Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung: Eine methodische Anleitung [5 ed.] 9783666620164, 9783525620168


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Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung: Eine methodische Anleitung [5 ed.]
 9783666620164, 9783525620168

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Timm H. Lohse

Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung Eine methodische Anleitung

Timm H. Lohse

Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung Eine methodische Anleitung Vom Clou des Kurzgesprächs

Mit 3 Abbildungen 5., überarbeitete und erweiterte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abruf‌bar. © 2020, 2003 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Lois GoBe / Adobe Stock Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-62016-4

Inhalt Hinführung zum Kurzgespräch . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Die Voraussetzungen des Kurzgesprächs . . . . . . . 1.1 Kenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Sprachliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Systemische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Fertigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Decodieren (wahrnehmen) . . . . . . . . . . . 1.2.2 Encodieren (äußern) . . . . . . . . . . . . . .

15 15 15 33 58 58 65

2 Der Clou des Kurzgesprächs . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der andere Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Jenseits des präsentierten Anliegens . . . . . 2.1.2 Die potenzielle Komplexität . . . . . . . . . . 2.2 Der mäeutische Impuls . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Der Schlüssel . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Haltung der Mäeutik . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Steuerungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die empathische Haltung . . . . . . . . . . . 2.3.2 Die Begleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Anreize zur Kreativität . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Das schlüssige Ende des Kurzgesprächs . . . .

71 72 72 73 74 75 78 84 85 96 101 107

3 Wozu das Kurzgespräch? . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.1 Vom Helfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.2 Von der Sorge um die Seele . . . . . . . . . . . . . 113 4 Einblicke in die Praxis des Kurzgesprächs . . . . . . 4.1 Im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Mit Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . 4.3 In der seelsorglichen Arbeit mit Gruppen . . . . . .

119 119 122 126

4.4 Im Kontakt zu Menschen mit eingeschränkter Sprachfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

4.5 Im Rahmen pastoralpsychologischer Supervision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 In der Geistlichen Begleitung . . . . . . . . . . . . . 4.7 In der Telefonseelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 In der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Mit Studierenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.10 Im Gemeindepfarramt . . . . . . . . . . . . . . . .

133 137 140 144 149 152

5 Das Kurzgespräch in der Alltagsseelsorge Dr. Christoph Schneider-Harpprecht . . . . . . . . . . . . . 155 5.1 Das Kurzgespräch als Methode der Alltagsseelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 5.2. Die Verwurzelung des seelsorglichen Kurzgesprächs im systemischen Denken . . . . . . . 161

6 Anhang: Training im Kurzgespräch . . 6.1 Zur »günstigen Gelegenheit« . . . . 6.2 Zur Balance (UP / DOWN – IN / OUT) . . 6.3 Zum Konfliktkarussell . . . . . . . . 6.4 Zum Fragen . . . . . . . . . . . . . 6.5 Zur Sprache . . . . . . . . . . . . . 6.6 Zum mäeutischen Impuls . . . . . . 6.7 Schlussbemerkung . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Hinführung zum Kurzgespräch Das Kurzgespräch ist aus dem menschlichen Miteinander nicht wegzudenken: »Hast du mal eben Zeit …« oder: »Vielleicht wissen Sie, was ich da machen soll …« oder: »Ich würd’ gern deine Meinung dazu hören …«

Eltern, Freunde und Nachbarn, Richterinnen und Polizisten, Vorgesetzte und Chefs, Abteilungsleiterinnen und Ärzte, Krankenpflegerinnen und Anwälte, Busfahrerinnen und Schaffner, Pastorinnen und Küster, Apotheker und Verkäuferinnen und Lehrer – sie alle sind als Helfende gefragt oder gefordert und werden unver­sehens in kurze »Nebenbeigespräche« verwickelt, in denen es weniger um ihre Fachkenntnisse geht als vielmehr um die Hoffnung, dass sie ihrem Gegenüber einen Ausweg aus einer persönlichen, betrieblichen oder sonstigen »Sackgasse« weisen könnten. Die Bereitschaft, zu helfen, ist dann das eine, die Kunst, zu helfen, das andere. Dieses Buch will zunächst Einblicke in die vorausgesetzten Kenntnisse und Fertigkeiten des Kurzgesprächs geben, um dann den »Clou« des Kurzgesprächs aufzuzeigen. Personen aus helfenden Berufen stehen Kurzgesprächen meist ambivalent gegenüber. Einerseits fühlen sie sich sicher, Gespräche führen zu können, wenn diese gemäß den Regeln ihrer Aus- und Fortbildung ablaufen. Beim Kurzgespräch sind die Gegebenheiten jedoch anders: – Der Zufall bestimmt Ort und Zeit des Gesprächs. – Die Beiläufigkeit scheint dem Ernst des Anliegens zuwiderzu­ laufen. 7

– Die Einmaligkeit lässt viele Gesprächstechniken und Therapie­ methoden ins Leere laufen. Und so werden die Angesprochenen unsicher. Auch wenn es niemand gern zugibt, jetzt häufen sich die gröbsten Fehler der Gesprächsführung, die ein Scheitern des Gesprächs fast unausweichlich werden lassen: – Man kommt vom Hundertsten ins Tausendste. – Ein Vorschlag folgt dem andern und wird doch wieder als untauglich verworfen. – Schließlich werden Scheinargumente1 ins Feld geführt, mit deren Hilfe das eigentlich »ungewollte« Gespräch zu Ende gebracht, spitzer: abgebrochen werden soll. Eine postkommunikative Depression ist die unangenehme Folge. Der felsenfeste Entschluss, sich nie wieder auf solch ein Gespräch einzulassen, soll das Selbstwertgefühl dann wieder aufrichten. Zugegeben, das ist ein wenig bissig formuliert. Ernsthaft betrachtet weiß aber wohl jede beratende Person, dass sie sehr wohl in der Lage ist, im vertrauten Setting gute Gespräche zu führen. Die zufällig sich ergebenden oder einmalig verabredeten Gespräche laufen jedoch irgendwie nach anderen geheimnisvollen Regeln ab, deren Kenntnis ein Scheitern möglicherweise verhindern könnte. Dieses Buch will Einblicke in den besonderen Charakter solcher Gespräche geben. Angesprochene Personen könnten sich dann ermutigt fühlen, solchen Gesprächen nicht mehr auszuweichen, sondern die besondere Chance zu nutzen, die ein »Kurzgespräch« für Ratsuchende bietet. Ich bin davon überzeugt, dass diese Form der Interaktion sehr wohl auch als »Beratung« bzw. »Seelsorge« begriffen und ergriffen werden kann. Der Begriff »Kurzgespräch« weckt zunächst und vor allem das Missverständnis, dass es sich um ein zeitlich kurzes Gespräch handelt, und das wirft zugleich die Frage auf: Ja, wie lange denn? – 5 Minuten, 10 Minuten oder wie lange? An dieses Missverständnis hängen sich weitere an: 1 Z. B.: »Habe leider keine Zeit mehr …«

8

– Beim Kurzgespräch muss alles ganz schnell gehen. – Beim Kurzgespräch wird Wesentliches weggelassen. – Beim Kurzgespräch darf man sich auf keine tiefere Beziehung einlassen. – Beim Kurzgespräch sollte man nicht Emotionen thematisieren. Das Wort »Kurzgespräch« provoziert dieses Missverstehen, legt es vielleicht geradezu nahe, denn mit »kurz« und »Gespräch« assoziieren viele intuitiv eben etwas zeitlich Begrenztes. Zu dem zeitlichen Missverständnis gesellt sich beim Wort »Kurzgespräch« ein weiteres, nämlich die (inhaltlich falsche) Vorstellung, es ginge in diesem Gespräch um kurz und knapp, also: Kurz geht doch nur, wenn man etwas verkürzt. Schärfer formuliert heißt das dann: Im Kurzgespräch wird die ratsuchende Person kurz abgefertigt. »Lästige« Anfragen »kurz erledigen« zu können, mag für angesprochene Personen irgendwie reizvoll sein, da sie dem Dilemma des Zwischen-Tür-und-Angel-(oder zu anderer unpassender Gelegenheit)-Angesprochen-Werdens gern etwas Abwehrendes und zugleich doch noch für die ratsuchende Person Hilfreiches entgegensetzen möchten. Das Kurzgespräch gleichsam als ein Patentrezept für eine kurze und knappe, aber doch galante »Abfertigung«. Und noch ein drittes Missverständnis: Im »Kurzgespräch« geht es darum, kurz und bündig das »In-Unordnung-Geratene« im Leben des ratsuchenden Menschen wieder auf Linie zu bringen. Die Übersetzung des Kurzgespräch-Buches ins Niederländische trägt den Titel »Het bondige gesprek«. Bündig – dieses Wort »bedeutet zunächst ›festgebunden, in einem Bund‹ und bekommt dann in der Handwerkersprache die Bedeutung auf gleicher Höhe abschließend (wie etwa Stäbe in einem Bund)« (Kluge 2002, S. 160). Auf Augenhöhe miteinander zu kommunizieren, gehört zur Grundhaltung im Kurzgespräch. Die Assoziationen jedoch, die dieses (handwerkliche) Verständnis des Wortes »bündig« weckt, sind aus meiner Sicht nicht hilfreich, da sie unzutreffend ein mechanistisches, handwerkliches Agieren im Kurzgespräch nahelegen. Im übertragenen Sinn meint »bündig« im Deutschen etwa: Da ist etwas stimmig, alles Wesentliche ist erfasst, alles Unwesentliche beseitigt. Das trifft zwar 9

auf das Kurzgespräch zu, und doch führt dieses Attribut nicht zu einem hilfreichen Verständnis des Begriffs »Kurzgespräch«, da es ein Ergebnis beschreibt und nicht den inhaltlichen Prozess. Die Konzentration auf die Wesensmerkmale des Kurzgesprächs2 eröffnet einen anderen Zugang zum Begriff »Kurzgespräch«. Es sind vier Wesensmerkmale, die das Kurzgespräch charakterisieren: 1. Sprache

Geschult in der Verbalisierung von Gemütszuständen der ratsuchen­ den Person stellte ich beim Einsatz dieser Methode im Gespräch mit ungewollt schwangeren Frauen fest, dass meine Verbalisierungsangebote eher Unwillen und Widerstände erregten, als dass sie die Frau einluden, sich zu öffnen. Was blieb mir dann zu sagen? Ich wusste erstmal nichts. Deshalb versuchte ich einen anderen Weg: Ich benutzte ausschließlich Wörter aus dem »Gesprochenen« der vor mir sitzenden Frau und bildete aus diesen mein Antworten. Zu meiner Überraschung kam auf diesem Wege ein Gespräch zustande  – anders vermutlich, als die Frau und auch ich erwartet hatten: Ich war verwundert, wie und worüber wir nun ins Gespräch kamen. Mein Gegenüber gab den Ton und die inhaltliche Ausrichtung an, auf die ich mich einließ. Es war ein Gespräch auf Augenhöhe und stets würdig zweier erwachsener Menschen. Diesen Ansatz erweiterte und verfeinerte ich. Der Grundgedanke jedoch blieb gleich: Jeder Mensch hat sein Idiom3, seine sprachliche Eigentümlichkeit, geprägt durch seine Lebensgeschichte. Gelingt es mir, mich seines Idioms zu bedienen, fühlt sich der Mensch unmittelbar angesprochen. Er wird offen und bereit, sich in seinem Wesenskern zu entdecken und zu offenbaren. Es entsteht eine besondere Nähe, ja Intimität, weil ich seinen Code, seine »Geheimsprache« benutze.

2 Siehe dazu auch www.timmlohse.de 3 Idiom in seiner Grundbedeutung, dem griechischen Wort ιδιωμα entsprechend = Besonderheit, Eigenart.

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2.

Anerkennung der Person

Das Gefühl, anerkannt zu werden, ergibt sich daraus, dass der Mensch seine Sprache sprechen darf und kann und nicht auf die Verbalisierung des Gegenübers reagieren muss. Diese Anerkennung der Person wird verstärkt, wenn der Mensch nicht auf seinen Konflikt angesprochen und auf diesen reduziert wird oder darauf, diesen möglichst so zu präsentieren, dass ihm »geholfen« werden muss. Den Konflikt aufzugreifen, läuft stets die Gefahr, die Kommunikation auf das präsentierte Anliegen einzuschränken und die Ganzheit der Person aus den Augen zu verlieren. Rückt jedoch die Person und nicht das Anliegen in den Mittelpunkt der Kommunikation, erhält die ratsuchende Person die Freiheit (Autonomie), das an- und auszusprechen, was ihr jetzt und hier wichtig ist. Die in dieser Person steckenden Möglichkeiten freizusetzen, gelingt durch die Aufnahme der Sprache dieser Person jenseits des vorgetragenen Anliegens. Diese Anerkennung seiner gesamten Person erlebt der ratsuchende Mensch als eine empathische Stärkung seiner Autonomie: Er ist und kann mehr als das präsentierte Anliegen, das ihn vollends zu beherrschen scheint, und zugleich bestimmt er, worüber geredet / nachgedacht / entschieden wird. 3.

Der mäeutische Impuls

Eine besondere Beförderung der Autonomie erfährt die ratsuchende Person durch mäeutische Impulse von der angesprochenen Person. Der Kronzeuge für die Mäeutik ist der griechische Philosoph Sokrates: Mit seinen mäeutischen Impulsen will Sokrates die in der Meinung des Gegenübers enthaltene »Wahrheit« seiner Sicht der Weltwirklichkeit ans Licht der Welt bringen. Im Kurzgespräch wird versucht, mit einem mäeutischen Impuls den festgefahrenen inneren Dialog des Gegenübers wieder in Gang zu bringen, offensichtliche oder verdeckte Widersprüche zu hinterfragen und so die Selbstkongruenz des Gegenübers zu befördern, die es ihm möglich macht, sein Leben selbstständig und mit gutem Gefühl zu führen.

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4. Seelsorge

Die seelsorgliche Haltung in einem Kurzgespräch ist nicht an die Profession eines Menschen gebunden (pfarramtlicher oder diakonischer Dienst), sie ergibt sich vielmehr für jeden Menschen aus der Wachsamkeit für das seelische Befinden eines Mitmenschen, das irgendwie gestört und in Schieflage geraten ist. Sein seelisches Gleichgewicht ist in der Tiefe gestört oder auch erschüttert, sodass der Eindruck in ihm Oberhand gewinnt, ein inautonomes Mängelwesen zu sein, das ohne fremde Hilfe nicht mehr weiterkommt. Die Sorge um seine Seele richtet sich darauf, die Autonomie der ratsuchenden Person so zu stärken, dass dieser Mensch sein Leben (mit seinen Defiziten) wieder aus sich heraus gestalten kann. Die ratsuchende Person spürt, dass ihr Gegenüber ihr das zutraut, und besinnt sich auf die in ihr schlummernde Vielfältigkeit, die ihr neue Türen und Wege aufzeigt. Die seelsorgende Haltung ist eine zentrale christliche Lebenseinstellung – gänzlich unabhängig von der Profession. Das »Kümmern um den Konflikt«, das aufseiten der angesprochenen Person meist von dem unangenehmen Empfinden der eigenen Insuffizienz begleitet ist, wird am Ende von der ratsuchenden Person als Enttäuschung (weil ergebnislos) erlebt. Die seelsorgliche Haltung dagegen wird als behütende Nähe empfunden. Diese vier Wesensmerkmale des Kurzgesprächs sind miteinander verwoben und dienen zielgerichtet der ratsuchenden Person, sich auf sich selbst und die eigenen Möglichkeiten / Fähigkeiten zu besinnen und mit dem vorgetragenen defizitären Leben eigenständig fertig zu werden. Die oben dargelegten vier Wesensmerkmale des Kurzgesprächs haben alle eine klare Richtung: Sie führen – jede für sich und alle gemeinsam auf kurzem Wege zum Kern der ratsuchenden Person, ohne sonderlichen Rekurs auf ihre soziale Vernetzung oder lebensgeschichtlichen Erfahrungen. Denn das ist das Ziel, dass die ratsuchende Person ihr Leben autonom führt. Deshalb sollte im Fokus 12

Sprache

Mäeutik

Person

Anerkennung

Seelsorge

Abb. 1: Die vier Wesensmerkmale des Kurzgesprächs

des Kurzgesprächs der kürzeste Weg dorthin beschritten werden. Das ist der Clou des Kurzgesprächs. Die ratsuchende Person wird  – jenseits ihres vorgetragenen Anliegens  – wieder »lebendig«, findet also wieder Zugang zu ihrer »potentiellen Komplexität« (Foerster 1996, S. 49). Wie das in einem Kurzgespräch erreicht werden kann, wird im 2. Kapitel dieses Buches dargelegt. Zunächst jedoch ist es unerlässlich, in einem vorgelagerten Kapitel  (1) auf die vorausgesetzten Kenntnisse und Fertigkeiten für den Clou des Kurzgesprächs hinzuweisen. Anschließend wird in Kapitel 3 die Wirkung und Sinnhaftigkeit des Kurzgesprächs für die ratsuchende Person entfaltet. Die Beispiele für Kurzgespräche aus der Praxis in Kapitel 4 dienen der Veranschaulichung dieser Methode. Die Ausführungen von Prof. Dr. Schneider-Harpprecht ordnen diese Methode in die Arbeit der Praktischen Theologie und Seelsorge ein. Der Anhang bietet Absolventinnen und Absolventen einer Grundausbildung der AgK4 im Kurzgespräch Trainingsanleitungen für einige Grundfertigkeiten dieser Methode. 4 Arbeitsgemeinschaft Kurzgespräch e. V.: www.kurzgespraech.de

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1

Die Voraussetzungen des Kurzgesprächs

Bevor der »Clou« des Kurzgesprächs aufgezeigt wird, lege ich zunächst dar, welche Kenntnisse im kommunikativen Verhalten unerlässlich sind; diese werden bei den Ausführungen des Clous als bekannt bzw. gekonnt vorausgesetzt. Die sprachlichen und systemischen Kenntnisse werden in dem Rahmen und Umfang dargelegt, wie sie für die Praxis des Kurzgesprächs notwendig sind5. Diese Kenntnisse sollten im Kopf der angesprochenen Person präsent und abruf‌bar sein, damit sie sich bei der verbalen, non- und paraverbalen Kommunikation mit Bedacht und behutsam äußern kann.

1.1 Kenntnisse 1.1.1 Sprachliche Aspekte Wir bedienen uns im Gespräch wie selbstverständlich der für beide beteiligten Personen gewohnten Sprache, in der stillschweigenden Annahme, jede beteiligte Person »verstünde« den jeweiligen sprachlichen Ausdruck der anderen. Diese Annahme trügt jedoch. Die Aussage »Ich liebe meinen Mann nicht mehr« scheint umgangssprachlich sofort verständlich, provoziert beim Gegenüber jedoch das Unbehagen: Wie ist »nicht mehr lieben« zu verstehen? Was genau will dieser Mensch mir damit eigentlich sagen? 5 Ein umfassendes Referat der Linguistik, Semantik und Systemtheorie sprengt den Rahmen dieses Buches.

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Spracherwerb und Sprachgebrauch unterliegen einem absolut individuellen Lern- und Lebensprozess, eingebettet in die je eigene Familie, die ihrerseits vernetzt ist in ein ihr zugehöriges soziales Netzwerk, das einer größeren Sprachgemeinschaft zugehörig ist. Erst der erlernte Sprachkonsens innerhalb einer Familie, eines sozialen Netzwerkes, einer Sprachgemeinschaft ermöglicht eine »umgangssprachliche« Verständigung. Deshalb ist es zunächst angezeigt, einen Einblick in die Entwicklung der menschlichen Sprache, der persönlichen Sprache, des Sprachausdrucks und des Verstehens von Sprache zu gewinnen. Sprachentwicklung

Michael Tomasello (2009) erweitert in seiner vorgelegten Untersuchung über »Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation« die Erkenntnisse hinsichtlich des persönlichen Spracherwerbs auf geschichtliche Prozesse der Sprachentwicklung. Die nichtsprachliche Infrastruktur des intentionalen Verstehens über Zeigegesten, Blickkontakt, gemeinsames Interesse und Handeln ermöglicht demnach überhaupt erst die Entwicklung eines sprachlichen Codes (Tomasello 2009, S. 168 ff.). Über Augenmerk, Mimik, Gestik kann rekursiv erkannt werden, dass zwischen den nichtsprachlich Kommunizierenden – eine gemeinsame Aufmerksamkeit für die gegenwärtige Situation, – ein gemeinsames Verständnis der gegenwärtigen Situation, – ein gemeinsamer begrifflicher Hintergrund der unmittelbaren Wahrnehmungsumgebung besteht. Aus dieser nichtsprachlichen Infrastruktur entwickelt sich – so Tomasello – dann Sprache auf der Basis arbiträrer Codes, d. h. beliebiger (und zufälliger) Zeichen der jeweiligen Sprache. Um hilfreich und zu beider Nutzen kooperativ kommunizieren und handeln zu können, müssten die Beteiligten sich »einig« sein über das, wie sie beide denken und deuten und was sie beide wissen und was ihnen beiden wichtig ist. Dieser gemeinsame begriffliche Hintergrund wird in Sprechhandlungen innerhalb eines bekannten (vertrauten) sozialen Umfeldes stillschweigend vorausgesetzt. Die 16

alltäglichen umgangssprachlichen Kommunikationsakte »funktionieren« weitgehend nach dem Muster: Ich gehe davon aus, dass du so »tickst« wie ich, dass wir im Prinzip dieselbe Sprache sprechen, also: »Ich denke, dass du denkst, dass ich denke …, also sprichst du so, wie ich spreche …, also können wir uns prima unterhalten.« Der je eigene »Bedeutungstiefengrund«6 wird dabei jedoch unterdrückt, entscheidend ist der konsensuelle Gebrauch von Sprache, wie er sich in der Konvention des vorherrschenden sozialen Gefüges entwickelt hat. Erst auf‌kommendes Missverstehen bringt die laufenden Kommunikationsakte ins Stottern: »Du verstehst mich nicht! – Du verstehst nicht, was ich dir sagen will!« Die kooperative Kommunikation bricht zusammen, es kann ein offener Streit darüber ausbrechen, wer was wann wie gesagt und gemeint hat, das heißt: Die sprachlichen Aussagen werden im Nachhinein von einer Metaebene aus rekonstruiert, analysiert und »richtig« gestellt, und erst jetzt kann der (im besten Fall) Bedeutungstiefengrund beider Beteiligten ins Blickfeld kommen. Der begriff‌liche Hintergrund ist  – trotz aller konsensuellen Konvention – nicht automatisch vorhanden, so nah man sich auch sein mag. »Die Fähigkeit, einen gemeinsamen begrifflichen Hintergrund zu schaffen  – gemeinsame Aufmerksamkeit, geteilte Erfahrung, gemeinsames kulturelles Wissen  –, ist eine absolut entscheidende Dimension aller menschlichen Kommunikation, einschließlich der sprachlichen« (Toma­ sello 2009, S. 15).

In der Umgangssprache meint doch jeder Mensch, den begriff‌lichen Hintergrund von »lieben« zu kennen. Hinter den arbiträren Zeichen »l-i-e-b-e-n« verbirgt sich (davon gehen wir aus) ein konventioneller Konsens, der sprachgeschichtlich bis ins Sanskrit verfolgt werden kann, der jedoch bedeutungsgeschichtlich nachprüf‌baren Wandlungen unterworfen ist: Zeige ich auf einen Mann und eine Frau oder auf zwei Frauen oder zwei Männer oder ein Kind und einen Erwachsenen, zwei Kinder usw. und benutze das Buchstabengefüge »lieben«, werden wir im Gespräch unseren begriff‌lichen Hinter-

6 Ausführlich dargelegt im Abschnitt »Spracherwerb«, S. 20 ff.

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grund zu klären haben: Worin stimmen wir überein, was ist uns wichtig, worauf wollen wir hinaus? Unser Miteinander-Sprechen wird erst effektiv, wenn wir uns einigen, das Buchstabengefüge eines Wortes (z. B. l-i-e-b-e-n) auf dieselbe Weise zu verwenden. Und dieser Aufgabe werden wir uns stellen, sofern die entschiedene Absicht verfolgt wird, wir wollen etwas miteinander teilen, und mit dem »Teilen« helfen wir uns, zu kooperieren – in welcher Angelegenheit auch immer. Je solider der gemeinsame begriffliche Hintergrund ist, desto weniger Sprache ist notwendig; und umgekehrt: Je dürftiger der gemeinsame begriffliche Hintergrund ist, desto mehr muss gesprochen werden (Tomasello 2009, S. 320). Es kommt also darauf an, dass und inwieweit die Kommunizierenden wechselseitig erkennen, ob und dass sie einen gemeinsamen begrifflichen Hintergrund haben, aus dem heraus sie eine für beide verständliche Sprache entwickeln. Beispiel: »Ich komme mit meiner Kollegin nicht klar. Ich durchschau sie nicht. Ich halte sie für ein Biest!«

Umgangssprachlich scheint diese Aussage ohne Mühe verständlich, auch wenn die Einzelheiten des »Problems« noch nicht offenbart worden sind. Doch was »meint« die ratsuchende Person in ihrem begriff­‌lichen Hintergrund mit: »nicht klarkommen«  – »Kollegin«  – »durchschauen« – »halten für« – »Biest«? Wenn die angesprochene Person für alle diese arbiträren Codes ihren Bedeutungstiefengrund als gemeinsamen begriff‌lichen Hintergrund annimmt, gehört nicht viel dazu, ein »Aneinander-vorbei-Reden« und, daraus folgend, ein Missverstehen zu prognostizieren. Andersherum: Wenn die angesprochene Person mit der ratsuchenden Person hilfreich zusammenwirken will, gilt es, zunächst in mindestens einem zentralen Buchstabengefüge dieser Aussage den gemeinsamen begriff‌lichen Hintergrund zu erarbeiten, um teilen und helfen zu können. Erfolgreich mit einer anderen Person zu kommunizieren, setzt voraus, »dass wir beide gemeinsam wissen, dass wir eine Konvention 18

auf dieselbe Weise verwenden« (Tomasello 2009, S. 120). Dieses Wissen bestimmt unseren alltäglichen Umgang mit Menschen. Wird jedoch der Kommunikationsakt auf eine Entscheidungsfindungssituation verdichtet, wird der jenseits der konventionellen Sprache vorhandene Bedeutungstiefengrund zum hilfreichen Ansatzpunkt, um erfolgreich miteinander ins Gespräch zu kommen. Beispiel: »Mir ist nicht mehr zu helfen.«

Was (nicht: welches Problem) verbirgt sich hinter dieser umgangssprachlich üblichen Sprachformulierung für den Menschen, der sie ausspricht: – der Appell: »Hilf mir!«? – die Feststellung: »It’s all over now _«? – der Hinweis: »Bitte (kein) Mitleid.«? Das Bemühen um eine Entschlüsselung des gemeinten Hintergrunds dieser Aussage wird die Kommunizierenden vor weitreichenden Irr- und Umwegen bewahren. So sehr dabei die umgangssprachgeschichtliche Entwicklung etwa des Buchstabengefüges »­h-e-l-f-e-n« mit zu bedenken ist, entscheidend wird in der Krisensituation sein, welche Weltsicht der ratsuchenden Person zu »h-e-l-f-e-n« vermittelt worden ist, die sie in ihrer Tiefenstruktur bewahrt. Denn neben der in der Evolution sich entwickelnden und verändernden Bedeutung von »h-e-l-f-e-n« hat jede Person zudem von klein auf ihre eigene Bedeutung dieses Wortes erworben. »Sprechhandlungen sind gesellschaftliche Handlungen, die eine Person absichtlich an eine andere richtet (und hervorhebt, dass sie dies tut), um deren Aufmerksamkeit und Vorstellungskraft auf bestimmte Weise zu lenken, so dass sie das tut, weiß oder fühlt, was die erste Person von ihr will. Diese Handlungen funktionieren nur dann, wenn beide Beteiligten mit einer psychologischen Infrastruktur von Fertigkeiten und Motivationen geteilter Intentionalität ausgestattet sind, die sich zur Erleichterung von Interaktionen mit anderen bei gemeinschaftlichen Tätigkeiten entwickelt hat. Die Sprache, oder besser die sprachliche Kommunikation, ist daher nicht irgendeine Art von formalem oder sonstigem Gegenstand; vielmehr ist sie eine Form gesellschaftlichen Handelns, konstituiert durch 19

gesellschaftliche Konventionen, um gesellschaftliche Zwecke zu erreichen, welche zumindest auf einem gewissen geteilten Verstehen und geteilten Zielen der Benutzer beruhen.« (Tomasello 2009, S. 363)

Spracherwerb7

Sprechen konstituiert menschliches Miteinander. Spreche ich mit einem oder mehreren Menschen, trete ich in Beziehung zu ihm / ihnen. Will ich mit einem Menschen etwas gemeinsam machen, werden wir miteinander reden und uns abstimmen, wie und wo und wann und was. Das funktioniert in bestimmten Situationen auch ohne Sprechen: Ein Blickkontakt, eine kurze Kopf‌bewegung nach hinten oben rechts reichen, um meiner Frau zu signalisieren: »Komm, wir hauen ab!« Verständigung läuft über verbale, nonverbale und paraverbale Äußerungen. Gehe ich ins Theater, werde ich anschließend mit meiner Frau reden, und sie wird wie ich das Erlebte (sprachlich) beurteilen; und sind wir unterschiedlicher Meinung, werden wir unser Urteilen wortgewandt begründen. Komme ich zu spät zu einem ver­ abredeten Termin, werde ich meine Stimme erheben und mich mit Worten rechtfertigen. Dazu »benutzen« wir – ohne großes Nachdenken – unsere bis dahin erlernten Ausdrucksmöglichkeiten in Mimik, Gestik und Sprache. Dieses Sprechen haben wir von klein auf gelernt. Meist sind es die Mutter und der Vater, die ihrem Kind das Sprechen »beibringen«; dazu kommen die Geschwister, Babysitter, Verwandte, Nachbarn: Ein-Wort-, Zwei-/Drei-Wort-»Sätze«, der erste »vollständige« Satz – welch ein Fortschritt! Bald kann man mit dem Kind schon »richtig« reden, eine gute Voraussetzung, wenn das Kind in die Kindertagesstätte kommt. Der Sprachschatz erweitert sich. »Das Sprechenlehren und das Sprechenlernen sind die fundamentalsten Kommunikationsakte. Die Lehr- und Lernsituation ist die Grundform des Dialogs« (Track 1977, S. 13).

7 Vgl. dazu vor allem Track 1977; Tomasello 2009; Heidegger 1959.

20

Das Kind erlebt sich elementar in seiner dialogischen Existenz, zugleich jedoch erlernt es Sprache nur in einer vermittelten Form: Die Mutter zeigt auf den Ball und lautet / spricht: »Ball«  – so oft, bis das Kind es ihr nachlautet/-spricht. So lernt das Kind nicht nur einen bestimmten Teil seiner umgebenden Wirklichkeit mit der willkürlichen Laut-(und später Buchstaben-)Kombination von »b-a-l-l« zu bezeichnen8/benennen, sondern weiterführend, dass es »bedeutsam«9 ist, dieses runde Ding sprachlich von der übrigen Weltwirklichkeit zu unterscheiden. Die Mutter vermittelt mit der Lautartikulation zugleich Bedeutung. Wie bedeutsam »Ball« für dieses Kind im weiteren Leben ist, wird von vielen weiteren individuellen und / oder gemeinschaftlichen Lernerfahrungen mit »Ball« entschieden. »Sprechen lernen bedeutet, bewerten lernen und etwas bedeutsam werden zu lassen« (Track 1977, S. 18). Wenn dieses Kind als erwachsene Person sprachlich das Wort »Ball« benutzt, ist seinem Gegenüber dieser persönliche Bedeutungshintergrund nicht klar. Hinsichtlich des Wortes »Ball« scheint das wohl eher unerheblich. Wenn es jedoch um »Krieg« oder »Frieden« geht, um »lieben« oder »verzeihen«, »ärgern« oder »trinken« und um die damit je persönlich verbundenen, im »Tiefengrund«10 verankerten Weltansichten, ist das Konstituieren eines mensch­ lichen Miteinanders sprachlich nicht »so eben mal« möglich. »Der Sprechenlernende steht nicht am Nullpunkt, sondern hat seinen Ort innerhalb der Geschichte. Er ist hineingestellt in die Geschichte seiner Sprachgemeinschaft. Diese Sprachgeschichte ist die Basis, die ihm den Spielraum zu eigenem Sprechen ermöglicht« (Track 1977, S. 18).

Die Freiheit, diesen Spielraum je für sich zu haben und zu nutzen, wird beim unbedachten Sprechen, beim Erörtern, beim Diskutieren meist ignoriert und führt zwangsläufig zur Meinungsverschiedenheit, zum Streit über »wahr« und »falsch«, zum Abbruch des Gesprächs: »Du verstehst mich nicht!« 8 Zeigegesten spielen beim Erlernen von Sprache eine entscheidende Rolle. Vgl. Tomasello 2009. S. 31 f. und 71 f. 9 Die Mutter deutet auf den Ball und drückt mit Mimik und Gestik und Tonfall aus, wie bedeutsam es für das Kind ist, »Ball« zu lauten. 10 Vgl. den folgenden Abschnitt »Sprachfindung«.

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In der Diskrepanz zwischen den Wort-(Buchstaben-)Kreationen und deren Bedeutungstiefengrund der je neu auf‌kommenden Jugendsprache und der Sprache der Altvorderen und deren Bedeutungszuschreibungen macht das beispielhaft deutlich: »Geil« bedeutet für Oma und Opa etwas ganz anderes als für ihre 13-jährige Enkeltochter.11 Im Kurzgespräch spielt der Respekt vor dieser Differenz im persönlichen Bedeutungstiefengrund aller benutzten Wörter eine zentrale Rolle. Die individuellen Bedeutungszuschreibungen für sprachliche Begriffe zwischen Menschen gleichen Sprachidioms sind nicht deckungsgleich. Diese Differenzen gilt es zu beachten und, wenn möglich und für ein wirkliches Verstehen gewünscht, grenzüberschreitend zu akzeptieren bzw. sich ihnen anzunähern. Sprachfindung12 »Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Mir fehlen die Worte.«

Auch die sprachgewandteste Person wird auf diese Erfahrung zugreifen können, dass die erlernte konventionelle Sprache kein Buchstabengefüge für das hat, was sie »sagen« möchte. Ein Blick in die sogenannte Jugendsprache offenbart, dass insbesondere Jugendliche sich mit dem, was »in ihnen ist«, nicht im vorgefundenen und erlernten Wortschatz der Vorgeneration wiederfinden. Sie werden überkommene Wörter in ihrem Sinne umdeuten oder sprachschöpferisch neue Wörter »erfinden«. Dass Menschen »ihre« Sprache zu finden suchen, begleitet die Menschheitsgeschichte. Denn Menschen wollen zu jeder Zeit sprachlich ausdrücken, was sie sehen, hören, riechen, fühlen oder schmecken und was sie innerlich dabei erleben und empfinden. Von Aristoteles wird überliefert: »Es ist nun das, was in der stimmlichen Verlautbarung (sich begibt), ein Zeigen von dem, was es in der Seele an Erleidnissen gibt, und das Geschriebene ist ein Zeigen der stimmlichen Laute.« (zitiert nach Heidegger 1959, S. 96) 11 Bichsel 1997, S. 13: »Sprache kann nie wiedergeben, was eigentlich ist, sie kann Realität nur beschreiben.« 12 Vgl. zu diesem Abschnitt vor allem Heidegger 1959.

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Die inneren Erlebnisse suchen und brauchen einen Weg, sich in Sprache umzusetzen. Über 2000 Jahre später schreibt Wilhelm von Humboldt: »Man muss die Sprache nicht sowohl wie ein totes Erzeugtes, sondern weit mehr wie eine Erzeugung ansehen, mehr von demjenigen abstrahieren, was sie als Bezeichnung der Gegenstände und Vermittelung des Verständnisses wirkt, und dagegen sorgfältiger auf ihren mit der inneren Geistestätigkeit eng verwebten Ursprung und ihren gegenseitigen Einfluss darauf zurückgehen.« (zitiert nach Heidegger 1959, S. 98)

Sprechen ist eng verwoben mit dem, was im Inneren geistig bewegt wird. Wenn wir sprechen, wollen wir aus-drücken, was wir in uns mittels aller fünf Sinne wahrnehmen: Ich denke bei mir, ich höre auf meine innere Stimme, ich sehe mit meinem geistigen Auge, ich fühle eine innere Kraft oder Ohnmacht, ich rieche den Verrat, ich schmecke den Tod. Dieser innere Dialog oder Monolog, je nachdem, wie einig man mit sich ist, wird in einer inneren Sprache geführt. Mir sagt die innere Sprache etwas, worauf ich mit meinem inneren Ohr höre. Heidegger nennt das, was das innere Ohr vom inneren Dialog hört, »Sage« (Heidegger 1959, S. 104 ff), und folgert daraus, dass die »Sage« den Menschen zum Sprechen bringt. Der Mensch will zur Sprache bringen, was ihn innerlich geistig-seelisch bewegt. »Die Sage ist es, die uns, insofern wir auf sie hören, zum Sprechen der Sprache gelangen lässt.« (Heidegger 1959, S. 105) Auf dem Weg von der »Sage« zur Sprache ist der Sprechende darauf angewiesen, was die ihn gelehrte und von ihm erlernte Sprache ihm »sagt«. Wir hören »auf die Sprache in der Weise, dass wir uns ihre Sage sagen lassen« (Heidegger 1959, S. 104). Dieser Bedeutungstiefengrund einer Lautkonstellation wird uns vermittelt (s. o.); wir wachsen in eine Sprachgemeinschaft hinein, in der ein relativer gemeinsamer begrifflicher Verstehenshintergrund das Kommunizieren erfolgreich werden lassen kann. Allerdings ereignet sich gelegentlich die (schmerzliche) Erfahrung, dass die »Sage« der gelehrten und erlernten Sprache nicht deckungsgleich ist mit unserer inneren »Sage«. Wir finden das passende Wort nicht, obwohl wir hineingewachsen sind in das Sprachgeschehen und wir uns die »Sage« der Sprache verinnerlicht haben. Wir können uns nicht in Sprache aus-drücken und uns nicht 23

verständlich machen, und unser Schweigen ent-spricht unserem Unvermögen, die innerlich gehörte »Sage« in Worte zu kleiden. Darüber hinaus ist die Korrespondenz13 zwischen der Tiefenstruktur einer Person und der Oberflächenstruktur ihres Ausdrucks nicht ständig gewährleistet: Im Small Talk wird sie gegen null gefahren, im dichten engagierten Gespräch ist sie hoch aktiv. Es ist uns Menschen möglich, stundenlang zu reden, ohne etwas zu sagen. Gelegentlich befleißigen wir uns einer rauschenden Schwatzhaftigkeit, um nicht schweigen zu müssen und damit zum Aus-druck zu bringen, dass wir innerlich nicht beteiligt sind. Auch greifen wir mit fortschreitendem »Erwachsenwerden« zu erlernten Formelsprachen in der Meinung, so eher und besser verstanden zu werden, als wenn wir Kontakt mit unserer inneren Sage aufnehmen und die (geäußerte) Sprache wählen, deren Sage am dichtesten dazu passt. Der sogenannte Psychojargon, in den Menschen verfallen, wenn es eigentlich ans Eingemachte, an die innere geistig-seelische Störung / Verwerfung / Bewegtheit geht, gehört ebenso dazu wie die »Sprache politischer Korrektheit«, in der von gesellschaftlichen Verwerfungen in gestanzten Phrasen geschwafelt wird. Beispiele: – »Ich leide an depressiven Verstimmungen.« Was genau will diese Person aus ihrer »Sage« mit mir teilen? – »Prekariat« oder »Migrationshintergrund«. Im politisch-gesellschaftlichen Diskurs begegnet uns solche nichts aussagende Kürzelsprache; für ein wechselseitiges Verstehen und eine Verständigung sind diese Sprachgeräusche jedoch nicht hilfreich.

13 Korrespondenz = wörtlich: zusammen + zurück + geloben, also ein kooperativer rekursiver Prozess des Sich-Vergewisserns.

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Sprachmodulation14

Zu einem Menschen gehört unverwechselbar seine Stimme und auch seine Fähigkeit, die Stimme zu heben oder zu senken, laut oder leise zu reden, sie zittern zu lassen oder zu grölen, sanft oder hart, bestimmt oder verwaschen zu sprechen. Mit unserer Stimme stellen wir Vertrautheit her oder schaffen Distanz; mit ihr signalisieren wir Interesse oder Gleichgültigkeit. Fast unabhängig von den gesprochenen Buchstabenkombinationen »kriegen wir mit«, ob eine Person verstimmt ist, ob sie be-stimmt redet, ob sie sich mit mir ab-stimmen will, ob sie mir zu-stimmt. Der Ton macht eben die Musik: »Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich liebe!« »Aber wie du das gesagt hast, glaube ich dir nicht!«

Der Klang der Stimme bedeutet mehr als die verbale Aussage; an ihm wird erkannt, dass die sprechende Person es ernst, liebevoll, fürsorglich oder nicht ehrlich, lieblos, abwehrend meint. Im Kurzgespräch wird die ratsuchende Person sehr sensibel darauf achten, wie die angesprochene Person mit ihr stimmlich redet: ärgerlich genervt oder aufmerksam engagiert. Neben dem Klang einer Stimme achten wir darauf, worauf die Betonung gelegt wird: »Denkst du, es ist mir egal …; Denkst du, es ist mir egal …; Denkst du, es ist mir egal …« 14 Neben der Buchstabenkombination (verbal) bestimmen die Stimme, die Betonung und die Pausen (paraverbal) und die Mimik, Gestik und Körperhaltung (nonverbal) den Sinngehalt des Gesprochenen. In der schriftlichen Darstellung dieser paralinguistischen Phänomene bediene ich mich eines Notbehelfs: auf kursiven Buchstaben liegt die Betonung, _ 1 Unterstrich = kurze Pause, _ _ 2 und mehr Unterstriche = längere Pause, ↓ Stimme wird gesenkt, ↑ Stimme wird gehoben, ͜ kurze Pause + gleichmäßige Stimmlage, ohne besondere Betonung. Vgl. dazu auch Heidegger 1959, S. 59.

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Die Verschiebung der Betonung verändert die Zielrichtung der Frage.

Oder andersherum: Mit der Hervorhebung durch Betonung geben wir unsere Absicht zu erkennen, wie die verbale Aussage (oder Frage) zu verstehen ist: Mal steht das »du«, mal das »denken«, mal »egal« im Vordergrund; und die angesprochene Person ist gut beraten, sich im kooperativen Kommunikationsprozess durch die Betonung ihre intendierte Zielrichtung zu markieren. Zu der Betonung der verbalen Äußerung kommen die Pausen im Sprechvorgang. Jede Pause entspricht einem »Mini«-Schweigen, und jedes Schweigen »ist nicht weniger ein Kommunikationsaustausch als ein angeregtes Gespräch« (Watzlawick / Beavin / Jackson 1969, S.51). Das Schweigen einer Pause steht in unmittelbarer Beziehung zum vorher und nachher Gesagten: Es unterbricht den Rede- und damit Gedankenfluss und schafft der hörenden Person gleichsam Raum, Kontakt aufzunehmen mit der inneren Aufmerksamkeit, indem es der allzu naheliegenden Versuchung (»Ich weiß schon, was du mir sagen willst …«) Einhalt gebietet. Zugleich wird die Wahrnehmung für die dann folgende Äußerung geschärft. R15: »Ich hab den Eindruck, der Job bringt mich um↓.« A16: »Um was genau _ _ bringt dich der Job↓.«

»Zum Wesen alles Sprechens gehört, dass es auf das Schweigen bezogen ist. Erst beide Verhaltensweisen zusammen bilden das volle Phänomen. Sie bestimmen einander wechselseitig, denn wirklich sprechen kann nur, wer schweigen kann – ebenso wie wirkliches Schweigen nur dem möglich ist, der zu reden vermag. Das echte Schweigen bedeutet nicht das bloße Negativum, dass nicht gesprochen wird, sondern ein lebendiges Verhalten; eine in sich schwingende Bewegtheit des inneren Lebens, in welcher dieses seiner selbst mächtig wird. Erst aus dieser bewegten Ruhe kommt dem Wort jene stille Kraft, die es voll macht. Darüber hinaus ist das Schweigen ein Offenwerden vor der Sinngestalt, die sich dem inneren

15 R = Kürzel für »ratsuchende Person«; auch im weiteren Verlauf des Textes. 16 A = Kürzel für »angesprochene Person«; auch im weiteren Verlauf des Textes.

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Blick darbietet. Erst in solchem Offensein wird deren Bedeutungsmacht erfahren, und erst aus solcher Erfahrung gewinnt das Wort seine ganze Ausdrucksenergie.« (Guardini 1959, S. 12–13)

Im Kurzgespräch geht es vorrangig darum, dass die angesprochene Person um diese »Ausdrucksenergie« weiß und sie angemessen bewusst einzusetzen versteht. Seinem beredten Schweigen durch bewusste Pausen in der Sprachhandlung entspricht sehr bald ein Schweigen der ratsuchenden Person als »ein Offenwerden vor der Sinngestalt, die sich dem inneren Blick darbietet« (Guardini 1959, S. 12). Der Kontakt mit dem inneren Dialog (Monolog) unterbricht unbewusst und unwillkürlich den äußeren Sprechvorgang bei der ratsuchenden Person; dieses Schweigen sollte die angesprochene Person unter keinen Umständen »stören«. Die Sprachmodulation lässt sich (vgl. S. 25, Fußnote 14) in etwa darstellen, die Mimik und Gestik entzieht sich in diesem Zusammenhang der schriftlichen Fixierung, da diese ins Romanhafte zu entgleiten droht. Deshalb wird nur gelegentlich ein Hinweis zur nonverbalen Haltung der angesprochenen Person im Laufe der folgenden Abschnitte beschrieben. Hinzu kommt das Reden mit Händen und Füßen. Ein leeres Glas steht auf dem Tisch, davor sitzt eine Person, die mit dem Zeigefinger auf das Glas weist, anschließend die Hand erhebt und mit dem Zeigefinger in das leere Glas sticht.

Diese Zeigegestik ist – auch ohne ein Wort – zu verstehen: Da soll was rein. Was da rein soll, bedarf jenseits der Zeigehandlung einer verbalen Bezeichnung: »Wasser, bitte.« Sticht der Zeigefinger jedoch energisch dreimal in das leere Glas bei unveränderter Wortung, verschiebt sich der Sinn: »Sofort!«, »Ein bisschen plötzlich!«, »Schnell!« Die Körpersprache kann und soll und wird die verbale Botschaft verständlich(er) machen. Das strahlende Gesicht (Mimik), die weit geöffneten Arme (Gestik) und das fröhliche Herumhüpfen (Körperhaltung) einer Person verstärken die Botschaft: »Ich freue mich!« und erleichtern, zu begreifen, wie ausgelassen fröhlich dieser Mensch ist. 27

Die Augen, das Mienenspiel, die Mundwinkel, die Kopf‌haltung, die Schultern, die Hände, der Rücken, die Beinhaltung sind Ausdrucksformen, die durchaus für sich sprechen können, besonders aber dann (unbewusst) zum Einsatz kommen, wenn der sprachliche Ausdruck der redenden Person hinsichtlich seiner Sage nicht ausdrucksstark genug erscheint. Solange der Säugling, das Kleinkind das Sprechen noch nicht decodieren kann, wird von der Kommunikation lehrenden Mutter (und anderen Personen) verstärkt die Mimik und Gestik als Mittel der Verständigung eingesetzt: Der Säugling lächelt  – die Mutter lächelt; die Mutter lächelt – der Säugling lächelt. Die beiden verstehen / verständigen sich so, dass es beiden gut geht, dass beide glücklich sind, dass der Säugling satt ist, die Mutter ihn vollends stillen konnte, dass leben wunderbar ist – verbal werden wir das Lächeln nicht eindeutig entschlüsseln können. Das häufige Lächeln einer Asiatin z. B. ist für westliche Menschen ohne begleitende verbale Kommunikation schwer zu decodieren. Die gesprochene Sprache wird  – neben der paraverbalen Ausdrucksenergie: Stimme, Betonung, Pausen  – durch Mimik und Gestik und Körperhaltung moduliert. Wenn diese Modi mit dem verbalen Ausdruck bei der ratsuchenden Person in überzeugendem Einklang stehen, dann verstärken sie das Gesagte. Oder aber sie stehen in krassem Gegensatz zur Aussage, dann verwirren sie und reizen zur Nachfrage oder zum Deuten. Oder sie sind kaum oder gar nicht wahrnehmbar, dann fehlt entweder der Sprache der Bezug zur inneren Sage (innerlich unbeteiligt). Oder die Modi wurden nicht gelehrt und gelernt bzw. unterdrückt und abtrainiert, dann fehlt diese Ausdrucksform und erschwert das Verstehen erheblich. »[Das] ›Material‹ jeglicher Kommunikation [sind] keineswegs nur Worte […], sondern umfasst auch alle paralinguistischen Phänomene (wie z. B. Tonfall, Schnelligkeit oder Langsamkeit der Sprache, Pausen, Lachen und Seufzen), Körperhaltung, Ausdrucksbewegungen (Körpersprache) usw. innerhalb eines bestimmten Kontextes, kurz: Verhalten jeder Art.«17

17 Watzlawick / Beavin / Jackson 1969, S. 51; wobei sie unter »paralinguistisch« sowohl die para- als auch die nonverbalen Äußerungen subsumieren.

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Diese paralinguistischen Phänomene können (logopädisch) trainiert werden. Schauspielende Menschen werden wegen ihrer non- und paraverbalen Bandbreite bewundert: Klang, Volumen, Vibration und Intensität der Stimme, die dazu kongruenten Ausdrücke der Mimik und Gestik wechseln in wenigen Sekunden und verdichten die verbale Botschaft. Für schauspielende wie für »normale« Menschen gilt: Der »Inhaltsaspekt« wird in der Sprache digital vermittelt, d. h. mittels einer Buchstabenkombination, über die ein vergemeinschafteter Konsens besteht, der »Beziehungsaspekt« dagegen analog, d. h. mittels der paralinguistischen Ausdrucksmöglichkeiten. Sprachverständigung

Auch wenn wir alle die gleiche Muttersprache erworben haben, so haben wir doch verschiedene Mütter, die uns sprechen gelehrt haben bzw. von denen wir sprechen gelernt haben. Wir haben einen mehr oder minder gleichen Wortschatz der deutschen Sprache, und doch ist der »Wortschatz bei keinem gleich« (Heidegger 1959, S. 62). Jeder Mensch ist auf seine Sprachwelt begrenzt. Es gibt jedoch Grenzüberschreitungen im Sprachverstehen. »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« (Wittgenstein 1922/1960, Nr. 5, 6) Die mich umgebende und bestimmende Wirklichkeit erfasse ich mit »meiner« Sprache, und »meine« Sprache schreibt in meinem Bewusstsein diesen Wirklichkeiten »meine« Bedeutung zu und aufgrund dieser Bedeutungszuschreibungen gliedere ich »meine« Wirklichkeit. Das gilt ebenso für mein Gegenüber. Für den Verständigungsprozess zwischen uns ist entscheidend, ob wir grenzüberschreitend unsere Horizonte (vgl. Track 1977, S. 107) erweitern können und werden. Im günstigen Fall entsteht aus der Horizontverschmelzung (vgl. Gadamer 1960) ein Akt wechselseitig kritischen Verstehens. Im umgangssprachlichen Normalfall jedoch geht jeder Mensch von der »eigenen« Gliederung der Wirklichkeit aus und wird folglich zunächst alles Gehörte in »seine« Gliederung einzuordnen versuchen. Wenn das nicht gelingt, wird er entweder sein Gegenüber nicht verstehen oder zu missionieren (von der eigenen Gliederung der Wirklichkeit zu überzeugen) versuchen. 29

Wittgenstein18 verschärft diese Erkenntnis auf den Bereich höchst eigener Empfindungen und kommt zu dem Schluss, dass es nicht möglich ist, für eine Empfindung eine Sprachregel aufzustellen, nach der der Gebrauch des Ausdrucks für eine Empfindung »richtig« oder »falsch« bezeichnet werden kann. Die Empfindung von Schmerz z. B. ist eine »private« Angelegenheit eines jeden Menschen. Spricht eine Person von »ihrem« Schmerz, kann ihr Gegenüber schlechterdings nicht wissen, ob diese Person dieselben Empfindungen mit »S-c-h-m-e-r-z« verbindet. Wir nehmen nur an, dass diese Person etwas Ähnliches mit dem Wort »Schmerz« verbindet wie wir. Jeder Versuch, über Empfindungen zu einer sprachlichen Verständigung zu kommen, also die »private Sprache« zu einer allgemeinen Sprache zu machen, ist zum Scheitern verurteilt.19 Erst über das »Sprachspiel«20 zwischen Menschen und ihren subjektiven Erfahrungen zu »Schmerzen haben« wird eine Verständigung gelernt. »Einen Ausdruck verstehen lernen, heißt, seine bestimmte Verwendung in einer Situation verstehen lernen. Verstehen geschieht nicht unabhängig von der Situation des Sprechers und Hörers, sondern vollzieht sich immer im Kontext der Situation. Wo also erste Schritte zur Sicherung der Verständigung unternommen werden sollen, da muss die Situationsbedingtheit von Ausdrücken und Äußerungen berücksichtigt werden.«21 18 Wittgensteins Argumente sind über verschiede einzelne Bemerkungen verstreut. Sehr schön zusammengestellt ist die Argumentation Wittgensteins bei Stegmüller 1986, S. 645–672; vgl. Track 1977, S.82, Fußnote 149. 19 Wittgenstein 1964, PU § 293: »Nun, ein Jeder sagt es mir von sich, er wisse nur von sich selbst, was Schmerzen seien! – Angenommen, es hätte Jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir ›Käfer‹ nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern schaun: und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, dass Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, dass sich ein solches Ding fortwährend veränderte. – Aber wenn nun das Wort ›Käfer‹ dieser Leute doch einen Gebrauch hätte? – So wäre er nicht der der Bezeichnung eines Dings. Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel; auch nicht einmal als ein Etwas: denn die Schachtel könnte auch leer sein. – Nein, durch dieses Ding in der Schachtel kann ›gekürzt werden‹ ; es hebt sich weg, was immer es ist.« 20 Wittgenstein 1964, PU § 7: »Ich werde auch das Ganze der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ›Sprachspiel‹ nennen.« 21 Track 1977, S. 135.

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Im Sprachspiel überschreite ich meine Sprachgrenzen und damit die Grenzen, nur mich selbst zu verstehen. Im Dialog wird mein Sprach- und Verstehenshorizont erweitert, eben weil mein Gegenüber einen anderen Sprach- und Verstehenshintergrund hat. Um nun von ihm verstanden zu werden, komme ich nicht umhin, den anderen verstehen zu lernen. Nicht zu unterschätzen ist beim Verstehen der Sprache einer »anderen« Person die ständig virulente Filterfunktion unseres Gehirns. Um sich überhaupt einen Weg bahnen zu können in den vielfältigen auf das Gehirn eindringenden Reizen der fünf Sinnesorgane, trennt das menschliche Gehirn permanent die »Spreu vom Weizen«: – Nicht alles, was das Auge optisch aufnimmt, wird wirklich gesehen; – nicht alles, was in das Ohr akustisch dringt, wird wirklich gehört; – nicht alles, was die Nerven sensorisch reizt, wird wirklich gefühlt, gerochen, geschmeckt. Das Hirn filtert die Reize heraus, die es als bedeutsam wahrzuneh­ men gelernt hat22. Jede Person »arbeitet« mit ihren je eigenen Filtern. 22 Im Jahr 2009 erschien auf der Website der Charité Berlin folgender Bericht: »Einem Wissenschaftler der Charité-Universitätsmedizin Berlin ist es jetzt gemeinsam mit Kollegen der Harvard University in Cambridge gelungen, einen zentralen Filter für Sinneseindrücke im Gehirn zu identifizieren. Er hebt wichtige Eindrücke hervor und sorgt dafür, dass man weniger wichtige Informationen vergisst oder gar nicht erst bewusst registriert. Ein kleines Nervengebiet im Hirnstamm, der sogenannte Nucleus raphe dorsalis, ist für diese wichtige Aufgabe zuständig, berichten die Forscher um Dr. Gabor Petzold von der Abteilung für Experimentelle Neurologie am Campus Charité Mitte in der aktuellen Ausgabe des Fachjournals Nature Neuroscience. Dieser Bereich des Gehirns, der auch Raphekern genannt wird, besteht aus relativ wenigen Nervenzellen, die aber durch Nervenfortsätze mit dem gesamten Gehirn in Verbindung stehen. Somit kann er alle Eindrücke erfassen, die durch Sehen, Fühlen, Hören und Riechen im Gehirn ankommen. Erstmals gelang es den Forschern um Dr. Petzold, die Einflüsse des Botenstoffs Serotonin, der vom Nucleus raphe dorsalis gebildet wird, auf den Verarbeitungsprozess von Sinnesinformationen direkt zu messen.« (Online verfügbar unter: https://www.charite.de/forschung/forschung_aktuell/ pressemitteilung/artikel/detail/wie_filtert_das_gehirn_informationen/, Zugriff am 20.11.2019)

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Wenn das Gehirn darauf eingestellt ist, herauszufinden, was dem anderen »fehlt«, wird es die »Fehler« auch finden; wenn es eingenordet ist auf das, was der andere »kann«, wird sein »Können« erkannt. Meine »Weltsicht« wird unversehens zum Maßstab dessen, was ich von dem verstehe, was der andere mir gegenüber »äußert«: Passt es in mein Schema, habe ich den Eindruck, mein Gegenüber gut zu verstehen, was jedoch nichts darüber aussagt, ob diese Person sich von mir verstanden fühlt. Die Filterfunktion des Gehirns ist individuell programmiert, und die Programme sind nicht von sich aus untereinander kompatibel. Es bedarf einer behutsamen Dekodierung der / des wahrgenommenen Sprache / Ausdrucks, um zu verstehen, nach welchem Programm das Gehirn meines Gegenübers filtert, bei gleichzeitiger kritischer Berücksichtigung des eigenen Filterprogramms. Eine weitere Hirnfunktion bestimmt mit, was eine Person versteht: Das Gehirn »behält« und »vergisst« und steuert so das Verstehen. Könnte das Gehirn nicht, relativ automatisch, etwas vergessen, müsste jede Wahrnehmung behalten / verarbeitet werden. Da das schlicht nicht möglich ist, sucht sich das Gehirn den Ausweg über den Papierkorb des Vergessens. Die Gedächtnisleistung des Gehirns in »Sekunden-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis« zu klassifizieren, ist lediglich ein grobschlächtiger Versuch, einen höchst differenzierten neuronalen Prozess zu erfassen. Die Selbstbeobachtung lehrt jedoch jeden Menschen, dass er sich (vorrangig) visuelle und / oder akustische Reize gut und lange merken kann bzw. im Gegensatz zu einer anderen Person in gleicher Situation gar nicht bemerkt oder als unwichtig abgetan (in den Papierkorb ihres Gehirns) hat. Gleichzeitig mit der Filterung der Wahrnehmung wird gesteuert, was nur oberflächlich, mittelfristig oder langfristig im Hirnspeicher abgelegt wird. Die Einschreibungen sind von deutlich unterschiedlicher Qualität und Haltbarkeitsdauer: Was und wie lange etwas gemerkt wird, hängt von den je persönlichen Einstellungen ab. Bei Gesprächen, in denen ein »Problem« angesagt ist, sind die Filter unserer akustischen Wahrnehmung (üblicherweise) auf »Problemmarker« eingestellt und zugleich mit »muss unbedingt behalten werden« konnotiert. So wird alles, was mit »Problem« zusammen32

hängt, tiefer im Gehirn eingeschrieben und vernetzt, als was sonst noch sprachlich geäußert wird.

1.1.2 Systemische Aspekte Vier systembedingte Phänomene sind für das Kurzgespräch bemerkenswert; ihre Kenntnis ist für das Gelingen eines Kurzgesprächs Voraussetzung: – Die Konstruktion von Wirklichkeiten aufgrund der system­ bedingten Drift. – Die systembedingten Umstände des situativen Kontextes. – Das asymmetrische Beziehungsmuster in kommunikativen Systemen. – Die systemischen Gesetze des »Konfliktkarussells«. Die Drift23

Wenn zwei Personen sich begegnen, beziehen sie sich aufeinander, reagieren aufeinander und bestimmen miteinander, was innerhalb ihres geschlossenen Systems als Wirklichkeit gelten soll. Diese Wirklichkeit ist systembedingt, insofern sie innerhalb dieses geschlossenen Systems konstruiert wird. Die fortlaufend wechselseitigen Impulse konstituieren die »Wirklichkeit« dieses Systems. Das ist nun mitnichten ein gradliniges Voranschreiten von Reiz und Reaktion oder Ursache und Wirkung; vielmehr »verstören« zirkuläre Rückkopplungsprozesse die beteiligten Personen in ihrer Selbst- und Weltansicht und führen so zu einer diskontinuierlichen Veränderung der Sicht- und Erlebnisweisen24. 23 Vgl. dazu vor allem Simon 1997, S. 7–18. 24 Watzlawick / Beavin / Jackson 1969, S. 31 f.: »Dieser neue Aspekt wurde durch die Erkenntnis des Prinzips der Rückkopplung (feedback) möglich. Eine Kausalkette, in der Ereignis  a Ereignis  b bewirkt,  b dann  c verursacht und c seinerseits d usw., würde die Eigenschaften eines deterministischen, linearen Systems haben. Wenn aber d auf a zurückwirkt, so ist das System zirkulär und funktioniert auf völlig andere Weise: Es zeigt ein Verhalten, das im Wesentlichen dem jener Phänomene entspricht, die sich bisher der streng linearen, deterministischen Auffassung entzogen.«

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Durch den wiederholten kommunikativen Anschluss, um den sich beide im System bemühen, ergibt sich über die strukturelle Koppelung zwischen ihnen eine stets neue / andere Verstörung und daraus dann ein Driften der Kommunikation in eine Richtung, die im Prinzip nicht vorhersagbar ist, weil die rückbezüglichen und selbstbezüglichen Interaktionsschleifen25 nicht vorhersagbar sind. Allerdings führt diese Drift innerhalb des Systems zu einer je spezifischen Konstruktion von Wirklichkeit, die sich aus der durch die Verstörung notwendig ergebenden Dekonstruktion der bisherigen Wirklichkeit und dem Willen, eine neue Wirklichkeit in diesem System zu konstruieren, entwickelt. Rückkoppelungen (Feedbacks) können innerhalb eines Systems kybernetisch26 zur Erhaltung des Gleichgewichts oder zur Veränderung des Ruhezustandes beitragen. Insofern »steuern« sie durchaus die Drift des Systems. Im Rahmen der Drift ergibt sich über den kommunikativen Anschluss eine mögliche kybernetische Funktion der angesprochenen Person: Eine besondere Form des positiven Feedbacks ist für die angesprochene Person im Kurzgespräch besonders hilfreich: Die wörtliche Aufnahme des sprachlichen Ausdrucks der ratsuchenden Person wird von ihr als tiefenwirksamer Impuls für einen kreativen »Output« auf der Oberflächenstruktur der Sprache empfunden. Die Steuerungsmöglichkeiten innerhalb der Drift zu nutzen, ist ein besonderes Potenzial der angesprochenen Person. Da sie sich nicht nicht verhalten kann, gilt es, diese Steuerungsimpulse so in ihr Kommunizieren zu etablieren, dass sie angemessen und natürlich eingebracht werden. Beispiel: Eine Frau (F) will ihren Mann im Krankenhaus besuchen, trifft ihn jedoch im Patientenzimmer nicht an, sondern nur seinen Bettnachbarn (N), der am Tisch sitzend die Zeitung liest.

25 Worauf sich im Vollzug der kommunikativen Drift Person A bzw. Person B zurückbezieht, ist ebenso wenig vorhersagbar wie das, worauf sich Person A oder B in ihrem jeweiligen Innenleben angesprochen fühlt. 26 Der Begriff »Kybernetik« leitet sich ab vom griechischen Wort κγβερνητικη τεχνη = Steuermannskunst.

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F setzt sich zu N an den Tisch. Nach der Begrüßung und einer folgenden kurzen Schweigepause sagt N: »Es ͜ist ͜draußen͜ wieder ͜sehr͜ kalt geworden.« Das (geschlossene) System dieser beiden hat eine aktuelle Wirklichkeit zwischen ihnen konstruiert. Auch das Schweigen von N ist ein »Verhalten«, auf das sich F zu verhalten hat: F kann nun ebenfalls schweigen und zum Fenster hinausschauen oder in ihrer Handtasche kramen oder sich auch etwas zu lesen nehmen oder, oder, oder. Nun hat N aber das Schweigen gebrochen, und F wird sich so oder so verhalten. Dazu bieten sich ihr etliche Möglichkeiten des kommunikativen Anschlusses: »draußen«, »wieder«, »sehr«, »kalt«, »es ist geworden«. F: »Hier drinnen ist es aber schön warm.« oder F: »Also, noch war es ja nicht kalt in diesem Winter↓.« oder F: »So kalt ist es nun auch wieder nicht↓.« oder F: »Ja, es hat tatsächlich ein wenig gefroren.« oder F: »Ja, das Wetter macht, _ was es will.« Je nach dem, was und wie F sich äußert, wird die Kommunikation der beiden in eine andere Richtung driften, und zwischen ihnen und durch sie entstehen unterschiedliche Wirklichkeiten. Sagt nun F: »Waren Sie heute schon draußen?« und N antwortet: »Nein,_ ich komm nicht mehr nach draußen↓. Ich bin froh, wenn die Schwestern mich hier an den Tisch setzen.« Dann driftet das Gespräch in eine ganz andere Richtung, und die Wirklichkeit, in der sich beide unversehens befinden, wird (möglicherweise) von »krank«, »einsam sein«, möglicherweise »sterben« bestimmt.

Das Reden und Verhalten der einen Person gestaltet unausweichlich das Reden und Verhalten der anderen in diesem System anwesenden Person; ein neutrales Abseits oder Darüberstehen gibt es nicht. Dennoch: Die Möglichkeiten, einen Menschen gezielt zu beeinflussen, seine Wirklichkeit zu verändern, sind begrenzt durch die funktionale Geschlossenheit der Regelprozesse, die sein bisheriges Überleben sicherten, und durch die ihm zugänglichen Kräfte, selbstorganisiert und selbstreguliert Veränderungen in dem Fließgleichgewicht seiner Lebensorganisation durchzuführen. Jede »In35

formation« von »außen« wird durch das komplexe System der aufeinander einwirkenden Steuerungen auf seine zukünftig funktionale Verwendbarkeit geprüft und verarbeitet. In einem linearen Prozess von Ursache und Wirkung lassen sich diese Regelkreisentwicklungen nicht erfassen, vielmehr lehrt die kybernetische Systemtheorie, ausgehend von Norbert Wiener (1968) bis hin zu Heinz von Foerster (1996), das Systemverhalten als ein vielschichtiges, durch rekursive Rückkoppelungsschleifen bestimmtes zirkuläres Geschehen zu verstehen. Die Entwicklung von Strategien zu einer bestimmten Veränderung eines Systemverhaltens verabschiedet sich deshalb von kausalen Wirkungsabläufen und konzentriert sich auf die durch extrasystemische Informationen involvierten Regelkreisprozesse und auf die sich daraus ergebenden Wirkungen. Der situative Kontext Ein Beispiel: Frau (F): »Kann ich Sie kurz mal sprechen?« Pastor (P): »Ja, bitte, selbstverständlich«, sagt P mit einem freundlichen Gesicht der Gottesdienstbesucherin, die ihn beim Abschied an der Kirchentür so anspricht. Mit der linken Hand zieht er die etwa 60-jährige Frau ein wenig zur Seite. Während er die restlichen Besucher verabschiedet, flüstert sie ihm halb laut zu: »Es dauert auch nur fünf Minuten …« Nach dem letzten Händedruck wendet er sich ihr zu: P: »Was, meinen Sie, Frau W., kann Ihnen in einem kurzen Gespräch mit mir weiterhelfen?« F: »Ich verstehe das nicht. Sie kennen doch unsere Familie. Sie haben meinen Mann beerdigt und unsere Tochter getraut. Die wohnt ja jetzt in Süddeutschland und hat ihr erstes Kind bekommen. Nun soll es getauft werden, und meine Tochter möchte nicht, dass ich dabei bin _.« P: »Was daran möchten Sie mit meiner Hilfe verstehen lernen, Frau W.?« F: »Ich weiß ja, dass ich mich nach dem Tod meines Mannes viel zu stark an meine Tochter geklammert habe. Ich glaube, deshalb ist sie auch so weit weggezogen. Sie ist vor mir förmlich geflohen. Ich bin auch erst einmal bei ihnen zu Besuch gewesen. Da hab ich

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im Hotel wohnen müssen; in ihrer kleinen Wohnung war kein Platz. Jetzt, wo das Kind geboren ist, sind sie in eine größere Wohnung gezogen. Da haben sie auch ein Gästezimmer. Ich könnte also bei ihnen in der Wohnung schlafen. Ich glaube aber, das will meine Tochter nicht. Sie will mich auf Abstand halten.« P: »Wie nah dürfen Sie Ihrer Tochter kommen, ohne dass sie Sie auf Abstand hält?« F: »Das weiß ich eben nicht. Ich bin ja im letzten Jahr, nachdem meine Tochter ausgezogen war, zur Lebensberatung gegangen. Das hat mir gut getan. Ich habe viel begriffen, was ich falsch gemacht habe. Aber das hat mir geholfen. Ich sehe jetzt vieles aus der Vergangenheit anders, besonders die Launen meiner Tochter, mit denen sie mich bis zur Weißglut getrieben hat.« P: »Von der Vergangenheit können Sie jetzt ganz gut Abstand nehmen. Aber wie geht es in Zukunft weiter – mit Ihnen und Ihrer Tochter?« F: »Meine Tochter weiß von der Lebensberatung nichts.« P: »Mit welchem Wissen haben Sie ihr das verschwiegen?« F: »Meinen Sie, ich sollte ihr das sagen?« P: »Angenommen, Ihre Tochter wird erfahren haben, dass Sie jetzt Ihr Verhalten ihr gegenüber nach dem Tod ihres Mannes ganz anders beurteilen, dass Sie begriffen haben, was Sie alles falsch gemacht haben, wie wird sie dann über ihre Mutter denken.« F: »Das weiß ich nicht so genau. Aber ich vermute, sie wird mir das auf jeden Fall hoch anrechnen, dass ich zur Beratung gegangen bin, dass ich mich selbst infrage gestellt habe.« P: »Das klingt so, als ob allein die Information ›meine Mutter ist wegen ihrer Erziehungshaltung mir gegenüber zur Beratung gegangen‹ schon etwas in Bewegung bringen könnte zwischen Ihnen und Ihrer Tochter.« F: »Ja, das glaube ich. _ _ Ich glaube, es wird genügen, wenn ich ihr schreibe, dass ich dort war und begriffen habe, dass ich vieles falsch gemacht habe. Und vielleicht, dass es mir leidtut. Und dass ich mir wünsche, dass wir ein neues Verhältnis zueinander finden.«

Das Gespräch ergibt sich aus der günstigen Gelegenheit, zufällig oder beiläufig. Das wiedergegebene Gespräch an der Kirchentür war halb beabsichtigt, halb nicht. Auf jeden Fall war nicht vorhersehbar, ob es würde stattfinden können. 37

»Vielleicht ergibt es sich ja beiläufig, und die Gelegenheit ist günstig, dann sprech ich den Pastor an«, mag die Frau gedacht haben, als sie sich zum Gottesdienstbesuch entschloss. Die Begegnung wird für die Anfrage oder Behandlung des Konflikts als günstiger (hilf­ reicher, erfolgreicher) eingeschätzt als eine Verabredung zu einem Gesprächstermin mit der als beratungsqualifiziert angesehenen Person oder gar eine Verabredung zu einer Gesprächsreihe (psychologische oder seelsorgliche Beratung). Im allerersten Augenblick der Begegnung und Kontaktaufnahme ergibt sich eine Atmosphäre, die beiden das Gefühl vermittelt, sich in einem Kairós27 zu befinden: Der ratsuchenden Person erscheint – die Gelegenheit günstig, – die anzusprechende Person die richtige und – die Lösung ihres Problems jetzt möglich. Nun ist sie hoch motiviert, ein lange im Feuer schmorendes heißes Eisen herauszuziehen und zu schmieden. Für die angesprochene Person ist das In-Anspruch-genommen-Werden wohltuend, denn »dafür bin ich ja schließlich da«. Außerdem spürt die angesprochene Person, dass sie »gefragt« ist (das hat der inwendige Mensch gern) und hier und jetzt möglicherweise durch ihr Mitwirken etwas Gutes werden kann. Diesem Anfang wohnt ein Zauber28 des richtigen Zeitpunkts für diese beiden Menschen inne. Diese Beurteilung der räumlichen Situation gilt es ebenso im Auge zu behalten wie die Wahl des Zeitpunkts und der Zeitdauer durch die ratsuchende Person. Denn dieser Kontext des Gesprächs hilft der angesprochenen Person, zu erkennen, worum es jetzt geht. »Kann ich Sie kurz mal sprechen?«, sagt die Frau an der Kirchentür. Damit hat sie für sich entschieden: – Hier ist es günstig, – jetzt ist es günstig und – »kurz« ist auch günstig.

27 Der nicht wiederkehrende einmalig besondere Augenblick der Lebenszeit. 28 Vgl. Hermann Hesses Gedicht »Stufen«.

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Beim Abschied, nach Verlassen des geschützten Raumes, vor der Tür, zum Zeitpunkt des Auf‌bruchs stellt sie ihre Frage und alle Aspekte dieses situativen Kontextes »passen« zu der Anfrage der Frau und bieten sich somit dem Pastor als »diagnostisches« Hilfsmittel an. Nicht immer ist der angesprochenen Person diese sich aus der Situation ergebende Evidenz (vgl. Argelander 1970) intuitiv zugänglich. Doch durch Üben lässt sich diese Wahrnehmung schulen: Je konsequenter die angesprochene Person auf die situative Evidenz achtet, desto sicherer kann sie mit diesem diagnostischen Hilfsmittel umgehen. Fast in jedem zufälligen Gespräch fällt eine Bemerkung zum (günstigen) Zeitpunkt und zur Zeitdauer. Zu dieser günstigen (Ort- und Zeit-)Gelegenheit gesellt sich (durch Zufall?) auch noch eine »günstige« Person: »Gut, dass ich Sie treffe!«

Diese schnell überhörte und dann auch übergangene Eingangsbemerkung qualifiziert die Gelegenheit zu einem Gespräch in dreifacher Hinsicht als »günstig«: der Ort, die Zeit, die Person – alles ist stimmig! »Sie schickt der Himmel!«

wird als Umgangsfloskel beiseitegeschoben, besagt jedoch nichts Geringeres, als dass die Gelegenheit »gottgewollt« ist, die angesprochene Person sich also nicht entziehen darf. »Ich freue mich, dass Sie auch hier sind; ein bisschen hab ich damit gerechnet. Sie arbeiten doch in der Beratungsstelle der Kirche? …«

So das Präludium eines Gesprächs während eines Empfangs anlässlich der Verabschiedung eines kirchlichen Würdenträgers. Die Freude der ratsuchenden Person qualifiziert Ort, Zeit und angesprochene Person als etwas besonders Günstiges. Die Einschätzung, dass die Gelegenheit günstig ist, wird zunächst ausschließlich von der ratsuchenden Person getroffen. Der weitere 39

Verlauf des dann folgenden Gesprächs wird entscheidend davon bestimmt, ob und in welcher Weise diese Beurteilung der ratsuchenden Person vom Gegenüber ernst genommen wird. Die angesprochene Person steht jedoch zunächst vor der Hürde, dass ihr der situative Kontext gerade nicht als »passend« ersichtlich ist. Im Rückgriff auf das eingangs dargestellte Kurzgespräch lässt sich unschwer ausmalen, dass dem Pastor die Situation an der Kirchentür gar nicht passte: Da waren schließlich zunächst noch etliche Gottesdienstbesucher, die auch verabschiedet werden wollten. Außerdem war er ziemlich »alle« und sehnte sich nach Ruhe und einer Tasse Kaffee zu Hause in seinem Sessel. Und er musste neue Kräfte mobilisieren, um sich voll auf die Frau und ihr Anliegen konzentrieren zu können. Von der angesprochenen Person wird die von der ratsuchenden Person genutzte »zufällige« Situation deshalb meist als inkongruent mit der eigenen Befindlichkeit erlebt: Schließlich ist man auf einem anderen »Trip« oder mit einer anderen Sache betraut. Die Korrektur oder Missachtung dieses Settings (meist durch Verschiebung auf einen anderen Zeitpunkt an einem anderen Ort) wird von den Ratsuchenden dann leicht als disqualifizierende Abweisung erlebt und das neue Setting nicht angenommen (Termin wird nicht eingehalten, Ort nicht gefunden), was einer entwertenden Revanche entspricht. Ein weiteres Problem bei zufälligen Gesprächen ergibt sich aus der meist offenen und ungeschützten Situation. Der eigentlich notwendige geschützte Raum für ein persönliches Gespräch ist nicht vorhanden: Es gibt freiwillige und unfreiwillige Zuhörer etwa an der Kirchentür, auf dem Flur, in einem Krankenhauszimmer oder in einer Gesellschaft und unkontrollierbare Störfaktoren wie Lärm oder hinzukommende Dritte. Und weiter: Das zufällige Gespräch ist im Zeitplan der »helfenden Person« nicht vorgesehen. Das setzt die angesprochene Person unversehens unter Zeitdruck, der sich alsbald auf die Gesprächssituation übertragen kann und dann dem Gelingen des Gesprächs direkt zuwiderläuft. Entgegengesetzt zur ratsuchenden Person empfindet die angesprochene Person eher: – ein ungünstiger Moment (»Ich hab eigentlich gar keine Zeit …«), – eine unpassende Gelegenheit (»Wozu gibt’s ein Telefon! Muss die mich auf der Straße ansprechen …«), 40

– eine unglückliche Wahl (»Eigentlich bin ich nicht die richtige Ansprechpartnerin …«). Herrscht eines dieser Gefühle vor, dann wird sich die angesprochene Person nur widerwillig auf das Gespräch einlassen und versuchen, möglichst rasch zu einem Ende zu kommen, was dann jedoch meist gerade nicht gelingt: – Je kürzer und knapper die angesprochene Person reagiert, desto ausschweifender wird die ratsuchende Person agieren. – Je praktischer die angesprochene Person Lösungen anstrebt, desto theoretischer werden die Einwände seitens der ratsuchenden Person. – Je mehr die angesprochene Person auf einen geeigneteren Ort und eine passendere Zeit drängt, desto mehr bescheidet sich die ratsuchende Person auf den kurzen Tipp – hier und jetzt (»Bitte, nur kurz Ihre Meinung …«). So wird das Gespräch schließlich zu einem Fiasko für beide. Gelingt es der angesprochenen Person dagegen, sich mit dem einmal gewählten Setting zu identifizieren, entwickelt sich das Gespräch anders. Allerdings muss sie über ihren Schatten springen und mit Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass sie sich einlässt auf Ort, Zeit und Person. Als für sie günstige Gelegenheiten werden von Ratsuchenden auch die einmaligen Gespräche angesehen, die gezielt gesucht und ver­ abredet wurden. Auch bei diesen verabredeten einmaligen Ge­ sprächen (etwa in der Sprechstunde) spielt die Einschätzung der ratsuchenden Person und deren Beachtung durch die angesprochene Person eine entscheidende Rolle. Ähnlich wie bei den zufälligen Gesprächen geht die ratsuchende Person davon aus, »Glück« gehabt zu haben, endlich einmal die »Gunst des Augenblicks« für sich nutzen zu können: »Es ist ja nicht ganz leicht, bei Ihnen einen Termin zu bekommen; aber nun hat es ja geklappt. Also …«

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Die Erwartung der ratsuchenden Person ist hoch: Jetzt endlich! Nun kommt die Stunde der Wahrheit. Auf diese günstige Gelegenheit hat sie (lange) gewartet. »Ich habe lange gezögert, zu Ihnen in die Sprechstunde zu kommen. Meine Freundin hat mich gedrängt: ›Da kannst du ruhig hingehen; du brauchst nicht mal deinen Namen zu sagen. Alles anonym. Aber das lohnt sich, hat sie gesagt. Und nun bin ich hier …«.

Das Angebot der anonymen Sprechstunde wird offenbar günstig eingeschätzt, und ein »lohnendes« Gespräch ist eine günstige Aussicht, wenn jemand festsitzt. »Von der Kirche will ich nichts wissen. Gott gibt es nicht. Sonst würd es mir nicht so dreckig gehen!«

Ohne persönliche Anrede wird die Krankenhausseelsorgerin so von einer Patientin beim Routinebesuch auf der Station angesprochen. Diese nutzt die günstige Gelegenheit zum Angriff und erwartet, dass (im günstigsten Fall) die Seelsorgerin sich ihr stellt. Bei einem einmalig verabredeten oder gesuchten Gespräch gilt ebenso wie bei einem zufälligen: Die ratsuchende Person (be-)nutzt die Gunst des Augenblicks, des Ortes und der Person. Und auch hier gilt es, diese Wahl ernst zu nehmen und sie für die Gestaltung des Gesprächs zu nutzen. Im Verlauf eines Gesprächs, das möglicherweise zunächst anders angelegt war (etwa als Taufgespräch oder wiederkehrendes Seelsorgegespräch), ergibt sich die »günstige Gelegenheit« bei einem unvermittelt auf‌tretenden Kohärenzbruch: Eben erzählte die Mutter noch, wer alles zur Konfirmation des ersten Kindes eingeladen werden sollte. Auf einmal treten ihr Tränen in die Augen, sie bricht mitten im Satz ab und sucht mit ängstlichen Augen Halt im Blickkontakt zum Pastor. P: »Ihre Tränen, Frau K., möchten mir etwas sagen _.« K: »Mein Mann, Herr Pastor, mein Mann macht mir große Sorgen.«

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Der Pastor hatte sich mit Herrn A. auf dem Friedhof wegen einer Grabstelle verabredet. Nach der Begrüßung folgen die Formalitäten, dann ein Geplänkel über den Filz in den politischen Parteien: »Aber damit muss man ja leben …«, kommentiert Herr A. und der Pastor nutzt die Gelegenheit und sagt: »Womit müssen Sie leben, Herr A.« Darauf Herr A.: »Dass ich mich wie lebendig begraben fühle!«

Die günstige Gelegenheit kann in einem Gespräch als interaktives Element genutzt werden. Die Bejahung dieser Gelegenheit und die Bereitschaft, sie durch bewusste Interaktionen im Sinne einer wertvollen Begegnung zu qualifizieren, liegen »in der Hand« der angesprochenen Person. Die ratsuchende Person wird sie dankbar ergreifen. Denn das Beharren in der einmal gewählten »günstigen Gelegenheit« bietet beiden Beteiligten die Möglichkeit, hier und jetzt über eine bündige Geschichte kommunikativer Koppelungen eine neue Wirklichkeit zu konstruieren. Asymmetrische Beziehungsmuster

Wenn wir in eine Begegnung mit Menschen geraten und / oder in ein Gespräch gezogen werden, dann »ver-halten« wir uns – es geht gar nicht anders. Ob wir gehen oder bleiben, reden oder schweigen, schlafen oder hellwach sind: Wir verhalten uns. Paul Watzlawick hat diesen Umstand simpel so beschrieben: »Man kann sich nicht nicht verhalten.« (Watzlawick / Beavin / Jackson 1969, S. 51) Daraus ergibt sich weitergehend, dass Verhalten sich in einer rekursiven Spirale schier endlos aufeinander bezieht und entwickelt. Jede Form von Verhalten hat einen Mitteilungscharakter, der seinerseits das Verhalten des Gegenübers und damit dessen Mitteilungscharakter beeinflusst usf. Dieses wechselseitig aufeinander bezogene und sich beeinflussende Kommunizieren ist konstitutiv für unser soziales Miteinander. Wenn ich denn »nicht nicht kommunizieren« kann, so folgt daraus zum einen die Frage »Wie will ich mich verhalten (kommunizieren)?« und zum anderen »Gibt es wiederkehrende Verhaltens-/Kommunikationsmuster?«. Für das Verhalten / Kommunizieren im Gespräch ist es vorteilhaft, sich zunächst mit wiederkehrenden Mustern zu beschäftigen, um dann eingehend über das Wie des Kommunizierens nachzudenken. 43

Ein wiederkehrendes Verhaltens-/Kommunikationsmuster im Gespräch ist zweifach auf einer schiefen Ebene angelegt. Beispiele zu der einen schiefen Ebene: »Haben Sie mal einen Augenblick Zeit? Ich möchte Sie kurz was fragen.«

Wer fragt, will eine Antwort, die er sich selbst nicht geben kann, und traut dem so Gefragten zu, dass er die Antwort weiß. »Papa, ich brauche Geld für ’ne Fahrkarte _.«

Der eine hat’s, der andere nicht. Der eine ist Bittsteller, der andere hat die Macht über Gewähren oder Nicht-Gewähren. »Ich brauch Ihren Rat, Sie sind doch ein erfahrener Mensch.«

Sie weiß sich keinen Rat mehr, was sie z. B. mit ihrer Ehe machen soll, und traut dem Gegenüber die Kompetenz zu, ihr zu helfen. Das Beziehungsmuster, in dem sich das Gespräch entwickeln soll, wird von der ratsuchenden Person gleich zu Beginn auf eine erste schiefe Ebene verlegt: – »Ein Glück, dass ich Sie treffe!« oder – »Sie schickt der Himmel!« oder – »Sie als Anwalt!«

und ähnliche Einfügungen heben den Empfänger zielsicher auf eine »Up-Position«: Er ist der, der (allein) helfen kann oder der die nötige Kompetenz besitzt oder der ausgewiesenermaßen eine anerkannte Persönlichkeit ist. Zuschreibungen dieser Art können gleich zu Beginn des Gesprächs ein schwüles Klima erzeugen, das (wenn das Gespräch nicht wie gewünscht verläuft) sich leicht in einem Gewitter entladen kann. Diese schiefe Ebene ergibt ein »komplementäres Muster« zwischen ratsuchender und angesprochener Person: – orientierungslos – wegweisend; 44

– ohnmächtig – allmächtig; – hilfesuchend – klärend; – Opfer – Retter (usw.); oder einfach: DOWN – UP. Die schiefe Ebene von DOWN und UP wird von der ratsuchenden Person ausdrücklich etabliert und möglichst auch fixiert, um sich der rettenden Hilfeleistung vom Gegenüber zu vergewissern. Wird die Kompetenzzuschreibung ausgesprochen und gehört, jedoch stillschweigend übergangen bzw. nicht angegangen, bleibt die schiefe Ebene erhalten und verstärkt sich vermutlich im Verlauf des Gesprächs in einer symmetrischen Eskalation.29 Wird die Kompetenzzuschreibung akzeptiert oder schmunzelnd oder auch großzügig »abgewimmelt« bzw. bagatellisiert, wird die schiefe Ebene fixiert. Beispiele: R: »Ich brauche Ihren Rat als …« A: »Ob ich Ihnen raten kann, steht dahin, aber als …« R: »Sie sind doch verschwiegen …« A: »Selbstverständlich, es bleibt alles unter uns.« R: »Sie sind doch hier der Chef! Da hab ich mal eine Frage …« A: »Sie wissen doch, ich bin jederzeit für die Mitarbeiter da …«

Die schiefe Ebene ist dadurch gekennzeichnet, dass die ratsuchende Person sich als »unterlegen / schwach / inkompetent / hilf- und ratlos« = DOWN in die Beziehung einbringt. Diese inferiore Position verführt die angesprochene Person, sich (oft trotz spürbaren Unbehagens) in eine superiore Position = UP gegenüber der ratsuchenden Person zu begeben. Die so verstärkte Schieflage lässt sich dann im Verlauf des Gesprächs kaum wieder beseitigen. Gegenläufig zu diesem Gefälle ist gleichzeitig eine zweite schiefe Ebene bestimmend: Die ratsuchende Person ist mitten »drin« in »ihrem Konflikt« (also IN), während die angesprochene Person 29 Je hilf‌loser die ratsuchende Person sich gibt, desto wahrscheinlicher wird das Gegenüber – gleichsam in einer symmetrischen Reaktion – seine Hilfsangebote steigern.

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OUT ist, also erst noch Kontakt sowohl zu dem Menschen als auch

zu seinem Defizit finden muss.

Beispiele zu der zweiten schiefen Ebene: »Sie müssen nämlich wissen, dass …« »Sie können ja nicht ahnen …« »Ach, das ist eine lange Geschichte … Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«

Das signalisiert der angesprochenen Person, dass sie nicht »drin« ist und auch nicht so schnell »rein« kommen wird. Das sind eindeutige Signale: Die angesprochene Person müsste noch viel tiefer in das Leben der Betroffenen eindringen, um wirklich helfen zu können (wenn denn überhaupt!). »Sie ahnen ja gar nicht, was ich schon alles versucht habe!«

Die Warnung vor einem eilfertigen Rat ist unüberhörbar. Im Gespräch etabliert sich unversehens und unvermeidlich ein IN / ​OUT-Gefälle hinsichtlich des »Informationsstandes«: Die ratsuchen­de Person weiß, worum es ihr geht, die angesprochene Person weiß dieses nur ansatzweise oder gar nicht. Die naheliegende Folge ist: Die angesprochene Person möchte dieses Gefälle durch Informationsfragen ausgleichen, löst jedoch häufig damit den »Zauberlehrling«Prozess aus: Sie ertrinkt in einer weitschweifigen Informationsflut. Die schiefe Ebene von IN und OUT ergibt sich durch die »Eröffnung« des Gesprächs. Die Informationen sind zu Beginn des Gesprächs unscharf und vage gehalten. Nun ist die Versuchung groß, sich einen Ein- und Überblick in die Konfliktlage zu verschaffen, zumal wenn die angesprochene Person die UP-Position unbedacht übernommen hat. Beispiele: – »Das mit meinem Mann geht so nicht weiter.« – »Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?« – »Ich brauch mal jemanden, der mir zuhört.« – »Der ganze Kram passt mir nicht mehr!« – »Die Aussage von Herrn B. kann ich so nicht stehen lassen.«

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Diese gegenläufig schiefe Ebene bewirkt mit der erstgenannten eine polarisierende Dynamik, die unversehens in einen Machtkampf münden kann: – Wer ist oben (UP), wer unten (DOWN)? – Wer versteht wirklich etwas (IN), und wer ist ahnungslos (OUT)? Der Schlusskommentar dann: »Vielen Dank, dass Sie mir wenigstens mal zugehört haben.« oder schärfer: »Ich sehe, Sie können mir auch nicht helfen.«

So beschreibt die ratsuchende Person dann das Resultat eines solchen Machtkampfes als Niederlage der angesprochenen Person. Es bedarf einer gezielt überlegten Intervention seitens der angesprochenen Person, diese Schräglagen (UP / D OWN; IN / OUT) aktiv zu verändern in Richtung auf eine gleichwertig solidarische Ebene und damit den Absturz in eine postkommunikative Depression zu vermeiden. Sind außerdem angemessene Gesprächspositionen erreicht, stellt sich das Gefühl einer gleichgewichteten Solidarität zwischen der ratsuchenden Person und dem Gegenüber ein. Die Überlegungen zum Beziehungsmuster sind abzugrenzen von dem Phänomen Übertragung / Gegenübertragung, denn in der Kürze der Begegnung werden die Charakteristika des Übertragungsprozesses nicht sinnvoll bearbeitet werden können. Wenn zwei Menschen sich begegnen, wird jedoch stets blitzartig abgetastet, wer »führt« und wer »geführt« wird bzw. »sich führen lässt«; wer sich dominant verhält, wer submissiv; wer das Feld eingrenzt, und wer sich darin bewegen darf und soll. Gespräche sind seitens der ratsuchenden Person prinzipiell nicht symmetrisch-solidarisch angelegt. Es bedarf eines sicheren Fingerspitzengefühls seitens des Gegenübers, die komplementären Asymmetrien so geschickt zu handhaben, dass am Ende die ratsuchende Person sich selbst wieder in der Hand hat und bereit ist, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Allein die Interaktionen vom Gegenüber vermögen das asymmetrisch-komplementäre Beziehungsmuster im Gespräch zu überwinden. Obwohl also die ratsuchende Person unbewusst die asymmetrischen Achsen einführt, 47

um das Helfen vom Gegenüber zu aktivieren, kann ihr erst wirklich geholfen werden, wenn sich beide gleichwertig nebeneinander auf die Suche nach dem Ausweg machen.

UP

Gegenüber als beratende Person

IN

anfragende, ratsuchende Person

auf gleichwertiger Augenhöhe

OUT

DOWN

Abb. 2: Beziehungsmuster im Kurzgespräch

Das Konfliktkarussell

Anlass für viele ratsuchende Gespräche ist eine ausweglose Situation. Meist hat sich die ratsuchende Person schon etliche Zeit vergeblich um einen Schritt aus der Sackgasse bemüht und ist dabei immer tiefer in einen Problemnebel geraten, der ihr nun jegliche Aussicht auf ein Entkommen verschleiert. Immer wieder werden die verschiedensten Varianten durchdacht oder in Gesprächen mit Freundinnen und Bekannten durchgegangen, ohne dass eine tatsächliche Veränderung eintritt. Auch wenn das Gespräch aus einem akuten Anlass heraus gesucht wird: Die »Geschichte« ist alt und reicht bisweilen in die Anfänge der Beziehung zwischen den Betroffenen zurück. Mit Härte und Geduld, mit Liebe und Liebesentzug hat man’s versucht, alles umsonst! Das Konfliktkarussell dreht und dreht sich ohne Ende. Gelegentlich ist es zu einem (eigentlich nicht gewollten) Gewaltausbruch gekommen oder einer der Beteiligten reagiert mit einer schweren Erkrankung auf das nicht enden wollende Konfliktkarussell. Ob es um einen Ehekonflikt geht oder um Mobbing am Arbeitsplatz, ob es ein Streit unter Geschwistern wegen der Versorgung der 48

alten Eltern ist oder das der Mutter unverständliche Verhalten der erwachsenen Tochter ihr gegenüber, ob die Prinzipien der Ordnung oder der Aufrichtigkeit diskutiert werden: »Es ist immer dasselbe. Ich kann sagen, was ich will. Es hat keinen Zweck. Ich hab schon alles versucht. Es bringt nichts!«

So oder ähnlich wird dann resümiert. Und dieses Resümee wird untermauert mit langen Beweisketten, die dem Zuhörer schlüssig darlegen sollen, dass man der ratsuchenden Person nur zustimmen kann: »Es geht wirklich nicht!« Der Motor des Konfliktkarussells speist sich aus einer Mischung von Eitelkeit und Kränkung, von Recht haben wollen und sich ungerecht behandelt fühlen. Die Metapher vom Konfliktkarussell wurde für dieses Gesprächsmuster gewählt, weil es treffend veranschaulicht: Die ratsuchende Person dreht sich im Kreis, dem Gegenüber wird über kurz oder lang schwindelig, und das naheliegende Ziel, das Kreisen zu stoppen und einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, erscheint uner­reichbar – ein Perpetuum mobile. Wer in ein Konfliktkarussell gezogen worden ist, weiß um die ohnmächtige Resignation, die sich etwa so artikuliert: – »Es ist mir einfach nicht gelungen, die ratsuchende Person davon abzubringen, mir mehr und immer mehr zu erzählen. Sie war einfach nicht zu bremsen. Mir drehte sich schon der Kopf!« – »Es war eigentlich immer dasselbe. Ich konnte sagen, was ich wollte. Alle meine Versuche, dazwischenzukommen, hatten keinen Erfolg. Ich hab schon alles versucht. Es brachte nichts!« – »Mein inneres Stoßgebet: Fang bloß nicht damit wieder an …«

Diese Resümees  – oft auch untermauert mit ausführlichen Darlegungen, wie »man« sich bemüht hat, was »man« alles angeboten hat, wozu »man« mit guten Argumenten geraten hat – bezeugen ein schlichtes Ergebnis: »Es geht wirklich nicht!« Auf das aktuell aus einer sich (zufällig oder einfach so) ergebenden Situation und Konstellation von der ratsuchenden Person gesuchte /​ ​ 49

gewünschte / erbetene Gespräch kann und sollte die angesprochene Person sich bewusst einstellen: – Die nach dem Präludium vorgebrachte »Geschichte« ist für die ratsuchende Person alt und reicht bisweilen weit zurück in ihre Vergangenheit. – Die ratsuchende Person ist als Bedenkenträgerin mit ihrer Zweifelsucht ihrem Gegenüber grundsätzlich überlegen: »Ja, aber …« – Je mehr die angesprochene Person auf (auch kleinste) Veränderungen drängt, desto hartnäckiger wird die ratsuchende Person für den Status quo argumentieren (Wasch mich, aber mach mich nicht nass!). Beispiel: R: »Hast mal ’nen Augenblick Zeit? Ich hab da was an der Hacke _.« A: »Schieß los! Worum geht’s denn?« R: »Ach, das ist ’ne lange Geschichte. _ Du kennst doch M. Wir sind im Prinzip ja ein gutes Team, aber irgendwie mag die mich nicht.« A: »Wie kommst du denn da drauf? Von euerm Team hört man doch nur das Beste!« R: »Ja, das ist es ja eben. Nach außen scheint alles prima. Aber wir so unter uns. Ich kann dir sagen …« A: »Das klingt ja geheimnisvoll _ worum geht’s denn da bei euch?« R: »Weißt du, anfänglich habe ich mich ja mit M sehr gut verstanden _.« A: »Wart ihr nicht mal zusammen?« R: »Ach, erinnere mich nur da nicht dran!« A: »Sorry. Hab nichts gesagt.« R: »Aber vielleicht hängt das doch damit zusammen. Ich weiß nicht. Eigentlich sind wir ganz friedlich auseinandergegangen _ damals. Gut, ich lernte S kennen, hab das zunächst M verschwiegen. Aber durch einen blöden Zufall hat sie es ja bald herausbekommen und mich zur Rede gestellt. Wir haben uns dann ausgesprochen. Und ich meinte, das sei so o. k. _ Aber ich weiß nicht, wie kommen wir jetzt darauf?« A: »Na, irgendwie geht es doch um M.« R: »Ja und nein. Ich vermute ja nur, dass M dahintersteckt, dass der Abteilungsleiter ständig an mir herumkrittelt.«

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A: »Ist er mit deiner Arbeit nicht zufrieden?« R: »An meiner Arbeit gibt’s nichts auszusetzen. Das wäre ja noch schöner! Nein, er macht so ironische Bemerkungen über mich.« A: »Nun komm mal zur Sache!« R: »Wenn das so einfach wäre.« A: »Also, was hast du an der Hacke?« R: »Einige von uns wollen, dass ich in die Mitarbeitervertretung soll. Und ich hab dabei son ungutes Gefühl. Ich weiß nicht, ob das M und dem Abteilungsleiter passt.« A: »Na, sprich die doch einfach darauf an.« R: »M hab ich angesprochen, aber die hat mir keine richtige Antwort gegeben. Und beim Abteilungsleiter _ ich weiß nicht …« A: »Was weißt du nicht?« R: »Auf den Abteilungsleiter kommt es schließlich nicht an, wenn alle anderen mich wollen.« A: »Also, wo steckt denn nun das Problem?« R: »Ich muss mich bis zum Wochenende entscheiden, ob ich antrete.« A: »Und wie kann ich dir dabei helfen?« R: »Ich weiß auch nicht. Ich hab nur gedacht, vielleicht hättest du ja eine Idee. Aber o. k. Dank dir, dass du mir zugehört hast.«

Die Muster der Interaktionen, die ein Konfliktkarussell entstehen und kreisen lassen, sind auf einer Metaebene gut erkennbar. Um sie erfassen zu können, gilt es, die Aufmerksamkeit weg von der speziellen Problemkonstellation hin zu der generellen Struktur zu lenken. Das generelle Muster wird in den ersten einleitenden Bemerkungen von der ratsuchenden Person deutlich. Dieses Muster umfasst im Wesentlichen drei Arten: – Opfer-Muster – Sackgassen-Muster – Desorientierungsmuster Das Opfer-Muster wird erkennbar an Einleitungen wie: – »Mein Mann wirft mir vor …« – »Meine Vorgesetzte will dauernd …« – »Ich bin immer an allem schuld …«

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– »Alle hacken auf mir rum …« – »Niemand hilft mir …« – »Vielleicht können Sie mir ja helfen …«

Die ratsuchende Person sieht und / oder empfindet sich als ungewolltes, unschuldiges oder bemitleidenswertes Opfer eines oder mehrerer Menschen ihres Umfeldes und weckt damit im angesprochenen Gegenüber den Impuls, der ratsuchenden Person aus der Opferrolle herauszuhelfen: Wert und Würde eines Opfers gebieten es doch, sich um seine unantastbaren Grundrechte zu kümmern – man möchte doch nicht als »Unmensch« dastehen … »Ich bin ein Opfer« verführt zur reaktiven Haltung: »Ich bin für dich da.« Eigentlich ist das doch selbstverständlich, und dennoch ist es der Tod im Topf: Die Beziehungsstruktur fixiert nicht nur das Opfer auf die Opferrolle und den Helfer auf die Helferrolle, sondern provoziert »mehr desselben«. Das Sackgassen-Muster wird erkennbar an Formulierungen wie: – »Ich weiß nicht mehr weiter …« – »Ich stecke in einer Falle …« – »Wie ich mich auch dreh und wende …« – »Ich bin total blockiert …« – »Ich sehe keinen Ausweg mehr …« – »Augen zu und durch …«

Die ratsuchende Person fühlt und / oder empfindet sich in ihrer Handlungsfreiheit durch Personen, Lebensumstände, Schicksalsmächte erheblich oder gänzlich eingeschränkt und weckt damit im angesprochenen Gegenüber den Impuls, Lösungsmöglichkeiten zu erschließen, um aus der Sackgasse herauszuhelfen: Eine scheinbar unlösbare Konfliktsituation gebietet es doch, sich der intellektuellen Herausforderung des Rätsels zu stellen. »Ich stecke in einer Sackgasse« verführt zur reaktiven Haltung: »Ich habe Ideen für dich.« Und die Folge davon ähnelt dem Karussell des Opfer-Musters: je mehr »Ideen«, desto mehr »Sackgassen«.

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Das Desorientierungsmuster wird erkennbar an Summarien wie: – »Ich weiß nicht, was ich machen soll …« – »Egal, was ich mache, es ist immer falsch …« – »Ich finde mich einfach nicht zurecht …« – »Ich grüble Tag und Nacht über …« – »Es ist alles sinnlos …« – »Woran soll ich mich noch halten?«

Die ratsuchende Person fühlt und / oder empfindet ihre bisherigen Werte, Lebensziele und Werteorientierung als ineffizient, leer und / oder nichtssagend und weckt damit im angesprochenen Gegenüber den Impuls, Strukturen zu erarbeiten, um Ansatzpunkte für eine neue tragfähige Lebensorientierung sichtbar zu machen. Das Verlangen nach Werten und Lebensorientierung gebietet es doch, sich persönlich für eine Wertestrukturierung zur Verfügung zu stellen. »Ich hab den Überblick verloren« verführt zur reaktiven Haltung: »Ich diagnostiziere, strukturiere dich.« Und auch in diesem Muster wird sich alsbald das Konfliktkarussell drehen wie bei dem Opferbzw. Sackgassen-Muster. Oft versucht die ratsuchende Person, mit (unbewussten) Suggestivfragen die angesprochene Person mit auf das Karussell zu ziehen: – »Was halten Sie denn davon?« – »Finden Sie nicht auch, dass …?« – »Was würden Sie denn an meiner Stelle machen?« – »Meinen Sie, ich sollte härter sein / einfach nachgeben?«

Springt die angesprochene Person – so gelockt – mit auf das Karussell, erhöht dieses den Schwung des Kreiselns, und es kommen ungeahnte Weiterungen ins Spiel, die den Schwindel verstärken. Die auf solche Fragen einsteigende Antwort provoziert die ratsuchende Person zu neuen verbalen Gedankenanstrengungen, die eigene Position zu rechtfertigen und zu beweisen. Für die angesprochene Person ist die Versuchung groß, in die Details des Konflikts einzusteigen. Die angesprochene Person wird dann mit komplizierten Einzelheiten 53

der Problemgeschichte überschüttet und bemüht sich, möglichst viel davon zu behalten, aber auch dieses »Ergebnis« ist voraussagbar: Dem Gegenüber wird der Kopf rauchen und der »Problemnebel« ist noch undurchdringlicher. Veranschaulichung: Auf das Opfersignal »Ich kann es A einfach nicht recht machen …« wird die Verbalisierung der Befindlichkeit »Sie fühlen sich A gegenüber minderwertig?« das Konfliktkarussell ankurbeln, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass beide sich bald im Kreise drehen. Wenn jemand in einer Sackgasse steckt, wird dieser Mensch vielleicht sagen: »Ich verstehe nur noch Bahnhof!« Das Hilfsangebot, sich aus der Blockade zu lösen – »Was genau verstehen Sie denn nicht?« –, wird mit Sicherheit zu einer ausführlichen Darlegung aller möglichen Unbegreif‌lichkeiten im Leben dieses Menschen führen: Der Problemnebel verdichtet sich. »Ich weiß nicht mehr ein noch aus!« Aus dieser Desorientierung herauszuhelfen, wird eine gut-mütterlich / väterliche Ermunterung »Am besten, Sie erzählen mal der Reihe nach« direkt in den Sog des immer stärker kreiselnden Strudels führen. In solchen Gesprächen wird die angesprochene Person bisweilen mit komplizierten Details der Problemgeschichte überschüttet und bemüht sich, möglichst viele Einzelheiten zu behalten. Das ist gänzlich überflüssig, und zwar aus zwei Gründen: 1. Falls im Verlauf des Gesprächs tatsächlich das Wissen um ein Detail fehlt, wird die ratsuchende Person dieses auf Nachfrage gern (auch ein zweites Mal) liefern. 2. Im Gespräch soll der Konflikt nicht eingefühlt, verstanden und analysiert werden; es geht darum, die ratsuchende Person in ihrer potenziellen Komplexität zu aktivieren, damit sie einen ersten Schritt auf ein wieder befreites Leben selbsttätig gehen kann.30 Die angesprochene Person braucht ihre ganze mentale Kraft für gut überlegte Interventionen, die über sprachliche Koppelungen den Prozess der Kommunikation auf Zielkurs halten. 30 Vgl. Kap. 2.1.2 Die potenzielle Komplexität

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Aus systemischer Sicht von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Homöostase31: Die ratsuchende Person folgt dabei unbewusst einer natürlichen Tendenz zur Homöostase: Alle für sie bislang erprobten, bewährten und gültigen Werte, Normen, Entscheidungsfindungen, Beurteilungsmuster, Handlungsmaximen und auch wesentliche Teile des Status quo sollen im Gleichgewicht gehalten werden. Jede Veränderung stört dieses Gleichgewicht. Deshalb wird das Defizit so dargestellt, wie es für die ratsuchende Person ihrem Wunsch nach Homöostase am ehesten entspricht. Die angesprochene Person ist dabei der ratsuchenden Person deshalb stets »unterlegen«, wenn es um die »richtige« Wahrnehmung und Einschätzung des Problems geht. Denn andernfalls müsste die ratsuchende Person sich ja eingestehen, etwas »falsch« gedacht oder gemacht zu haben. Mit diesem Eingeständnis jedoch stünde ihr bis dato gültiges Selbstverständnis und die daraus sich ergebende Lebensorganisation zur Disposition. Aus dieser Tendenz zur Homöostase ergibt sich die Dynamik des Konfliktkarussells. Jeder Versuch einer noch so zarten Korrektur der Wahrnehmung und Einschätzung des Defizits durch die angesprochene Person wird mit »Argumenten« aus der bisherigen Homöostase von der ratsuchen­den Person beantwortet. Die angesprochene Person soll die Sichtweise der ratsuchenden Person übernehmen, um zu demselben »Ergebnis« zu gelangen. Das steht nur scheinbar im Widerspruch zu dem erklärten Wunsch der ratsuchenden Person, den »gordischen Knoten nun endlich einmal durchzuhauen« und sich so aus dem Konfliktknäuel zu befreien. Denn (so ver-rückt das ist) tatsächlich tut es der ratsuchenden Person »gut«, wieder einmal erfahren zu haben, dass die angesprochene Person zu keinem anderen Ergebnis kommt als die ratsuchende Person selbst: »Es geht einfach nicht!« »Grundmuster« und »Homöostase« führen jede sprachliche Intervention, die sich auf die Lösung des Problems kapriziert, ad absurdum. 31 Der Begriff, der sich ursprünglich auf den durch physiologische Kreisprozesse erzielten Gleichgewichtszustand von Organismen bezieht, wird hier auf eine psychisch ausbalancierte Ausgewogenheit übertragen.

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Im Umgang mit dem Konfliktkarussell gibt es zwei Verbotsschilder, die von der angesprochenen Person unbedingt beachtet werden sollten: Stopp: Nicht an der Homöostase rütteln! Die Veränderung der Elemente der Homöostase gelingt ausschließlich der ratsuchenden Person: Sie kann die Gefahren, Ängste und Zusammenbrüche sehr genau einschätzen. Die angesprochene Person ist gut beraten, wenn sie die ratsuchende Person vor den Folgen von Veränderungen im Verhalten warnt, auf die Gefahren hinweist, die sich ergeben, wenn eine bisherige Einschätzung (»Wahrheit«) nicht mehr gelten soll, und die Ängste anspricht, die sich aus einem Bruch mit der bisherigen Selbstorganisation ergeben. Denn tatsächlich wird die ratsuchende Person zum einen spüren, wie genau die angesprochene Person auf sie »achtet«; zum anderen wird ihr Mut zu machbaren Veränderungen ausgelotet: Sie bietet – wenn sie nicht ge-/bedrängt wird – von sich aus mögliche (bisher vielleicht nur im Stillen gedachte) Veränderungen an, die auf einem neuen, anderen Niveau der Homöostase sehr wohl erträglich sind. Stopp: Nicht in das Konfliktkarussell einsteigen! Diese Warnung scheint naheliegend und recht leicht zu befolgen zu sein. Denn wer begibt sich schon freiwillig in ein Kreisen, bei dem ihm schwindelig wird? Dem steht jedoch zweierlei entgegen: Zum einen lädt die ratsuchende Person (wie jeder gute Karussellbetreiber) mit immer neuen Werbeangeboten die angesprochene Person ein, sich in ihr Karussell zu begeben; zum anderen sind Helfende geradezu fasziniert von zwischenmenschlichen Konflikten und brennen darauf, sie zu lösen, indem sie immer tiefer in die Konfliktkonstellation einzudringen versuchen, bis diese sich ihrem verinnerlichten Verstehensraster (Theorie) annähert oder mit ihm deckt. Dann erst (so die Vorstellung) könnten sie helfen. Das Gegenmittel für die erste Fehlhaltung besteht darin, sich im Blick auf das Anliegen strikt zurückzuhalten und stattdessen »einfältig« nachzufragen, was die ratsuchende Person denkt und meint und erwartet, wie die angesprochene Person helfen soll. Die innere Einstellung der angesprochenen Person sollte sein: 56

»Was genau soll durch mich geschehen.«

Die Gegenhaltung zur zweiten Versuchung besteht darin, sich strikt an die An- und Eingaben von der ratsuchenden Person zu halten, also keine weiteren Personen erfragen oder sich den Prozess der Beziehungsgeschichten erläutern zu lassen, nicht mögliche Problem­ analysen und erst recht keine Deutungen anzubieten. Die innere Einstellung vom Gegenüber sollte sein: »Mit dem Problematisieren will ich keine Zeit verschwenden.«

Opfersignal: »Ich kann es X einfach nicht recht machen« Sackgassensignal: »Ich verstehe nur noch Bahnhof …« Desorientierungssignal: »Ich weiß nicht mehr ein noch aus …«

ratsuchende Person

Je mehr desselben, desto stärker dreht sich alles im Kreis! Der Problemnebel verdichtet sich …

Strukturierungsangebot: „Am besten, Sie erzählen mal der Reihe nach.« Lösungsvorschlag: »Was verstehen Sie denn nicht?« Verbalisierung der Befindlichkeit: »Sie fühlen sich A gegenüber minderwertig?«

Abb. 3: Das Konfliktkarussell

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beratende Person

1.2 Fertigkeiten Die in diesem Kapitel dargelegten »Denk- und Mundfertigkeiten« für eine qualifizierte Gesprächsführung befördern jedes »helfende« Gespräch. Auch im Kurzgespräch sind sie vorausgesetzt. Diese praktischen Fertigkeiten der Gesprächsführung werden unter zwei übergreifenden Aspekten vorgestellt: – decodieren (wahrnehmen) – encodieren (äußern) Die ratsuchende Person äußert sich verbal, nonverbal und paraverbal. Die Aufmerksamkeit der angesprochenen Person richtet sich ungeteilt auf diese drei Kommunikationsmodi und setzt ihr Können darein, diese zu decodieren. Zugleich strengt die angesprochene Person sich an, das Dekodierte in angemessener Weise (verbal, non­ verbal und paraverbal) in das Gespräch einzubringen, zu encodieren. Beide Schritte greifen im Vollzug eines Gesprächs so eng ineinander, dass die in diesem Kapitel vorgenommene Trennung in zwei Prozesse der Wirklichkeit nur sehr bedingt entspricht. Dennoch halte ich es für sinnvoll, einzelne Module gesondert zu behandeln, um eine grundsätzliche Sensibilität für das professionelle Wahrnehmen und Äußern zu stärken. Dabei sind die meisten Module für beide Aspekte relevant, werden jedoch nur im ersten Unterabschnitt (decodieren) abgehandelt, und im zweiten (encodieren) wird dann lediglich auf ihre Bedeutung beim Äußern der angesprochenen Person hingewiesen. Diese Fertigkeiten müssen  – wie jedes gute Handwerk – als »Mund-, Ohr- und Augenwerk« erlernt werden.

1.2.1 Decodieren (wahrnehmen) Signale der Sprache

Wie in Kapitel 1.1 über den persönlichen Spracherwerb ausgeführt wurde, ist in jeder sprachlichen Kommunikation davon auszugehen, dass erhebliche Differenzen im persönlichen Bedeutungstiefengrund aller benutzten Wörter bestehen. Vor Inbetriebnahme seines Mundwerks wird die angesprochene Person (neben der Mimik, Gestik und Stimmlage) die »Wörter« wahrzunehmen haben, die in 58

der Sprache der ratsuchenden Person ein Encodieren sinnvoll erscheinen lassen. Jenseits aller Wörter für die Beschreibung des Anliegens, die oft wie ein gestanzter Jargon wirken, bieten sich folgende Äußerungen der ratsuchenden Person an: Füllpartikel

Als Füllpartikel lassen sich z. B. »ja«, »also«, »mal«, »schon«, »nur«, »auch« filtern und merken. Das Andocken an Füllpartikeln ist eine besondere Kunst, da diese Partikel ihre Bedeutung durch die jeweilige Stellung im Satzgefüge und durch die konnotierten paralinguistischen Phänome erhalten: – Das vorgeschobene »Ja« verweist auf eine immanente Bejahung. – Das vorangestellte »also« betont die im inneren Monolog bereits gezogene Schlussfolgerung. – Das eingestreute »mal« ist ein verkürztes »einmal« und hebt die »Einmaligkeit« des jetzt Ausgesprochenen hervor. – Das »schon« verweist auf ein wiederkehrendes Muster. – Das »nur« macht auf etwas aufmerksam, das sorgsam beachtet sein will. – Mit dem Zusatz »auch« wird eine zwingend notwendige Erweiterung reklamiert. Substantivierte Redeweisen

In Nomen verdichten sich Geschehensabläufe der Lebenserfahrung. »Ärger« lässt sich auf‌lösen in ein Geschehen, das ärgerlich war, weitergehend: »wo und wie ich mich geärgert habe«. Die Verdichtung in ein Nomen reduziert das Tiefenerleben (wie und wo ich mich geärgert habe) auf ein Minimum. Zu den Signalen auf der sprachlichen Oberflächenstruktur gehört die Verdichtung von erlebten Geschehensabläufen, die in der Tiefenstruktur in ihrer ausdifferenzierten Fächerung gespeichert sind, in eine substantivische Redeweise. Auf der Oberfläche der Sprache bleibt vom Gesamtgeschehen nur noch eine Formel übrig: »Ich hab Ärger mit meinem Vorgesetzten!« Das Wieder-Auf‌lösen von Substantiven in die sprachliche Vielfalt von Adjektiven und Verben aktiviert das Tiefenerleben der ratsuchenden Person und erschließt ihr ihre potenzielle Komplexität 59

(Foerster 1996, S. 49). Alle Nomina lassen sich zurückverwandeln nach dem Muster: – Streit  – »Was genau ist strittig zwischen Ihnen?«  – »Worüber streiten Sie sich?« – »Ich bin an allem schuld« – »Wie werden Sie schuldig?« – »Wem schulden Sie was?« – »Mich quält die Angst« – »Was macht Sie ängstlich?« – »Wovor ängstigen Sie sich?«

Um hilfreich andocken zu können, wird die Filter- und Merkleistung des Gehirns deshalb auf substantivische Redeweisen fokussiert, um diese »verfestigten« Begriffe wieder in lebendige Prozesse zu verwandeln. Auslassungen

Wie stark die Oberflächensprache die Tiefenstruktur verkürzt, wird besonders daran deutlich, wenn Sätze nicht zu Ende gesprochen werden, wenn für das Verstehen notwendige Bezüge nicht hergestellt werden und wenn bei Vergleichen die zweite Hälfte fehlt. Beispiele: – »Ich hab solche Angst.« – Es bleibt verborgen, wovor oder warum die Person Angst hat: »Wovor ängstigen Sie sich?« – »Ich fühle mich der Tradition verbunden.« – Erst wenn ausgesprochen wird, »welcher« Tradition sich die Person verbunden fühlt, wird ein Verstehen möglich: »Welcher Tradition fühlen Sie sich verbunden?« – »Das ist ja alles noch viel schlimmer.« – Wenn gesagt wird: »… schlimmer, als ich es mir gedacht habe«, also der Vergleich vollständig artikuliert wird, kann ein weiterer kommunikativer Anschluss sinnvoll gelingen: »schlimmer als – was genau?«

Wer sich die Mühe macht, auf Auslassungen dieser Art im umgangssprachlichen Dialog zu achten, wird erstaunt sein, wie häufig diese auf‌treten, aber mehr noch, wie bereitwillig das Gehirn der hörenden

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Person die Auslassungen nach seinem Gutdünken auf‌füllt, ohne sich sicher sein zu können, dass diese Ergänzungen »richtig« sind. Begriffsfelder32

Im persönlichen Sprachschatz bevorzugt jede Person Verben, Adjektive und Nomen aus einem bestimmten Bereich der Sinneswahrnehmung wie: – des Sehens und Schauens (visuelle Sprachbegriffe) oder – des Hörens und Lautens (auditive Sprachbegriffe) oder – der Bewegung und des Empfindens (kinästhetische Sprach­ begriffe) oder – des Riechens (olfaktorische Sprachbegriffe) oder – des Schmeckens (gustative Sprachbegriffe). So lässt sich der in der Tiefenstruktur erlebte Zustand der Blockade (Begriffsfeld des Empfindens) auf unterschiedliche Weise in der Sprache präsentieren: – »Ich hab mich total festgefahren.« (Begriffsfeld: innen / außen empfinden / bewegen) – »Ich hab total den Überblick verloren.« (Begriffsfeld: sehen) – »Ich versteh überhaupt nichts mehr.« (Begriffsfeld: hören) – »Ich hab die Nase voll.« (Begriffsfeld: riechen) – »Ich muss mich mal so richtig auskotzen.« (Begriffsfeld: schmecken)

Sich ausdrücken hat eben eine besondere persönliche Note. Neben dem unterschiedlich großen Sprachschatz, über den Menschen verfügen, richtet sich die Aufmerksamkeit im Kurzgespräch auf die Sprachsignale, die die Vorliebe einer Person für Nomina, Adjektive und Verben aus einem der benannten »Begriffsfelder« zeigen. Beim

32 Vgl. Bandler / Grinder 1994.

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Andocken ist es für die angesprochene Person ratsam, das sprachliche Begriffsfeld von der ratsuchenden Person zu respektieren. Konjunktivische Redeweisen33

Konjunktivische Sprachwendungen sind Ausdrucksformen der vorsichtigen (alles offen haltenden) Redeweise. Konjunktivische Redeweise führt in virtuelle Räume, deren Überprüfung in der Wirklichkeit ihre Brauchbarkeit und ihren Nutzen erst erweisen müssen. Beispiele: »Ich hätte es gern anders.« – »Wie haben Sie es anders↓.« »Ich würde alles tun, um …« – »Was werden Sie tun, um …↓« »Ich könnte mich darauf einstellen, dass …« – »Wann stellen Sie sich darauf ein, dass …↓«

Im Konjunktiv mit »könnte«, »hätte«, »würde« entsteht eine Vision einer möglichen Alternative, in der auch gelebt werden könnte, aber eben nur »könnte«. Da umgangssprachlich sehr häufig mit »würde / n« operiert wird, bedarf es eines bewussten Impulses an die Filter- und Merkfunktion des Gehirns, die »würde-Welt« der ratsuchenden Person als fiktive Vision zu erkennen und nicht schlicht als gegeben anzunehmen. Allein die Umformulierung des Konjunktivs in den Indikativ Präsens bzw. Futur löst bei der ratsuchenden Person nachdenkliche, meist korrigierende Reaktionen aus. Wörter der Hoffnung

Hoffnung gehört zur charakteristischen Atmosphäre von Kurzgesprächen. Die ratsuchende Person induziert sie, indem sie meist auf eine konkrete Veränderung ihrer Lebensumstände »hofft«. Kurzgespräche ohne Hoffnungssignale gibt es nicht. Die Motivation der ratsuchenden Person, in diesem Augenblick und an diesem Ort genau diese Person anzusprechen, um einen Weg aus der Sack33 Vgl. Süskind 1996, S. 58.

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gasse zu finden, ist getrieben und gesteuert von der Hoffnung: »So komme ich weiter!« Wie viel Hoffnung die ratsuchende Person in das Kurzgespräch setzt, lässt sich erfassen durch die Fertigkeit, mit geübten Augen, gespitzten Ohren und feinsinnigen Gefühlen die verbalen, non- und paraverbalen Äußerungen eines Menschen wahrzunehmen. Die verbalen Hoffnungssignale sind von Fall zu Fall unterschiedlich und an die Gedanken- und Sprachwelt der ratsuchenden Person gebunden. Dennoch tauchen eine Reihe von umgangssprachlichen Redewendungen gerade im Kurzgespräch immer wieder auf, werden meist überhört und sind doch Fingerzeige auf das, worauf die ratsuchende Person hofft34: – »Hoffentlich wird mir das gelingen …« – »Ausziehen will ich eigentlich nicht …« – »Meinen Hund will ich natürlich mitnehmen …« – »Vermutlich habe ich etwas übersehen …« – »Das ist sicherlich nicht einfach …« – »Ich kümmere mich um meine Mutter, soweit mir das möglich ist …« – »Ich mache das, sobald ich die Zeit dazu habe …«

Hoffnung mutiert durchaus auch in eine Erwartungshaltung, mit der die angesprochene Person sich konfrontiert sieht: – »Ich muss mal mit jemandem reden.« – »Ich brauche unbedingt Ihren Rat.« – »Haben Sie mal Zeit für mich?« – »Du bist doch meine Freundin.« – »Wenn jetzt nicht ein Wunder geschieht …« – »Sie kommen mir gerade recht.« – »muss« signalisiert den Wunsch nach Freiheit, – »unbedingt« sucht jemand Rat, der frei (ohne Bedingungen) leben will, – »mal Zeit« hofft auf Zuwendung, 34 Es sind also letztlich nicht nichtssagende »Füllwörter«.

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– »mein / e Freund / in« sehnt sich nach Nähe, – »Wunder« hofft auf Erlösung, – »gerade recht« will’s wieder gerade richten.

Zum non- und paraverbalen Decodieren35

Den Grundton der Hoffnung zu erlauschen, wird verstärkt durch die non- und paraverbalen Äußerungen der ratsuchenden Person. Diese Begleitungen des verbalen Ausdrucks sind vielfältig; hier wird nur auf wenige hingewiesen: Kopf‌haltung: Neigen, schütteln, wiegen, nicken  – Ein Mensch wird mit einer dieser Gesten meist unbewusst seine Rede unterstreichen wollen. Blickkontakt: Offene Augen sind der Spiegel einer erwartungsvollen Seele. Die Augen(-fältchen) markieren eine Grundeinstellung zum Leben. Gesichtsausdruck: Mund und Stirn verraten viel über die derzeitige Stimmung der ratsuchenden Person. Gestik des Körpers: Handbewegungen, Haltung des Oberkörpers, Beinstellung unterstreichen intendierte Absichten oder befürchtete Folgen. Räumliche Nähe: Bei Begegnungen im freien Raum, auf der Straße oder bei einer Veranstaltung versucht jede ratsuchende Person die ihr genehme Distanz zu der angesprochenen Person zu finden: Je größer die Erwartungen, desto geringer der Abstand. Stimmlage: Der Wechsel der Stimmlage und -intensität wird unbewusst von der Ambivalenz zwischen »hoffen« und »verzagen« gesteuert. 35 Ausführlich dazu Stevens 1993.

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Neben der Wahrnehmungsfähigkeit der einzelnen Module der nonund paraverbalen Ausdrucksweisen sind zwei Aspekte von Bedeu­ tung, für die es eines geschärften Blicks und Gehörs und eines wachen Verstandes bedarf: 1. Ist die non- bzw. paraverbale Begleitung des verbalen Ausdrucks in sich zusammenhängend (intramodal kohärent)? Die wilden Handgesten, mit denen die Schilderung des Ehekonflikts begleitet werden, wechseln unversehens über zu gefalteten Händen im Schoß, obwohl ein Wechsel in der Schilderung des Dramas nicht ausgesprochen wird. Die Gestik ist in sich nicht stimmig. Leise und fast tonlose Sequenzen werden unvermittelt durch scharfes und lautes Sprechen abgelöst, ohne dass ein Sinn darin erkennbar wäre. Die Stimme bricht und lässt keine zusammenhängende Gefühlslage erkennen. 2. Stimmen die non- und paraverbalen Begleitungen mit dem, was verbal ausgedrückt wird, überein (intermodal kongruent)? Der Ton macht die Musik, und das Gesicht spricht Bände. Wenn nun sprachlich die Katastrophe einer Krebserkrankung gebeichtet wird, passen ein lächelndes Gesicht und eine laute, fröhliche Stimme einfach nicht zueinander. Die drei Modi widersprechen sich, sind nicht kongruent miteinander. Grundsätzlich gilt für alle Beobachtungen aus dem non- und paraverbalen Bereich: Das Wahrnehmen und Sich-Merken der non- und paraverbalen Botschaften sind wichtiger, als ein unmittelbares Feedback darauf zu geben! Ein voreiliges Feedback auf eine unbewusste non- bzw. paraverbale Äußerung richtet mehr Schaden an, als dass es hilft: Die ratsuchende Person fühlt sich durchschaut, vielleicht ertappt, wird vorsichtig und verschließt sich.

1.2.2 Encodieren (äußern) Um bei dem vorigen Aspekt anzuschließen, gelten für das Encodieren der angesprochenen Person, dass seine Eingaben in sich stimmig (intramodal kohärent) und untereinander zusammenhängend (intermodal kongruent) sein sollen. Das will bei jeder Äußerung bedacht und gekonnt sein. 65

Zu den paraverbalen Fertigkeiten gehört das entschleunigte Sprechen der angesprochenen Person. Wer seine Sätze wohlüberlegt ausspricht, wird dieses in einem angemessenen Tempo und mit Pausen tun, die das nachvollziehende Verstehen befördern. Für die meisten Menschen, deren Eigenart es ist, in der alltäglichen Kommunikation schnell zu sprechen, wird das entschleunigte Encodieren nur mit einem erlernten und dann bewussten Umschalten möglich: – Wann im Verlauf meiner »Rede« dient es dem Verstehen, meine Stimme zu heben oder zu senken, – wann, wenn ich ihr mehr Nachdruck verleihe, – wann, wenn ich die Intensität zurücknehme, – wann ist eine Pause im Sprechen angemessen, – und wie lange braucht die ratsuchende Person, um meinen Input nachzuvollziehen? Bei all dem soll das Sprechen natürlich bleiben und keinesfalls gekünstelt wirken. Deshalb ist es sinnvoll, diese Fertigkeit des entschleunigten Encodierens intensiv zu trainieren, bis es in Fleisch und Blut übergegangen ist. Es ist ein Irrglaube, zu meinen, die gesprochenen Wörter allein würden die Verständigung richten, selbst wenn sie der Sprache und der Begriffswelt der ratsuchenden Person entnommen sind. Im Weiteren lassen sich nun alle unter 1.2.1 »Decodieren (wahrneh­ men)« genannten Aspekte auf das Encodieren / Äußern der ratsuchen­ den Person übertragen: Signale der Sprache

Das Wissen, dass alle benutzten Wörter einen je eigenen persönlichen Bedeutungstiefengrund haben, wird die beratende Person dazu anhalten, sich vor Inbetriebnahme ihres Mundwerks sinnvollerweise der »Wörter« der Sprache der ratsuchenden Person zu bedienen und ihre eigene Begrifflichkeit tunlichst hintanzustellen. Füllpartikel verstecken Absichten. Und so notwendig es ist, auf die von der ratsuchenden Person benutzten Füllpartikel zu achten, so geboten ist es für die angesprochene Person, auf jegliche Füllwörter zu verzichten. 66

Substantivierte Redeweisen helfen der ratsuchenden Person ein Konfliktpaket mit gängigen Begriffen zu schnüren. Die angesprochene Person sollte diese darum aufschnüren und keinesfalls eigene substantivische »Pakete« einführen. Wahrgenommene Auslassungen aufseiten der ratsuchenden Per­ son fordern die angesprochene Person geradezu dazu auf, die Verkürzungen zu ergänzen. Sie selbst sollte stets vollständige Sätze formulieren, bevor sie anfängt zu sprechen, um die ratsuchende Person nicht zu verführen, die Auslassungen nach ihrem Gutdünken aufzufüllen, ohne sich sicher sein zu können, dass diese Ergänzungen »richtig« sind. Begriffsfelder36

Auch die angesprochene Person bevorzugt im persönlichen Sprachschatz Verben, Adjektive und Nomen aus einem bestimmten Bereich der Sinneswahrnehmung. Es ist sehr hilfreich, wenn sie sich dessen bewusst ist, in welcher Begriffswelt sie selbst beheimatet ist – im Bereich: – des Sehens und Schauens (visuelle Sprachbegriffe) oder – des Hörens und Lautens (auditive Sprachbegriffe) oder – der Bewegung und des Empfindens (kinästhetische Sprachbegriffe) oder – des Riechens (olfaktorische Sprachbegriffe) oder – des Schmeckens (gustative Sprachbegriffe). Beim Encodieren gilt es, diese eigene Heimat zu verlassen und sich auf das möglicherweise fremde Feld der ratsuchenden Person zu begeben. Konjunktivische Redeweisen

Konjunktivische Sprachwendungen sind, wenn sie Ausdrucksformen der vorsichtigen (alles offen haltenden) Redeweise sind, nicht für die angesprochene Person zulässig, z. B.: »Könnten Sie sich vorstellen …« oder »Würden Sie es sich zutrauen …«. Genau hingehört, 36 Vgl. Bandler / Grinder 1994.

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suggerieren sie der ratsuchenden Person, dass die angesprochene Person in Zweifel zieht, ob die ratsuchende Person überhaupt in der Lage ist, sich etwas vorzustellen oder zuzutrauen. Komparative und Superlative37

Die vorsichtige Redeweise äußert sich umgangssprachlich ebenfalls im Gebrauch des absoluten Komparativs, dem der Vergleichsbezug fehlt und der damit eine Pejorisierung, d. h. eine Bedeutungsminderung, andeutet. Wenn die Steigerungsform von dem Bezugspunkt abgelöst ist, ergibt sich daraus eine Pejorisierung der Grundform. Darum sollte vor allem die angesprochene Person absolute Komparative in ihrem Encoding vermeiden, z. B.: – »Dazu hab ich viel weniger Lust« bedeutet weniger als »Dazu habe ich keine Lust«, – »Freier müsste man sein« weniger als »Frei müsste ich sein«, – »Ich sollte mutiger sein« weniger als »Ich muss mutig sein«.

Der Superlativ stellt die höchste Steigerungsform dar und macht sich als solcher bereits der Subjektivität verdächtig. Denn wer darf behaupten, zu wissen, was oder wer das »schönste« Kleid, das »größte« Ansehen, die »liebste« Frau hat? Welche Mogelei sich hinter der übertreibenden Behauptung »die wirksamste Medizin gegen …« verbirgt oder hinter »einer der spannendsten Romane …« oder »der weitestgehendsten Toleranz«, ist jedem Empfänger solcher »Werbebotschaften« bekannt. In beratenden Gesprächen taucht in den Äußerungen der angesprochenen Person der Superlativ oft als Entscheidungshilfe auf: »Was würden Sie am liebsten, am ehesten, halten Sie für das Wichtigste …« Aber auch die höchste Steigerungsform wird der ratsuchenden Person nicht helfen, da sie eben diese Rangfolge nicht zu erkennen vermag – ja vielmehr: Die ratsuchende Person gerät unter Druck, sich entscheiden und irgendwie wählen zu müssen, obwohl sie die 37 Vgl. Süskind 1996, S. 74–82; comparare (lat.) = vergleichen.

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ihr möglichen Alternativen konkurrierend erlebt und eben deshalb nicht wählen kann. Vorrangig sind Wörter der Hoffnung der ratsuchenden Person zu decodieren. Sodann obliegt es der Sprachfantasie der angesprochenen Person, den ermutigenden Ansatz der Hoffnung sprachlich aufzunehmen und zu verstärken: – »Hoffentlich wird mir das gelingen …« »Was bestärkt Sie, drauf zu hoffen, dass es Ihnen gelingt↓.« – »Ausziehen will ich eigentlich nicht …« »Wie will es Ihre Eigenart↓.« – »Vermutlich habe ich etwas übersehen …« »Was vermuten Sie zu sehen↓.« – »Das ist sicherlich nicht einfach …« »Worin sind Sie sich sicher↓.«

Stimmlage, Gesicht, Körperhaltung, Hände können dieses Encoding wirkungsvoll begleiten.

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2

Der Clou des Kurzgesprächs

Das französische Wort »Clou« leitet sich vom lateinischen clavis = Nagel ab. Tatsächlich lässt sich die Besonderheit des Kurzgesprächs an zwei »Nägeln« festmachen: 1. Der andere Fokus 2. Der mäeutische Impuls Beide Nägel sind stark genug, um der Wirkkraft der Homöostase zu widerstehen. Zum 1. Nagel: Der Zugkraft des Konfliktkarussells und aller bisherigen, aber gescheiterten Versuche, dieser zu entkommen, und vor allem die unbewusste kontraproduktive Abwehr, einer drohenden Unzulänglichkeitsoffenbarung etwas entgegenzusetzen, beides bedarf eines festen Haltepunkts der angesprochenen Person. Diesen Halt findet sie, indem sie sich einen anderen Fokus wählt, und zwar in der Welt jenseits des vorgetragenen Anliegens. Zum 2. Nagel: Das Erschließen der potenziellen Komplexität der ratsuchenden Person gelingt mittels eines »Zaubertricks« und einer Erkenntnis des Philosophen Sokrates. Die Kunst des mäeutischen Impulses erfordert stets eine hohe Konzentration und eine weit geöffnete Bereitschaft für kreative Einfälle.

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2.1 Der andere Fokus 2.1.1 Jenseits des präsentierten Anliegens Das Anliegen einer ratsuchenden Person, ob dieses nun als »Konflikt« oder »Problem« oder »Dilemma« oder »Katastrophe« klassifiziert wird, offenbart in jedem Fall eine defizitäre Bilanz in ihrem derzeitigen Lebensablauf. Irgendwie  – durch eigene Schuld, Versagen der Eltern, widrige Umstände, traumatische Erlebnisse – ist es zu dieser Fehlentwicklung gekommen, deren Auswirkungen die ratsuchende Person nicht mehr zu handhaben weiß oder sie daran hindert, sich so zu entfalten, wie sie es möchte und sich wünscht, oder sie gar krank macht. Dieser Mensch beschäftigt sich mehr oder minder lange mit seiner defizitären Lebensweise und hat versucht, diese zu korrigieren. Eigene Einfälle, Ratschläge von Freunden, psychologische / therapeutische / ärztliche / juristische Konsultationen sollten dem defizitären Leben Abhilfe schaffen  – alles ohne nachhaltigen Erfolg, sonst versuchte die ratssuchende Person nicht erneut, das Anliegen vorzutragen. Für die betroffene Person verdichtet sich der Problemnebel, weil Hypothesen, Theorien, Diagnosen, Einschätzungen, Meinungen zwar »richtig« schienen, jedoch nicht dazu beitrugen, das Anliegen auszugleichen oder zu beseitigen. Bisweilen steigern derlei Erkenntnisse (»Ich weiß jetzt, dass meine Mutter mich nicht wollte …«) das defizitäre Lebensgefühl und erzeugen zusätzlich Ohnmachtsgefühle (»Mir ist nicht zu helfen …«). Eine unausweichliche Folge einer derartigen Beschäftigung mit dem Anliegen (Problem, Konflikt, Dilemma, Trauma) ist die »Röhrensicht«. Das gesamte Denken und Empfinden fokussieren sich auf dieses Anliegen, und die ratsuchende Person schaut wie durch eine Röhre auf diesen »Punkt«. Die Fülle der anderen Sicht- und Lebensweisen, die dieser Person jenseits des Anliegens zur Verfügung stehen, gerät aus ihrem Wahrnehmungs- und Handlungshorizont, und jedes Gespräch, das sich auf diese Röhrensicht einlässt, verstärkt, ja zementiert diese. Nicht selten drängt sich der Verdacht auf, die ratsuchende Person lege es unbewusst geradezu darauf an, jede von ihr angesprochene Person in diesen verengten Horizont zu nötigen. Dass 72

die Aufweitung ihrer Röhrensicht nicht ohne Weiteres möglich ist, liegt nahe: Zum einen müsste die betreffende Person sich schämen, nicht selbst darauf gekommen zu sein, und zum anderen hat sie sich an die eingeengte Sicht gewöhnt und auch damit leben gelernt. Deshalb ist es für die angesprochene Person – jedenfalls in einem Kurzgespräch  – zwingend geboten, sich hinsichtlich des präsentierten Anliegens strikt abstinent zu verhalten. Die hippokratische Tradition stellt ins Zentrum ihres Handelns den Grundsatz: primum nihil nocere – erstens: nicht schaden! Diese grundsätzliche Abstinenz ist – wie bei einem alkoholkranken Menschen – gleichermaßen im Kurzgespräch sinnvoll, jedoch aufgrund des dem Helfersyndrom eigenen Suchtpotenzials ebenso schwer durchzuhalten. In eine andere Richtung weist der Impuls, die eingeengte Blende dieser Röhre zu weiten – vom Maxi-Zoom zum Fischaugenobjektiv. Doch wie kann es gelingen, das andere Leben – jenseits des präsentierten Anliegens – in den Blick zu bekommen?

2.1.2 Die potenzielle Komplexität Es gehört nicht viel Fantasie dazu, anzunehmen, dass die ratsuchende Person von Natur aus komplexer ist als das, was sie und wie sie sich aus der Röhrensicht darstellt. Erhält die ratsuchende Person wieder offenen Zugang zu ihrer möglichen Vielfalt, wird sie (vermutlich) allein aus sich heraus wissen, wie sie ihr Leben trotz des Anliegens anders gestalten kann – vielleicht sogar mit einem positiven Saldo. Doch wie an die verborgenen Schätze herankommen? Wie dieses Geheimnis lüften, wo doch jedes Geheimnis geheim ist und nicht aufgedeckt werden will / soll? Im Märchen von Ali Baba und den vierzig Räubern gelingt es Ali Baba durch seine scharfe Beobachtungsgabe und präzise Mnemotechnik, den Schlüssel zum Geheimnis des Berges in die Hand zu bekommen, während sein Bruder an dem dafür notwendigen exakten Wortlaut scheitert: Als Ali Baba sich von seinem Schrecken erholt und beruhigt hatte, stieg er vom Baum herunter und ging zu der kleinen Tür hin. Dort blieb er 73

stehen, und indem er sie betrachtete, sprach er bei sich selbst: »Ob sich diese Tür, wenn ich so wie der Räuberhauptmann rufe: ›SESAM, ÖFFNE DICH!‹ wohl öffnen wird oder nicht?« Dann trat er dicht herzu, sprach diese Worte, und siehe da, die Tür sprang auf.38

Ali erlauscht sich den kleinen, aber entscheidenden Satz, lässt sich von der Übermacht des Drumherums nicht beeindrucken, benutzt das »Zauberwort« und, siehe da: Er hat freien Zugang zu dem, was in der Tiefe verborgen ist. Ali Baba erlauscht sich das »Sesam, öffne dich!« aus einer sicheren Distanz. Er hat sich gleichsam auf eine Metaebene (Baum) gerettet und kann von dort aus seine Beobachtungen machen. Nach dem »Zauberwort« öffnet sich ihm das Geheimnis des Berges, und er steht – tief beeindruckt – vor der Fülle der verborgenen Schätze. Der unzugänglich erscheinende Berg tut sich auf. Um an die scheinbar unzugängliche potenzielle Komplexität der ratsuchenden Person zu gelangen, damit sich auftut, welche Schätze in der Tiefe der Person verborgen sind, was gleichsam ihr Geheimnis ist, bedarf es – im übertragenen Sinn des Märchens – eines Schlüsselsatzes als »Sesam, öffne dich!« (nicht eines Zauberns!). Dieser muss (nach dem Märchen) erlauscht und exakt angewandt werden.

2.2 Der mäeutische Impuls Der Clou des Kurzgesprächs hängt an einem zweiten Nagel: dem mäeutischen Impuls. Dieser Impuls erwächst einerseits aus dem erlauschten Schlüssel und andererseits aus der von Sokrates entwickelten Methode der Mäeutik.

38 Die von Enno Littmann (1953, S. 796) gewählte Übersetzung »Sesam, öffne dein Tor!« wurde durch die allgemein geläufige Formulierung der Zauberformel ersetzt: »Sesam, öffne dich!«

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2.2.1 Der Schlüssel Konflikt und Kommentar

Ohne die sichere Distanz einer Metaebene lässt sich das Schlüsselwort nicht erlauschen. Neben der präsenten, zugewandten, direkten Begegnung ist die ratsuchende Person gehalten, ja genötigt, sich auf eine Sonderebene ihres Gehirns zu begeben, um von dort aus die akustisch ablaufenden Sprachsignale zu beobachten und den Schlüssel zu erfassen. Die vorherrschende Aufmerksamkeit wird sich – wie gewohnt – auf das vorgetragene Anliegen konzentrieren. Wenn es jedoch gelingt, diese Aufmerksamkeit vom Anliegen abzuziehen und auf die begleitenden Kommentare zu richten, nähert sich die angesprochene Person dem Schlüssel. Im Zugangsbereich des Seelsorgeangebots auf dem Stuttgarter Kirchentag waren Texttafeln mit Konfliktschilderungen aufgehängt; an einem dieser Texte will ich die Unterscheidung von Konfliktschilderung und Kommentar aufzeigen: »Also, eigentlich dreht sich in letzter Zeit alles um meine Schwiegereltern. Sie mischen sich ständig ein, wissen immer alles besser. Besonders, was die Erziehung von unserem Sohn angeht. Das ist doch unsere Sache! Und dann geraten mein Mann und ich aneinander, weil er seinen Eltern nicht mal die Meinung sagt und mir sogar in den Rücken fällt. Dauernd gibt es Stress deswegen. Ich hab es so satt.« (Christine S., 33 Jahre)39

In der vorgetragenen knappen Zusammenfassung des Defizits, mit dem sich dieser Mensch herumschlägt, sind ein oder mehrere erläuternde oder bewertende Kommentare eingestreut. Konfliktschilderung und Kommentare lassen sich für ein geübtes Ohr mühelos auseinanderhalten:

39 Es handelt sich um konstruierte Fälle, um mögliche Problemfelder aufzuzeigen; Name und Alter sind zufällig gewählt.

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Also, eigentlich dreht sich in letzter Zeit alles um meine Schwiegereltern. Sie mischen sich ständig ein, wissen immer alles besser. Besonders, was die Erziehung von unserem Sohn angeht. Das ist doch unsere Sache! Und dann geraten mein Mann und ich aneinander, weil er seinen Eltern nicht mal die Meinung sagt und mir sogar in den Rücken fällt. Dauernd gibt es Stress deswegen. Ich hab es so satt. Die (kursiv gesetzten) bewertenden Kommentare offenbaren der angesprochenen Person die Art und Weise, wie die ratsuchende Person sich »ausdrückt«; dort spricht sie am deutlichsten ihre »eigene Sprache«. Wenn die angesprochene Person also die ratsuchende Person sprachlich unmittelbar erreichen möchte, wird sie gut daran tun, sich der »Vokabeln« aus den Kommentaren der ratsuchenden Person zu bedienen. In diesen bewertenden Kommentaren verbirgt sich der »Schlüssel«, das heißt, Wörter, die (im Wortlaut) helfen können, sich dem aktuellen Geheimnis der ratsuchenden Person zu nähern, im besten Fall, sie dazu zu bewegen, ihr die ihr selbst verborgenen Schätze zugänglich zu machen. Aus den Kommentaren bieten sich als Schlüsselwörter an: Also, alles dreht sich Doch unsere Sache Hab es so satt. Das Geheimnis lässt sich jedoch nicht einfach mit diesen Wörtern »knacken«, vielmehr gilt es, die ratsuchende Person mithilfe dieser Wörter an ihre geheimen Schätze heranzuführen, auf dass sie einen Zugang zu ihnen findet, um dann selbst zu entscheiden, was und wie sie damit leben will. Bevor diese Vorgehensweise im Einzelnen beschrieben wird, zunächst eine zweite Abstinenzregel: Das Erschließen der verborgenen Schätze ist das Anliegen der angesprochenen Person, die gefundenen Schätze sind für sie ohne Bedeutung, so verlockend sie glänzen! 76

Die den »Konflikt« begleitenden Kommentare haben auf den ersten Blick meist eher etwas Beiläufiges an sich und mit dem vorgetragenen Defizit speziell nichts zu tun: »alles dreht sich«, »unsere Sache«, »so satt« – das passt als Kommentar durchaus zu anderen Konfliktschilderungen. Also erübrigt sich der Versuch, diese Kommentare in Beziehung zu der jetzt präsentierten Konfliktkonstellation zu setzen; sie haben als Äußerungen der ratsuchenden Person einen Wert an sich, oder für sich. Ein weiteres Beispiel: »Also, das muss ich Ihnen sagen: Gestern, als ich zur Arbeit kam … Und vorgestern war das ähnlich … Und heute platzt mir der Kragen, und ich denke, das musst du unbedingt mal M sagen.«

In diesem Beispiel sind der einleitende Satz (»Also, das muss ich Ihnen sagen«) und der Schlusskommentar (»das musst du unbedingt mal M sagen«) zu filtern und zu merken. Durch das bewusste Weglassen »des Problems« durch Pünktchen, das durch die Fantasie mühelos und vielfältig ausgefüllt werden kann, ist die Wahrnehmung leicht auf diese Kommentarsätze zu lenken.40 Neben der Konzentration auf den oder die Kommentare eines präsentierten Defizits ist die Aufmerksamkeit der angesprochenen Person, die vor der Aufgabe steht, das »Sesam, öffne dich!« zu äußern, auf folgende »Besonderheiten« der Sprache der ratsuchenden Person gerichtet – wiederum jenseits des vorgetragenen Defizits: – wiederkehrende/s Wort / Wörter, – ein (vielleicht mehrfach benutztes) Adverb, – eine Füllpartikel. Beispiele: »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wie ich es mache, ist es X nicht recht. Sie sagte mir gestern, ich soll Ordnung in der Ablage machen. Ich mache mich daran, sie kommt dazu und macht ein Gesicht, da sehe ich schon, dass ich es ihr nicht recht mache.« 40 Im Trainingsteil (Kapitel 6: Anhang) sind noch weitere Beispiele für das Mit- und Ineinander von Konfliktschilderung und Kommentar.

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Oder: »Endlich komme ich dazu, mich mal um meine Sachen zu kümmern. Schließlich bin ich ja nicht nur ein Arbeitstier. Ich will endlich auch mal als Mensch gesehen werden!«

Das wiederholte Wort »machen« ist im ersten Beispiel kaum zu überhören. Der adverbielle Zusatz »endlich« bzw. »schließlich« im zweiten Beispiel ist vermutlich nicht so leicht herauszufiltern, da die Thematik »menschlich / unmenschlich« als »Problem« einen hohen Reizwert hat, und die Verführung, auf die Zusammenhänge des »Problems« zu achten, ist – aus alter Gewohnheit – äußerst groß; jedoch: Ihr gilt es, widerstehen zu lernen. Im Märchen von Ali Baba ist der Schlüssel ein kompletter Satz. Im Kurzgespräch stehen der angesprochenen Person zunächst nur die aufgenommenen »Schlüsselwörter« zur Verfügung. Daraus gilt es nun einen Satz zu formen und der ratsuchenden Person anzubieten.

2.2.2 Die Haltung der Mäeutik Der zweite Nagel des Clous des Kurzgesprächs beweist seine Kraft, wenn es gelingt, aus den erlauschten Schlüsselwörtern einen »Zaubersatz« zu formulieren. Doch das ist leichter gesagt als getan. Die Haltung der Mäeutik hilft der angesprochenen Person, einen gedanklichen Ansatz für ihre Intervention zu finden. Für den griechischen Philosophen Sokrates († 399 v. Chr.) ist die Mäeutik im dialogischen Prozess ein kommunikatives Element. Sokrates sieht und empfindet sich im Gespräch in der Rolle einer Hebamme. Gleich ihr liegt ihm daran, etwas »zur Welt« zu bringen, in seinem Fall die »Wahrheit« hinter der »Meinung«41 seines Gegenübers. 41 »Meinung« = (dürftige)  Übersetzung des griechischen Wortes δόξα, Grund­wort δοκείν = (er)scheinen, davon δοκει μοι = es (er)scheint mir, daher meine »Meinung«.

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Die Erkenntnis des Sokrates »Ich weiß, dass ich nichts weiß« qualifiziert ihn im Urteil des Delphischen Orakels als den »weisesten Menschen«. Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn die Grundannahme der sokratischen Weltsicht konsequent zu Ende gedacht wird. Der Weisung des Delphischen Orakels (»erkenne dich selbst«) folgend (er)kennt Sokrates, dass er (und so auch alle anderen Menschen) seine ganz eigene Perspektive auf die ihn umgebende Weltwirklichkeit hat. Wie ihm die Weltwirklichkeit erscheint, ist seine »Meinung« von der Welt und ist ursächlich mit seiner Existenz verbunden. Diese seine »Meinung« entspricht jedoch nicht der wirklichen Wahrheit, sie ist stets gebrochen durch die Vorgabe, wie die Weltwirklichkeit »ihm erscheint«. Jeder Mensch versucht mit seiner »Meinung« die Weltwirklichkeit zu erfassen, jedoch hat niemand mit seiner »Meinung« die wahre Wirklichkeit für alle Menschen erfasst. Mit seinen mäeutischen Fragen will Sokrates die in der »Meinung« des Gegenübers enthaltene Wahrheit der Weltwirklichkeit zur Welt bringen. Wer dem Rat des Delphischen Orakels folgt, wird in seinem inneren Dialog um den relativen Wahrheitsgehalt seiner »Meinung« wissen. Im inneren Dialog wird die eigene »Meinung« beständig mäeutisch hinterfragt; das ist die Voraussetzung des Denkens. Wer fähig ist, so mit sich selbst zu sprechen, bewahrt sich sein Gewissen. Der innere mäeutische Dialog wie auch der mäeutische Dialog mit einem Gegenüber ist nicht ergebnisorientiert, etwa in dem Sinne, dass man bei dieser oder jener »Wahrheit« ankommen müsste. Das leitende Movens dieser Dialoge ist die Selbstkongruenz, die keine offensichtlichen oder verdeckten Widersprüche duldet. In einem offenen, vertrauensvollen, gut meinenden Gespräch lässt sich durchsprechen42, über welche Art des »So (er)scheint es mir« mein Gegenüber und ich verfügen. Aus der sich daraus ergebenden Übereinstimmung wächst eine wechselseitige Solidargemeinschaft auf der Grundlage gleicher Augenhöhe. So entsteht eine kleine geteilte Weltwirklichkeit.

42 Vom griechischen Wort διαλέγεσϑαι = etwas durch-sprechen

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Diese Impulstechnik ist vergleichbar der Tätigkeit einer Hebamme. Die mäeutische Impulstechnik will der »gebärenden« ratsuchenden Person helfen, ihr »Kind« (= potenzielle Komplexität) zur Welt zu bringen. Die angesprochene Person will der ratsuchenden helfen, aus ihrer inneren »Sage« etwas auf der Oberfläche ihrer Sprache zur Welt zu bringen, woraus dann konkrete andere Ideen für ihre Lebensgestaltung erwachsen. Von den »Schlüsseln« zum »Zaubersatz«

Aus den gemerkten Schlüsselwörtern wird ein mäeutischer Impuls entwickelt. – Die Fragepartikel (bis auf »wieso«, »weshalb« und »warum«, die Begründungsimpulse setzen) stehen am Anfang, – darauf folgt ein Satzgefüge aus den Schlüsselwörtern formuliert, – und am Ende steht kein Fragezeichen, sondern ein Punkt, heißt: Die Stimme wird nicht auf‌fordernd angehoben, sondern gesenkt. So wirkt der Schlüsselsatz wie ein Aussagesatz, dem die ratsuchende Person sich stellen kann. Der Schlüsselsatz verliert seinen Charakter als eine zu beantwortende Frage und wirkt stattdessen wie ein Impuls, eine Tür aufzustoßen, hinter der sich die geheimnisvollen Schätze der ratsuchenden Person, ihre potenzielle Komplexität offenbart. Kurze Beispiele: »Hoffentlich wird mir das gelingen …« »Worauf_ hoffen Sie↓.« »Ausziehen will ich eigentlich nicht …« »Wohin_ zieht↓ es Sie↓.« »Meinen Hund will ich natürlich mitnehmen …« »Wie͜ ist ihre_ Natur↓.« »Vermutlich habe ich etwas übersehen …« »Wieviel͜ Mut͜ werden Sie brauchen↓.«

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»Das ist sicherlich nicht einfach …« »Worin͜ sind Sie͜ sich͜ sich͜er↓.« »Ich kümmere mich um meine Mutter, soweit mir das möglich ist …« »Wie_ weiten_ sich Ihre Möglichkeiten↓.« »Ich mache das, sobald ich die Zeit dazu habe …« »Was ͜ macht die_ Zeit ͜ aus Ihnen↓.« »Na, wie geht’s denn so↓.« »Ach, _frag mich was Leichteres _↓.« »Was_wird dich↓_ _erleichtern↓.«

Im letzten Beispiel hat die angesprochene Person das Ziel vor Augen, dass die ratsuchende Person über ihren Sprach- und Verstehens­ horizont von »l-e-i-c-h-t« nach-denkt und ihn (vermutlich) erweitert, was unweigerlich sein Selbstverstehen in seiner Situation verändert, also seine einschränkenden Grenzen sprengt. Über das Sprachspiel »leicht«/erleichtern eröffnet sich der ratsuchenden Person eine neue Sicht ihrer Situation. Eine weitere Veranschaulichung:

Sie hatte um das Gespräch gebeten. Nachdem die ratsuchende Person ausführlich die desolaten Zustände in ihrer Abteilung geschildert hat, endigt sie mit: »Jetzt muss endlich eine Entscheidung her↓!« Die angesprochene Person filtert und merkt sich: »jetzt« und »endlich«, formt aus »jetzt« den Indikativ Futur und aus »endlich« das Verb »enden« und antwortet ruhig nach einer kleinen Pause, ohne ein Wort besonders zu betonen: »_ _ Wo͜ wird͜ Ihre͜ Entscheidung͜ enden↓.« Sie beobachtet, wie die ratsuchende Person Blick und Kopf senkt, dann zur Seite schaut, wieder den Kopf senkt, dann langsam zu nicken beginnt, schließlich den Kopf und Blick erhebt, dem Gegenüber in die Augen schaut und dann sehr bedächtig sagt: »Das wird hart werden↓. Für alle↓. Auch für mich↓. An einem Stellenabbau geht kein Weg vorbei. Aber das Wichtigste↓: Nur͜ mit͜ einer͜ neuen͜ Leitung.͜ Das͜ werden͜ wir͜ fordern↓.«

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Auch in diesem Beispiel wird deutlich, wie gut gewählte mäeutische Impulse den Raum für frische Gedanken freimachen. Mäeutische Impulse wollen die ratsuchende Person ins Nachdenken und Andocken an den inneren Sinndialog bringen; sie sind prinzipiell am »Morgen« orientiert und zielen auf eine Veränderung in der Zukunft.

Wie treffend ein mäeutischer Impuls gewirkt hat, lässt sich an den non- und paraverbalen Reaktionen von der ratsuchenden Person erkennen: – nachdenkliches Schweigen – leichtes Kopfnicken – Bewegung in der Köperhaltung (Blick) – ruhige, basale Stimme Ein einsilbiges Beispiel43: Die ungewollt schwangere Frau: »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« (Pause) Berater: »Sagen Sie _ _: Was wissen Sie↓.« (Pause) F: »Ich will nicht töten.« (Pause) B: »Was will ich leben↓.« (Pause) F: lange Pause »Darüber denke ich das erste Mal nach.« (Pause) B: »Erst mal nachdenken_ ↓« (Pause) F: »Ja, erst mal nachdenken. _ Und dann entscheiden. _ Ich brauche Zeit, und die hab ich nicht, ich bin in der 11. Woche.« (Pause) B: »Wofür haben Sie Zeit in der 11. Woche↓.« (Pause)

43 Verbatim aus meiner Tätigkeit in der Schwangerschaftskonfliktberatung gem. § 218. Konflikt und Kommentar sind kaum zu trennen; mir blieb, mich an die von der Frau benutzten Wörter zu halten.

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F: »Ich brauche Zeit für mich allein. Die einen sagen: abtreiben; die andern: behalten. Das hilft mir nicht. Es geht um mein Leben. Wie ich leben will. Und dabei kann mir niemand helfen.« (Pause) B: »Wie will ich mein Leben leben↓.« F: »Mein Leben lebe ich, _ und niemand anders!« F bedankte sich kurz und ging.

In diesem von mir in den 1980er-Jahren schriftlich fixierten Gesprächsprotokoll lässt sich die Wirkweise des Kurzgesprächs nachvollziehen:

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll« B: »Sagen Sie _: Was wissen Sie↓.«44 Weder ich noch irgendjemand anderes kann voraussagen, was jetzt kommt: F: »Ich will nicht töten.« B nimmt die Aussage »ich will« auf und wandelt die doppelte Verneinung »nicht töten« in »leben«: B: »Was will ich leben↓.« Dieser mäeutische Impuls geht in die Tiefe. Das wird für B erkennbar an der langen Pause und einem fast unsichtbaren leichten Kopfnicken von F. F: lange Pause »Darüber denke ich das erste Mal nach.« Wieder nimmt B den Wortlaut (die »Vokabeln«) von F und setzt durch die geringfügige Veränderung einen behutsamen Impuls: B: »Erst mal nachdenken _ ↓« Die Antwort bestätigt die Sinnhaftigkeit dieses Impulses: F: »Ja, erst mal nachdenken. _ Und dann entscheiden. _ Ich brauche Zeit, und die hab ich nicht, ich bin in der 11. Woche.« Der Kontakt zum geheimen Ich steht und wird in eigene Sprache umgesetzt: »erst mal«, »nachdenken«, »entscheiden«, »brauche Zeit«. Wieder hält sich B an den Wortlaut von F und bezieht »Zeit« als Chance (nicht als Bedrohung) ein:

44 Der mäeutische Impuls (aus der Sprache von F entnommen) vermutet als »Schlüsselwort« »wissen« und »sagen«.

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B: »Wofür haben Sie Zeit in der 11. Woche↓.« Jetzt hat F sich wieder zur Hand, findet ihre eigene Sprache und kann selbstbestimmt verfügen: F: »Ich brauche Zeit für mich allein. Die einen sagen: abtreiben; die andern: behalten. Das hilft mir nicht. Es geht um mein Leben. Wie ich leben will. Und dabei kann mir niemand helfen.« Der folgende Wortwechsel nimmt die stärkste Selbstaussage auf: B: »Wie will ich mein Leben leben↓.« F: »Mein Leben lebe ich, _ und niemand anders!« F bedankte sich kurz und ging.

Diese Beispiele mögen den Clou des Kurzgesprächs beschreiben, sie ersetzen jedoch nicht die selbst erlebte Praxis. Deshalb ist aus meiner Sicht eine praktische Ausbildung im Kurzgespräch neben der Lektüre dieses Buches unbedingt zu empfehlen und für die Anwendung des Kurzgesprächs unerlässlich.

2.3 Die Steuerungskompetenz Die um Rat angesprochene Person hat die Möglichkeit und die Aufgabe, das Gespräch zu steuern: – durch den Verzicht, auf das Defizitäre einzugehen, – durch das entschleunigte Sprechen, – durch das Andocken an der Sprache der ratsuchenden Person, – durch die wiederholten mäeutischen Impulse und – durch das Begleiten der ratsuchenden Person, nachdem diese Zugang zu ihrer potenziellen Komplexität gefunden hat. Das wird ihr gelingen, sofern sie ein solches Gespräch nicht von der UP-Position aus führt und sich nicht in das IN der ratsuchenden Person drängt, sondern mit ihrer Haltung deutlich macht, dass sie der ratsuchenden Person als Menschen in ihrer Sprachwelt begegnet, sehr genau auf sie hört, mit ihr redet und mit ihr ihre Sehnsucht nach Leben teilt.

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2.3.1 Die empathische Haltung Der Nährboden für die kommunikative Kompetenz ist die Haltung der angesprochenen Person. Die spontane Haltung im Kurzgespräch ist beim Gegenüber meist bestimmt – von negativen Gefühlen und Vorurteilen: »Passt mir jetzt nicht! Ist mir lästig. Ich kann da eh nichts machen.« oder – vom selbstgefälligen Helfersyndrom: »Zeig mal her, wir regeln das schon …« Auf solche Haltungen folgt mit Sicherheit das blöde Gefühl der enttäuschten Hilf‌losigkeit. Stattdessen hält sich die angesprochene Person in ihrer Grundstimmung an die Einstellung: »Ich will und werde dir ein Gegenüber sein, das sich dir zur Verfügung stellt, damit du wieder zu dir findest.«

Diese Einstellung kann auch als sich verstärkendes Feedback von der ratsuchenden Person im Wechselgespräch des Kurzgesprächs für die angesprochene Person wachsen; denn mit dem Gelingen des Kurzgesprächs verstärkt sich wechselseitig der Eindruck, dass Leben wieder lohnt. Darum charakterisiere ich – etwas zugespitzt – die Grundhaltung folgendermaßen: – Hoffnung beleben – statt Frust ergründen, – Ressourcen fördern – statt Defizite benennen, – Gesundes stärken – statt Krankes bekämpfen, – orientieren – statt problematisieren, – mehr vom »anderen« – statt mehr vom »Gleichen«, – auf das Gelingen aus sein – statt verkomplizieren. Stimmt die Grundhaltung nicht, wird jedes Kurzgespräch scheitern; ist der angesprochenen Person die oben skizzierte Grundhaltung zu eigen, werden ihre Fertigkeiten stimmig wirken.

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Neben der Fertigkeit, – die Passstellen zum Andocken bei der ratsuchenden Person aufgrund einer entsprechenden Filter- und Merkleistung des Gehirns zu erkennen und präsent zu halten, – in ihrer verbalen, non- und paraverbalen Ausdrucksfähigkeit der ratsuchenden Person in einem Kurzgespräch eine kompetente kommunikative angesprochene Person zu sein und – mäeutisch so mitzuwirken, dass sich die Wirklichkeitskonstruktion für die ratsuchende Person in der gemeinsamen Drift dahingehend gestaltet, dass die ratsuchende Person die Sackgasse / das Kreisen / die Denk- bzw. Handlungsblockade verlässt, ist die Einstellung und Haltung vom Gegenüber entscheidend für das Gelingen eines Kurzgesprächs: – Wille zur Ruhe, – Mut zur Tiefe, – Raum zum Nachdenken. Wille zur Ruhe

Die meist nur begrenzt zur Verfügung stehende Zeit und auch die Einmaligkeit des Kurzgesprächs legen es nahe, alle Gedanken, Interaktionen und Gesprächsabläufe zu beschleunigen, um möglichst »viel« aus dieser Begegnung herauszuholen bzw. in diesem Gespräch zu erledigen. Diese Beschleunigung verstärkt sich bei eher zufälligen »günstigen« Gelegenheiten durch die Wahl des Ortes und des Zeitpunktes sowie mit Bemerkungen wie »Darf ich Sie kurz mal sprechen?« Das Empfinden der angesprochenen Person, dass es mit der Zeit nicht hinkommt, verführt sie oft zur Ungeduld und zum Pfusch. Ruhe in das Kurzgespräch einzubringen, ist zunächst ausschließlich ihre Aufgabe. Es ist eingeübt, erscheint höflich und normal oder ganz selbstverständlich, auf eine Anfrage unmittelbar zu antworten: »Darf ich Sie kurz mal sprechen↑?« »Ja↑, bitte↑, worum geht’s denn↑?«

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Diese unmittelbare Antwort ist als eine prompte Reaktion denkbar, wird vermutlich häufig gegeben und wirkt nicht ungewöhnlich. Mit der schnellen Rückgabe gibt die angesprochene Person jedoch das Tempo vor: Auf eine Frage wird sofort geantwortet. »Darf ich Sie kurz mal sprechen↑?« _ _ »Ja,_ bitte↓. _Worum_ geht’s Ihnen↓.«

Die eingefügten Pausen, die Verschiebung der Betonung und das Senken der Stimme stiften eine andere Atmosphäre: Mit der entschleunigten Antwort bringt die angesprochene Person Ruhe ein, Ruhe zum Nachdenken und Sich-Zeit-Lassen mit der Antwort. Gleich zu Beginn des Gesprächs wird eine Weiche gestellt, die – bildlich gesprochen – den Gesprächszug von der Hochgeschwindigkeits­ trasse auf das ruhige Gleis des Nahverkehrs ablenkt. Diese Weiche wird von der angesprochenen Person umgelegt, nicht elektronisch gesteuert, vielmehr im Handbetrieb, mit eigener Kraft und entschlossenem Willen: Du und ich – wir brauchen RUHE, wenn du an ein für dich gescheites Ziel kommen willst. Die angesprochene Person wird noch stärker entschleunigen wollen, wenn es das Sprachsignal der ratsuchenden Person wahrgenommen hat und dort präzise andocken will: »Darf ich Sie mal kurz sprechen↑?« _ _ _ »Ja,_ bitte↓._ _ Worüber↓_ dürfen Sie↓ _ sprechen↓.«

Da die angesprochene Person nicht wissen kann, was sich im Einzelnen hinter den Wörtern dieses formelhaft wirkenden Satzes für die ratsuchende Person verbirgt, bietet die angesprochene Person mittels der entschleunigenden Pausen der ratsuchenden Person die Gelegenheit, in Ruhe darüber nachzudenken, was sie in der Tiefe bewegt. Konstruieren wir dieses Kurzgespräch einen Sprechvorgang weiter: »Ich weiß nicht._ _ Ich weiß nicht, _ob ich Ihnen alles sagen darf↓.«

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Ohne dass es voraussagbar wäre: Hier erkennen wir, dass die ratsuchende Person zur Ruhe und ins Nachdenken gekommen ist. In ihrem inneren Dialog ist noch nicht ausgestanden, wie offen und rückhaltlos die ratsuchende Person sich äußern soll und kann; möglicherweise fehlen der ratsuchenden Person auf der Oberfläche der Sprache (noch) die Wörter für ihre innere »Sage«. Wenn die ratsuchende Person sich überhaupt an diese »Sage« herantraut, dann nicht im Schweinsgalopp, sondern ruhig und entschleunigt, gestützt und gesichert durch den Willen zur Ruhe, die die angesprochene Person bewirkt. Das ist gewiss nicht mit einer einzigen Intervention am Anfang des Kurzgesprächs getan. Vielmehr wird die angesprochene Person bei jedem ihrer Sprechakte während des Dialogs auf die angemessene Entschleunigung zu achten haben. Dabei schaut die angesprochene Person nicht verstohlen auf eine äußere oder innere Uhr, um die passenden Sekunden abzuwarten. Es geht auch nicht um einstudierte Schauspielerei. Ist die angesprochene Person in ihrer inneren Haltung davon überzeugt, dass ein bündiges Miteinander-Beraten im Kurzgespräch möglich ist, sofern miteinander und in Ruhe kommuniziert wird, wird sie in sinnstiftender Übereinstimmung mit dem von ihr Gesagten betonen und pausieren. Und ein weiterer Umstand wird die angesprochene Person dazu bringen, ganz natürlich zu entschleunigen: Ihr Gehirn braucht die Zeit, um die von der ratsuchenden Person empfangenen akustischen und paralinguistischen Signale zu filtern, sich zu merken und in einen andockenden Sprechakt zu formen. Beispiel: »Ich halt das nicht mehr aus. Das macht mich ganz krank!« Gefiltert und gemerkt: »halt«, und »ganz«. Daraus geformt: A: _ _»Woran_ halten Sie sich↓.« Oder: A: _ _»Was macht Sie_ ganz↓.«

Angenommen, es gelingt, Zug um Zug in dieser kommunikativen Spirale mit der ratsuchenden Person Ruhe zu bewahren, dann kehrt spätestens beim dritten Sprechakt auch bei der ratsuchenden Person Ruhe ein. 88

Jedoch: Das ist leichter gesagt als getan. Denn die ratsuchende Person steht unter Druck, will etwas erledigen, eine schnelle Antwort, einen kurzen Tipp. Und gegen diese angespannte Dynamik kommt die angesprochene Person nur an, wenn sie klar entschlossen, redundant beharrlich und freundlich bestimmt für Ruhe eintritt. Durch diese ihre Haltung spürt die ratsuchende Person: – Der Mensch stellt nicht auf Durchzug, – der will was mit mir, – der will mich auf Augenhöhe, – der nimmt mich ernst. Es entsteht eine Nähe zwischen der ratsuchenden Person und der angesprochenen  – jenseits derer, die durch vertrauliche Intimität qualifiziert ist: Sie verbindet die Kraft der Ruhe, die ihrem kurzen Gespräch menschliche Würde verleiht: Ein starkes empathisches Zeugnis. Dieser besonderen Empathie im Kurzgespräch werden wir in den beiden folgenden Abschnitten wieder begegnen. Mut zur Tiefe

Einem kurzen Gespräch traut man wenig Tiefe zu. Die Umstände von Ort und Zeit eines Kurzgesprächs scheinen es nahezulegen, sich auf einzelne, wenige Aspekte zu beschränken und weitergehende Analysen zu vermeiden. Auch sollten Gefühle möglichst nicht stimuliert werden, denn wenn erst Tränen fließen, erweist sich die Situation endgültig als unzureichend. Beispiel: »Gut, dass ich Sie treffe. Vielleicht können Sie mir ja helfen. Ich komm mit der Kollegin X einfach nicht klar.« Drei schnell hingeworfene Sätze, die beim Gegenüber in der Situation und so, wie sie sein Ohr akustisch erreichen, den Eindruck erwecken: Die ratsuchende Person weiß, dass ich die problematische Kollegin X kenne, aber mich gut mit ihr arrangiert habe. Die rat­suchende Person will einen Tipp – sich »was abgucken bei mir«.

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»Ich fahre ganz gut damit, dass ich Gespräche mit ihr stets _vorher_ verabrede, ihr auch mein Anliegen nenne und Sie dann stets als Erste reden lasse.« »Und Sie meinen, das hilft↑?« »Ja, ich fahre gut damit↓.« »Na, _das kann ich natürlich auch so machen, aber_ ich glaube, _sie hat was gegen mich _↑.« »Was soll sie denn gegen Sie haben↑?« Und nun beginnt das Gespräch zu kreisen und dauert. Die angesprochene Person wird ungeduldig und sucht krampfhaft nach einem Ende, das nicht nach »abwürgen« klingt. Ohne die akustischen Signale zu filtern, nachzudenken und zu pausieren, lässt die angesprochene Person sich in das Ping-Pong ziehen. Und erst, als ihr bewusst wird, dass ihr in den sich daraus ergebenden wiederkehrenden spiralen Kommunikationsschleifen leicht übel wird wie in einem Karussell, sucht die angesprochene Person verzweifelt nach einem rettenden Ausweg.

Es wirkt auf den ersten Blick kontraproduktiv, sich in einem solchen Gespräch um Tiefgang zu bemühen: Wie soll das denn möglich sein? Und: So viel Zeit hab ich nicht! Und: Was wird es schließlich bringen? Tatsächlich gehört Mut dazu, in einem Kurzgespräch auf Tiefe zu drängen, und zwar deshalb, weil nicht vorhersagbar ist, an welchen Abgründen die ratsuchende Person und die angesprochene Person unversehens stehen werden, und weil die angesprochene Person beim Gang in die Tiefe (von der angesprochenen Person eingebracht) die ratsuchende Person nicht auf halber Strecke stehen lassen kann, ohne unmenschlich zu sein, sondern sie menschlich-solidarisch zu begleiten hat, bis die ratsuchende Person wieder »oben« ist. Für diesen Gang in die Tiefe sind die Hoffnungssignale und die Schlüsselwörter die entscheidenden Andockstellen. Ich nehme das Gespräch von oben wieder auf: »Gut, dass ich Sie treffe. Vielleicht können Sie mir ja helfen. Ich komm mit der Kollegin X einfach͜ nicht͜ klar.«

Herausfiltern und merken kann sich die angesprochene Person (z. B.): »vielleicht«, »helfen« und »einfach«. 90

»Vielleicht« ist ein typisches Hoffnungssignal; es weist auf eine andere Möglichkeit in der Zukunft. Es liegt nun an der angesprochenen Person, so zu handeln, dass die ratsuchende Person mehr ihrer in ihr verborgenen Möglichkeiten nutzt. Die angesprochene Person bleibt stehen, stellt sich Auge in Auge gegenüber und spricht mit ruhiger Stimme: »_ _Was͜ wird’s͜ vereinfachen↓_, Frau Y.«

Das »vielleicht« wird vom Gegenüber in den Indikativ Futur gewandelt, und die angesprochene Person verweist die ratsuchende Person auf ihre Ressource »einfach«. Wenn dieser Sprechakt intermodal kongruent vom Gegenüber eingebracht wird, erhält die ratsuchende Person das Angebot, zur Ruhe zu kommen und – wenn die rat­suchende Person denn will – auch in die Tiefe zu gehen. In der Tiefe des inneren Dialogs ist von der ratsuchenden Person so manches Szenario durchdacht und durchgespielt und auch verworfen worden. Jetzt ist sie eingeladen, sich in der Tiefe zu öffnen – dann mit Blickkontakt und zaghafter Stimme: »Ich hab was gegen Lesben↓._ Tut ͜ mir͜ Leid↓._ Das ͜ ist͜ so↓. _ _Ich kann mich da nicht ändern↓.« Ein Lächeln huscht über ihre Lippen. »_ _ Einfach ͜so↓.« »Ja, so einfach ist das. _ _ Und auch wieder nicht. Ich kann nicht über meinen Schatten springen.« »Was͜ verschattet _ Sie↓.« »Es ist der Schatten meiner streng-religiösen Erziehung. Den Schatten werde ich irgendwie nicht los↓.« »Wann _ werden _ Sie sich aus diesem Schatten lösen ↓_ _, Frau Y.« »Wenn ich innerlich dazu bereit bin↓._ Ja._ _ An der Stelle habe ich meine Therapie abgebrochen, voriges Jahr. _ _ Aber ich kann wiederkommen, hat die Therapeutin gesagt. Wenn ich da ran will↓. _ _Ich weiß, dann wird sich vieles bei mir lösen↓._ _ _ Danke, das hat mir geholfen.«

Die »Sage« des inneren Dialogs ist hier zu Sprache geworden. Die angesprochene Person hat sich nicht in das »Problem« gedrängt, 91

sondern hat vielmehr das Zeichen der Hoffnung (»vielleicht«) aufgenommen und zunächst »einfach«, dann »Schatten« und schließlich »los« als »Sesam, öffne dich!« praktiziert. Auf der Straße treffe ich eine ehemalige Klassenkameradin. Wir haben uns etwa ein Jahr nicht gesehen und gesprochen und setzen uns in ein nahes Straßencafé: »Wie geht’s so bei euch↑?« »Ach, frag mich etwas Leichteres. Bei uns ist der Wurm drin! Mein Mann … Meine Kinder …. Meine Mutter …« Es will schier kein Ende nehmen, aber irgendwann geht ihr die Luft aus: »Was _ wurmt _ dich,_ Helen↓.« Ein langes Schweigen, dann: »Es wurmt mich, dass ich ein Feigling bin↓. Ja: _ Ich_ bin _ feige! Zu feige, um alles hinzuschmeißen!↓«

Das Wort »Wurm« aus dem Kommentar des Prologs hatte ich mir gemerkt. Und während sie ihr Konfliktkarussell kreisen ließ, arbeitete mein Gehirn: Ich überlegte mir meinen Antwortsatz sehr genau und beugte mich ein wenig vor, wie bei einem konspirativen Gespräch, hielt Blickkontakt mit ihr und begann zu ihr mit ruhiger, tiefer Stimme zu sprechen. Das Wort »feige« war kaum zu überhören. Es ist ein abschätziges Wort. Das positiv komplementäre Wort dazu ist »mutig«. So wie ein halb leeres Glas ebenso gut ein halb volles Glas geheißen werden kann, nahm ich »feige« auf, verwandelte jedoch die Bewertung ins Positive: »Wie wirst _ du _ mutig, Helen↓.« »Mut haben Männer. Eine Frau darf nicht mutig sein – so bin ich erzogen worden. Aber das ist Quatsch. Ich werde ihnen allen meinen Mut beweisen. Meiner Mutter, dass ich mich von ihrem Frauenbild verabschiede. Meinem Mann, dass ich seine Frauenanmache satthabe. Und den Kindern, dass ich ohne ihren Vater aufrichtig leben will. Ich hab das alles schon lange in mir. Auch den Mut, das umzusetzen. Und jetzt tu ich’s auch. Danke. Du hast mir meinen Mut geweckt!«

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Sich mit einem Menschen über den Lebensmut auszutauschen, ist ohne Frage erquicklicher, als sich lamentierend über die wurmfaule Familienkiste zu unterhalten. In unserem Dialog (Mut / mutig / zumuten / ermutigen / vermuten) tasteten wir beide unseren inneren Bereich der »Sage« ab, sprachen behutsam zueinander und waren uns sehr nahe: auf gleicher Höhe, in gleicher Tiefe, mit gleichem Raum, mit gleicher Achtsamkeit. Bündig beraten speist sich aus empathischer Solidarität. Raum zum Nachdenken45

Kurzgespräche werden gesucht, weil die ratsuchende Person eine Frage hat, auf die sie gern eine Antwort vom Gegenüber hätte. – »Meinst du, ich sollte …?« – »Glauben Sie, dass …?« – »Hast du eine Idee, wie …?« – »Kannst du mir mal sagen, was …?«

So, wie diese Fragen gestellt sind, wird eine schnelle Antwort erwartet, als ob die angesprochene Person diese schon parat hätte und antworten könnte, ohne groß nachzudenken. Nun sind »fragen« und »antworten« Bestandteile jeder Kommunikation, wobei jedoch die Art zu fragen über die Art des Antwortens entscheidet. Auf die obigen Fragen von der ratsuchenden Person gibt es eine einfache und schnelle Antwort: »Ja« oder »Nein« – und daran anschließend bitte eine stichhaltige Begründung. Die Syntax des Satzes lässt keine andere Wahl: Durch das Voranstellen des Prädikats (»Meinst du …« etc.) und durch das Heben der Stimme am Satzende wird der Anschein erweckt, dass in den Gedanken vom Gegenüber bereits die Antwort vorhanden ist und lediglich abgerufen zu werden braucht. Mit Fragen, die nichts anderes zulassen als entweder ein Ja (= Vergewisserung) oder ein Nein (= Verwerfung), wird der Gedankenraum auf diese beiden Möglichkeiten eingegrenzt. Das

45 Vgl. dazu Grochowiak / Heiligtag 2002.

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gilt in umgekehrter Richtung in gleicher Weise. Richtet die angesprochene Person eine so formulierte Frage an die ratsuchende Person, wird ihr Gedankenspielraum auf Ja oder Nein geschlossen oder ausweichend kommentiert: – »Können Sie sich vorstellen …?« – »Hast du schon mal versucht …?« – »Möchten Sie lieber …?« – »Ärgerst du dich über …?« – »Fühlen Sie sich …?«

Fragen dieser Art grenzen die ratsuchende Person auf geschlossene Gedankenbahnen ein und steuern die Drift im kommunikativen Anschluss direktiv auf den vom Gegenüber abgesteckten Gedankenraum: Der ratsuchenden Person bleibt lediglich die Möglichkeit, zuzustimmen oder abzulehnen oder – wegen ihrer guten Erziehung und aus Sorge, die angesprochene Person ja nicht zu verlieren – sich geschmeidig herauszuwinden. Eine zweite, recht häufig anzutreffende Art, wie die ratsuchende Person fragt, tritt ebenfalls im Kurzgespräch auf: – »Wie siehst du das?« – »Was soll ich bloß machen?« – »Wie ist Ihre Meinung zu …?« – »Was würden Sie mir raten?« – »Wer / Was könnte mir da helfen?«

Die so fragende Person möchte beim Gegenüber Wissen, Informationen, Tipps abgreifen, die ihr in ihrer Gedankenwelt nicht zur Verfügung stehen. Diese Fragen lösen beim Gegenüber ein mehr oder minder starkes Unbehagen aus, es sei denn, die angesprochene Person versteht sich selbst als weise Übermutter bzw. weiser Übervater, ausgestattet mit einem schier unerschöpf‌lichen Fundus hilfreicher Ratschläge. Das Unbehagen gründet entweder in der Ahnung oder im Wissen, dass Lebenswissen, generiert aus eigener Lebenserfahrung und über die eigene »Sage« in Sprachworte gefasst, schlicht nicht übertragbar ist. 94

Dieser Frageansatz bringt nichts, was die ratsuchende Person irgendwie weiterbringen könnte, weil er – streng gefasst – lediglich das Informationsbedürfnis vom Gegenüber bedient. Beispiele: – »Wie lange beschäftigen Sie sich schon …?« – »Was weiß deine Familie …?« – »Wie viel Zeit nimmst du dir …?« – »Was hat Sie bewogen …?« – »Wer hat dir gesagt, dass …?« – »Woher wissen Sie …?«

Die ratsuchende Person wird auf solche Fragen, soweit es ihr möglich ist, bereitwillig Auskunft erteilen – schärfer: die ratsuchende Person wird referieren, was sie weiß, ohne groß nachdenken zu müssen. Gleichzeitig suggeriert die Herausgabe möglichst vieler Details und deren Einsammeln durch die angesprochene Person bei der ratsuchenden Person die irrige Erwartung, die angesprochene Person würde daraus eine hilfreiche »Diagnose« (»Problemdefinition«) folgern können und darauf‌hin gewiss einen »Therapievorschlag« (Änderungsansatz) machen oder eine wegweisende Lösung konstruieren bzw. einen guten Rat geben. Die Frage nach dem Warum (Wieso, Weshalb)  ist eine naheliegende Reaktion auf unbegreif‌liche Zusammenhänge, auch und gerade im Kurzgespräch, und zwar besonders dann, wenn eine mögliche Lösung immer tiefer im Problemnebel zu entschwinden droht: – »Warum machen Sie …?« – »Wieso hast du …?« – »Weshalb kannst du nicht …?« – »Warum wollen Sie unbedingt …?«

Die nach dem Unbegreif‌lichen befragte Person wird um ihrer Selbstachtung willen stets einen schlüssigen Begründungszusammenhang ableiten oder das Unbegreif‌liche als unbegreif‌lich rechtfertigen. Diese Gedankenkette kann die ratsuchende Person mühelos abspulen, was sie aber nicht aus dem Problemkarussell herausführt, sondern lediglich die Drehgeschwindigkeit des Karussells weiter 95

antreibt. Oder die ratsuchende Person kann bzw. will den Begründungszusammenhang nicht herstellen und antwortet schlicht: »Das ist es ja eben. Das weiß ich nicht!« Hinter der Frage nach dem Warum verbirgt sich – entweder die Überzeugung, dass die Einsicht in den Ursprung der Probleme notwendig sei, um zu einer Lösung zu kommen (was aber nicht gelingen wird), – oder die Absicht der fragenden Person, der befragten Person »Fehler« der Vergangenheit als Ursache für den »beklagten« Istzustand der Gegenwart nachweisen zu können: »Das ist / war falsch, so ist es richtig!«, – oder die angesprochene Person will herausfinden, wer die Schuld daran trägt, dass es so gekommen ist, wie es ist. Doch auch dieses »Ausfindig-Machen« durch die beratende Person, wer woran wie viel Schuld hat, wird die ratsuchende Person in ihren Begründungszusammenhang einzubauen wissen. Denn niemand lässt bereitwillig zu, als dumm, unbedacht, inkompetent hingestellt zu werden, nicht selbst darauf gekommen zu sein, wo der Hase im Pfeffer liegt, es sei denn, gerade das ist der Sinn der ganzen Übung, nämlich: ein beklagenswertes ahnungsloses Opfer zu sein. »Warum hast du dich überhaupt darauf eingelassen?« »Ich hab mir nichts weiter dabei gedacht.« »Eben. Du hättest nachdenken sollen.« »Ich hab ja nachgedacht, nur das habe ich nicht für möglich gehalten, dass X so gemein sein kann.«

Diese oder ähnliche Schleifen machen deutlich, dass Warum-Fragen keinen Raum lassen für eine kreative Neugestaltung des Lebens.

2.3.2 Die Begleitung Als besonders empathisch wird von der ratsuchenden Person erlebt, wenn sie, nachdem sie Zugang zu ihrer potenziellen Komplexität gefunden hat, behutsam und keinesfalls übergriffig oder pädagogisierend ein Stückchen weiter auf ihrem »anderen« Weg von ihrem 96

Gegenüber begleitet wird. Diese Begleitung ist nicht zwingend notwendig; die angesprochene Person sollte ein feines Gespür dafür haben, wann es stimmig ist, die ratsuchende Person ohne ein weiteres Wort ihrer Wege gehen zu lassen, oder andersherum: Nur wenn die ratsuchende Person, nachdem sie wieder Kontakt zu ihrer Vielfalt gefunden hat, Unsicherheiten zeigt, wie es nun für sie weitergeht, dann ist die angesprochene Person als Begleiterin gefragt. Dabei geht es im Wesentlichen um folgende Anregungen zum Handeln: – erreichbare und lohnende Ziele zu formen, – zu prüfen, ob die notwendigen Ressourcen dafür vorhanden sind, – jetzt als Lösung erscheinende Wege auf ihre Nachhaltigkeit zu kontrollieren. Ziele

Ziele vor Augen zu haben, ist eine ganz selbstverständliche Vorstellung; wenn ein Mensch keine Ziele mehr für sich hat, verliert sein Leben offensichtlich seinen Glanz. Im Kurzgespräch kommen implizit und / oder explizit Ziele zur Sprache, die erreicht werden wollen oder sollen, jedoch so noch nicht erreicht werden können, weil sie als Zielvorgabe unklar, unsauber, eben ungeformt gefasst sind: – »Das geht so nicht weiter.« Ziel: anders weitergehen – »Ich will mir das nicht mehr zumuten.« Ziel: mir was zumuten – »Das ist das Ende vom Lied.« Ziel: ein neues Lied anfangen – »Ich sitze total fest.« Ziel: freisetzen – »Ich mag das nicht mehr hören.« Ziel: mehr anderes hören

Unter dem Eindruck des oft wiederholten Scheiterns ist es naheliegend, dass die ratsuchende Person ihr Ziel nur »negativ« zu formulieren vermag: Die ratsuchende Person spürt und weiß genau, was nicht in Ordnung ist. »Negativ« und »Positiv« bezeichnen in der analogen Fotografie 97

zwei unterschiedliche Zustandsformen derselben Aufnahme. Umgangssprachlich reden wir von der »Kehrseite der Medaille« oder – wie bereits erwähnt – von dem halb leeren oder halb vollen Glas und meinen damit jeweils, dass es auf den Standpunkt ankommt, von dem aus die Wirklichkeit ins Auge gefasst wird. Die angesprochene Person kann mit leichtem Berühren den Ball ins Rollen bringen: – »Wie wird es anders für Sie weitergehen↓.« – »Was willst du dir zumuten↓.« – »Womit fängt dein neues Lied an↓.« – »Was wird Sie freisetzen↓.« – »Wo hörst du mehr vom anderen↓.«

So wird die ratsuchende Person angestoßen, »negativ« in »positiv« umzuformen. Allerdings wird die ratsuchende Person erst dann einen ersten Schritt in Richtung dieser Ziele gehen, wenn sie mit – konkreten, – realistischen und – für die ratsuchende Person attraktiven Inhalten gefüllt sind. Wieder wird die angesprochene Person die notwendigen Anstöße zu geben haben und als kritische Begleiterin darauf achten, ob die ratsuchende Person sich etwas vormacht. »Ich möchte nochmal ganz neu anfangen.«

Was bedeutet das nun konkret für diese ratsuchende Person? Womit anfangen? – Was ist neu? – Wie wird aus »ich möchte« ein »ich will / werde«? – Wozu die Generalisierung »ganz«? In diesen gedanklichen Öffnungen ergeben sich Anregungen, ob das weit gesteckte Ziel realistisch und umsetzbar ist. Die Arbeit an den »kleinen« Zwischenschritten zum »großen« Ziel hin setzt einen Rekalibrierungsprozess46 in Gang, der die ratsuchende Person unterscheiden lehrt:

46 = Ein Werkstück in seinem alten Maß umbrechen und auf ein genaues neues Maß bringen.

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– Was wichtig und was unwichtig ist, – was möglich und was unmöglich ist, – was zentral und was marginal ist, will getrennt und neu bewertet sein. Im Verlauf dieses Prozesses wird der Weg von Scheinzielen zu den wirklichen Zielen immer kürzer, und die ratsuchende Person bescheidet47 sich im Gespräch mit dem Gegenüber auf einen ersten, für sie umsetzbaren und attraktiven Schritt. Dieses Umbrechen und Einrichten auf ein passendes Maß bedürfen einer kritischen, zugleich aber stets freundlichen Führung der angesprochenen Person. Ressourcen

Um ein Ziel zu erreichen, braucht die ratsuchende Person die dazu notwendigen persönlichen Ressourcen. Ob das »Ganz-neu-Anfangen« realisierbar wird, hängt davon ab, ob: – die materiellen Gegebenheiten diesen Schritt decken, – die sozialen Netze die neue Spannung ertragen, – die emotionale Tiefe die Turbulenzen aushält, – das Zukünftige dem bisherigen Selbstbild entspricht, – die kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten den Entscheid tragen. Da die ratsuchende Person meist unsicher ist hinsichtlich einer realistischen Einschätzung ihrer Ressourcen und Handicaps, kommt der Begleitung die kybernetische Funktion zu, sodass die ratsuchende Person das für sie individuell geltende und vorhandene Maß der Kraftquellen erkundet und herausfindet, inwieweit diese aktiviert werden können, um dem Konfliktkarussell zu entkommen und ihrem Leben wieder eine Richtung zu geben. Bei der Nutzung von Ressourcen beschränken sich Menschen gern auf die sich in ihrem Leben bereits bewährten. Besonders in Stresssituationen wird auf die Mittel und Möglichkeiten zugegriffen, 47 »Sich bescheiden« ist nicht das Sich-zufrieden-Geben mit weniger, sondern beruht auf der durch die Begleitung aktivierten Fähigkeit, zu unterscheiden und sich dann entscheiden zu können.

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die aufgrund der erlebten Vergangenheit (scheinbar) verlässlich sind. Vom weiten Feld der vielfältigen »Bodenschätze« wird nur ein kleines Flurstück in Augenschein genommen. Die angesprochene Person kann die ratsuchende Person anregen, sich umzuschauen: – Statt »Das habe ich immer so gemacht.« die Anregung: »Was steht noch in Ihrer Macht↓.« – Statt »Darauf habe ich mich bisher verlassen.« die Anregung: »Worauf werden Sie sich auch einlassen↓.« – Statt »Ich kann einfach nicht anders.« die Anregung: »Wie entfachen Sie sich↓.«

Lösungen

Wird die ratsuchende Person durch die angesprochene Person konsequent dazu angehalten, sich klare und ressourcengestützte Ziele zu erarbeiten, werden sich Veränderungen im Lösungsverhalten ergeben. Die angesprochene Person kann aufgrund ihrer begleitenden Funktion die ratsuchende Person dazu anleiten, auf ihre ineffektiven Lösungsansätze zu verzichten, diese schlicht zu unterlassen. Lösungsansätze werden ineffektiv, wenn immer wieder versucht wird, ein »Problem« mit ein und demselben Lösungsansatz in den Griff zu bekommen. Dabei erscheinen die verschiedenen Versuche besonders für einen Außenstehenden als hoch redundante Variation eines Musters, inklusive der Inversion des Grundmusters ins Gegenteil. Beispiel: Das Kind will abends nicht einschlafen. – »Wenn du still bist und in deinem Bett bleibst, darfst du noch lesen.« – »Wir lassen die Tür auf und machen sie erst zu, wenn wir schlafen gehen.« – »Du bekommst morgen zum Frühstück ein Zimtbrötchen, wenn du jetzt einschläfst.« – »Wenn du dich jetzt nicht hinlegst und schläfst, darfst du morgen nicht zum Geburtstag von Julia.« – »Schlaf jetzt oder du darfst nie wieder fernsehen!«

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Problemorientiertes Lösungsverhalten wird durch seine Zielgerichtetheit auf »das Problem« oft zu einem eigenständigen Pro­ blem, das die ratsuchende Person stärker belastet als das eigentliche Problem: Das Problem (so) lösen zu wollen, nervt, ärgert, macht krank. Problemorientiertes Lösungsverhalten ist zum Scheitern verurteilt, weil es eine Rettung aus dem Problem über das Kurieren eines Symptoms sucht (Watzlawick / Weakland / Fisch 1974, S. 103). Die Anregung zum Handeln ergibt sich für die angesprochene Person erst, wenn die ratsuchende Person erkennen lässt, dass in ihrem inneren Dialog schon vieles erwogen wurde, bisher jedoch nicht in konkretes Handeln umgesetzt werden konnte, da der innere Dialog noch nicht zur Sprache gefunden hat. Erst durch die Erhebung auf die Oberfläche der Sprache wird eine Strukturierung möglich, sofern sich die angesprochene Person als wachsamer Begleiter sekundierend zur Verfügung stellt und sich nicht in die inneren Angelegenheiten der ratsuchenden Person einmischt. Weil und wenn für die angesprochene Person die Lösung eines Problems von der ratsuchenden Person auf der Hand zu liegen scheint, gerät die angesprochene Person in Gefahr, diese der ratsuchenden Person zumindest nahezulegen, wenn nicht gar aufzuschwatzen. Anstrengung und Missmut im Gesicht der ratsuchenden Person sind dann untrügliche Anzeichen für ein bevorstehendes Scheitern. Löst sich jedoch Spannung in Mimik und Gestik, strahlt die gesamte non- und paraverbale Haltung von der ratsuchenden Person etwas davon aus, dass sie aus ihrem Dilemma erlöst ist, dann ist das ein sicheres Indiz dafür, dass die angesprochene Person die grundlegende Fertigkeit des Kurzgesprächs beherrscht, einer ratsuchende Person aus dem diffusen Unsagbaren des inneren Dialogs zu kognitiver Klarheit und konkretem Handeln zu verhelfen.

2.3.3 Anreize zur Kreativität Eine andere Form der Begleitung ergibt sich aus dem symmetrisch-solidarischen Gespräch, nachdem die ursprünglich ratsuchende Person nun ein Gegenüber sucht und braucht, um sich in der für sie neuen Lebenswirklichkeit zurechtzufinden. Dazu kön101

nen – wenn es »passt« und stimmig zwischen beiden ist – folgende Anreize zur Kreativität hilfreich sein: »Verstörung«

Jede sprachliche Interaktion zweier Personen wirkt wechselseitig als »Störung«. Da beide im geschlossenen System strukturell verkoppelt sind, entstehen daraus Änderungen der Systemstruktur, die sich in ihrer Bedeutung und Konsequenz grundsätzlich nicht vorab definieren oder voraussagen lassen. Vielmehr konstruieren beide in der interaktiven Sprachkopplung eine nur ihnen gemeinsame »Weltwirklichkeit«. Allerdings vermag die angesprochene Person durch verstörende Sprechakte der ratsuchenden Person Anreize zu geben, die Konstruktion ihrer Wirklichkeit kreativ umzubauen. Beispiel: A hat sich mit B zu einem Gespräch verabredet und dabei nur angedeutet, dass es um eine »persönliche Sache« ginge. Nach einer üblichen Begrüßung und kurzen Pause: »Ja,_ ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.« Nach einem Augenblick dann: »_ _Was͜ bejahst ͜ du↓.« A richtet sich auf, lächelt und sagt dann nach kurzem Nachdenken: »_ _ Das͜ ist͜ eine͜ gute͜ Frage↓. _ _ Was_ bejahe_ ich _wirklich↓_ _.«

Die Umwandlung des eher verlegen eröffnenden »Ja« in »bejahen« verstört die Gedankenwelt des inneren Dialogs bei der ratsuchenden Person, die bisher noch keinen schlüssigen Zugang zu der Oberfläche des sprachlichen Ausdrucks gefunden hatte (»ich weiß nicht, wo«). Mehr noch: Dieses Eingreifen vom Gegenüber reizt die autopoietischen Potenziale (vgl. Kap. 2.1.3; Varela 1977) der ratsuchenden Person. Diese Impulse verstören den »üblichen« Gedankenablauf aus der bisherigen Welt- und Selbstsicht und regen zu neuen Gestaltungen an. Gerade das Aufnehmen der kleinen, achtlos eingestreuten Füllwörter erzeugt unmittelbar die verstörenden Anreize. Beispiele: »Ach,_ was soll ich Ihnen sagen.«

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»_ _Worauf͜ soll͜ ich͜ achten↓.«

Oder:

»Ich würde gern mal mit Ihnen reden.« »_ _Was͜ begehren͜ Sie.« bzw. »_ _Was͜ malen͜ Sie͜ sich͜ aus↓.«

Bilder, Symbole, Metaphern

Einen ganz anderen Anreiz zur kreativen Autopoiese bietet die analoge Ausdrucksweise. Das Erzählen von Geschichten, der Gebrauch von Bildern, Metaphern und Symbolen möchte mehr aussagen, als in der Objektsprache möglich und dem logisch-analytischen Verstehen zugänglich ist. Über funktionale analoge Impulse können neue Anreize zum Erfassen der Wirklichkeit gesetzt werden. Bilder, Metaphern, Erzählungen setzen eine »konkurrierende Wirklichkeit« (Wood 2011, S.174) frei. Bilder veranschaulichen eine digital erfasste Situation in einem analogen Vergleich. Mit dem Vergleichspartikel »wie« wird eine real existierende Gegebenheit als veranschaulichendes Bild auf einen Vorgang oder Zustand bezogen, um die intuitive Hirnhälfte zu reizen, neue Ideen zu »produzieren«. Beispiele: – »… wie die Axt im Walde« – »… empfindlich wie eine Mimose« – »Wie ein Fisch im Wasser …«

Bei Metaphern werden getrennte Sinnbereiche durch einen Ersatzausdruck kreativ in einen Verstehenszusammenhang gerückt, indem der eine im Licht des andern intuitiv verständlich wird. Der kommunikative Sinn ist nicht allgemein gültig oder erkennbar, sondern ergibt sich dabei stets aus dem situativen Kontext, in dem die Metapher geäußert wird. Beispiele: »Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht.«

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Diese stehende Metapher wird in ihrem weitergehenden assoziativen Sinngehalt erst aus der Äußerungssituation erfasst, in der sie zur wechselseitigen Verständigung eingesetzt wurde. Die Stärke einer Metapher besteht darin, dass mit ihr »mehr« ausgesagt wird als durch das aus seinem ursprünglichen Zusammenhang herausgenommene und im neuen Kontext verwendete Wortgebilde; dieses »mehr« lässt sich nur intuitiv-assoziativ als Erleuchtung und niemals in einer digitalisierten Sprachgrammatik als logisches Resultat erfassen. Symbole sind Wortbegriffe und Zeichen(-handlungen), die über sich selbst hinausweisen. Sie sind gefüllt mit Menschheitserfahrung und Lebensweisheit, verwahrt wie ein Schatz im allgemeinen Unbewussten und assoziativ zugänglich, kaum dass sie benannt werden. Beispiele: Brot – Wasser – Salz – Tür – Stufe – Herz

Symbole erreichen den Menschen über die Tiefe seiner inneren »Sage«. Erzählen

Erzählungen reizen zur Kreativität, sofern sie – als bekannt vorausgesetzt – so eingebracht werden, dass der Erzählskopus kongruent mit dem Gesprächsverlauf ist. Beim Erzählen von Geschichten im Kurzgespräch ist darauf zu achten, dass 1. die Geschichte zielstrebig auf das anstehende Thema hin und 2. ganzheitlich (nicht kleinteilig) inspirierend erzählt wird. Um dieser Strategie willen werden alle für den augenblicklich anstehenden »Knackpunkt« unwesentlichen und »überflüssigen« Details weggelassen, auf Vollständigkeit und ein textgetreues Ende verzichtet und die Geschichte auf wenige Erzählzüge verkürzt. »Während ich Geschichten erzähle, beschäftige ich mich nicht mit der Wahrheit, sondern mit den Möglichkeiten der Wahrheit.« (Bich­ sel 1997, S. 12) Auf das wahrheitsgetreue Erzählen kommt es nicht an, sondern dass über das Erzählen neue »Wahrheiten« kreiert werden. 104

Futur II

Eine besondere Art des Erzählens bietet die sprachliche Form der »Zukunftsvergangenheit«, des Futurs II. Sie bietet sich an, wenn die Zielvorstellung der ratsuchenden Person konkret und realistisch eruiert wurde. Beispiel: Eine Frau hat im Gespräch ihre Fantasie in verschiedene Bahnen einer ihr möglichen Zukunft gelenkt. Alles ist für sie realistisch, machbar und auch attraktiv. Die angesprochene Person nimmt nun diese von der Frau an- und ausgesprochene potenzielle Komplexität auf und bindet sie mithilfe des Futurs II in eine Erzählung einer fiktiv bereits geschehenen Wirklichkeit ein. A: »Ich gehe mit Ihnen einen großen Schritt in Ihre Zukunft↓. _ _ Sie werden_ sich ausführlich mit Ihrer Freundin ausgesprochen_ haben↓._ _ Sie werden_ ihr Ihre Überlegungen dargelegt_ haben↓. _ _ Sie werden_ geduldig und aufmerksam auf jeden Einwand Ihrer Freundin eingegangen_ sein↓. _ _ Ihre Freundin wird_ Ihnen zugestimmt_ haben, dass eine Trennung für Sie beide das Beste sein wird↓. _ Und Sie werden_ mit Ihrer Freundin einen Termin für Ihren Auszug verabredet_ haben↓. _ _ Zwei Tage später_ werden͜ Sie ͜ ausgezogen͜ sein. ↓ _ Ihre Wohnung_ werden Sie in wenigen Tagen so eingerichtet_ haben, dass Sie sich wohlfühlen↓. _ Sie ͜ haben͜ jetzt͜ noch zwei Tage Urlaub ͜ und ein freies Wochenende. _ _ Was͜ machen ͜ Sie͜ jetzt↓. _ _«

Zu der sprachlichen Erzählkunst tritt hier die (bezogen auf die ­Äußerungen der Frau) detailgenaue Beschreibung einer zukünftigen Vergangenheit, um dann im letzten Satz unmittelbar in die (in der Zukunft liegende) Gegenwart zurückzukehren. Wem die Gabe dieses Erzählens liegt, wird stets aufs Neue überrascht und erfreut sein, welche starken Impulse für ein autonomes Handeln in der ratsuchenden Person freigesetzt werden. Indikativ

Ein verstörender Anreiz entsteht mit großer Sicherheit, wenn die angesprochene Person vom Konjunktiv zum Indikativ wechselt. Dieser 105

Wechsel ist auch nach der neu gewonnenen Selbstsicht beachtenswert; denn die »alte« Sprech- und Denkweise ist nicht schlagartig ausgelöscht. Das Hineintasten in eine andere Lebensweise verführt dazu, sich im vorsichtigen Konjunktiv zu bewegen. Der Indikativ als »Modus der Aussage« (vgl. Kluge 2002, S. 398) will anzeigen, dass etwas Reales oder Irreales, Wünschenswertes oder Ersehntes ist, wie es ist. Der »klärende Indikativ« (Süskind 1996, S. 58) verstört und führt zu einer anderen Konstruktion von Wirklichkeit. Beispiele: »Es geht um meine Arbeitsstelle↓. Ich glaub↑, die würden mich da gern los sein↓.« »Wer begehrt, _sich von Ihnen zu lösen↓.«

»Gern« wird verwandelt in »begehren« und »los« in »lösen« (Prozesswörter) und »glaub« und »würden« wird ersetzt mit dem klärenden Indikativ. »Ich könnte natürlich kündigen.« »Was ͜ erhoffen͜ Sie sich, wenn Sie gekündigt haben werden↓.«

Der Hoffnungsaspekt »natürlich« wird aufgenommen und die faktisch sich ergebende Wirklichkeit danach wird ausgesprochen. »Ich hätte noch eine andere Chance↓.« »Was haben Sie_ _ noch↓.«

Aus der Formulierung »noch eine Chance« wird lediglich das »noch« aufgenommen und der Konjunktiv der vorsichtigen Redeweise in den Indikativ Präsens verwandelt. Komparativ

Die vorsichtige Redeweise äußert sich umgangssprachlich ebenfalls im Gebrauch des absoluten Komparativs. Im absoluten Komparativ bedeutet: – »mutiger sein« weniger als »mutig sein«, – »öfter« weniger als »oft«, 106

– »freier« weniger als »frei«, – »besser« weniger als »gut«. Die Versuchung ist groß, sich in der Weltsicht der entdeckten Komplexität zögerlich, zugleich aber auch schwammig, unverbindlich und kleinmütig mit »absoluten Komparativen« zu entwerfen. Das lässt sich besonders an der gegen alle Sprachregeln praktizierten Steigerung von Partizipien veranschaulichen, die dann gern benutzt werden: – »Ich müsste entschiedener …« – »Du solltest dich ansprechender …« – »Mach doch mal ein strahlenderes Gesicht …«

Wie klar werden diese Aussagen ohne die »abgelöste« Steigerungs­ form: – »Ich muss entschieden …« – »Du solltest dich ansprechend …« – »Mach doch mal ein strahlendes Gesicht …«

Hier kann die Begleitung beharrlich daraufhin arbeiten, dass »Sage« und »Sprache« miteinander »bündig« werden.

2.3.4 Das schlüssige Ende des Kurzgesprächs Im Kurzgespräch treffen zwei Menschen aufeinander, die, wenn sie sich im Gespräch bündig abgestimmt haben, gut auseinandergehen können. Während ihres Gesprächs stoßen sie auf sehr unterschiedliche »Längen« in ihren Gedanken und Worten, in ihrem non- und paraverbalen Ausdruck. Der Prozess, wie sie auf gleiche Höhe, Tiefe, Breite kommen können, um »bündig« zu werden, ist beschrieben worden. Jetzt wird das Augenmerk auf drei Aspekte des »bündig enden« gelenkt, die in den vorhergehenden Schritten noch nicht sichtbar wurden.

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Feedback lesen

Wenn die ratsuchende Person in ihrer Sprach- und Gedankenwelt wieder Anschluss gefunden hat an ihre innere »Sage«, wird diese bündige Übereinstimmung mit sich selbst ablesbar sein in ihren non- und paraverbalen Ausdrücken. Die gesamte Körperhaltung verändert sich, vielleicht richtet sich der Oberkörper auf, der Kopf hebt oder wendet sich  – entweder der angesprochenen Person zu oder in eine Richtung, die für die ratsuchende Person in die Zukunft weist. Oft suchen die Augen den klaren Blickkontakt mit ihrem Gegenüber, die Lachfältchen strahlen auf, die Lippen entspannen sich. Auch in der Haltung der Hände zeichnet sich ab, dass sie etwas anders machen wollen, manchmal werden die Füße entschlossen zusammengestellt. Als ein ganz besonderes nonverbales Zeichen innerer Bündigkeit ist das oft sehr behutsame, aber doch wahrnehmbare Nicken des Kopfes anzusehen: als ob die innere »Sage« Ja sagt zu dem, was in Gedanken und Worten zur Welt gekommen ist. An diesen oder ähnlichen nichtsprachlichen Äußerungen kann die angesprochene Person ablesen, dass die ratsuchende Person wieder stimmig mit sich ist, jedenfalls in dem Bereich, der die ratsuchende Person dazu gebracht hat, ein Gespräch zu suchen und zu führen. Es versteht sich von selbst, dass die angesprochene Person diese Bündigkeit durch keine Äußerung ihrerseits wieder verstört. Jeder Kommentar, jede Deutung, jede Form von Verbalisierung dieses nonverbalen Geschehens ist unnötig und wird von der ratsuchenden Person als übergriffig erlebt: Die angesprochene Person hat mit ihrer Hebammenkunst hilfreich assistiert; »nach der Geburt« will die ratsuchende Person jedoch für sich sein. Aufmerksame, schweigende Präsenz lässt die ratsuchende Person solidarische Nähe spüren und ermutigt sie zugleich, eigene Schritte ins neue Leben zu gehen. Paraverbal lässt sich beobachten, dass die ratsuchende Person in ihren Gedanken und in ihrer Sprache wieder bündig ist mit ihrem inneren Dialog; Stimmlage und Sprechtempo bezeugen es: keine überhöhte Tonlage, kein gepresstes oder überhastetes Reden mehr. Stattdessen spricht die ratsuchende Person angenehm »normal« das aus, was sie (jetzt noch) sagen will. Die Pausen, die die 108

ratsuchende Person dabei macht, erscheinen dem Gegenüber oft (zu) lang und verführen leicht dazu, sich sprachlich einzumischen – und sei es mit einem »mh« oder »ja«. Diese »gut-väterlichen« Bemerkungen kann die angesprochene Person sich getrost sparen, wenn es ihr damit ernst ist, dass die ratsuchende Person ihr eigenes Leben lebt. Bündig enden heißt vonseiten der angesprochenen Person, diese non- und paraverbalen Signale wahrzunehmen und sie als autonome Artikulationen zu respektieren und durch das unkommentierte Akzeptieren zu vermitteln: Du brauchst mich nicht mehr, du bist wieder bündig mit dir. Danke sagen

Neben den paralinguistischen Ausdrücken wird die ratsuchende Person meist etwas verbal äußern, wobei es durchaus möglich ist, dass die ratsuchende Person sich wortlos abwendet und ihrer Wege geht – nicht aus Unhöflichkeit oder gar Undankbarkeit –, sondern weil die ratsuchende Person ganz mit sich, mit ihrer neuen Bündigkeit beschäftigt ist und nur noch sich (und nicht mehr die angesprochene Person) im Blick hat. Aus der Tiefe des inneren Dialogs spricht die ratsuchende Person oft ihren Dank aus: »Danke!« oder »Danke, das hat mir sehr geholfen!« oder »Das hat mir gutgetan …« »Bitte« als höfliche Antwort auf ein »Danke« ist umgangssprachlich weitgehend verschwunden, obwohl dieses »Bitte« ganz einfach zum Ausdruck bringt: »Das habe ich dir auf deine Anfrage hin angeboten.« Heute ist gebräuchlicher, »gern« oder »o.k.« zur Antwort zu geben, wenn sich jemand bedankt und man zum Ausdruck bringen möchte: »Gut, das freut mich, du bist mir nichts schuldig.« Ein klares »Danke!« als Antwort tut es auch. Einem bündigen Kurzgespräch unangemessen erscheint mir, auf ein von Herzen kommendes »Danke« mit beschwichtigenden Floskeln zu reagieren: »Nichts für ungut, jeder kann mal festsitzen.« Oder: »Das ist doch selbstverständlich und nicht der Rede wert.« Oder: »Lass gut sein. Du weißt, ich bin immer für dich da.« In solchen Sprüchen wird das anfänglich schiefe Beziehungsmuster von UP und DOWN nochmals wiederbelebt und muss bei der rat109

suchenden Person zwangsläufig den Eindruck und auch das Gefühl hinterlassen, eigentlich doch ein heteronomes Mängelwesen zu sein. Abschied nehmen

Gelingt es dem Gegenüber, sich zu bescheiden, freundlich aufmerksam (ggf. schweigend)  präsent zu bleiben und schlicht auf ein »Danke« zu antworten, bleibt als Letztes, Abschied zu nehmen. Wer sich bescheiden zurücknehmen kann, wird am bündigen Ende eines Kurzgesprächs nach der Phase des paralinguistischen Feedbacks und eines möglichen »Danke« in Ruhe abwarten können, auf welche Art sich die ratsuchende Person vom Gegenüber verabschieden möchte. Wenn während des gesamten Gesprächs das Bündig-Werden der Gedanken und Worte mit der inneren »Sage« bei der ratsuchenden Person im Mittelpunkt standen, ist es schlüssig, dass der Abschied und die Abschiedsworte aus dieser Bündigkeit heraus gestaltet werden: – Sucht die ratsuchende Person den Blickkontakt – hält die angesprochene Person diese Verbindung. – Reicht die ratsuchende Person die Hand  – wird die angesprochene Person sie ergreifen. – Macht die ratsuchende Person einen Schritt (in welche Richtung auch immer) – wird die angesprochene Person sie begleiten. – Wählt die ratsuchende Person ein Ritual  – wird die angesprochene Person dem folgen. – Spricht die ratsuchende Person aus ihrem Herzen  – findet die angesprochene Person herzliche Worte. Die solidarische Nähe zwischen der ratsuchenden Person und dem Gegenüber, durch die gemeinsame Anstrengung um das »Wieder-bündig-Werden« entstanden, hat beide etwas spüren lassen, dass sie – für diese Zeit – Berührung hatten mit der Tiefe des Lebens. Das Kurzgespräch ist ein Bündnis mit dem Leben – von der ratsuchenden Person gesucht, von dem angesprochenen Gegenüber entschieden gewollt. Darum kann eine stille Umarmung, ein fester Händedruck, können Tränen die angemessene Form des Abschiednehmens werden.

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3

Wozu das Kurzgespräch?

3.1 Vom Helfen Einem Menschen in Not zu helfen, versteht sich von selbst. Das gilt für alle in der christlichen Wertetradition sozialisierten Menschen, auch wenn die Verwurzelung in der biblischen Überlieferung immer weniger bekannt ist. Der barmherzige Samariter48 ist das allen vertraute Synonym für diese von jedem in die Gesellschaft integrierten Mitglied stillschweigend erwartete Haltung; unterlassene Hilfeleistung ist ein Straftatbestand. Je weiter sich diese Helferhaltung von ihrer religiösen Verortung in der von Gott geforderten Verantwortung für die Mitgeschöpfe entfernt, desto stärker entwickelt sie sich entweder in die Perversion des Helfersyndroms (Schmidbauer 1977) oder in das sich ausufernd diversifizierende professionelle Helfertum. Menschen, die signalisieren und sich anbieten, dass sie ständig bereit und willens sind, zu helfen, erliegen aufgrund einer psychischen Fehlentwicklung dem Helfersyndrom. Ihr habituelles Verlangen, ihren Selbstwert mittels ihrer Helferhaltung zu bestätigen, kann im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung ausarten: – Die Bedürfnisse anderer zu befriedigen, beherrscht das Selbstkonzept. – Sie fühlen sich wohl, wenn sie Verantwortung für einen Mitmenschen übernehmen dürfen. – Bis zur körperlichen und seelischen Erschöpfung stellen sie sich in den Dienst anderer.

48 Lukasevangelium 10,25 ff.

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– Mangelnde und auch ausbleibende Anerkennung für ihre Helferbereitschaft wird mit der Selbstrechtfertigung annulliert, lediglich verkannt zu sein. Die am Helfersyndrom leidenden Menschen können sich über eine psychotherapeutische Behandlung von ihrem Helferheldentum lösen. Mit gekonntem professionellen Helfertum lässt sich Geld verdienen: Ärzte und Advokaten wussten das schon immer; Priester hatten ihren meist nicht geringen Anteil am gottgeweihten Opfer. Aus »dem Arzt« sind inzwischen ärztliche Fachrichtungen hervorgegangen. Hinzu kommen die diversen psychotherapeutisch ausgebildeten Personen – auch im ärztlichen, juristischen, pfarramtlichen, schulischen und pflegerischen Dienst. Je präziser die Hilfe suchende Person ihr Defizit zu benennen weiß (oder ihr diagnostiziert wird), desto klarer lässt sich ein helfender Profi mit entsprechender Gebührenordnung bzw. Gehaltsstufe zuweisen. Gefragt sind die Kompetenz und die berufsständische Qualifizierung (und nicht die Seele), und beides hat ihren Preis. Ein Hilfe suchender Mensch hat meist ein untrügliches Gespür dafür, ob die ihm helfende fachlich qualifizierte Person ein Mensch »mit Seele« ist – oder nicht. Abgetastet wird dieses in dem Rand und in dem Zentralbereich der Begegnung. Die biblische Überlieferung verortet das »Helfen« im Schöpfungswirken Gottes. Dann sprach Gott, der Herr: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.«49 Zur Entfaltung seines Menschseins braucht der Mensch ein hilfreiches Gegenüber, das ihm ent-spricht, das mit ihm spricht. Dieses Sprechen führt den Menschen aus seinem Alleinsein und -bleiben heraus und ermöglicht ihm, sich und sein Gegenüber als geselliges Wesen zu erleben mit alldem, was dieses ausmacht: Freud und Leid, Angst und Mut, Hoffnung und Verzweiflung, Lust und Langeweile. So wird das wechselseitige (Ent-)Sprechen zur Geburtsstunde des 49 Genesis 2,18, zitiert nach der Einheitsübersetzung 1980.

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seelisch-empfindenden Menschen. Zur physischen Grundausstattung tritt die psychische Lebenskomponente jedoch nicht aus heiterem Himmel, sondern dazu verhilft das ent-sprechende Gegenüber. Alle Menschen machen die Erfahrung, dass dieses Gegenüber durchaus nicht immer hilfreich ist. Die in der Genesis auf diesen gottgewollten Anfang folgenden menschlichen Fortsetzungen zeichnen ein düsteres Bild des zerstörerischen Potenzials, das der homo soziologicus imstande ist, zu entfalten. Aber ebenso wird die biblische Überlieferung nicht müde, den Anspruch zu behaupten, dass auf dem Miteinander-Sprechen der Segen menschlicher Geselligkeit ruht, die nach Gottes Willen wahres Menschsein erst ausmacht. »Ein Segen sollst du sein.«50 Nach dem Desaster der Sintflut spricht Gott dieses Mandat Abram zu, dem Urvater eines sich um Gott gesellenden Volkes. »Ein Segen, dass es dich gibt!« oder einfach: »Ein Segen, dass du da bist!« Menschen, denen diese Worte aus dem Herzen quellen, haben ganz unmittelbar den Segen des hilfreichen Gegenübers im (Ent-)Sprechen eines Menschen erfahren. Blinde, Lahme, Taube, Sprachlose, Krüppel, Kranke, Verachtete, Hilflose, Geschändete und Gefolterte finden in Jesus von Nazareth dieses segensreiche Gegenüber – meist, so wird es uns überliefert, in kurzen, einmaligen Begegnungen mit ihm: Sie kehren zurück in die Geselligkeit des Gottesvolkes und empfinden dankbar den Wert ihres schon verloren geglaubten Lebens.

3.2 Von der Sorge um die Seele Der Anlass für ein Kurzgespräch ist bei der ratsuchenden Person die gefühlsmäßige Erkenntnis, sich in einer Sackgasse festgefahren zu haben. Das Anliegen, sich deswegen an ein hilfreiches Gegenüber zu wenden, um eine befreiende Wegweisung zu erhalten, ist vordergründig. Hintergründig schwingt mit, auf diesem Weg wieder zu einem seelischen Wohlbefinden zu gelangen. Der weitergehende Auftrag an die angesprochene Person lautet also: »Sorg dich (auch) um meine ›Seele‹!« Dem Gegenüber wird zugetraut, dass sie darum besorgt ist, der ratsuchenden Person zu helfen, sich wieder psychisch 50 Genesis 12,2, zitiert nach der Einheitsübersetzung 1980.

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ausgeglichen zu fühlen. Dieser Anspruch, der ratsuchenden Person eine lebbare Balance zwischen »leiblichem« und »seelischem« Befinden zu besorgen, ist ein natürliches, kreatürliches Verlangen. Jede Störung dieses auf die Ganzheitlichkeit des Menschen zielenden Gleichgewichts wird von Menschen aller Zeiten und Kulturen als schmerzlich und das eigene Leben und die Gemeinschaft gefährdend erlebt. Darum greift eine Beseitigung des leiblichen Störfaktors (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Beziehungsverlust, Gewalt) zu kurz, wenn die angesprochene Person nicht auch die Heilung des seelischen Schadens (Hoffnungslosigkeit, Vereinsamung, Lebensunlust, Bedeutungsverlust) im Blick hat. Wer sich auf Kurzgespräche einlässt, wird verwundert die Erfahrung machen, wie unmittelbar offen die ratsuchende Person sich auf diesen ganzheitlichen Aspekt ansprechen lässt, ja angesprochen werden möchte. Dieser Anspruch verbindet sich nicht mit der Profession der helfenden Person, sondern mit deren Bereitschaft und Art, sich Zeit zu nehmen, sich zuzuwenden, aufmerksam auf die sprachlichen und nichtsprachlichen Äußerungen der ratsuchenden Person zu achten und sich über den vordergründigen Anlass hinaus des hintergründigen Anliegens direkt und selbstoffenbarend anzunehmen. Dabei gehe ich davon aus, zwischen »Seelsorge« einerseits und fachlich qualifizierter »Beratung« (z. B. Paar- oder Schwangerschaftskonfliktberatung) oder andererseits professioneller »Heil­ behandlung psychischer Erkrankungen« (Psychotherapie)  sauber und eindeutig zu unterscheiden. Durch die enge Anlehnung von Seelsorgekonzepten an Psychologie, Psychoanalyse und anderer Psychotherapiekonzepte orientiert sich die Seelsorgeausbildung und -praxis tendenziell an Krisen-, Konflikt- und Persönlichkeitsanalysen und deren Behandlung. Dabei geraten sie unversehens an die Grenzen ihrer Kompetenz oder sind als solche kaum noch von Psycho-Konzepten zu unterscheiden. Dazu in einem Exkurs ein Streiflicht zum Verständnis von »Seelsorge«: Nach Plato (428–348 v. Chr.) hat Sokrates seine Mitbürger angeregt, auf die επιμέλεια τής ψυχής (epimeleia tes psyches) zu achten, weil die Seele des Lebens im Gegensatz zur körperlich-leiblichen Existenz unsterblich sei. Diese dualistische Sichtweise menschlichen Seins verleiht der »Seel-Sorge« ihr besonderes Gewicht gegenüber der »Leib-Sorge«. 114

Hippokrates (460–370 v. Chr.) nennt in seiner Auflistung therapeutischer Maßnahmen das Gespräch an erster Stelle: »Was das Wort nicht heilt, das heilt das Kraut. Was das Kraut nicht heilt, das heilt das Eisen [= Messer], was das Eisen nicht heilt, das heilt das Feuer [= Fieber]. Was das Feuer nicht heilt, das heilt der Tod [= übrig bleibt die vom kranken Körper geheilte Seele].« Seelsorge ist bis heute durchaus in säkularen Bereichen anzutreffen (alle Formen von Psychotherapien, Meditationen, Ayurveda, Yoga, Körperübungen). Papst Gregor I. überträgt in seiner »regula pastoralis« den griechischen Begriff in die lateinische Form »cura pastoralis« (nicht: cura animarum!) und verknüpft damit die »Seel-Sorge« mit dem Hirtenamt (lat. pastor). In den Erwartungen und Sprachformulierungen wird demzufolge »Seel-Sorge« bis heute oft eng verbunden mit dem theologisch gebildeten »Amtsträger«: Pastor, Pastoraltheologie, Poimenik, pastoral care, clinical pastoral training / education. Die »Pastoral« der römisch-katholischen Kirche umfasst als cura animarum generalis alle geistlichen Dienste (des »Hirtenamtes«), während sich die protestantischen Kirchen in der cura animarum specialis auf den Einzelnen im persönlichen Gespräch konzentrieren (und zwar aller »Heiligen«). Dem kerygmatischen Ansatz der verkündigenden Seelsorge (Thurneisen, Asmussen) tritt mit der Seelsorgebewegung (Niederlande) seit Anfang der 1960er-Jahre die therapeutische oder auch edukative Seelsorge entgegen. Die sich daraus entwickelnde Pastoralpsychologie rezipiert psychologische, psychoanalytische und andere psychotherapeutische Konzepte (Scharfenberg, Stollberg, Winkler, Morgenthaler). Besonders die nicht-direktive personenzentrierte Gesprächsführung (Rogers, Tausch) entspricht dem induktiven Vorgehen der Seelsorgebewegung mit ihrer Forderung einer Grundhaltung der Empathie, des Akzeptierens und der Wiedergabe emotionaler Erlebnisinhalte (»spiegeln«) (vgl. Ziemer 2004). Die Gesprächsführung der psychologischen und psychotherapeutischen Seelsorge steht mit ihren inhaltlichen und zeitlichen Anforderungen im krassen Widerspruch zur pfarramtlichen Realität: Das notwendige therapeutische Setting kann nicht vorgehalten bzw. angeboten werden. Die Folge: Die cura animarum specialis ver115

kümmert in belangloser Geschwätzigkeit oder unterbleibt schlicht im pfarramtlichen Alltag, da die (im Vergleich zu einer langfristigen psychotherapeutischen Ausbildung meist in Schnellkursen) erlernten Psycho-Methoden praktisch nicht umgesetzt werden können, außer möglicherweise in besonderen Funktionspfarrämtern nach entsprechender langjähriger Weiterbildung. Die Wahrnehmung der Menschen in der Gemeinde lenkt die Aufmerksamkeit der Seelsorgenden auf Alltagssituationen, in denen ihnen – ex- oder implizit – wiederholt die Bitte oder gar die Forderung angetragen wird: »Sorg dich um mich (= um meine Seele)!« Dabei geht es für die anfragende Person um eine durch das Gespräch mit der seelsorgenden Person vermittelte / erfahrbare Horizonterweiterung, in der Leben wieder bejaht wird. Wesentliche Voraussetzung für diese »alltägliche« Seelsorge ist die Bereitschaft der angesprochenen Person, sich der inneren und äußeren Sprache der anfragenden Person anzupassen, in der diese sich bis jetzt mit sich selbst verständigt hat. Das »Sich-sorgen-um-die-Seele« erfährt die anfragende Person zum einen daraus, wie sorgsam die angesprochene Person mit der geäußerten Sprache ihres inneren Dialogs umgeht. Die Methoden des Kurzgesprächs bieten die Hilfestellung für das »Funktionieren« eines seelsorglichen Dialogs. Zum anderen orientiert sich das seelsorgliche Gegenüber dabei an einem Menschenbild, in dem Menschsein ausgerichtet ist auf eine Zukunft, die von Gottes Liebe durchdrungen ist und in der das ihm geschenkte Leben liebevoll zur Entfaltung kommt. Das Proprium christlicher Seelsorge wird dann erfahrbar, wenn »seelsorgen« als ein pneumatisches Geschehen konzipiert und von der Liebe Gottes zum Menschen inspiriert und innerviert ist. Christlich Seelsorgende glauben, dass allein die geistvolle Art Gottes, auch restlos entwertetes Menschenleben zu lieben, einen Menschen inspirieren kann und wird, sich einem Lebensentwurf und -vollzug wieder zu nähern, mit dem dieser Mensch ewig leben wird.51 Seelsorgende, die sich am Menschenbild Jesu orientieren, sind daran interessiert, dass Menschen im seelsorglichen Dialog wieder zu einer Übereinstimmung ihres Lebensvollzugs mit der geist­ 51 Vgl. Mk 10,21; Mt 9,2.6; Joh 6,11 usw.

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lichen Bestimmung ihres Lebens finden. Der Dialog von Mensch zu Mensch wird durchdrungen vom Dialog Gott – Mensch. Es geht also um konkrete Gestaltung des zukünftigen Lebens: Mensch zu sein, den Gott geschaffen, berufen und durch Jesus auf die Spur des ewigen Lebens gesetzt hat, das hier und jetzt beginnt. Dabei geraten zunächst die Verwerfungen dieses Menschseins in den Blick der Selbsterkenntnis. Das Erkennen dieser Verwerfungen – bis hin zu dem »Scherbenhaufen« eines total gescheiterten Lebens – erfährt seine besondere Tiefe im Licht der Gotteserkenntnis durch das Hören auf das Wort Jesu, das auch den Menschen selig spricht, der am Leid seines »verdammten« (fragmentierten) Lebens zerbricht. Wo dies geschieht, machen Menschen eine Evidenzerfahrung, die präsentisch als Rettung vom Tod ins Leben erlebt wird und Anteil gibt an der Fülle des göttlichen Lebens. Gesprächsmethoden (»Gesprächstechniken«) und auch die seelsorgliche Haltung können diese Evidenzerfahrung nicht herbeizwingen: Sie stellt sich ein und ist ein Geschenk des göttlichen Geistes. Das weist seelsorgende Personen auf den Pilgerweg, ihre Bedürftigkeit anzuerkennen und sich zu Gott hin zu öffnen. Und es lehrt sie, sich konsequent auf das zu bescheiden, was wesentlich ist. Es liegt an ihnen, dazu beizutragen, dass größtmögliche Klarheit und Einsicht für die anfragende Person entstehen. Es gilt, in einer bestimmten aktuellen Situation der anfragenden Person einen Impuls im inneren Dialog zu geben, was zu tun ist, damit – sofern der Geist Gottes im Vollzug dieser einmaligen Begegnung wirkt – ihre Lebensführung (wieder) zusammenklingt mit der göttlichen Bestimmung. Unser Leben ist ohne die Herausforderung und Infragestellung durch andere, ohne diese Erschütterung unserer Selbstharmonie nicht das, wozu es fähig ist. Gott sei es gedankt, der christlich Seelsorgende beruft52, sich den schmerzhaften Beziehungsfragmenten der ratsuchenden Person zuzuwenden, mit ihr zu fühlen und sich zu freuen, zu vertrauen und zu lieben.

52 Und durch Jesus Christus und den Heiligen Geist dazu befähigt und ermutigt.

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Christliche Seelsorge ereignet sich – um Gottes Willen – alltäglich in wachsamer, sich selbst zurücknehmender, zart liebender Aufmerksamkeit und Bereitschaft, für andere da zu sein. Die Kunst des Kurzgesprächs ist dabei eine hilfreiche Dienerin der Seelsorge.

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Einblicke in die Praxis des Kurzgesprächs

Um zu veranschaulichen, wie das Kurzgespräch in verschiedenen Bereichen der Seelsorge und Beratung wirksam eingesetzt werden kann, habe ich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Arbeits­ gemeinschaft Kurzgespräch53 gebeten, mir Beiträge für dieses Buch zur Verfügung zu stellen. Bei der Zusammenstellung geht es nicht um Vollständigkeit oder irgendeine Form der Gewichtung der Anwendungsbereiche für das Kurzgespräch, sondern um die freundliche Bereitschaft, etwas aus der Praxis des Kurzgesprächs zu berichten.

4.1 Im Krankenhaus Krankenhausseelsorgerinnen und -seelsorger sind gut ausgebildet für einfühlende und klärende Gespräche auch bei längeren Begleitungen. Doch die inzwischen sehr kurze Patienten-»Liegedauer« (durchschnittlich fünf bis sechs Tage, schwere Krankheitsbilder natürlich länger) und die entsprechend hohe Fluktuation brauchen zusätzlich einen Seelsorgeansatz, der schnell umschalten kann auf einmalige Gesprächskontakte und Kurzbegleitungen und situations­ fokussiert ist. Es braucht die Fähigkeit der Seelsorgerin oder des Seelsorgers, methodisch zwischen langen Begleitungen, typischen Kurzgesprächen und Elementen des Kurzgesprächs mitten in längeren Begleitungen hin- und herzupendeln – und dies alles in inte53 Nähere Angaben zu den Autorinnen und Autoren unter www.kurz​ gespraech.de/category/trainer/.

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ressierter, respekt- und humorvoller und dabei authentischer Zuwendung dem Gesprächspartner gegenüber. Haltung, Elemente und Methoden des Kurzgesprächs im Sinne dieses Buches passen zu ganz verschiedenen »Settings« im Klinikalltag – vor allem natürlich zu Situationen »zwischen Tür und Angel« mit Patienten, Angehörigen und Mitarbeiterinnen besonders dort, wo die Seelsorgerin schon zumindest flüchtig bekannt und etwas einschätzbar ist. Beispiele: Angehörige auf der Intensivstation: »Ich habe Sie hier schon öfter gesehen. Ich habe da mal eine Frage …« Ich bleibe stehen, wende mich zu und suche den Blickkontakt: »Welche Frage haben Sie im Blick.« Pflegekräfte einer anderen Station sagen, als ich zufällig vorbei­ komme: »Gestern hätten wir Sie mal gebraucht!« Und ich reagiere: »Wozu brauchen Sie mich heute.«

Der Konflikt, die Belastung von gestern und oft auch die selbst gefundenen Lösungen können geschildert, gewürdigt und wenn nötig noch einmal im Licht des neuen Tages reflektiert werden. Viele methodische Elemente des Kurzgesprächs lassen sich gut in den diversen Settings des Klinikalltags einsetzen  – vor allem die Fähigkeit des genauen sprachlichen Andockens, Beachten der sprachlichen »Wortfelder«, Schlüsselworte und vor allem die mäeu­ tischen Impulse. Das gilt neben den Gesprächen mit Patientinnen und Patienten sowohl für die Begleitung Ehrenamtlicher im Krankenbesuchsdienst oder die Gestaltung von Klinikfortbildungen als auch für die Moderation Ethischer Fallbesprechungen zwischen Ärzten, Pflegenden und Angehörigen, wenn die weitere Behandlung eines Patienten strittig ist. Beispiele: Ein Teilnehmer einer Fallbesprechung drückt sich so aus: »Wir stecken fest«. Ich setze den Impuls: »Wohin möchten Sie sich bewegen.« Das kann einen gemeinsamen Suchprozess erleichtern: Weil ich mich sprachlich in dem für mein Gegenüber gewählten und deshalb »passenden« Wortfeld andocke, ich kein ihm »fremdes« Wort einbringe,

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kommen wir uns auf der Ebene der Sprachverständigung näher. Der mäeutische Impuls eröffnet einen freien Raum des Nachdenkens. Beim Verabschieden an der Kapellentür spricht eine Frau, die immer mal wieder von außerhalb zu den Klinik-Gottesdiensten kommt, die Pfarrerin an: »Hilft es Verstorbenen, wenn man für sie betet?« Die freundlich-behutsame Reaktion modifiziert Schlüsselworte: »Wofür beten Sie.« In der Antwort schält sich das ambivalente Verhältnis zur verstorbenen Mutter heraus, Schuldgefühle, sie »geistere« noch rum, sei nicht im Himmel angekommen. Auch eine Therapie habe der Tochter nicht geholfen, Frieden zu finden. Mit freundlicher Redundanz setze ich nochmals an: »Wofür beten Sie.« »Ja, dass ich meinen Frieden finde.«

Eine Krisensituation wie das Krankenhaus ist eine Verstörung der gewohnten Balance. Diese kann eine unbewusste Bereitschaft erzeugen, sich positiv stören zu lassen, um eine neue Balance zu finden. Wenn dann ein unbekannter Seelsorger auf‌taucht, kann das wie eine »günstige Gelegenheit« aufgefasst und der »Kairos« genutzt werden. Beispiele: Mein etwas flapsiger Kontaktversuch zu einem betagten Patienten öffnet unversehens eine Tür in seine Biografie: »Was haben Sie denn angestellt, dass Sie hier gelandet sind↓.« »Wollen Sie das wirklich wissen?« Ich merke, dass ich einen heiklen Punkt berührt habe, nicke tapfer: »Ja«, und vermute eher eine bedrohliche Krankheitsgeschichte. Da erzählt er, dass er Jude sei und wie er die Shoah überlebte. »Überleben anstellen« ist das Schlüsselwort unseres Gesprächs. Beim zweiten Kontakt beichte ich ihm, wie peinlich mir im Nachhinein meine flapsige Eingangsbemerkung war. »Wieso? Ich erzähle das ja nicht jedem!« Mir wird deutlich, dass mein Anfangssatz andockte an seinem offenen Gesicht, vielleicht sogar lud ein Schalk im Blick dieses alten Mannes mich ein, ins Fettnäpfchen, nein besser: in sein Leben zu treten. Ein Patient (P) auf der Palliativstation, der Seelsorger (S) hat sich ihm gerade vorgestellt. P: »Ich gucke oft durch mein Fenster auf die Kirche _ Komisch, dass die Kirchen (!) mich in meinem Leben so begleiten!«

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S: »Wohin begleiten Kirchen Sie↓.« P erzählt vom Kindheitsdorf: »Wir wohnten direkt gegenüber dem Friedhof, als Kinder haben wir darauf gespielt!« S kehrt zurück: »Wohin begleiten Kirchen Sie↓.« P: »Die taucht auf. _ Immer wieder. Was sie bedeutet, weiß ich noch gar nicht!« Pause »Ich bin gar kein Kirchgänger _ Komisch. Die Kirche geht immer mit!« Nachdenkliches Schweigen mit Blick auf den Kirchturm. S: »In der Kirche ist Gott zu Hause.« Langes Schweigen. P nickt: »Danke, dass Sie gekommen sind.«

Dieses Kurzgespräch geht in die Tiefe, ohne schwer zu wirken: Die Begegnung zeigt eine Konzentration auf das Schlüsselwort »Kirche«. S nimmt angesichts der lebensbedrohlichen Situation (unheilbare Krankheit) Hoffnungszeichen wahr. Die »Kurzgeschichte« erzählt von der anderen Wirklichkeit, über die nachzudenken sich lohnt, und dass Hoffen nicht vergeblich ist. Klaus Harzmann-Henneberg

4.2 Mit Kindern und Jugendlichen Kinder und Jugendliche gehen nicht unbedingt freiwillig und gern zur Schulsozialpädagogin oder zum Schulseelsorger. Oft werden sie geschickt: von der Lehrerin, von den Eltern. Kinder und Jugendliche möchten sich souverän zeigen, anstehende Probleme selbst lösen, Kontrolle über ihr Leben haben. Eine wesentliche Entwicklungsaufgabe des Kindes- und Jugendalters besteht darin, eigenständig zu werden. Zur Beratung gehen (zu müssen), bringt Kinder und Jugendliche in die paradoxe Lage, einerseits eigenständig sein zu wollen und anderseits genau das im Moment nicht zu vermögen, Hilfe zu benötigen und darüber auch noch mit einem Erwachsenen sprechen zu müssen. Das Kurzgespräch überwindet diese paradoxe Situation, indem es das Kind, den Jugendlichen in Ruhe darin begleitet, sich auf sich selbst zu besinnen und eine eigene passende Lösung zu finden. Da122

durch erlangt das Kind / der Jugendliche wieder Handlungsfähigkeit und Autonomie. Der Tonfall, die Mimik und Gestik (der angesprochenen Person) machen die Musik im Gespräch, das gilt auch besonders bei Kindern und Jugendlichen. Der ruhige Gesprächsfluss, die gesenkte Stimme am Ende des Satzes, der wohlwollende Blick, ein Zwinkern vermitteln dem Kind und Jugendlichen: Ich nehme dich ernst, ich interessiere mich für deine Frage, ich traue dir zu, dass du herausfindest, was dir hilft, und das dann auch umsetzt. Wortreiche Einlassungen, schnelles und insistierendes Fragen mit entsprechender Gestik, Vorhaltungen und Ratschläge bewirken genau das Gegenteil und verstärken die Unterlegenheitsgefühle von Kindern und Jugendlichen. Drei Beispiele: 1. Im Kurzgespräch von Alexander (A) mit der Sozialpädagogin (S) wird das »Geschickt-Werden« überwunden und ein eigenes Mandat definiert. A: »Mein Lehrer hat gesagt, ich soll mal bei Ihnen vorbeikommen.« S: »Was sagst du↓.« S erkundet Alexanders Anliegen, bietet ihm Gelegenheit, sein Mandat für das Gespräch zu definieren, aus der Fremdbestimmung herauszukommen. A: »Ja, ich weiß auch nicht, ich komm halt grad nicht so mit, ich bin halt faul.« A sagt etwas über sein »Problem«. S: »Anhalten, damit du wieder grad mitkommst.« S greift die Sprache Alexanders auf, nimmt das doppelte »halt«, wandelt es in »anhalten« und formt das implizit benannte Ziel »mitkommen« ins Positive. A lächelt – grinst – zeigt eine entspannte Mimik. S: »Anhalten _ mitkommen _.« S entnimmt der Mimik, dass sie ins »Schwarze« getroffen hat, bringt redundant die beiden Schlüsselwörter nochmals. A: »Ich muss halt mehr lernen.« Das »muss« verrät den / die fremden Auftraggeber, das »mehr« die Unverbindlichkeit.

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S: »Was willst du lernen↓.« S verwandelt das »muss« in »willst«, um die eigenständige Motivation zu stärken. A: »Ich müsste halt nicht mehr ganz so faul sein …« A windet sich. S: »Was ist faul an dir, A↓.« S nimmt »faul« auf, weil das Wort wieder auftaucht und möglicherweise einen Ansatzpunkt bietet zum »Gesunden«, und meidet die konjunktivische Redeweise. A: »_ dass ich zu lange am Computer abhänge.« As Einsicht ist schon die halbe Miete. S: »Was daran ist faul, A↓.« S bewertet nicht, sondern überlässt das A. A: »Computerspielen ist schon cool; ich mach’s halt zu lange.« A steht vor der eigenen Lösung. Jetzt stellt sich die Frage, ob S bei der Umsetzung des »zu lange« in die richtige Länge noch behilf‌lich sein soll. S: »Wann spürst du: Halt, das ist lang genug Computer gespielt↓.« S reicht A nochmals das »halt« und funktioniert es um in ein Haltesignal. A: »Ich hab’s schon mal mit einem Wecker probiert. War nichts. Ein Freund von mir hat sich ’ne Zeitschaltuhr eingebaut …« In der Konkretisierung des Ziels und dessen Umsetzung bleibt S ruhig und zäh, lässt nicht locker, bis Alexander genau für sich herausgearbeitet hat, was er wie tun wird. 2. Beim Kurzgespräch führt das sprachliche Andocken in den freien Raum, das Eingehen auf das »Problem« in die Sackgasse. Die Sozialpädagogin (S) begegnet Karina (K) im Schulhausflur. K hat im vergangenen Schuljahr die Abschlussprüfung nicht bestandenen. K: »Ich bin aus dem Unterricht rausgegangen, ich weiß nicht, was mit mir los ist.« S: »Wovon willst du dich lösen, K↓.« K: »Eigentlich ist gar nichts Schlimmes passiert. Ich komm nur nicht von den Gedanken los, dass es wieder so wird, wie im letzten Schuljahr.« S: »Wie wirst du diese Gedanken los _ außer, dass du den Unterricht verlässt↓.«

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K: »Ich komme meistens gut mit. Wenn ich auf meine Noten schaue, brauche ich keine Angst haben.« S: »Wo notierst du dir deine Noten↓.« K: »Eigentlich habe ich die alle im Kopf. Ich kann sie mir alle vorsagen.« (lächelt) S knüpft sprachlich an dem »Kommentar« von K. an und wandelt das »los« in »lösen«. Sie lädt K. ein, sich ihrer selbst zu vergewissern. Dadurch gelingt es K., das lähmende Schreckensgespenst »Angst« zu zähmen und zu ihrer Kompetenz zurückzufinden. Sie entscheidet sich unmittelbar, wieder in den Unterricht zu gehen. 3. Im Kurzgespräch zielorientiert zu arbeiten, heißt zugleich, den Blick nach vorn zu richten. Das sprachliche Mittel der Wahl ist dabei der Indikativ Futur. Mariella lebt als Einzelkind bei ihrer alleinstehenden Mutter, die alkoholgefährdet ist. M: »Ich halte es daheim nicht mehr aus. Meine Mutter ist einfach keine richtige Mutter.« S: »Woran wirst du dich halten, Mariella↓.« S steigt nicht ein in die Klärung möglicher Versäumnisse der Mutter in der Vergangenheit und deren Alkoholproblem, sondern lädt Mariella dazu ein, ihre gegenwärtigen Möglichkeiten auf ihre Zukunftsfähigkeit realistisch zu erkunden. M: »Ich möchte ins betreute Wohnen, da sagt mir jemand, wo es langgeht, dann krieg ich das auch mit der Schule wieder besser hin.« S: »Da wirst du den richtigen Halt finden.« S nimmt das »keine richtige« auf und dreht die Medaille um: »richtig« M: »Ja, das glaube ich.« S: »Wie wird das werden↓.« Das Öffnen des Zukunftsraumes ermöglicht es Mariella, ihr Ziel klar zu entfalten: M: »Die Schwester einer Freundin, eigentlich ihre Halbschwester, die lebt in einer betreuten WG und findet es ganz gut dort. Die ist zum Jugendamt gegangen und …«.

Andrea Ebel 125

4.3 In der seelsorglichen Arbeit mit Gruppen Der Begriff »seelsorgliche Arbeit mit Gruppen« umfasst Besinnungstage, Einkehrwochenenden und Oasentage, die von kirchlichen Trägern offen angeboten oder in der Gemeinde für besondere Gruppen durchgeführt werden. Dabei finden Kurzgespräche im engeren Sinn eher am Rande, z. B. in Pausen oder vor und nach dem gemeinsamen Essen, statt. Bei diesen Besinnungszeiten wollen die Teilnehmenden im Getriebe ihres Alltags, aber auch in Krisen und Umbruchzeiten, innehalten, um wieder zu seelischem Wohlbefinden zu gelangen. Das seelsorgliche Mandat lautet: »Biete mir eine Gelegenheit, um Kraft zu schöpfen, und neue Impulse, damit ich wieder gestärkt in meinen Alltag zurückkehren kann!« Als konkrete Erwartungen an diese Tage werden geäußert: »innehalten und zur Ruhe finden«, »wieder mehr in Kontakt zu sich selbst kommen«, »sich mit anderen über Lebenserfahrungen austauschen«, »sich auf Wesentliches besinnen«, »eine neue Sicht auf aktuelle und zurückliegende Erfahrungen finden«, »den eigenen Glauben stärken«, »gestärkt in den Alltag zurückkehren«. Diese unterschiedlichen Erwartungen können mit Elementen des Kurzgesprächs sowohl in den »Einheiten« als auch bei Gesprächen am Rande erreicht werden. »Innehalten und zur Ruhe finden«

Eine erste Entschleunigung des Lebenstempos bewirkt die Leiterin, indem sie selbst langsam und ruhig spricht und mit Pausen den Teilnehmenden Zeit zum Nachdenken bietet. Dazu kommt die Bereitschaft, sich auf Kurzgespräche am Rande einzulassen: Du bist da, Zeit ist da, meine ganze Aufmerksamkeit gehört dir allein, ich höre dir zu und werde mit dir reden. Ein Beispiel: Nach einer inhaltlichen Einheit, als alle zum Essen gehen und die Leiterin im Gruppenraum noch aufräumt, spricht eine knapp 60-jährige Teilnehmerin (T) die Leiterin (L) an.

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T: »Wissen Sie, auf der Arbeit komme ich mir vor wie im falschen Film. Da geht es nur noch darum, möglichst viel zu verkaufen, selbst wenn es Ramsch ist. Früher war das noch ganz anders _.« L: »Wo kommen Sie im richtigen Film vor↓.« T: »Im richtigen Leben _ da geht für mich nicht alles ums Geld. Aber im Geschäftsleben ist das, was mir wichtig ist, nicht richtig.« L: »Das richtige Leben und das Geschäftsleben _ Wie richten Sie das↓.« T: »Ich will doch die Kunden richtig beraten und gute Ware verkaufen, damit sie zufrieden sind. Dann habe ich ein richtig gutes Gewissen, versteh’n Sie? Es geht mir um mein Gewissen.« L: »Wie richten Sie das für sich ein: das gute Gewissen↓.« T: »Wie, weiß ich noch nicht. Aber dahin will ich kommen!«

In diesem Kurzgespräch wird mit dem Schlüsselwort »richtig« das erschlossen, was für das Lebensgefühl der Teilnehmerin einen hohen Wert hat und nicht um des lieben Geldes willen geopfert werden soll. »Besinnung auf Wesentliches«

Dieses Bedürfnis entspringt dem Wunsch, »neue Sichtweisen auf aktuelle und zurückliegende Lebenserfahrungen« zu gewinnen. Durch Arbeiten mit Bildern, Metaphern und Symbolen werden auf ganzheitliche und intuitive Weise neue Sinnzusammenhänge und Tiefendimensionen erschlossen. So eröffnen sich neue Verstehensräume, die dem analytischen und logischen Denken bisher verschlossen blieben. Dass ein »Labyrinth« kein Irrgarten ist, sondern ein einziger Weg, der durch viele Windungen letztlich immer zur Mitte führt, verstört oft die bisherige Sichtweise eines Labyrinths. So eröffnet sich ein neuer Verstehenshorizont für den eigenen Lebensweg: Manche Wendepunkte können nun im Nachhinein als weiterführend akzeptiert werden und das Vertrauen für den weiteren Weg wächst. Der auf Besinnungstagen gern angebotene Umgang mit den Symbolen »Quelle« (als Bild für Ressourcen) und »Wüste« (als Bild für Alltags- und Krisenzeiten) erfordert Mut, sich auf die Tiefe der bösen und guten Lebenserfahrungen einzulassen. 127

Bilder und Symbole, die neue Perspektiven ermöglicht haben, begleiten die Einzelnen oft noch lange im Alltag und durch Krisenzeiten. Besonders, wenn das Symbol individuell kreativ gestaltet und als anschauliche Erinnerung mit nach Hause genommen wird, berichten ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer, wie viel Kraft sie daraus noch nach Jahren geschöpft haben. »gestärkt in den Alltag zurückkehren«

Kraft zu schöpfen für den Alltag, verbindet sich eng mit dem Thema einer Besinnungszeit: »Erschließe deine Kraftquellen!« Nach einer Einführung in die mögliche Vielfalt persönlicher Kraftquellen, beispielsweise Denken, Gefühle, Beziehungen, Materielles, Selbstorganisation, Weltanschauung und Spiritualität, führen zusätzliche mäeutische Impulse weiter und tiefer: »Und was steckt noch in mir. Woraus habe ich früher Kraft geschöpft. Womit habe ich schon einmal geliebäugelt.« Diese Anregungen bewirken, dass die Person über das aktuell genutzte Potenzial hinausdenkt. Durch solche Impulse zur Einzelbesinnung entsteht »mehr Kontakt zu sich selbst« und viele staunen anschließend über die Vielzahl ihre schlummernden Kraftquellen. Einzelne Ressourcen werden nun auf ihre tatsächliche Nutzbarkeit im Alltag überprüft. Aufgrund dieser Erfahrungen geraten neue Ziele in den Blick. Es lohnt sich, deren Umsetzbarkeit im Alltag zu stärken, und zwar in gegenseitiger solidarischer Beratung: eine teilnehmende Person nennt ihr Ziel und eine andere bespricht mit ihr, wie dieses Vorhaben konkret realisiert werden kann und ob es wirklich attraktiv für sie ist. Ein Gesprächsbeispiel: Eine 35-jährige Frau (F), alleinerziehend mit zwei Kindern im Grundschul­ alter, spricht mit der Leiterin (L) über eine neu entdeckte Ressource: F: »Ich möchte in meiner Wohnung einen Ort haben, an den ich mich zurückziehen kann, an dem ich mich wohlfühle, wo mich keiner stört … Ja, das wünsche ich mir sehr: einen Ort, an dem ich mal ungestört bin, wo keine Spielsachen herumliegen wie im Wohnzimmer, wo ich in Ruhe eine Tasse Tee trinken kann …« L: »Wo verortest du dich, um dich wohlzufühlen↓.«

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F: »Ins Schlafzimmer, das benutze ja nur ich allein zum Schlafen. Da kann ich es mir gemütlich machen … ein schönes Bild an der Wand … Ich könnte es auch neu streichen! … Vielleicht passt ja noch ein bequemer Sessel hinein … Die Kinder werden sich wundern, wenn ich umräume! Und wenn ich ein Schild an die Tür hänge: »Bitte nicht stören!«? L: »Was genau mutest du dir zu↓.« F: »Neu streichen _ das ist mir zu aufwendig _ Aber ein paar schöne Urlaubsfotos an die Wand. Und ein Sessel. Das muss ich ausmessen.« L: »Wie wohl wirst du dich fühlen↓.« F: »Am Freitagmorgen, da habe ich frei und die Kinder sind in der Schule. Da kann ich anfangen. Erstmal: messen _«

In diesem Gespräch wird darauf geachtet, dass jeder Schritt auf dieses Ziel hin sich ganz nah an den konkreten Alltagsbedingungen orientiert und wirklich machbar ist. Unter diesen Voraussetzungen wird das Mandat erfüllt, nämlich »gestärkt in den Alltag zurückkehren«. »den eigenen Glauben stärken«

Eine Stärkung des eigenen Glaubens erfahren die Teilnehmenden, indem sie sich existenziell mit Personen biblischer Geschichten identifizieren. Dazu werden Bibeltexte in wenigen Sätzen zielstrebig auf das Thema hin erzählt, das sich aus den Wahrnehmungsebenen und Worten der Teilnehmenden in vorangegangenen Gesprächen ergeben hat. Ein Beispiel: Hagar in der Wüste (Gen 16,1–14) Eine Frau in einer verfahrenen Situation flüchtet sich in die Wüste. Dort wird sie gefunden und ihr wird – trotz allem – Zukunft zugesprochen. Das ist für Hagar wie eine lebendige Quelle. Sie nennt den Ort »Quelle des Lebendigen, der nach mir schaut.« So erzählt, können die Teilnehmenden sich direkt auf ihre »Wüste« und »ihre Zukunft« und ihre »Hoffnung auf Zuspruch« einlassen. Nach einer solchen Erfahrung kann Gott erkannt werden als einer, der nach dem einzelnen Menschen schaut, weil er gelingendes Leben für jeden will.

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Elemente des Kurzgesprächs in der seelsorglichen Arbeit mit Gruppen sind für mich praktische Hilfen, die Teilnehmer-Mandate zu erfüllen. Die eigene Kompetenz im Kurzgespräch ist das eine; das andere ist mir ebenfalls wichtig: auf die Ressourcen der teilnehmenden Menschen und das Wirken Gottes in menschlichen Begegnungen zu vertrauen. Claudia Simonis-Hippel

4.4 Im Kontakt zu Menschen mit eingeschränkter Sprachfähigkeit Teilnehmende an Ausbildungskursen zum Kurzgespräch vermuten oft, die Methoden des Kurzgesprächs könnten nur »funktionieren«, wenn auch bei einer ratsuchenden Person ein hoher Grad von Ausdrucksfähigkeit vorhanden sei. Das ist nicht der Fall: Der Anspruch an sprachliche Ausdrucksfähigkeit besteht in Bezug auf die angesprochene Person: Sie hat sich – kreativ – auf die Sprache von der ratsuchenden Person (auch der mit eingeschränkter Sprach­ fähigkeit) einzustellen, um ins Gespräch zu kommen. Menschen mit eingeschränkter Sprachfähigkeit kommen dann zu Wort, wenn sie sich bei ihren Worten genommen fühlen. Ich möchte das anhand von zwei Erfahrungsfeldern deutlich machen: – Zugewanderte Menschen mit begrenzten Deutschkenntnissen im Strafvollzug, – Menschen, die an ihrer Demenz leiden. Zugewanderte Menschen mit begrenzten deutschen Sprachkenntnissen im Strafvollzug

Über viele Jahre war ich als Superintendent Beiratsmitglied in einer Justizvollzugsanstalt, in der Langzeitstrafen »abgesessen« wurden. Die meisten Insassen sind im Besitz eines deutschen Passes, sind aber nur begrenzt der deutschen Sprache mächtig. Im Kontakt mit diesen Menschen gilt es: – sich strikt an deren Wortschatz orientieren, – Substantive und Verben (ohne Hilfsverben) aneinander fügen, 130

– keine komplexen Satzgefüge bilden, – Auslassungen und absolute Komparative vermeiden und – auf die vorsichtige Redeweise im Konjunktiv (hätte, würde, könnte, wäre) verzichten. Es gilt die einfache direkte Sprache. Beispiele: Ein russlanddeutsches Gemeindeglied (G) hat um ein Gespräch mit mir (S) gebeten und zeigt mir die schriftliche Einladung zum Gemeindefest seiner Gemeinde. Dort heißt es: »Wir würden uns freuen, wenn Sie am Gottesdienst am … um … und am anschließenden Gemeindefest teilnehmen würden …« Mein Gegenüber fragt mich verunsichert: »Wollen die, dass ich da komme oder nicht?!« Bei einem Gespräch mit einem Insassen (I) eröffnet dieser das Gespräch mit dem Seelsorger (S): I: »Gut, dass du kommst! _ Wie geht’s?« S: »Geht gut. _ Was geht für dich↓.« I: »Das mit dem X (Justizbeamter) geht gar nicht!« S: »Was geht da nicht↓.« I: »Mit der Post.« S: »Was ist mit der Post↓.« I: »Ich krieg Post erst nach zwei Tagen.« S: »Und _↓« I: »Das geht nicht!« S: »Wie geht es dann↓.« I: »Ich gehe zu X und sage: geht so nicht mit der Post.« S: »Wann wirst du zu X gehen↓.« I: »Ich morgen in Sprechstunde gehe _.« S denkt: »Ja, so kann das gehen.«

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Menschen, die an ihrer Demenz leiden

Sehr viele Menschen, die an Demenz erkrankt sind, erleben ihr Leben defizitär, weil sie schon länger ahnen und dann auch wissen: Mein Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht mehr; meine Sprachfähigkeit, die ich hatte, steht mir nicht mehr zur Verfügung. Jedes gut gemeinte Gespräch mit diesen Menschen gerät in die Gefahr, ihnen schmerzhaft erfahrbar zu machen: Kommunikation ist zwar gewollt, kann aber aufgrund der vorhandenen Defizite nicht befriedigend stattfinden. So können z. B. Fragen, die Interesse am Leben des Demenzkranken zeigen sollen, leicht das Gegenteil bewirken: Wenn Gedächtnis und Sprachfindung versagen, führen sie in die Blockade und damit in die Sprachlosigkeit, die als demütigende Pein empfunden wird. Deshalb bietet es sich für die seelsorgende Person (S) an, die Sprachreste des an Demenz erkrankten Menschen (D) aufzunehmen, sie spielerisch zu erweitern und nur das tatsächlich Erinnerte zu verstärken. Ein Beispiel: D: »Du kommst mir gerade recht!« S: »Was kommt dir gerade recht mit mir↓.«

Statt die möglicherweise unbeantwortbare Frage zu stellen: »Woran denkst du dabei?« Der Antwortimpuls mit fast genau denselben Wörtern lässt D die Freiheit, so zu antworten, wie es ihm recht ist: – »Schön, dich zu sehen.« – »Es kommt sonst keiner.« – »Gerade habe ich Zeit.« – »Bei mir ist nichts mehr richtig.« Oder ähnlich.

Im Gespräch mit Dementen (D) kann es helfen, den ins Stocken geratenen Gesprächsfluss mit einem bekannten Liedvers oder einer Gedichtzeile oder einer gängigen Redewendung in Gang zu bekommen. Vertraute sprachliche Zusammenhänge, vom Seelsorger (S) angeboten, können im reduzierten Gehirn Rudimente des Lang132

zeitgedächtnisses zum Klingen bringen, das Gesicht strahlt auf und D kann stolz bezeugen: »Das kenne ich auch.« Und das peinliche Schweigen nach einem Fadenriss der Kommunikation ist überwunden. Ein Beispiel: Unvermittelt sagt D nach einer kleinen Pause und mit etwas verlorenem Blick: »… ich weiß nicht …« S: »Gott sei Dank, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß↓.« oder: S: »Da fällt mir ein Lied ein: ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …‹« Und wenn D sich darauf einlässt, mag S sich vorsichtig weitertasten: »Was wissen Sie↓.«

So wird die gewiss eingeschränkte Kommunikation zu einer gemeinsamen Suchbewegung, in der es keinen Gewinner und keinen Verlierer gibt. Mein Gegenüber spürt dagegen etwas für ihn Entscheidendes: Jemand spricht mit mir. Ich bin (noch) gemeinschaftsfähig. Ich werde nicht auf meine Mängel behaftet, nicht mehr für würdig befunden, dass man mit mir redet, und deshalb links liegen gelassen. Ich finde noch zu meiner Sprache und werde verstanden. Das mitzuerleben, ist – im wahrsten Sinne des Wortes – wunderbar! Hans König

4.5 Im Rahmen pastoralpsychologischer Supervision Supervision ist im Gegensatz zum einmalig konzipierten Kurzgespräch ein Prozess. Themen lassen sich im Laufe der Sitzungen verfolgen, vertiefen, verknüpfen. Die Handlungsmuster, die eine Person leiten, lassen sich herausarbeiten. Eine Situation aus dem Berufsalltag ist hinsichtlich der verschiedenen Ebenen beleucht133

bar.54 Durch Perspektivwechsel wird es den Supervisandinnen und Supervisanden möglich, Handlungsalternativen zu entdecken. Dazu sind auch Interventionen nötig, die andere Ebenen ins Gespräch bringen. Wo es in der Supervision um das persönliche Erleben der Supervisanden geht, um Fragen der persönlichen Deutung sowie um Selbstklärungen, ist die Methode des Kurzgesprächs außerordentlich hilfreich, mehr noch: Das Konzept leistet, was die Dialogtheorie mit »Suspending«, »Voicing«, »Listening« und »Respecting« als Kompetenzen guter Supervisorinnen und Supervisoren beschreibt (so bei Rappe-Giesecke 2009, S. 26). Die situativen Bedingungen des Kurzgesprächs kehren sich im Kontext von Supervision nahezu um. Das Setting der Supervision entspricht einem Kontrakt: Ort, Zeitpunkt, Dauer, Themenkreise stehen fest. Niemand braucht die Gunst einer Stunde abzupassen, um den Supervisor mit seinem Anliegen zu »überfallen«. Dennoch erlebe ich manchen Auf‌takt einer Supervisionssitzung dem Beginn eines Kurzgesprächs gleich. Ein Beispiel: Noch bevor ich das Anliegen des Supervisanden (S) erkunden kann, fällt er sozusagen mit der Tür ins Haus, sprudelt mir (H) eine komplizierte Situation mit vielen Beteiligten entgegen und schließt mit: S: »Was würden Sie mit Ihrer Kompetenz mir raten?« H: »Worüber werden Sie jetzt kompetent mit mir beraten↓.« S: »Ich sitze zwischen allen Stühlen. Da will ich raus!«

Weil S sich von der konkreten Arbeit mit dieser Supervisorin etwas verspricht (eigene Erfahrungen, persönliche Empfehlungen anderer oder »der gute Ruf«), werden ihr Kompetenzen zugeschrieben und sie wird mit Erwartungen konfrontiert. Insofern ist ein deutlich asymmetrisches Up-Down-Gefälle beschrieben. Andererseits ist S hinsichtlich seiner beruf‌lichen Situation, seiner Problemkonstella-

54 Person, Profession, Funktion, Organisation, Klientel; so Rappe-Giesecke 2009, S. 12.

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tion, seines Problemverhaltens, aber auch seiner Ressourcen in einer In-Position, H weiß noch von nichts, ist im Out. Bemerkenswerterweise stellt sich zu Beginn jeder Sitzung ganz leicht das Up-Down-Gefälle und die In-Out-Asymmetrie ein, mit dem Risiko, dass Supervisorinnen und Supervisoren »anspringen« und zu arbeiten beginnen, vor allem, wenn Details schon bekannt sind. Das Konfliktkarussell saust auch in Supervisionen verlockend im Kreis. Die Versuchung, sich in Problemkonstellationen hineinziehen zu lassen und kräftig an Lösungen zu arbeiten, ist groß. Am Ende bleiben zwei erschöpfte Menschen zurück, und die ratsuchende Person bedankt sich nach dem Motto: »Schön, dass ich das alles mal erzählen konnte«, allerdings mit dem Unterton: »Aber jetzt weiß ich auch nichts Neues«. Es entlastet unmittelbar, sich nicht das Problem zu eigen zu machen, sondern sich auf die angesprochene Person zu fokussieren und auf deren sprachliche Ausdrucksformen, um zu neuen Gedanken zu gelangen. Ich verwende gern das Schlüsselwort; nicht nur am Anfang der Sitzungen, sondern immer dann, wenn wir uns festgefahren haben und ich mich orientierungslos frage: »Worum geht es hier eigentlich?«, rekapituliere ich das bisher Gesagte und suche in meinem Wortgedächtnis das mögliche Schlüsselwort meines Gegenübers. Finde ich es, geht die angesprochene Person meist ganz ohne Zögern darauf ein. Das führt unmittelbar zu einer Entschleunigung, ja beinahe zu einem Aufatmen. Dazu ein Beispiel: Die Supervisandin »mäandert« in Überlegungen, ob ihr eine halbe Stelle passen würde und ob sie dort wohl »ständig« (ansässig, heimisch) werden könne und ob die Gemeinde sie dann nähme, da viele ja gar keine so junge Kollegin wollten, und benutzt dabei wiederholt das Verb »hören«. Darauf H: »Bei alledem, was Sie jetzt ausgebreitet haben _ worauf hören Sie↓.« S: »Ich höre, dass ich mir das gut überlegen soll.« H: »Das hören Sie von anderen. Worauf hören Sie↓.« S (ganz ruhig): »Ob das wirklich was für mich ist, mit 50 %.«

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H: »Was hören Sie da in sich↓.« S zählt eine Reihe positiver Dinge auf, dann S: »Ich höre auch: Verlier nicht den Alltag!« H: »Worauf hören Sie, um im Alltag zu gewinnen↓.« S: »Ich brauch Bodenhaftung.« H: »Wie bleiben Sie auf dem Boden↓.« S: »Mein Freundeskreis muss erreichbar sein. Ich darf nicht allein sein und grübeln. Ich brauch Pfeiler im Umkreis und eine gut strukturierte Arbeit.« H: »Wenn Sie auf all das genau hören, was sagen Sie dann↓.« S (überlegt eine Weile, dann ganz entschieden): »Ich will eine 75-Prozent-Stelle.« Damit konnte S gut in das anstehende Personalgespräch gehen. Ein Schlüsselwort (hier: »hören«) aufzunehmen, erlebe ich als besonders ertragreich. Seine Anwendung bewirkt oft auch einen Moment der »Verstörung«: Das vertraute Gedankenkarussell wird gestoppt  – die Gedanken bekommen eine Richtung. Noch ein kleines Beispiel zum Schlüsselwort, das mit einem gemeinsamen Lachen endete: S: »Morgen muss ich mit dem Personalreferenten sprechen. Ich hab Sorge, da untergebügelt zu werden.« H: »Wie bügeln Sie sich für das Gespräch auf↓.« S (nach kurzer Besinnung): »Ich weiß: Ich muss nicht auf irgendeine Stelle gehen. Ich muss mich morgen nicht entscheiden. Ich hab noch ein halbes Jahr Zeit _ zum Bügeln.«

Das mäeutische Impulsgeben – orientiert an der Sprache des Gegenübers  – ist als behutsames, aber stetiges Mitgehen auf dem Weg zu einer Klärung enorm hilfreich: Das gestaltbare Terrain lässt sich erkunden, indem man es abtastet und auf seine Begehbarkeit prüft. Mit dem Selbstverständnis als »Hebamme« fühle ich mich als Superviso­rin wohl: Die angesprochene Person wird – wie eine Gebärende – angehalten, selbst Lösungen zur Welt zu bringen, die sie jeweils als eigenes »Kind« annehmen und ressourcenkompatibel großziehen kann. Jede Supervisionssitzung hat einen geordneten Abschluss. Häufig lautet meine Schlussintervention: »Was nehmen Sie heute für sich mit.« Hilfreich finde ich, wenn ich dazu am Ende nochmals an das 136

Mandat des Anfangs andocken kann wie im ersten oben erwähnten Fall: »Welchen kompetenten Rat haben Sie sich heute gegeben?« Sabine Habighorst

4.6 In der Geistlichen Begleitung »Adam, wo bist du?« (1. Mose 3,9) Das erlösende Handeln Gottes am Menschen beginnt mit einer Frage. Natürlich weiß, der biblischen Erzählung zufolge, Gott genau, wo der Mensch sich befindet. Wenn Gott fragt, will er nichts wissen, sondern bewirken, dass der Mensch die Verantwortung für sein Handeln übernimmt, sein in die Krise geratenes Leben ordnet und letztlich sein Leben jenseits von Eden gestaltet. Insofern ist diese erste Frage Gottes an den Menschen ein mäeutischer Impuls, das Leben zu fördern.55 So wird Gott selbst zum Lebensbegleiter seiner Menschen, die er mit der Würde und dem Anspruch der Gottesebenbildlichkeit ausgestattet hat. Die Ausbildung in »Geistlicher Begleitung« der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (ekbo) soll Menschen dazu befähigen, andere in ihrem Wunsch nach Vertiefung ihrer Gottesbeziehung zu begleiten. Im Fokus der »Geistlichen Begleitung« steht das Lebensgespräch zwischen Gott und Mensch. Menschen werden dabei begleitet, ihr Leben im Licht des christlichen Glaubens zu bedenken und die eigene Lebenssituation glaubend zu erschließen. Die begleitende Person übernimmt den Dienst, dieses Gespräch zu unterstützen und zu fördern, und im Sinn der Unterscheidung der Geister auf Erkenntnisse und Irrwege aufmerksam zu machen.56 55 Die Frage der Schlange (1. Mose 3,1) »Ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?« ist hingegen ein gelungenes Gegenbeispiel: Der Gebrauch des Konjunktivs, das vorangestellte »Ja« und die folgende Verneinung (nicht essen) bewirken im Menschen keine Klärung, sondern vollenden die diabolische Verwirrung, die bei Adam zum Kontrollverlust über sein Handeln beiträgt. 56 Geistliche Begleitung ist ihrem Selbstverständnis nach eine gelebte »Erschließungsspiritualität« (vgl. hierzu Rabus / Abe 2011, S. 106).

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Obgleich geistliche Begleitgespräche in der Regel verabredet und über einen längeren Zeitraum geführt werden, bietet die dem Kurzgespräch zugrunde liegende Haltung der angesprochenen Person ein gutes Handwerkszeug für das Gelingen dieser Gespräche: – die Wertschätzung der Lebens- und Glaubenskompetenz des Gesprächspartners, – die mäeutischen Impulse als Hoffnung weckende und Leben erschließende Kommunikation, – die Ressourcen-, Ziel- und Lösungsorientierung, – das Andocken an der Sprache der begleiteten Person, – das »strategische Erzählen« biblischer (und anderer) Geschichten mit der hilfreichen Möglichkeit, Leben im weiten Horizont der biblischen Zukunfts- und Hoffnungsgeschichten zu begreifen. Zwei Beispiele: 1. Der Musikstudent (M) suchte über einen längeren Zeitraum Geistliche Begleitung, in welcher er seine Gottesbeziehung und Gebetspraxis reflektieren wollte. Als Jugendlicher gehörte er einem Kreis fundamentalistisch geprägter Christen an. Hier fühlt sich M nicht mehr zu Hause. Während des Begleitprozesses ergab sich das folgende Gespräch mit der Geistlichen Begleiterin (B): M: »Früher habe ich fest an Gott geglaubt. Heute zweifle ich, ob das alles stimmt.« B: »Woran halten Sie sich heute fest↓.« M: »Ja, mein Gefühl ist das eine _ der Verstand das andere _« B: »Fühlen _ verstehen _ was festigt Ihren Glauben↓.« M: »Mein Verstand übertönt mein Gefühl.« B: »Wo kommt Ihr Gefühl zum Klingen↓.« M: »Ich brauche einen Ort zum Beten und Schweigen. In der Stille kommt das Denken zur Ruhe. Dann fühle ich, was mir der Glaube bedeutet.« B: »Wo bleibt das Verstehen↓.« M: »Hm, in der Stille fühle ich mich Gott näher _ da sind die zweifelnden Gedanken leiser. Und ich verstehe, dass es beim Glauben nicht allein um Wissen geht. Ich will fühlen, dass ich Gott vertrauen kann.«

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B: »Wie früher …« M: »Ja, wie früher. Und doch auch nicht. Es ist mir schon wichtig, auch auf meinen Verstand zu hören.« B: »Was hören Sie von Ihrem Verstand↓.« M: »Der sagt mir, dass Zweifeln zum Glauben dazugehört.« B: »Woran glauben Sie ganz fest↓.« M: (lacht): »Ich erinnere mich an meinen Konfirmationsspruch: ›Es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.‹« 2. Frau W. ist Diakonin. Sie ist eine von fünf Teilnehmerinnen an Einzelexerzitien. Diese bieten an drei Tagen (Freitag bis Sonntag) die Gelegenheit für je ein einstündiges Gespräch mit der Begleiterin der Exerzitien (B). Frau W. nutzt die Gelegenheit, die Klage über ihr »missglücktes Leben« zum Ausdruck zu bringen. Sie erzählt vom Unfalltod ihrer ersten großen Liebe, von psychischen Problemen, Krankheiten und von Schwierigkeiten im Beruf. Sie könne nach allem, was sie erlebt hat, nicht einmal mehr weinen. Frau W. endet ihren Lebensbericht mit dem Satz: »Und Gott schweigt dazu! Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, dass er mich hasst!« B. schaut Frau W. ruhig und freundlich an: »Wie sagen Sie Gott, was mit Ihren Gefühlen los ist↓.« W: »Wenn ich damit anfange, kommen nur Klagen und Vorwürfe.« Sie denkt eine Weile nach, dann: »Geht denn das?« B: »Die Psalmen der Bibel sind voller Klagen. Jesus klagt mit einem Psalmwort: ›Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.‹↓« W: »Meinen Sie, ich kann Gott meine Klagen aufschreiben?« Die Geistliche Begleiterin macht Frau W. den Vorschlag, sich Zeit zu nehmen und einen an Gott gerichteten Klagepsalm zu formulieren. Als biblisches Beispiel liest die Begleiterin langsam Psalm 22 vor. Frau W. hört aufmerksam zu – immer wieder nickt sie beim Hören der Klagen mit dem Kopf: »Ja, so geht es mir auch.« Den ganzen Nachmittag über bleibt sie auf ihrem Zimmer – nachts brennt lange das Licht. Am nächsten Tag liest sie der Begleiterin ihren

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langen und bewegenden Klagepsalm vor. Immer wieder steigen ihr beim Lesen die Tränen in die Augen. Am Ende weint sie still. B: »Was sagen Ihre Tränen↓.« W: »Die Tränen tun mir gut. Beim Schreiben hatte ich endlich einmal wieder das Gefühl, dass ich Gott nicht egal bin.« B: »Im Psalm hat auch jemand diese glückliche Erfahrung gemacht: ›Gott, du sammelst meine Tränen in deinem Krug; ohne Zweifel zählst du sie.‹ (nach Ps 56,9)«

Andrea Richter

4.7 In der Telefonseelsorge Seelsorge am Telefon stellt eine Herausforderung in mehrfacher Hinsicht dar: – Der Gesprächspartner wird ausschließlich über das Ohr, das Organ des Hörens, wahrgenommen. Nonverbale Äußerungen stehen nicht zur Verfügung. Durch die elektronische Übertragung gehen zusätzlich Informationen auf paraverbaler Ebene (Tonlage, Stimmung) verloren.57 Dieser kommt für das Verstehen jedoch zentrale Bedeutung zu. – Durch das offene Angebot ist nicht klar, was anrufende Personen unter Seelsorge und Beratung verstehen und ob sie überhaupt Seelsorge und Beratung suchen. Eine Vorklärung findet nicht statt, sondern das Gespräch beginnt unmittelbar. – Das niedrigschwellige Angebot, jederzeit, von jedem beliebigen Ort, ohne Voranmeldung, aus der Anonymität heraus anrufen zu können und den Kontakt jederzeit abbrechen zu können, bedeutet eine erhöhte Anforderung an Aufmerksamkeit für die Telefonseelsorgerinnen und Telefonseelsorger (TS) und erhöht oft subjektiv den Druck, Verantwortung für das Gelingen des Gesprächs zu übernehmen.

57 Die Qualität der Übertragung von Tonfrequenzen differiert nach Anschlussart (analog oder digital), nach Telefonanlage vor Ort und bei Anrufen im Mobilfunk je nach Sendebereich.

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Die Beschreibung der günstigen Gelegenheit in Kapitel 1.1.2 trifft weitgehend auf den situativen Kontext der TS zu; Anrufende (A) wollen: – jetzt und hier, – so und nicht anders, – von dieser (gerade Dienst tuenden) Person gehört werden und eine persönliche Resonanz erleben. Der Anrufende bestimmt Ort, Zeit und Umstände des Gesprächs und kommt direkt zur Sprache. Durch keinen anderen Wahrnehmungskanal oder »Dritte« soll das Hören und Reden gestört werden. Die Seele des Anrufenden spricht sich aus: Sie verschafft sich Gehör, formuliert sich selbst und hofft, durch die Resonanz eines menschlichen Gegenübers sich selbst wiederzufinden. TS bietet die Chance, in einem weitgehend störungsfreien Raum zu sich zu kommen.58 Die Konzentration und Fokussierung auf das gesprochene Wort im zielorientierten Kurzgespräch erscheinen mir als besonders geeignet für die Seelsorge am Telefon. Vorrangig ist für mich die Aufmerksamkeit für den ersten Satz vor der Ausbreitung des »Problems«: Beispiele: A: »Bei der Telefonseelsorge sind Sie doch verschwiegen. _« TS: »Was werden Sie nicht länger verschweigen↓.« Aus der Anfrage an TS wird A zu einem Reflexionsprozess angeregt und zum Mit-arbeiten geführt. Oder: A: »Kann ich mit Ihnen über alles reden?« TS: »Was genau werden Sie mit mir besprechen↓.« A wird um eine Präzisierung gebeten, was eine Verschleierung seines bestimmten Anliegens verhindert und ein zielgerichtetes Fortschreiten ermöglicht. Oder: A: »Sie können mir wahrscheinlich auch nicht helfen.« 58 Das freie Assoziieren, der innere Dialog, der vertiefende Meditationsprozess sollen nicht gestört werden durch ein Gegenüber. Deshalb saß nach Freud der Therapeut hinter der Couch. Das Gespräch vor Gott geschah in der katholischen Kirche im Beichtstuhl mit dem Priester hinter einem Gitter bzw. Vorhang. TS wurde oft verstanden und gesehen in der Tradition der (Ohren-)Beichte.

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TS: »Was scheint Ihnen eine wahre Hilfe zu sein↓.« Durch den einfachen mäeutischen Impuls wird A als verantwortlicher »Kapitän« wieder ins Boot geholt. Würde TS auf den Eingangssatz mit Aufforderungen und Einladungen reagieren, es doch einmal miteinander zu versuchen, ist das Ende absehbar: »Ich habe gleich gewusst, dass Sie mir auch nicht helfen können.« In den Anfangssätzen liegt das Mandat und die Chance, eine symmetrisch-solidarische Beziehungsebene herzustellen. So wird einer »Manipulation« durch A gewehrt, die häufig aufseiten von TS-Mitarbei­ terinnen und -Mitarbeitern beklagt wird, die voraussagbar zu einem schließlich ergebnislosen und beiderseits enttäuschenden Gesprächsende führt.

Jeder mäeutische Impuls gleich zu Beginn des Gesprächs erfordert Mut. Ein besonderes Beispiel: A: »Können wir mal quatschen?« TS: »Welcher Quatsch wird uns im Gespräch beschäftigen?« Der Anrufer legt auf. TS erschrickt im ersten Augenblick, ist verunsichert, ob diese spontane Reaktion nicht zu weit gegangen sei, den Anrufer vor den Kopf gestoßen haben mag. Aber TS ist sicher, dass die eigene Reaktion ohne Ärger, ganz ruhig, sogar interessiert gewesen sei, sich vom Wort habe leiten lassen. Noch in der gleichen Schicht ruft derselbe Anrufer wieder an: »Das war gut mit ›Quatsch‹. Wissen Sie, mir ist in diesem Augenblick klar geworden …«

In den beiden letzten Beispielen wurden schwierige Verben in der Anfrage auf der Beziehungsebene (helfen, quatschen) in Substantive umgeformt (Hilfe, Quatsch). Damit werden sie objektiviert dem A als Gegenstand der weiteren Bearbeitung präsentiert. Der umgekehrte Vorgang, die Auf‌lösung der substantivischen Redeweise in Verben, ist im Regelfall hilfreich, besonders wenn A ein Anliegen statisch, feststellend als »Problemanzeige« zur Sprache bringt. Eine Auf‌lösung in verbale Redeformen führt dann aus dem Erstarrtsein in ein Geschehen, in einen Handlungsprozess.

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Beispiel: Eine jugendliche Anruferin: »Meine Freundin hat Liebeskummer!« Jugendliche sprechen direkt ohne Umschweife. Zugleich testen sie sowohl die eigene Fähigkeit, »Heikles« anzusprechen, als auch die Beziehung zu TS. TS ist unsicher (aufgrund des Tonfalls: kindlich fragend, provokativ forsch, begleitendes Kichern, Lachen; aufgrund unklarer Hintergrundgeräusche: z. B. weitere Stimmen). TS achtet auf die intermodale Kongruenz bei sich und spricht langsam, entschleunigt, nachdenklich den mäeutischen Impuls: TS: »Sich um die Liebe kümmern _ wie geht das↓.« Die Frage nach dem »Kümmern um die Liebe« verstört. Erfahrungsgemäß löst sich die Ambivalenz der Testsituation unmittelbar auf: Die Umwandlung von Kummer in »kümmern« führt zu einem Gespräch, aktiv das Partnergeschehen zu durchdringen. Das Gespräch wird beendet, weil ein weiteres Bedenken nicht gewollt ist – aus welchen Gründen auch immer. Vermieden ist in jedem Fall das Gefühl bei TS, nur im vorläufigen Geplänkel geblieben oder veralbert worden zu sein oder der vermuteten Ernsthaftigkeit des Anliegens nicht gerecht geworden zu sein. Mäeutische Impulse setzen den Mut zur Tiefe bei TS voraus.

Beispiel: A: »Ach, ich suche irgendeinen Halt. Sie sind doch von der Kirche!« TS: »Was hält Sie bei der Kirche↓.« A: »Nicht mehr viel.« TS: »Was ist das Wenige, das Sie noch hält↓.« A: »Die Hoffnung, dass ich endlich meinen Frieden finde.« TS: »Womit hoffen Sie, Frieden zu schließen↓.« A: »Mit dem frühen Tod unseres Sohnes.« TS: »Was wird Ihnen Frieden geben↓.« A: »Ich war so unzufrieden mit der Trauerfeier in der Kirche. Für mich war da kein gutes Wort dabei.« TS: »Frieden – in einem guten Wort↓« A: »Ja, ein gutes Wort _« Im Weiteren gibt A die Richtung vor, in der sie ein gutes Wort zu finden hofft. TS hilft bei der »Wortfindung«.

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Manche Anrufende sprudeln wortgewaltig aus sich heraus. Der Versuch, sich alles zu merken, ist zum Scheitern verurteilt. Im Vertrauen darauf, dass der Wortfluss ein Schlüsselwort an die Oberfläche spülen wird, bietet sich die Chance, das Gespräch auf den Punkt bringen. Beispiel: A hat ein Haus gekauft, eine Familie gegründet, mittlerweile drei Kinder, startet in der Karriere durch, hat aber jetzt eine knackige Frau kennengelernt. Das Wort »knackig« benutzt A wiederholt in seinem Redeschwall. Dann die Äußerung: A: »Mein ganzer Lebensplan bekommt einen Knacks.« TS: »Wie diese Nuss jetzt knacken↓.« A hält inne, dann: »Ja, die werde ich wohl knacken. Danke.« Und legt auf.

Wilfried Lenzen

4.8 In der Schule59 »Kann ich Sie mal kurz sprechen?« Viele kennen diese Frage, und die damit verbundenen Gespräche zwischen Tür und Angel, mit Schülerinnen und Schülern, mit Kolleginnen und Kollegen, mit Eltern. Oft ganz unpassende Situationen. Keine Ruhe, keine Zeit. Manchmal drehen sich die Gespräche im Kreis. Dauern viel länger als man eigentlich Zeit hatte. Und hinterher dann leider oft das Gefühl: »So richtig helfen konnte ich ja nicht.« Oder: »So ein Berg von Problemen – da weiß man ja gar nicht, wo man anfangen soll.« Diese Gespräche kurz und bündig zu führen, erscheint ideal. Jedoch, das Kurzgespräch in der Schule steht vor besonderen Herausforderungen: Der Schullalltag ist eng getaktet, selbst die Pausen sind vollgestopft mit Absprachen; dann die Pausenaufsicht und »schnell noch was kopieren«; der Klassenraum laut und wuselig, das Lehrerzimmer unruhig und der Schulhof oft chaotisch. 59 Dazu ausführlich Möhring / Schlüter 2019: »Kann ich Sie mal kurz sprechen?« Impulse für gute Gespräche in der Schule.

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Hinzu kommen weitere Hürden: Lehrerinnen und Lehrer sind spezialisiert darin, auf Fehler zu achten und diese zu korrigieren. Und sie sind sehr geübt im Ratschläge-Geben, Vorschläge-Machen, »Lösungen-Wissen«. Oft werden sie genau deshalb angesprochen. In der Tat haben sie im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern und zum Teil auch mit Eltern einen auf den schulischen Alltag bezogenen Erfahrungsvorsprung. Manchmal können Lehrerinnen und Lehrer aufgrund gegenteiliger Erfahrungen nicht darauf vertrauen, dass die Schülerinnen und Schüler ihren eigenen Weg finden werden. In dieser Situation erscheint die langsam erkundende mäeutische Methode des Kurzgesprächs – das ruhige Abwarten, wenn der Schüler ins Nachdenken gekommen ist, das Vertrauen in die Ressourcen der Ratsuchenden – schwer umsetzbar. Schwer heißt aber zugleich auch: Es ist schon umsetzbar – mit Anstrengung und Übung. Ein Beispiel Tim (T), 3. Klasse, war zum Schulleiter (SL) einer Grundschule geschickt worden, um eine Auseinandersetzung zu klären, die sich an diesem Vormittag in der Schule abgespielt hatte. Nach der Aussprache wird T vom SL ermahnt und die beiden verabschieden sich. SL will sich wieder seinen Papieren zuwenden, aber T geht noch nicht, sondern ergreift die »günstige Gelegenheit« und sagt: T: »Kann ich Ihnen noch etwas erzählen?« SL: »Hm …« (ist gedanklich bei seinen Papieren) T: … SL (merkt jetzt, dass T auf etwas wartet und wendet sich ihm mit voller Aufmerksamkeit zu): »Was willst du mir erzählen↓.« T … (setzt sich): »Ich weiß ja, dass ich Scheiße gemacht habe.« SL (wartet ab) T: »Ich hab aber auch nie Ruhe.« SL (ruhig und mit Pausen): »Wozu hast du nie Ruhe↓.« T: »Alle zerren immer an mir herum.« SL: »Wer zerrt immer an dir herum↓.« T: »Mama und Papa. Die streiten sich immer. Ich stehe immer dazwischen. Und Papa glaubt immer nur seiner Freundin. Neulich hat sie Wasser in mein Bett gekippt und gesagt, ich hätte ins Bett gemacht. Und dann hat sie meinen Nintendo weggenommen. Den will ich wieder haben.«

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SL: »Wo möchtest du in Ruhe steh’n↓.« T: »Ich möchte in Ruhe mit Papa sein.« SL: »_ in Ruhe mit Papa _ wann ist das↓.« T: »Weiß nicht _ Papas Freundin ist ja immer da. _ Außer mittwochs vielleicht. Da muss sie länger arbeiten. Aber mittwochs bin ich bei Mama.« SL.: »Mittwochs zu Papa. Ohne die Freundin. Endlich Ruhe haben. Mit wem musst du darüber reden↓.« T: »Mit Mama. Und mit Papa.« SL: »Mit wem redest du zuerst↓.« T: »Mit Mama.« SL: »Was erzählst du deiner Mama↓.« T: »Dass ich nicht mehr bei Papa übernachten will. Und dass ich nur in Ruhe mit ihm alleine sein will. Und dass das nur mittwochs geht.« Wenige Tage später kommt T erneut und berichtet SL, dass seine Mutter sich auf eine Neuregelung der Besuchszeit eingelassen hat. In einem zweiten Gespräch wird das Gespräch mit dem Vater vorbereitet.

Oft ist es so, dass ein Lehrer oder eine Lehrerin sich in den Augen der »Ratsuchenden« bewährt hat und deshalb als Gesprächsgegenüber gewählt wird: Hier ist einer, der ist interessiert an uns Schülerinnen und Schülern. Hier ist eine, die hört zu und ist fair. Diese »günstige Gelegenheit« wird unter den Schülerinnen und Schülern kolportiert und im Bedarfsfall gern ergriffen. Bei Elterngesprächen ist es ähnlich. Eine Mutter ergreift die »günstige Gelegenheit« am Elternsprechtag, weil sie weiß: Da ist ein Mensch, die Klassenlehrerin meines Sohnes, die kennt ein paar unserer Probleme zu Hause. Und sie ist freundlich zu meinem Sohn (obwohl der anstrengend ist). Und sie war jetzt und auch in den vorherigen Gesprächen mir zugewandt und souverän, die versteht etwas von ihrem Beruf. In den ersten 5 Minuten geht es um David, Schüler der Klasse, ein – für die Klassenlehrerin und die Mutter – anstrengendes Kind, weil er sehr unruhig und unkonzentriert ist. Es geht um Davids Leistungen in der Schule und um sein Verhalten. Das Gespräch über David ist beendet, da sagt die Mutter: »Ich musste inzwischen wieder aufhören zu arbeiten.«

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Die Klassenlehrerin (K) nimmt sich noch ein paar Minuten Zeit, bis die nächsten Eltern kommen, sie sammelt ihre Kräfte und wendet sich hochkonzentriert der Mutter (M) zu. K: »Worauf müssen Sie hören, Frau M↓.« M: »Mein Chef hat gesagt: So geht das nicht mit mir. Ich bin zu oft krankgeschrieben.« K: »Wie hört sich das für Sie an↓.« M: »Er hat ja Recht. Ich bin nicht richtig bei der Arbeit und ich bin nicht richtig zu Hause.« K: »Wie wird es richtig für Sie↓.« M: »Ich bin zu früh zurück in die Arbeit. Da sind ja noch die beiden Kleinen. Mit drei Kindern zu Hause und arbeiten _ das geht nicht. In zwei Jahren vielleicht.«

Gern wird von Schülerinnen und Schülern die günstige Gelegenheit nach der Unterrichtsstunde genutzt. Sven (S) fragt den Lehrer (L) nach der Stunde, ob er ihn noch mal sprechen könne, wenn die anderen draußen sind. L: »Ja.« (und wartet ab) S: »Ich habe solchen Stress mit meiner Mutter. Die meint immer, ich lerne nicht genug. Aber ich kann das nicht.« L: »Was genau kannst du nicht↓.« S: »Ich hab in Mathe und Englisch eine 5 im Zeugnis gehabt.« L: »Was kannst du↓.« S: »Deutsch ist ok, die Nebenfächer auch, aber Mathe und Englisch, das ist mir zu schwer. Ich habe schon seit einem Jahr Nachhilfe, aber ich schaff das einfach nicht.« L: »Was schaffst du, S↓.« S: »Ich möchte zur Realschule. Die schaff ich, glaube ich.« Der Lehrer wird nun mit dem Schüler diese Idee prüfen, ob sie angemessen ist und wie die Umschulung dann konkret umgesetzt werden kann.

Für viele Lehrerinnen und Lehrer ist es mühsam, ihre Wahrnehmungsfilter zu verändern: – auf die Sprache der Ratsuchenden achten (und nicht in erster Linie auf das Problem), 147

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sich auf die Ressourcen konzentrieren (und nicht auf die Defizite), in die Zukunft blicken (nicht auf die Vergangenheit), auf einen kleinen ersten Schritt vertrauen und sich von den »großen Lösungen« verabschieden.

Doch die Mühe lohnt. Viele Lehrerinnen und Lehrer entdecken im Kurzgespräch die andere Haltung, die andere Perspektive: Ein wichtiges Augenmerk des Kurzgesprächs in der Schule liegt auf dem aktivierenden Moment, das mit dem Nachdenken über einen guten mäeutischen Impuls beginnt. Tipps und Ratschläge bringen nichts, weil der Schüler, die Schülerin nicht selbst aktiv wird; sie werden nicht angenommen und nicht umgesetzt. Veränderungen, erste Schritte sind nur möglich mit dem, was der Schüler, die Schülerin an Ressourcen hat. Oft ist allerdings der Zugang zu den Ressourcen verschüttet. Hier führen mäeutische Impulse oft zu einem ertragreichen Nachdenken. Einmal als Lehrerinnen und Lehrer am »eigenen Leib« zu erfahren, wie unterschiedlich der gleiche Inhalt einer Frage klingen und wirken kann, je nachdem, wie sie formuliert und dann betont wird, verändert die eigene Perspektive sofort. Ein Lehrer beschrieb es so: »Wird die Frage schnell und fordernd gestellt und hebt sich die Stimme am Ende, fühle ich mich klein. Wird die Frage ruhig und langsam gestellt und senkt sich die Stimme, darf ich nachdenken, und das macht mich stärker.« Wenig Zeit haben für ein Gespräch und Entschleunigen im Gespräch müssen kein Widerspruch sein, sondern können Hand in Hand gehen. Auch in der Hektik des Schulalltags kann die innere Haltung, ein ruhiges und ernsthaftes Gespräch zu führen, mein Gegenüber ins Nachdenken bringen. Gerade engagierten, wohlmeinenden Lehrerinnen und Lehrer hilft die Haltung: Ich kann nicht, muss nicht und werde auch nicht die Probleme anderer Menschen »lösen« können; vielmehr bringt meine Rolle als »Hebamme« mein ratsuchendes Gegenüber zu eigenen Lösungen. Das wirkt für viele Lehrerinnen und Lehrer wie eine Er-»Lösung« und stärkt ihr Engagement, gute Wegbegleiter ihrer Schülerinnen und Schüler zu sein. Britta Möhring 148

4.9 Mit Studierenden Studieren ist kompakter, strukturierter und berufsbezogener geworden. Die Studierenden stehen heute unter größerem Prüfungs- und Zeitdruck als die Generationen davor. »Eigentlich wollen wir, dass die Uni so etwas ist wie ein allwissender Freund, der … sieben Jahre älter ist als wir. Einer, der uns klar sagt: Mach doch das. Mach das lieber nicht … Wir wollten Anleitung, Struktur, Führung …«60

Welche Chancen hat hier das Kurzgespräch, das doch von der symmetrisch-solidarischen Kommunikation lebt und nicht allwissende Ratschläge erteilt? Kontakte zwischen Studierenden und mir als Studentenpfarrer reichen von kurzen, einmaligen Begegnungen über Verbindungen über mehrere Monate und Semester bis hin zu bleibenden Kontakten per Mail oder Telefon auch Jahre nach dem Studienabschluss. Drei Beispiele: 1. Rebecca (R), eine Studentin in den ersten Semestern, erzählt mir (B) von bevorstehenden Klausuren und ihren Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. R: »Ich weiß nicht, was ich machen soll.« B: »Was wissen Sie genau↓.« R: »Es ist alles so sinnlos, was danach kommt.« B: »Was wird danach kommen↓.« R: »Na ja, eine Familie? Kinder? Und einen Beruf. Ja, ich stelle mir vor, ich bringe jemandem etwas bei. (Sie wirkt plötzlich lebendig und interessiert.) Ja. Jemandem etwas beibringen. Das mache ich gern! Jetzt schon beim Lernen mache ich das. » B: »Wie lernen Sie↓.«

60 Hartung / Schmitt 2010, S. 54 f. Die Autoren sind Redakteure bei der »Zeit« und untersuchen die Generation der 20–35-Jährigen.

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R: »Ich treffe mich mit Claudia und Moritz. Wenn ich da dranbleiben könnte, dann schaffe ich das. Ich hab schon alle möglichen Prüfungen geschafft!« B: »Wie schaffen Sie die nächste Klausur↓.« R entwickelt einen konkreten Tagesablauf. Am Ende des Gesprächs vereinbaren wir, dass sie mir, wenn sie möchte, jeden Tag per Mail eine kurze Rückmeldung gibt über das, was sie sich vorgenommen hat; ich werde ihr antworten. Die ratsuchende Person besteht die nächste Klausur, dann auch die bis zum Semesterende noch anstehenden Prüfungen. Kommentar: Die Ausrichtung auf ein zunächst noch weit entferntes Ziel (Familie, Kinder, Beruf) wurde im Gespräch zu einem naheliegenden, konkreten, realistischen Ziel: Die ratsuchende Person entdeckt ihre Ressourcen neu, und der erste Schritt wird attraktiv für sie. 2. Die Lösung vom Elternhaus gehört zu den persönlichen Umbruchphasen, in denen ich junge Menschen begleite: Die neuen Lebenserfahrun­ gen des Studiums kollidieren mit alten Gewohnheiten und Erwartungen. Mike (M) studiert gerade im Ausland und kommt einige Tage an seinen bisherigen Studienort zurück. Wir treffen uns zufällig im Foyer der Universität zwischen zwei Vorlesungen. Nach kurzer Begrüßung sagt er: M: »Ich werde heute Abend dann bei meiner Mutter übernachten. Das wird wieder sowas.« B: »Was wird wieder so↓.« M: »Ach, es ist immer dasselbe. Der passt das nicht, was ich mache. Das kommt dann immer raus, wenn wir reden.« B: »Wo willst du rauskommen↓.« M: »Gute Frage. Ha! Tja, was will ich? Ich will, dass sie mich einfach so lässt.« B: »Worauf wirst du dich einlassen↓.« M: »Hm.« (schweigt, sieht mich erwartungsvoll an, lange Pause) M: »Na ja. Ich müsste mich auf eine ehrliche Auseinandersetzung einlassen. Ihr widersprechen: Ja, Mutter, ich weiß, das passt dir nicht, wie ich jetzt so bin und lebe. Da kann ich nichts ändern. Aber so ist es eben. Ich komme und gehe, wann ich es will.« B: »Angenommen, du wirst dich auf eine Auseinandersetzung mit deiner Mutter eingelassen haben, was wird dann kommen↓.«

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M: »Dann, (er lacht erleichtert auf) genau: Dann werd ich gut schlafen.« Neben den beharrlichen Anstößen, tiefer nachzudenken, ermöglicht die lange Pause, in der ich mich bewusst nicht äußere, dass Mike sich auf seine Ressourcen besinnen kann. 3. Freundschaften sind für Studierende sehr wichtige Werte.61 Darum ist auch das Scheitern einer Freundschaft / Partnerschaft eine wirklich einschneidende Erfahrung. Ich schreibe Annette, einer begeisterten Sängerin und Klavierspie­le­ rin, die das Studium bereits beendet hat, eine kurze Mail zum Geburtstag. Sie schreibt am nächsten Tag zurück: »Eigentlich geht’s mir gar nicht so gut, aber das ändert sich hoffentlich wieder. Steve und ich haben uns gerade nach über sechs Jahren Beziehung dafür entschieden, dass es besser ist, getrennte Wege weiterzugehen. Verstandesmäßig ist das wahrscheinlich richtig, aber es fühlt sich wirklich bescheuert an. Naja, so hab ich wieder etwas mehr Zeit für andere Dinge.« Ich schreibe zurück: »Hallo Annette, du schreibst von ›getrennten Wegen‹ und ›weitergehen‹. Mitten in den bescheuerten Gefühlen. Da fällt mir Paul Gerhardt und sein Lied ein: ›… der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann‹.« Annette antwortet wenige Minuten später: »Ich habe die ganze Sache nur Michaela erzählt. Und sie schlug heute Nachmittag vor, im Sommer zusammen in Schottland wandern zu gehen. Das klingt doch schon mal nach einem sehr guten Weg. Gruß und danke für die schnelle Antwort.« Das »analoge« bildhafte Angebot (statt einer »digitalen« Problemanalyse) in diesem Kurzgespräch per Mail ermöglicht es Annette, in ihrem auf sie zukommenden Leben den Klang eines »sehr guten« Weges wahrzunehmen.

Karl Menger 61 Hartung / Schmitt 2010, S 193. Dies entspricht auch den deutschlandweiten Untersuchungen des Konstanzer Bildungsforschers Tino Bargel. Die meiste Wertschätzung unter den Grundwerten der Studierenden erhält der Wert »Freundschaft«.

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4.10 Im Gemeindepfarramt Durch das »Kurzgespräch« bin ich für die Sprachebene meiner mir gegenübersitzenden Ratsuchenden sensibilisiert worden. Jenseits von Beratungsgesprächen dient mir die an der Sprache des anderen anknüpfende Vorgehensweise auch beim Kasualgespräch. Aus Anlass einer bevorstehenden kirchlichen Trauerfeier kommt es meist zu einem einmaligen intensiven Gespräch. Ich konzentriere mich darauf, die Angehörigen in ihren verschiedenen Ausdrucksweisen wahrzunehmen, und achte auf das, was konkret geäußert wird. Die Wörter, die sie für ihre innere Bewegung benutzen, werden zur Basis, den Angehörigen in ihrer Sprache nahe zu bleiben. Ein Mann hatte seine Mutter lange gepflegt. Nach dem Tod der Mutter fand er trotz der Zuwendung seiner Frau keinen richtigen Weg ins eigene Leben zurück. Im Beerdigungsgespräch sagte er unvermittelt: »Ich fühl mich wie in einem Loch.« Dem bibelkundigen Mann bot ich mit wenigen Strichen die Erzählung von Josef in der Zisterne an und endete: »Wie werden Sie aus dem Loch kommen↓.« Er schüttelte langsam den Kopf und deutete damit an, dass er den Weg nicht sähe. Da sagte seine Frau: »Josef bekam Hilfe von außen. Die haben ihn am Seil herausgezogen.« Der Mann erhob sein Haupt und musste für einen kurzen Moment schmunzeln. Dann wurde er wieder ernst und erzählte von seiner tiefen Traurigkeit und sagte schließlich: »Noch möchte ich im Loch bleiben. Später dann, vielleicht in ein paar Monaten, dann möchte ich hier raus.« Er benannte Orte außerhalb ihres Wohnortes, die für beide attraktiv seien, und es entwickelte sich ein Urlaubsplan, der sich ein paar Monate später realisieren sollte.

Sich an den Worten des Gegenübers zu orientieren, bewahrt mich und vermutlich viele andere davor, allzu eilfertig »behilflich« sein zu wollen. Eine junge Frau (G) aus der Gemeinde rief mich an und sprach über eine belastende Situation in einer Gemeindegruppe, von der Spannung in der Gruppe und von Anfeindungen gegen sie. Trotzdem habe sie nach Wegen gesucht, weiterzumachen, ohne ihre eigene Wut zu zeigen. G: »Ich bin voller Wut. Es wühlt mich sehr auf.«

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P: »Was wühlt die Wut in Ihnen auf↓.« G: »Ich habe nicht gelernt, mit meiner Wut umzugehen. Sie kocht dann über.« P: »Was genau kocht über↓«. G: »… dass ich diesen Weg nicht gut finde. Nein, dass ich zu feige bin, für meinen Weg zu kämpfen!« P: »Wie kämpfen Sie für den Weg, den Sie gut finden↓.« G entwickelt einen realistischen Plan, wann und wie sie den anderen Teilnehmenden die eigene Sichtweise darstellen will. Es wird die angesprochene Person Überwindung und Kraft kosten, es zu lernen, ihre angestauten Energien in eine befriedigende Entwicklung einzubringen.

Es gibt zahlreiche Anfragen im Pfarramt, bei denen Menschen sich wünschen, jemand möge ihnen zuhören und sie ohne Ratschläge und ohne Wertungen begleiten. Die Haltung des Seelsorgenden im Kurzgespräch ermöglicht den Ratsuchenden, erste eigene Lösungsschritte zu finden. Die Ratsuchenden tragen den Denk- und Handlungsweg bereits in sich und lassen sich durch mäeutische Impulse sanft leiten, um Klarheit für sich zu gewinnen. Nach einem Seminar kam ich endlich nach Hause. Ich saß im Sessel und wollte nur ein paar innere Bilder des Tages sortieren. Das Telefon klingelte – eine unliebsame Störung zu dieser Zeit und in meiner Verfassung, dennoch nahm ich ab: B: »Kann ich dich mal um einen Rat fragen?« Ehe ich antworten konnte, musste ich mir die Sorge einer Mutter (B) um ihr Verhalten ihrer Tochter (T) gegenüber anhören. B wollte wissen, wie ich an ihrer Stelle handeln würde. B: »Ich weiß nicht, ob ich T das Geld geben kann. Es gehört ihr, aber ich habe Angst, dass sie es zum Kauf von Dingen einsetzt, die ihr schaden.« P: »Was ängstigt dich↓.« B: »Wie ich es mache, mache ich es falsch _ das ängstigt mich. Vorenthalten kann ich ihr das Geld nur mit einer Lüge, und das ist hinterhältig von mir. Und gebe ich es ihr, kauft sie sich vielleicht ein Moped und hat einen Unfall. Und dann mache ich mir Vorwürfe. Jetzt sag du mal, was ich machen soll.«

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P (ruhig und stark entschleunigt): »Was machst du mit T, ohne dich zu ängstigen↓.« B (schweigt, denkt offensichtlich nach): »Da hast du Recht: Wir machen eigentlich nichts mehr zusammen. T macht eigentlich alles allein. Ich mach nichts mehr mit ihr _ außer so das Übliche. Und irgendwie macht mir das Angst.« P: »Was wirst du mit T machen, das dir und ihr eigen ist↓.« B: »Reden. Früher haben wir viel geredet. Über alles. Als sie ihren ersten Freund hatte, hörte das auf. Nicht plötzlich. Ganz langsam.« P: »Worüber wirst du mit T reden und worauf willst du hören↓.« B: »Das mit dem Geld steht da nicht an. Gewiss nicht. Ob T mit mir reden will? Ich weiß es nicht. Aber ich will es versuchen. Danke. Das war ein guter Rat. Und entschuldige bitte, dass ich dich so spät noch angerufen habe.«

Ich gebe zu, es bedurfte großer Anstrengung und hoher Konzentration, in diesem Telefongespräch den »Dreh« zu kriegen. Es gelang mir mithilfe verschiedener Methoden des Kurzgesprächs, allen voran dem Andocken an den sprachlichen Ausdruck meines Gegenübers. Dann ließ ich mich aber auch nicht in die Ratgeberrolle drängen, sondern gab dem Gespräch über das Wort »machen« die Drift, die es B ermöglichte, ihren Gedanken so zu folgen, dass sich aus einem Wirrwarr von Angst, Schuld und Verantwortung eine klare Haltung entwickelte. Diese mäeutische Haltung ließ B zu einem Entschluss kommen, den sie für sich als »meinen« Rat verbuchte. Manchmal gibt es diese bündigen, stimmigen, geisterfüllten Momente. Michael Juschka

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Das Kurzgespräch in der Alltagsseelsorge Dr. Christoph Schneider-Harpprecht

Der Entwurf »Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung« geht von der Überzeugung aus, dass es möglich ist, in kurzer Zeit ein Gespräch zu führen, das dem Auftrag der Seelsorge gerecht wird, in einer spezifischen Lebens-, Krisen- oder Konfliktsituation christliche, befreiende Hilfe zur Lebensgestaltung zu leisten. Ein solches Ansinnen widerspricht anscheinend den Grundsätzen der beratenden Seelsorge, scheint aber auch quer zu neueren Konzepten der Seelsorge als geistlicher Begleitung oder Führung zu stehen. Sie alle heben hervor, wie wichtig es sei, Seelsorge als Prozessgeschehen zu begreifen, in dem beide Gesprächspartner eine Beziehung eingehen, die sich über mehrere Begegnungen hin erstreckt und sich zur mittel- oder längerfristigen pastoralen Begleitung oder Therapie ausdehnen kann, in der möglichst auch eine Art Kontrakt über die zentrale Thematik und die Ziele der Gespräche geschlossen wurde. Es ist allgemein bekannt, dass sich diese ideale Seelsorgesituation häufig nicht mit der Praxis der Seelsorge deckt. Seelsorgende werden, zumindest in den protestantischen Kirchen Westeuropas, relativ selten aufgesucht. Wenn es zu einem Beratungsgespräch kommt, dann bleibt der Kontakt – übrigens auch in den Beratungsstellen – nicht selten ein einmaliges Geschehen. Ob in der Gemeinde, im Krankenhaus, in diakonischen Heimen, Gefängnissen, im Rahmen der pastoralen Begleitung von Seeleuten oder Urlaubern – es überwiegen kurze, informelle Begegnungen. Viele Gespräche am Krankenbett dauern zehn oder zwanzig Minuten. Seelsorgende werden innerhalb eines alltäglichen Kontextes an155

gesprochen: beim Händeschütteln nach dem Gottesdienst, auf der Straße, beim Einkauf an der Käsetheke, auf einem Fest, am Rande eines Seminars, auf dem Flur des Krankenhauses oder Altenheims. Es entwickelt sich ein eher zufälliges Gespräch, das ebenso schnell verebben kann, wie es aufkam. Es hat einen eher sporadischen, oder, wie beim Geburtstagsbesuch, einen formalen Charakter: Man besucht, um zu gratulieren, man trifft sich zufällig, man kommt mal vorbei. Die Themen sind nicht geplant, der Gesprächsverlauf völlig ungewiss. Ziele sind nicht offensichtlich vorgegeben und werden auch kaum in einem verbalen Kontrakt verabredet. Das Gespräch kann jederzeit durch äußere Störungen unterbrochen oder unmöglich gemacht werden. Dennoch kommt es unversehens zu bedeutsamen Momenten der Begegnung. Ein existenziell wichtiges Thema wird vorsichtig angesprochen, etwas, das dem Gesprächspartner oder der Gesprächspartnerin vielleicht schon lange auf der Seele lastete. Verborgene Gefühle schimmern durch und brechen sich Bahn. Bedürfnisse, Hoffnungen, Zweifel können wahrgenommen und ausgesprochen werden. Man erinnert sich an wichtige Grundsätze, Werthaltungen und Bekenntnisse. Stärkende Erlebnisse werden erinnert, wichtige Bezugspersonen kommen ins Spiel, neue Möglichkeiten werden überlegt. Die Gesprächspartner entwickeln Perspektiven, stärken, trösten, konfrontieren und kritisieren einander. Man kann sich körperlich berühren, spricht durch Mimik und Gestik. Man erinnert sich an biblische Erzählungen, an Aussagen christlicher Weisheit, an Metaphern des Glaubens, die zu denken geben – und manchmal spricht einer ein Gebet. Kurz: Die ganze Bandbreite menschlicher Kommunikation kann offensichtlich im Rahmen einer solchen zerbrechlichen Minimalstruktur menschlicher Begegnung zum Tragen kommen und Früchte tragen. Die Frage ist darum nicht, ob in solchen Begegnungen Seelsorge stattfindet. Die Frage ist vielmehr, ob und wie wir die Seelsorge in Kurzgesprächen, die den Seelsorgealltag bestimmen, gestalten können. Allerdings machen viele immer wieder die Erfahrung, dass sie in diesen kurzen Gesprächen nicht weiterkommen. Das systemisch orientierte Seelsorgeverständnis stellt Instrumente zur Verfügung, die es haupt- und ehrenamtlichen Seelsorgende erlauben, Kurzgespräche so zu gestalten, dass das seelsorgliche Anliegen einer Lösung nähergebracht werden kann. Dadurch 156

wird es möglich, die durch Gottes Gnade eröffneten neuen Lebensmöglichkeiten im Rahmen von Alltagsgesprächen in einer theologisch verantwortlichen und kommunikativ wirksamen Art und Weise zur Geltung kommen zu lassen.

5.1 Das Kurzgespräch als Methode der Alltagsseelsorge Die bisher vorgetragenen Überlegungen bewegen sich in der Nähe der Richtung der »Alltagsseelsorge« die in den letzten Jahren in kritischer Auseinandersetzung mit der beratenden Seelsorge und der Seelsorgebewegung entwickelt wurde. Für unseren Zusammenhang wichtig sind drei tragende Elemente dieser Richtung, die, trotz gewisser innerer Widersprüche, in der gegenwärtigen Diskussion miteinander verbunden werden: Die Kritik am Defizitmodell des Helfens, der Abschied der Seelsorge von hoher Therapie und hoher Theologie, die Orientierung der seelsorglichen Kommunikation an den sozialen Anforderungen an die pastorale Profession. Wie verhält sich ein Seelsorgeverständnis, das für das Erlernen und die Pflege von Kurzgesprächen im Seelsorgealltag eintritt, dazu? Henning Luther (1992, S. 231–232, 239) hat die Orientierung der Seelsorge am »Defizitmodell in der Beziehung von Helfer und Ratsuchendem etabliert und das Defizit perpetuiert. Die Seelsorge, so H. Luther, kennt nur Betroffene, die in Krisen und Konfliktsituationen solidarisch sind. Für ihn steht christliche Seelsorge quer zur »Alltagssorge, die auf Wiedereingliederung, Realitätsertüchtigung und Anpassung« abzielt. »Seelsorge schafft Freiheit«, weil sie den Alltag kritisch »in den Horizont lebensschaffender und lebenserneuernder Möglichkeiten« stellt. Sie orientiert sich an der Grenzsituation, vor allem an Sterben und Tod, da diese die Brüchigkeit der »selbstverständlich eingespielten Lebenswelt« erfahrbar macht. Damit wird Seelsorge faktisch jedoch auf die Grenzsituationen beschränkt. H. Luther kann nicht zeigen, wie die Möglichkeit des Andersseins in Alltagssituationen zum Tragen kommt. Soll dies gelingen, kann kritische Seelsorge eben keine bloße Alternative zur Alltagssorge sein. Wenn alle betroffen sind und füreinander Seelsorgende, dann scheint jedes methodische Vorgehen ausgeschlos157

sen. Kippt mit der Alltagsorientierung also auch die Methodik des Seelsorgegesprächs und damit die Möglichkeit, Seelsorge zu lernen? Dieses Problem wird auch in Eberhard Hauschildts (1994, S. 264, 270) weiter ausgeführtem Entwurf einer radikal interaktiven Alltagsseelsorge deutlich. In der Analyse von Geburtstagsbesuchen überprüft er empirisch, ob und wie im Alltag »intensive Seelsorge« geschehen kann. Dabei zeigt sich, dass Seelsorge sich im Alltag in einer Form vollzieht, die im Vergleich zu »den hohen Idealen der Therapie und Theologie unterscheidbar anders« ist. Es geht um Alltagstheologie, in der beide Seiten sich »am Kalkül alltagspraktischer Vorsorge« orientieren, wenn etwa das Thema angegangen wird, ob der Pfarrer die betagte Dame, die er zum Geburtstag besucht, eines Tages beerdigen wird. Es geht auch um »Alltagstherapie«, das heißt, um kleine Schritte des Ansprechens von Schwierigkeiten und Problemen, »Ambivalenzdarstellung« im Rahmen von rollenspezifischen, alltagssprachlichen Interaktionsmustern, um Selbsttherapie, Momente, in denen die Gesprächspartner eigene Lösungen und Wege finden. Für Hauschildt steht Alltagsseelsorge als eine dritte Form neben der hohen Theologie und Therapie, deren grundsätzliche Berechtigung sie nicht infrage stellt, deren Ansprüche sie jedoch verendlicht. Die Alltagsseelsorge wird damit zu einem Bereich, der sich der Steuerung durch eine Methodik der Gesprächsführung und durch die Orientierung an für die Seelsorge grundlegenden theologischen Konzepten entzieht. Das zeigt sich deutlich in Hauschildts These einer »radikal interaktiven Seelsorge«, mit der er die Alltagsseelsorge fortschreibt und versucht, einen interkulturellen und interreligiösen Ansatz der Seelsorge zu finden, der für unterschiedliche theologische Grundannahmen und eine Vielfalt von kulturell bestimmten Praktiken offen ist. Dabei kommen Zweifel, hinsichtlich der Perspektive der Alltagsgestaltung. Hauschildt scheint letztlich davon auszugehen, dass der Alltagsdiskurs die kommunikativen Instrumente zur Verfügung stellt, um in der jeweiligen Gesprächssituation »Gemeinsamkeit« und »Übereinstimmung« herzustellen. Was aber, so könnte man überspitzt fragen, gibt es methodisch dann noch zu lernen im Fach Seelsorge? Diese Frage beantwortet Isolde Karle (2000, S. 508, 514–515, 523) auf dem Hintergrund der sozialwissenschaftlichen Professionstheorie mit dem Hinweis auf die berufsethisch kommunikative und die 158

theologische Sachkompetenz des pastoralen Berufes. Seelsorge ist, unbeschadet der Möglichkeiten der Gemeinde zur freien religiösen Kommunikation, als spezifische Aufgabe der pastoralen Profession anzusehen. Sie zeichnet sich wie die anderen klassischen Professionen der medizinisch und juristisch Tätigen durch den Bezug auf gesellschaftlich relevante, anspruchsvolle Sachthematiken aus. Zu erlernen gilt es deswegen die aus den sozialen Erwartungen an die pastorale Berufsrolle ableitbare professionsethische und kommunikative Kompetenz. Es gilt, ein vor Ort erreichbarer, verlässlicher, glaubwürdiger, zur Übernahme von Verantwortung bereiter Gesprächspartner zu werden, der in überkomplexen, existenziell verunsichernden Situationen die Verantwortung übernehmen kann und dessen Sache es ist, das Wort Gottes zu verkündigen. Dazu gehört es, »kommunikative Kunstregeln für die vielen verschiedenen Begegnungssituationen und Kontaktsteuerungsmöglichkeiten des Gemeindelebens zu entwickeln«, nämlich in erster Linie Takt, Güte und Höflichkeit, die »von grundlegender Bedeutung für das Entstehen von Vertrauen« sind. Die genauere Bestimmung der Kunstregeln, an denen sich die seelsorgliche Kommunikation ausrichten soll, bleibt offen. So geht es um die Einübung eines sozial erwartbaren kommunikativen Stils, der mit Talent und Intuition entwickelt werden soll, nicht aber um eine methodisch reflektierte Vorgehensweise oder um die Fokussierung auf ein theologisch begründetes Ziel. Dieser Entwurf bleibt hinter den in der Seelsorgeund Beratungsausbildung bereits erreichten Möglichkeiten zurück, methodisch kompetente Kommunikation zu erlernen. Das Modell des seelsorglichen Kurzgesprächs geht darüber hinaus und macht es sich zur Aufgabe, auf die häufigen Alltags­ gespräche methodisch und von einem theologischen Leitgedanken her gestaltend einzuwirken. Die Kurzzeitseelsorge steht damit zwischen beratender Seelsorge und Alltagsseelsorge. Sie entdeckt im Gespräch mit der systemischen Therapie, insbesondere der Kurztherapie, kommunikative Instrumente, die helfen, gerade die informellen Gespräche sinnvoll zu gestalten, den Bedürfnissen der Ratsuchenden entgegenzukommen und die befreiende Botschaft des Evangeliums zur Sprache zu bringen. Die Methode des Kurz­ gesprächs will zwischen »Spezialisten« und »Laien« eine Brücke bauen und die Beteiligung der Gemeindeglieder an der Seelsorge159

arbeit stärken, indem sie ihnen das Handwerkszeug zur Verfügung stellt, das auch die professionellen Seelsorgenden benutzen. Der theologische Leitgedanke ist, Menschen aufgrund der Rechtfertigung allein aus Glauben zu helfen, ihr Leben in der Gemeinschaft selbst verantwortlich zu gestalten. Das Kurzgespräch will ihnen dabei einen ersten Schritt weiterhelfen. Es geht darum, in kleine Münze umzusetzen, was es heißt, dass der Mensch als Person durch die rechtfertigende Gnade Gottes konstituiert wird, wie Martin Luther in der »Disputatio De Homine« sagt. Die Rechtfertigung als Sprachgeschehen macht den Menschen erkennbar als immer schon von dem göttlichen Du Angesprochenen, der nur darum ein individuelles Selbst zu sein vermag, weil er durch den Zuspruch dieses Du anerkannt wird. Dieser anerkennende Zuspruch bezieht sich, so die paulinische Rechtfertigungslehre, auf das Leben als neues Geschöpf, das in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi begründet ist und an dem der von Gott Angesprochene teilhat. Es geht also um die Möglichkeit eines neuen Selbstseins als Gottes Geschöpf, das im Glauben angenommen wird und als Leben in endlicher Freiheit gestaltet werden kann und soll. Der Zuspruch der Freiheit impliziert die Verantwortung zur Gestaltung des Lebens als Selbst, das stets auf andere bezogen ist und darum auch ihnen gegenüber zur Antwort und Verantwortung verpflichtet ist. Der Mensch wird durch den Zuspruch des neuen Lebens als Wesen qualifiziert, das ein Leben als freies Geschöpf von sich aus nicht erreicht hat und stets verfehlt, solange es dem Ruf des göttlichen Du nicht entspricht, als Sünder. Kurzzeitseelsorge baut auf die Möglichkeit des neuen Lebens, das Gott schenkt, und bewegt sich in einem Raum der Hoffnung auf die Zukunft dieses Lebens. Sie soll dadurch konkret werden, dass Menschen, die in Problemen gefangen sind, Mut zur Zukunft fassen und einen Schritt weitergehen können. Ermutigung und Trost sind für sie ebenso kennzeichnend wie die konfrontierende Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun und die parakletische ethische Orientierung des Handelns.

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5.2. Die Verwurzelung des seelsorglichen Kurzgesprächs im systemischen Denken Das seelsorgliche Kurzgespräch greift Einsichten des systemischen Denkens auf, die zu einem Perspektivwechsel in der Psychotherapie und in den letzten Jahren auch in der Seelsorge geführt haben. Wichtig ist hier vor allem die lösungsorientierte Kurztherapie Steve de Shazers, die Ansätze von Watzlawicks Arbeitsgruppe am Mental Research Institute in Palo Alto weiterentwickelt. Ich will den Bezug zum systemischen Ansatz an zwei zentralen Themen zeigen: der Verständigung und der Veränderung oder dem Wandel des Verhaltens. Systemisches Denken beruht auf einem epistemologischen Wech­ sel, der das Ganze eines biologischen oder sozialen Systems und das Zusammenspiel seiner Teile in den Blick nimmt. Individuen und menschliche Gruppen werden im Rahmen einer Kybernetik zweiter Ordnung als autopoietische Systeme gesehen, die sich durch die Interaktion mit der Umwelt organisieren und strukturieren. Sie sind nach innen und nach außen relativ abgeschlossen und mit der Umwelt durch die Kommunikation verkoppelt. Das bedeutet, dass sie innere Prozesse und das, was von außen auf sie zukommt, zunächst als beobachtende Person wahrnehmen. Sie haben keinen unmittelbaren Zugang zu sich selbst oder zur Umwelt. Die Wahrnehmung selbst ist eine komplexe Leistung der beobachtenden Person, in der Umweltreize nach internen Regeln ausgewählt und sinnhaft verarbeitet werden. In sozialen Systemen – und menschliche Individuen sind wahrnehmbar nur als Teil von sozialen Systemen – ist Sinn die Kategorie für die Verarbeitung der Impulse aus der Umwelt. Wahrnehmungen sind Wirklichkeitskonstruktionen, in denen ein Einzelner oder eine Gruppe von Anfang an als Interpreten in komplexen Zeichenprozessen tätig sind, aufgrund eigener Vorerfahrungen und durch diese festgelegten Maßstäbe für das, was wichtig und unwichtig erscheint und was das Beobachtete bedeuten kann. Auf dieser Basis verhält sich das System dann zu seiner Umwelt und wird von anderen Systemen beobachtet. Für die Hermeneutik des Gesprächs bedeutet dies, dass wir grundsätzlich nicht davon ausgehen können, dass die beiden Gesprächspartner sich unmittelbar 161

verstehen. Sie müssen die Verständigung erst erarbeiten, und dies ist ein gemeinsamer Prozess, in dem jeder seine Sicht und Deutung der Wirklichkeit vor dem anderen ausdrückt. Dass die Verständigung gelingt, ist letztlich unverfügbar, theologisch gesprochen, ein Geschenk des Heiligen Geistes, der, wie es die Pfingstgeschichte zeigt, die Verständigung der bleibend verschiedenen Menschen wirkt. Die Kommunikation von in sich relativ abgeschlossenen Systemen setzt voraus, dass diese miteinander verkoppelt sind wie zwei Tänzer, die sich beim Walzer mit ihrem Körper auf die Bewegungen einstellen – und dennoch tanzt, genau besehen, jeder für sich. Bei der Kommunikation wird eigentlich keine Information übertragen. Vielmehr bildet jeder aufgrund seiner Wahrnehmung eine Deutung der Situation. Und dennoch entsteht etwas Gemeinsames. Man kann ein Gespräch dann vergleichen mit einem Tennisspiel: Einer hat den Aufschlag, der andere stellt sich in seiner Replik darauf ein und schafft eine Lage, auf die sich der Erste nun wiederum einstellen muss. Viele, oft unberechenbare Umweltfaktoren, Sonne, Regen, Wind, der Beifall des Publikums etc. wirken auf das Spiel ein. Letztlich wird es aber von den beiden als die gemeinsame Realität, die sie jetzt verbindet, geschaffen. Wie das Spiel, so ist das Gespräch die gemeinsame Wirklichkeit, die von den Gesprächspartnern geschaffen wird und die sie jetzt verbindet. Kurzgespräche leben davon, dass sich hier Gesprächspartner, die zu verschiedenen Systemen gehören, verkoppeln und ein gemeinsames Spiel beginnen, in dem ernste Fragen und Themen angesprochen und bearbeitet werden können. Das systemische Denken stellt die tief verwurzelte Überzeugung infrage, dass die Veränderung des Verhaltens in der Regel ein langwieriger Prozess sei. Gilt jedoch, dass unsere in der Sozialisation erworbenen Verhaltensmuster eine jeweils aktuell im Spiel der Interaktion neu erzeugte gemeinsame Wirklichkeit sind, dann können sie sich ändern, wenn die Interaktionssituation, also das Spiel sich verändert. Andere Mitspieler, andere Spielregeln, ein anderes Spielfeld, andere Rahmenbedingungen können dazu nötigen, sich neu und anders zu verhalten. Ein drei Jahre alter Junge, der neu in den Kindergarten gekommen ist, schafft es nicht, sich von seiner Mutter zu lösen, die ihn 162

dort morgens hinbringt. Weil er weint, wenn sie gehen will, bleibt sie länger dort, was ihm den Abschied noch schwerer macht. Als jedoch eines Tages der Vater den Jungen in den Kindergarten bringt, weil die Mutter verhindert ist, gelingt es dem Kleinen schnell, die Tränen herunterzuschlucken und mit den anderen Kindern zu spielen; denn für seinen Umgang mit dem Vater gelten offenbar andere Regeln als für die Mutter. Man hat dies als eine Lösung zweiter Ordnung bezeichnet (vgl. dazu Watzlawick / Weakland / Fisch 1974). Sie versucht ein Problem nicht durch »mehr desselben«, also durch eine Wiederholung oder Verstärkung der bisher angewandten Lösungsansätze anzugehen, sondern setzt eine Ebene höher an und verändert den Lösungsweg. Im Gespräch können Lösungen zweiter Ordnung erarbeitet werden. Die Interaktion im Gespräch selbst kann z. B. durch die Veränderung von Kommunikationsregeln eine Verhaltensänderung bewirken. Peter Bukowski (2009, S. 58) berichtet vom Gespräch eines akut suizidalen Mannes mit dem Seelsorger. Als dieser merkt, dass es ihm nicht gelingt, den Mann von seiner Absicht abzubringen, fällt ihm die Geschichte vom Feigenbaum ein. Er erzählt, wie Jesus einmal an einem Feigenbaum vorbeigekommen ist, den sein Besitzer abhacken wollte, weil er keine Früchte brachte. Jesus sagte zu dem Besitzer: »Gib ihm noch ein Jahr. Wenn er dann keine Früchte bringt , kannst du ihn abhacken.« Der suizidale Mann ist von dem Satz berührt. Er murmelte ihn einige Male vor sich hin. Dann wiederholt er ihn laut – und sagt dann: »Ein guter Satz« und beginnt die Lösung für den Feigenbaum auf seine Situation zu übertragen. Die akute suizidale Einengung der Wahrnehmung ist überwunden. Das Ergebnis des Gesprächs ist eine Vereinbarung, dass der Mann sich noch eine Frist gibt und mit dem Seelsorger weitere Kontakte vereinbart, um mit ihm über seine Lebenssituation zu sprechen. Durch die Erzählung wechselt der Seelsorger auf das Gebiet der analogen, metaphorischen Kommunikation, die eine Identifikation des Suizidalen mit dem Feigenbaum und die Anwendung des Lösungsvorschlags Jesu für den Feigenbaum auf das eigene Leben erlaubt. Die Veränderung des Kommunikationsmodus hat in sehr kurzer Zeit den Wandel des Verhaltens im Sinne einer Lösung zweiter Ordnung ausgelöst. Der Mann kommt einen Schritt weiter. 163

Genau dies ist die besondere Chance und die Aufgabe des seelsorglichen Kurzgesprächs. Es macht ernst mit der Möglichkeit des Andersseins und rechnet damit, dass Interaktionssysteme und damit auch die Menschen, die in sie eingebunden sind, sich auch kurzfristig ändern können. Sein Ziel ist es, sein Gegenüber in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit einen Schritt weiterzuführen. Dabei kann es sich auf historische Vorbilder berufen: die kurzen Dialoge des synoptischen Jesus etwa oder die Seelsorge der Wüstenväter aus der Frühzeit des Mönchtums. Der hier vorgestellte Ansatz befindet sich also in guter Gesellschaft.

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6 Anhang

Training im Kurzgespräch

Dieses Kapitel enthält Anregungen für Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach der Teilnahme an einem Ausbildungskurs im Kurzgespräch der AgK62. Mit diesen Vorkenntnissen sind die Ausführungen dieses Anhangs sinnvoll in einem Training umzusetzen; die folgenden Anleitungen umfassen nicht alle Komponenten des Kurzgesprächs. Nachdem Sie an einem Ausbildungskurs im Kurzgespräch teilgenommen haben und nun wieder in Ihrem Seelsorgealltag angekommen sind, wartet auf Sie die Probe aufs Exempel: Was von dem Erfahrenen, Erlernten und in der Kurssituation ansatzweise Gekonnten lässt sich in Ihre Praxis übernehmen? Einige Anregungen haben Ihnen vermutlich sogleich eingeleuchtet und schienen Ihnen mühelos annehmbar, etwa: den vorsichtigen Konjunktiv in den klärenden Indikativ zu übertragen oder Nominalisierungen in Prozessverben zu transformieren. Anderes wiederum fällt Ihnen vielleicht schwer, z. B. sich vom Konfliktkarussell zu lösen oder das Gespräch zu entschleunigen. Die Anleitungen dieses Trainingskapitels möchten Sie ermutigen, nicht zu verzagen, sondern Schritt für Schritt Ihre Kompetenz im seelsorglichen Kurzgespräch aufzubauen und so Ihrer Seelsorgepraxis eine eigene Strahlkraft zu verleihen. 62 Die in den hier dargelegten Fertigkeiten im Kurzgespräch ausgebildeten Trainerinnen und Trainer haben sich zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen, um den Qualitätsstandard dieser Methode zu gewährleisten. Es empfiehlt sich, den Kontakt zu dieser Arbeitsgemeinschaft aufzunehmen und eine entsprechende Ausbildung zu vereinbaren: www. kurzgespräch.de

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Hier finden Sie sechs von mir als sinnvoll für das eigene Üben erachtete Trainingsfelder. Sie haben gewiss genug in Ihrem Berufsalltag zu tun. Diese Übungen brauchen ihre Zeit: beobachten, merken, aufschreiben, Reaktionen ausdenken, notieren, überprüfen, sich mit einer Kollegin oder einem Kollegen austauschen, nochmal im Buch nachlesen, weiter beobachten, reflektieren, meditieren, Erfolge markieren, Misserfolge analysieren, Kraft sammeln, mit Gott sprechen, bitten. Wer Noten lesen kann, kann noch lange nicht Klavier spielen, sagt der Volksmund. Gleiches gilt für das Erlernen des Kurzgesprächs. Die theoretischen Voraussetzungen und auch die praktischen Fertigkeiten lassen sich in ihrer verschrifteten Form lesen und werden verstandesmäßig auch erfasst; die praktische Umsetzung in alltägliche Begegnungen oder Gespräche ist damit nicht gegeben. Es will geübt sein, – die Gunst der Stunde auch für sich anzunehmen, – das Gehirn auf andere Filterfunktionen umzustellen, – die Merkfähigkeit des Gehirns umzuorientieren, – zur Ruhe zu finden und Mut zur Tiefe zu haben, – mäeutische Impulse zu setzen, – solidarisch zu sein und sich mit dem Leben zu verbünden. Und wie beim Klavierspielen reicht es nicht, lediglich die Tonleitern rauf- und runterzuspielen: Zum Kurzgespräch gehört schon eine Virtuosität, die – bildlich gesprochen – über einfache Kinderlieder hinausgeht. Dazu gehört regelmäßiges Training.63 Zum Kurzgespräch gehören zwei Menschen, also lassen sich die praktischen Fertigkeiten sinnvoll im Miteinander von zwei Personen erlernen: eine in der Situation der ratsuchenden Person (R) und eine als angesprochene Person (A). Dazu gehört als hilfreiches Korrektiv eine Supervision der Lernfortschritte im Üben. Über diese Supervision kann vor allem A, aber auch R lernen, sich mit ihren individuellen Stärken und Schwächen der Wahrnehmung, vor allem aber auch des verbalen und paralinguistischen Ausdrucks auseinanderzusetzen. 63 Ein Tourist fragt einen Berliner: »Wie komme ich zur Philharmonie?« Antwortet der: »Üben, üben, üben!«

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Tandemlernen bedeutet, dass die Rollen gewechselt werden, und wenn eine dritte Person, der Supervisor oder die Supervisorin (S), hinzugezogen wird, ergibt sich eine höchst effiziente Lernsituation: Jede Person ist im Wechsel sowohl die ratsuchende Person als auch die angesprochene Person als auch die supervidierende Person. Ich gebe ein paar Anleitungen zum Üben in einer entsprechenden Kleingruppe, die mir für ein gemeinsames Lernen und Trainieren besonders geeignet erscheinen. Zu jedem Aspekt gibt es zunächst ein paar kurze Erinnerungen. Darauf folgen Hinweise auf die vorbereitende Eigenarbeit, dann die Anweisungen für das Tandemlernen, abschließend das Lernziel.

6.1 Zur »günstigen Gelegenheit« Kurz zur Erinnerung

Die günstige Gelegenheit kann man natürlich nicht trainieren, allerdings lässt sich die Wahrnehmung für diese (meist) einmaligen Situationen schärfen. Die Zufallsbegegnung, das Zwischen-Tür-und-Angel-Gespräch, das Nebenbei-Geplaudere, der berühmte Small Talk – sie alle bergen nicht zwangsläufig die Chance auf ein seelsorgliches Gespräch, aber es könnte sein, dass mein Gegenüber das irgendwie doch möchte. Denn der Impuls zur Qualifizierung der Situation zu einem seelsorglichen Gespräch geht zunächst von meinem Gegenüber aus: Mein Gegenüber sucht mich, spricht mich an, will etwas von mir, macht sich »an mich ran«. Wie kann ich ahnen oder gar wissen, dass mein Gegenüber etwas auf dem Herzen hat? Für die seelsorgende / angesprochene Person gilt es, sich nicht von vorgefassten Idealsituationen einengen zu lassen: Ich muss Zeit haben, wir brauchen einen angemessenen Ort (Raum) und bin ich überhaupt das angemessene Gegenüber. Das Respektieren der von meinem Gegenüber gewählten Situation (Zeit, Ort, Person) ist eine wesentliche Voraussetzung für ein seelsorgliches Kurzgespräch. Es gibt keine andere Wahl: – So und nicht anders oder woanders möchte mein Gegenüber mit mir das Gespräch führen.

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– Jetzt und nicht irgendwann anders möchte mein Gegenüber mit mir ins Gespräch kommen. – Ich und keine andere Person ist als anzusprechendes Gegenüber gewählt worden. Ein Beispiel: »Mensch, toll, dass ich dich hier treffe. Ich hab gar nicht gewusst, dass du dich auch für Politik interessierst.«

Zwei Anschlussmöglichkeiten bieten sich an: – »Mensch, toll, dass ich dich hier treffe.« – »Ich hab gar nicht gewusst, dass …« Schließe ich am Politikthema an, wird es ein Small Talk. Beim Anschluss an der Vorbemerkung geht es um den Versuch (Irrtum nicht ausgeschlossen!), was mein Gegenüber (eigentlich) möchte: – »Was macht dich toll↓. » – »Worauf werden wir treffen↓.«

Diese beiläufigen kurzen Bemerkungen – im Stil des mäeutischen Impulses gesprochen – können vom Gegenüber mühelos übergangen, aber auch aufgegriffen werden. Wie beim Konfliktkarussell gilt es, die Aus-/Ansage des Gegenübers beim Zuhören zu differenzieren: in eine persönliche Vorbemerkung (Kommentar) und eine Einladung zum Small Talk. Und das lässt sich an vielen Gesprächen üben, die Sie im Laufe des Tages führen. Eigenarbeit

Zunächst geht es beim Üben um das Hören / Wahrnehmen dieser doppelten Botschaft, oft besser lange nach dem Gespräch im ruhigen Durchdenken dessen, was Ihnen im Laufe des Tages gesprächsweise eröffnet wurde. Deshalb notieren Sie bitte die Anfänge verschiedener Gelegenheitsgespräche, wenn möglich ein bis zwei pro Tag. Versuchen Sie, anhand der Notizen schon mal selbst heraus­zufinden, wie / womit die ratsuchende Person die Gelegenheit für sich als günstig qualifiziert. Unterstreichen oder exzerpieren Sie 168

die entscheidenden Wörter. Entwerfen Sie daraufhin kurze, kleine mäeutische Impulse. Tandemlernen

Im wechselnden Rollenspiel lassen sich die Notizen von den Teilnehmenden in Übungsgespräche umsetzen. Dabei wird vor allem das Feedback von der ratsuchenden Person auf die angesprochene Person sorgsam zu analysieren sein: Welcher Impuls hat mich (R) am tiefsten bewegt? Bald ist Ihre Wahrnehmung und die der beiden anderen darin so geschult, dass Sie nicht mehr anders können, als die Gesprächseröffnungen »differenziert« zu hören. Ob möglicherweise ein Mensch bei Ihnen ein seelsorgliches Gespräch sucht, werden Sie herausfinden, indem Sie sich auf die Vorgehensweise von »Versuch und Irrtum« einlassen: – Setzen Sie (eher beiläufig) einen kleinen mäeutischen Impuls. – Wenn sie spüren und / oder merken, dass im Gegenüber ein »Geburtsvorgang« einsetzt, dann machen Sie ein paar Schritte weiter im seelsorglichen Gespräch, nur um sich sicher zu sein; es geht dann nicht darum, den »Fall« durchzuspielen. – Erfolgt nichts Besonderes, fahren Sie fort im Small Talk, und auch das sollten Sie üben. Lernziel

Wie, womit und wann qualifiziert die ratsuchende Person eine Gelegenheit als für sich günstig.

6.2 Zur Balance (UP / DOWN – IN / OUT) Kurz zur Erinnerung

a) Die angesprochene Person ist zu Beginn stets in der UP-Position. Sie wird aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz angesprochen (nicht immer ausdrücklich), der zugetraut und zugeschrieben wird, dass sie ein kompetentes Gegenüber ist, das mehr kann als die ansprechende Person. 169

Dazu einige Veranschaulichungen von mir: – »Ich möchte Sie mal als Seelsorger/in ansprechen.« – »Sie sind doch zur Verschwiegenheit verpflichtet …«

Zu diesen Beispielen: Sie sollen sich um die Seele Ihres Gegenübers sorgen. Das ist okay, werden Sie denken, denn es ist mein Beruf, meine Aufgabe. Dennoch können Sie Ihr Gegenüber aktivieren, dabei mitzumachen: – »Was möchten Sie für Ihre Seele besorgen↓.« – »Wie sorgen Sie für Ihre Seele↓.« – »Worüber sorgen Sie sich in Ihrer Seele↓.«

Verschwiegen zu sein, ist Ihnen selbstverständlich. Aber auch Ihr Gegenüber schlägt sich damit herum, ob es sein Schweigen brechen soll, darum: – »Was verpflichtet Sie zu schweigen↓.« – »Worüber muss geschwiegen werden↓.« – »Wie verschwiegen werden Sie sein müssen↓.«

b)  Das IN-OUT-Gefälle hinsichtlich des Informationsstandes ergibt sich gleichsam automatisch, da Ihr Gegenüber weiß, worum es ihm geht, Sie aber wissen dies nicht oder nur ansatzweise. Die naheliegende Folge ist, dass Sie dieses Gefälle durch Informationsfragen64 auszugleichen versuchen, damit jedoch häufig den »Zauberlehrling«- Effekt auslösen: Sie ertrinken in einer weitschweifigen Informationsflut. Zwei Veranschaulichungen von mir: Mal wieder eine Ehegeschichte, die mit einer Feststellung beginnt, die geradezu danach schreit, sich weitergehende Informationen einzu­ holen, um sich überhaupt ein wenig zurechtzufinden und sich maßgeblich am Gespräch beteiligen zu können: 64 Vgl. Übung 6.4 zum Fragen.

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»Das mit meinem Mann geht so nicht weiter _« Die Frau ist total IN, ich bin OUT, solange ich keine Detailkenntnisse habe. Nun, ich kann durchaus darauf verzichten und die Frau »arbeiten« lassen: – »Wie geht es für Sie weiter↓.« – »Wie weit werden Sie mit ihrem Mann gehen↓.« Ich nehme die Wörter der Frau auf und bilde daraus einen mäeutischen Impuls, der in die Zukunft weist, deren Details nun gemeinsam in den Blick genommen werden. »Haben Sie den Gottesdienst im ZDF gesehen?« Ich habe die Übertragung nicht gesehen, ich stand selbst auf der Kanzel. Ich weiß nicht, was da gesendet wurde, und ich weiß auch nicht, worauf mein Gegenüber hinauswill: ein krasses IN-OUT-Gefälle. Ich könnte mich rechtfertigen, weiß aber zugleich, dass ich damit das Gefälle nur noch erhöhe, denn mein Gegenüber wird jetzt erst richtig loslegen. – »Nein. Aber wenn ich mir einen Gottesdienst im ZDF ansehe, worauf werde ich – Ihrer Meinung nach – zu achten haben.« – »Es tut mir leid, nein. Aber wenn ich mal einen Gottesdienst im ZDF gesehen haben werde, worüber werden wir dann reden↓.« Das Futur I und noch wirkungsvoller das Futur II helfen, das unselige Gefälle von IN-OUT zu überwinden.

Eigenarbeit

Achten Sie in den nächsten Tagen darauf, wie in Gesprächen das UP / D OWN- bzw. IN / OUT-Gefälle etabliert wird, und notieren Sie sich die Gesprächssequenz. Bedenken sie alle Gespräche, also nicht nur die, die Sie als seelsorgliche qualifizieren: in der Familie, auf der Straße, im Büro, unter Kollegen und Kolleginnen, im Kirchenamt usw. Gehen Sie in Gedanken die Gespräche des heutigen Tages nochmals durch und achten Sie nicht auf den Konflikt / das Anliegen, sondern darauf, welche Funktion, Aufgabe, Zumutung Ihnen zugesprochen wurde. Notieren Sie den genauen Wortlaut. Nun nehmen Sie sich Ihre Notizen vor und schreiben Sie Ihre Interventionen unter die notierten Gesprächsanfänge. Verfolgen Sie dabei die Regel, nur Wörter Ihres Gegenübers zu verwenden, 171

diese ggf. leicht zu modifizieren und in einen mäeutischen Impuls zu verwandeln. Vielleicht fallen Ihnen mehrere Impulse ein; notieren Sie alle. Tandemlernen

Tragen Sie sich wechselseitig alle notierten Gesprächssequenzen vor und diskutieren Sie zunächst die offensichtliche oder auch versteckte Zuschreibung. Dann bitte der Reihe nach: – Die beiden anderen bitten, Ihnen auf Ihre Gesprächsnotiz ihre Intervention zu sagen, und Sie spüren dem nach, was diese in Ihnen auslöst. – Erst dann teilen Sie den anderen Ihre Intervention mit. – Diskutieren Sie die Differenzen; es gibt nicht die richtige Intervention, sondern hilfreiche und weniger hilfreiche oder gar wirkungslose. Lernziel

Wie muss ich vorgehen, um eine symmetrisch-solidarische Achse im Kurzgespräch zu erreichen.

6.3 Zum Konfliktkarussell Kurz zur Erinnerung

Dass Sie in einem Konfliktkarussell hängen, merken Sie an Ihrem Unwillen oder auch Ärger, der sich in Ihnen während des Gesprächs langsam, aber sicher breit macht. Sie sind bisher darauf eingestellt, vielleicht sogar fixiert, auf den Konflikt zu achten, auf alle Einzelheiten und Verästelungen des Konflikts und auf deren emotionale Gewichtung durch Ihr Gegenüber. Das ist die Einladung, in das Konfliktkarussell einzusteigen. Ein Beispiel: »Also eigentlich dreht sich in letzter Zeit alles um meine Schwiegereltern. Sie mischen sich ständig ein, wissen immer alles besser.

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Besonders, was die Erziehung von unserem Sohn angeht. Das ist doch unsere Sache! Und dann geraten mein Mann und ich aneinander, weil er seinen Eltern nicht mal die Meinung sagt und mir sogar in den Rücken fällt. Dauernd gibt es Stress deswegen. Ich hab es so satt.« (Christine S., 33 Jahre)65

In den Wortschwall über den Konflikt sind bewertende Kommentare eingestreut: – »Also, eigentlich dreht sich in letzter Zeit …« – »Das ist doch unsere Sache!« – »Ich hab es so satt.« Diese Kommentare offenbaren der seelsorgenden Person, was und wo sie jenseits des Konflikt(karussell)s mit ihrem Gegenüber in ein hilfreiches seelsorgliches Gespräch kommen kann: – »Worum dreht es sich hier?« – »Was ist Sache?« – »Worauf hat die angesprochene Person Hunger?«

Aufgeschrieben sieht das ganz einfach aus. In der Wirklichkeit eines Gesprächs kommt jedoch hinzu, dass die Konfliktsignale Impulse aussenden: – Ich bin ein bemitleidenswertes Opfer – hilf mir! – Ich stecke in einer Sackgasse – erlöse mich! – Bei mir herrscht nur Chaos – schaffe Ordnung! Eigenarbeit

Wann immer Sie in ein Konfliktkarussell geraten sind, lohnt es sich, sich im »Nach-denken« über das Geschehene Notizen zu machen, nicht über den Konflikt und seine Einzelheiten, sondern über die begleitenden Kommentare. Je öfter Sie das machen, desto schneller steht Ihnen Ihr Kurzzeitgedächtnis für die begleitenden Kommentare das nächste Mal in einer aktuellen Gesprächssituation zur Verfügung. 65 Siehe S. 74; Texttafeln mit Konfliktschilderungen auf dem DEKT Stuttgart.

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Notieren Sie sich auch das von Ihnen wahrgenommene Signal (Opfer / Sackgasse / Chaos). Tandemlernen

Im wechselnden Rollenspiel präsentiert eine Person (R) ein von ihr notiertes Konfliktkarussell mit den eingestreuten Kommentaren. Die beiden anderen notieren sich schriftlich die bemerkten Kommentare und tauschen sich über ihre (gleiche?) Merkfähigkeit aus, dann über das Hilfe-Signal. Daraufhin verlässt R den Raum und A + S überlegen sich verschiedene Interventionen. Diese bieten sie der ratsuchenden Person im folgenden Übungsspiel an. Wieder geht es darum, welche Intervention die stärkste Wirkung hervorbrachte66. Lernziel

Ruhiges (Pausen!), gezielt betontes Eingeben eines mäeutischen Impulses, um das Karussell zu beenden.

6.4 Zum Fragen Kurz zur Erinnerung

Unser alltägliches Gespräch wird belebt von unterschiedlichen Fragen. Nicht nur für das seelsorgliche Kurzgespräch ist es hilfreich, die Wirkweise von Fragen zu kennen.

66 Setzen Sie sich nicht unter Druck, Sie müssten gleich zu Beginn mit Ihrer wohlbedachten Intervention Erfolg haben. Meist liegt es an einer inter- und intramodal inkongruenten Eingabe, dass Ihr mäeutischer Impuls verpufft. Versuchen Sie es dann nochmals, anders formuliert und anders betont, etwa so eingeleitet: »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie unterbreche.« Pause. Dann: Ihr Impuls. Ihr Gegenüber wird Ihnen dankbar sein.

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Informationsfragen

Wenn uns Informationen fehlen, fragen wir: »Wie spät ist es?«  – »11 Uhr 15«; »Wie viel kostet das Bier?«  – »2 Euro 20«

Jedoch: – »Was hast du gemacht?« – »Wo warst du so lange?« – »Was möchtest du mir nicht sagen?«

Diese letzten Informationsfragen beantworte ich vielleicht nicht so gern. Wenn Informationsfragen in die angesprochene Person eindringen und sie auffordern, Einzelheiten, Daten, Privates, Geheimnisse herzugeben, belasten, blockieren, ja zerstören sie ein offenes Gespräch. Ein anderer Effekt von Informationsfragen kommt zum Tragen, wenn die angesprochene Person bereitwillig alles beantwortet, was die seelsorgende Person an Informationen im Zusammenhang mit dem Konflikt zu erfahren wünscht: Je mehr Informationen die angesprochene Person hergibt, desto größer wird ihre Erwartung, dass die seelsorgende Person eine Lösung des Problems wüsste. Begründungsfragen

Wieso, weshalb, warum – diese drei Fragepartikel dienen zur Einführung von Begründungsfragen. Der IST-Zustand wird auf seine Geschichte hin »untersucht«. Das führt zu weitschweifigen Begründungen seitens Ihres Gegenübers, meist mit dem Ergebnis, dass dieses gerechtfertigt dasteht. Ein Kreislauf längst durchwanderter Gedanken, oft wiederholter (vergeblicher) Versuche betreibt die stets rückwärtsgewandte Ursache-Wirkung-Mühle und erschöpft über kurz oder lang beide: seelsorgende Person und Gegenüber.

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Geschlossene Fragen – »Hast du deine Hausaufgaben gemacht?« Dieser Frage ist kaum auszuweichen: JA oder NEIN oder irgendeine meist nicht wirklich überzeugende Ausrede. – »Waren Sie schon in der Ausstellung?« Einfach nur peinlich, wenn ich darauf mit Nein antworten muss, wenn ich mich denn nicht herausreden will. – »Haben Sie schon mal an Scheidung gedacht?« Das ist wie eine Pistole auf der Brust.

Geschlossene Fragen produzieren stets ungute Gefühle beim Gegenüber (selbst wenn man klar mit JA oder NEIN antworten kann); denn aus der Rolle des potenziell Verdächtigten kommt man nicht heraus. Abgesehen davon dient diese Fragehaltung der Bestätigung der Einschätzung / des Selbstverständnisses / der Selbstvergewisserung der fragenden Person. Eigenarbeit

Ein »Männlein im Ohr«, das Ihnen bei jeder Frage, die Sie in Ihrem alltäglichen Geschehen stellen, ins Ohr flüstert: »Info-, Begründungs-, geschlossene Frage, das könnte Ihnen helfen, ob Sie wirklich so fragen wollten und ob diese Frage Ihnen etwas gebracht hat.« Tandemlernen

Jede Trainingsperson kommt an die Reihe, intensiv mit Informationsfragen, dann mit Begründungsfragen und dann mit geschlossenen Fragen von den beiden anderen bombardiert zu werden, und zwar auf eine harmlose, aber authentische Ich-Aussage hin – z. B. »Ich bin müde.« Auf jede Fragerunde folgt eine Feedback-Runde: Was hat diese Art, mich zu fragen, mit mir gemacht? Lernziel

Sinnmachend fragen. 176

6.5 Zur Sprache Kurz zur Erinnerung

Für das Training der professionellen Sprache der seelsorgenden Person (neben der persönlichen) bieten sich drei Bereiche an: 1) Übernahme der Wörter des Gegenübers In den Übungsanleitungen zum Konfliktkarussell, zum Mäeutischen Impuls und zum Schlüsselwort weise ich darauf hin, wie entscheidend es für ein seelsorgliches Kurzgespräch ist, die Sprache (Wörter, Vokabular) des Gegenübers aufzunehmen, um keine unnötigen Verwirrungen und Abwege zu evozieren. Wer geübt ist im mimischen Feedback-Lesen, wird beides unmittelbar wahrnehmen können: Die entspannte Zustimmung des Gegenübers, wenn diese Regel befolgt wird, und die unwillige Irritation zum eben Gesagten, wenn in der Sprache der angesprochenen Person verbalisiert wird. 2) Der klare Indikativ Der klare Indikativ führt eindeutig weiter als der scheinbar höfliche Konjunktiv. Es gilt zu üben, die konjunktivische Redeweise (mit »würde«, »könnte«) aus Ihrer professionellen Sprache zu eliminieren. Meine einfache Handreichung dazu: Jedes Mal, wenn Ihnen wieder ein »Würde / Könnte-Satz« entflohen ist, entschuldigen Sie sich bitte und wiederholen Sie Ihren Satz im Indikativ: – »Würde es Ihnen etwas ausmachen …« – Nein: »Entschuldigen Sie bitte: Wird es Ihnen etwas ausmachen …« – »Könnten Sie sich vorstellen …« – Entschuldigung: »Stellen Sie sich bitte vor …« – »Was würde passieren, wenn …« – Anders: »Was wird passieren, wenn …« – »Könnten Sie mir erklären …«  – Besser: »Erklären Sie mir bitte …«

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3) Futur benutzen Die Hoffnung hält Ausschau nach einem Zustand in der Zukunft, also ist die Sprachform des Futur I die angemessene Art von ihr zu reden. Tatsächlich ist diese sprachliche Zukunftsform fast gänzlich aus unserer Umgangssprache verschwunden. Das wird Sie nicht daran hindern, in Ihrer professionellen Sprache vom Futur I Gebrauch zu machen. – »Wann lassen Sie sich scheiden?«  – »Wann werden Sie sich scheiden lassen?« – »Wie ändern Sie das?« – »Wie werden Sie das ändern?« – »Wohin wollen Sie gehen, wenn …?« – »Wohin werden Sie gehen, wenn …?«

Tandemlernen

Als ratsuchende Person formulieren Sie einen Konflikt 1) in sehr eigener Sprache (Wörter), 2) in konjunktivischer Form, 3) mit Wünschen für die Zukunft, jedoch in präsentischer Verbform. Die beratende Person übt die beschriebenen »Umwandlungen«, und zusammen mit der supervidierenden Person wird die Wirkung überprüft. Lernziel

Bei allen Tandemübungen auf das klare Encoding achten.

6.6 Zum mäeutischen Impuls Kurz zur Erinnerung

Um sich dem Geheimnis eines Menschen nähern zu können, bedarf es eines Schlüsselwortes. Dieses verbirgt sich in der Sprache (in den Wörtern) des Gegenübers und ist weder dem Gegenüber noch der seelsorgenden Person als solches bekannt oder als solches auf den ersten Blick erkennbar. 178

Das Schlüsselwort taucht nicht in der Konfliktschilderung auf, sondern in den begleitenden Kommentaren. Es gibt keine Kriterien, nach denen die Wahrscheinlichkeit eines Wortes als Schlüsselwort bestimmt werden könnte; die seelsorgende Person wird es auf Versuch und Irrtum ankommen lassen, sich auf ihre Intuition verlassen oder auf eine erhellende Zuflüsterung des Heiligen Geistes hoffen. Da der mäeutische Impuls bewirken will, dass mein Gegenüber »etwas« Neues zur Welt bringt, ergeben sich folgende Kriterien für seine Formulierung: – Ein mäeutischer Impuls ist in die Zukunft gerichtet, das heißt: Ein klarer Indikativ, Futur I und II sind angesagt. – Im mäeutischen Impuls wird / werden fast ausschließlich die »Sprache« / »Wörter« des Gegenübers benutzt. (Die Eintragung eigener sprachlicher Begriff‌lichkeit wird strikt vermieden!) – Das (oder ein mögliches) Schlüsselwort wird »hervor-ragend« eingebaut. Wieder das Beispiel von Christine S.67: »Also eigentlich dreht sich in letzter Zeit alles um meine Schwiegereltern. Sie mischen sich ständig ein, wissen immer alles besser. Besonders, was die Erziehung von unserem Sohn angeht. Das ist doch unsere Sache! Und dann geraten mein Mann und ich aneinander, weil er seinen Eltern nicht mal die Meinung sagt und mir sogar in den Rücken fällt. Dauernd gibt es Stress deswegen. Ich hab es so satt.« (Christine S., 33 Jahre)

In den Wortschwall über den Konflikt sind bewertende Kommentare eingestreut: – »Also, eigentlich dreht sich in letzter Zeit …« – »Das ist doch unsere Sache!« – »Ich hab es so satt.« Diese Kommentare gilt es nun, für einen mäeutischen Impuls zu nutzen.

67 Siehe S. 74; Texttafeln mit Konfliktschilderungen auf dem DEKT Stuttgart.

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Aus der Sprache des Gegenübers lassen sich folgende Wörter übernehmen: »dreht sich in letzter Zeit« – »(unsere) Sache« – »hab so satt«

Gedankenspielerisch ergeben sich folgende Möglichkeiten: – Worum dreht es sich jetzt↓. Worum wird es sich drehen↓. Worum wird es sich gedreht haben, wenn (die Schwiegereltern ausgeschlossen sein werden)↓. – Was ist Ihre Sache↓. Wie wird Ihre Sache↓. Wie wird Ihre Sache geworden sein↓. – Worauf haben Sie Hunger (Hunger hier positiv, während »so satt« negativ besetzt ist)↓. Worauf werden Sie Hunger haben, wenn …↓. Wovon werden Sie satt geworden sein, wenn …↓. Es geht aber auch ganz kurz und knapp: Worauf Hunger↓. Wie richtig satt↓. Kombiniert: – »Angenommen, Sie kriegen einen Dreh in die Sache, worauf werden Sie Hunger haben↓.«

Eigenarbeit

Zur Veranschaulichung und Übung werden im Folgenden die übrigen elf Schau-/Texttafeln des Seelsorgebereichs beim DEKT Stuttgart vorgestellt (siehe S. 74), anhand derer Sie die Schritte vom angetragenen »Auftrag« über die Differenzierung Konflikt / Kommentar zum Entdecken des / der Schlüsselwortes / Schlüsselwörter und schließlich zur Formulierung eines mäeutischen Impulses in einer »Trockenübung« für sich nachvollziehen können. Hier zunächst noch ein weiterer von mir kommentierter, ehe dann Ihre Arbeit beginnt: Auftrag Freddy ist eben außergewöhnlich. Meine Eltern haben voll das Problem damit, dass wir zusammen sind. Sie sehen überhaupt

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nicht, was für ein toller Mensch er ist und dass wir uns lieben. Ständig versuchen sie, ihn mir auszureden, aber das können sie sich abschminken! Am liebsten würde ich einfach ausziehen. (Isabella Z., 16 Jahre)

Konflikt – Kommentar(e)

Freddy ist eben außergewöhnlich. Meine Eltern haben voll das Problem damit, dass wir zusammen sind. Sie sehen überhaupt nicht, was für ein toller Mensch er ist und dass wir uns lieben. Ständig versuchen sie, ihn mir auszureden, aber das können sie sich abschminken! Am liebsten würde ich einfach ausziehen Anschlussmöglichkeiten: – »Freddy ist eben außergewöhnlich.« – »… das können sie sich abschminken!« Schlüsselwörter: – außergewöhnlich – abschminken Mäeutische Impulse: – »Woran werden Sie sich gewöhnen↓.« – »Wie / Womit schminken Sie sich↓.«

Weitere Fallbeispiele zum Trainieren: Bei den folgenden »Fällen« machen Sie diese Schritte nacheinander: – Trennen Sie Konflikt – Kommentar(e). – Woran können Sie anschließen? – Welche Schlüsselwörter entdecken Sie? – Formulieren Sie einen mäeutischen Impuls (oder mehrere). Ich bin in der Warteposition. Ich weiß, dass ich sie verletzt habe und warte jetzt darauf, ob sie mich wieder nimmt. Versuche, alles zu tun: Tröste sie, wenn sie traurig ist, bin für die da, wenn sie mich braucht. Aber diese Ungewissheit, die macht mich langsam verrückt. (Klaus P., 47 Jahre)

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Ich habe ein sehr schweres Jahr hinter mir. Bei meiner kleinen Schwester ist Leukämie festgestellt worden, und es folgte das volle Programm – mit Chemo und allem. Meine Eltern waren völlig überfordert. Ich habe Lisa fast täglich im Krankenhaus besucht, aber weiterhin Vollzeit gearbeitet. Irgendwie habe ich einfach funktioniert. Bis vor ein paar Wochen eben. Da kam dann plötzlich der totale Zusammenbruch bei mir, mit Dauerschwindel, Schlafproblemen, Panikattacken. (Lars M., 24 Jahre) Seit dieser ganzen Sache ist es nicht mehr wie früher zwischen uns. Irgendetwas ist da kaputt gegangen. Eigentlich haben wir ja alles geklärt, haben uns ausgesprochen und so … Und wir wollen ja auch beide die Beziehung wieder. Und trotzdem kann ich ihm nicht mehr richtig vertrauen. Verstehen Sie? (Beate D., 43 Jahre) Zu Hause rumsitzen und nichts tun, das ist nichts für mich. Ich bin einfach ein Arbeitstier, das war ich immer schon. Es ist ja auch nicht so, als könnte ich nicht mehr arbeiten. Ich darf schlichtweg nicht mehr! Stellen Sie sich das mal vor: Jemand verbietet Ihnen zu arbeiten – völlig grundlos! Nur weil Sie ein bestimmtes Alter erreichen. Das ist ja wohl kein Wunder, dass man depressiv wird … (Karl-Heinz D., 68 Jahre) Nie mache ich etwas richtig. Ich sage Ihnen, alles was ich mache, ist verkehrt. Koche ich, sagt sie, sie will nichts, koche ich nicht, sagt sie: »Gibt es heute nichts, ich habe solchen Hunger.« Das soll mal einer verstehen, das soll mal einer aushalten! (Javor K., 53 Jahre) Meine beiden Söhne sind wie Feuer und Wasser. Der Kleine ist der absolute Wirbelwind, immer in Aktion. Jakob, der Große, ist da ganz anders. Er unterhält sich z. B. gerne in Ruhe mit mir. Für mich ist es ein totaler Spagat, beiden gerecht zu werden. Jakob fühlt sich ganz oft benachteiligt und reagiert entweder aufbrausend oder zieht sich komplett zurück. Ich verstehe ja, dass es für ihn schwer ist, aber ich sehe auch keinen Ausweg. (Annette P., 39 Jahre)

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Ja, irgendwie begannen kurz nach der Geburt die Schwierigkeiten in unserer Beziehung. Ina hat sich so verändert, ist total gereizt und flippt wegen jeder Kleinigkeit aus. Und da kann ich dann natürlich auch nicht immer ruhig bleiben, da fliegen dann schon oft die Fetzen. Eigentlich habe ich mich auf unsere kleine Familie gefreut. Aber so, wie es im Moment ist … Ich bin kurz davor auszuziehen. (Tobias S., 31 Jahre) Im März bin ich 33 geworden. Und da kam in mir irgendwie die absolute Panik auf. Also wegen dem Thema Beziehung und Kinderkriegen und so. Ich finde einfach nicht den Richtigen! Und dabei wünsch ich mir doch nichts sehnlicher als eine Familie. Aber die Uhr tickt immer lauter. (Alma F., 33 Jahre) Meine Mutter und mein Freund verstehen sich überhaupt nicht. Für mich ist das total schwierig. Ich gerate ständig zwischen die Fronten, und ich hab das Gefühl, alles wird auf meinem Rücken ausgetragen. Früher hab ich das immer so weggesteckt. Jetzt will ich nicht mehr! (Annika L., 26 Jahre) Die tun immer so, als wäre Alkohol wer weiß was für ’ne Droge. Als ob die nie jung gewesen wären und Spaß haben wollten. Ich versteh überhaupt nicht, warum meine Eltern sich immer son Kopf um alles machen. Ich bin doch kein Kind mehr! (Jan T., 17 Jahre)

Tandemlernen

– Tauschen Sie sich innerhalb der Tandemgruppe über Ihre Einfälle aus. – Erproben Sie die Ihnen am treffendsten erscheinenden mäeutischen Impulse im Tandemübungsspiel. – Erkunden Sie sich bei der ratsuchenden Person hinsichtlich der »Wirkung«.

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Übungsziel

Wachsende Sicherheit im Formulieren und Einbringen eines mäeutischen Impulses.

6.7 Schlussbemerkung Wenn Sie diese Übungen trainiert haben, sind Sie durchaus in der Lage, ein seelsorgliches Kurzgespräch zu führen. Es geht jedoch nicht nur um das Trainieren bestimmter Fertigkeiten, so notwendig deren gekonnte Handhabung ist. Grundlegend entscheidend ist Ihre seelsorgliche Haltung  – entsprechend der paulinischen Aussage: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht …« (1. Kor 13,1) Es könnte sein, dass Sie in diesen Anleitungen zum Training eine für Sie sehr wichtige Übungsanleitung vermissen, etwa die Trias »Lösungen / Ressourcen / Ziele«. Dazu wie zu den »Wortfeldern«, den »Auslassungen« oder dem »strategisch erzählen« eine kurze Anmerkung von mir: Diese Elemente lassen sich nur live in der Ausbildungsgruppe vermitteln und einüben, da Sie durch die unmittelbare Erfahrung im Vollzug für sich lernen, wie das geht und was da geht und wie und was nicht. Wenn Sie zum Beispiel miterlebt haben, wie Ihr Gegenüber zu seiner potenziellen Komplexität gefunden hat, werden Sie spüren, wozu das Kurzgespräch dient.

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