Handkamera des Kameramanns Dib Lutfi (1936–2016) erzielt, die das harte und ungerechte Leben der unteren Schichten direkter porträtierte. Dabei blieben die Filme jedoch von der Position ihrer Regisseur:innen, die fast alle der weißen gehobenen Mittelschicht angehörten,

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geprägt. Glauber Rocha ließ etwa die afrobrasilianische Kosmologie nicht gelten und ersetzte sie durch eine marxistische Sichtweise im Film Barravento von 1962. Rochas Filmgeschichte begründete wie üblich auch eine Periodisierung, die dem Paradigma des Epochenstils folgte. Die Filmwissenschaft hat später diese Methode der ersten Kritiker beibehalten. Im Fall des einflussreichen französischen Filmkritikers André Bazin (2009) kann man die Widersprüchlichkeit dieser Vorgehensweise beobachten. Er stellte sowohl fest, dass der Neorealismus ein einzigartiger Stil sei, der dem literarischen Realismus entspreche, sah darin aber auch eine humanistische Haltung seiner Regisseur:innen und somit einen transhistorischen Stil. Wie zahlreiche Veröffentlichungen zeigen, ist in der Filmwissenschaft das Paradigma der Stilepoche neben dem Autorenstil ebenso mächtig wie in jeder anderen Kunstdisziplin. Es mag hier kurz erwähnt sein, dass viele indigene Filmemacher, etwa in Brasilien, kolaborativ arbeiten. Für sie gibt es die Frage der Autorenschaft nicht. Auch können sie ihre Filme nicht in Epochen einteilen, da sie erst seit den 1980er-Jahren überhaupt filmen können. Es wäre sowieso unnötig, da sie immer dieselben Ziele verfolgen. Indigene Dokumentarfilme sind zum einen wichtige Instrumente, um von einem weißen Publikum mehr Aufmerksamkeit für ihre politische Agenda zu bekommen: zum einen, um gegen die Invasion ihrer Territorien zu kämpfen (Zawxiperkwer Ka‘a/Hüter des Waldes, Joyce Guajajara und Milson Guajajara, 2019), den zeitgenössischen Völkermord anzuprangern (Nũhũ Yãgmũ Yõg Hãm/Dieses Land gehört uns, Isael und Sueli Maxakali, 2020; Tava, a casa de pedra/Tava, das Steinhaus, Vincent Carelli, Patricia Ferrreira Keretxu, Ariel Duarte Ortega und Ernesto Ignacio de Carvalho, 2012), und, zum anderen, um ihre Kultur zu bewahren (As hiper mulheres/Die Hyperfrauen, 2011; Karai ha‘egui kunhã karai ‚ete/Die wahren spirituellen Führer, Alberto Alvares, 2013; Bimi Shu Ikaya/Bimi mit der Kraft des Atems, Saka Huni Kuin, Siã Huni Kuin, Zezinho Yube, 2018; Yãmiyhex?/Die Geisterfrauen, Isael e Sueli Maxakali, 2020). Die Regisseur:innen-Kollektive verwenden unterschiedliche Strategien, um ihre Anliegen zum Ausdruck zu bringen. Dies geschieht in der Regel auf sehr einnehmende, hauptsächlich beobachtende, aber auch poetische Weise, was aus dem langsamen Tempo und den langen Einstellungen resultiert, die tiefe, sensible Einblicke in die jeweiligen Weltanschauungen ermöglicht. Was in diesen Filmen am meisten auffällt, ist der Gegensatz zu den inszenierten und übertriebenen Blackface-Darstellungen des brasilianischen nationalen Films. Diese begannen mit dem Stummfilm und werden nun endlich mit dreidimensionalen Menschen konfrontiert. Die zeitgenössischen indigenen Filme zeigen in sehr ruhiger Art und Weise die verschiedenen Traditionen und die grausame und gewalttätige Realität der ständigen Attentate, Morde und Invasionen ihrer demarkierten Länder.

Zum Autor in der Literaturwissenschaft Die Autorenschaft wurde sehr schnell in der Filmwissenschaft dekonstruiert, fast zeitgleich mit ihrer Entstehung. Dies geschah in den 1970er-Jahren als sie, angeregt durch die Literaturwissenschaft und als Ergebnis feministischer Filmkritik und -theorie in ihrer ideologischen Dimension ausgewiesen wurde. Wir haben gesehen, dass – dem Vorbild

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von Plinius dem Älteren, Vasari und dem deutschen Idealismus folgend – es für die Anerkennung des Filmmediums und die Schaffung eines ersten Kanons obligatorisch war, Film mit Literatur und Filmemacher:innen mit literarischen Autor:innen gleichzusetzen, sowohl in Europa als auch in Lateinamerika. In der Literaturwissenschaft wurde die Idee der Autorschaft schon wesentlich früher hinterfragt. In den 1930er-Jahren führte der russische Forscher Michail Bachtin (1895– 1975) Studien über Fjodor Dostojewskis (1821–1881) Romane durch. Mit Hilfe des Konzepts des Dialogismus entwickelte Bachtin (1981) eine neue und angesichts der überwältigenden Zentralität der Künstlerfigur geradezu revolutionäre Theorie für den Roman, die das Rätsel seiner Entstehung auf neue Weise zu lösen suchte. Der Dialogismus entfaltete sich dann in der Idee der Intertextualität, einem von der rumänischen Sprachwissenschaftlerin Julia Kristeva in den 1970er und 1980er-Jahren ausgearbeiteten Begriff, der die Rolle der Autor:innen weiter zu relativieren suchte, indem er sich auf die Produktion des Textes konzentrierte, der nun als Produkt seiner Beziehung zu anderen Texten und der Struktur der Sprache im Allgemeinen definiert wurde. Dem brasilianischen Literaturwissenschaftler Paulo Bezerra (2013, S. xii-xiii) zufolge ging Kristeva (1972) mit ihrem Wunsch, den Autorenbegriff vollständig abzuschaffen, zu weit. Dies sei nicht Bachtins Idee gewesen, der sich nicht nur für die Autor-, sondern vor allem für die Leserschaft interessiert habe. Autor:innen sah er als Orchestrator:innen verschiedener Stimmen im Text  – sowohl der Figuren als auch früherer Autor:innen, mit deren Texten die Schriftsteller:innen komplexe Beziehungen eingingen. Tatsächlich interessierte sich Bachtin für die Grenzen zwischen diesen beiden Bewusstseinsformen – der Figur und den Autor:innen –, während Kristeva, indem sie die Idee der Stimme der Autor:innen durch die des Textes ersetzte, diese auf null reduzierte. Bachtins Theorie war wesentlich differenzierter. Unter dem neuen Prisma des Dialogismus wurden literarische Werke nicht mehr als monolithisch, sondern als hybrid betrachtet, da sie mit früheren Werken kommunizierten, wodurch spätere Texte zu Antworten auf frühere wurden. Bachtin benutzte Dostojewskis Romane als Beispiel für diese Polyvokalität. Die neue Theorie zielte darauf ab, literarische Texte nicht nur dynamischer und offener, sondern auch als einen ständigen Dialog zu definieren. Dies implizierte eine neue Rolle für die Leser:innen und ihre Fähigkeit, Übersetzer und Dolmetscher zu sein, eine Idee, die später von Rancière aufgenommen wurde. Während Dialogismus und Intertextualität die vorherrschende Rolle von Autor:innen infrage stellen, waren es Roland Barthes (1915–1980) in seinem Text „Der Tod des Autors“ von 1967 und Michel Foucault in „Was ist ein Autor?“ von 1969, die die Vorstellung der Kontrolle der Schriftsteller:innen über ihre Werke weiter abschwächten. Sie erklärten entweder den Autor für tot (Barthes, 2000) oder lediglich zu einer Funktion (Foucault, 2003). Diese Theorien waren bereits einige Jahre zuvor in Texten vorbereitet worden, die eine größere Freiheit oder Emanzipation der Leser:innen und Betrachter:innen forderten. Diese Texte argumentierten, dass zeitgenössische Kunst eine größere Offenheit habe, d. h. keine geschlossene Lesart vorgäben. Ein Gedanke der hinsichtlich der immer schon emanzipierten Betrachter:innen wenig Sinn macht, aber eben eine wichtige Rolle in der Öffnung begrenzter Lesarten spielte. Umberto Eco (2016) behauptete in Das offene Werk, das ursprünglich 1962 veröffentlicht wurde, dass Kunstwerke uneigennützig seien und daher Betrachter:innen oder

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Leser:innen ein größeres Interpretationspotenzial böten, als es die Kritik zuließe. Auch Susan Sontag (1994) rechnete in ihrem 1966 erschienenen Werk Gegen Interpretation mit den Kritiker:innen ab. Sie erklärte deren Studien zu intellektuellen und sogar destruktiven Racheakten an Kunst. Der Autorin zufolge war die Hermeneutik, die Exegese von Texten und Kunst, nichts anderes als eine komplizierte Lektüre, die Leser:innen ihre Intelligenz abspräche. Sontag diagnostizierte zwei Aspekte der zeitgenössischen Kritik: die formale Analyse – in der Tradition von Wölfflin – und die inhaltliche Analyse – in der Tradition von Erwin Panofsky. Die Sontagsche Unzufriedenheit bezog sich besonders auf die Fokussierung auf das Intelligible in der Kunstinterpretation, die ihrer Meinung nach das Studium des Sensiblen ersetzt hatte. Am Ende ihres berühmten Buches forderte sie deshalb eine Erotisierung der Kritik. Sie setzte damit erneut den Wunsch auf die Tagesordnung, Kunst jenseits intelligibler Interpretationen zu betrachten. Das war an sich nichts Neues, denn wir sind dieser Bemängelung schon bei Nietzsche begegnet. Kehren wir zurück zur Frage der Autor:innen und ihrem Tod und der darauf folgenden Geburt der Leser:innen als einer Revolte gegen die Entthronung der Kunst durch Philosophie und Humanwissenschaften. Die Todeserklärung dieses Schlüsselkonzepts sollte die Verherrlichung der Künstler:innen als Genies demontieren. Denn das Konzept war, wie Agamben sagt, in der Tat ein zweischneidiges Schwert: Während die Idee des Genies den sozialen Status der Künstler:innen erhöhte, steigerte sie auch die Gefahr ihrer Existenz als Kontrapunkt zur passiven Betrachtung der Kunst. Barthes (2000, S. 186) verwies darauf, dass der Autor eine moderne Figur sei, die es in traditionellen Kulturen, die Erzähler oder Vermittler haben, so gar nicht gäbe. Den Autor:innen ihre vermeintlich transzendentale Aura abzusprechen, bedeutete nicht mehr und nicht weniger als von nun an das Schreiben als Umschreiben oder Mitschreiben – wie in den erwähnten traditionellen Kulturen, vor allem den oralen – zu sehen. Das Studium der Autor:innen und ihres Stils könnte so schließlich durch das Studium ihrer Werke ersetzt werden. In westlichen Gesellschaften hätte dies das positive Resultat, Sündenböcke der Gesellschaft zu sein. Obwohl wir bereits auf die Idee gestoßen sind, dass die Moderne als Nachahmung der Nachahmung gesehen werden kann, wie Greenberg sagte, nahm Barthes in seiner Bemängelung der Literaturtheorie nicht so sehr die Autor:innen in den Blick – obwohl er sie für tot erklärte –, sondern die Grenzen der normalen Wissenschaft. Die Literaturwissenschaft hätte zu einem verkehrten Blick geführt: Unsere heutige Kultur beschränkt die Literatur tyrannisch auf den Autor, auf seine Person, seine Geschichte, seinen Geschmack, seine Leidenschaften. Noch immer sehen die Kritiker im Werk von Baudelaire nichts als das Versagen des Menschen Baudelaire, im Werk von van Gogh nichts als dessen Verrücktheit, im Werk von Tschaikowski nichts als dessen Laster. Die Erklärung eines Werkes wird stets bei seinem Urheber gesucht – als ob sich hinter der mehr oder weniger durchsichtigen Allegorie der Fiktion letztlich immer die Stimme ein und derselben Person verberge, die des Autors, der Vertraulichkeiten preisgibt. (Barthes, 2000, S. 186)

Foucault (2003) war seinerseits weniger als Barthes mit disziplinärem Denken befasst, sondern versuchte stattdessen die Ränder des Buches zu öffnen, als er feststellte, dass

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Autor:innen lediglich eine Konstruktion seien. Seine Diskurskritik zielt darauf ab, Autor:innen als Konstruktion zu entlarven. Sie ermöglicht, deren Funktion zu untersuchen und nicht mehr die Person und ihren Stil. Foucault entlehnte die Idee, dass es nicht darauf ankäme, wer spricht, dem irischen Dramatiker Samuel Beckett (1906–1989) und bemerkte, wie schon Eco vor ihm, dass es die zeitgenössische Literatur sei, die sich von der Idee der Autorschaft befreit hätte. Wenn wir uns aber daran erinnern, was Foucault über Don Quijote geschrieben hat, war dies weder eine neue Entdeckung noch auf die zeitgenössische Literatur beschränkt. Um noch einmal an die Stärke des Paradigmas der Stilepoche sowie des Autorenstils in der Literaturwissenschaft zu erinnern, zitiere ich den deutschen Gelehrten Erich Auerbach (1921, S. 17), der 1921 in seiner Studie über den Renaissance-Roman erklärte, dass „von jedem Kunstwerk gesagt werden kann, dass es im Wesentlichen durch drei Faktoren bestimmt wird: die Epoche seiner Entstehung, seinen Ort und die Einzigartigkeit seines Schöpfers.“ Man sollte die Wirkung früherer Studien wie dieser nicht übersehen. Aber Ende der 1960er-Jahre waren Autor:innen und Künstler:innen als Hauptbezugspunkt für formale Studien des Stils diskreditiert. Wenn wir uns die heutigen akademischen Disziplinen und Veröffentlichungen ansehen, können wir jedoch deutlich erkennen, dass es sich immer noch um das wichtigste Paradigma der Kunstwissenschaften handelt. Die Ideen Bachtins, Barthes und Foucaults haben sich nicht wirklich durchgesetzt. Auch andere Methoden, wie ikonografische und ikonologische Studien der bildenden Kunst, die ich jetzt vorstellen werde, konnten dem Stilepochenparadigma, dem Künstlerstil und der Autorschaft nicht wirklich den Rang ablaufen.

Zur Inter- und Multidisziplinarität Bevor wir uns mit inter- und multidisziplinären Methoden befassen, sei darauf hingewiesen, dass es in der Kunstgeschichte schon sehr früh Versuche gegeben hat, die normale Wissenschaft infrage zu stellen. An der Universität Wien arbeitete beispielsweise in den 1920er und 1930er-Jahren eine Gruppe von Gelehrten, die heute als „Wiener Schule“ bekannt ist. Auch wenn der Name umstritten ist, führten die Wiener Gelehrten dieser Zeit tatsächlich interdisziplinäre und multidisziplinäre Ansätze mithilfe eines vielfältigen Methodenspektrums aus Philosophie, Theologie, Anthropologie, Literaturwissenschaft, Soziologie und Marxismus ein. Auch das Verhältnis von Praxis und Theorie war präsent, da viele der Wissenschaftler:innen neben ihrer Lehrtätigkeit auch als Konservatoren und Archivare tätig waren. Diese neuen und vielfältigen Methoden konnten sich jedoch nicht entfalten, da sie, wie erwähnt, durch den deutschen Faschismus unterbrochen wurden, der viele der Forscher ins Exil trieb. Eine gewisse methodologische Erneuerung fand zur gleichen Zeit in Deutschland statt, und zwar in Hamburg. Der deutsche Kunsthistoriker Aby Warburg, Sohn eines wohlhabenden jüdischen Bankiers und finanziell unabhängig, war ein wichtiger Mentor dieses Prozesses, auch indem er 1886 eine einflussreiche Bibliothek gründete. Zu dieser Zeit war Erwin Panofsky ein junger Professor an der Universität Hamburg, der ebenfalls an einer methodologischen Erweiterung des Kunstgeschichtsstudiums interessiert war. Beide werden heute mit der Ikonologie in Verbindung gebracht, einer Methode, deren

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Ziel es ist, Bilder auf vergleichende und transhistorische Weise zu untersuchen und dabei die Erkenntnisse anderer Disziplinen zu berücksichtigen. Heute ist der Name Erwin Panofsky fast ein Synonym für die Systematisierung der Ikonografie, während Aby Warburg als Vater der Bildwissenschaft verehrt wird. Warburgs Absicht war es, die Kunstgeschichte in eine neue Disziplin, die Kulturgeschichte, zu verwandeln. Er wurde sowohl von Nietzsche als auch von Freud stark beeinflusst, was ihn dazu brachte, in Bildern mehr als nur Kunst zu sehen. Sein Beitrag zur Kunstwissenschaft bestand darin, dass er sie als Dokumente anerkannte, die die Fähigkeit hätten, die „historische Psychologie des menschlichen Ausdrucks“ (Warburg, 2010, S. 396) zu enthüllen. Wie wir noch sehen werden, misstraute Warburg ebenso wie Rancière den von den Wissensdisziplinen gezogenen Grenzen. Angesichts des Kurses, den die Kunstgeschichte während des europäischen Faschismus in den 1930er und 1940er-Jahren einschlug, geriet sein kritischer Ansatz jedoch für eine Weile in Vergessenheit, bis er in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Kontext der Bildwissenschaft wieder stärker in den Vordergrund rückte. Nach Warburgs Tod und aufgrund der Verfolgung durch die Nazis wurde seine Bibliothek als Warburg Institut nach London verlegt, wo Fritz Saxl, ein jüdischer Kunsthistoriker aus Wien, ihr erster Direktor war. Sowohl Saxl als auch Panofsky, der in die USA emigrieren musste, wo er Professor an der New York University und der Princeton University wurde, waren stark von der Warburgschen Wissenschaft beeinflusst. Im Folgenden werde ich zunächst die Ikonografie und Ikonologie in Panofskys Definition und Systematisierung erläutern und dann Warburgs Methode vorstellen, wobei ich die Chronologie aus Gründen der Übersichtlichkeit umkehre. Obgleich sie versuchten, die Kunstgeschichte aus ihren engen Grenzen des Stilparadigmas zu befreien, waren beide Wissenschaftler doch letztlich wenig erfolgreich im Hinblick auf die Entwicklung einer universell gültigen Kunstwissenschaft, die außereuropäische Kulturen miteinschließen könnte.

Zur Ikonologie und Ikonografie Otto Pächt (1986, S. 246) schlug 1977 vor, dass die Ikonografie aus denselben Gründen entstanden sei, aus denen wir die Künste studieren: aus dem Bewusstsein heraus, dass wir den „Schlüssel“ zum Verständnis der Kunst verloren haben, insbesondere im Hinblick auf europäische religiöse Werke. Hier erkennen wir schon den Grund, warum sie für nichthegemonische Kunst keinen Sinn hat. Denn um diesen Gedanken zu veranschaulichen, zitierte Pächt eine berühmte Anekdote von Panofsky, die dies veranschaulicht. Die Anekdote reflektiert über die Konfrontation eines australischen Ureinwohners mit Leonardo da Vincis Abendmahl (1495–1498). Ohne die Evangelien und den religiösen Kontext zu kennen, würde sich die Bedeutung des Freskos auf ein gemeinsames Essen beschränken. Ikonografie besteht also darin, den Kontext eines Bildes wiederherzustellen: „Wir brauchen Ikonografie zur Reaktivierung des in dem betreffenden historischen Moment spontan Gewussten“. (Pächt, 1986, S. 246) Ich erinnere erneut, dass orale Tradition dieses Wissen nur verliert, wenn sie unterdrückt oder verfolgt wird. Nicht zufällig zog Panofsky Ureinwohner heran. Obgleich er auf deren Mangel an Wissen über Europa verweist, ist dies ein Paradox, da sie dies gar nicht wollen, da sie ihr eigenes haben und die Ikonografie

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für sie gänzlich überflüssig ist, da sie den Schlüssel immer oral überliefern. Erneut sehen wir wie das europäische Selbstverständnis – die Notwendigkeit, die eigene Kultur zu entschlüsseln – über Andere bestimmt wird. Ganz allgemein umfasst die ikonografische Methode das Studium und die Beschreibung von figürlichen Darstellungen, seien sie individuell oder symbolisch, religiös oder weltlich. Nach Pächt (1986, S. 246) zielte die Einführung der Ikonografie im 18. Jahrhundert in erster Linie auf das Studium von Grafiken und die Klassifizierung christlicher Bilder und Symbole ab. Im 19. Jahrhundert wurde die Methode dann auf die unterschiedlichsten ikonografischen Traditionen, die die Europäer nicht kannten, erweitert – von ägyptischen Gottheiten und römischen Kaiserporträts bis hin zur christlichen, buddhistischen und hinduistischen Ikonografie oder anderen Kosmologien und Religionen, jedoch nicht ihre Epistemologien betreffend, sondern in einem allgemeineren Sinn. Denn der Ikonologie wurde zumeist die Rolle der Erläuterung zugewiesen. Andererseits stellt sie zumindest einen Dialog zwischen den unterschiedlichen Kulturen her, der in der Anthropologie, wie wir in den Kommentaren Mudimbes gesehen haben, nicht vorkam. Zwar wollte man sich auch stilistische Kenntnisse aneignen, doch ging es vor allem um die Texte, auf die in den Bildern Bezug genommen wurde. Erwin Panofsky (1978) organisierte seine systematische und damit scheinbar wissenschaftliche ikonografische Methode in drei Schritten: 1. Die vor-ikonografische Studie (der formalen wölfflinschen Analyse entsprechend); 2. die ikonografische Studie (eine Analyse der textlichen und anderer Einflüsse auf das Bild); und 3. Die ikonologische Studie. In Bezug auf das Beispiel der Ureinwohner würde der letzte ikonologische Schritt den symbolischen Wert der dreizehn Männer offenbaren, die gerade zu Abend essen. Mit anderen Worten, zur ikonografischen Studie – dem Inhalt des Bildes – kommen mehrere andere Analysemethoden aus den unterschiedlichsten Disziplinen hinzu, um durch eine Synthese ihrer Ergebnisse eine umfangreiche Interpretation zu ermöglichen. Ich werde nun die einzelnen Schritte genauer erläutern. Der erste Interpretationsschritt wird als das primäre oder natürliche Thema bezeichnet. Er ermöglicht zu verstehen, unter welchen historischen Umständen bestimmte Objekte und Ereignisse in bestimmten Formen zum Ausdruck gebracht wurden. Dies führt zu einer Geschichte der Stile. Mit anderen Worten, die Grundlage der Ikonologie ist das wichtigste Paradigma der Kunstgeschichte, der Epochenstil. Um diesen ersten Schritt zu demonstrieren, habe ich zwei Bilder ausgewählt, die das Thema Hölle darstellen. Eines ist anonym, undatiert und stammt aus Tibet, einem buddhistischen asiatischen Land. Hier geht es offensichtlich um keine Autorschaft und um keine Fixierung in der Zeit. Das Dargestellte ist zeitlos und ein Wissen, von dem es unwichtig ist, wer es weitergibt. Das andere ist ein deutsches Beispiel von Hans Memling aus dem Jahr 1485, das Teil des Triptychon der irdischen Eitelkeit und göttliches Heil ist. Das Erste ist etwas abstrakter – was sich in den ornamentalen Flammen und den weniger detaillierten Körpern zeigt. Das Zweite ist naturalistischer, mit immer noch ornamentalen, aber detaillierteren Flammen und einer Hölle, die symbolisch durch das Maul eines großen Ungeheuers dargestellt ist. Das spielt aber letztlich keine Rolle. Die Bilder geben Wissen weiter und dafür gibt es unterschiedliche formale Lösungen. Ihre Epistemologie ist jedoch verschieden: In Tibet retten sich die Menschen selbst vor den Flammen, während in Deutschland die Menschen überwacht von einem dämonischen Wesen verbrannt

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Abb. 90: Links – Hölle, Tibet, anonym, nicht datiert, Öl auf Leinwand, Rubin Museum of Art, New York; rechts – Hölle vom Triptychon der irdischen Eitelkeit und göttliches Heil, Hans Memling, 1485, Öl auf Leinwand, Musée des Beaux-Arts, Straßburg

werden. Wir sehen, dass die Form keine Antwort gibt, eine genaue Betrachtung des Dargestellten aber auf unterschiedliche Konzeptionen der Hölle verweist. Der zweite Schritt in Panofskys Methode ist das sekundäre oder konventionelle Objekt. Er besteht aus der ikonografischen Analyse, bei der die literarischen Quellen konsultiert werden, um sich mit den im Bild dargestellten Themen und Weltanschauungen vertraut zu machen. Aus diesem Interpretationsschritt ergibt sich eine Typengeschichte, die es ermöglicht, zu verstehen, unter welchen historischen Bedingungen bestimmte Themen und Vorstellungen entstanden sind. Im Falle von Memlings Bild kann man die biblische Stelle konsultieren, nämlich Jesaja 5,14 im Neuen Testament: „Darum hat das Totenreich den Schlund weit aufgesperrt und den Rachen aufgetan ohne Maß, dass hinunterfährt, was da prangt und lärmt, alle Übermütigen und Fröhlichen.“ Wenn man den Text kennt, der das Bild eines Rachens beinhaltet, in dem verschiedene Sünder verschlungen werden, kann man erkennen, dass der Maler der Bibel treu geblieben ist, sich aber auch Freiheiten genommen hat. Denn der Künstler stellt die Hölle als ein Ungeheuer dar, das sich aus Elementen verschiedener Tiere zusammensetzt. Außerdem gibt es einen Teufel mit Fledermausflügeln und einem Gesicht auf seinem Bauch. Und die Sünder sind ein Mönch mit einer Tonsur, eine Frau und ein Mann, die beide nackt sind. Inhaltlich geht es um die Idee der Sünde.

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Auf dem tibetischen Bild sehen wir hingegen keinen Teufel und keine Sünder im westlichen Sinne. Die Konzeption der Hölle entspricht der Beschreibung im Dīghghama, den von Buddha autorisierten Schriften. Im Buddhismus stellt man sich die Unterwelt, Naraka, von der es mehrere gibt, als einen Ort vor, an dem wir geboren werden und an dem wir für eine bestimmte Zeit bleiben, bevor wir wieder in den Zyklus der Reinkarnationen zurückgehen. Im Falle des Bildes ist die Unterwelt ein Feuer, vor dem sich die Menschen in eine Kiste retten. Feuer hat viele Bedeutungen: Wissen, Reinigung, Zerstörung. Wir sehen, dass die Menschen das Feuer scheuen. Warum? Um das zu beantworten, müssten wir die buddhistische Epistemologie besser kennen, vor allem die Idee der Reinkarnation. Den Buddhisten ist der Inhalt aber vertraut, weshalb sie nicht das Bild studieren müssen. Sie sehen es und verstehen seinen Inhalt. Panofskys dritter Interpretationsschritt befasst sich schließlich mit der Bedeutung oder dem Inhalt, der an der Konstitution einer Welt mit symbolischen Werten beteiligt ist. Es handelt sich um den letzten und ikonologischen Schritt, der alle Aspekte umfasst, die an der Verwirklichung des untersuchten Bildes beteiligt waren: Nation oder Ort, Epoche oder Zeitraum, religiöse und philosophische Weltanschauungen etc. Die Analyse dieser Elemente ermöglicht es, ein Kunstwerk als Teil einer Kultur zu interpretieren. Es ist der komplexeste Schritt, da er mehrere Forschungsphasen umfasst, die sich auf mehrere Disziplinen stützen. Er zeigt auf, wie bestimmte Themen und spezifische Kosmologien unter wechselnden Bedingungen zum Ausdruck kommen und liefert so eine Geschichte der kulturellen Symptome oder allgemeinen Symbole. Die Interpretationsleistung der Ikonologie besteht folglich in einer synthetischen Deutung. Die endgültige Schlussfolgerung ist zum Teil das Ergebnis der Vertrautheit mit bestimmten Weltsichten und Ausdrucksformen, weshalb Panofsky bemerkt, dass es sich um einen Schritt handelt, der sich auch der Intuition bedient. Im Fall unserer Beispiele würde ein westlicher Gelehrter nun die Darstellung der Hölle in Tibet verstehen. Kurios zu bedenken, dass der Westen seine eigene christliche Grundlage nicht mehr genug kennt und sie deshalb studieren muss, um sie wieder zu verstehen. Obwohl die komplexe Herangehensweise mittels einer dreistufigen Studie, bei der jeder Schritt den anderen ergänzt, über die Enge der wölfflinschen Formanalyse hinausgeht, sei an die Vorbehalte von Otto Pächt gegenüber Panofskys Vorschlag erinnert. Er sah in der ausschließlichen und ausschließenden Beschäftigung mit der christlichen Kunst die größte Limitation der Methode, die zu einer Überbewertung der Schrift und der westlichen Kultur führe. Alles werde auf Textzitate reduziert: Daraus bildet sich dann stillschweigend die Gewohnheit heraus, dies, die Jagd nach dem Textzitat, als das Wesen aller Ikonografie und Ikonologie anzusehen. (…) Mit einem Wort, man ist a priori überzeugt, dass die bildende Kunst niemals etwas selbst erfindet. (Pächt, 1986, S. 248–249)

Aus diesem Grund würden auch viele Künste nicht berücksichtigt werden, darunter kurioserweise auch die griechische Kunst. Pächt warnte davor, dass die Ikonologie die Gefahr berge, zu der falschen Schlussfolgerung zu führen, dass Bilder immer auf Texten beruhten, deren Semantik man verstehen müsse, um Zugang zu ihnen zu erhalten. Die Methode suggeriere, dass die Kunst vollständig von der Schrift abhängig sei, wobei der

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visuelle Aspekt zugunsten einer übertriebenen Bewertung der Gelehrsamkeit und einer Intellektualisierung des Kunstwerks heruntergespielt und unterschätzt würde. Kunst werde darauf reduziert, nur durch Texte verstanden werden zu können. Infolgedessen würden alle unbewussten – man könnte auch sagen, die nichtsichtbaren – Aspekte nicht berücksichtigt. Es liegt auf der Hand, dass die Methode zwar multidisziplinär ist, aber eine Rückkehr zur Autorisierung des Sensiblen durch das Intelligible sowie eine hierarchische Überhöhung des Sagbaren über das Sichtbare darstellt. Die altniederländische Malerei, 1953 veröffentlicht, ist Panofskys (2001) berühmtestes Buch. Er argumentierte darin für eine Entwicklungsgeschichte der Kunst, deren Abschluss die Eroberung der Raumdarstellung sei, die er als das Hauptproblem der Malerei in der Neuzeit begreift. Das Buch, das großen Einfluss hatte, entwickelte seine These anhand eines enzyklopädischen Studiums von Texten von der Antike bis zur Renaissance. Da Panofsky keinen direkten Zugang zu den historischen Quellen der von ihm untersuchten Kunstwerke hatte, wurde das Buch auch scharf kritisiert. Martin Davies (apud Nash, 2015, S. 166) stellte etwa fest, dass der Autor viel mehr über Ikonografie als über historische Aspekte wisse. Otto Pächt (apud Nash, 2013, S. 155) beklagte wiederum, dass die Untersuchung der komplexen symbolischen Systeme in Jan van Eycks (1390–1441) Gemälden rein enzyklopädisch wären und deshalb unverändert „in ein Nachschlagwerk wie das Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte“ hätten übernommen werden können. Andere Autoren kritisierten die interpretatorischen Exzesse, die das Buch zu einer „Einladung für übermotivierte Ikonologen“ (Held apud Nash 2013, S. 171) mache. Panofskys Schlüsselkonzept des „verkleideten Symbolismus“ (Nash, 2015, S. 154) in Bezug auf die niederländische Kunst hielt der Zeit nicht stand und wurde später durch Studien zur Kultur des Blicks, etwa von Svetlana Alpers (1983), oder durch sozialgeschichtlich inspirierte Untersuchungen sowie durch Wirtschafts- und Kulturstudien der Zeit ersetzt (Nash, 2015, S. 175). Susie Nash (2015, S. 173) stellte hingegen fest, Panofsky sei in seinem Buch „einer Fusion der wölfflinschen Formanalyse mit der Warburgschen Ikonografie nahegekommen“. Sie beobachtete auch, dass die Bedeutung der Künstler:innen der vasarischen Tradition und ihrem biografischen Impetus treu bliebe. Auch hebt sie hervor, wie die teleologische Erzählung „vom Fortschreiten des Naturalismus und der ‚Eroberung’ des Raumes“ (apud Nash, 2015, S. 174) wiederholt wurde. Ich möchte daran erinnern, dass David Hockney (2001, S. 2016) gezeigt hat, dass die Beherrschung des Raums aus der Verwendung der Camera obscura und anderer optischer Werkzeuge resultierte. Angesichts der vielen Kritiken ist es nicht verwunderlich, dass Jan Bialostocki (1987, S. 59–60) meinte, es habe nie einen wirklichen Bruch zwischen Ikonografie und wölfflinscher Stilanalyse gegeben. Der Autor sah jedoch als Verdienst der Methode deren ideengeschichtlichen Ansatz. Auch Felix Thürlemann (1990) stellte fest, dass der Einfluss der Semiotik in der Kunstwissenschaft – die aus der Linguistik kam und sich zuerst in der Literaturwissenschaft manifestierte – es nicht schaffte, einen Unterschied zwischen Stilanalyse und Ikonografie zu etablieren.

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Zur Kunstgeschichte als Kulturwissenschaft Werfen wir nun einen Blick auf Aby Warburgs kulturgeschichtliches Projekt, das versuchte, den menschlichen künstlerischen Ausdruck im Rahmen einer historischen Psychologie neu zu denken. Dabei ist anzumerken, dass dies durch den Faschismus erst Jahrzehnte später und auch nur teilweise in den zeitgenössischen Bild- oder Visuellen Studien erreicht wurde. Warburg erlangte, wie ich schon sagte, innerhalb des patriarchalischen akademischen Systems eine fast mythische Aura. In dem Versuch, einen Ursprungsmythos zu etablieren, wird er als Vater der ikonischen Wende und Wegbereiter für das Bildstudium betrachtet. Ich werde zeigen, dass er nicht der Begründer eines neuen Paradigmas war, sondern ein Forscher, der versuchte, die Grenzen seiner Disziplin zu erweitern. Warburgs (2010) Interesse für die Ikonografie der Antike und ihre Entfaltung in der Renaissance führe ihn zu einem Bruch mit der Methodik des evolutionären und teleologischen Narrativs oder der formalen Analyse. Dies zeigte sich bereits in seiner 1891 vorgelegten Dissertation, die sich mit zwei Gemälden von Sandro Botticeli (1445–1510) befasste, Die Geburt der Venus und Der Frühling. Durch den Vergleich der beiden Bilder versuchte Warburg die folgende Frage zu beantworten: Warum interessierten sich die Künstler der Renaissance, insbesondere des Quattrocento, für die Antike? Sein Anliegen war es, den ästhetischen Akt und seine Motivation als stilbildend zu verstehen, anstatt ihn nur zu bestätigen oder zu beschreiben. Warburg führte eine detaillierte ikonografische Studie durch, zu der er sowohl textliche als auch bildliche Quellen heranzog. Als Resultat erklärte er Botticellis Faszination mit antiker Kunst mit deren Fähigkeit, in den Bildern das „bewegte Leben“ (Warburg, 2010, S. 107) festzuhalten. Warburg erkannte, dass Botticelli nicht nur die Antike nachahmte, sondern auch seine eigene Individualität ausdrückte, womit er über die Stilgeschichte (die formale Analyse) und die Typengeschichte (die ikonografische Analyse) hinausging. Die ikonologische Schlussfolgerung Warburgs war, dass Botticelli ein Gleichgewicht zwischen Innovation und Zugeständnissen an den alten Stil erzielte. Die Wertschätzung einer Balance, die wir schon von Hegel und Nietzsche kennen, ist hier wiederzufinden.

Abb. 91: Links – Der Frühling, Sandro Botticelli, 1480, Tempera auf Holz; rechts – Die Geburt der Venus, Sandro Botticelli, 1486, beide Gallerie degli Uffizi, Florenz

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Aber auch der Dialog mit früheren Werken, wie Bachtin sie für die Literatur etwa zur selben Zeit beobachtete. Mit der Interpretation der Bewegung in der Kunst der Renaissance als einem Mittelweg zwischen Individualität und Einfluss der Antike kehrte Warburg zwei vasarianische Ideen um. Zum einen, die Idee einer historischen Evolution, da Warburg davon ausging, dass im 15. Jahrhundert die Formensprache der Antike mit Selbstbeobachtung verbunden wurde, während man im 16. Jahrhundert bereits erwartete, dass die Kunst vor allem in antiker Manier gehalten werde. Warburg vertrat deshalb die Auffassung, dass es im Quattrocento eine größere Freiheit des Ausdrucks gab als im folgenden, was die Idee einer Stilentwicklung umkehrte. Zum anderen entwickelte Warburg die Idee des Künstlergenies weiter. Obwohl er sich nicht von ihr löste, erkannte er doch, dass Künstler:innen sich bereits etablierten Formen bedienten, sie entweder überschritten oder integrierten. Diesem Dialogismus würde er später mit den Begriffen Nachleben und Mnemosine weiter ausarbeiten. Warburg verfolgt immer zwei Ziele: das Verständnis der Kunst über die Jahrhunderte und die methodologische Veränderung der Disziplin. Wir können beides in seinen folgenden Texten beobachten. Warburg befasste sich erneut mit dem Verhältnis der Künstler:innen der Renaissance zur Antike, zunächst 1912 in einer Untersuchung der Astrologie der Fresken im Palazzo Schifanoia in Ferrara, Italien, und dann 1920 anhand von deutschen Texten und Bildern aus der Zeit Luthers. Dem Gedankengut des Idealismus folgend, sah er die Astrologie als großen Widersacher des emanzipatorischen Willens der Kunst und ihrer Schöpfungen an. In der Studie der Fresken wollte Warburg (2010, S. 396) außerdem eine multidisziplinäre Methodologie entwickeln, um sich „ein Plaidoyer [zu] erlauben zugunsten einer Erweiterung der methodischen Grenzerweiterung unserer Kunstwissenschaft, sowohl in stofflicher und räumlicher Beziehung“. Denn die Kunstgeschichte hatte bisher nur als eine Version der Weltgeschichte fungiert: „Tastend sucht sie zwischen den Schematismen der politischen Geschichte und den Doktrinen vom Genie ihre eigene Etnwicklungslehre zu finden.“ (Warburg, 2010, S. 396) In seinem Text über „Die heidnische Altertums Prophetie in Wort und Bild im Zeitalter Luthers“ formulierte Warburg seinen multidisziplinären Ansatz: Mögen die Kunstgeschichte und die Religionswissenschaft, zwischen denen noch phraseologisch überwuchertes Ödland liegt, in klaren und gelehrten Köpfen, denen mehr zu leisten vergönnt sein möge, als dem Verfasser, im Laboratorium kulturwissenschaftlicher Bildgeschichte an einem gemeinsamen Arbeitstisch zusammenfinden. (Warburg, 2010, S. 485)

Die Neubewertung der Kunstwerke der Renaissance verfolgte die Absicht, die Spannungen der damaligen Zeit zu erfassen. Warburg beschrieb zwei unmittelbare Ergebnisse seines ikonologischen Ansatzes. Zum einen sah er Worte und Bilder als Grundlage einer Methode, die „sich um die Aufhellung einer einzelnen Dunkelheit bemüht, die großen allgemeinen Entwicklungsvorgänge in ihrem Zusammenhänge“ zu beleuchten (Warburg, 2010, S. 396). Zum anderen stellte er eine Verbindungen zwischen den verschiedenen Epochen her, was das Stilepochenparadigma und Hierarchien zwischen hoher und niedriger

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Kunst erschütterte, da Warburg sich von keiner „grenzpolizeiliche[n] Befangenheit“ abschrecken ließ, „Antike, Mittelalter und Neuzeit als zusammenhängende Epoche anzusehen, noch davon, die Werke freiester und angewandester Kunst als gleichberechtigte Dokumente des Ausdrucks zu befragen“ (Warburg, 2010, S. 396). Warburg war sich bewusst, dass die Methodologie, um diese Verbindungen und Spannungen zu untersuchen, im Rancierschen Sinne indisziplinär sein mussten, weil dies mehrere Wissensbereiche beanspruchte, deren Grenzen untersucht und aufgehoben werden sollten. Warburg hatte zwar ein Interesse am Stil, aber er wollte die Gründe für die stilistischen Umwälzungen in den Darstellungen selbst verstehen. Der Stil war für ihn nicht mehr und nicht weniger als ein Teil eines viel größeren Prozesses, der von der europäischen Menschheit unternommen wurde und seiner Meinung nach als teleologischer Endpunkt ihre Emanzipation als Ziel hatte. Er glaubte, dass dieser Wille zur Emanzipation gesellschaftlich und universell sei und in der Kunst seinen Ausdruck fände. Während die Philosophie (Platon, Kant, Hegel, Schelling) glaubte, Kunst sei nur ein Weg zur Freiheit, sah Warburg sie als Ausdruck dieser Suche nach Freiheit an. Diese Suche nach Emanzipation in den Bildern war Warburgs Methode, nicht nur das Paradigma Stilepoche zu ändern, sondern die Wissenschaft insgesamt diesem Ziel unterzuordnen. Er sah deutlich, dass die Disziplin der Kunstgeschichte nicht in der Lage wäre, das Rätsel Kunst zu lösen, weil sie den Stil nicht als tiefgreifendes kulturelles Phänomen der Sehnsucht nach Emanzipation verstand. Aus seinem 1912 gehaltenen Vortrag über den Palazzo Schifanoia, der 1922 veröffentlicht wurde, lassen sich drei von ihm vorgeschlagene Änderungen herausfiltern: 1. Die Meistererzählung der Kunstgeschichte infrage zu stellen, die auf der formalen Stilanalyse in einer bestimmten Region und zu einer bestimmten Zeit beruht; 2. Den Status des Kunstwerks in den eines Dokuments zu verwandeln; und 3. Das Studium der Kultur in einer multidisziplinären Weise zu betreiben. In seinem Wunsch, die menschliche Kultur im Allgemeinen – als Weg zur Emanzipation – und Kunstwerke als Dokumente dieser Suche zu verstehen, wagte sich Warburg trotz seiner Renaissancebegeisterung über die kulturellen Grenzen Europas hinaus und ging nach Amerika, um das Volk  der Pueblo in Arizona zu studieren. Er begründete seine anthropologische Studie mit dem Bestreben, „reiches Material zum Studium der Frage nach der Entstehung symbolischer Kunst“ (Warburg, 2010, S. 508) zu finden. Er wollte wissen: Wie und warum bezieht sich die Menschheit durch Bilder auf die Welt um sich herum? Als historischer Mensch konnte er keinen konkreten Zugang zur „zeitgenössischen“ Kunst der Pueblo finden. Warburg formulierte seine Frage ausgehend von der Idee der religiösen Hingabe und somit aus seiner eurozentrischen Perspektive. Seiner Hypothese sind wir schon mehrfach begegnet und ich habe schon öfters bemerkt, dass sie nicht außereuropäischen Kulturen entspricht: die Menschen schaffen Symbole und Kunst aus Angst vor der Natur. Einen Zugriff auf die Epistemologie der Pueblo fand er eindeutig nicht. Stattdessen projezierte er seine europäische Weltsicht: „die Wassernot und Wassersehnsucht [führte] zu magischen Praktiken. (…) Die Wassernot lehrt zaubern und beten“ (Warburg, 2010, S. 526). Dass es sich bei den Ritualen und Bildschaffungen um Kontakt zum Nichtsichtbaren und Bitten an die Elemente handelte, war ihm fremd. Denn Warburg verband seine Studien der Pueblo mit seinem früheren Interesse an Astronomie und an das, was für ihn Aberglauben im vermeintlich heidnischen Europa war. Er untersuchte infolgedessen die

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Abb. 92: Links – Tod des Orpheus, Griechische Vase, 460–450 v. Chr. Vase, Museo Archeologico Nazionale, Ferrara; rechts – Tod des Orpheus, Albrecht Dürer, 1494. Gravur, Kunsthalle, Hamburg

symbolischen Praktiken der verschiedenen Völker der Region als Versuche, die Kräfte der Natur zu bezwingen, statt sie als Kooperation zu verstehen. Dabei kam er zu einer ähnlichen Schlussfolgerung wie Sybille Krämer hinsichtlich des menschlichen Wunsches, die äußere und bedrohliche Welt zu verflachen und damit zu kontrollieren. Als ewiger Komparatist stellte Warburg dann die indigene der christlichen Symbolik gegenüber. Er kam zur Schlussfolgerung, dass die den Pueblo zentrale Schlangensymbolik den menschlichen Wunsch ausdrücke, durch die Emanzipation von der Natur Ängste und Leiden zu kontrollieren. Obgleich seine These die indigene Epistemologie gänzlich verkennt, erinnert Warburg (2010, S. 559) am Schluss seines Textes an die von der weißen Bevölkerung verschuldete Zerstörung der Natur, die sich daran beobachten ließe, dass sie die Schlange nicht mehr wertschätze. Abgesehen von seinem Emanzipationsnarrativ, den wir sowohl in Bezug auf Europa als auch auf die Pueblo in seinem Werk finden, hat Warburg einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Verhältnisses des historischen Menschen zu seiner Vergangenheit durch Kunst geleistet. Vier Schlüsselbegriffe durchziehen seine Texte, um die Psychologie der Geschichte des menschlichen Ausdrucks zu studieren: Pathosformel, Nachleben, Erinnerung/Mnemosyne und Engramm. Die Pathosformel, bereits im Konzept der Energie in seiner Dissertation angelegt, tauchte zum ersten Mal in seinem Text „Dürer und die italienische Antike“ auf. In seiner Studie zu einem Dürerstich, dem Tod des Orpheus, verwies Warburg auf eine Ambivalenz, die die Kunstgeschichte bei der Erforschung der griechischen Kunst der Antike und ihres

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Einflusses auf die Renaissance bisher ignoriert hatte: Die italienischen Künstler:innen hatten sich des wiederentdeckten antiken Formenschatzes bedient, da sie ebenso „eifrig nach Vorbildern für pathetisch gesteigerte Mimik wie für klassisch idealisierende Ruhe“ suchten (Warburg, 2010, S. 176). Die Pathosformel war demnach eine „typische pathetische Gebärdensprache der antiken Kunst, wie sie Griechenland für dieselbe tragische Szene ausgeprägt hatte“ (Warburg, 2010, S. 177) und einen ganzen Stil bildete. Statt edler Einfalt und stiller Größe entdeckte Warburg im antiken Griechenland die Herausbildung einer spannungsvollen und international verständlichen Sprache der Gefühle, die in der Renaissance erneut Anklang fand und deshalb wiederbelebt wurde. Die Pathosformel zielte darauf ab, sich von der formalen Analyse Wölfflins zu lösen, denn sie suchte die psychologischen Motivationen der Stile zu verdeutlichen, die zwar der Antike als „echte, antike Formeln des gesteigerten körperlichen oder seelischen Ausdrucks“ (Warburg, 2010, S. 178) angehörten, aber dann in der Renaissance Resonanz fanden. In gewisser Weise entdeckte Warburg hier eine transhistorische und transnationale europäische Kommunikation, wie sie ahistorischen Kulturen immer schon eigen ist. Ich erinnere nur an die Formensprache der negativen Hände, Spiralen, Pyramiden etc., die wir überall auf der Welt finden. Agamben (1999, S. 91) zufolge war der italienische Gelehrte Tito Vignoli ein wichtiger Einfluss auf Warburg. Um die Existenz der Menschheit zu untersuchen, schlug er eine multidisziplinäre Methodologie vor, die Anthropologie, Ethnologie, Mythologie, Psychologie und Biologie umfasste. Er versuchte somit, das historisierend-analytische Denken der etablierten Disziplinen und deren restriktive Grenzen zu durchbrechen. Im Anschluss an Vignoli formulierte Warburg 1912 seinen Wunsch nach methodischer Erweiterung der thematischen und geografischen Grenzen der Kunstgeschichte, einschließlich der Hinterfragung ihrer teleologischen Meistererzählungen. Agamben (1999, S. 100) stellte fest, dass anstelle des Vorrangs des Textes in Panofskys Dreistufenmodell Warburgs Hauptinteresse in der Formulierung eines historischen und ethischen Problems bestand, das dem „westlichen Menschen, sobald er seinen eigenen Ethnozentrismus überwunden hat“, eine „Diagnose der Menschheit“ ermöglichen würde. Künstler:innen werden von ihm als Wesen verstanden, die ethische Entscheidungen auf der Grundlage des Erbes der Vergangenheit treffen und dieses so interpretierten, dass sie sich selbst von „der Schizophrenie der westlichen Kultur“ (Agamben 1999, S. 100) heilen könnten. Darin sieht Agamben (1999, S. 100) Warburgs spezifische ethische Kraft. Wie wir gesehen haben, geschieht dies aber noch nicht in Warburgs Texten, die eindeutig eurozentrisch sind. Der westliche Gedanke der Emanzipation der Menschheit wurde in den meisten Texten als Motor des künstlerischen Schaffens identifiziert. Man könnte sie, zusammen mit Nietzsches Studie der griechischen Tragödie, als erste Versuche betrachten, sich den Widersprüchen des europäischen Geistes zu stellen, wenn auch aus einer weiterhin Europa und die Kunst der Antike feiernden Perspektive. Und es darf nicht vergessen werden, dass die Emanzipation der teleologische Horizont war, der viel mehr über die koloniale Struktur Europas zu sagen hätte, als über ihre Kunst. Dabei hat Warburg Walter Benjamins Idee vorweggenommen, dass das Studium der Geschichte immer von einem zeitgenössischen Standpunkt aus erfolgen muss. Er strebte keine Rekonstruktion an, sondern konzentrierte sich auf die psychologische Motivation der Künstler:innen und die Entwicklung ihres Stils auf der Grundlage eines früheren,

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Abb. 93: Atlas Mnemosyne, Aby Warburg, 1924–1929, Ausstellung, ZKM , Karlsruhe, 2016

d. h. der Neuformulierung der Pathosformel. In diesem Sinne versuchte sein zweiter wichtiger Begriff, das Nachleben, die Wirkung einer früheren Kunst in einer späteren zu fassen. Warburg führte ihn ein, um dem Problem der in der Geschichte gefangenen Menschheit Rechnung zu tragen. Aufgrund der Existenz von Geschichte, Foucault würde sagen Historizität, und der Präsenz früherer Werke stehen Künstler:innen immer vor der Herausforderung des Überlebens und der Übertragung. Agamben (1999, 93) sah deutlich, dass sich alle (historischen) Kulturen mit früheren Vermächtnissen auseinandersetzen müssten: Aus dieser Perspektive, in der Kultur immer als Prozess des Nachlebens, also der Übertragung, Rezeption und Polarisierung verstanden wird, wird auch verständlich, warum Warburg letztlich seine ganze Aufmerksamkeit auf das Problem der Symbole und ihres Lebens im sozialen Gedächtnis konzentrierte.

Der dritte Begriff, die Mnemosyne, fasst die vorherigen Überlegungen zusammen und zeigt, dass Warburg weit über die Antike und die Renaissance, ja sogar über den Kunstbegriff an sich, hinausgehen wollte. Er wurde im warburgschen Projekt des Atlas Mnemosyne, der zwischen 1924 und 1929 hergestellt wurde, in die Praxis umgesetzt. Der Atlas ist ein komplexes Bilderarchiv, das Kunst als Gedächtnis kenntlich macht, wie es in außereuropäischer Kunst immer schon der Fall ist, jedoch nicht aus historisierender Perspektive.

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Das Zentrum für Kunst- und Medientechnologie (ZKM ) in Karlsruhe zeigte 2016 eine Ausstellung, in der der unvollendete Warburg-Atlas in seiner ganzen Größe zu sehen war. Er besteht aus mehr als 2.000 Bildern, die in 63 Tafeln angeordnet sind, darunter Fotografien, Reproduktionen von Büchern und Bildmaterial aus Zeitungen, die nach Konzepten gruppiert sind, die verschiedene Themen, Tropen, Epochen, Charaktere und geografische Regionen illustrieren und Beziehungen aufzeigen, die auch, aber nicht ausschließlich, den Stil betreffen. Wie Agamben (1999, 95) bemerkt, ist der Atlas ein „gigantischer Kondensator, der alle energetischen Strömungen sammelt, die das Gedächtnis Europas belebt haben und weiterhin beleben, indem sie in seinen ‚Gespenstern’ Gestalt annehmen“. Er ist selbst ein Bild, der die Erinnerung an diese Spannungen nicht auf etwas Sagbares reduzieren will. Der Atlas zeigt die Pathosformeln der europäischen Kultur, die die von ihr ins Leben gerufene Schizophrenität – die Trennung von der sichtbaren und nichtsichtbaren Welt – über die Jahrtausende ausgedrückt hat und nun durch Vergleich zu verstehen sucht. Bei der Lektüre von Warburgs Text über den Atlas wird der Einfluss Nietzsches und seiner Interpretation der Tragödie als Konflikt und letztendliches Gleichgewicht zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen deutlich. Indem sich Künstler:innen mit früheren Kunstwerken auseinandersetzten und ihre Formensprache wiederholten oder veränderten, würden sie die Rationalität der Mathematik und die Irrationalität der Religion ausgleichen: Dem so zwischen religiöser und mathematischer Weltanschaung schwankenden künstlerischen Menschen kommt nun das Gedächtnis sowohl der Kollektivpersönlichkeit wie des Individuums in einer ganz eigentümlichen Weise zu Hilfe: nicht ohne weiteres Denkraum schaffend, wohl aber an den Grenzpolen des psychischen Verhaltens die Tendenz zur ruhigen Schau oder orgiastischen Hingabe verstärkend. (Warburg, 2010, S. 629)

Für Nietzsche war das in der Tragödie erreichte Gleichgewicht der zentrale zivilisatorische Akt der westlichen Kultur. Warburg verallgemeinerte noch mehr, um die gesamte kulturelle Produktion der westlichen Menschheit zu verstehen. Er stellte eine Theorie auf, die die Kunstschöpfung als Gleichgewicht zwischen dem Sein und der Welt vorschlug: „Bewusstes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt darf man wohl als Grundakt menschlicher Zivilisation bezeichnen.“ (Warburg, 2010, S. 629) Anders als in außereuropäischer Kunst ging er erneut von einer Trennung und Distanz aus. Der Atlas Mnemosyne ist das Ergebnis von Warburgs Versuch, das bildhafte Gedächtnis der abendländischen Kultur und seine verschiedenen Pathosformeln zu vergleichen, um so seinen Verlauf offenzulegen. Die Bilder sind – und das ist der vierte Begriff – Engramme, d. h. Eindrücke der geistigen Spannungen innerhalb der Kulturen verschiedener Epochen, die Kulturhistoriker:innen durch den Vergleich sichtbar machen sollen. Man könnte sagen, dass dem historischen Menschen vor Augen geführt wird, dass sein zentrales Problem seine eigene Geschichtlichkeit ist. Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass im Vergleich zu der von Panofsky beschriebenen Ikonologie die Bedeutung des Textes bei Warburg zweitrangig ist. Auch ist sein Wunsch, die westliche Kultur zu verstehen, scharfsinniger und umfangreicher

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als die panofskische Gelehrsamkeit. In der Tat wird das Pathos – das starke Gefühl des Leidens, das Orpheus seit der Antike repräsentiert – durch die gesamte abendländische Kulturgeschichte analysiert. Es ist nicht verwunderlich, dass Warburg Winckelmanns Vorstellung von edler Einfalt und stiller Größe in Haltung und Ausdruck als „Doktrin“ (Warburg, 2010, S. 306) betrachtete. Die Figur des Orpheus, eines Künstlers und Propheten, erscheint bei Warburg als das sichtbarste Symptom der Renaissance-Gesellschaft, in der die Kulturschaffenden einen neuen Status erlangten. Deshalb baute er seine gesamte Hoffnung der Emanzipation auf ihn auf, ohne jedoch zu sehen, dass diese Emanzipation eine Aufhebung der Trennung sucht, die der Westen in seiner jüdisch-christlichen Kosmologie immer schon ausschließt. Ich habe versucht zu zeigen, dass Warburg nicht nur einige der Säulen der Kunstgeschichte als Disziplin, dessen Schlüsselparadigma und Meistererzählungen auszudehnen versuchte, sondern auch neue und leistungsfähigere theoretische Konzepte anbot, um die Psychologie des menschlichen Ausdrucks im Abendland zu verstehen. Dabei blieb er aber selbst in der Trennung und der Schizophrenie Europas gefangen. Die warburgsche „namenlose Wissenschaft“ (Agamben, 1999, S. 92) entfaltete dann aber ab den 1970erJahren eine starke Wirkung, als sich die Studien auf Bilder zu konzentrieren begannen und die Kulturwissenschaften aufkamen, die das allgemeine Interesse der akademischen Welt an visueller Kultur, ihrer Daseinsberechtigung und ihrem modus operandi verstärkten. Das wollen wir jetzt abschließend noch näher betrachten.

Zur ikonischen oder piktorischen Wende Die ikonische Wende – ein Begriff geprägt von Gottfried Boehm (1994) – oder piktorische Wende – die Antwort von W. J. T. Mitchell (1994) –, geht zwar auf Warburg zurück, gewann aber erst in den 1990er-Jahren wissenschaftlich an Kraft und Bedeutung. Die Idee der Wende stammt vom amerikanischen Philosophen Richard Rorty und zielt darauf ab, Veränderungen im Kontext einer Wissensdisziplin, in diesem Fall der Kunstgeschichte, auszudrücken, die starke Rückwirkungen auf andere hat. Für Mitchell (1994, S. 12) liegt die Wende auf halbem Weg zwischen den von Thomas Kuhn geprägten Konzepten Paradigma und Anomalie, wobei das zweite ein wichtiges Thema in den Humanwissenschaften ist. Dementsprechend handelt es sich, wie gesagt, nicht um einen vollständigen Paradigmenwechsel – eine Revolution –, sondern um einen neuen disziplinären Rahmen. Mitchell (1994, S. 12–17) stellte die zentrale Bedeutung des Bildes als neuem Schlüsselthema oder Objekt mehrerer Disziplinen mit den wissenschaftlichen Arbeiten einiger westlicher Denker:innen und Schulen in Verbindung: Frankfurter Schule, Ludwig Wittgenstein, Charles Peirce, Nelson Goodman, Jacques Derrida und Michel Foucault. In den Bibliografien der Kunstwissenschaften werden in der Regel diejenigen genannt, die die Debatte über das Bild politisierten, sei es in Bezug auf bildende Kunst, Werbung, Fernsehen, Film oder Video. Dazu gehören Wissenschaftler:innen, die in den 1970erJahren begannen, Fragen des Blicks und der Rezeption in psychologischer, soziologischer oder ideologischer Hinsicht zu behandeln. Einige bekannte Autor:innen sind John Berger (1994), der die zentrale Stellung der europäischen Ölmalerei infrage stellte, Laura Mulvey (1975), die sich mit Skopophilie  – dem männlichen Blick im Kino  – befasste, und John

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Fiske (1978, 1985), der das Fernsehen als Text, d. h. als kulturell relevantes Medium untersuchte. In Anbetracht der oben zitierten Bedeutung Warburgs ist es offensichtlich, dass die ikonische oder piktorische Wende nicht aus dem Nichts heraus entstanden ist. Sie absorbierte und begleitete die Entwicklung neuer Theorien, Methodologien und Werte, die aus neuen Fragen hervorgingen. Diese entsprangen nicht mehr dem Rätsel Kunst oder Medium, sondern dem Wunsch, neue soziopolitische Epistemologien zu schaffen, wie etwa den Feminismus, die Queer oder LGBT + Studien und, in jüngerer Zeit, die Dekolonialen Studien. Leider kann ich aus Platzgründen nicht aufzeigen, wie sie sich an der Veränderung der Werte beteiligten, die zuvor innerhalb eurozentrischer und patriarchalischer Perspektiven verteidigt wurden, und wie es ihnen gelang, neue Disziplinen und akademische Abteilungen zu gründen. Ich möchte nur kurz drei Autorinnen und ihre Texte nennen: Die Amerikanerin Linda Nochlin und ihren Artikel „Warum gab es keine bedeutenden Künstlerinnen?“ (1996), der 1971 veröffentlicht wurde und erklärte, dass den Frauen aufgrund der soziopolitischen Umstände des Patriarchats keine Möglichkeiten gegeben wurden, als Künstlerinnen zu arbeiten oder anerkannt zu werden. Das Buch ihrer Landsmännin Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, aus dem Jahr 1990, legte in Anlehnung an frühere Autorinnen nahe, dass Gender sowohl eine soziale als auch eine performative Konstruktion sei. Unterdrückung, aber auch Emanzipation wurden von ihr dadurch aufgezeigt. Die Nigerianerin Oyeronke Oyewumi (1997) eröffnete eine noch viel spannendere Sichtweise in ihrem The Invention of Women (Die Erfindung der Frauen), indem sie erklärte, dass es unter den Yoruba im heutigen Nigeria die westliche Idee des Genders oder des Geschlechts so gar nie gab, da deren Kultur nicht von einer biologischen Determiniertheit ausging. Sie machte damit kenntlich, dass es Völker gibt, die Menschen nicht in binäre Kategorien aufteilen. Stattdessen gilt bei den Yoruba die Seniorität als Grund, um soziale Rollen zu bekleiden. Im Kontext der Kunstgeschichte gab es eine Reihe von Veröffentlichungen, die versucht haben, die Disziplin als Bildwissenschaft zu definieren. Wie bereits bemerkt, hat dies nicht wirklich dazu beigetragen, die Wissenschaft zu dekolonialisieren, d. h. andere Epistemologien einzubeziehen. Es ging eher darum, eine Antwort auf das Ende der Kunstgeschichte im Renaissancerahmen zu geben, ohne dass verstanden wurde, dass dieser Rahmen und die Antikenbegeisterung letztlich Teil des kolonialen Programms sind. Obgleich die Bildwissenschaft sich an außereuropäische Vorstellungen wie die Macht des Bildes annähert, fehlt ihr doch das historische Verständnis für die allen westlichen Studien zugrundeliegende Kolonialität. Im Jahr 1990 schrieb Hans Belting Bild-Anthropologie, ein Buch, das, wie der Titel deutlich macht, eine anthropologische Perspektive auf das Bild entwickelte, um in seiner Einleitung einen interdisziplinären Ansatz zu verteidigen. Belting (2001) kritisierte die neue Haltung der Kunstwissenschaft, alles als Kunst zu deklarieren, und forderte die Aufhebung der durch den Kunstbegriff konstruierten Grenzen, um nun vom Bild zu sprechen. Als Spezialist für mittelalterliche Kunst wählte er Bilder der Anbetung als Objekte und analysierte sie von der Genese als Ikonen auf dem Sinai bis hin zu den Altarbildern im italienischen Mittelalter. Dabei zeichnete er ein großes historisches Panorama der Beziehungen zwischen Kunst, Bild und Anbetung. Anbetung ist, wie gesagt, eine Idee, die es im außereuropäischen nicht-christlichen Zusammenhang so nicht gibt. Belting

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folgte damit der Idee Warburgs, die Periodisierung und Hierarchisierung, die in der Kunstgeschichte als normale Wissenschaft überlebt haben, zu dekonstruieren und die Unterscheidung zwischen Neuzeit und Mittelalter aufzuheben. Das Buch steht jedoch immer noch unter dem Einfluss des Schlüsselparadigmas der Stilepoche, da der Autor vor allem versuchte, das Mittelalter positiv zu bewerten, während er gleichzeitig die Position verteidigte, dass die Ikone transhistorisch sei. Jeffrey Hamburger (2015, S. 346) merkt an, dass Bild-Anthropologie vor allem die Renaissance als Wendepunkt und Beginn der Moderne hinterfragen will. Diese These wird von Hamburger (2015, S. 352) als Teil einer nostalgischen Tendenz und als Ergebnis des Verlusts der Unmittelbarkeit und der Präsenz des Metaphysischen identifiziert. In der Tat ist diese Tendenz, die im Gegensatz zu Warburgs Einschätzung der Renaissance steht, wie beobachtet, bei so unterschiedlichen Autoren wie Didi-Huberman, Agamben und Mâle anzutreffen. Darüber hinaus argumentiert Hamburger (2015, S. 348), dass die Neudefinition des Bildes durch Belting das Wort und den Körper zu sehr vom Bild trenne und damit auf der Ikonophobie der Theologen beharre, obwohl diese deren Existenz souverän ignoriert hätten. Hamburger (2013, S. 359) betont auch den begrenzten Einfluss Beltings in der angelsächsischen Welt und den Unterschied zwischen seiner Bild-Anthropologie und den Ansätzen amerikanischer Autoren wie David Freedberg (1989), Autor von The power of images (Die Macht der Bilder) oder W. J. T. Mitchell, Autor von Picture theory (Bildtheorie) und What do pictures want? (Was wollen Bilder?). Obwohl alle drei Autoren mit ihren Büchern an der ikonischen oder piktorischen Wende teilnahmen, weist Hamburger (2013, S. 360) auf Unterschiede hin, die bei Belting in dessen Bemängelung der Teleologie der Kunstgeschichte und seiner Abneigung gegen die Identifizierung des Bildes mit dem Körper bestünden. Freedberg weise hingegen den Theologen eine konstruktive Rolle zu, indem er darauf aufmerksam mache, dass sie die Ersten waren, die eine psychologische Theorie des Bildes ausarbeiteten, eines der Hauptinteressen der amerikanischen piktorischen Wende und eine Schlüsselfrage in Warburgs Werk. Der größte Unterschied zwischen den Amerikanern und Belting bestehe darin, dass in den USA der Schwerpunkt auf den Massenmedien und den postlinguistischen und -semiotischen Methoden läge, während sich die deutsche Debatte auf das Problem des Körpers als Medium konzentriere (Hamburger 2013, S. 361). Man kann argumentieren, dass W. J. T. Mitchell den anthropologischen Ansatz von Belting teilt, obwohl er auch psychologische und philosophische Theorien über das Begehren verwendet. Mitchell (1984, S. 505) ging von der Frage aus, wie das Bild in den Diskursen einer Vielzahl von Disziplinen verwendet wird, nämlich in der Literaturtheorie, der Kunstgeschichte, der Philosophie und der Theologie. Bei der Untersuchung von Bildern als Teil sozialer und kultureller Praktiken schlug Mitchell 1984 selbst vor, dass sie mehr als Codes seien. In der Tat setzte Mitchell Bilder mit Menschen gleich und arbeitete so weiter an den warburgschen Ideen von Energie und Pathos. Er ging davon aus, dass Bilder Rollen spielten, die mit der von Schauspielern auf der Bühne der Geschichte vergleichbar seien. In Anlehnung an Warburg unterstrich der Autor die Bedeutung des Bildes für die Emanzipation des Menschen von seinem vermeintlichen Schöpfer, indem er selbst zum Schöpfer würde. Ich erinnere, dass Vasari, Kant, Hegel, Schelling und Warburg bereits dieselbe Idee hatten:

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Bilder sind nicht nur eine bestimmte Art von Zeichen, sondern so etwas wie Akteure auf der historischen Bühne, sie sind Protagonisten oder Figuren, die mit Legendenstatus ausgestattet sind, mit Geschichten, die Parallelen zu den Geschichten aufweisen, die wir uns selbst über unsere eigene Entwicklung erzählen, in der wir von Kreaturen, die „nach dem Ebenbild“ eines Schöpfers geschaffen, zu Geschöpfen, wurden, die sich selbst und ihre Welt nach ihrem eigenen Bild erschaffen, davon erzählen und an ihnen teilhaben. (Mitchell, 1984, S. 504)

Foucaults These, dass das westliche klassische Denken Resultat des Wunsches sei, sich aus der Abhängigkeit eines Schöpfers zu lösen, finden wir hier ebenfalls wieder. Indem er sich mit der körperlichen Idee des Bildes beschäftigte, ging Mitchell davon aus, dass es eine starke, liebevolle und gegenseitige Verbindung zwischen unseren Körpern und Bildern gäbe. In seinem berühmten Buch What do pictures want? definierte Mitchell das Bild als ein Wesen mit Begehren, zu dem der Mensch eine intensive und erotische Beziehung aufbaue. Diese Liebe oder Eros als Lebenswunsch müsse jedoch gemäß der Definition der Psychoanalyse verstanden werden. So sei sie immer mit Thanatos, dem Todestrieb, verbunden. In jedem Fall seien Bilder als komplexe und paradoxe Wesen zu verstehen: Wenn ich um eine schnelle Antwort auf die Frage „Was wollen Bilder?“ gebeten werde, antworte ich immer, dass sie geküsst werden wollen. Aber dann stellt sich die Frage: Was ist ein Kuss? Und die Antwort ist, dass es eine Geste der Einverleibung ist, eine Bereitschaft, den anderen zu verschlingen, ohne ihn zu töten – ihn „lebendig zu essen“, wie man sagt. Wir wollen also das Bild in unseren Körper aufnehmen, und es will uns in sich aufnehmen. Es ist eine korrespondierende Liebesbeziehung, die sowohl von Gefahr, Gewalt und Aggression als auch von Zuneigung durchdrungen ist. (Mitchell, 2009, S. 4)

Wir haben hier wieder die europäische negative und gewalttätige Sichtweise der Welt, die keine friedliche Verbindung zwischen Mensch und Bild, Mensch und Natur, Mensch und Mensch kennt. Für Mitchell stand die piktorische Wende außerdem eher mit den hybriden und gemischten Bildformaten der zeitgenössischen visuellen Medien im Zusammenhang, die sich aus den neuen Beziehungen zwischen Ton und Bild oder Text und Bild ergeben, und nicht so sehr mit einem veränderten Interesse der akademischen Disziplinen. Mit anderen Worten, sie ist mit der Entstehung neuer Reproduktionstechnologien und neuen Bildformaten verbunden, die mit soziopolitischen oder ästhetischen Bewegungen einhergehen. Wie schon beobachtet, handelt es sich bei der Bildwissenschaft um kein neues Paradigma, sondern lediglich um eine Erweiterung der Wahl der Objekte, mit besonderem Interesse für Ikonen auf der einen und für neue Technologien auf der anderen Seite. Sicherlich gibt es einige interessante Ideen, die vergessene Sichtweisen auf Bilder ermöglichen und die ihnen innewohnende Macht herauszustellen versuchen. Jedoch bleibt die Bildwissenschaft der Anthropologisierung und Psychologisierung der westlichen Epistemologie zu stark verhaftet, als dass die ikonische oder piktorische Wende tatsächlich zu einem komplexeren und nicht eurozentrischem Verständnis des Phänomens Bild gekommen wäre.

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Kurze Schlussfolgerungen Ich möchte nun die folgenden Antworten auf meine Fragen zur Beziehung zwischen Wissenschaft und Kunst und deren Untersuchung in verschiedenen akademischen Disziplinen zusammenfassen: 1. Nach Kuhn ist ein Paradigma das Ergebnis eines wissenschaftlichen Rätsels, das für den Moment gelöst wird. Es setzt sich aus drei Elementen zusammen: Wert, Theorie und Methodologie. Die Lösungen folgen keiner Entwicklung, da das Wissen immer wieder verworfen werden kann und keinen Endpunkt kennt. Dennoch benutzt Kuhn den Begriff der Revolution, wenn es durch ein neues Paradigma zur Veränderung einer Weltanschauung, wie etwa bei der kopernikanischen Wende, kommt. 2. In außereuropäischen oder ahistorischen Kulturen gibt es eine Aggregation des Wissens, das entweder von den Vorahnen weitergegeben wird oder aus der Naturbeobachtung kommt. Deshalb wird durch neues Wissen keine Weltanschauung verworfen. Das Wissen um eine heliozentrische Welt oder andere vermeintlich westliche Einsichten zum Zyklus der Natur, Heilpflanzen, der Tierwelt etc. gab es wahrscheinlich schon seit Jahrtausenden, wird aber von der westlichen Wissenschaft als ihre Erkenntnis ausgegeben. 3. Die kriegerische Haltung westlicher Epistemologie wird von Rancière verdeutlicht, dessen Meinung nach Disziplinen nichts anderes tun, als Grenzen zu setzen, um mit Methoden als Waffen einen Krieg zu beginnen. Diese Methoden werden dann benutzt, um Fiktionen zu erzählen. Das bedeutet auch, dass Paradigmata nur vorübergehend bestehen und dass Indisziplinarität ein Weg ist, die Aufmerksamkeit auf disziplinäre Fiktionen zu lenken, die versuchen, ihr Paradigma aufrechtzuerhalten. Wie im westlichen Denken üblich verherrlicht Rancière die Philosophie und sieht sie als die einzige Disziplin an, die in der Lage sei, Grenzen und Fiktionen durch indisziplinäres Denken aufzudecken. 4. Die Geisteswissenschaften können nicht mit den Naturwissenschaften und ihren wechselnden Paradigmata verglichen werden, denn in Letzteren kommt es zu Revolutionen in den Weltanschauungen. In den Geisteswissenschaften neigt man eher dazu, eine Disziplin durch eine andere zu ersetzen, um sich einem Rätsel aus einem anderen Blickwinkel zu nähern, wie etwa durch die Einrichtung der Kultur- oder Bildwissenschaft, Feministische und Queer Studien etc. 5. Im Falle der akademischen Disziplinen, die sich mit Kunst befassen, ist die Stilepoche ein stabiles Paradigma, das sich nur in Bezug auf gewisse Werte, Theorien und Methoden verändert hat. Es dient als Schlüsselelement für Periodisierungen und formale Analysen. Erstmals finden wir es bei Vasari in Bezug auf die Renaissance. Er wählte Biografien (Methode) bestimmter Künstler:innen und setzte die These von der Zunahme (Theorie) der Naturnachahmung (Wert) auf. Winckelmann entwickelte dann das Paradigma für die griechische Antike auf vorwissenschaftliche Weise, indem er die kulturwissenschaftliche Theorie der edlen Einfalt und stillen Größe formulierte, die als Wert die Ausgeglichenheit in Kunst, Politik (Demokratie, aber eigentlich Imperium) und Klima (gemäßigt) etablierte. Zahlreiche Wissenschaftler:innen folgten ihm und wählten unterschiedliche Epochen für ihre Studien – griechische Antike, Gotik, Renaissance, Barock, Moderne, Postmoderne usw. –, veränderten ihre Werte und versuchten, ihre Methoden zu verfeinern.

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Wie wird Kunst als wissenschaftliche Disziplin studiert?

6. Wölfflin arbeitete das vergleichende formale Studium als zentrale wissenschaftliche Methodik aus, um Stilepochen (Renaissance und Barock) zu definieren. Dabei kam es zu einer inhaltlichen Entleerung. Der Machtanspruch des Barocks und seine Verwicklung in die Kolonialität wurde von ihm überhaupt nicht beachtet. Viele Autor:innen übernahmen das formale Stilstudium, weshalb es als Standardfiktion gelten kann. Formale Studien, ebenso wie die Idee der Stilepoche würden in der außereuropäischen Kunst keinen Sinn machen, da dort die stilistischen Elemente von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie können innerhalb bestimmter Regeln variiert und verändert werden. Die Werte, auf denen sie basieren, bleiben zumeist konstant, mit geringen Variationen. Allgemein folgte der Epochenstil einer nationalistischen Agenda, bei der die das europäische Selbstverständnis und seine vermeintliche Superiorität im Mittelpunkt steht. 7. Das Paradigma der Stilepoche wurde von anderen Kunstwissenschaften übernommen, insbesondere von der Literaturwissenschaft und der Film- und Medienwissenschaft. Um als Kunstform respektiert zu werden, konzentrierte sich insbesondere die Filmwissenschaft in den 1950er-Jahren auf die Idee eines Autorenstils. In der Literaturwissenschaft hingegen wurde der auktoriale Stil bereits in den 1940er-Jahren durch den Dialogismus von Bachtin und in den 1960er-Jahren durch die Intertextualität von Kristeva hinterfragt. In den 1970er-Jahren wurde der Autor von Barthes für tot erklärt, während Foucault ihn nur noch als Funktion betrachtete. In der Filmwissenschaft wurde das Paradigma Autorenstil umgewertet, als man begann, den frühen Film ebenfalls in den 1970er-Jahren zu würdigen und zu untersuchen. Der Dialogismus steht außereuropäischer oraler Kultur näher und Barthes Mordanschlag auf den Autor suchte ebenfalls an die Idee eines kollektiven Erzählens zu erinnern. 8. Die Kunstgeschichte hatte das Paradigma des Epochenstils seit den 1920er-Jahren problematisiert und erweitert, als in Wien und Hamburg mehrere Wissenschaftler:innen inter- und multidisziplinäre Ansätze verwendeten. Diese Erweiterung wurde durch den Faschismus und die damit einhergehende Verfolgung und Verbannung dieser Wissenschaftler:innen unterbrochen. 9. Die Ikonologie entstand zur selben Zeit als methodischer Versuch, über formale und ikonografische Studien hinauszugehen und Erkenntnisse anderer Wissensgebiete wie Anthropologie, Soziologie, Psychologie usw. einzubeziehen. Sie sollten zu einer synthetischen und intuitiven Schlussfolgerung in Bezug auf den untersuchten Gegenstand oder die untersuchte Epoche führen. Ihre berühmtesten Vertreter waren Aby Warburg und Erwin Panofsky. 10. Aby Warburg war dabei radikaler in seiner Untersuchung des Rätsels der Kunst als Panofsky. Er sah die Grenzen des Kunststudiums als zu eng und wollte die Disziplin nicht nur zu einer Sozialgeschichte ausbauen, wie es einige von Karl Marx inspirierte Wissenschaftler anstrebten, sondern zu einer Kulturwissenschaft. Dementsprechend verstand er Bilder nicht als Kunstwerke, sondern als Dokumente und Symptome, im Idealfall als Ausdruck des Emanzipationsstrebens der westlichen Menschheit. Er war auch der Meinung, dass das in den älteren Bildern enthaltene Gedächtnis (mnemosyne), das sich in ihrem Pathos oder ihrer Energie manifestiert, nicht nur die Schaffung neuer Bilder ermöglichte (da sie als Engramme weiterlebten), sondern den Gelehrten auch die Möglichkeit gab, die Psychologie der Geschichte menschlicher

Kurze Schlussfolgerungen

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Ausdrucksformen zu verstehen. Wenn Warburg eine Epoche, insbesondere die Renaissance, untersuchte, war er nicht daran interessiert, ihren Stil zu verstehen, sondern suchte die Beweggründe für diesen Stil als Ergebnis eines Dialogs der Künstler:innen mit früheren Zeiten, sei es mit dem Mittelalter oder mit der Antike, zu erklären. Deshalb verwarf er das Paradigma der Stilepoche und gab die Idee einer teleologischen Meistererzählung auf. Dabei blieb Warburg jedoch eurozentristisch, da er auf der Notwendigkeit einer Emanzipation vom Aberglauben bestand und außereuropäische symbolische Kulturen fälschlich als Ausdruck ihrer Angst vor der Natur interpretierte. 11. Die von Aby Warburg postulierte Konzeptualisierung des Bildes als Engramm und damit als Dokument, das die Veränderungen des menschlichen Ausdrucks und Denkens erklären kann, führte zur Neuformulierung der Disziplin als Bildwissenschaft oder Visuellen Studien, Kulturwissenschaft etc. nach der sogenannten ikonischen oder piktorischen Wende. Dabei handelt es sich nicht um einen Paradigmenwechsel, sondern um eine disziplinäre Neuformulierung, um das vom Menschen über die Jahrtausende geschaffene Bilderarchiv zu untersuchen. Den Massenmedien und den durch neue Technologien geschaffenen Bildern wird nun besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Wichtige Autoren bei der Neudefinition der Macht und des Begehrens von Bildern sind u. a. Belting und Mitchell. Hierbei kam es jedoch noch nicht zu einer universellen und schon gar nicht dekolonialen Perspektive, sondern vielmehr zu einer Konzentration auf die Produktion der präkolonialen Bildwelt des Mittelalters und auf die Massenmedien der kolonial-kapitalistischen zeitgenössischen Welt.

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Wie wird Kunst als wissenschaftliche Disziplin studiert?

ACHTES KAPITEL :

Was ist brasilianische Kunst und wie wird sie studiert? Dieses letzte Kapitel ist Brasilien, seiner Kunstwissenschaften und Kunst, gewidmet. Es will zeigen, wie schwierig es selbst – oder gerade – in einem lateinamerikanischen Land ist, sich vom Eurozentrismus zu befreien und eine dekoloniale Perspektive zu entwickeln. Obgleich es einige Veröffentlichungen gibt, die sich um eine dekoloniale Sichtweise bemühen, handelt es sich dabei zumeist um Stellungnahmen und nicht um Studien. Auch ist ein wachsendes Interesse an afrobrasilianischer und indigener Kunst zu beobachten, aber die für ihre Analyse verwandte Epistemologie ist weiterhin die westliche. Meine Absicht ist es deshalb, die Situation der brasilianischen Kunstwissenschaften, Kunst und einige dekoloniale Autor:innen vorzustellen. Ich beginne mit Reflexionen zum Status Brasiliens als Ex-Kolonie, dann beschreibe ich die verschiedenen Periodisierungen, die für die brasilianischen Künste entwickelt wurden und die der eurozentrischen Perspektive des Stilepochenparadigmas folgen, um dann die zwei zentralen nationalen Gründungsmythen zu behandeln. Daraufhin stelle ich mehrere Kunsttheorien vor, die sich mit der Geschichte Brasiliens als kolonialisiertem Land auseinandersetzen und die immer aus dem Gefühl der Unangemessenheit gegenüber dem europäischen Modell und unter Vernachlässigung der indigenen und afrobrasilianischen Kunst und ihrer Epistemologien enstanden sind, einschließlich einiger Theorien zu Literatur und Film. Denen stelle ich dann indigene und afrobrasilianische Perspektiven gegenüber. Anschließend stelle ich noch die ersten Handbücher, Kunstkritiken und Kunstgeschichten vor und behandle kurz die Bedeutung einiger nationaler und internationaler Ausstellungen.

Zur Kolonialität Brasiliens Ich habe wiederholt Vilem Flusser und seine Idee referiert, dass Brasilien, wie viele Länder der südlichen Hemisphäre, ahistorisch sei. Ich möchte noch einmal betonen, dass es sich dabei nicht um einen Mangel an Geschichte oder eines geschichtlichen Projekts handelt, sondern um eine vorkoloniale Weltsicht, in der Wissen oral oder bildhaft weitergegeben und addiert wird und es keinen Raum zwischen Signifikant und Signifikat gibt, den es mit analytisch-historisierendem Wissen zu füllen gilt. Hierarchisierende Kriterien, die Analyse formaler oder ikonologischer Aspekte sind in diesem Kontext absurd. Das in der Kunst sinnlich weitergegebene Wissen wird direkt kommuniziert und alle Beteiligten verstehen die visuellen, oralen oder sonoren Kodes. Kunst steht in Eintracht mit Mensch, Natur und den verschiedenen Dimensionen des Universums, ist mit dem Alltag verwoben und außerdem eine Möglichkeit, mit dem Jenseitigen in Kontakt zu treten, das Nichtsichtbare sichtbar zu machen. Auch wenn zeitgenössische indigene und afrodiasporische

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Kunst oft genutzt wird, um politische Probleme wie Genozid, Kulturzid, Rassismus und Invasionen in den demarkierten Territorien aufzuzeigen, bleibt sie doch den außereuropäischen Kosmologien verpflichtet. Der negative Aspekt der Ahistorizität ist die nach wie vor bestehende koloniale Unterdrückung und die Unmöglichkeit, Einfluss auf der politischen Bühne zu üben. Als ehemalige Kolonie war Brasilien ein Ort intensiver Ausbeutung und behielt auch nach der Unabhängigkeit 1822 seine feudale Gesellschaftsstruktur bei. Schwerwiegende Probleme, die aus dem Kolonialismus stammen, sind u. a. die von Darcy Ribeiro (2000) analysierte, normalisierte soziale Ungerechtigkeit, die von Sérgio Buarque de Holanda (2013) diagnostizierte paternalistische Kordialität, die von Abdias Nascimento (1979) angeprangerten Geno- und Kulturzide an der afrodiasporischen Bevölkerung sowie die nur vermeintliche Rassendemokratie, die von Kopenawa (2013) ebenfalls beobachteten Geno- und Kulturzide in Bezug auf die indigene Bevölkerung, die von Caio Prado Júnior (1967) kritisierte Sklavenhaltermentalität und der von Roberto Schwarz (1992) beschriebene Austausch von Gefälligkeiten. Am Ende des 19. Jahrhunderts beklagte Machado de Assis (1839–1908), einer der berühmtesten Schriftsteller und afrikanischer Abstammung, dass in Brasilien immer noch „die unpolitische und abscheuliche Tatsache der Sklaverei dominiert“ (Assis apud Schwarz, 1992, S. 47). Er sah dies jedoch durch die übliche eurozentrische Perspektive, denn für ihn bestand das Problem darin, dass die Auswirkungen der europäischen Aufklärung, wie Rationalität, Wissenschaft und Liberalismus, noch nicht in Brasilien umgesetzt worden waren. Auch wurden im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern Universitäten erst Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet. Die Industrialisierung kam spät und führte angesichts der defizitären Rechtsprechung zu einem brutalen Kapitalismus, in dem Korruption salonfähig war und ist. Die lange Diktatur zwischen 1964 und 1985 verschrieb dem Land eine radikale Modernisierung und reduzierte gleichzeitig die Möglichkeiten des zivilen Engagements auf ein Minimum. Der Soziologe Octavio Ianni bot einen Überblick über die wichtigsten Thesen, die von den brasilianischen Gelehrten über das letzte Jahrhundert entwickelt wurden. Er hob hervor, dass in Brasilien kontinuierlich und obsessiv über das Land nachgedacht würde. Die daraus resultierenden Analysen würden dazu neigen, entweder einen bestimmten Bereich der Gesellschaft in den Vordergrund zu stellen oder verallgemeinernde Ansichten anzustellen, immer mit dem Ziel, den allumfassenden „Meisternarrativ der nationalen Geschichte“ (Ianni, 2000, S. 55) zu finden. Dies hätte zu einer „Fülle von Erklärungen, Interpretationen und Thesen, die sich vervielfältigen, sich gegenseitig ablösen, ergänzen und polemisieren“ (Ianni, 2000, S. 55–56) geführt. Trotz ihrer Vielfalt stieß Ianni (2000, S. 56) auf einige wenige immer wiederkehrende Themen: Zentralismus und Föderalismus; ein starker Staat mit einer schwachen Zivilgesellschaft; eine Geschichte, die Blutvergießen vermeidet und aus weißen präventiven Revolutionen besteht; Versöhnungen und Reformen; Luso-Tropikalismus und Rassendemokratie; eine hauptsächlich exportierende Wirtschaft und Importe, die die Industrialisierung ersetzen; aufstrebende Märkte und Neoliberalismus.

Was den Staat und die Staatsmacht betrifft, so wies Ianni (2000, S. 57) darauf hin, dass die Interpretationen dazu neigten, autoritär zu sein oder ein „Spiel subalterner sozialer

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Was ist brasilianische Kunst und wie wird sie studiert?

Kräfte“ zu suggerieren; im Allgemeinen wird „die Zivilgesellschaft [als] ein Nebenprodukt der demiurgischen Tätigkeit des Staates“ gesehen. D. h., sie wird als (…) schwach, unorganisiert, gallertartig betrachtet. Die gegebenen Erklärungen wurzeln in Kolonialismus und Sklaverei (…), mit patrimonialen Traditionen, Coronelismo, Caciquismus und engstirniger Politik. Andere Autoren sind offen evolutionistisch, (…) rassistisch, (…) und gründen sich auf europäischen Ideen. (Ianni, 2000, S. 57)

Ianni (2000, S. 57) betonte, dass der epistemische Bezugspunkt Brasiliens immer Europa sei und dass man „die europäischen Autoren übernähme, als wären sie unangreifbare Richtlinien und endgültige Modelle, nicht nur für europäische Nationen, sondern für alle Gesellschaften.“ Er verwies auf die ständig wiederholte These, dass der staatliche Autoritarismus das Ergebnis einer singulären Zivilgesellschaft sei, die aus „drei traurigen Rassen, sowohl versklavter als auch freier Menschen, besteht: Ureinwohner, Schwarze und Weiße, Einwanderer und Einheimischer“ (Ianni, 2000, S. 58). Diese Mischung gälte allen als explosiv. Obwohl Brasilien „Europa als rechtlich-politisches Modell für seinen Nationalstaat mit einigen nordamerikanischen Bestandteilen“ übernommen habe, würde in vielen Theorien behauptet, dass es in Brasilien, in Übereinstimmung mit seinen imperialen und kolonialen Wurzeln, „notwendig ist, alles von oben nach unten zu regeln“. Dies sei der Grund, warum sich die Idee einer zivilisatorischen Mission des Staates durchgesetzt habe, wie es sich am deutlichsten in der Militärdiktatur zeigte. Iannis Text zeichnete die bestehenden Narrative präzise nach und erklärte die Motive für das Aufkommen bestimmter Thesen. Im letzten Teil erörterte er die Interpretationen prägender Autoren, die sich auf den Nachhall der Sklavengesellschaft konzentrierten (Euclides da Cunha, Alberto Torres, Joaquim Nabuco, Rui Barbosa, Sílvio Romero, José Veríssimo, Machado de Assis und Lima Barreto). Sie hätten die folgende Generation (Jackson de Figueiredo, Oliveira Vianna, Gilberto Freyre, Sérgio Buarque de Holanda, Roberto C. Somonsen, Caio Prado Júnior und Eugênio Gudin), die sich dann mit der nationalen Frage im Kontext der vermeintlichen agrarischen Berufung des Landes beschäftigten, beeinflusst. Neuere Interpretationen folgten den Spuren dieser Zwischenkriegsgeneration und vertieften die Analysen der brasilianischen Sozialstruktur, ihrer Institutionen und Werte, Klassen und sozialen Gruppen, Geschichten und Traditionen, Organisationsformen und Bedingungen von Transformationen, Reformen und Revolutionen (Ianni, 2000, S. 71). Der Autor zitierte in diesem Zusammenhang eine große Zahl von Künstlern und Wissenschaftlern: Mário de Andrade, Florestan Fernandes, Raimundo Faoro, Clóvis Moura, Jacob Gorender, Celso Furtado, Antônio Cândido, Mário Pedrosa, Alfredo Bosi, Cândido Portinari, Graciliano Ramos und Oscar Niemeyer. Brasilien sei eine „Fabrik“ von Erklärungen, die das „ewig unbekannte“ Land noch nicht habe entschlüsseln können. Ianni (2000, S. 72) kam deshalb zu dem Schluss, dass man, wenn man all diese Thesen zusammennimmt, „einen umfassenden und komplexen Narrativ über die Entstehung und den Wandel Brasiliens“ sowie „eine komplexe fiktionale Erzählung“ bekomme. Es ist wichtig zu betonen, dass die zitierten Autoren alle Männer der weißen brasilianischen Elite waren und dass sie fast ausnahmslos eurozentristisch dachten. Das ist ein komplexes Problem, das erst kürzlich im Kontext der dekolonialen Studien ins

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Bewusstsein gerückt wurde. Joaze Bernardino-Costa und Ramón Grosfoguel (2016, S. 19) heben hervor, dass die Enunziation somit ausgesprochen reduziert sei: Der Ort der Enunziation ist nicht nur durch unseren geopolitischen Standort innerhalb des modernen/kolonialen Weltsystems gekennzeichnet, sondern auch durch Rassen-, Klassen-, Geschlechter-, sexuelle usw. Hierarchien, die den Körper betreffen.

Während die kolonialen Verhältnisse in den vielfältigen Studien über Brasilien immer wieder thematisiert wurden, blieben Autor:innen anderer Hautfarbe, Klasse und Gender meist außen vor. Es ist kein Zufall, dass wichtige Texte wie Brazil: Mixture and Massacre (Brasilien: Mischung und Massaker) von Abdias Nascimento, der 1977 erstmals in Nigeria veröffentlicht wurde, an den brasilianischen Universitäten fast durchgängig in den Bibliografien der Human-, Sozial- und Kunstwissenschaften fehlt. Die Neuauflage (Nascimento, 2016) lässt hoffen, dass dieses bahnbrechende Buch angesichts seiner tiefgreifenden und unbestreitbaren Erkenntnisse über den strukturellen Rassismus und den Völkermord an der afrodiasporischen Bevölkerung in Brasilien in den nächsten Jahren den ihm gebührenden Platz erhalten wird. In zahlreichen von Ianni (2000) zitierten Texten erscheinen die kolonialen Hierarchien als für die heutige brasilianische Gesellschaft gültig. Auch wenn dies in den Kunststudien, denen ich mich nun zuwende, nicht immer so deutlich in Erinnerung gerufen wird, durchdringt das Bewusstsein dafür doch viele, wie gesagt hauptsächlich, weiße Autor:innen.

Zur Periodisierung brasilianischer Kunst und zu ihren Entstehungsmythen Wie in allen lateinamerikanischen Ländern war der koloniale Kontext in Brasilien für die Meisternarrative in den Kunstwissenschaften verantwortlich. Aus diesem Grund ist die argentinische Kunsthistorikerin Andrea Giunta (apud Ferreira, 2011, S. 29) der Meinung, dass „die Kunstgeschichte in Lateinamerika eine lokale Einschreibung der historisierenden Methode der westlichen Kunstwelt sowie ihrer etablierten Narrative ist“. Import und Umsetzung europäischer Ideen waren, wie wir sehen werden, für alle Kunstwissenschaften prägend. Der Einfluss des europäischen Stilepochenparadigmas zieht sich durch die gesamte Periodisierung der brasilianischen Kunst. Es werden drei Momente benannt: vorkoloniale Kunst (paläolithische und indigene), Kolonialkunst (zumeist Barock) und brasilianische Kunst. Letztere wird in der Regel mit der Ankunft der Missão Francesa (Französische Kunstmission) in Verbindung gebracht. Sie kam 1816 mit dem Ziel nach Brasilien, eine Hochschule für das Studium der Künste, die Academia Imperial de Belas Artes (Kaiserliche Akademie der Bildenden Künste) in Rio de Janeiro, einzurichten. Ursprünglich umfasste das Projekt auch Wissenschaften und Handwerk. Die Akademie ist in der Tat der wichtigste Ursprungsmythos der brasilianischen Kunstgeschichte. Es sei daran erinnert, dass die erste Akademie dieser Art 1563 in Florenz von Giorgio Vasari gegründet wurde. Sie verfolgte zwei Ziele: den Status der Künstler:innen zu erhöhen und ihre Ausbildung zu verbessern. Geleitet wurde sie von einem Aristokraten, dem Großherzog Cosimo de Medici (1519–1574), und einem Künstler, Michelangelo.

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Was ist brasilianische Kunst und wie wird sie studiert?

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Strebens nach Professionalisierung waren die Ausstellungen der Akademien, die in ganz Europa zu einem größeren Interesse an den Künsten führten und die Kritik förderten. Auf die Ausstellungen folgte bald die Gründung von Museen, die sowohl die großen königlichen Sammlungen, wie etwa den Louvre in Paris oder den Prado in Madrid, als auch die anderer Adliger und Mäzenen, wie das Ashmolean-Museum in Oxford, das 1683 als erstes modernes Museum der Welt eröffnet wurde, der Öffentlichkeit zugänglich machten. Dieses europäische Modell des Lehrens und Ausstellens der Künste wurde nach der Ankunft des portugiesischen Hofes in Brasilien im Jahr 1808 umgesetzt. Die Königsfamilie floh vor dem französischen Kaiser Napoleon und etablierte sich als einzige europäische Monarchie in einer Kolonie. Heute weiß man, dass König João VI . nicht für die Einladung der Mission verantwortlich war und dass die Akademie – eine Ironie der Geschichte – einer Initiative der Franzosen zu verdanken ist. Laut Elaine Dias (2015, S. 138) ging die Ankunft einer Gruppe von Architekten und Malern, die die Reise zur „Förderung des künstlerischen und wissenschaftlichen Fortschritts“ befürworteten, auf Joaquim Le Breton (1760–1819) zurück. Angeregt worden war sie von einem portugiesischen Höfling, António Araújo e Azevedo, Graf von Barca (1754–1817) (Dias, 2015, S. 141). Bis zu diesem Zeitpunkt, aber auch danach, hatten die Künste, insbesondere die bildenden, es in Brasilien schwer. Das portugiesische Königreich versuchte seit der Kolonialisierung, die Existenz des Landes zu verschleiern, indem es die Produktion von Bildern vermied und die Texte, die es beschrieben, kontrollierte. Dies geschah zum einen, um die vorgefundenen Bodenschätze nicht preiszugeben, und zum anderen, um die Kolonialisierung zu rechtfertigen. Der erste berühmte Text war der Brief von Pero Vaz de Caminha (1450–1500), der den zivilisatorischen Impetus des kolonialen Unternehmens lobte und gleichzeitig eine pejorative und homogenisierende Vorstellung von den angeblich kannibalischen Einwohnern entwickelte, die katechisiert werden sollten. Logophilie  – die Bevorzugung des Wortes, um diesen Diskurs zu fabrizieren – in Verbindung mit Ikonophobie – der Missachtung des Bildes – hat die Geschichte der Künste in Brasilien seit der Ankunft der Portugiesen in neoplatonischer Art und Weise geprägt. Dies ging mit einer Verachtung manueller Arbeit, die mit Sklavenarbeit assoziiert wurde, einher, wie wir Abb. 94: Atlas Miller, Pedro Reinel und Lopo Homem, noch genauer sehen werden. 1519, Grafik, Bibliothèque nationale de France, Paris

Zur Periodisierung brasilianischer Kunst und zu ihren Entstehungsmythen

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Die Entwicklung der kolonialen Bildsprache nahm viel mehr Zeit in Anspruch als die Produktion von Texten. Valeria Piccoli (2015, S. 63) spricht von einer „bemerkenswerten Knappheit an Bildern, die in den ersten beiden Jahrhunderten der Kolonialisierung Brasiliens die Regel war, insbesondere was die Darstellung der natürlichen Ressourcen betrifft“. Die ersten Darstellungen des unbekannten Landes durch die Europäer finden sich nur auf Landkarten, einem unentbehrlichen Mittel für die Eroberung. Sie zeigen die tropische Üppigkeit reduziert auf „kleine Vignetten in der Art von Illuminationen“ (Piccoli, 2015, S. 63), oft auch bedrohliche mythologische Wesen, die von der europäischen Fantasie geschaffen wurden, inspiriert von ihren Ängsten bezüglich der Seereisen, und die ersten Eindrücke der Ureinwohner beim Holzhacken des Brasilholzes im Dienste der Kolonisatoren. Ölgemälde kamen erst auf, als Franzosen und Niederländer versuchten, einen Teil der Neuen Welt zu erobern. Künstler wie André Thevet (1502–1590), Jean de Léry (1536–1613), Frans Post (1612–1680) und Albert Eckhout (1610–1666), deren Aufgabe es war, das Land und seine Bewohner zu porträtieren, hatten oft ein geopolitisches oder wissenschaftliches Interesse. Diese Künstler schufen nicht nur Bilder und damit ein Imaginäres der besetzten Orte, sondern studierten auch die ursprüngliche Bevölkerung sowie Flora und Fauna des Landes. Es handelt sich um sogenannte „amerikanische Gemälde“, die stark von der Tradition topografischer Landschaften geprägt sind und deren Kompositionen den Traditionen der niederländischen Malerei jener Zeit folgten (Piccoli, 2015, S. 65).

Abb. 95: Heiliger Franziskus Fluss, Frans Post, 1639, Öl auf Leinwand, Louvre, Paris

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Was ist brasilianische Kunst und wie wird sie studiert?

Dieser fremde Blick blieb bis ins 19. Jahrhundert vorherrschend, insbesondere in Gemälden und Zeichnungen. Die Landschaft des Heiligen-Franziskus-Flusses ist eines von sieben erhaltenen Gemälden von Frans Post und ein gutes Beispiel für die niederländische Landschaftstradition. Das Wasserschwein und der Kaktus wurden ganz natürlich in das Schema der traditionellen flämischen Barockmalerei eingepasst. Durch die Etablierung einer europäischen Idee bildender Kunst behielt die Akademie der Künste die Tradition des fremden Blickes bei. Sie organisierte ihre erste Ausstellung im Jahr 1828, die jedoch nur einen Tag dauerte. Im nächsten Jahr folgte eine umfangreichere Ausstellung. Die Akademie löste auch die ersten kritischen Texte aus, die zunächst ausschließlich von ihren Direktoren und Lehrern geschrieben wurden. Darüber hinaus legte die Akademie eine eigene Sammlung an, die aber erst 1880 als Museum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde (Migliaccio, 2015). Aber auch wenn die Geschichte der Akademie als Erfolgsgeschichte geschrieben wurde, dürfen wir nicht vergessen, dass ihr Einfluss sehr gering war und letztlich eine viel unmerklichere Wirkung in der Gesellschaft hatte, als der Mythos glauben machen will. Der brasilianische Kunsthistoriker Tadeu Chiarelli (2010) kritisiert deshalb, dass es zwar üblich, aber nicht korrekt sei, die Gründung der Akademie als Wendepunkt in der brasilianischen Kunstgeschichtsschreibung zu betrachten. Er erklärt, dass es Luiz Gonzaga Duque-Estrada war, der in seinem 1888 erschienenen Buch A arte brasileira, pintura e escultura (Brasilianische Kunst: Malerei und Bildhauerei) erstmals die brasilianische Kunstproduktion systematisierte und dabei die Gründung der Akademie als Einschnitt beschrieb. Duque-Estrada (1888) stellte in seinem Buch insgesamt drei Perioden vor, deren Titel die evolutionäre Absicht seiner Geschichtsschreibung verdeutlichen: Manifestation (Kolonialzeit bis zur Ankunft der französischen Mission), Bewegung (1831–1870) und Fortschritt (die Zeit des Autors). Die paläolithische oder indigene Kunst wurde nicht berücksichtigt, da sie nicht als solche angesehen wurden. Duque-Estrada folgte dem bewährten klassischen biografischen Modell Vasaris, das Künstler:innen aufzählt und Bewertungen abgibt, ohne dass dabei Kriterien kenntlich würden. Er schrieb anekdotisch und ging auch auf das Privatleben der Künstler ein, etwa den Familienstand und die Anzahl der Kinder. Am Ende des Buches gibt es noch zwei Kapitel über Amateurkünstler und über Bildhauerei. Der italienische, in Brasilien lebende Kunsthistoriker Luciano Migliaccio (2015, S. 193) ist bestrebt Duque-Estrada als Gründungsvater der brasilianischen Kunstgeschichte ins bestmögliche zeitgenössische Licht zu stellen. Er behauptet deshalb, dass er mit seiner Periodisierung die Akademie nicht loben wollte, auch wenn wir in seinem Buch folgenden Kommentar finden: „Die Kolonie französischer Künstler, die 1816 in Rio de Janeiro eintraf, leitete eine neue Ära in der brasilianischen Kunst ein. (…) Die Eröffnung der Akademie (1826) ist ein Vorbote einer Phase der Blüte“ (Duque-Estrada, 1888, S. 49). Migliaccio hebt ebenfalls hervor, dass Duque-Estrada die Unterscheidung zwischen nationaler Kunst und akademischer Produktion für eine Fiktion und die Verbindung zwischen der von der französischen Mission importierten Tradition und der Entstehung der brasilianischen Kunst für eine Illusion hielt. Er beschreibt Duque-Estrada dementsprechend als luziden Kommentator der Besonderheiten der kolonialen Situation:

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Eine brasilianische Kunst gab es noch nicht, weil es kein brasilianisches Volk  gab: Sie konnte nur aus der Darstellung der sozialen, menschlichen und natürlichen Realität des Landes entstehen. Duque-Estradas Kritik drückte die Suche nach einer Erneuerung aus, die außerhalb der offiziellen Institutionen gesucht wurde. (Miglaccio, 2015, S. 193)

Duque-Estrada erscheint so als Vater der brasilianischen Kunstgeschichte ohne nationalistische Voreingenommenheit. Im nächsten einflussreichen Buch, História geral da arte no Brasil (Allgemeine Kunstgeschichte Brasiliens), das 1983 von Walter Zanini herausgegeben wurde, erkennt Chiarelli die schon bekannte Periodisierung wieder. Er kritisiert korrekterweise die Isolierung der indigenen, afrobrasilianischen und volkstümlichen Künste im Verhältnis zu den Manifestationen der europäischen Kunst. Auch versteht er das Buch nicht als eine Neuschreibung der Geschichte der brasilianischen Kunst, „denn die Allgemeine Geschichte behielt denselben chronologischen Charakter bei und blieb, wie das vorherige Werk, auf die Vorherrschaft der europäischen Ursprungsmanifestationen im Land konzentriert“ (Chiarelli, 2010, S. 54). Dennoch wurden fast ein Jahrhundert später in diesem wesentlich differenzierteren und umfangreicheren Buch viele Themen eingeführt, die in akademischen Kreisen so noch nicht behandelt worden waren: vorkoloniale Kunst, indigene Kunst, Jugendstil, Fotografie, visuelle Kommunikation, afrobrasilianische Kunst, Kunsthandwerk, Kunst und Bildung, die zeitgenössische Architektur, das 17. Jahrhundert und die Maler Nassaus. Das historische Kapitel, das im Vordergrund steht, ist der legendären Semana de Arte Moderna (Woche der Modernen Kunst) von 1922 gewidment. Sie wird als ein weiterer Wendepunkt dargestellt und als zweiter Ursprungsmythos der brasilianischen Kunstgeschichte eingeführt, diesmal in Bezug auf den Modernismus. Im Jahr 2015 wurde das dritte und jüngste Panoramabuch veröffentlicht: Sobre a arte brasileira: da pré-historia aos anos 1960 (Über die brasilianische Kunst: von der Vorgeschichte bis zu den 1960er-Jahren), herausgegeben von Fabiana Werneck Barcinski. Auffallend ist das Fehlen von Kapiteln über indigene und afrobrasilianische Kunst; es wird nur die Volkskunst (arte popular) betrachtet. Das Buch beleuchtet besonders das 20. Jahrhundert und gliedert es in drei Kapitel: Die Moderne; Konkrete Kunst; Die 1960erJahre – die Entdeckung des Körpers. Auf diese Weise wird die Bedeutung der jüngsten Kunst hervorgehoben, wobei die in Zaninis Buch verwandte Periodisierung beibehalten wird. Zusätzlich zu den bereits genannten Kapiteln gibt es: Prähistorische Kunst Brasiliens: von der Technik zum Objekt; Der fremde Blick und die Repräsentation Brasiliens; Manierismus, Barock und Rokoko in der religiösen Kunst und ihre europäischen Vorläufer; Kunst und Akademie zwischen Politik und Natur (1816 bis 1857); Kunst in Brasilien zwischen dem Zweiten Reich und der Belle Époque. Keines der genannten Bücher betrachtet die brasilianische Kunstgeschichte außerhalb der etablierten eurozentrischen Idee der Stilepoche. Am schockierendsten ist die Auslassung indigener und afrobrasilianischer Kunst im letzten Buch. Wenn man dies im Falle von Gonzaga-Duque für das Jahr 1888 noch erklären kann, ist es doch erstaunlich, dass, nachdem sie in Zaninis Buch zumindest als separate Kapitel zur Kenntnis genommen wurden, nun wieder gänzlich verschwunden sind.

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Was ist brasilianische Kunst und wie wird sie studiert?

Vom Verhältnis brasilianischer Kunst zu Europa, Afrika, Amerika und Asien Viele kunstwissenschaftliche Autor:innen haben sich Gedanken zum Verhältnis zwischen Europa und Brasilien gemacht. Erstaunlicherweise sind die Texte, die die Präsenz und den Einfluss afrodiasporischer und indigener Kunst reflektieren, wesentlich geringer. Ich werde zunächst die klassischen eurozentrischen Texte vorstellen, um dann auf Autor:innen, die über die Bedeutung und Definition von indigener und afrobrasilianischer Kunst nachdenken, einzugehen. Einer der meistzitierten Texte, der das Verhältnis zwischen Brasilien und Europa zu beleuchten versuchte, ist „ Das Kino: Wegweiser in die Unterentwicklung“ des Filmkritikers und Universitätsprofessors Paulo Emílio Salles Gomes aus dem Jahr 1973. Das Hauptziel des Autors war es, die Unterentwicklung als Erbe des Kolonialismus zu erörtern. Er verstand die Unterentwicklung nicht als einen historischen Moment, sondern auf essentialistische Weise, als einen unveränderlichen und dauerhaften Zustand Brasiliens, der zu lamentieren sei. Seine eurozentrische Sicht des Kinos wird in den ersten Sätzen deutlich, so als schriebe er gegen ein Vorurteil an: Brasilien ist eine Verlängerung des Westens, und das brasilianische Kino ist fest in der westlichen Kultur verwurzelt. Im Gegensatz zu anderen Ländern der Dritten Welt wurde Brasilien nie als solches kolonisiert. Der europäische „Kolonisator“ fand den einheimischen „Kolonisierten“ unzureichend und beschloss, einen neuen zu schaffen (Salles Gomes, 1982, S. 245).

In drei Sätzen streicht Salles Gomes sowohl die gesamte indigene, als auch die afrikanische und afrodiasporische Kultur. Für ihn konnte brasilianische Kunst ohne Dialog mit Europa nicht existieren. Das Verhältnis zwischen Europäern und Brasilianern beschrieb er dann als eine „ungewöhnliche Dialektik“, um die Eigenart brasilianischer Kultur hervorzuheben (Salles Gomes, 1982, S. 245). Die Schaffung des Neuen, konnte nur in enger, wenn auch ungewöhnlicher Beziehung zum Westen enstehen. Salles Gomes (1982, S. 245) präzisiert das, was er als ungewöhnlich empfindet, anhand von drei Charakteristika. Obgleich es eine symptomatische Mittelmäßigkeit und den referierten Zustand der Unterentwicklung gäbe, entdeckte er auch eine „kreative Unfähigkeit zu kopieren“. Darin läge die Möglichkeit einer neuen Kultur. Roberto Schwarz (1992, S. 28) umriss in seinem ebenfalls berühmten Text über brasilianische Literatur, mit dem Titel „Deplatzierte Ideen“, der nur wenige Jahre später, 1977, veröffentlicht wurde, die Situation der brasilianischen Künstler:innen in ähnlicher Weise. Auch er sah sie in enger Beziehung zu Europa. Dies resultiere in fortwährenden Verschiebungen und Zweideutigkeiten: Wenn man Brasilien kennt, erkennt man diese Verschiebungen, die von allen als eine Art Schicksal erlebt und praktiziert werden; dafür gibt es jedoch keinen richtigen Begriff, da der deplatzierte Gebrauch von Begriffen Teil ihrer Natur ist.

Dadurch, dass Schriftsteller:innen die europäische Gesellschaftsordnung und das Gedankengut deplatzierten, könnten sie etwas Besonderes schaffen:

Vom Verhältnis brasilianischer Kunst zu Europa, Afrika, Amerika und Asien

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Im Prozess der Reproduktion seiner Gesellschaftsordnung bestätigt und bekräftigt Brasilien unablässig europäische Ideen, und zwar immer auf deplatzierte Weise. In ihrer Deplatzierung werden sie zum Material und zum Problem für die Literatur. Der Schriftsteller mag sich dessen nicht bewusst sein und muss es auch nicht, um sie zu verwenden. (Schwarz, 1992, S. 29)

Anders als Bachtins Idee des Dialogismus oder Warburgs Konzept des Nachlebens wird hier der Fokus auf den andersartigen Kontext, der als Deplatzierung wahrgenommen wird, gelegt. Schwarz (1992, S. 30) attestierte dabei der brasilianischen Kultur und Literatur große Originalität. Salles und Schwarz kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen, was das Verhältnis Brasiliens zu Europa betrifft. Schwarz (1992, S. 20) sah es humorvoller als „ideologische Komödie“, während Salles Gomes das Problem dramatisch als hamletsche Tragödie innerhalb der europäischen Gelehrtenkultur fasste. Letzterer beschrieb die brasilianische Identität als eine ständige Spannung zwischen Sein und Nicht-sein: Wir sind weder Europäer noch Nordamerikaner. In Ermangelung einer ursprünglichen Kultur ist uns nichts fremd, weil uns alles fremd ist. Die schmerzhafte Konstruktion unserer selbst entwickelt sich in der ungewöhnlichen Dialektik zwischen Nicht-Sein und Anderssein (Salles Gomes, 1982, S. 245).

Es ist denkwürdig, dass der Grund seiner Frustration die angebliche Inexistenz einer orginalen Kultur war. Hätte er die afrobrasilianische und indigene Kunst nicht ausgeklammert, oder, anders gesagt, hätte er kreolisch gedacht, wäre die Idee der Dialektik sowie die Entstehung von etwas Neuem durch diese Berührung gar nicht relevant gewesen. Der Eurozentrismus brasilianischen Gelehrtendenkens ließ und lässt dies jedoch nicht zu. Gut ein halbes Jahrhundert vor Salles Gomes hatte der Schriftsteller Oswald de Andrade (1991) in seinem berühmten „Anthropophagischen Manifest“ von 1928 das Problem von Sein oder Nichtsein ironisch als „Tupi oder nicht Tupi“ formuliert. Dabei benutzte Andrade aber die indigene Kultur mit seiner Referenz zu einer der größten Gruppen nur metaphorisch. Ein tatsächliches Interesse an der indigenen Bevölkerung und ihrem antikolonialem Kampf hatte er nicht. Der Mythos des Kannibalismus wurde für das Manifest aufgewärmt, damit die weiße Künstlerelite eine Kunsttheorie gegen Europa entwerfen konnte. Man besann sich aufs Matriarchat und andere soziokulturelle indigene Eigenheiten, um sich aber letztlich formal an der europäischen Avantgarde und Moderne zu orientieren. Im Kontext der Woche der Modernen Kunst von 1922, während der es zu einer Erneuerung der Kunst nach europäisch avantgardistischem Vorbild kam, gilt der Text immer noch als Meilenstein zur Behauptung einer, wenn auch nationalistischen, so doch eigenständigen, brasilianischen Kunstidentität und wichtiger Wegbereiter für den Tropikalismus, der in den 1960er-Jahren die Suche nach einer kritischen Perspektive zum westlichen Konsumismus weiterverfolgte. Moderne und Tropikalismus waren letztlich aber wieder nur bürgerliche Ausdrucksformen der weißen Elite, mit einem begrenzten Interesse an einer dekolonialen Perspektive. In Bezug auf Europa und die USA wurde eine Originalität behauptet, die die kolonialen Wurzeln nur oberflächlich anging und in ihren ästhetischen Strategien europäischer

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Was ist brasilianische Kunst und wie wird sie studiert?

Kultur verpflichtet blieb. Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang an eine Aussage von Edward Said (1994, S. 26) über den Kolonialismus zu erinnern, der alle Kulturen annäherte und sie miteinander verband: „Eine der Leistungen des Imperialismus war es, die Welt enger zusammenzuschließen.“ Dass es dadurch zu Kulturzid kam, erwähnte Said nicht. Auch hatte er keinen Vorschlag, wie man indigene, d. h. nicht-koloniale Kunst einbeziehen könnte. Sein Interesse galt der Dekonstruktion westlicher Literatur. In Bezug auf die afrikanische Kunst in der Diaspora zitierte der afrobrasilianische Künstler und Kurator Emanoel Araújo in dem wichtigen zweivolumigen Sammelband A Mão Afro-brasileira (Die Afro-brasilianische Hand) die erste anthropologische Studie, Africanos no Brasil (Afrikaner in Brasilien) von dem bereits erwähnten Nina Rodrigues (1988), die 1935 veröffentlicht wurde und „als erste die Aufmerksamkeit auf die Kunst der afrikanischen Siedler lenkte“ (Araújo, 2000, S. 17). Araújo sagte nicht, dass das Buch unverblümt rassistisch ist und sich auf einige damals salonfähige und suprematistische europäische Eugenisten berief. Der Begriff Siedler deutet zwar auf die kulturelle und ökonomische Bedeutung der gewaltsam nach Brasilien gebrachten Afrikaner hin, ist aber ein Euphemismus in Bezug auf ihren Status als Versklavte. Einer der wenigen positiven Aspekte des Buches besteht darin, dass es nicht nur den Einfluss der versklavten Künstler aus Afrika, sondern auch den ihrer brasilianischen Nachkommen erstmals systematisierend darstellte. Eine kritische Betrachtung von Rodrigues wurde vom bereits genannten Abdias Nascimento entwickelt. Er war Künstler, Aktivist, Professor und Parlamentsabgeordneter und gründete 1944 das Teatro Experimental do Negro (Schwarzes Experimentaltheater). In verschiedenen akademischen und politischen Kontexten prangerte er den sowohl physischen als auch kulturellen Völkermord an der versklavten afrikanischen und afrodiasporischen Bevölkerung Brasiliens an. Sein Werk beschäftigt sich mit der Auslöschung, dem Verbot, dem Bleichen und der falschen Etikettierung der als schwarz rassialisierten Kunst und Kultur Brasiliens, die normalerweise aus der Debatte ausgeschlossen und in den Kontext der Ethnografie als Folklore verbannt wurde, etwa durch Nina Rodrigues. Nascimento war sich bewusst, dass es ohne die Schaffung einer Ideologie der weißen europäischen Überlegenheit unmöglich gewesen wäre, die afrikanischen und afrodiasporischen Menschen materiell und menschlich auszubeuten. Der Impetus der Entmenschlichung sei in Brasilien immer noch vorherrschend, indem Afrikanern, und somit auch ihren brasilianischen Nachkommen, jegliche Zivilisiertheit abgesprochen wurde und Abb. 96: Teatro Experimental do Negro wird: „Entsprechend dieser Ideologie hat (Schwarzes Expe­rimentaltheater), Probe, 1957

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der afrikanische Schwarze keine Geschichte, hatte nie eine Kultur; seiner ‚natürlichen’ Existenz fehlte es immer an Kunst, Religion und Subtilität“ (Nascimento, 2016, S. 197). Wir haben gesehen, dass Anta Diop und Jackson genau das Gegenteil aufzeigten, nämlich, dass das schwarzafrikanische Ägypten, aber auch viele andere afrikanischen Zivilisationen die Wiege der Menschheit seien. Nascimento wusste aber, dass es in Brasilien innerhalb des eurozentrischen Denkens über Kunst nie Raum für Reflexionen über afrobrasilianische Ausdrucksformen oder Künstler:innen gegeben hat und es wohl auch kaum jemals geben werde: Aus all diesen Gründen ist es nicht verwunderlich, dass Schwarze so gut wie keine Rolle in der Produktion der elitären Kunst spielen, die als bildende bezeichnet wird. Wir stellen mehr als 50% der brasilianischen Bevölkerung von einhundertzehn Millionen Einwohnern, was mindestens sechzig Millionen Afrobrasilianer bedeutet. Aber wo sind die repräsentativen schwarzen Künstler aus der afrobrasilianischen Kulturperspektive? Es gibt nur wenige. Dennoch bezeugt Roger Bastide die Entstehung einer afrobrasilianischen Ästhetik: „Die afrobrasilianische Kunst ist eine lebendige, nicht stereotypisierte Kunst. Aber in ihrer Entwicklung bis hin zu den jüngsten Transformationen hat sie sowohl die mentalen als auch die ästhetischen Strukturen Afrikas bewahrt.“ (Nascimento 2016, S. 201)

Sein Text, der 1976 zur gleichen Zeit wie die Aufsätze von Salles Gomes und Schwarz verfasst wurde, wirft zwei wichtige Fragen auf: Warum dachten die beiden Autoren nicht über diese Fragen nach und ignorierten so kategorisch indigene und afrobrasilianische Kunst? Und warum erinnert man und lehrt nur deren Texte und nicht die von Nascimento? Die Antwort liegt auf der Hand. Salles Gomes und Schwarz konzentrierten sich auf die Beziehungen zu Europa und die USA . Für sie, die weiße Elite, war keine andere Frage von Bedeutung oder Interesse, denn sonst wären die Privilegien ihrer Schicht infrage gestellt worden. Es lohnt sich hier, an eine weitere Erkenntnis von Edward Said (1994, S. 16) zu erinnern, diesmal über die Beteiligung der Kultur am Kolonialismus: Die meisten professionellen Humanisten sind daher unfähig, eine Verbindung zwischen der Grausamkeit solcher Praktiken wie Sklaverei, Kolonialismus, rassischer Unterdrückung, imperialer Unterwerfung einerseits und der Dichtung, Literatur und Philosophie der Gesellschaft, die sich auf diese Praktiken einlässt, andererseits herzustellen.

Wir haben das bereits in den vorherigen Kapiteln gesehen. Auch habe ich im ersten Kapitel gezeigt, dass gerade in ehemaligen Kolonien die Dekolonialisierung fasst unmöglich gemacht wird, was an dem in Salles und Schwarz so offensichtlichen Eurozentrismus liegt. Da die afrikanischen und indigenen Anteile in der brasilianischen Kultur und ihre eigenständige Existenz nicht gewürdigt werden, da brasilianische nationale Kultur als weiß verstanden wird – obgleich natürlich Samba, Karneval und andere Feste akzeptiert werden, jedoch nur als folkloristisch  –, nahmen Salles Gomes und Schwarz zwar eine gewisse Originialität wahr, aber immer nur mit einem leicht frustrierten Blick in Richtung Europa. Dieses Minderwertigkeitsgefühl wurde am besten in einem Ausdruck des

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einflussreichsten Dramatikers des Landes, Nelson Rodrigues (1912–1980), zusammengefasst. Er resümierte in den 1950er-Jahren über die Ressentiments der weißen Elite und deren Verzweiflung über ihren nicht-europäischen Status. Dabei machte er sich über ihren „Straßenköterkomplex“ lustig: Mit „Straßenköterkomplex“ meine ich das Minderwertigkeitsgefühl, in das sich der Brasilianer gegenüber dem Rest der Welt freiwillig begibt. Der Brasilianer ist ein umgekehrter Narziss, der in sein eigenes Bild spuckt. Die Wahrheit ist: Wir finden keine persönlichen oder historischen Vorwände für Selbstachtung. (Rodrigues apud Mariotti, 2007)

Aufgrund seiner ebenfalls kolonialen Haltung, fand Rodrigues letztlich auch nichts, worauf Brasilien hätte stolz seien können. Ganz im Gegenteil zu dieser weißen Haltung verwies die afrobrasilianische Soziologin Lélia Gonzalez (1935–1994) auf die großartigen Errungenschaften, die auf dem amerikanischen Kontinent hervorgebracht wurden. Sie benutzte den Begriff des „Amefrikanischen“, um das „gigantische Werk kultureller Dynamik“ Amerikas (Gonzalez, 2020, S. 138) deutlich zu machen. Das Konzept zielt darauf ab, ein Bewusstsein für den Beitrag der indigenen Völker, der versklavten Afrikaner und derjenigen, die aus dem kolonialen Kontakt hervorgegangen sind, zu schaffen. Abgesehen von Abdias Nascimento und Lélia Gonzalez ist diese Art der dekolonialen Haltung sehr selten, vor allem in den Mainstream-Kunstwissenschaften. Selbstkritik in Bezug auf den Eurozentrismus der brasilianischen Kunstgeschichte ist unter Akademikern schwer zu finden, mit Ausnahme des bereits zitierten Tadeu Chiarelli. Bevor ich auf einige Studien afrobrasilianischer Kunsthistoriker:innen und indigener Künstler:innen eingehe, um die Bedeutung ihrer Kunst noch stärker in den Vordergrund zu rücken, möchte ich noch eine weitere Perspektive auf das bei Schwarz und Salles Gomes bemerkbare Paradoxon der europäischen Kultur als Referenz für Brasilien vorstellen. Muniz Sodré bezeichnet den Import der europäischen Gesellschaftsform und Kultur als tromp l’oeil, ein Bild, das den Augen etwas vormacht, was nicht der Realität entspricht. Aber das tromp l’oeil birgt ein Potenzial für Erkenntnis, mit dem der Autor der schwarzschen Idee der Deplatzierung der Ideen in Brasilien widerspricht. Es gehe nicht um eine Übertragung am falschen Ort, sondern um das Aufsetzen einer liberalen Maske, die die wahren Mechanismen der Aufrechterhaltung der Sklavenhaltergesellschaft unkenntlich zu machen versuche: Nichts ist hier „deplatziert“, da der Ort, den man als universell deklariert, nur allgegenwärtig sein kann. (…) Denn so wie das tromp l’oeil mit der Perspektive spielt und seinen Versuch kenntlich macht, den dreidimensionalen Raum wiederzugeben, so zeigt die bürgerliche Kultur, die nach Brasilien verpflanzt wurde (und eine Wahrheit simuliert, die nur für eine Minderheit gilt), deutlich die Täuschung, die dem liberalen Spiel innewohnt, und somit tatsächlich die koloniale Macht, die sie beherbergt, denunziert (Sodré, 2019, S. 38).

Wo Schwarz künstlerisches Potenzial für die weiße schriftstellerische Elite sieht, erkennt Sodré eine Augentäuschung, die nach dem Ende der Sklavenhaltung von der kolonialen

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Ausbeutung abzulenken suchte, diese aber eigentlich  – wenn man sie als tromp l’oeil erkennt – sichtbar macht. Das zentrale Problem der brasilianischen Kultur besteht demzufolge darin, dass indigene und afrodiasporische Kunst nie in Betracht gezogen wurden. Es scheint nun klar zu sein, dass das brasilianische Problem der Selbstpositionierung in theoretischen Reflexionen zu Kunst und Kultur, immer nur das Dilemma der brasilianischen weißen Mittelschicht ausdrückt. Ich möchte betonen, dass ihre Fiktionen suggerieren, dass die gesamte brasilianische Kunstproduktion ausschließlich in Bezug auf Europa zu sehen und zu denken ist, egal ob es sich um eine Annäherung oder Distanzierung davon handelt und ob afrikanische und indigene Elemente zitiert werden. Dabei muss nochmals deutlich gesagt werden, dass wann immer Völker aufeinander treffen und Kunst rezipiert wird, es Austausch, Assimilierung oder Addition gibt. Dialogismus, Pathosformel oder Nachleben sind die Begriffe, mit denen der Westen dies – allerdings nur für sich – bisher im Positiven beschrieben hat. Bei der Analyse brasilianischer Kunst muss noch genauer auf die Dynamik der Kolonialität geachtet werden, um zu einem tieferen Verständnis zu gelangen. Denn im Falle Brasiliens verkompliziert die Kolonialgeschichte die Angelegenheit. Tadeu Chiarelli (2002, S. 12) ist deshalb der Meinung, dass die brasilianische Volkskunst ein Auffangbecken für die Kunst der indigenen und versklavten Afrikaner war, aber auch der portugiesischen Kolonialherren und anderer europäischer und asiatischer Einwanderer, die später, im 19. und 20. Jahrhundert nach Brasilien immigrierten. Er stilisiert die Volkskunst zu einer glücklichen Assimilation, um Flussers Ausdruck zu verwenden. Der Autor räumt dabei ein, dass sie sich zwar stärker an europäischen Standards anlehnt, ihr Einfluss auf die bildende oder hohe Kunst aber nicht zu übersehen sei. Die Besonderheit der nationalen Kunst bestehe darin, in der Lage zu sein, die Haltungen und Verfahren der Volkskunst zu übernehmen (Chiarelli, 2002, S. 12). Chiarelli sieht dies als große Leistung an, und meint, dass die hohe Kunst, obwohl sie versucht habe, europäisch zu sein, es nie wirklich war: In der Tat ist sie nicht gänzlich von der europäischen bildenden Kunst abgeleitet, denn im Prozess der Übernahme der dominanten europäischen Werte musste die lokale Produktion oft Elemente aus den populären Schichten der nicht dominanten Kulturen (aus anderen ethnischen, aber auch aus anderen nicht hegemonialen Gruppen) integrieren und auch ein recht großes Kontingent an weiblichen Produzenten aufnehmen. (Chiarelli, 2002, S. 13)

Chiarelli bietet somit ein kordiales Modell der Kunsthybridität, das, so nett es klingt, letztlich wieder ein tromp l’oeil ist, da es die indigene und afrodiasporische Kunst nicht benennt, sondern in den Schmelztiegel der Volkskunst wirft. Wir begegnen hier wieder der hegelschen Idee der Synthese. Dabei wäre es interessanter, über Amefrikanität und Kreolität nachzudenken. Auch wenn sowohl niedere wie hohe Kunst oft – bewusst oder unbewusst – dem Wunsch nach Europäisierung widerstanden haben, müssen wir uns dennoch mit der faktischen Unterdrückung der als Andere deklarierten Künstler:innen auseinandersetzen. Aus diesem Grund müsste in einer Diskussion des amefrikanischen und kreolischen auch über Subalternisierung nachgedacht werden. Anders gesagt, es geht um Bedeutungshoheit und die Art und Weise für welche Epistemologie sie entschieden wird.

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Abb. 97: Hori, Daiara Tukano, 2017

Die absurde Anwendung der europäischen Epistemologie für indigene Kunst in Kunstwissenschaften, Ethnografie, Anthropologie und Archäologie sowie die groteske und subalternisierende Darstellung indigener Menschen und Themen in der als national verstandenen brasilianischen Kunst wird von einigen indigenen zeitgenössischen Künstler:innen, u. a. Daiara Tukano (2019), Denilson Baniwa (2021) und dem verstorbenen Jaider Esbell (2020, 2021), in Texten und ihrer eigenen Kunst bemängelt. Obgleich sie, wie bereits erwähnt, innerhalb des Systems der zeitgenössischen Kunst ausstellen und westliche Techniken und Formen verwenden, bewahren sie doch ihre eigenen Epistemologien, um diese auszudrücken oder um für indigene Rechte zu kämpfen. Sie formulieren keine Kunsttheorien, sind aber kritisch der westlichen Kunstwissenschaft gegenüber und erklären, dass „Worte wie Mythos, Kunst und Kunsthandwerk verletzend sind“ (Tukano, 2019). Ihre nicht hegemoniale Herangehensweise basiert auf einem kommunitären Verständnis, das auf Austausch und gemeinschaftlichem Erleben aufbaut. Die Privilegien der Kunstwelt und dessen Kanon haben für sie kein Interesse, und die Art und Weise, wie indigene Kunst zu Studienobjekten wurde, finden sie zumeist absurd. Die Unterteilung ihrer Kunst in voneinander getrennte Bereiche wie Federkunst, Keramik, Korbflechten, Körperbemalung etc. (Ribeiro, 1957; Vidal, 1992), erscheint ihnen unsinnig. Dasselbe gilt für Unterteilungen in Regionen und Epochen. Ihre Ausdrucksformen sind als Teil einer Weltsicht und Kommunikation mit dem Nichtsichtbaren und Vermittlung von Wissen für und über die sichtbare Welt miteinander verbunden. Und obgleich es Unterschiede zwischen den verschiedenen indigenen Völkern gibt, sehen sie sich als verwandt an. Auch wehren sie sich vehement gegen das Ausstellen, Kategorisieren und Katalogisieren ihrer Kunst in ethnografischen Museen (Tukano, 2019). Vor allem den Raub und das Präsentieren von Urnen mit den Überresten ihrer Vorfahren und Ahnen sehen sie mit vollkommenem Unverständnis und tiefer Trauer.

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Kunsttheorien finden wir, wie bereits vorgestellt, bei den Anthropologen. Els Lagrou (2009, S. 35) fasst die Bedeutung indigener künstlerischer Arbeit und ihren Handlungscharacter wie folgt zusammen: Es gibt keinen Unterschied zwischen der produktiven Schönheit eines Kochtopfes, einem Kind, das gut gepflegt und geschmückt ist, und einem Hocker, der mit Sorgfalt geschnitzt ist. Die Piaroa (in Venezuela) sagen, dass alle diese Gegenstände – Menschen und Objekte – Früchte der Gedanken ihrer Produzenten sind. Jedes von ihnen hat seine eigene Handlungsfähigkeit: Sie sind schön, weil sie eine Funktion haben, nicht weil sie kommunizieren, sondern weil sie handeln.

Jaider Esbell erklärte die zentrale Bedeutung von Kunst in indigenen Gesellschaften auf noch poetischere Art und Weise, indem er die schon bei Lagrou angedeutete symbiotische Verwandtschaft herausstellte: „Indigene und Kunst haben dieselbe Herkunft und sind untrennbar. Wenn man diesen Satz akzeptiert, hat man viel verstanden.“ Anders gesagt, Kunst ist nicht nur eine zentrale Tätigkeit, die die Identität der Menschen zutiefst prägt, da sie, wie Lagrou deutlich macht, in allen Details des täglichen Lebens zugegen ist und Handlungscharakter hat. Menschen und Kunst sind darüber hinaus gleichwertig, da sie beide Schöpfungen sind. So wie die Natur sind sie Subjekte. Wir haben in der westlichen Epistemologie den Versuch beobachtet, Künstler:innen mit dem Schöpfer gleichzusetzen. Dies ist in indigenen Kulturen gar nicht nötig, da der Zusammenhang ganz natürlich besteht. Schöpfen ist keine Allmacht, sondern eine selbstverständliche Tätigkeit. Brasilien hat eine lange Tradition in der Erforschung und Sammlung der materiellen und immateriellen indigenen Kultur. Die Faszination mit Federschmuck und Körperbemalung habe ich schon genannt. Die afrikanische und afrodiasporische materielle und immaterielle Kultur erregte aufgrund der Dehumanisierung der Sklaverei hingegen kaum Aufmerksamkeit. Nina Rodrigues (1988) erste anthropologische, aber rassistische Studie afrikanischer Kunst habe ich bereits erwähnt. Zeitgleich erschienen verschiedene Arbeiten des Afrobrasilianers Manuel Querino (1911, 1913, 1916, 1918) über afrikanische und afrodiasporische Künstler in Bahia. Im Gegensatz zu Rodrigues, der aus den als Schwarze rassialisierten Brasilianern ein Forschungsobjekt machte und sie und ihre Kunst dann als minderwertig darstellte, wies Querino die zivilisatorischen Fähigkeiten der Afrikaner und ihren fundamentalen Beitrag zur Entwicklung Brasiliens aus: Wer auch immer unsere Geschichte schreibt, wird sich des Wertes und des Beitrags des Schwarzen bei der Verteidigung des nationalen Territoriums, in der Landwirtschaft, im Bergbau, als Bandeirante, in der Unabhängigkeitsbewegung, mit der Waffe in der Hand, als wertvolles Element in der Familie und als Held der Arbeit in allen nützlichen und gewinnbringenden Anwendungen sicher sein können (Querino, 1980, S. 30).

Querinos Arbeiten zur Kunst Bahias wurden später kritisiert, da sie sich sowohl auf Dokumente als auch auf orales Wissen bezogen, wobei zweiteres als nicht verlässlich angesehen wurde. Eine Generation weißer oder mestizischer Autoren folgte, die eine paternalistische Sichtweise auf afrobrasilianische Kunst entwickelte. Arthur Ramos (1934) und Clarivaldo

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Valladares (1968) sind die Bekanntesten. Sowohl Rodrigues als auch Ramos basierten ihre Studien auf von der Polizei beschlagnahmten afrikanischen und afrobrasilianischen Werken, die zumeist dem Candomblé oder Xangô Kult entstammten. Es ist wichtig zu erwähnen, dass die ersten brasilianischen Sammlungen, die sich noch heute in Museen und Universitäten befinden, durch diese Art von gewaltsamer Aneignungen entstanden (Lody, 2005). In Zaninis Buch findet sich ein gut recherchiertes Kapitel von Mariano Carneiro da Cunha (1983), der wie schon Querino die Bedeutung der afrodiasporischen Bevölkerung und ihre Kunst studierte und auf die Notwendigkeit verwies, sie in allen Sozial- und Humanwissenschaften anzuerkennen. Er benannte noch weitere Probleme: die afrodiasporischen Elemente wurden von der weißen Kunst ausgiebig genutzt, aber afrikanische Bilder und Themen wurden vertuscht oder versteckt; der Übergang von afrikanischer zu afrobrasilianischer Kunst fand keine Aufmerksamkeit; die Definition reduzierte die Kunst auf Religiosität und Kulte; die Epistemologien und Kosmologien waren nicht bekannt; die Portugiesen eigneten sich vieles für ihre eigenen Zwecke an; den versklavten Afrikanern wurde die Ausübung ihrer Kunst verboten (z. B. die Goldschmiedekunst seit 1612); und afrodiasporische Künstler wurden nach der Abschaffung der Sklaverei marginalisiert. Die Beiträge von Abdias Nascimentos und Emanuel Araújo aus den 1980er-Jahren habe ich bereits kurz erwähnt. Dabei sei angemerkt, dass Nascimento viel kritischer und direkter war, was Genozid, Kulturzid und Rassismus angeht. Araújo bewegte sich zumeist in den Fahrwassern des weißen Establishments und versuchte, die afrobrasilianische Kunst in die eurozentrische Kunstgeschichte einzufügen. Bei den neueren zeitgenössischen Autoren gibt es teilweise einen eher halbherzigen Versuch, einen Überblick zu eröffnen (Conduro, 2007), aber auch intensive Auseinandersetzungen vonseiten afrodiasporischer Autoren wie Marcelo D’Salete Souza (2009), Renato Araújo da Silva (2016), Barbara Felinto (2019) und Hélio Santos Menezes Neto (2018). Sie versuchen, mit dem Begriff der afrobrasilianischen Kunst klarzukommen und ihm einen kritischen Sinn zu geben. Renata Felinto (2019), Künstlerin, Forscherin und Professorin, macht dabei eine wichtige allgemeine Feststellung zur Vielfarbigkeit der Kunstgeschichte, die auf einen weißen Narrativ reduziert wurde: Die Geschichte der bildenden Kunst in der Welt und in Brasilien ist nicht blass. Die Vielfalt der Farben übersteigt die Grenzen von Kunstobjekten, Zeichnungen, Gemälden, Stichen, Skulpturen, Modellierungen, Fotografien, Performances, Videos, Installationen, Konstruktionen. Was immer wir als Kunstwerk bezeichnen, wird von Menschen erdacht und materialisiert und wir wollen die Farben all der Menschen kennen und sehen, die sich mit ihrer Existenz und ihrer Kunst in die Geschichte eingeschrieben haben.

Um die Kunstwissenschaften vielfarbiger zu gestalten, bedarf es der richtigen Werte, Begriffe und Methodologien. Die umfangreichste Studie zu dieser Frage ist von Renato Araújo da Silva (2016). Er bietet darin eine Geschichte der Genese des Begriffs afrobrasilianische Kunst an, der von weißen Autoren in den 1930er-Jahren eingeführt wurde, um die Idee einer nur vermeintlichen rassischen Demokratie zu befördern. Im

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wissenschaftlichen Kontext hat er sich erst in den letzten Jahren durchgesetzt. Zuvor wurde der rassialisierende Begriff schwarze Künstler:innen oder schwarze Kunst als politisches Instrument, etwa von Abdias Nascimento, benutzt. Araújo stellt – wie Esbell für die indigene Kunst  – fest, dass die bis heute praktizierte Ausgrenzung schwarzer oder afrobrasilianischer Kunst schon immer absurd war. Sie sollte eigentlich Teil der nationalen Kunst sein: Wenn also Kunst wirklich eine menschliche Manifestation ist und nicht nur das Geschreibsel einer weißen Elite oder das Geschreibsel eines schwarzen Pöbels oder gar einer durchschnittlichen Masse, die halb weiß, halb schwarz oder gemischtrassig ist, dann kann es keine Kunst im Land geben, es sei denn, es ist eine Kunst, die mit der Realität des Landes übereinstimmt und somit mit ihrer Zeit und ihrem historischen „Ort“ verbunden ist, im Sinne einer tatsächlichen brasilianischen „Staatsbürgerschaft“. (Araújo, 2016, S. 12)

Silva ist sich bewusst, dass es eigentlich widersinnig ist, nun nachträglich die afrobrasilianischen Künstler:innen in die Kunstgeschichte einzuschreiben. Er nennt diese Methode ironisch, die rassialisierte Suche danach „wer [in der Kunst] Schwarzer ist und Schwarzer war“ (Araújo, 2016, S. 16). Demnach wäre eine farbige Kunstgeschichte eine, die den sozialen Aufstieg schwarzer Künstler beschreibe (Araújo, 2016, S. 14). Araújo zeichnet dennoch selbst die Präsenz afrobrasilianischer Künstler:innen nach und erinnert an Überbewertungen (Barock) und Unterbewertungen (Akademiekünstler:innen). In seiner kritischen afrobrasilianischen Kunstgeschichte beschreibt Araújo vier Phasen, in denen schwarze Künstler:innen, wie er es etwas ironisch sagt, geschätzt wurden (Araújo, 2016, S. 24–39). Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden einige Künstler:innen (Estevam Silva, Firmino Monteiro, Antônio Rafael Pinto Bandeira, João und Arthur Timótheo da Costa) zunächst gerne bei den Abolitionisten gesehen. Man muss sich jedoch ein sehr konservatives, paternalistisches Klima vorstellen. Auch interessierten sich weiße Künstler zu dieser Zeit erstmals für schwarze Themen und Figuren (Modesto Brocos, Lucilio de Albuquerque, Abgail de Andrade). Die zweite Phase brachte den Begriff der afrobrasilianischen Kunst hervor, der jedoch für weiße Künstler:innen (Luiz Jardim, Di Cavalcanti, Noêmia Mourão, Manoel Bandeira, Santa Rosa, Tarsila do Amaral, Francisco Rebello, Lasar Segall, Cândido Portinari, Di Cavalcanti, Oswaldo Goeldi, Cecília Meirelles, Magalhães Corrêa und Ismailovitch) benutzt wurde, die die marginalisierte Bevölkerung – schwarz, mestizisch, Arbeiter – in Kunst und Literatur porträtierten und sich wie in Europa für Volkskunst und afrikanische Kunst interessierten. Diese Wertschätzung als Sujet idealisierte und entindividualisierte die schwarze und mestizische Bevölkerung zumeist durch eine paternalistische, soziologische Brille. Afrobrasilianische Künstler:innen, wie etwa Abdias Nascimento, Benedito José Tobias (1894–1963); Benedito José de Andrade (1906–1979) und Emanuel Zamor (1840–1917) bezeichneten sich deshalb selbst aus politischen Gründen als Schwarze (pretos). Auch wurden aus einer politischen Haltung heraus Zeitungen, Kongresse, politische und kulturelle Institutionen mit diesem rassialisierenden Begriff benannt. Die dritte Phase begann mit den Feiern zur Abschaffung der Sklaverei (1988: 100 Jahrfeier) und der „Entdeckung“ Brasiliens (2000: 500 Jahrfeier). Der

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Was ist brasilianische Kunst und wie wird sie studiert?

Begriff „afrobrasilianisch“ wurde nun von Künstler:innen und Wissenschaftler:innen intensiv diskutiert (Kabenguele Munanga, Emanoel Araújo, Oswaldo de Camargo, José Vicente, Hélio Santos, Sueli Carneiro, Lélia Gonzalez, Nei Lopes, Henrique Cunha Jr., Roberto Teixeira Leite, Sérgio Guimarães de Lima, Maria Lúcia Montes, Ulpiano Bezerra de Menezes, Raul Lody, Wagner Gonçalves, Dilma de Melo Silva, Marta Heloísa Leuba Salum) und für afrodiasporische Kunst eingesetzt. Daraus ergab sich eine Farbpatrouille, d. h. man bestimmte afrobrasilianische Künstler:innen von nun an vor allem durch die Hautfarbe. Die vierte Phase geht auf das Gesetz 10.639 von 2003 zurück, das den Unterricht in indigener, afrobrasilianischer Abb. 98: Bori, Ayrson Heráclito, 2011, Performancefotografie und afrikanischer Geschichte, Kunst und Kultur an Schulen verpflichtend machte. Das Gesetz hatte eine revolutionierende Wirkung und eine Vielfalt von kulturellen Initiativen und Publikationen waren die Folge. Von zentraler Bedeutung war auch die Gründung des Museu AfroBrasil (AfroBrasilien Museum) in São Paulo im Jahr 2004. Afrobrasilianische Kunst wird heute auf vielfältige Weise definiert. Sie kann thematisch als Ausdruck von Religiosität, Identität und schwarzafrikanischer Abstammung verstanden werden. Oder aber sie wird innerhalb des Stilepochenparadigmas formalistisch als importierte afrikanische Kunstform gesehen. Dies fällt oft mit einer afrokontundistischen Interpretation zusammen, die eine Kontinuität zwischen afrikanischer und afrobrasilianischer Ästhetik und Identität sieht. Die Erklärung für diese Formensprache ist of spontaneistisch, d. h. man sieht sie als spontane oder unbewusste Lösung, die die afrodiasporischen Künstler:innen in ihren Genen tragen. Es stellt sich immer die Frage, ob man universalistisch oder kosmopolitisch vorgeht. In anderen Worten, ob man auf die Hautfarbe achtet oder nicht. Eine eigene Kategorie ist heute die afrobrasilianische zeitgenössische Kunst, die sich wie die indigene zumeist als aktivistisch versteht. Bori von Ayrson Heráclito aus dem Jahr 2011 verweist z. B. auf das Kandomblé. Alexandre Bispo und Renata Felinto (2014) erinnern daran, dass die afrobrasilianische Kunst aufgrund der vielschichtigen und -fältigen schwarzen sozialen Erfahrungen möglich ist, die es den Künstler:innen, wie etwa Ayrson Heráclito, ermöglichen, in ihren Werken mit Nachdruck afrodiasporische Elemente einzubeziehen, die neue Formulierungen und ästhetische Vorschläge erlauben. Sie legen sich deshalb auf keine Definition fest und sehen das Konzept als ständigen Veränderungen unterworfen. Die Frage nach der Inklusion afrobrasilianischer Kunst in den brasilianischen Kanon wird, wie bemerkt, inzwischen als politische Notwendigkeit angesehen. Sie ist generell eine politische Frage, vor allem wie man dabei vorgeht. Die Auswahl und Bewertung

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von Werken und Künstler:innen folgt dabei bislang der westlichen Epistemologie, die sie deshalb als Nebenkapitel ausklammert. Umstritten ist, ob, wie bereits referiert, man afrobrasilianisch auf die Hautfarbe beziehen soll, oder thematische, epistemologische, politische und formale Kriterien wählt. Die Kolonialität wird normalerweise in all diesen Überlegungen zur Afrobrasilianität nicht in Erwägung gezogen. Genausowenig afrikanische oder afrodiasporische Epistemolgien. Auch ist Lélia Gonzalez postiver Begriff von der Amerfrikanität bislang nicht in die Kunstwissenschaften aufgenommen worden. Ich würde gerne an dieser Stelle die Debatte um die Frage, ob afrodiasporische Kunst ein Resultat der Kolonialität ist und deshalb immer mit dieser Vergangenheit in Spannung gebracht werden sollte, erweitern. Afrodiasporische, amefrikanische oder afrobrasilianische Kunst – je nachdem, ob man von der Welt, Amerika oder Brasilien spricht  – könnte dann als eine Kunst definiert werden, die in irgendeiner Weise mit der Geschichte der Verschleppung und der daraus entstandenen diasporischen Identität, die heute unter institutionellem Rassismus und sozialer Marginalisierung leidet und die afrikanischen Nachfahren aus der brasilianischen nationalen Identität ausgrenzt, umgeht. Es handelt sich somit um eine Kunst, die ein Bewusstsein der Kolonialität und der daraus folgenden Notwendigkeit der Dekolonialisierung in sich trägt. Dekolonialisierung bedeutet aber vor allem auch das Einbeziehen der mitgebrachten oder diasporischen Epistemologien. Das muss nicht, kann aber aktivistische Kunst bedeuten. Ich würde vorschlagen, dass das als politisch zu verstehende Etikett der afrodiasporischen Kunst, denjenigen Werken gegeben werden sollte, die die Geschichte und Epistemologie Afrikas und der Kolonialität in sich tragen, oder die (zeitgenössische) Unterdrückung aufgrund von Herkunft, Kultur und Hautfarbe sinnlich erfahrbar machen. Es sollte meiner Meinung nach keine Frage der Hautfarbe sein, sondern viel eher eine epistemologische, identitarische und politische.

Von der mangelnden Bedeutung der Kunst in Brasilien Wir haben bereits gesehen, dass die Etablierung der Kunstakademie als Ursprungsmythos und vermeintlichem Wendepunkt diente, um die brasilianische Kunst in den europäischen analytisch-historischen Diskurs einzugliedern. Dabei hatte die Akademie in der Tat nur eine sehr geringe gesellschaftliche Wirkung. Heute weiß man um diese bescheidene Rolle, die mit dem Antagonismus, dem die Kunst in Brasilien generell ausgesetzt war, zusammenhängt. Chiarelli (2002, S. 13) gibt zu bedenken, dass die Französische Mission zwar an der Einführung des Künstlers als Berufskategorie im Lande beteiligt war, sie aber im 19. Jahrhundert für weiße Männer nicht als akzeptabel angesehen wurde: „In Brasilien wurde die Kunst zu dieser Zeit von schwarzen Sklaven gemacht, nicht von freien weißen Männern“. Jura und Medizin waren angesehen, aber Kunst galt als eine Tätigkeit für die unteren Klassen. Denn diese konnten es sich nicht leisten, ihren Kindern eine Ausbildung zu bezahlen, oder, um genauer zu sein, sie auf portugiesische Universitäten zu schicken (Chiarelli 2002, S. 13–14). Die Akademie lehrte ausschließlich Technik; Kunstgeschichte war noch nicht Teil des Lehrplans (Chiarelli, 2002, S. 14). Chiarellis Analyse der Akademie offenbart einerseits

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Was ist brasilianische Kunst und wie wird sie studiert?

Abb. 99: A batalha de Avaí/Die Schlacht in Avaí, Pedro Américo, 1868, Öl auf Leinwand, Museu Nacional de Belas Artes, Rio de Janeiro

deren geringen Einfluss und zeigt andererseits, dass sich in der Hauptstadt Rio de Janeiro, anders als in europäischen und amerikanischen Städten, nur ein sehr kleiner Teil der Gesellschaft für Kunst interessierte. Die Haltung der Künstler:innen und ihrer Auftraggeber:innen war darüber hinaus konservativ und nationalistisch, denn sie waren nur „an einer Inszenierung interessiert, die den Ruhm des Imperiums oder die Werte dieser Gesellschaftsschicht preisen sollte“ (Chiarelli, 2002, S. 14). Die spätere Erfindung einer Erfolgsgeschichte ermöglichte es, der Kunst rückwirkend eine Rolle zuzuweisen, die sie in sehr begrenztem Maße und nur als offizielle Kunst hatte. Ölgemälde und Monumente wurden vom Staat in Auftrag gegeben, während die halboffizielle Produktion hauptsächlich handwerklich blieb (Chiarelli, 2002, S. 14). Ein berühmtes Beispiel offizieller Kunst ist die Schlacht von Avaí, ein monumentales Gemälde von Pedro Américo (1843–1905) aus dem Jahr 1868, das als Auftragsarbeit den Krieg in Paraguay darstellte. Trotz der Fokussierung auf ein Ereignis von nationaler Bedeutung lässt das Bild die Gewalt der Schlacht nicht außer Acht. Nach Ansicht des Kunsthistorikers Jorge Coli (2002, S. 116) verherrliche das Gemälde das Ereignis nicht, sondern entkräfte die Idee einer heroischen Figur und schlage damit einen unüblichen Weg ein: „Das Bild ist unvergleichbar mit der großen Tradition des 19. Jahrhunderts, in der Schlachtenbilder so komponiert wurden, dass sie die Heldentaten der Protagonisten hervorheben.“ Nichtsdestotrotz gehört es heute zum nationalen Kanon. Es erinnert auch nicht daran, dass Tausende von Versklavten in diesen Krieg eingezogen wurden, entweder in dem sie stellvertretend für ihre Besitzer kämpften oder weil sie freigelassen wurden, um an ihm teilzunehmen und somit die Anzahl der Soldaten zu erhöhen. Anders gesagt: Die Kolonialität des Bildes wird von Coli nicht berücksichtigt, sondern die Komposition und somit die Form als Begründung einer positiven Bewertung benutzt, die den Inhalt – ein brutaler Krieg gegen den Nachbarstaat, in dem die afrikanische und afrodezendente Bevölkerung als Kanonenfutter fungierte – ignoriert.

Von der mangelnden Bedeutung der Kunst in Brasilien

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Von Handbüchern, Kunstkritik, Kunstgeschichte und der Rolle von Ausstellungen Trotz der oben erwähnten praktischen und theoretischen Zwänge entstanden im Rahmen der Akademie die ersten Lehrbücher und kritischen Texte zur nationalen bildenden Kunst und Literatur. Wie wir sehen werden, lehnten sie sich eng an ihre europäischen Vorbilder an und verglichen sich ständig mit Europa. Bei den Handbüchern handelt es sich hauptsächlich um Übersetzungen. Das Erste war Arte de pintar a óleo conforme a prática de Bardwell, baseada sobre o estudo e a imitação dos primeiros mestres das escolas italiana, inglesa e flamenga (Die Kunst der Ölmalerei nach Bardwells Praxis, basierend auf dem Studium und der Nachahmung der ersten italienischen, englischen und flämischen Meister), von 1836. 1837 folgte Epítome de anatomia relativa às Belas-Artes (Epitome der Anatomie für die bildenden Künste), einem von Félix-Émile Taunay (1795–1881) zusammengestellten Kompendium. In beiden Fällen ging es darum, das europäische Wissen der Zeit zugänglich zu machen. Die Kunstkritik entstand in der Tradition des europäischen Modells und fand zunächst in Form von Vorträgen und Zeitungsartikeln statt. Bewertung, Geschichtsschreibung und Theorie wurden miteinander vermischt, wie bei den europäischen Vorreitern. Inspiriert von dem französischen Brasilianisten Ferdinand Denis (1798–1880), der 1826 ein Buch über die portugiesische und brasilianische Literatur mit dem Titel Résumé de l‘histoire littéraire du Portugal, suivi du résumé de l‘histoire littéraire du Brésil (Zusammenfassung der Literaturgeschichte Portugals, gefolgt von einer Zusammenfassung der Literaturgeschichte Brasiliens) veröffentlicht hatte, schrieb der Schriftsteller, Maler und Akademieprofessor Manuel de Araújo Porto-Alegre (1806–1879) Resumé de l‘histoire de la litteráture, de la science et des arts au Brésil (Zusammenfassung der Literater-, Wissenschafts- und Kunstgeschichte Brasiliens), das 1836 erschien. Porto-Alegre studierte in Paris am Historischen Institut, in dessen Zeitung der Text zuerst publiziert wurde, bevor er im Correio Oficial (Offizielle Post) in Brasilien herauskam. Auch war er als Kritiker und Redakteur in den von ihm in Paris gegründeten Zeitschriften Nitheroy, Revista brasiliense (Brasilianische Zeitschrift) und Minerva brasiliense (Brasilianische Minerva) tätig, für die er systematische Studien über die Werke der Kolonialzeit in Rio de Janeiro verfasste. Später war Porto-Alegre für die Einführung des Fachs Kunstgeschichte in den Lehrplan der Akademie, dessen Direktor er wurde, verantwortlich (Dias, 2015, S. 163). In Resumé de l‘histoire lassen sich bereits einige Ideen in Bezug auf die spätere eurozentrische brasilianische Kunstgeschichtsschreibung und -theorie erkennen. Zum einen wurde  – in eigener Sache  – bereits die Rolle der Akademie hervorgehoben und zum anderen die Beziehung zwischen brasilianischer und europäischer Kunst thematisiert. Kunst wurde klar als wichtiges Instrument für die Identitätskonstruktion der jungen Nation propagiert. Marcos Santos (2015) beobachtet, dass der Text versuchte, eine erste Geschichte zu erstellen, die die ästhetischen und zeitlichen Lücken im Vergleich zur europäischen Kunst reflektierte. Konsequenterweise nahm Porto-Alegre eine Bewertung vor, die den europäischen gotischen Stil über den brasilianischen jesuitischen Barock stellte. Darüber hinaus würdigte Porto-Alegre die während des Kolonialismus tätigen brasilianischen Mestizen und versklavten Handwerker. Dies führte später zu dem Mythos, dass

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es während des Barocks viele afrikanische Künstler von großem Einfluss gab. Obgleich noch Studien fehlen, muss beachtet werden, dass die Projekte immer von portugiesischen Architekten und Künstlern geleitet wurden. Ausnahmen waren Antônio Franciso Lisboa, der Aleijadinho (1738–1814), und Mestre Valentim (1745–1813), beide mestizische Söhne von Portugiesen und ehemaligen Versklavten. Die handwerkliche Ausführung wurde dann von Versklavten vorgenommen. Der brasilianische Literaturwissenschaftler Alfredo Bosi (2012) hatte keine Illusionen darüber, dass das Bewusstsein der Kunst als gesellschaftlichem Instrument zunächst am europäischen Vorbild festhielt: In dem Nationalstaat, der sich von Portugal löste, basierten die Künste und die Literatur auf demselben späten Neoklassizismus, der die mythologischen Klischees und die Rhetorik der Worte und Bilder bewahrte, die bis zum Aufkommen der ersten Romantiker andauern sollten. (Bosi, 2012, S. 227)

Erst der Indianismus versuchte, der Literatur eine neue Ebene hinzuzufügen und sie brasilianischer zu machen, allerdings auf eine sehr artifizielle und kolonialistische Weise. Der Literaturwissenschaftler Antônio Cândido (1977, S. 67) fasste das Problem wie folgt zusammen: Der Schriftsteller will sich in den Ort einschreiben, der unserer Literatur ganz allgemein diesen seltsamen Charakter von Nativismus und Fremdheit, von Sentimentalität und Realität, von Utilitarismus und Selbstverständlichkeit verleiht.

Cândido (1977, S. 67) verstand die koloniale Literatur deshalb als Teil der portugiesischen Literatur, die lediglich einen „exotischen Beigeschmack, niemals eine Autonomie“ hatte. Der Vorschlag von Ferdinand Denis, die Nationalliteratur solle sich auf das brasilianische Klima, die Natur und die Traditionen des Landes beziehen, hätte nicht ausgereicht, da es nicht um eine Landschaft, sondern um eine „Weltanschauung, ein spezifisches Gefühl, das die Körperlichkeit der Natur zu einer Erfahrung macht“ (Cândido, 1977, S. 60), ginge. Es war nicht genug, Verse über die Flora und Fauna zu machen, wenn man dabei „ästhetischen und philosophischen Richtlinien folgte, die von europäischen Vorbildern abgeleitet wurden“ (Cândido, 1977, S. 67). Die indigene Bevölkerung wurde sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur zur metaphorischen Trophäe. Es gab kein Interesse an ihrer Kultur, aber man benutzte sie als Figuren, um das Problem der historischen Schuld der Kolonialisierung sowohl zu thematisieren als auch aufzulösen. Dies geschah in einem Verdrängungsakt, der sie nur symbolisch in die brasilianische Gesellschaft integrierte. Deshalb wurde eine kulturelle Lösung gefunden, die eine Fiktion der Nationenbildung schuf, in der die Indigenen in einer vermeintlich glücklichen Assimilation untergingen. Dabei handelte es sich in Wahrheit um einen brutalen und noch heute andauernden Genozid und Kulturzid. Die Schriftsteller des Indianismus, wie etwa José de Alencar (1829–1877), Autor des berühmten Romans Iracema, formulierten ihr nationalistisches Projekt in Vorworten und Essays und folgten damit erneut ihren europäischen Vorbildern. Mit dem Ziel, eine nationale Identität zu schaffen, betonte Alencar die Notwendigkeit handwerklicher

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Fähigkeiten, mit denen sich die Künstler:innen an der Gestaltung der Nation beteiligen sollten. Er sah sie als Arbeiter:innen, die der Individualität, die sich im Leben des Volkes herausbildete, Form und Merkmale geben sollten. Der Tod von Iracema, Tochter eines indigenen Anführers, die ihr Volk  verrät, weil sie den Portugiesen Martim liebt und mit ihm einen Sohn hat, hebt die indigene Identität faktisch auf und überträgt die Führung an den weißen Siedler, der den mestizischen Nachwuchs einer ungewissen Zukunft aussetzt. Nach Ansicht des britischen Literaturwissenschaftlers David Treece strebte Alencar eine versöhnliche Vision an, die in allen Werken Alencars zu finden sei: (…)[die Romane] sind die Kulmination des imperialen Bewusstseins, der Wunsch, ein imaginäres Modell gesellschaftlicher und politischer Integration für die Nation zu entwickeln, einen Mythos multirassischen Heldentums, von Selbstaufopferung und Versöhnung, der das Überleben des Imperiums für die absehbare Zukunft sichern sollte. (Treece, 2008, S. 213)

Dieses literarische Beispiel zeigt, dass die Kunst die eindeutige Funktion hatte, die Identität der Nation sowie ihre Charakteristiken zu definieren, indem sie zwar ihre Hybridität thematisierte, aber faktisch eliminierte. Indigene sind unterwürfig und opfern sich oder werden der neuen, den Kolonialismus fortschreibenden Nation geopfert. Die Kunst nahm so die von Porto-Alegre beschriebene Rolle an, die Spannung zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten zugunsten der Ersteren mit einem Gründungsmythos zu lösen, der besagte, dass die Nation in der Lage war, beide zu integrieren. Wohlgemerkt, durch die Ausmerzung der ursprünglichen Bewohner. Dabei handelte es sich erneut um ein tromp l’oeil, denn es wurde die Tatsache verschleiert, dass der Kolonisator in Literatur und bildender Kunst die Rolle des Gewinners übernahm. Dieses falsche Narrativ, das von der Kunst vorgeschlagen und von der Politik durchgesetzt wurde, suchte die weiße männliche Elite, die an der Macht war, zu rechtfertigen. Es verankerte sich dann langsam im kollektiven Unbewussten. Die Theoretisierung der Literatur als nationalem Ausdruck und die Bedeutung der Indigenen als Symbol des Landes fand, wie bereits gesagt, in den Vorworten und Texten der Schriftsteller:innen statt. Dies war keine brasilianische Besonderheit. Andere Autoren Lateinamerikas, wie etwa der venezolanische Andrés Bello (1781–1865), verfolgten den gleichen Weg. Sein Essay „Método Histórico“ (Historische Methode), aus dem Jahr 1848, hob hervor, dass aufgrund des Mangels existierender Geschichtsschreibung die Literatur eben diese Aufgabe übernahm (Sommer, 2004, S. 23). Auch die bildenden Künste waren an der Historisierung und Theoretisierung beteiligt, da historische Fragen im Hinblick auf das koloniale Erbe aufgriffen wurden, die ein Imaginäres für die jungen Nationen schufen. Das Gemälde Moema von Victor Meirelles (1832–1903), aus dem Jahr 1866, macht dies deutlich. Wir haben schon Denilson Baniwas kritische Sicht auf dieses kanonische Werk kennengelernt, der es mit der Zerstörung des Amazonasgebiets gleichsetzt. Luciano Migliaccio (2015, S. 282) zufolge berührt das Bild „einen sensiblen Nerv der Vorstellungskraft des brasilianischen Volkes“, weil es mit dem weiblichen Körper „die historische Reflexion über das Schicksal eines ganzen Volkes und einer ganzen Kultur“

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Abb. 100: Moema, Victor Meirelles, 1866, Öl auf Leinwand, Museu Nacional de Belas Artes, Rio de Janeiro

offenbare. Im Gegensatz zum Roman Iracema, der einen falschen Waffenstillstand durch die Auferlegung einer kolonialen Identität vorschlug, glaubt der Autor im Gemälde eine melancholische Sichtweise zu erkennen. Wenn man jedoch genau hinsieht, stellt man fest, dass hier nicht nur der weibliche Körper in europäischer erotisierender Tradition einem männlichen Blick angeboten wird, sondern dass davon ausgegangen wird, dass der Tod der Indigenen unumgänglich ist. Ein tromp l’oeil, das, wenn man es als solches versteht, kenntlich macht, dass die ursprüngliche Bevölkerung das koloniale Projekt weder überleben konnte noch sollte. Die Rolle der Künstler:innen als Theoretiker:innen, Historiker:innen und Kritiker:innen und ihr Interesse an der Zukunft des Landes, erhielt während und nach der 1922 abgehaltenen Woche der Modernen Kunst eine neue Bedeutung. Ana Paula Simioni (2015, S. 223) beobachtet, dass der brasilianische Modernismus, der sie einführte, „eine beispiellose Anerkennung in unserem Land“ genießt. Als Epochenstil ist er ein zentrales Kapitel in der brasilianischen Kunstgeschichte. Er war Teil einer „institutionellen Konsolidierung, die von einer Agrarexport-Elite vorangetrieben wurde“ und schloß die Gründung verschiedener Prestigeobjekte, wie die Einweihung des Stadttheaters im Jahr 1911 – wo die Woche der Modernen Kunst stattfand – und die Bildung großer Privatsammlungen ein (Simioni, 2015, S. 241). Auch führte der Modernismus zur Vertiefung einer kritischen Debatte über brasilianische Kunst. Einer der Meilensteine dieser Entwicklung war die öffentliche Diskussion über eine Ausstellung von Anita Malfatti im Jahr 1917. Sie führte zur Gründung einer Gruppe junger

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Künstler und Kritiker, zu der Oswald de Andrade, Emiliano Di Cavalcanti (1897–1963), Sérgio Milliet (1898–1966), Inácio da Costa Ferreira (1892–1958), Guilherme de Almeida (1890–1969), Mário de Andrade (1893–1945), Rui Esteves Ribeiro de Almeida Couto (1898–1963) und Gelásio Pimenta (1879–1924) gehörten. Die Gruppe hatte weder einen einheitlichen Stil noch eine gemeinsame ideologische Ausrichtung, erlangte jedoch durch die Organisation der Woche der Modernen Kunst fünf Jahre später, die sich von den bestehenden konservativen Diskursen abhob, postum große Anerkennung. Ein Artikel des Schriftstellers und Kunstkritikers Monteiro Lobato (1917) mit dem Titel „Paranoia ou mistificação“ (Paranoia oder Mystifizierung), der in der angesehenen konservativen Zeitung Estado de São Paulo (Der Staat von São Paulo) veröffentlicht wurde, Abb. 101: Die Studentin, Anita Malfatti, 1915–1916, löste all dies aus. Es entstand ein KonÖl auf Leinwand, Museu de Arte de São Paulo flikt zwischen der vorherrschenden kanonischen und eurozentrischen Sichtweise von Kunst und einer neuen, in den europäischen Avantgarden inspirierten, Vorstellung. In dem erwähnten Artikel wird den Gemälden von Anita Malfatti vorgeworfen, sie seien trotz ihres Talents „in die falsche Richtung gedreht“, da sie den europäischen Kanon „von Leonardo bis Steves“ bedrohten. Dieser Vorwurf führte zu einer Reaktion von Oswald de Andrade (1917), der Malfattis Werk im Jornal do Comércio (Wirtschaftsjornal) als „persönlich und modern“ verteidigte. Wie schon so oft in Europa, ich erinnere an die Debatte um das Stück El Cid, ging es um eine formale Erneuerung. Und wie so oft in einem kolonialisierten Land wurde Europa als Maßstab gesehen, mit dem die Erneuerer eine neue nationale Kunst verteidigten. Einige Jahre später schrieb Oswald de Andrade zwei Manifeste, die an der Theoretisierung dieser neuen, als genuin angesehenen brasilianischen Kunst beteiligt waren: das „Manifest der pau-brasilianischen Poesie“, das zuerst 1924 im Correio da Manhã (Morgenpost) veröffentlicht wurde, und das zitierte „Anthropophagische Manifest“ von 1928. Für beide gilt der Kommentar von Antônio Cândido über die Moderne: „Unsere vermeintlichen oder tatsächlichen Unzulänglichkeiten werden in etwas Überlegenes umgedeutet“ (Cândido apud Simioni 2015, S. 251). Es war ein wegweisender Moment, in dem der „Straßenköterkomplex“ vorübergehend außer Kraft gesetzt wurde und man sich der europäischen Kunst überlegen fühlte.

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Die Etablierung einer brasilianischen Kunstszene erfolgte durch weitere Ausstellungen und die Gründung moderner Kunstmuseen sowie die Einrichtung der Biennale in São Paulo im Jahr 1951. Sie alle intensivierten die kritische Debatte um die Künste (Ferreira, 2011, S. 28), jedoch immer im Kontext ihrer Institutionalisierung und des Gehorsams gegenüber europäischen Modellen. Internationale Ausstellungen trugen stark zur Ausbildung von Künstler:innen und Kritiker:innen bei und prägten deren Diskurse. Das Museu de Arte de São Paulo (Museum für Moderne Kunst São Paulo, MASP ) wurde beispielsweise 1949 mit „Do figurativo ao abstracionismo“ (Vom Figurativem zum Abstrakten) eröffnet, einer Ausstellung, die die Kunsthistorikerin Glória Ferreira (2011) für eine intensive Debatte über abstrakte Kunst verantwortlich macht. Dies geschah in einem Moment, in dem (…) eine neue Kritik aufkam, die sich von der Kritik der Schriftsteller unterschied und entscheidend dazu beitrug, die künstlerische Debatte vom ideologischen Terrain – in dem die künstlerische Neuerung und die Forderung, eine eigene Identität hervorzubringen, im Vordergrund standen – ins Ästhetisch-formale zu verlagern (Ferreira, 2011, S. 31).

Zwar wurde die Diskussion über moderne Kunst weiterhin hauptsächlich von Künstler:innen geführt, insbesondere von Ferreira Gullar (1930–2016), Lygia Clark (1920–1988), Lygia Pape (1927–2004), Amílcar de Castro (1920–2002), Franz Weissmann (1911–2005), Reynaldo Jardim (1926–2011), Sergio Camargo (1930–1990) und Theon Spanudis (1915–1986), z. B. in ihrem gemeinsamen „Manifesto Neoconcreto“ (Neokonkretes Manifest) im Jahr 1959. Aber von nun an gab es auch Spezialisten, wobei Mario Pedrosa, dessen kritische Produktion in den 1930er-Jahren begann, die prominenteste Kritikerfigur war. Otília Fiori Arantes (2004) betont, dass Pedrosa sich nicht darauf beschränkte, über die Differenz zwischen Brasilien und Europa nachzudenken. Seine Originalität hätte in seiner Fähigkeit bestanden, ausgewogen über das Eigene und das Europäische nachzudenken. Wenn man ihn im Kontext der hier schon behandelten Autoren sieht, erkennt man deutlich, dass er die brasilianische Kunst, wie viele Intellektuelle vor und nach ihm, wieder nur im Zusammenhang mit Europa sah, was zu einer „Anpassung der internationalen Tendenzen, mit der lokalen Realität führte (etwas, was für europäische Kritiker undenkbar oder sinnlos wäre)“ (Arantes, 2004, S. 172–173). Pedrosa blieb, etwa beim Studium des Modernismus und des Konkretismus, somit „unserem binären Kultursystem treu, das die Regulierung des Partikulär-Lokalen und des Universell-Westlichen erfordert“ (Arantes, 2004, S. 173). Er betrachtete dies als eine „affirmative Dimension des brasilianischen Kultursystems“, als eine intrinsische Beziehung zwischen Kunst und Politik, da er, wie schon Schiller, glaubte, dass „eine emanzipierte ästhetische Sensibilität einer wirtschaftlich modernen und integrierten Gesellschaft entsprach“ (Arantes, 2004, S. 174). Teilweise in Übereinstimmung mit Salles Gomes, Schwarz, Bosi und so vielen anderen Autoren, deren Interesse der Dialektik mit Europa galt, hatte auch Pedrosa keinen Blick für das Afrodiasporische oder Indigene. Dementsprechend wurden gewisse Stilepochen – Modernismus, Konkretismus und Neokonkretismus – nach dem Vorbild der europäischen Kunstgeschichte gefeiert und in den 1970er und 1980er-Jahren als solche untersucht, wenn auch immer in der Optik einer „ungewöhnlichen Dialektik“.

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Zur Schaffung dieses Kanons waren einige Veröffentlichungen von Bedeutung: Carlos Zilios (1974) „A Querela do Brasil“ (Der brasilianische Streit), Mário Schenbergs (1977) „Na hora de fazer a avaliação“ (Zum Zeitpunkt der Bewertung) über konkrete Kunst, Ronaldo Britos Bewertung des Neokonkretismus im Katalog Projeto construtivo brasileiro na arte – 1950–1962 (Das brasilianische Projekt der konstruktiven Kunst) zu einer gleichnamigen Ausstellung, die von der Kunsthistorikerin und Kritikerin Aracy Amaral gemeinsam mit der Künstlerin Lygia Pape 1977 organisiert wurde sowie das oben genannte Buch über die braslianische Kunstgeschichte, das von Walter Zanini, dem Direktor des Museu de Arte Contemporânea (Museum für zeitgenössische Kunst, MAC ) in São Paulo herausgegeben wurde. Aracy Amaral (1998, S. 11–12), deren Studie einer der wichtigsten Künstlerinnen der Moderne, Tarsila do Amaral (1886–1973), stark zu deren Kanonisierung beitrug, erinnert uns daran, dass die Integration von Frauen  – Anita Malfatti, Lygia Clarke und Lygia Pape – in den Kanon der Moderne im Besonderen und der brasilianischen Kunst im Allgemeinen viel schwieriger war als die der Männer: Trotz der Anerkennung durch ihre Zeitgenossen ist es mir immer seltsam erschienen, dass Tarsila – vielleicht wegen der offiziellen Würdigung, die Portinari und Di Cavalcanti genossen – als Künstlerin bei der Organisation der Ersten Biennale von São Paulo 1951 unbemerkt geblieben war.

Wie erwähnt, bedurfte es der Arbeit feministischer Kunsthistorikerinnen in den 1970er und 1980er-Jahren, um die Frage zu stellen, warum es keine großen Künstlerinnen gab (Nochlin, 1989), um dann die Aufmerksamkeit auf die Vorhandenen zu lenken, die man verschwiegen hatte. Die Einleitung des Buches Elogio ao toque ou como falar de arte feminista à brasileira (Lob der Berührung oder wie man über brasilianische feministische Kunst spricht), der Künstlerin Roberta Barros (2015), bietet eine gute Zusammenfassung dieser internationalen Bemühungen. Wie der Untertitel andeutet, erklärt das Buch mit großer Genauigkeit die Besonderheiten des brasilianischen Kontextes sowie das späte Interesse an einer feministischen Perspektive. Diese Diskrepanz lässt sich auch in der Filmwissenschaft beobachten. Erst in den letzten fünf Jahren gibt es verstärkt Publikationen über die weibliche Partizipation im Filmschaffen. In der Literaturwissenschaft sind Autorinnen wie Clarice Lispector (1920–1977) und Rachel Queiroz (1910–2003) zwar unumstritten, werden jedoch als Ausnahmen betrachtet und nicht notwendigerweise unter feministischer Perspektive analysiert. Auch gibt es bisher noch keine kritische Studie über die Geschichte der Kunst in Brasilien, die uns eine bessere Vorstellung von der Übernahme des Stilepochenparadigmas oder anderer europäischer Konzepte geben könnte. Es fehlen Auseinandersetzungen mit den hier angerissenen Paradoxien und Besonderheiten sowohl der brasilianischen Kunst als auch ihrer Erforschung im Hinblick auf ihre Kolonialität. Die Bedeutung von Ausstellungen und Biennalen müsste bei dieser Art von Studien berücksichtigt werden. Auch wäre es wichtig, Kunst außerhalb der Achse São Paulo –Rio de Janeiro stärker in den Vordergrund zu rücken. Indigene, afrodiasporische und Volkskunst sollten dabei ein integraler Teil sein und aus der westlichen Epistemologie befreit werden, vor allem von falschen folkloristischen und anthropologischen Vorstellungen.

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Die Sozialwissenschaften, insbesondere die Anthropologie, sind derzeit ein wichtiger Ort, um die Kultur der Peripherie zu erforschen  – sei es Graffiti, das gesprochene Wort, Musikvideos, Videospiele u. a. Generell brauchen wir neue Fragen für und neue Antworten auf das Rätsel der brasilianischen Kunst und Kultur sowie eine neue Auswahl von Objekten, vor allem in Hinblick auf ihre Dekolonialisierung. Das Studium und die Einbeziehung anderer Epistemologien ist dabei unumgänglich. Ich schließe mit einem Kommentar von Glória Ferreira (2011) über die Bedeutung der XXIV Biennale von São Paulo im Jahr 1998, die von Paulo Herkenhoff kuratiert wurde, da sie Aufschluss über sämtliche Paradoxien gibt. Ihr Thema war „Um e/entre outro/s“ (Einer und/ unter anderen), besser bekannt als „Biennale der Anthropophagie“. Die Autorin hebt das Ziel des Kurators hervor, eine nicht-eurozentrische Vision zu entwickeln, und betont die Rolle der Biennale bei der Ausarbeitung einer „anderen“ Kunstgeschichte. Herkenhoff habe eine neue Sichtweise auf die brasilianische Kultur, Kunst und Geschichte eröffnet (Ferreira, 2011, S. 36). Abb. 102: XXIV Biennale von São Paulo, Zeichnung Das Plakat der Biennale zeigt die berühmte von José Leonilson, Raul Loureiro und Rodrigo Statue des Christo Redentor (Christus dem Er- Cerviño, 1998, Poster löser) in Rio de Janeiro, die einen Balanceakt vollführt. Aus dekolonialer Perspektive wurde die Anthropophagie nur wieder von der weißen Elite als Metapher bemüht, um sich in der Dialektik mit Europa als eigenständig durchzusetzten. Das Plakat macht die Fehlinterpretation des Nationalen deutlich. Obgleich der Balanceakt eine kritische Intention hat, war ja gerade die Christusfigur zentral in der Unterdrückung der Indigenen und der Versklavung der afrikanischen Bevölkerung. Hier gilt sie aber als Symbol für das Brasilianische schlechthin. Wenn wir ehrlich sind, versucht man weiterhin den eurozentrischen Rahmen aufrechtzuerhalten, selbst wenn man afrodiasporische und indigene Kunst in zeitgenössische Ausstellungen aufnimmt. Es ist wichtig zu erkennen, dass die Kunstwissenschaften und das Kunstsystem in Brasilien nie außerhalb des eurozentrischen Meisternarrativs operiert haben. Das Gegenteil war der Fall. Sich der bestehenden Fiktionen bewusst zu werden und andere auszuarbeiten – unter Berücksichtigung der multiethnischen, multirassischen und multisozialen Kunstproduktion und ihrer Epistemologien  – wird die Herausforderung für zukünftige Wissenschaftler:innen sein, die ermutigt werden sollten, neue, inklusive und nicht nationalistische Narrative zu entwickeln. Denn wir brauchen eine gänzlich neue Kunstwissenschaft, die Kunst als zentrale Art und Weise des Menschen versteht, die Welt und

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ihre Wesen, die sichtbaren und die nichtsichtbaren, in ihrer Komplexität empfindbar zu machen, zu erinnern und zu feiern. Kolonialität muss dabei ausgewiesen und bekämpft werden.

Kurze Schlussfolgerungen Ich möchte nun die folgenden Antworten auf meine Fragen, was brasilianische Kunst ist und wie sie studiert wird, zusammenfassen: 1. In Brasilien blieben nach der Unabhängigkeit 1822 die meisten Laster des Kolonialismus bestehen, wie etwa die soziale Ungerechtigkeit, Rassismus, Genozid, Kulturzid, vermeintliche Kordialität und der Austausch von Gefälligkeiten (Ribeiro, Freyre, Holanda, Prado Júnior, Nascimento, Schwarz, Kopenawa). Trotz dieses Bewusstseins in den Sozialwissenschaften wurde der Eurozentrismus nie überwunden. Dies gilt auch für die Kunstwissenschaften. Es gab kein Interesse oder Verständnis für indigene oder afrodiasporische Kunst, sondern nur eine Übernahme des Schlüsselparadigmas der Stilepoche sowie anderer europäischer Werte und Meisternarrative, denen die Periodisierung der Kunst folgte. 2. Viele Autor:innen haben das Problem der Abhängigkeit von Europa nach der Nationenbildung im Hinblick auf die Künste diskutiert und dabei ihre Aufmerksamkeit auf eine vermeintliche Dialektik zwischen dem Außen (Europa) und dem Innen (Brasilien) konzentriert. Diese Beziehung wird entweder als Komödie (Schwarz) oder als Tragödie (Salles Gomes) gesehen, beschränkt sich aber immer auf die Ideen einer Kopie (Salles Gomes, Schwarz), Assimilation oder Hybridität (Flusser, Chiarelli) sowie einer glücklichen oder unglücklichen Aneignung (Flusser, Gomes, Schwarz) des europäischen Modells. Der Gedanke einer Einbeziehung anderer Epistemologien, die nicht dialektisch, sondern additiv denken, gibt es nicht. 3. Die indigene und afrodiasporische Kunst wurde als Referenz für die nationale brasilianische Kunst nur im Kontext der Volkskunst reflektiert (Chiarelli). Indigene Kunst wurde ausschliesslich innerhalb der westlichen Epistemologie separat in Rubriken wie Federkunst, Keramik, Korbflechten, Körperbemalung etc. studiert (Ribeiro, Vidal). Ihr Zusammenhang wurde dabei nicht berücksichtigt (Lagrou). Heute melden sich indigene Künstler:innen vermehrt aus einer dekolonialen Perspektive zu Wort. Sie kritisieren die Darstellung Indigener und ihrer Kultur in der brasilianischen Kunst, die Idee des Kunsthandwerks und geben Aufschluss über ihre eigenen Epistemologien (Baniwa, Esbell, Tukano). 4. Der Begriff der afrobrasilianischen Kunst wurde zunächst von weißen Autoren eingeführt und für weiße Künstler, die entsprechende Sujets wählten, verwandt. Die ersten Studien waren rassistisch (Rodrigues) oder paternalistisch (Ramos, Valladares). Wenige Autor:innen ermöglichten ein tieferes Verständnis des Beitrags und der Bedeutung afrikanischer und afrodiasporischer Künstler:innen (Querino, Nascimento, Cunha). In den letzten Jahren hat sich die Diskussion erweitert. Der Begriff ist jedoch schwer zu definieren und ist ständigen Veränderungen unterworfen (Araújo da Silva, Felinto, D’Salete Souza, Santos Menezes Neto). Dennoch hat er eine wichtige politische Bedeutung und könnte stärker mit der Frage der kolonialen Geschichte und

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den zeitgenössischen soziopolitischen Problemen wie Armut und Rassismus in Verbindung gebracht werden. Auch wäre es nötig, sich intensiver mit afrikanischen und afrodiasporischen Epistemologien auseinanderzusetzen und sie miteinzubeziehen. 5. Die portugiesischen Kolonisatoren wollten zunächst keine Bilder von Brasilien produzieren, um seine Schätze nicht sichtbar zu machen. Sie setzten vielmehr auf einen rechtfertigenden zivilisatorischen Diskurs. Die Bildproduktion hing von den Malern ab (André Thevet, Jean de Léry, Frans Post, Albert Eckhout), die die Invasionskampagnen der Franzosen und Niederländer begleiteten, während sie versuchten Teile Brasiliens für kurze Zeit zu kolonialisieren. Die Bedeutung von Einwanderern oder ausländischen Künstlern blieb bis ins zwanzigste Jahrhundert erhalten (Grimm, Volpi etc.). 6. Die Periodisierung der bildenden Künste in Brasilien folgte zunächst dem europäischen Modell, wobei die vor der Kolonialisierung produzierte Kunst ausgeklammert wurde (Duque-Estrada). Die Kunst versklavter Afrikaner und ihrer Nachkommen wurde im Kontext der Kolonialkunst anfangs kurz zur Kenntnis genommen (PortoAlegre). Die paläolithische, indigene, afrobrasilianische und Volkskunst wurde in den 1980er-Jahren nur in separaten Kapiteln behandelt (Zanini) und fehlt in der jüngsten panormaischen Veröffentlichung (Barcinski) gänzlich. 7. Die beiden Ursprungsmythen der brasilianischen Kunstgeschichte sind die von Franzosen gegründete Kunstakademie in Rio de Janeiro und die Woche der Modernen Kunst von 1922 in São Paulo. Letztere wurde als Wendepunkte für den Beginn einer nationalen brasilianischen Kunst angesehen. Auch weiß man heute, dass angesichts der allgemeinen negativen Sicht auf die Kunst als Handarbeit, die mit der Sklaverei in Verbindung gebracht wurde, die Akademie wenig Einfluss auf die brasilianische Gesellschaft hatte. Der Modernismus genießt immer noch großes Ansehen, obgleich er ein nationalistisches Unterfangen war, das aus der rein metaphorischen Verwendung indigener Kultur für die Elite Kapital schlug. Sein Hauptanliegen war es, gegen Europa eine eigenständige Kunst durchzusetzten. Dies gelang aber nur, indem Europa erneut als Hauptreferenz fungierte. 8. Trotz der Anerkennung des Einflusses der afrobrasilianischen Hand (Porto-Alegre, Araújo, Chiarelli) wurden die Künste fast ausschließlich in ihrer dialektischen Beziehung zu Europa untersucht (Salles Gomes, Cândido, Schwarz). Das kommt vom „Straßenköterkomplex“, einem Minderwertigkeitsgefühl, der vom Vergleich mit der europäischen Kunst und Kultur kommt. Bei der mehr oder weniger originellen Übernahme europäischer Modelle handelt es sich aber letztlich um tromp l’oeils, denn es geht nicht wirklich um eine Übertragung, sondern um den Anschein des Liberalismus, der die Mechanismen der Aufrechterhaltung der Sklavenhaltergesellschaft zu verschleiern sucht. Indigene und afrodiasporische Kunst wird, wie gesagt, zumeist ignoriert. Wenn sie doch erinnert wird, geschieht dies nur metaphorisch (Andrade), oder um sie als tote Körper in den Nationalstaat zu integrieren (Alencar, Meirelles). 9. Die Kunstkritik entwickelte sich zunächst wie in Europa in Texten von Künstler:innen und Schriftsteller:innen. Sie konzentrierte sich auf die besondere Situation Brasiliens im Sinne seines Verhältnisses zur europäischen Kunst. So beteiligten sich die ersten Künstler-Kritiker:innen sowohl an der Geschichtsschreibung des Landes (wie in den meisten lateinamerikanischen Ländern) als auch an der Theoretisierung der Kunst und versuchten, eine nationale Identität zu schaffen.

Kurze Schlussfolgerungen

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10. Ausstellungen internationaler Künstler:innen und Biennalen sind seit jeher wichtige Diskussionsforen und Orte, die an der Theoretisierung, Historisierung und Ausübung von Kritik beteiligt sind und sich vermeintlich gegen etablierte Fiktionen stellen oder neue schaffen. Indigene und afrodiasporische Kunst bleibt ihnen zumeist fremd, auch wenn sie sich auf die Anthropophagie der indigenen Bevölkerung berufen. 11. Zukünftige Kunststudien in Brasilien und anderswo müssen den bestehenden eurozentrischen Diskurs hinterfragen und sich mit den indigenen und afrodiasporischen Epistemologien und Kunstproduktionen auseinandersetzen, um eine dekoloniale Perspektive entwickeln zu können.

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Was ist brasilianische Kunst und wie wird sie studiert?

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Über die Autorin Carolin Overhoff Ferreira ist habilitierte außerordentliche (associada) Professorin an der Bundesuniversität São Paulo (Unifesp). Nach dem Studium der Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universität Bristol und der Universität Wien machte sie ihren Magister Artium und ihren Doktor an der Freien Universität Berlin. Sie lehrte an der Hochschule für Angewandte Kunst und Wissenschaften Hannover, der Portugiesischen Katholischen Universität in Porto, der Universität Coimbra, der Freien Universität Berlin, der Universität São Paulo und der Universität Oxford. An den Universitäten São Paulo, Oxford und Cambridge war sie Visiting und Research Fellow. Sie hat an den folgenden Universitäten und Institutionen Vorträge und Keynotes gehalten sowie Workshops gegeben: Portugiesische Katholische Universität, Porto; Stiftung Eça de Queirós, Tormes; Universität Aveiro; Universität Minho; Neue Universität Lissabon; Universität Aachen, Universität Mainz, Universität Hamburg (auf Einladung des DLV ); Universität Oxford, Universität Cambridge, Brock Universität, Staatliche Universität Arizona, Universität São Paulo, Unesp Marília, Unesp Araraquara, Centro Cultural Brasil-Guiné-Bissau und am Instituto Camões, Brasilia. Als Dramaturgin arbeitete sie am Schauspielhaus Hannover, an der Staatsoper Stuttgart und mit freien Theatergruppen in Portugal und Brasilien. Von 2013 bis 2016 war sie Theaterkritikerin der brasilianischen Tageszeitung Folha de São Paulo. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Neue Tendenzen in der Dramatik Lateinamerikas (1999), Identity and Difference – Post-coloniality and Transnationality in Lusophone Films (2012), Diálgos Africanos – Um Continente no Cinema (2012), Cinema Português – Aproximações à sua História e Indisciplinaridade (2014), Introdução brasileira à teoria, história e crítica das artes (2019) und Decolonial introduction to the theory, history and criticism of the arts (2019). Sie hat folgende Sammelbände herausgegeben: O Cinema Português Através dos Seus Filmes (2007; 2014), Dekalog – On Manoel de Oliveira (2008), Terra em Transe – Ética e Estética no Cinema Português (2012), Manoel de Oliveira – Novas Perspectivas sobre a Sua Obra ( 2013) und África: um Continente no Cinema (2014). Ihre Artikel finden sich in zahlreichen Fachzeitschriften, darunter Adaptation, Camera Obscura, Forum Modernes Theater, Journal of African Cinemas, Latin American Theatre Review, Modern Drama, Music and the Moving Image, Rebeca, Studies in European Cinema, Third Text, Transnational Cinemas, usw.

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Über die Autorin

Bildnachweise Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3:

Foto der Autorin Wiki Commons Deutsche Welle, Foto: Filipe Berndt

Abb. 4: IMBD Abb. 5: Wiki Commons Abb. 6: Foto der Autorin Abb. 7: Foto der Autorin Abb. 8: Foto der Autorin Abb. 9: Archéologie.culture.fr Abb. 10: Museum of Archaeology and Anthropology, Cambridge Abb. 11: Naturhistorisches Museum, Wien Abb. 12: Wiki Commons Abb. 13: Wiki Commons Abb. 14: Vidal, 1992, S. 151 Abb. 15: Metropolitan Museum of Art, New York Abb. 16: Einstein, 1915, S. 45 Abb. 17: Wiki Commons Abb. 18: Wiki Commons Abb. 19: Guamán Poma de Ayala, 1615, S. 509 Abb. 20: Foto der Autorin Abb. 21: Wiki Commons Abb. 22: Wiki Commons Abb. 23: Wiki Commons Abb. 24: Museo Picasso de Barcelona Abb. 25: Montage der Autorin Abb. 26: Berger, 1994, S. 8 Abb. 27: Wiki Commons Abb. 28: Los Angeles County Museum of Art Abb. 29: Wiki Commons Abb. 30: Westside today Abb. 31: Alte Pinakothek, München Abb. 32: Wiki Commons Abb. 33: Wiki Commons Abb. 34: Wiki Commons

Abb. 35: Daily Mail Abb. 36: The Guardian, Foto: Daniel Azoulay Abb. 37: Wiki Commons Abb. 38: Wiki Commons Abb. 39: Wiki Commons Abb. 40: Wiki Commons Abb. 41: Superbacana producões, Foto: Lenise Pinheiro; Astros em Revista, Foto: ohne Autor Abb. 42: Pinterest Abb. 43: Mondego Abb. 44: Saffronatstudy Abb. 45: Wiki Commons Abb. 46: Wiki Commons Abb. 47: Wiki Commons Abb. 48: The Art Story Abb. 49: Itau Cultural Abb. 50: Foto der Autorin Abb. 51: Wiki Art Abb. 52: Wiki Commons Abb. 53: Movieweb Abb. 54: Wiki Commons Abb. 55: Federica Caldi, Altervista Abb. 56: Wiki Commons Abb. 57: Wiki Commons Abb. 58: Wiki Commons Abb. 59: David Bordwell Net Abb. 60: Foto der Autorin Abb. 61: Foto der Autorin Abb. 62: Scroll Abb. 63: Hahn-Produktion; Quora Abb. 64: Screenplaystv Abb. 65: Foto: Rattanapat Wingpud; Pinterest Abb. 66: Wikimedia Abb. 67: Wiki Commons Abb. 68: Wiki Commons Abb. 69: Wiki Commons Abb. 70: Tobin, 1975, S. 314; 319

Bildnachweise

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Abb. 71: Abb. 72: Abb. 73: Abb. 74: Abb. 75: Abb. 76: Abb. 77: Abb. 78: Abb. 79: Abb. 80: Abb. 81: Abb. 82: Abb. 83: Abb. 84: Abb. 85: Abb. 86:

300

Wiki Commons Wiki Commons Wiki Commons Vitruv, 1521, Zeichnung: Cesare Cesariano; Wiki Commons Alberti, 1436 Dürer, 1525 Frisius, 1545 Richardson, 1719, S. 70 Galdino, 2011, S. 12 Wiki Commons Wiki Commons Wiki Commons Wiki Commons Wiki Commons Wiki Commons Wiki Commons

Bildnachweise

Abb. 87: Abb. 88: Abb. 89: Abb. 90: Abb. 91: Abb. 92:

Wiki Commons Wiki Commons Wiki Commons Wiki Commons Wiki Commons Archeoferrara Beniculturali; Kunsthalle, Hamburg

Abb. 93: ZKM Abb. 94: Wiki Commons Abb. 95: Wiki Commons Abb. 96: Wiki Commons Abb. 97: Pipa Prize Abb. 98: Itau Cultural Abb. 99: Wiki Commons Abb. 100: Wiki Commons Abb. 101: Wiki Commons Abb. 102: Bienal São Paulo

Die vorliegende Publikation wurde gefördert vom Goethe-Institut São Paulo.

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