„Kulturelle Ökosystemdienstleistungen“: Eine begriffliche und methodische Kritik 9783495817261, 9783495489710


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Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
2. Grundlagen: Definitionen zentraler Begriffe des Ökosystemdienstleistungs-Ansatzes
2.1 „Ökosystem“
2.2 „Ökosystemdienstleistung“
2.3 „Kulturelle Ökosystemdienstleistung“
2.4 Doppelcharakter der Kategorie „Erholung und Tourismus“
3. Kritikpunkt 1: Terminologische Engführung auf ethischen Subjektivismus
3.1 Axiologie der Werte von Natur
Anthropozentrische Werte
Nicht-anthropozentrische Werte
„Eudaimonistische Werte“ oder „intrinsische Werte“?
3.2 Welche Werttypen erfasst das Konzept der kulturellen Ökosystemdienstleistungen?
3.3 Unangemessenheit der Rede von „Dienstleistungen“ und „Vorteilen“
4. Kritikpunkt 2: Falsche Gegenstandsbestimmung
4.1 Unbelebte Naturphänomene
4.2 Einzelne Lebewesen
4.3 Landschaftsbestandteile – das Beispiel Wald
4.4 Kulturlandschaft
Was ist eine Landschaft – Bild oder Kausalsystem?
Was ist eine Kulturlandschaft?
Das Ideal kulturlandschaftlicher Eigenart
Fazit
Nachtrag: Subjektivierende versus objektivierende Naturauffassungen
4.5 Wildnis
Was ist eine Wildnis – naturnahes Ökosystem oder symbolische Gegenwelt?
Zur Kultur- und Bedeutungsgeschichte von Wildnis
Fazit
Nachtrag: „Natürlichkeit“ ist keine ökologische Eigenschaft
4.6 Resümee für den zweiten Kritikpunkt
4.7 Vier potenzielle Einwände gegen meinen zweiten Kritikpunkt
Einwand 1: Der Ökosystembegriff wird im Ökosystemdienstleistungs-Ansatz so verwendet, dass er alle relevanten Naturphänomene umfasst
Einwand 2: Ökosysteme sind auch ästhetische Gegenstände – sogar in der Ökologie
Einwand 3: Wie auch immer die Biosphäre subjektiv wahrgenommen wird, objektiv besteht sie aus Ökosystemen
Einwand 4: Landschaftsästhetische Werte gründen in Ökosystemeigenschaften
5. Kritikpunkt 3: Kein umfassender ko-produktiver Beitrag von Ökosystemen
5.1 Kein Beitrag von Ökosystemen bei vielen unbelebten Naturphänomenen
5.2 Ökologische Prozesse sind nicht konstitutiv für intrinsische, nicht-instrumentelle Werte, (re-)produzieren aber deren belebte Träger
5.3 Ökosystemprozesse erzeugen keine einzigartigen Kulturlandschaften
5.4 Ökologische Prozesse fördern die Wahrnehmung von Natur als Wildnis, sind aber nicht immer entscheidend
5.5 Resümee für den dritten Kritikpunkt
6. Kritikpunkt 4: Methodische Fehler
6.1 Falsche Ontologie impliziert fehlerhafte Methodik
Unangemessenheit naturwissenschaftlicher Methoden
Anforderungen an geeignete Methoden
6.2 Über nur scheinbar ökologische Methoden und Parameter
Exkurs: Artendiversität – ein ökologischer und ein valider Parameter?
6.3 Über zu Unrecht dem Ökosystemdienstleistungs-Ansatz zugeordnete Studien
6.4 Resümee für den vierten Kritikpunkt
7. Kritikpunkt 5: Ein kommunikativ problematischer Begriff
8. Plädoyer für eine pluralistische Konzeptualisierung von Natur
8.1 Zusammenfassung: Fünf kritische Thesen zum Konzept der kulturellen Ökosystemdienstleistungen
8.2 Schlussfolgerung: Das Konzept der kulturellen Ökosystemdienstleistungen sollte aufgegeben werden
8.3 Lösungsvorschlag: Natur und ihre Werte pluralistisch konzeptualisieren
„Werte von Natur“ als umfassender Oberbegriff
Pluralistische Konzeptualisierung der „Werte von Natur“
„Eudaimonistische Werte“, „kulturelle Werte“ oder „ästhetisch-symbolisch-moralische Werte“?
8.4 Pluralistische Naturphilosophie gegen szientifischen Imperialismus
9. Literatur
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„Kulturelle Ökosystemdienstleistungen“: Eine begriffliche und methodische Kritik
 9783495817261, 9783495489710

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Eine begriffliche und methodische Kritik

HYSIS

Thomas Kirchhoff

»Kulturelle Ökosystemdienstleistungen«

https://doi.org/10.5771/9783495817261

BER .

B

PHYSIS A https://doi.org/10.5771/9783495817261 .

PHYSIS Herausgegeben von Gerald Hartung (Wuppertal) Nicole C. Karafyllis (Braunschweig) Kristian Köchy (Kassel) Konrad Ott (Kiel) Gregor Schiemann (Wuppertal)

Band 4 Die Reihe PHYSIS bietet eine neue Plattform für den fächerübergreifenden Diskurs zur Natur. Die klassischen Felder und Protagonisten der Naturphilosophie sind ebenso angesprochen wie aktuelle Themen und Positionen zum Natur-Kultur- oder zum Natur-Technik-Verhältnis in Kulturwissenschaften und Technosciences. Fragen zum richtigen Umgang mit der Natur – sowohl im Sinne einer grundlegenden Positionsbestimmung der Umweltethik als auch im Sinne anwendungsorientierter Fragefelder etwa im Nachhaltigkeitsdiskurs – treffen auf Bestimmungen zur Rolle der philosophischen Naturtheorie im Kontext von Naturwissenschaft und Wissenschaftstheorie. Nicht zuletzt gehören auch naturästhetische Positionen, die Debatten um Chancen und Grenzen des Naturalismus, die anthropologische Suche nach der Natur, die wir selbst sind, oder die Erörterung der Natur als Restbestand innerhalb einer umfassend technologisch und industriell gestalteten Zivilisation zu den möglichen Themenfeldern der Reihe.

https://doi.org/10.5771/9783495817261 .

Thomas Kirchhoff

»Kulturelle Ökosystemdienstleistungen« Eine begriffliche und methodische Kritik

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817261 .

Thomas Kirchhoff »Cultural Ecosystem Services« A Conceptual and Methodological Critique Nature is not only of extrinsic, instrumental value, but has manifold intrinsic, non-instrumental values for humans as well. The increasingly influential ecosystem services approach seeks to capture these intrinsic aesthetic, symbolic and moral values of nature under the concept of »cultural ecosystem services«. However, the present analysis shows that this concept features fundamental conceptual and ontological errors. These errors imply methodological inadequacies in the assessment of these values, and lead to communicative problems. The concept of cultural ecosystem services represents a ›scientific imperialism‹ that – contrary to the intention with which this concept has been introduced – undermines an appropriate process of social understanding about the preservation of natural phenomena which we esteem aesthetically, symbolically, and morally.

The author Thomas Kirchhoff studied Landscape Planning and Philosophy. He is a scientific staff member at the Protestant Institute for Interdisciplinary Research (FEST) in Heidelberg and a private lecturer/Privatdozent for Theory of Landscape at the Technical University of Munich (TUM). His main research interests are life-worldly as well as natural scientific conceptions of nature, in particular competing conceptions of nature with respect to their cultural conditions of origin, their normative content, and their pragmatic orientation achievement.

https://doi.org/10.5771/9783495817261 .

Thomas Kirchhoff »Kulturelle Ökosystemdienstleistungen« Eine begriffliche und methodische Kritik Natur hat für Menschen nicht nur extrinsische, instrumentelle Werte, sondern auch vielfältige intrinsische, nicht-instrumentelle Werte. Der immer einflussreicher werdende Ökosystemdienstleistungsansatz versucht, diese intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur als »kulturelle Ökosystemdienstleistungen« zu erfassen. Dieses Konzept beinhaltet jedoch – das zeigt die vorliegende Analyse – grundlegende begriffliche und ontologische Fehler, die methodische Unzulänglichkeiten bei der Erfassung dieser Werte implizieren und auch kommunikative Probleme mit sich bringen. Das Konzept der kulturellen Ökosystemdienstleistungen stellt einen »scientific imperialism« dar, der – entgegen der Intention, mit der dieses Konzept eingeführt worden ist – einen angemessenen gesellschaftlichen Verständigungsprozess über die Erhaltung von Naturphänomenen, die wir ästhetisch, symbolisch und moralisch wertschätzen, untergräbt.

Der Autor: Thomas Kirchhoff hat Landschaftsplanung und Philosophie studiert. Er ist wissenschaftlicher Referent an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V., Institut für Interdisziplinäre Forschung (FEST) in Heidelberg und Privatdozent für Theorie der Landschaft an der Technischen Universität München (TUM). Sein Forschungsschwerpunkt sind lebensweltliche und naturwissenschaftliche Naturauffassungen, insbesondere die kulturellen Entstehungsbedingungen, normativen Gehalte und pragmatischen Orientierungsleistungen konkurrierender Naturauffassungen.

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: Frank Hermenau, Kassel Einbandgestaltung: Anne Holzhauer und Martin Böhnert, Kassel Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-495-48971-0 E-ISBN 978-3-495-81726-1

https://doi.org/10.5771/9783495817261 .

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Grundlagen: Definitionen zentraler Begriffe des Ökosystemdienstleistungs-Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 „Ökosystem“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 „Ökosystemdienstleistung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 „Kulturelle Ökosystemdienstleistung“ . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Doppelcharakter der Kategorie „Erholung und Tourismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritikpunkt 1: Terminologische Engführung auf ethischen Subjektivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Axiologie der Werte von Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anthropozentrische Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicht-anthropozentrische Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Eudaimonistische Werte“ oder „intrinsische Werte“? . . 3.2 Welche Werttypen erfasst das Konzept der kulturellen Ökosystemdienstleistungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Unangemessenheit der Rede von „Dienstleistungen“ und „Vorteilen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kritikpunkt 2: Falsche Gegenstandsbestimmung . . . . . . . . . . . 4.1 Unbelebte Naturphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Einzelne Lebewesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Landschaftsbestandteile – das Beispiel Wald . . . . . . . . . . . 4.4 Kulturlandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist eine Landschaft – Bild oder Kausalsystem? . . . . . Was ist eine Kulturlandschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ideal kulturlandschaftlicher Eigenart . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachtrag: Subjektivierende versus objektivierende Naturauffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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23 23 26 26 29

31 32 33 38 39 41 43 47 48 50 51 54 54 58 59 64 65

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Inhalt

4.5 Wildnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist eine Wildnis – naturnahes Ökosystem oder symbolische Gegenwelt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Kultur- und Bedeutungsgeschichte von Wildnis . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachtrag: „Natürlichkeit“ ist keine ökologische Eigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Resümee für den zweiten Kritikpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Vier potenzielle Einwände gegen meinen zweiten Kritikpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einwand 1: Der Ökosystembegriff wird im Ökosystemdienstleistungs-Ansatz so verwendet, dass er alle relevanten Naturphänomene umfasst . . . . . . . Einwand 2: Ökosysteme sind auch ästhetische Gegenstände – sogar in der Ökologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einwand 3: Wie auch immer die Biosphäre subjektiv wahrgenommen wird, objektiv besteht sie aus Ökosystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einwand 4: Landschaftsästhetische Werte gründen in Ökosystemeigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67 67 69 72 73 76 78 78 79 81 85

5. Kritikpunkt 3: Kein umfassender ko-produktiver Beitrag von Ökosystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 5.1 Kein Beitrag von Ökosystemen bei vielen unbelebten Naturphänomenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5.2 Ökologische Prozesse sind nicht konstitutiv für intrinsische, nicht-instrumentelle Werte, (re-)produzieren aber deren belebte Träger . . . . . . . . . . . 100 5.3 Ökosystemprozesse erzeugen keine einzigartigen Kulturlandschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5.4 Ökologische Prozesse fördern die Wahrnehmung von Natur als Wildnis, sind aber nicht immer entscheidend 111 5.5 Resümee für den dritten Kritikpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . 114 6. Kritikpunkt 4: Methodische Fehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Falsche Ontologie impliziert fehlerhafte Methodik . . . . . Unangemessenheit naturwissenschaftlicher Methoden Anforderungen an geeignete Methoden . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Über nur scheinbar ökologische Methoden und Parameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . https://doi.org/10.5771/9783495817261 .

117 118 119 121 127

Inhalt

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Exkurs: Artendiversität – ein ökologischer und ein valider Parameter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 6.3 Über zu Unrecht dem Ökosystemdienstleistungs-Ansatz zugeordnete Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 6.4 Resümee für den vierten Kritikpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . 135



7. Kritikpunkt 5: Ein kommunikativ problematischer Begriff . . 137 8. Plädoyer für eine pluralistische Konzeptualisierung von Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Zusammenfassung: Fünf kritische Thesen zum Konzept der kulturellen Ökosystemdienstleistungen . . . . . . . . . . . 8.2 Schlussfolgerung: Das Konzept der kulturellen Ökosystemdienstleistungen sollte aufgegeben werden 8.3 Lösungsvorschlag: Natur und ihre Werte pluralistisch konzeptualisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Werte von Natur“ als umfassender Oberbegriff . . . . . . Pluralistische Konzeptualisierung der „Werte von Natur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Eudaimonistische Werte“, „kulturelle Werte“ oder „ästhetisch-symbolisch-moralische Werte“? . . . . . . . . . 8.4 Pluralistische Naturphilosophie gegen szientifischen Imperialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141 141 143 145 146 147 148 150

9. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

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Vorwort

Das vorliegende Buch basiert auf einer 2015 an der Fakultät Wissenschaftszentrum Weihenstephan für Ernährung, Landnutzung und Umwelt (WZW) der Technischen Universität München (TUM) eingereichten Habilitationsschrift, die für diese Publikation aktualisiert, in weiten Teilen überarbeitet und gekürzt wurde. Für die umfassende fachliche Unterstützung, mit der sie mich durch das Habilitationsverfahren hindurch begleitet haben, gilt mein Dank den Fachmentoren Prof. Dr. Kurt Jax, Lehrstuhl für Renaturierungsökologie der Technischen Universität München und Department Naturschutzforschung des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung – UFZ in Leipzig, Prof. Dr. Johannes Kollmann, Lehrstuhl für Renaturierungsökologie der Technischen Universität München, Prof. Dr. Dr. Kristian Köchy, Institut für Philosophie der Universität Kassel, und Prof. Dr. Michael Suda, Lehrstuhl für Waldund Umweltpolitik der Technischen Universität München. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Ulrich Eisel und dem zu früh verstorbenen Prof. Dr. Ludwig Trepl, die mich viele Jahre auf sehr engagierte und persönliche Weise gefördert und mit ihren eigenen Forschungen wesentliche Grundlagen für diese Publikation geschaffen haben. Zudem danke ich den vielen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich spezielle Aspekte des Forschungsthemas immer wieder diskutieren konnte. Für die Begutachtung und Aufnahme des Manuskriptes in die Buchreihe Physis möchte ich der Herausgeberin und den Herausgebern der Buchreihe sowie Herrn Lukas Trabert vom Verlag Karl Alber meinen Dank aussprechen. Frank Hermenau danke ich für die umsichtige und sorgfältige Durchführung der Satzarbeiten. Mein ganz besonderer Dank gilt schließlich meiner Familie, ohne deren Unterstützung und Geduld diese Forschungsarbeit nicht möglich gewesen wäre. Heidelberg und Wetzlar, im Januar 2018

Thomas Kirchhoff

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1. Einleitung

Natur wird von Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen wertgeschätzt – wegen ihrer Nützlichkeit, wegen ihrer ästhetischen Qualitäten, wegen der mit ihr verbundenen kulturellen Symboliken. Zahlreich sind auch die Ansätze, mit denen versucht wird, diese unterschiedlichen Werte von Natur begrifflich zu bestimmen und praktisch zu erfassen. Diese Ansätze unterscheiden sich grundlegend, denn sie konzeptualisieren Natur auf unterschiedliche Weise und bestimmen sie damit als kategorial verschiedene Entitäten – einen Wald z. B. als einen ästhetischen Gegenstand oder aber als ein kulturelles Symbol oder aber als ein ökologisches Kausalsystem. Wird es irgendwann einmal eine einzige Konzeptualisierung von Natur geben, auf der alle derzeit existierenden Konzeptualisierungen aufbauen können oder auf die sich sogar alle anderen eliminativ-reduktionistisch zurückführen lassen? Das ist äußerst umstritten. Vertreter eines szientifischen Naturalismus (scientific naturalism) halten es – unter Anwendung ausschließlich naturwissenschaftlicher oder sogar ausschließlich physikalischer Methoden – für möglich, dessen Gegner bestreiten dies (antireductionism): „The pluralist, far from being anti-scientific, accepts the sciences at full value. His typical adversary is the monopolistic materialist or physicalist who maintains that one system, physics, is preeminent and all-inclusive, such that every other version must eventually be reduced to it or rejected false or meaningless.“1 Unstrittig dürfte jedoch sein: Ein konzeptioneller und methodischer Pluralismus ist erforderlich, solange die Behauptung, alle empirischen Phänomene ließen sich in allen relevanten Hinsichten mittels naturwissen-

1 Sellars 1963: 4. Zu dieser Kontroverse siehe z. B. Nagel, E. 1955; Sellars 1963; Dennett 1991; 1995; Weinberg 1992; Dupré 1993; 2003; Keil/Schnädelbach 2000; Papineau 2010; Köchy 2011a; Nagel, T. 2012; Bhaskar 2015.

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Einleitung

schaftlicher Begriffe und Methoden angemessen beschreiben, nicht de facto eingeholt ist.2 Ein methodischer Pluralismus impliziert, dass immer zu prüfen ist, ob eine Konzeptualisierung von Natur und eine Methodik für die Charakterisierung und Erfassung von Naturphänomenen auch dazu passt, welches spezifische Naturphänomen und welcher spezifische Wert dieses spezifischen Naturphänomens gerade untersucht werden soll – etwa ein Wald hinsichtlich seiner ästhetischen Qualitäten oder aber hinsichtlich seiner symbolischen Bedeutungen oder aber hinsichtlich seines Potenzials zur Regulation des Wasserhaushalts.3 Andernfalls erhielte man Analysen, die zwar objektiv und reliabel sein können, aber nicht valide sind – wie die chemische Analyse der Farben eines Gemäldes zwar unabhängig von der untersuchenden Person und mit gleichem Ergebnis überall auf der Welt wiederholbar ist, aber seinen Sinngehalt und seine Bedeutung innerhalb einer bestimmten Kultur nicht erfassen kann, wozu es vielmehr einer ikonografischen Analyse, kulturellen Hermeneutik usw. bedürfte. Ein Ansatz zur Konzeptualisierung der Werte von Natur ist der Ökosystemdienstleistungs-Ansatz (ecosystem services approach/ framework). Er hat sich in Praxisfeldern wie Umwelt-, Natur- und Biodiversitätsschutz, Management natürlicher Ressourcen oder Nachhaltigkeitspolitik und auch in wissenschaftlichen Forschungsrichtungen wie Biodiversitäts-, Landschafts-, Nachhaltigkeits- und Ökosystemforschung sowie in der Sozialökologie zu einem weit verbreiteten Ansatz entwickelt, um die Abhängigkeiten menschlicher Gesellschaften von ihrer natürlichen Umwelt zu analysieren. Populär geworden ist dieser Ansatz vor allem durch das 2005 publizierte Millennium Ecosystem Assessment (MEA), im Anschluss daran durch die ebenfalls von den Vereinten Nationen beauftragte Studie The Economics of Ecosystems and Biodiversity (TEEB), durch nationale Programme wie das United Kingdom National Ecosystem Assessment (UK NEA), durch zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften sowie seit 2012 durch die von den Vereinten Nationen 2 Vgl. Beardsley [1958] 1981; Goodman 1978; Norgaard 1989; Dupré 1993; 1994; Putnam 2004; Kellert, S. H. et al. 2006; Kirchhoff/Karafyllis 2017. 3 Vgl. Fürst/Scholles 2008: 195-204; Kirchhoff/Trepl 2009a; Barnes/Sheppard 2010; Kirchhoff et al. 2013; Kirchhoff 2014c; Stålhammar/Pedersen 2017.

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Einleitung

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initiierte Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES).4 Der Schutz von Natur, Landschaft, Wildnis, Biodiversität usw. wird infolge der Verbreitung dieses Ansatzes heutzutage zunehmend damit begründet, dass Ökosystemdienstleistungen (im Folgenden: ÖSD) erhalten werden müssten, die in erheblichem Umfang zum menschlichen Wohlergehen beitrügen und in vielen Fällen gar nicht oder nur mit hohem Aufwand durch Leistungen künstlicher Systeme ersetzbar seien. Im deutschsprachigen Raum altbekannte Ansätze, in denen nicht der Ökosystembegriff im Zentrum steht, sondern Begriffe wie Naturraumpotenzial und Landschaftsfunktion, Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts oder Vielfalt, Eigenart, Schönheit und Erholungswert von Natur und Landschaft verlieren demgegenüber an Einfluss.5 Innerhalb des ÖSD-Ansatzes werden zumindest drei Klassen von ÖSD unterschieden:6 erstens versorgende ÖSD (provisioning ecosystem services), gemeint sind Ressourcen, die von Ökosystemen produziert werden, vor allem Nahrungsmittel und Rohstoffe; zweitens regulierende ÖSD (regulating ecosystem services), gemeint sind Regulationen von Umweltmedien, die sich aus Ökosystemprozessen ergeben, z. B. die Regulation des Klimas, der Wasserqualität und der Populationsdichte von Schadorganismen; drittens kulturelle ÖSD (cultural ecosystem services, kurz: CES7), worunter die Vertreter des ÖSD-Ansatzes nicht-materielle Vorteile durch Ökosysteme bzw. Beiträge zum nicht-materiellen Wohlergehen durch Ökosysteme verstehen, z. B. die Ermöglichung von ästhetischem Genuss, Erholung, spirituellen Erfahrungen und Gefühlen kultureller Identität.

4

MEA 2005c; TEEB 2010; UK NEA 2011a; 2011b; UK NEA-FO 2014b; 2014a; Díaz et al. 2015 für IPBES. Zur Entstehung und Entwicklung des Ökosystemdienst­ leistungs-Ansatzes siehe Gómez-Baggethun et al. 2010; Braat/de Groot 2012; Costanza et al. 2017; McDonough et al. 2017. 5 Siehe zu diesen Konzeptionen Haase 1978; Eckebrecht 2002; Haaren 2004; BNatSchG 2009: § 1; Albert et al. 2012; Grunewald/Bastian 2012. 6 Siehe exemplarisch MEA 2005c; TEEB 2010; CICES 2017a; Costanza et al. 2017: 5. Irrelevant ist hier, dass häufig noch eine vierte Klasse von supporting services (z. B. MEA 2005c: V f.) oder habitat services (z. B. TEEB 2010, chapter 1: 15, 1921) benannt wird. 7 Andere, selten verwendete Bezeichnungen sind z. B. amenities and fulfillment (Boyd/Banzhaf 2007: 624), socio-cultural fulfilment (Wallace 2007: 241) und cultural and social services (Haines-Young/Potschin 2010b: 14).

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Einleitung

Der Inhalt dieser Studie ist eine Analyse des Konzeptes der sogenannten kulturellen ÖSD. Es wird untersucht, ob dieses Konzept begrifflich und methodisch angemessen ist. Damit soll auch ein Beitrag zu den Diskussionen um szientifischen Naturalismus geleistet werden, und zwar in einem Themenfeld, das in diesen Diskussionen bisher kaum Beachtung gefunden hat. Aus der Analyse werden sich fünf grundlegende Kritikpunkte am Konzept der kulturellen ÖSD ergeben: 1. Die Rede von Dienstleistungen (services) und Vorteilen (benefits) impliziert einen ethischen Subjektivismus. Dieser mag im Hinblick auf versorgende und regulierende ÖSD sachlich angemessen sein, im Hinblick auf die sogenannten kulturellen ÖSD ist er jedoch nicht umfassend genug. Bei den sogenannten kulturellen ÖSD geht es nämlich in wesentlichen Fällen nicht um subjektive, sondern um objektive Werte. (Siehe Kapitel 3.) Als Lösung werde ich vorschlagen, nicht von Dienstleistungen und Vorteilen, sondern von „Werten“ zu sprechen – wie es in der Naturethik weit verbreitet ist. Das mehrdeutige Wort „Wert“ verwende ich dabei nicht in axiologischem Sinn, in dem es das Referenzprinzip einer Wertung bezeichnet, sondern in attributivem Sinn, in dem es das Ergebnis einer Wertung bezeichnet, also eine Eigenschaft oder Qualität, die einem Gegenstand zugeschrieben wird.8 2. Mit dem Konzept der kulturellen ÖSD wird der Gegenstand der unter dieses Konzept gefassten Werte falsch bestimmt. Denn Gegenstand dieser Werte – die im ÖSD-Ansatz als nicht-materielle Vorteile charakterisiert werden und von mir in meiner Axiologie als intrinsische, nicht-instrumentelle Werte bestimmt werden (siehe Kapitel 3.1) – sind nicht Ökosysteme, sondern Natur, die ästhetisch,9 symbolisch10 und auch moralisch11 wahrgenommen wird. (Siehe Kapitel 4.) 8 Zur Unterscheidung zwischen Wert im attributiven und axiologischen Sinn sie­ he Najder 1975: insb. 42-65; Ritsert 2013: 1-6. 9 „Ästhetisch ist eine Wahrnehmung, die sich in vollzugsorientierter Aufmerk­ samkeit an die sinnliche und/oder sinnhafte Präsenz und Prägnanz ihrer Gegen­ stände hält.“ (Seel 1991: 35; vgl. Schlette 2017) 10 Ich lege einen weiten Symbolbegriff zugrunde: „Wo immer etwas eine Ausdrucks­ qualität hat, wo es etwas besagt, und wo dieses Etwas eine dingliche, eine sinnlich präsente Form hat, handelt es sich um ein Symbol.“ (Schwemmer 2006: 7) 11 Mit „moralisch“ meine ich Wahrnehmungen, die sich auf Moral im weiteren Sinne der (nicht bloß technischen oder zweckrationalen) Konventionen, Regeln,

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Einleitung

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Als Lösung werde ich vorschlagen, von „Werten von Natur“ zu sprechen und die konkreten Gegenstände der intrinsischen, nicht-instrumentellen (ästhetischen, symbolischen und moralischen) Werte als „Naturphänomene“ zu bezeichnen. Unter diesen Begriff lassen sich alle Gegenstände der nicht-sozialen Umwelt fassen, die Menschen als etwas wahrnehmen, das zumindest in Teilen auf natürliche Weise entstanden ist (genetische Natürlichkeit) und/oder aktuell zumindest in Teilen eine natürliche Beschaffenheit aufweist (qualitative Natürlichkeit).12 3. Das Konzept der sogenannten kulturellen ÖSD lässt sich gegen den obigen 2. Kritikpunkt nicht hinreichend mit dem Argument rechtfertigen, Ökosysteme seien zwar nicht der Gegenstand der intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Natur, leisteten aber doch einen wesentlichen ko‑produktiven Beitrag zu diesen Werten. Denn in wesentlichen Fällen liegt kein nennenswerter Beitrag von Ökosystemen zu diesen Werten vor und wo er vorliegt, ist er nicht konstitutiv13 für diese Werte. (Siehe Kapitel 5.) 4. Die ontologischen und konstitutionstheoretischen Fehler im Konzept der kulturellen ÖSD führen zu methodischen Fehlern bei der Erfassung der intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur. Diese methodischen Fehler sind praktisch relevant, weil sie dazu führen können, dass Maßnahmen zur Erhaltung oder Optimierung dieser Werte falsch oder zumindest nicht optimal konzipiert werden. (Siehe Kapitel 6.) Sitten, Gebräuche und Prinzipien, auf „Moral als ein Ensemble von gelebten Überzeugungen, Gefühlen (wie Schuld, Scham, Empörung, Mitleid usw.) und Haltungen“ (Ott et al. 2016: 5) von Individuen, Gruppen, Gesellschaften oder Kulturen beziehen, durch die Handlungen oder Zustände als richtig oder falsch, gut oder böse, angemessen oder unangemessen usw. beurteilt werden. Vgl. das Konzept der moral landscapes (Setten/Brown 2009). 12 Diese umfassende Verwendungsweise der Begriffs „Natur“ und „Naturphäno­ men“ ist möglich, weil Natürlichkeit nicht nur als ausschließender, klassifizie­ render Begriff (Natur versus Technik/Kunst/Geist usw.), sondern auch als komparativer Begriff verwendet werden kann, nach dem es Grade von Natürlichkeit gibt. Zur Gradualität von Natürlichkeit, zur Unterscheidung von genetischer und qualitativer Natürlichkeit sowie dazu, dass jene letztendlich auf diese rekur­ riert siehe Birnbacher 2006: 7-16, 104 f.; vgl. Seel 1991: 27 f. Zur phänomenalen Unerkennbarkeit von Unnatürlichkeit vgl. das Konzept der Biofakte (Karafyllis 2003; 2006). 13 Den Begriff „konstitutiv“ verwende ich im Sinne von Konstitutionstheorien, denen zufolge die von uns erlebte Welt, Wirklichkeit oder Realität nach biolo­ gischen, psychologischen und vor allem kulturellen Prinzipien durch das wahr­ nehmende Subjekt geschaffen, konstituiert wird.

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5. Das Konzept der kulturellen ÖSD ist aufgrund unpassender Konnotationen auch kommunikativ problematisch: Der Ökosystembegriff hat naturwissenschaftlich-technische Konnotationen. Sie können dazu führen, dass viele Menschen, die Natur wegen ihrer ästhetischen Qualitäten, symbolischen Bedeutungen oder moralischen Werte schätzen, ihre emotionale Beziehung zur Natur und ihre Wertschätzung von Natur in diesem Konzept nicht repräsentiert sehen. Zudem dürfte die Rede von Dienstleistungen (services) und Vorteilen (benefits) alle Menschen verstören, für die Natur kein Dienstleister ist, sondern objektiven Wert hat. Diese kommunikativen Probleme entfallen, wenn man, entsprechend den obigen Vorschlägen, von „Werten von Natur“ spricht. (Siehe Kapitel 7.) Wegen dieser schwerwiegenden terminologischen, ontologischen, konstitutionstheoretischen, methodischen und kommunikativen Probleme und sogar Fehler schlage ich vor, das Konzept der kulturellen ÖSD aufzugeben. Die intrinsischen, nicht-instrumentellen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte sollten – im Rahmen einer pluralistischen Konzeptualisierung von Natur und auch der Werte von Natur – außerhalb des ÖSD-Ansatzes konzeptualisiert werden. (Siehe Kapitel 8.) Einem möglichen Missverständnis möchte ich sogleich vorbeugen und damit den Zweck meiner Analyse noch klarer herausstellen: Es geht mir keineswegs darum, die gesellschaftliche Relevanz der Werte von Natur, die im ÖSD-Ansatz unter den Begriff der kulturellen ÖSD gefasst werden, in Frage zu stellen. Ganz im Gegenteil. Ich stimme mit den Protagonisten und Theoretikern des Konzeptes der kulturellen ÖSD14 und vielen Theoretikern des Umwelt- und Naturschutzes, der Umweltpädagogik etc.15 vollkommen überein in 14 Siehe exemplarisch für viele Chan et al. 2011; 2012a; 2012b; Seppelt et al. 2011; UK NEA 2011a; UK NEA-FO 2014b; Daniel et al. 2012a; Tengberg et al. 2012; Hernández-Morcillo et al. 2013; Jax et al. 2013; Milcu et al. 2013; Plieninger et al. 2013; 2015; Bieling 2014; Gould et al. 2015; Cooper et al. 2016; Fish et al. 2016b. 15 Siehe z. B. Krebs 1997; 2013; Bayerisches Landesamt für Umweltschutz (LfU) 1998; Körner et al. 2003a; 2003b; Ott 2004; 2010; 2013; Ott et al. 2016; Stiftung Natur und Umwelt Rheinland-Pfalz 2004; Piechocki/Wiersbinski 2007; Hunzi­ ker 2010; Piechocki 2010; BMUB/BfN 2014; Gebhard 2014; Spanier 2014; Muhar et al. 2017.

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der Ansicht, dass die „kulturellen ÖSD“ (so die Terminologie des ÖSD-Ansatzes) bzw. die „intrinsischen, nicht-instrumentellen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur“ (so meine Terminologie) gerade für Menschen moderner Gesellschaften von außerordentlicher Relevanz sind und stärker berücksichtigt werden müssen als es bisher im Vergleich zu den versorgenden und regulierenden ÖSD bzw. extrinsischen, instrumentellen Werten von Natur der Fall war.16 Wie wohl alle Protagonistinnen und Protagonisten des Konzeptes der kulturellen ÖSD wende auch ich mich gegen einen instrumentalistisch enggeführten Anthropozentrismus, der „anthropozentrisch“ und „instrumentell“ fälschlich als Synonyme verwendet, und plädiere für einen umfassenden Anthropozentrismus, der das gesamte Spektrum der Werte, die Natur für Menschen hat, berücksichtigt – also außer ihren extrinsischen, in­ strumentellen auch ihre intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte.17 (Dass ich, wie wohl auch die meisten Vertreter des ÖSD-Ansatzes,18 nicht für die physiozentrischen Positionen des Biozentrismus, Ökozentrismus und radikalen Physiozentrismus eintrete, weil ich sie für nicht schlüssig begründbar und zudem für problematisch halte, möchte ich hier anmerken, aber nicht weiter erörtern.19) Meine Kritik am Konzept der kulturellen ÖSD ist vielmehr dadurch motiviert, dass die intrinsischen Werte von Natur mit diesem Konzept nicht angemessen aufgefasst werden und somit die Gefahr besteht, dass aus dem Blick gerät, worum es bei diesen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werten wirklich geht und was für ihre Erhaltung wirklich erforderlich ist. Denn was nicht klar erkannt und nicht angemessen begrifflich bestimmt wird, gibt Anlass zu Missverständnissen und wird möglicherweise in Praxisfeldern wie Umwelt-, Natur- und Biodiversitätsschutz, Management natürlicher Ressourcen oder Nachhaltigkeitspolitik nur ungenügend oder

16 Zahlreiche meiner Publikationen sind diesem Ziel gewidmet, siehe insb. die Anthologien Kirchhoff/Trepl 2009b; Kirchhoff et al. 2012b; Hartung/Kirchhoff 2014a; Kirchhoff et al. 2017 und die Aufsätze Kirchhoff 2012b; 2012c; 2012d; 2012e; 2014b; 2014c; 2017a; 2017b; Kirchhoff/Vicenzotti 2014; 2017. 17 Vgl. Hargrove 1992: 183 f.; Krebs 1997: 378; Sagoff 2009; Jax et al. 2013: 261. 18 Siehe aber z. B. Costanza et al. 2017: 3; Arias-Arévalo et al. 2018. 19 Zur Kurzcharakterisierung dieser Positionen siehe S. 39, zu ihrer Kritik die dort in Fußnote 24 genannte Literatur. Zu einer nicht-physiozentrischen Be­ gründung des Schutzes leidensfähiger Tiere aufgrund von Pflichten in Anse­ hung von (statt gegenüber) diesen siehe Baranzke 2002; 2014.

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nicht zielführend beachtet. Kurzum: Das Konzept der kulturellen ÖSD könnte die Zielsetzung, der es dienen soll, konterkarieren. Um zu erreichen, dass die intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur in Zukunft angemessene Berücksichtigung finden, plädiere ich deshalb für eine andere Strategie als z. B. Terry Daniel et al.,20 die dasselbe Ziel erreichen wollen, indem sie die Integration der sogenannten kulturellen ÖSD in den ÖSD-Ansatz verbessern wollen. Stattdessen plädiere ich dafür, diese Werte außerhalb des ÖSD-Ansatzes zu thematisieren.21 Denn gemäß meiner Analyse ist das Konzept der kulturellen ÖSD ein Beispiel für das, was John Dupré als „scientific imperialism“ bezeichnet hat: eine „expansion of quite specialized scientific perspectives into ever wider domains of application“22 – für die diese Perspektiven aber begrifflich und methodisch unangemessen sind. Innerhalb der Fachliteratur werden Probleme des Konzeptes der kulturellen ÖSD und vor allem Probleme bei der Erfassung der sogenannten kulturellen ÖSD seit langem und ausgiebig diskutiert – und keinesfalls als gelöst angesehen: „Despite over a decade of national and international policy and practice activity in assessing ecosystem services, approaches informing understanding of cultural ecosystem services remain the subject of ongoing debate.“23 Diese Schwierigkeiten werden zumeist darauf zurückgeführt, dass kulturelle ÖSD sich durch Eigenschaften wie Immaterialität bzw. Nichtgreifbarkeit (intangibility)24 sowie Kulturabhängigkeit und personenabhängige Individualität25 auszeichnen. So zutreffend diese Problemdiagnosen sind, dringen sie doch nicht zum Kernproblem des Konzeptes der kulturellen ÖSD vor: der falschen Konzeptualisierung des Gegenstandes der intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur, die mit einer falschen Auffassung von der Konstitutionsweise dieser Werte einhergeht. Folglich ziehen diese Problemdiagnosen in ihren Lösungs- und Verbesserungsvorschlä-

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Daniel et al. 2012a; 2012b. Vgl. Kirchhoff 2012c; 2012e; Trepl 2014a; 2014b. Dupré 1994: 380 bzw. abstract; vgl. Dupré 1993. Fish et al. 2016a: 209. So z. B. Chan et al. 2011: 207; 2012b: 9; Willcock et al. 2017: 445. Siehe aber Church et al. 2014: 83. 25 So z. B. Church et al. 2014: 84; Willcock et al. 2017: 445.

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gen auch nicht in Betracht, dass diese Werte womöglich außerhalb des ÖSD-Ansatzes konzeptualisiert werden müssen. Es gibt aber bereits Ansätze einer grundlegenderen Kritik am Konzept der kulturellen ÖSD: So haben Gunhild Setten et al.26 konstatiert, dass kulturelle ÖSD „are not under-researched, nor poorly understood as such, but they come in a different language [than provisioning and regulating ecosystem services].“ Kai Chan et al.27 haben herausgestellt, dass eine vollständige Charakterisierung von kulturellen ÖSD die Integration von „methods from diverse social sciences“ erfordert. Thomas Kirchhoff28 hat argumentiert, dass naturwissenschaftliche Parameter prinzipiell ungeeignet sind, um die wichtigen intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Landschaften zu erfassen, weshalb der ÖSD-Ansatz „does not allow for an adequate assessment of aesthetic qualities and symbolic mean­ ings of […] nature“, sodass „[p]ivotal cultural values of nature cannot be integrated into the ecosystem services framework“. Sarah Klain et al.29 haben aus Metaanalysen von Umfragen gefolgert, dass „[w]idely adopted ES research methods, including benefit transfer and production functions, are ill suited in the assessment of CES.“ Ludwig Trepl30 hat die Ansicht vertreten, dass es nichts gebe, was man zurecht eine kulturelle ÖSD nennen könne; Simon James31 hat argumentiert, „that the ecosystem services framework cannot provide a satisfactory account of all the various cultural benefits we derive from places“, insbesondere nicht „people’s cultural, aesthetic and moral ties to the places they cherish or love“. Nigel Cooper et al.32 haben aufgezeigt, dass spirituelle und ästhetische Werte, die mit Natur verbunden sind, „are grounded in conceptions of nature that differ from the ecosystem services conceptual framework.“ Robert Fish et al.33 haben darauf hingewiesen, dass „cultural ecosystem services are challenging with respect to scientific methodologies for an ecosystems approach because practices of knowledge production proceed on the misguided assumption that these services are born of processes and characteristics that can be observed in nature and 26 27 28 29 30 31 32 33

Setten et al. 2012: 309. Chan et al. 2012b: 8. Kirchhoff 2012e: 19, im Original kursiv, bzw. Kirchhoff 2012c. Klain et al. 2014: 310. Trepl 2014a; 2014b. James 2015: 342; 2013: 264. Cooper et al. 2016: 218. Fish et al. 2016b: 210.

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measured against independently variable standards and thresholds as is the case with quantities of nutritious food, levels of water quality and so forth.“ Und Christopher Raymond et al.34 „are concerned that the current ecosystem services framework imposes a duality between aspects of the ecosystem and the cultural system, and promotes an acultural and decontextualised understanding of the types of benefits provided by ecosystems.“ Diese berechtigten und grundlegenden Kritikpunkte werde ich, explizit oder implizit, im Laufe meiner begrifflichen und methodischen Kritik des Konzeptes der kulturellen ÖSD aufgreifen.

34 Raymond et al. 2017: 2.

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2. Grundlagen: Definitionen zentraler Begriffe des Ökosystemdienstleistungs-Ansatzes

Als Basis für meine Analyse des Konzeptes der kulturellen ÖSD ist zunächst zu klären, wie innerhalb des ÖSD-Ansatzes die Begriffe „Ökosystem“, „Ökosystemdienstleistung“ und „kulturelle Ökosystemdienstleistung“ definiert werden und genau welche Werte von Natur unter das Konzept der kulturellen ÖSD gefasst werden.

2.1 „Ökosystem“ Der Begriff „Ökosystem“ (ecosystem) ist ein naturwissenschaftlicher Fachterminus, der zum Gebiet der Ökologie, eines Teils der Naturwissenschaft Biologie, gehört.1 Er wurde 1935 von Arthur Tansley, einem englischen Botaniker, in die Ökologie eingeführt.2 Für den Ökosystembegriff existiert in der Naturwissenschaft Ökologie bis heute keine allgemein akzeptierte Definition.3 Es lässt sich aber doch festhalten: „The generic meaning of ‚ecosystem‘ […] is looking at nature as a web of organisms and their environment interacting with each other“.4 Wenn man den in der Ökosystemforschung üblichen Fokus auf Stoff- und Energieströme mit in die Definition aufnimmt, so versteht man unter einem Ökosystem üblicherweise „a unit comprising a community (or communities) of organisms 1

Zur Definition der Ökologie als Naturwissenschaft, die Umweltbeziehungen von Organismen untersucht, und ihrer Abgrenzung zu Ökologie als Weltanschauung siehe Trepl 1987: 11-18; 2005: 13-23. 2 Tansley 1935. Siehe hierzu Willis 1997: 268. 3 Zur Geschichte des Ökosystembegriffs und seinen unterschiedlichen Defini­ tionen siehe Worster [1977] 1994: insb. 301-311, 364-371; Trepl 1987: 180-204; Taylor, P. J. 1988; Hagen 1992; Golley 1993; Willis 1997; Jax 1998; 2006; 2007; 2009; 2010: insb. 59, 83-112; Pickett/Cadenasso 2002; Kirchhoff 2007: 214-240; Toepfer 2011a: insb. 715, 724; Salomon 2008; Voigt 2009; Kirchhoff/Voigt 2010. 4 Jax 2010: 118. Vgl. die in der vorigen Fußnote genannte Literatur.

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Grundlagen: Definitionen zentraler Begriffe

and their physical and chemical environment, at any scale, desirably specified, in which there are continuous fluxes of matter and energy in an interactive open system.“5 Für die Analyse des Konzeptes der kulturellen ÖSD ist allerdings entscheidend, wie der Ökosystembegriff innerhalb des ÖSDAnsatzes definiert wird: Die meisten Vertreterinnen und Vertretern dieses Ansatzes definieren ihn als Wirkungsgefüge aus Populationen mehrerer Arten (Biozönose) und deren unbelebter Umwelt (Biotop), die zusammen eine funktionale Einheit darstellen. So heißt es im MEA: „An ecosystem is a dynamic complex of plant, animal, and microorganism communities and the nonliving environment interacting as a functional unit.“6 Diese Definition wird in vielen anderen Publikationen wörtlich übernommen7 oder es wird eine inhaltlich entsprechende Definition gegeben, z. B. wenn ein „Ökosystem“ definiert wird als „a functional entity or unit formed locally by all the organisms and their physical (abiotic) environment interacting with each other“.8 Ökosysteme werden im ÖSD-Ansatz also – entsprechend der Herkunft des Begriffes aus der Ökologie – als naturwissenschaftliche Gegenstände definiert, wobei die in der Ökologie dominierende Definition übernommen wird, derzufolge für Ökosysteme die ökologischen Interaktionen zwischen ihren biotischen und abiotischen Komponenten konstitutiv sind (funktionale Definition). Das heißt, Ökosysteme werden im ÖSD-Ansatz nicht definiert als physio­gno­ mische Einheiten, die anhand der Wuchsform der Vegetation abgegrenzt werden – wie beim ökologischen Konzept der Formation.9 Und Ökosysteme werden auch nicht definiert als floristische, faunistische oder floristisch-faunistische Einheiten, die anhand der Artenzusammensetzung abgegrenzt werden – wie beim botanischen

5 Willis 1997: 270, im Original kursiv. Nicht alle Ökologen teilen allerdings die mit der Formulierung „desirably specified“ verbundene konstruktivistische An­ sicht, dass Ökosysteme beobachter- und interessenabhängig abgegrenzt werden, und vertreten stattdessen die realistische Ansicht, dass die Biosphäre aus beobachterunabhängigen Ökosystemen besteht (siehe Kapitel 4.7, S. 81 f.). 6 MEA 2005c: V. 7 So z. B. TEEB 2008: 12; UK NEA 2011a: 84; 2011b: 1453; UK NEA-FO 2014a: 92. 8 So Wallace (2007: 243), das Elsevier’s Dictionary of Biology (Tirri et al. 1998) zitierend. 9 Siehe hierzu klassisch: Grisebach 1838, interpretierend: Trepl 1987: 103-113; Jax 2002: 25 f., 63; 2004: 147-149; 2010: 192 f. Dazu, dass das Wort Ökosystem zu­ weilen im Sinne des Begriffs der Formationen verwendet wird, siehe Jax 2004: 144.

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Konzept der Assoziation10 und in statistischen Definitionen von Ökosystemen.11 Vielmehr werden Ökosysteme im ÖSD-Ansatz als Kausalsysteme definiert: als Systeme, für die ökologische Ursache-Wirkungs-Beziehungen bzw. Kausalbeziehungen zwischen den Systembestandteilen konstitutiv sind. Das gilt auch dann noch, wenn – wie z. B. in der TEEB-Studie – in der Definition von „Ökosystem“ nicht die „funktionale Einheit“ als Definiens benannt, sondern nur definiert wird: „It is communities of living organisms interacting with the abiotic environment that comprise, and characterize, ecosystems.“12 Demnach werden – das ist entscheidend für die weitere Analyse und wird in Kapitel 4 umfassend behandelt – Ökosysteme im ÖSDAnsatz als Gegenstände definiert, die von kategorial anderer Art sind als das, was man umgangssprachlich als Wald, Wiese oder See, Landschaft oder Wildnis bezeichnet und was Gegenstand bzw. Inhalt lebensweltlicher13 Naturwahrnehmungen ist. Denn mit diesen Worten meint man umgangssprachlich nicht Kausalsysteme, sondern Ausschnitte der Erdoberfläche, die vor allem wegen bestimmter visueller Qualitäten als ästhetische Einheit wahrgenommen werden und mit bestimmten Emotionen und symbolischen Bedeutungen verbunden sind (siehe Kapitel 4.1-4.6). Dass der Begriff „Ökosystem“ im ÖSD-Ansatz als ökologischer Fachterminus zur Bezeichnung eines Kausalsystems definiert wird, heißt allerdings noch lange nicht, dass das Wort „Ökosystem“ im ÖSD-Ansatz auch stets im Sinne dieser Definition verwendet wird (siehe Kapitel 4.7, S. 78 f.).

10 Siehe hierzu klassisch: Braun-Blanquet 1921; 1928; Du Rietz 1921; 1923, inter­ pretierend: Jax 2002: 26 f., 110-114. 11 Zur Unterscheidung funktionaler und statistischer Definitionen und Abgren­ zungen ökologischer Einheiten siehe Jax 2002: 32-43; 2006: 240 f. 12 TEEB 2010, chapter 2: 5 f. 13 Mit Lebenswelt meine ich hier, etwa im Sinne von Alfred Schütz (1974; Schütz/ Luckmann 1975), eine sinnhafte Realität, wie sie Menschen mit nicht-wissen­­ schaftlicher, vor‑wissenschaftlicher Selbstverständlichkeit im Rahmen von nor­­ malerweise selbstverständlich und unbewusst bleibenden intersubjektiven Wahr­ nehmungs- und Deutungsmustern erfahren, wobei es nicht die eine Lebenswelt gibt, sondern eine Pluralität von Lebenswelten.

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2.2 „Ökosystemdienstleistung“ Der Begriff „Ökosystemdienstleistung“ (ecosystem service) wird innerhalb des ÖSD-Ansatzes, anders als der Ökosystembegriff, nicht einheitlich definiert. Es lassen sich im Wesentlichen zwei Definitionen unterscheiden. Die erste Definition, die wohl in der Mehrzahl der Studien zu ÖSD zugrunde gelegt wird, entstammt dem MEA: „Ecosystem services are the benefits people obtain from ecosystems.“14 Diese Definition ist insbesondere dafür kritisiert worden, dass sie unzulässig „services“ mit „benefits“ gleichsetze und deshalb dazu führe, dass nicht oder nur unzureichend unterschieden werde zwischen dem, was einerseits Ökosysteme, und dem, was andererseits NichtÖkosysteme, z. B. Technik und menschliche Handlungen, zu einem Vorteil für den Menschen durch Naturphänomene beitragen.15 Um diese Probleme zu beseitigen, sind alternative Definitionen vorgeschlagen worden, die ÖSD als Beiträge von Ökosystemen zu Vorteilen für den Menschen oder dessen Wohlergehen bestimmen: „Ecosystem services are the contributions of ecosystems to benefits used in economic and other human activity“16 bzw. „the direct and indirect contributions of ecosystems to human well-being.“17 Mit Blick auf meine spätere kritische Analyse des Konzeptes der kulturellen ÖSD möchte ich hier herausstellen, dass in beiden Definitionsvarianten die Natur(komponente), die die Vorteile hervorbringt bzw. ‚nur‘ zu ihnen beiträgt, als „Ökosystem“ bestimmt wird.

2.3 „Kulturelle Ökosystemdienstleistung“ Die beiden soeben beschriebenen Definitionsvarianten von ÖSD wiederholen sich in den Definitionen kultureller ÖSD. Darüber hinaus gibt es kaum wesentliche Unterschiede in der Definition kultureller ÖSD. Als spezifisches Definiens, durch das die kulturellen von den versorgenden wie auch regulierenden ÖSD unter14 15 16 17

MEA 2005c: V, 40; vgl. MEA 2005a: 1. Siehe zu dieser Kritik Kapitel 5, S. 97 f. SEEA 2014: 14, im Original kursiv. TEEB 2010, chapter 1: 19.

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schieden sind, wird fast durchgängig deren immaterieller Charakter genannt.18 Die erste Definitionsvariante findet sich z. B. im MEA, wo die kulturellen ÖSD als „the nonmaterial benefits people obtain from ecosystems“19 definiert werden. Die zweite Definitionsvariante ist, als Kritik an der Definition des MEA, maßgeblich von Kai Chan et al. entwickelt worden: „[W]e define cultural services inclusively as ecosystems’ contributions to the non-material benefits (e. g., capabilities and experiences) that arise from humaneco­system relationships.“20 Die Definition des MEA ist jedoch dominant geblieben: „Despite this critique, where definitions of CES are put forward in the literature, these tend to correspond to the M[E]A definition, either explicitly or implicitly.“21 Innerhalb der Klasse oder Kategorie der kulturellen ÖSD werden üblicherweise mehrere Unterformen unterschieden, wobei weder eine allgemein anerkannte Einteilung noch allgemein anerkannte Bezeichnungen existieren. Sehr verbreitet ist die in der MEA-Studie Ecosystems and Human Well-Being: Current Status and Trends im Kapitel 17 Cultural and Amenity Services entwickelte Untergliederung.22 Bei dieser handelt es sich nicht um eine Klassifikation mit eindeutig definierten und exklusiven Klassen, sondern um Charakterisierungen von Unterformen, die mithilfe von Beispielen und von Thesen über ihre Entstehung erläutert werden. Da diese Charakterisierungen alles andere als klar und eindeutig sind, werde ich nicht versuchen, sie sinngemäß wiederzugeben, sondern die jeweilige Charakterisierung und Auszüge aus ihrer Erläuterung wörtlich zitieren. Dies erscheint mir der beste Weg, um 18 Siehe aber Church et al. 2014: 5, denen zufolge kulturelle ÖSD auch materielle Vorteile umfassen. Inwiefern dieser Einwand berechtigt ist, siehe Kapitel 8.3, S. 149, wo ich auch weitere Gründe dafür behandle, den Begriff „kulturell“ zu vermeiden, wenn man ÖSD bzw. Werte von Natur spezifizieren möchte. 19 MEA 2005c: 40. Diese Definition übernehmen z. B. Hernández-Morcillo et al. 2013: 435; Raymond et al. 2017: 4; Jarvis et al. 2017: 58; Stålhammar/Pedersen 2017: 1; Willcock et al. 2017: 445. 20 Chan et al. 2012b: 9. Diese Definition übernehmen z. B. Klain/Chan 2012: 104; Plieninger et al. 2013: 118. Vgl. auch Daniel et al. 2012a: 8812. 21 Church et al. 2014: 16. Eine entsprechende Einschätzung geben Plieninger et al. 2015: 28 f. 22 Siehe de Groot et al. 2005 in MEA 2005b. Im MEA findet sich nicht überall exakt diese Untergliederung, eine etwas andere z. B. in MEA 2005c: 40, 120. Für alter­ native, aber grundsätzlich ähnliche Untergliederungen siehe TEEB 2010: 40; de Groot et al. 2010: 263 f.; Chan et al. 2012b: 13; Daniel et al. 2012a: 8813 f.; CICES 2017a.

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unverfälscht darzustellen, welche nicht-materiellen Vorteile durch Natur (so die Terminologie des ÖSD-Ansatzes) bzw. welche intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte (so die Terminologie meiner Axiologie, siehe Kapitel 3.1) im ÖSD-Ansatz unter das Konzept der kulturellen ÖSD gefasst werden sollen. Folgende Unterformen kultureller ÖSD werden üblicherweise unterschieden:23 1. Cultural identity services: „the current cultural linkage between humans and their environment“. „Throughout human evolution, human societies have developed in close interaction with the natural environment, which has shaped their cultural identity, value systems […], and economic well-being.“ 2. (Cultural) Heritage services: „‚memories‘ in the landscape from past cultural ties“. „A large part of our cultural heritage is associated with ecosystems and landscapes with special features that remind us of our historic roots, both collectively and individually (such as special, usually old trees, the remains of traditional cultivation systems, or historic artifacts). These ecosystems and landscape elements give us a sense of continuity and understanding of our place in our natural and cultural environment and are increasingly valued as expressed by the designation of cultural landscapes and sites with special historic interest.“ 3. Spiritual services: „sacred, religious, or other forms of spiritual inspiration derived from ecosystems“. „Most people feel the need to understand their place in the universe, and they search for spiritual connections to their environment both through personal reflection and more organized experiences (as part of religious rules, rituals, and traditional taboos, for example). Ecosystems provide an important measure for this orientation in time and space, which is reflected by spiritual values placed on certain ecosystems (such as ‚holy‘ forests), species (sacred plants and animals, for instance), and landscape features (such as mountains and waterfalls)“. 4. Inspirational services: „the use of natural motives or artifacts in arts, folklore, and so on“. „Natural and cultivated systems inspire an almost unlimited array of cultural and artistic expressions,

23 Alle Zitate in der nachfolgenden Aufzählung aus de Groot et al. 2005 (= MEA 2005b, chapter 17). Zitierte Seiten für Cultural identity: 457 bzw. 458, für Cultural heritage: 457 bzw. 461, für Spiritual: 457 bzw. 462 f., für Inspirational: 457 bzw. 465, für Aesthetic: 457 bzw. 467, für Recreation and Tourism: 469.

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including books, magazines, film, photography, paintings, sculptures, folklore, music and dance, national symbols, fashion, and even architecture and advertisement.“ 5. Aesthetic services: „aesthetic appreciation of natural and cultivated landscapes“. „Natural environments are an important source of aesthetic pleasure for people all over the world.“ 6. Recreation and Tourism: „Many ecosystems have important value as a place where people can come for rest, relaxation, refreshment, and recreation. Through the aesthetic qualities and almost limitless variety of landscapes, natural and cultural environments provide many opportunities for nature-based recreational activities, such as walking, bird-watching, camping, fishing, swimming, and nature study.“

2.4 Doppelcharakter der Kategorie „Erholung und Tourismus“ Die Kategorie „Erholung und Tourismus“ innerhalb der sogenannten kulturellen ÖSD weist einen Doppelcharakter auf, der in den Diskussionen um kulturelle ÖSD zuweilen zu Verwirrungen führt, weil er nicht beachtet wird: Was unter dieser Kategorie behandelt wird, umfasst außer intrinsischen, nicht-instrumentellen auch extrinsische, instrumentelle Werte von Natur. Die Eignung eines Gebietes für Erholung und Tourismus hängt wesentlich davon ab, in welchem Ausmaß es gesellschaftlich wertgeschätzte ästhetische Qualitäten und symbolische Bedeutungen besitzt – etwa wenn wir dort Urlaub machen, wo die Kulturlandschaft Heimat symbolisiert. Insofern basieren Erholung und Tourismus auf intrinsischen, nicht-instrumentellen Werten von Natur. Diese sind durch das Konzept der kulturellen ÖSD abgedeckt, insofern diese als „nicht-materielle Vorteile“ definiert werden. Die Eignung eines Gebietes für Erholung und Tourismus hängt aber auch davon ab, ob es aufgrund seiner physischen Beschaffenheit für (bestimmte) Freizeitaktivitäten geeignet ist – z. B., weil es einen See zum Baden gibt oder weil es die Wiederherstellung der physischen Leistungsfähigkeit und psychischen Resilienz von Menschen befördert, da die Luft besonders schadstoffarm oder der Lärmpegel besonders gering ist. Insofern basieren Erholung und Tourismus auch auf extrinsischen, instrumentellen Werten von Natur. Diese fallen aber, gemäß den im ÖSD-Ansatz zugrunde liegenden Definitionen,

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Grundlagen: Definitionen zentraler Begriffe

nicht unter die kulturellen ÖSD, sondern unter die versorgenden bzw. regulierenden ÖSD. Offen lassen möchte ich hier, ob mit der Kategorie „Erholung und Tourismus“ insgesamt eine instrumentelle Perspektive vorliegt, weil die ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen nicht an sich, sondern als Mittel zur Erholung bzw. als Ressource für den Tourismus betrachtet werden.24 Offen lassen möchte ich hier auch, ob die Kategorie „Erholung und Tourismus“ nicht gestrichen werden müsste, weil die relevanten intrinsischen, nichtinstrumentellen Werte bereits durch die übrigen Unterformen der kulturellen ÖSD und die relevanten extrinsischen, instrumentellen Werte bereits durch die versorgenden und regulierenden ÖSD erfasst sind, sodass mit der Unterform „Erholung und Tourismus“ nur ein spezieller Anwendungsfall anderer ÖSD erfasst wird. Den Doppelcharakter der Kategorie „Erholung und Tourismus“ habe ich nur deshalb herausgearbeitet, um klarzustellen: Meine nachfolgenden Darstellungen gelten jeweils genaugenommen nur mit der Einschränkung, dass die extrinsischen, instrumentellen Aspekte der sogenannten kulturellen ÖSD „Erholung und Tourismus“ ausgenommen sind, worauf ich im Folgenden aber nicht jeweils hinweisen möchte, weil dies die Lesbarkeit des Textes erheblich beeinträchtigen würde.

24 Siehe hierzu die Unterscheidung zwischen ästhetischer Landschaft und gesell­ schaftlich angeeigneter Natur als Freizeitlandschaft (Schelsky 1970: 122-129; Krebs 1997: 370 f.), die Analysen von Eisel (2006) und Körner (2006) zum Ge­ genstand der Methoden von Landschaftsbildbewertungen sowie die Überlegun­ gen von Trepl (2012a) zur Landschaftswahrnehmung in modernen Gesellschaf­ten.

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3. Kritikpunkt 1: Terminologische Engführung auf ethischen Subjektivismus

Mein erster Kritikpunkt am Konzept der sogenannten kulturellen ÖSD ist ein naturethischer. Er bezieht sich darauf, dass im ÖSDAnsatz alle Werte von Natur unter der Bezeichnung „Dienstleistungen“ (services) thematisiert werden, die als Vorteile (benefits) oder Beiträge zu Vorteilen definiert werden.1 Im Hinblick auf wesentliche Werte von Natur, die im ÖSD-Ansatz unter das Konzept der kulturellen ÖSD gefasst werden, ist die Rede von „Dienstleistungen“ und „Vorteilen“ jedoch unangemessen. Denn diese Begriffe beinhalten eine Engführung auf subjektive Werte bzw. auf einen ethischen Subjektivismus. Es geht bei den sogenannten kulturellen ÖSD aber auch, und zwar wesentlich, um objektive Werte, für die ein ethischer Objektivismus einzubeziehen ist. Ich entwickle diesen Kritikpunkt, indem ich zunächst eine Typologie der Werte von Naturphänomenen aufstelle (Axiologie), dann erörtere, welche Typen von Werten mit den soeben beschriebenen sechs Unterformen kultureller ÖSD angesprochen sind, um schließlich herauszustellen, für welche dieser Werte die Rede von einer „Dienstleistung“ bzw. einem „Vorteil“ nicht angemessen ist. (Nicht relevant für die Argumentation ist, dass man mit Blick auf Ökosysteme oder allgemein Naturphänomene nur im metaphorischen Sinne von einem „Dienstleister“ bzw. einer „Dienstleistung“ sprechen kann.)

1

Siehe Kapitel 2.3, S. 27.

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Kritikpunkt 1: Terminologische Engführung

3.1 Axiologie der Werte von Natur Die naturphilosophische und umweltethische Literatur kennt un­ terschiedliche Axiologien.2 Ich verwende die weit verbreitete Grundunterscheidung in anthropozentrische Werte und in nichtanthropozentrische Werte, die sich in theozentrische und weiter zu differenzierende physiozentrische Werte gliedern. Darüber hinaus unterscheide ich – hier besteht erheblich weniger Einheitlichkeit in der Literatur – innerhalb der anthropozentrischen Werte zwischen extrinsischen und intrinsischen Werten und gliedere letztere in subjektive und objektive intrinsische Werte (vgl. Abbildung 1: Axiologie der Werte von Natur, S. 33). Um Verwirrungen zu vermeiden, sei angemerkt, dass in unterschiedlichen Axiologien zuweilen einerseits für inhaltlich identisch bestimmte Werttypen unterschiedliche oder sogar gegeneinander vertauschte Bezeichnungen und andererseits dieselben Bezeichnungen für unterschiedlich bestimmte Werttypen verwendet werden. Das gilt insbesondere für „Eigenwerte“ und „Selbstwerte“ sowie „inhärente Werte“ und „intrinsische Werte“.3 2 Für Übersichten siehe Korsgaard 1983; Hargrove 1992; Krebs 1997; Eser/Pott­ hast 1999: 60-64; Ott 2010: 72-100; Köchy 2011b: 1236-1244; Jax et al. 2013: 262-263; Eser et al. 2014: insb. 152; Ott et al. 2016: 11-16. 3 Einige Beispiele mögen die terminologische Uneinheitlichkeit demons­trieren („vs.“ steht für „versus“, „“ für Untergliederung des letztgenannten Wertes). Korsgaard 1983: extrinsic vs. intrinsic; instrumentally vs. final/means vs. end/for its own sake; Hargrove 1992: instrumental vs. anthropocentric intrin­sic vs. sub­ jective/objective nonanthropocentric intrinsic value; Krebs 1997: instrumenteller Wert vs. eudämonistischer Eigenwert vs. moralischer Eigenwert; Eser/Potthast 1999: Gebrauchs- vs. Eigen- vs. Selbst-Wert; Ott 2010: funktio­naler vs. eudaimo­ nistischer vs. moralischer Selbst-/Eigenwert; Ott et al. 2016: instrumenteller Wert vs. eudaimonistischer Wert vs. Eigenwert; Köchy 2011b: instrumentelle, relationa­ le, intrinsische Werte; Ressourcen- vs. relationale vs. Eigenwert-Perspektive; Mu­ raca 2011: intrinsic/moral inherent vs. relational value  fundamental-relational vs. functional-relational value  instrumental functional-relational vs. intrinsic-­ eudaimonistic functional-relational value; Sandler 2012: instrumental vs. intrin­ sic value  subjective vs. objective intrinsic value  natural-historical value view vs. inherent worth view of objective intrinsic value; Jax et al. 2013: instrumental vs. eudaimonistic vs. fundamental vs. inherent moral value; Eser et al. 2014: in­ strumental value/Gebrauchswert vs. non-instrumental value  eudemonic intrinsic value/Eigenwert vs. moral intrinsic value/Selbstwert; Kirchhoff 2014a: external instrumental vs. (inter)subjective intrinsic vs. inherent/objective intrinsic value; 2014c: extrinsi­scher Nutz- vs. intrinsischer relativer Eigen- vs. absoluter Eigenwert; Potthast 2014: Eigenwert/intrinsic value vs. Selbstwert/inherent value; Chan et al. 2016: instrumental vs. relational vs. intrinsic value.

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Kritikpunkt 1: Terminologische Engführung

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extrinsisch

WERTE VON NATUR

intrinsisch

subjektiv

relativer Eigenwert

objektiv

relative Werte

anthropozentrisch

instrumenteller Nutzwert

theozentrisch

physiozentrisch

absolute (Selbst-)Werte

pathozentrisch biozentrisch ökozentrisch ethischer Holismus radikal physiozentrisch

Abbildung 1: Axiologie der Werte von Natur

Anthropozentrische Werte Anthropozentrische Werte sind Werte, die Naturphänomene nur in Abhängigkeit von menschlichen Interessen, Präferenzen, Sinnsystemen, Wertvorstellungen usw. haben, also relativ zum Menschen und nicht absolut für sich selbst. Argumente und moralische Verpflichtungen zur Erhaltung von Naturphänomenen ergeben sich aus anthropozentrischen Werten ausschließlich indirekt durch Referenz auf eben jene menschlichen Interessen, Präferenzen, Sinnsysteme, Wertvorstellungen usw. Extrinsische anthropozentrische Werte sind Werte, die Naturphänomene als Mittel für einen menschlichen Zweck haben, der ‚außerhalb‘ ihrer Existenz, ‚jenseits‘ ihres bloßen WahrgenommenWerdens etc. liegt, z. B. Holz als Brennmaterial. Diese Werte wer-

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Kritikpunkt 1: Terminologische Engführung

den sehr häufig als instrumentelle Werte bezeichnet, womit man sie statt auf den außerhalb liegenden Zweck auf die Art des Beitrags zu etwas bezieht: nämlich als Mittel bzw. Werkzeug bzw. Instrument kausal zur Zielerreichung beizutragen.4 Intrinsische anthropozentrische Werte sind Werte, die Naturphänomene nicht etwa als Mittel oder Instrument, sondern un-mittelbar als solche haben, aber – anders als im Falle absoluter Werte – doch nur relativ zu menschlichen Interessen, Präferenzen, Sinnsystemen, Wertvorstellungen usw., z. B. die Wasseroberfläche eines Sees als Objekt ästhetischen Wohlgefallens oder ein Baum als Symbol für Leben.5 Naturphänomene mit intrinsischem Wert haben Wert in sich, aber nicht Wert für sich; sie haben Wert unmittelbar als solche, nicht als Mittel, sind also nicht-instrumentelle Werte; sie haben relativen Eigenwert, nicht relativen Nutzwert, aber auch nicht absoluten Selbstwert. Demnach referiert z. B. der intrinsische anthropozentrische Wert eines Baumes, der darin besteht, ein Symbol für Leben zu sein, auf den Baum selbst, ohne dass dem Baum damit ein absoluter Selbstwert zugeschrieben wäre, wohingegen der Wert eines Baumes, der als Baumaterial dient, auf seinen Nutzwert für das Bauprojekt, in dem er eingesetzt wird, referiert. Der Werttypus der intrinsischen anthropozentrischen Werte umfasst kategorial verschiedene Formen von Werten von Natur. Die Differenz, auf die es mir hier ankommt, lässt sich begrifflich bestimmen mithilfe einer in der Ethik üblichen, wenngleich keineswegs einheitlich gefassten Unterscheidung zwischen ethischem Subjektivismus und ethischem Objektivismus bzw. zwischen subjektiven

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Man kann also extrinsische Werte als instrumentell charakterisieren, sollte aber nicht instrumentelle und intrinsische Werte gegenüberstellen, weil dieses Ge­ gensatzpaar zwei verschiedenartige Unterscheidungen vermischt. Konsistente Gegensatzpaare sind nur (i) extrinsisch (extrinsic) versus intrinsisch (intrin­ sic) und (ii) instrumentell (instrumental) versus endgültig (final) bzw. Mittel (means) versus Selbstzweck (end; for its own sake). (Korsgaard 1983: 170) 5 Der Bezeichnung dieses Werttyps als intrinsisch liegt zugrunde, dass ich den Ausdruck „intrinsischer Wert“ nicht als Synonym verwende für die Ausdrü­ cke „Selbstwert“ bzw. „Selbstzweck“. Damit folge ich einer Differenzierung von Korsgaard (1983: 170): „To say that something is intrinsically good is not by definition to say that it is valued for its own sake: it is to say that it has its good­ ness in itself. […] The natural contrast to intrinsic goodness – the value a thing has ‚in itself‘ – is extrinsic goodness – the value a thing gets from some other source.“

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Kritikpunkt 1: Terminologische Engführung

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und objektiven Werten. Entsprechend unterscheide ich subjektive und objektive intrinsische Werte.6 Gemäß dem ethischen Subjektivismus gründet die Geltung moralischer Aussagen über den Wert einer Handlung oder Sache ausschließlich in deren subjektiver Bewertung durch einzelne Personen, also in subjektiven Interessen, Einstellungen, Präferenzen etc. Wirksam werden diese zwar erst in Form von aus ihnen abgeleiteten sozialen intersubjektiven Konventionen; aber diese Intersubjektivität ergibt sich entweder aus einem gerechten Ausgleich zwischen konkurrierenden individuellen Interessen etc. verschiedener Menschen oder durch Aggregation übereinstimmender individueller Interessen etc. verschiedener Menschen.7 Hingegen ist gemäß dem ethischen Objektivismus8 die Geltung moralischer Aussagen über den Wert einer Handlung oder Sache vollständig unabhängig von subjektiven Interessen, Einstellungen, Präferenzen etc.9 Ihre Geltung wird als objektiv angesehen, insofern man annimmt, dass subjektive Interessen etc. weder vollständig noch partiell konstitutiv für ihre Geltung sind; ihre Geltung wird vielmehr angesehen als fundiert in irgendeiner Form von objektiver

6

Die nachfolgende Darstellung subjektivistischer und objektivistischer Positio­ nen ist stark vereinfachend. Bezüglich der zahlreichen Varianten beider Positio­ nen und vor allem bezüglich pragmatistischer und anderer Vermittlungsversu­ che sei auf die differenzierten Fachdiskurse zum ethischen Subjektivismus bzw. ethischen Nominalismus/Konstruktivismus/Konventionalismus einerseits und zum ethischen Objektivismus bzw. schwachen und starken Realismus anderer­ seits verwiesen. Siehe einführend z. B. Mackie 1977; Rolston III 1982; McDowell 1984; Kutschera 1999; Joas [1997] 2004; Halbig 2004; 2007; Hügli 2004b; Tarkian 2004; Schäfer 2011; Muraca 2011. 7 Zum gesamten Absatz siehe Kutschera 1982: 54 f., 107-110, 126 f., 149, 181. Zur Intersubjektivität subjektiver Werte vgl. die Unterscheidung dreier Stufen von Universalisierung in Mackie (1977: 83-102, 151-154), zusammenfassend ebd.: 97: „There are, then, different kinds or stages of universalization. In each of them a moral judgement is taken to carry with it a similar view about any relevantly similar case. But the first stage rules out as irrelevant only the numerical difference between one individual and another; the second stage rules out gener­ic differences which one is tempted to regard as morally relevant only because of one’s particular mental or physical qualities or condition, one’s social status or resources; the third stage rules out differences which answer to particular tastes, preferences, values, and ideals.“ 8 Ich halte mich hier an diejenige Variante des ethischen Objektivismus, die mit einem starken ethischen Realismus verbunden ist. Zu anderen Varianten siehe Halbig 2004; 2007; 2008; Tarkian 2004. 9 Kutschera 1982: 55, 181 f.; Halbig 2008.

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Kritikpunkt 1: Terminologische Engführung

Wirklichkeit.10 Wegen dieser Annahme einer ontologischen Unabhängigkeit moralischer Werte von subjektiven Leistungen spricht man auch von ethischem Realismus (im Gegensatz zum ethischen Nominalismus, Konstruktivismus, Konventionalismus usw. des ethischen Subjektivismus), ohne dass damit ein platonischer ontologischer Wertrealismus impliziert wäre, demzufolge es Werte gibt, die unabhängig von der Existenz menschlicher Wesen existieren.11 Vielmehr verstehen die aktuellen Vertreter eines (starken) ethischen Realismus moralische Begriffe insofern als subjektiv, als sie Sinn ergeben nur mit Blick auf menschliche Wesen und sogar zwingend einen Rekurs auf Eigenschaften von Subjekten beinhalten – ohne dass diese existentielle Abhängigkeit von Subjektivität die These der ontologischen Unabhängigkeit moralischer Tatsachen von subjektiven Interessen infrage stellen würde. Aus der Perspektive objektivistischer Ethiken behandeln subjektivistische Ethiken nur Wünsche, Interessen, Präferenzen etc., nicht aber Werte im eigentlichen Sinne. Denn Werte sind in objektivistischer Perspektive Vorstellungen darüber, was des Wünschens wert ist (something is desirable), also etwas von Wünschen (something is desired) kategorial Verschiedenes und nicht einfach intersubjektiv-universelle oder langfristige Wünsche; und diese kategoriale Differenz wird mit Begriffen wie „Präferenz“ verschliffen.12 Der ethische Objektivismus impliziert jedoch nicht, dass moralisches Handeln nicht mit sinnlicher Lust, der Erfüllung individueller Interessen usw. einhergehen kann; er besagt nur, dass sinnliche Lust oder eine individuelle Präferenz nicht die eigentliche Motivation einer Handlung sein darf, um sie als moralisch und damit als bezogen auf einen Wert im eigentlichen Sinne zu qualifizieren.13 „Moralische Werte [im Sinne des ethischen Objektivismus] zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie in dem Sinne kategorisch sind, dass sie gute Gründe fundieren und dies ganz unabhängig davon, ob andere Quellen solcher Gründe (etwa Wünsche, Interessen) in dieselbe 10 Halbig 2008. Worin diese Objektivität besteht, dazu gibt es innerhalb des ethi­ schen Objektivismus/Realismus unterschiedliche Konzeptionen, auf die hier nicht eingegangen werden kann und braucht. Siehe hierzu und zur Entstehung objektiver Werte z. B. McDowell 1984; Taylor, C. 1992b; Joas [1997] 2004. 11 Kutschera 1999: 213 f.; Hügli 2004b: 581; Halbig 2008. 12 Joas 2006: 3, mit Verweis auf John Deweys Unterscheidung von „desired“ und „desirable“. Zu dieser Unterscheidung siehe z. B. Dewey 1939: 31-33; vgl. van Deth/Scarbrough 1995: 25-28. 13 Kutschera 1982: 56; Halbig 2008.

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Kritikpunkt 1: Terminologische Engführung

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Richtung weisen. Auch wenn die moralisch geforderte Handlung keinen meiner Wünsche oder [keine meiner] Interessen erfüllt, habe ich dennoch einen Grund, so zu handeln. Moralische Werte sind eine eigenständige Quelle normativer Gründe.“14 Den Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Werten innerhalb der intrinsischen anthropozentrischen Werte möchte ich mittels zweier Beispiele noch verdeutlichen: (1) Die ästhetischen Qualitäten und historisch entstandenen Besonderheiten einer Kulturlandschaft können für den Betrachter subjektive Werte darstellen, die im subjektiven Interesse an ästhetischem Vergnügen (pleas­ ure) oder auch im subjektiven Interesse an der Erhaltung einer vertrauten Umgebung gründen. Sie können für den Betrachter aber auch objektive Werte darstellen, die darin gründen, dass die ästhetischen Qualitäten und die historisch entstandenen Besonderheiten einer Kulturlandschaft als Resultat einer gelungenen kulturellen Entwicklung, als Ausdruck kultureller Eigenart und Vollkommenheit, interpretiert werden.15 In diesem Fall wird die Kulturlandschaft nicht deshalb erhalten, weil es Vorteile mit sich bringt, sondern weil man sich ihr gegenüber und gegenüber der kulturellen Tradition, die sie hervorgebracht hat, verpflichtet fühlt. Was man in seiner Heimatlandschaft zu tun als das Richtige ansieht, macht man nicht wegen zu erwartender Vorteile, sondern weil man es für das Richtige hält: für das Gute, das die vernünftige Tradition oder auch der göttliche Auftrag16 vorschreibt. „Heimatliebe zählt […] wie eheliche Treue, Solidarität mit Verwandten und Freunden, Familiensinn und Anhängerschaft zu Vereinen zu den sog. loyalitätsbezeugenden Werten.“17 „Much of what many people deplore about the human subversion of nature – and fear about the destruction of the environment – has to do with the loss of places that they keep in shared memory and cherish with collective loyalty.“18 (2) Spirituelle Naturerfahrungen sind auch in modernen Gesellschaften ‚westlichen Typs‘ weit verbreitet.19 Denn in diesen vollziehen sich, entgegen der 14 Halbig 2008. 15 Das Ideal kulturlandschaftlicher Eigenart erläutere ich in Kapitel 4.4, S. 59-64. 16 Ein prominentes Beispiel dafür ist die Verehrung des Hetch Hetchy Valley (siehe Nash [1967] 2001: 161-181). 17 Ott 2005: 28, mit Bezug auf MacIntyre 1995. 18 Committee on Noneconomic and Economic Value of Biodiversity et al. 1999: 65. Siehe auch Bizeul 2007; Eisel 2007; Piechocki 2007; Drenthen 2016. 19 Clark 2011; Brady 2013; Evers 2017. In der Sache unerheblich ist, dass Brady (2013: 109) offenbar säkulare Erhabenheitsgefühle nicht als „spirituell“ be­

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Kritikpunkt 1: Terminologische Engführung

Annahme klassischer Modernisierungstheorien, nicht nur Säkularisierungsprozesse, sondern auch Transformationen der – bisher an positive Religionen und kirchliche Institutionen gebundenen – traditionellen Formen von Religiosität, Transzendenzerfahrung, Sakralisierung und ästhetischer Vergegenwärtigung von Heiligem.20 Konstitutiv für spirituelle Naturerfahrungen sind Erfahrungen von Selbsttranszendenz, die aus dem alltäglichen Erwartungs- und Deutungshorizont herausragen und hinaustragen und in denen subjektiv evident wird, dass man mit etwas Umfassenderem, Höherem verbunden oder auch konfrontiert ist, welches als unbedingte SinnInstanz erlebt wird. Das aber bedeutet: So subjektiv die spirituellen Erfahrungen auch sein mögen, gerecht wird man ihnen nur, wenn man sie als verbunden mit objektiven Werten begreift. Nicht-anthropozentrische Werte Nicht-anthropozentrische Werte sind Werte, die Naturphänomene unabhängig von menschlichen Interessen, Präferenzen, Sinnsystemen, Wertvorstellungen usw. zugeschrieben werden.21 Sie lassen sich untergliedern in theozentrische und in physiozentrische Werte. Theozentrische Werte sind, wie anthropozentrische Werte, rela­ tive Werte. Der den Wert begründende Bezugspunkt der Relation ist aber nicht der Mensch, sondern ein göttliches Wesen.22 Naturphänomene haben Wert nicht aus sich heraus, sondern als Schöpfung eines Gottes. „Nicht um ihrer selbst willen wird die Natur geschont, sondern als eigentlicher Besitz Gottes.“23 Man könnte einwenden

20 21

22 23

zeichnen möchte, weil sie diesen Begriff theozentrisch und damit viel enger fasst als ich. Luckmann 1991; Schnettler 2004; 2007; 2014; Knoblauch 2005; Knoblauch 2009; Taylor, C. 2007; Schlette 2009; 2013: 340-382; 2014; Deuser et al. 2015; Joas 2017; Schlette/Krech 2018. Dies widerspricht nicht der modernen Auffassung, dass ein Wert – entgegen der Annahme eines Objektiv-Guten in der antiken griechischen Philosophie – nur im subjektiven Akt der Wertschätzung durch einen Menschen gegeben ist (Hügli 2004a: 557; Joas 2006: 5). Und es widerspricht auch nicht dem epistemischen Anthropozentrismus, demzufolge „alle moralischen Argumente von Menschen formuliert werden und sich an andere Menschen richten“ (Ott et al. 2016: 11). Ott 2010: 18, 21 f. Die Bezeichnung „theozentrisch“ ist genaugenommen nur zutreffend für religiöse Weltanschauungen, die sich auf einen personalen Gott beziehen (ebd.: 21 f.). Pye et al. 1997: 4.

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Kritikpunkt 1: Terminologische Engführung

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wollen, theozentrische Werte seien eine Unterform der anthropozentrischen Werte, weil Religionen ein Teil der menschlichen Kultur sind. Dieser Einwand berücksichtigt jedoch nicht, dass theozentrische Werte, auch wenn sie sozialkonstruktivistisch als kulturelle Werte rekonstruierbar sein mögen, als Werte geglaubt werden, deren Existenz jenseits kultureller Setzungen liegt. Wenn z. B. ein Berg als ein heiliger Berg, ein Fluss als ein heiliger Fluss angesehen wird, so gilt er im Rahmen dieser Sichtweise als mit Werten behaftet, die eine Kultur nicht aufheben (aber missachten) kann. Physiozentrische Werte sind Werte, die Naturphänomenen unabhängig von irgendeinem Bezug auf menschliche Perspektiven und auch unabhängig von einem Bezug auf ein göttliches Wesen zugeschrieben werden. Es sind also absolute Werte. Je nachdem, welche Terminologie man bevorzugt, kann man sie als absolute Selbstwerte, absolute Eigenwerte, absolute inhärente Werte oder absolute intrinsische Werte bezeichnen – „absolute Selbstwerte“ scheint mir am eindeutigsten. Gegenüber Naturphänomenen, denen ein absoluter Selbstwert zugeschrieben wird, haben Menschen (die diesen Wert zuschreiben) direkte moralische Verpflichtungen in dem engeren Sinne einer moralischen Verpflichtung, wie sie gegenüber Personen als Subjekten von Eigenrechten bestehen. In Abhängigkeit davon, wie weit der Bereich, die Extension, der Naturphänomene gefasst wird, denen absoluter Selbstwert zugeschrieben wird, spricht man von Pathozentrismus, der alle empfindungsfähigen Wesen, von Biozentrismus, der alle individuellen Lebewesen bzw. Organismen, von Ökozentrismus, der zudem überorganismische Ganzheiten (vor allem Ökosysteme), oder von radikalem Physiozentrismus bzw. ethischem Holismus, der alle Naturphänomene einbezieht.24 „Eudaimonistische Werte“ oder „intrinsische Werte“? In meiner Axiologie der Werte von Natur habe ich ‚zwischen‘ den anthropozentrischen extrinsischen bzw. instrumentellen Werten einerseits und den physiozentrischen absoluten Selbstwerten die 24 Zur genaueren Beschreibung und Kritik physiozentrischer Positionen siehe Watson, R. A. 1983; Schäfer 1987: 22-26; Williams, G. C. 1992; Krebs 1997: 345364, 378; Baranzke 2002; 2014; Eisel 2009; Ott 2010: 18; 101-147; 2011: 12101213; Kirchhoff 2011b; Köchy 2011b: 1236-1244; Muraca 2011: 378-380; Ott et al. 2016: 12-15.

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anthropozentrischen intrinsischen Werte verortet. Verschiedene Autorinnen und Autoren bezeichnen diesen ‚dazwischen‘ liegenden Werttypus als eudaimonistische Werte und definieren: „eudaimoni­ stic values not only refer to a surplus in quality of life, in terms of leisure and aesthetic experiences, such as a walk in the woods, swimming in a natural pond, or climbing beautiful mountains. Rather and more properly, they refer to all those entities and processes considered as necessary for living a ‚good life‘.“25 Oder: „Value in itself for the good life of humans (spiritual, cultural, biographic, aesthetic, symbolic value)“.26 Den Begriff der eudaimonistischen Werte habe ich in der obigen Axiologie nicht verwendet: Erstens ist unklar und schwer zu bestimmen, welche Bedeutung der aus der antiken griechischen Philosophie stammende Begriff „Eudaimonia“ – der wörtlich soviel bedeutet wie ‚Gunst des Dämons‘ oder ‚mit einem guten Geist verbunden‘ (griechisch: eu, gut; daimon, Geist), also einer Gottheit bzw. Schicksalsmacht – im Rahmen moderner Kulturen haben kann. Zweitens schließt ein im antiken Sinne verstandener Begriff der Eudaimonia subjektive präferenztheoretische und hedonistische Werte wohl eher nicht mit ein, denn zumeist wird „eudaimonia (the pursuit, manifestation, and/or experience of virtue, personal growth, self-actualization, flourishing, excellence, and meaning) […] from hedonia (the pursuit and/or experience of pleasure, enjoyment, comfort, and reduced pain)“ unterschieden.27 Diese Differenzierung ist auf jeden Fall für antike Konzepte zutreffend, weil in diesen Eudaimonia mit der Idee eines objektiven Guten verbunden ist, aber wohl auch für die Aristotelische Ethik, die zwar die platonische Idee eines objektiven Guten fallen lässt, aber dennoch unterscheidet zwischen „hedonism (the life occupied by the search for pleasure) and eudaimonia (happiness that arises from good works).“28 Würde man in einer Axiologie der Werte von Natur von eudaimonistischen Werten sprechen, wären demnach die hedonistischen Werte bzw. wohl die meisten subjektiven intrinsischen Werte nicht erfasst. Für diese müsste dann in die Axiologie ein ergänzen25 So die Definition von Jax et al. 2013: 262. Vgl. Ott 2005: 29; 2010: 82; 2013: 153156; Krebs 1997: 378; 2013: 215, 225; Eser et al. 2014: 151-153; Ott et al. 2016: 10 f.; van den Born et al. 2017. 26 Eser et al. 2014: 152, table 6.3. 27 Huta 2013: 201. 28 Kashdan et al. 2008: 219 über Aristoteles NE; vgl. Wolf 2006. Für eine historische Übersicht der Bedeutungen von „Eudaimonia“ siehe Huta 2013.

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der Werttyp eingefügt werden. Drittens ist bei der Rede von eudaimonistischen Werten nicht klar, ob extrinsische, instrumentelle Werte gänzlich ausgeschlossen oder solche mit eingeschlossen sind, die sich auf nicht Überlebensnotwendiges beziehen, das einem guten Leben dient. Um diese Schwierigkeiten zu vermeiden, spreche ich hier29 nicht von eudaimonistischen Werten, sondern von intrinsischen Werten, die ich in subjektive und objektive intrinsische Werte untergliedere.

3.2 Welche Werttypen erfasst das Konzept der kulturellen Ökosystemdienstleistungen? Auf der Basis der soeben entwickelten Axiologie der Werte von Natur soll nun geklärt werden, welche Typen von Werten mit dem Konzept der kulturellen ÖSD erfasst werden. Meine Zuordnungen in der nachstehenden Tabelle (Abbildung 2, S. 44) basieren auf den oben wiedergegebenen Beschreibungen der sechs Unterformen kultureller ÖSD: also von Cultural identity services, Cultural heritage services, Spiritual services, Inspirational services, Aesthetic services sowie Recreation and Tourism.30 Zur Erläuterung der Zuordnungen sind Auszüge aus diesen Beschreibungen in der Tabelle wiedergegeben. Nicht in allen Fällen lässt sich eindeutig klären, ob ein Werttypus mit einem dieser services tatsächlich angesprochen werden soll. In solchen Fällen ist die Zuordnung „x“ in Klammern gesetzt. Die begriffliche Bestimmung der ÖSD als „kulturelle“ ÖSD ist für diese Zuordnung nur begrenzt hilfreich. Denn das Adjektiv „kulturell“ ist nicht trennscharf bezüglich der meisten Werttypen, die ich in meiner Axiologie unterschieden habe. Dies gilt umso mehr, als der Kulturbegriff vieldeutig ist, im ÖSD-Ansatz aber nicht genauer bestimmt wird und z. B. unter den totalitäts­ orientierten Kulturbegriff, der Kultur als Gesamtheit der spezifischen Lebensform eines menschlichen Kollektivs in einer historischen Epoche bestimmt, auch die versorgenden und regulierenden ÖSD fallen würden.31 29 Siehe aber z. B. Kirchhoff 2012b; 2014c. 30 Siehe Kapitel 2.3, S. 28 f. 31 Zu verschiedenen Kulturbegriffen siehe Kapitel 8.3, S. 149, wo ich auch darauf eingehe, dass die Rede von kulturellen Werten problematisch ist.

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Kritikpunkt 1: Terminologische Engführung

Ähnliches gilt für die Bestimmung der sogenannten kulturellen ÖSD als „nicht-materielle“ Vorteile. Das Adjektiv „nicht-materiell“ ist nicht trennscharf bezüglich der theozentrischen, verschiedenen physiozentrischen und verschiedenen intrinsischen Werte, die ich in meiner Axiologie unterschieden habe. Denn wenn man unter nicht-materiellen Vorteilen solche Vorteile versteht, durch die ein Mensch sich in einer als positiv wahrgenommenen Weise nichtphysisch verändert,32 z. B. freier fühlt (wohingegen materielle Vorteile ihn physisch verändern, z. B. ernähren würden), dann können sich nicht-materielle Vorteile auf alle diese Werte beziehen. Zudem ist fraglich, ob die Charakterisierungen „nicht-materiell“ und „materiell“ im ÖSD-Ansatz konsistent verwendet werden; denn auch das, was im ÖSD-Ansatz als versorgende und regulierende ÖSD bezeichnet und als materielle Vorteile charakterisiert wird, kann teilweise zu nicht-physischen Veränderungen führen, z. B. wenn aus dem Holz, das ein Waldökosystem produziert hat, ein Holzhaus gebaut wird, das nicht nur physisch im Winter die Körpertemperatur seiner Bewohner erhöht, sondern ihnen auch, unabhängig von solchen physischen Veränderungen, mehr Behaglichkeit ermöglicht. Beseitigt wären solche Inkonsistenzen nur, wenn sich die Charakterisierungen als materiell und nicht-materiell gar nicht auf den ‚Dienstleistungsempfänger‘ beziehen sollen, sondern – entsprechend der in der Ökonomie üblichen Unterscheidung zwischen materiellen und immateriellen Gütern33 – auf den ‚Dienstleister‘ bzw. die ‚Dienstleistung‘. Dann aber müssten die kulturellen ÖSD statt als nicht-materielle Vorteile (benefits) als nicht-materielle Dienstleistungen (services) bzw. nicht-materielle Güter (goods) definiert werden.

32 Diese Formulierung verdankt sich Hills (1977: 318) Definition von services: „A service may be defined as a change in the condition of a person, or of a good belonging to some economic unit, which is brought about as the result of the activity of some other economic unit, with the prior agreement of the former person or economic unit. This definition accords with the meaning of the word ‚service‘ as used in ordinary speech and by economists. It is consistent with the underlying idea which is inherent in the concept of a service, namely that one economic unit performs some activity for the benefit of another. In this way, one unit ‚serves‘ the other.“ 33 Materielle Güter sind Güter, die als physische Gegenstände vorhanden sind: Sachgüter, körperliche Gegenstände. Nicht-materielle oder immaterielle Güter sind Güter, die nicht als physische Gegenstände vorhanden sind: Dienstleistungen und Rechte, unkörperliche Gegenstände. (Töpfer 2007: 94 f.)

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Kritikpunkt 1: Terminologische Engführung

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3.3 Unangemessenheit der Rede von „Dienstleistungen“ und „Vorteilen“ Die Tabelle auf der folgenden Seite zeigt, dass mit den sogenannten kulturellen ÖSD das gesamte Spektrum der Typen von Werten angesprochen wird, die Naturphänomene haben können. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf den intrinsischen anthropozentrischen Werten, wobei sowohl subjektive als auch objektive intrinsische Werte mehrfach angesprochen sind. Dieser Schwerpunkt ist wenig überraschend, da der ÖSD-Ansatz insgesamt weder physiozentrisch noch theozentrisch, sondern anthropozentrisch fundiert ist und die ex­ trinsischen Werte innerhalb der anthropozentrischen Werte vor allem mit den versorgenden und regulierenden ÖSD erfasst werden. Dieser umfassende Ansatz ist sehr begrüßenswert und in einer pluralistischen Welt mit in sich pluralistischen Gesellschaften auch erforderlich, um der vielfältigen Realität individueller und gesellschaftlicher Werte von Natur gerecht zu werden. Die Terminologie des ÖSD-Ansatzes wird aber mit der Rede von Dienstleistungen (services) und Vorteilen (benefits) nur einem Teil des Wertespektrums gerecht, das de facto unter dem Konzept der kulturellen ÖSD angesprochen wird. Denn die Rede von services und benefits gehört in den Rahmen eines ethischen Subjektivismus, der nicht nur die Existenz objektiver theozentrischer und objektiver physiozentrischer Werte leugnet, sondern auch die Existenz objektiver intrinsischer anthropozentrischer Werte. Nicht gerecht wird die Rede von services und benefits insbesondere konservativen Natur- und Landschaftsidealen wie dem in unserer Kultur sehr einflussreichen Ideal kulturlandschaftlicher Eigenart, aber auch spirituellen Natur- und Landschaftserfahrungen, die nicht nur in vormodernen, sondern auch in modernen Gesellschaften eine Rolle spielen, sowie theozentrischen Natur- und Landschaftsauffassungen. Was den Begriff der „benefits“ angeht, kann sich die Zuordnung zum ethischen Subjektivismus auf dessen Verwendungsweise in Disziplinen wie Ökonomie und Ethik stützen, aber auch auf allgemeine Lexikondefinitionen. So werden „benefits“ im Online Business Dictionary definiert als „1. General: Advantage, privi­ lege, right, or financial reimbursement […]. 2. Finance: Desirable and measurable outcome or result from an action, investment, project, resource, or technology. 3. Marketing: Desirable attri­ bute of a good or service, which a customer perceives he or she

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x*

aesthetic services

x „rest, relaxation, refreshment, and recreation“

x „aesthetic appreciation of natural and cultivated landscapes“

x „aesthetic pleasure“; „aesthetic appreciation of natural and cultivated landscapes“

x** „opportunities for nature-based recreational activities“

x „the use of natural motives or artifacts in arts, folklore, and so on“

x „the use of natural motives or artifacts in arts, folklore, and so on“

inspirational services

recreation & tourism

x

x

spiritual services

x „cultural identity, value systems“

objektiv

x „past cultural ties“,„sense of continuity and understanding of our place“

subjektiv

intrinsisch

(cultural) heritage services

cultural identity services

extrinsisch

anthropozentrische Werte

(x)*

x „aesthetic appreciation of natural ... landscapes“

(x)

x

(x)

theozentrische Werte

(x)*

(x) „aesthetic appreciation of natural ... landscapes“

(x)

x

(x)

physiozentrische Werte

nicht-anthropozentrische Werte

44 Kritikpunkt 1: Terminologische Engführung

Abbildung 2: Zuordnung der sechs Unterformen sogenannter kultureller ÖSD zu den Werttypen von Natur. (Erläuterungen im Text. * Zuordnung ergibt sich aus den darüberstehenden Zuordnungen. ** Zur Erklärung dieser Zuordnung siehe Kapitel 2.4: Doppelcharakter der Kategorie „Erholung und Tourismus“.)

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will get from purchasing.“34 Das Cambridge Dictionary definiert „benefits“ als „a helpful or good effect, or something intended to help“, das Oxford Dictionary als „an advantage or profit gained from something.“35 Was den Begriff der „services“ angeht, ergibt sich die Zuordnung zum ethischen Subjektivismus aus dem inhärenten Bezug dieses Begriffs auf den Begriff der „benefits“, aus der „idea which is inherent in the concept of a service, namely that one economic unit performs some activity for the benefit of another.“36 Und diese Zuordnung ergibt sich auch aus dem instrumentellen Bezug von „services“ auf Nützlichkeit: „Any purchase of services by an economic agent B (whether an individual or organization) would, therefore, be the purchase from organization A of the right to use, generally for a specified period, a technical and human capacity owned or controlled by A in order to produce useful effects on agent B or on goods C owned by agent B or for which he or she is responsible.“37 Die Rede von „Dienstleistungen“ und „Vorteilen“ im Zusammenhang mit intrinsischen, nicht-instrumentellen Werten von Natur führt also zu einer Inkonsistenz, zu einer inneren Diskrepanz zwischen dem bezüglich des Wertespektrums inhaltlich umfassenden ÖSD-Ansatz und der nicht umfassenden Terminologie des ÖSD-Ansatzes. Außerdem begünstigt diese Terminologie eine Fehlinterpretation wichtiger objektiver Werte von Natur als subjektive Werte. Aus ähnlichen Gründen kritisieren Richard Gunton et al.,38 dass Vertreter des ÖSD-Ansatzes „[are] even attempting to subjugate intrinsic value under the category of services“, und schlussfolgern: „By reducing a broad range of human motives to the category of services, the ESF reveals the influence of the rationalchoice paradigm of microeconomics […] and fails to do justice to the reality of human attitudes towards places and their conservation.“ Entsprechend kritisiert Simon James:39 „When a particular place has value because it is integral to someone’s life, because, say, it furnishes him or her with a sense of place, the cultural benefit provided cannot be satisfactorily conceived in terms of means and ends – in 34 http://www.businessdictionary.com/definition/benefit.html (05.12.2017). 35 http://dictionary.cambridge.org/de/worterbuch/englisch/benefit (05.12.2017); https://en.oxforddictionaries.com/definition/benefit (05.12.2017). 36 Hill 1977: 318, Hervorhebung T. K. 37 Gadrey 2000: 382 f., im Original vollständig kursiv. 38 Gunton et al. 2017: 249 bzw. 251. 39 James 2015: 345.

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Kritikpunkt 1: Terminologische Engführung

terms, that is, of the instrumentalist conceptual scheme indicated by talk of cultural services.“ Entsprechend gelangen Uta Eser et al.40 zu dem Schluss: „In admiring, contemplating or studying nature, people maintain subjective relations with particular landscapes, ecosystems or species that cannot adequately be addressed in terms of services.“ Und damit besteht die Gefahr, dass die objektiven Werte von Natur entweder ganz unberücksichtigt bleiben oder zumindest nicht angemessenen erfasst werden, weil die angewandten Methoden ausschließlich für subjektive Werte geeignet sind: „[I]ntangible values of nature [like cultural heritage and identity] belong to the cognitive and emotional realm of human beings and as such they are hardly quantifiable in terms of preference satisfaction and willingness to pay“; „any intrinsic form of value that may be attached to nature remains excluded from cost-benefit analysis.“41 Um die unangemessene terminologische Engführung des ÖSDAnsatzes auf einen ethischen Subjektivismus zu beseitigen, schlage ich vor, mit Blick auf die sogenannten kulturellen ÖSD statt von Dienstleistungen (services) und Vorteilen (benefits) von Werten (values) im attributiven Sinne zu sprechen (siehe Kapitel 8.3).

40 Eser et al. 2014: 155. 41 Beide Zitate aus Wegner/Pascual 2011: 493 bzw. 495; vgl. UK NEA-FO 2014a: 56.

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4. Kritikpunkt 2: Falsche Gegenstandsbestimmung

Mein zweiter Kritikpunkt am Konzept der kulturellen ÖSD ist grundlegender als der erste. Er betrifft nicht ‚nur‘ die terminologische Fassung der Wertschätzung des Untersuchungsgegenstandes, sondern die Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes selbst. Diese Kritik lässt sich thesenförmig so zusammenfassen: Der Gegenstand der intrinsischen Werte von Natur, die im ÖSD-Ansatz unter den Begriff der kulturellen ÖSD gefasst werden, sind nicht Ökosysteme im Sinne der naturwissenschaftlichen Definition, die im ÖSD-Ansatz durchweg zugrunde gelegt wird.1 Die intrinsischen Werte von Natur beziehen sich vielmehr auf Gegenstände, die von Ökosystemen kategorial verschieden sind: nämlich auf lebensweltliche2 ästhetische,3 mit symbolischen Bedeutungen assoziierte Repräsentationen der physischen Umwelt. Insbesondere beziehen sie sich auf Wahrnehmungen von Ausschnitten der Erdoberfläche als Landschaft oder Wildnis im lebensweltlichen Sinn dieser Wörter. Anders formuliert: Wenn es um intrinsische Werte von Natur geht, dann wird Natur nicht als Ökosystem wahrgenommen, sondern als ästhetisch-symbolischer Gegenstand. Deshalb ist es falsch, von kulturellen Ökosystem-Dienstleistungen zu sprechen. Diesen zweiten Kritikpunkt entwickle ich im Folgenden, indem ich für fünf Typen von Naturphänomenen, die in unserer Kultur mit vielfältigen intrinsischen Werten verbunden sind – für unbelebte Naturphänomene (4.1), einzelne Lebewesen (4.2), Landschaftsbestandteile (4.3), Kulturlandschaften (4.4) sowie Wildnis (4.5) – verdeutliche, um was für eine Art von Gegenstand es sich jeweils handelt. Dabei stütze ich mich auf Alltagserfahrungen, Umfrage1 2 3

„An ecosystem is a dynamic complex of plant, animal, and microorganism com­ munities and the nonliving environment interacting as a functional unit.“ (MEA 2005c: V) Siehe zu dieser Definition Kapitel 2.1, S. 24. Zu meiner Verwendungsweise von „lebensweltlich“ siehe Fußnote 13 auf S. 25. Zu meiner Verwendungsweise von „ästhetisch“ siehe Fußnote 9 auf S. 16.

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ergebnisse, belletristische Literatur sowie nicht-naturwissenschaftliche Fachliteratur. Am ausführlichsten werde ich auf Landschaft und Wildnis eingehen, weil für diese beiden Naturphänomene in bestimmten wissenschaftlichen Disziplinen die falsche Auffassung weit verbreitet ist, es handele sich ausschließlich oder zumindest primär um naturwissenschaftliche Gegenstände. Im Anschluss an ein Fazit aus diesen Analysen (4.6) gehe ich auf vier potenzielle Einwände gegen meinen zweiten Kritikpunkt ein (4.7).

4.1 Unbelebte Naturphänomene Zu den Naturphänomenen, die für Menschen intrinsische Werte haben, gehören auch unbelebte Naturphänomene. Damit meine ich Naturphänomene, bei deren Wahrnehmung unbelebte Bestandteile bei Weitem im Vordergrund stehen, auch wenn es belebte Bestandteile geben mag. Ich meine also felsige und vereiste Berggipfel, Gletscher, Felsschluchten, Wasserfälle, Meere (auf und über die wir schauen), Wüsten, Wolken usw. Es mag abwegig erscheinen, in einer Analyse des ÖSD-Ansatzes auf solche abiotischen Naturphänomene einzugehen, da Ökosysteme ja definitionsgemäß immer auch aus Lebewesen bestehen. Ich tue es trotzdem, erstens, weil es tatsächlich Fachpublikationen gibt, in denen solche Naturphänomene als Beispiele für kulturelle ÖSD benannt werden, z. B. The Giant’s Causeway in Nordirland und die Felsenformation Cow & Calf in West Yorkshire4 oder Uluru Ayers Rock in Australia,5 und zweitens, weil es im Rahmen des einflussreichen Prozesses zur Formulierung einer Common International Classification of Ecosystem Services (CICES) als eine zu diskutierende definitorische Schlüsselfrage angesehen worden ist, „[w]hether ecosystem services are only those ecosystem service outputs that are dependent (to some extent) on living processes or whether they include pure abiotic outputs (e. g. wind and hydro power, salt, physical landscapes).“6 Ich gehe exemplarisch auf Gebirge und Meere ein.

4 5 6

Church et al. 2011: 651 bzw. 657 f. Bednarek/Bahr 2010. Haines-Young/Potschin 2014: 1.

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Mit Gebirgen sind, insbesondere seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, z. B. Gefühle von Erhabenheit oder auch Ehrfurcht verbunden, die in unserer Kultur wesentliche intrinsische anthropozentrische oder auch theozentrische Werte von Natur darstellen.7 Wie auch immer diese Gefühle in konkurrierenden Theorien des Erhabenen gedeutet werden – ob z. B. religiös als Erfahrung einer unendlich komplexen göttlichen Ordnung, die jegliche menschliche Ordnungen in inkommensurabler Weise überschreitet (so z. B. Shaftesbury und Herder), oder säkular als Verweis auf das übersinnliche Vernunftvermögen des Menschen (so z. B. Kant) –, als entscheidende Grundlage solcher Gefühle wird durchgängig angesehen, dass Gebirgsformationen eine für die endliche menschliche Sinnlichkeit unerfassbare Größe oder Differenziertheit aufweisen.8 Entscheidend sind also ästhetische Eigenschaften, und die Gebirge sind ästhetisch-symbolische Gegenstände; sie werden nicht als Ökosystem wahrgenommen, es geht noch nicht einmal um ökologische Eigenschaften. Entsprechend ist die dramatische Veränderung der Beurteilung von Gebirgen wie der Alpen von einem ‚Ort des Schreckens‘ zu einem ‚Ort der Sehnsucht‘, die sich insbesondere im 18. Jahrhundert vollzogen hat, nicht auf Veränderungen ökologischer Eigenschaften zurückzuführen (die es kaum gab), sondern auf grundlegende Veränderungen in den kulturellen Deutungsmustern von Gebirgen.9 Auch die Wahrnehmung dessen, was umgangssprachlich als Meer bezeichnet wird, ist unstrittig mit zahlreichen intrinsischen Werten verbunden. Was für eine Art von Gegenstand „Meer“ dabei ist, lässt sich daran ablesen, was Menschen spontan mit dem Wort „Meer“ assoziieren. Als typische Antworten haben z. B. Kira Gee und Benjamin Burkhard10 gefunden: „‚pure sea, recuperation, nature, fresh breeze, pure air, influences the soul and physical health, sense of well-being, away from hectic life and a sense of 7 Simmel [1911] 2001; Weiss 1934; Thorpe 1935; Nicolson [1959] 1997; Oppen­ heim 1974; Woźniakowski 1987; Groh/Groh 1989; Scaramellini 1996; Zum­bühl 2009; Haß et al. 2012: 118-122; Brady 2013; Goldstein 2013; EDA 2017. 8 Zu konkurrierenden Theorien der Erhabenheit von Gebirgen und anderen Na­ turphänomenen siehe, ich benenne nur Sekundärliteratur, Thorpe 1935; Tuveson 1951; Nicolson [1959] 1997; 1973; Monk 1960; Heininger 2001; Ryan 2001; Zuckert 2003; Strube 2005; Hoffmann 2006; Kirchhoff/Trepl 2009a: 45-51; Stückelberger 2010; Brady 2013. 9 Vgl. die auf dieser Seite in Fußnote 7 genannte Literatur. 10 Gee/Burkhard 2010: 353.

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being confined.‘ ‚The sea is life. It is shipping, boats and infinity. It is creation, and unpredictable, but also a calming sense of comfort.‘“ Als Resultat der statistischen Analyse der genannten Assoziationen halten Gee und Burkhard fest, dass die für „Meer“ konstitutiven Elemente in der Kategorie „physische Umwelt“ vor allem Wellen, Gezeiten, Strände, Inseln, Leuchttürme, Stürme und Meeresbrise sind, in der Kategorie „Umweltcharakter“ vor allem Weite und Tiefe sowie Unvorhersehbarkeit und Veränderlichkeit. Offensichtlich handelt es sich bei den genannten Eigenschaften nicht um ökologische Eigenschaften und bei den konstitutiven Elementen nicht um etwas, das von den Betrachtern des Meeres als Komponenten eines Ökosystems begriffen würde. Was umgangssprachlich als „Meer“ bezeichnet wird und intrinsischen Wert hat, ist kein Meeresökosystem, sondern der kategorial von einem Ökosystem unterschiedene lebensweltliche, ästhetisch-symbolische Gegenstand Meer. Er kann nicht durch ökologisch-evolutionäre Studien, sondern nur durch kulturwissenschaftliche Bedeutungsgeschichten etc. erschlossen werden,11 die auch verständlich machen, dass Meere und Küsten, die lange Zeit vor allem Gefühle der Angst und Abscheu erregten, für viele Menschen zu einem Sehnsuchtsort geworden sind.

4.2 Einzelne Lebewesen Auch die Wahrnehmung einzelner Lebewesen – nicht aller, aber doch vieler Arten – ist in unserer Kultur mit zahlreichen intrinsischen Werten verbunden. Als was für eine Art von Gegenstand Lebewesen dabei wahrgenommen werden, lässt sich daraus ableiten, worin diese intrinsischen Werte gründen und bestehen. Zu nennen sind vor allem einerseits bestimmte ästhetische Qualitäten wie die Farben und Flugbewegungen eines Schmetterlings oder der Gesang eines Vogels und andererseits kollektive kulturelle Symboliken: Schmetterlinge sind Sinnbild der menschlichen Seele und Symbol für Anmut und Liebe; Weiß-Störche symbolisieren Glück, Segen, Frühling und, seit einigen Jahrzehnten, auch naturnahe Landwirtschaft; Wölfe sind Symbol für gefürchtete oder aber geschätzte Wildnis; Edelweiß symbolisiert die Alpen und steht dabei sowohl 11 Siehe insb. Corbin [1988] 1994, zudem Grage 2000; Goldstein 2013: 104-112; Holbach/Reeken 2014.

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für eine heile Welt als auch für kühnen Wagemut usw. Einzelne Lebewesen sind zudem psychologische Projektionsobjekte, wobei Anthropomorphisierungen, in denen die Erfahrung der eigenen Gefühlshaftigkeit und Intentionalität auf Tiere und Pflanzen projiziert werden, eine wichtige Rolle spielen – insbesondere, aber nicht nur für Kinder.12 In allen diesen Fällen werden einzelne Lebewesen nicht als naturwissenschaftliche Gegenstände wahrgenommen: Sie werden nicht als Organismen – das heißt als Systeme aus funktional zusammenwirkenden Organen, die sich wechselseitig hervorbringen und erhalten und durch Stoffwechsel mit ihrer Umwelt reproduzieren13 – wahrgenommen, sondern als Lebewesen im alltagssprachlichen Sinne, die sich insbesondere durch Selbsttätigkeit auszeichnen. Und in allen diesen Fällen werden Lebewesen auch nicht als funktio­ nale Bestandteile von Ökosystemen wahrgenommen, sondern sie sind Bestandteile subjektiver ästhetisch-symbolischer ‚Bilderwelten‘. Fraglos können einzelne Lebewesen auch anders wahrgenommen werden, z. B. ein Vogel alltagsweltlich vom Gärtner als Fressfeind von Schädlingen bzw. naturwissenschaftlich vom Ökologen als Prädator von Insekten und Regulator von deren Populationsgröße; aber dann geht es nicht um die intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Lebewesen, sondern um das, was unter die Konzepte der produktiven und regulativen ÖSD, die extrinsische, instrumentelle Werte begründen, zu fassen ist.

4.3 Landschaftsbestandteile – das Beispiel Wald Mit „Landschaftsbestandteilen“ meine ich Naturphänomene wie Wald und Gehölz, Acker und Wiese, Fluss und See. Alle diese Naturphänomene können naturwissenschaftlich als Ökosysteme konzeptualisiert werden, als Waldökosystem, Agrarökosystem, Flussökosystem und Seeökosystem. Wenn es um die intrinsischen Werte dieser Naturphänomene geht, so sind diese Naturphänomene jedoch nicht naturwissenschaftliche Gegenstände, insbesondere keine Öko-

12 Gebhard 2017: 265 f. 13 Zum naturwissenschaftlichen Begriff des ökologischen Organismus siehe Cheung 2000; Kirchhoff 2002; Toepfer 2011b; Trepl 2005: 443-463.

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systeme, sondern ästhetisch-symbolische Gegenstände. Das möchte ich exemplarisch anhand des Landschaftsbestandteils Wald darlegen. Beginnen wir mit einem selektiven Blick in die (europäische) Bedeutungsgeschichte von Wald:14 Im Mittelalter hatte Wald insbesondere die Bedeutung einer Gegenwelt zur geordneten Welt der Burg, der Stadt, des Dorfes. Als solche hatte er in moralischer Hinsicht vor allem negative, aber auch einige positive Bedeutungen: Wald war ein Zufluchtsort für Verfolgte und Geächtete, die sich zuweilen – wie Robin Hood – einer ungerechten Obrigkeit entgegenstellen; Wald war, analog zur Wüste arider Gebiete, der Ort, an den sich Eremiten aus einer verweltlichten Kirche bzw. vor den Versuchungen des weltlichen Lebens zurückziehen, um ihr Leben in Stille und Zurückgezogenheit ganz Gott zu widmen; Wald war der Ort der Bewährung und Reifung von Helden im Kampf gegen das Böse. In klassischen Märchen ist der Wald ein zugleich verängstigender und zauberhafter Raum des Wandels, in den sich die Märchenheldin oder der Märchenheld – freiwillig oder unfreiwillig – begibt und dort im Laufe der Handlung durch Prüfungen und Gefahren eine innere Wandlung oder Reifung erfährt; wobei der Wald für das Ungewisse steht, das als bedrohlich und zugleich verheißungsvoll empfunden wird. In der Romantik wird Wald mit Gefühlen wie Melancholie verbunden und zum Rückzugsort in einer sich wandelnden Gesellschaft, zu einem Symbol für Dauerhaftigkeit, zu einem Schutzraum, in dem alte Märchen, Sagen und Werte noch lebendig sind – was in dem Lied „Waldeinsamkeit“ in Ludwig Tiecks Märchen „Der blonde Eckbert“ zu Ausdruck kommt. Der romantische Wald ist aber auch der Ort, an dem klare Unterscheidungen verwischt sind: mit seinem „Zwielicht“ – so auch der Titel eines Gedichtes Joseph von Eichendorffs – ist er Ort des Übergangs zwischen Hell und Dunkel, zwischen Wachsein und Traum, ein Ort, an dem Unbewusstes zutage tritt und auf den Wald projiziert wird, ein Ort, an dem das Ich eine Entgrenzung erfahren kann. Im politischen Konservatismus wird der Wald als politisches Symbol gegen die demokratische moderne Gesellschaft gestellt, im deutschen Patriotismus und Nationalismus sogenannter „Deutscher Wald“ – vor14 Vgl. zum Folgenden Stauffer 1959; Le Goff 1990; Linse 1990; Harrison 1992; Schama 1996: 31-265; Apel, F. 1998; Termeer 2005; 2012; Suda/Schaffner 2006; 2007; Schwarzer 2007; Jung-Kaiser 2008; Thomm/Landschaftsverband Westfa­ len-Lippe 2009; Urmersbacher 2009; Breymayer/Ulrich 2011; Graf 2016; Kirch­ hoff 2017b.

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nehmlich in Abgrenzung zu Frankreich – zum Symbol nationaler Identität stilisiert usw. Diese Bedeutungsgeschichte von Wald spiegelt sich wieder in den heutigen Waldwahrnehmungen, über die in Befragungen berichtet wird. Im Vordergrund dieser Wahrnehmungen stehen zumeist Emotionen und symbolische Bedeutungen.15 Das gedämpfte, aber nicht eintönige Licht im Wald löst ein Gefühl von Geborgenheit aus, Wald ist ein Symbol für Ruhe, Freiheit sowie Schönheit, wird mit Lebendigkeit, Entspannung, Entlastung und Zufriedenheit, aber auch mit Gefühlen wie Unheimlichkeit und Bedrohlichkeit assoziiert.16 Eine Metaanalyse von 45 Befragungen zur Waldwahrnehmung in verschiedenen europäischen Ländern kam zu dem Ergebnis:17 „Forests are first and foremost perceived through impressions and feelings. […] Perceptions are dominated by ‚fresh air‘, ‚green‘, ‚silence‘, ‚quietness‘, ‚happiness‘, ‚trees‘ and ‚wood‘, or the recreational function of forests. Physical items such as plants, animals and wood are generally mentioned prominently by only few people. […] Negative aspects regarding forests deal with ‚threat‘, ‚darkness‘, ‚danger‘ or ‚forest dieback‘.“ Aus der Bedeutungsgeschichte von Wald und den Befragungen zur Waldwahrnehmung lässt sich schlussfolgern, dass Wald – wenn es um seine intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte geht – nicht als Ökosystem, nicht als Kausalsystem aus interagierenden biotischen und abiotischen Komponenten wahrgenommen wird, dass Wald dann eine ästhetische Repräsentation der Umwelt ist, die mit kulturell geprägten symbolischen Bedeutungen verbunden ist. Dieser Wald ist „Sehnsuchtslandschaft und Kollektivsymbol“.18 Damit ist nicht bestritten, dass Wald lebensweltlich auch in anderer Weise wahrgenommen wird: Wald kann lebensweltlich auch ein ‚Produzent‘ von Bau- und Brennholz, eine Kohlenstoffsenke usw. sein. Und zumindest seit es die Ökologiebewegung gibt, wird Wald lebensweltlich auch in ‚ökologischer‘ Perspektive wahrgenommen. Aber solche Betrachtungsweisen stehen nicht im Vordergrund, wenn es um die intrinsischen Werte von Wald geht. Und selbst in der Debatte der 1980er Jahre um das „Waldsterben“ ging es in weiten Teilen 15 Braun 2000; Rametsteiner/Kraxner 2003; Suda/Schaffner 2006; Kühne et al. 2014; Arzberger et al. 2015. 16 BUWAL 1999: 108 f.; Schwarzer 2007: 89, 93, 99-107; Gebhard 2009: 113. 17 Rametsteiner/Kraxner 2003: 11. 18 Thomm 2009: 9.

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weniger um Wald als ökologisches System, als vielmehr um Wald als Symbol einer Kritik an bestimmten industriellen Praktiken.19

4.4 Kulturlandschaft Was wir umgangssprachlich „Kulturlandschaft“ oder auch einfach „Landschaft“ nennen und worüber wir z. B. sagen können, wir hätten einen Spaziergang darin gemacht, wir seien mit dem Rad hindurchgefahren, wir seien von ihr angetan oder sie sei intakt – eine in dieser Weise erlebte Landschaft hat in unserer Kultur unstrittig vielfältige intrinsische Werte. Äußerst unterschiedlich sind jedoch seit Jahrzehnten die wissenschaftlichen Ansichten darüber, was für eine Art von Gegenstand eine Landschaft ist. Und auch in der Frage, was eine Kulturlandschaft ist, besteht keine Einigkeit. Was ist eine Landschaft – Bild oder Kausalsystem? Die Hauptkontroverse um den Landschaftsbegriff lässt sich durch folgende Alternativen abstecken: Sind Landschaften mentale ästhetische und zugleich der Symbolwelt angehörige Gebilde, die nur in der Vorstellung eines Betrachters existieren? Oder sind Landschaften extramentale kausale Ganzheiten, Kausalsysteme, die unabhängig von einem Betrachter existieren – und als solche auch ästhetisch wahrgenommen und mit symbolischen Bedeutungen verbunden werden können?20 Nach der ersten Auffassung, die man konstruktivistisch oder subjektivistisch nennen kann, sind Landschaften subjektiv-individuelle ästhetische Repräsentationen von Ausschnitten der Erdoberfläche, die auf intersubjektiven, kulturell geprägten Wahrnehmungsmustern basieren und die mit kulturell geprägten symbolischen Bedeutungen assoziiert sind, also kollektive Symbole darstellen. In diesem

19 Vgl. Bemmann 2012. 20 Die folgende Charakterisierung dieser beiden Landschaftsauffassungen basiert wesentlich auf Kirchhoff/Trepl 2009a: 25-29; Kirchhoff 2011a: 71-80; Kirchhoff et al. 2013: 38, 41 f. Vgl. Porteous 1996: 48-50; Wiens 2005: 366; Wylie 2007: 1-11; Trepl 2012c: 18-22.

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Sinne spricht der Philosoph Rainer Piepmeier21 von Landschaft als „ästhetische Kategorie“ und der Geograph Denis Cosgrove22 von Landschaft als „a way of seeing“ und „a cultural image, a pictorial way of representing, structuring or symbolising surroundings.“ Die Soziologen Thomas Greider und Lorrain Garkovich23 charakterisieren Landschaften als „symbolic environments created by human acts of conferring meaning to nature and the environment, of giving the environment definition and form from a particular angle of vision and through a special filter of values and beliefs.“ Und der Kunsthistoriker Simon Schama24 konstatiert: „Landscapes are culture before they are nature; constructs of the imagination projected onto wood and water and rock“. Methodisch folgt daraus, dass es bei Landschaftsanalysen weniger um messbare Eigenschaften der Erdoberfläche als vielmehr um ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen geht, die insbesondere Inhalt einer Ikonografie und Hermeneutik von Landschaften sind.25 Mit dieser konstruktivistisch-subjektivistischen Landschaftsauffassung ist nicht bestritten, dass es eine physische Basis der Landschaftswahrnehmung gibt. Aber es wird die Ansicht formuliert, dass Landschaft nur als Inhalt einer Wahrnehmung existiert. Das entscheidende Argument dabei ist die Hypothese, dass die Einheit, die In-dividualität einer Landschaft vom Betrachter in seiner Wahrnehmung hergestellt wird: „Ein Stück Boden mit dem, was darauf ist, als Landschaft ansehen, heißt einen Ausschnitt aus der Natur nun seinerseits als Einheit betrachten […]. Die Natur, die […] nichts von Individualität weiß, wird durch den teilenden und das Geteilte zu Sondereinheiten bildenden Blick des Menschen zu der jeweiligen Individualität ‚Landschaft‘ umgebaut.“26 Dabei ist die Einheit der Landschaft eine ästhetische Einheit, die sich von anderen Formen der Wahrnehmung von Teilen der Erdoberfläche als Einheit grundlegend unterscheidet: „Landschaft, sagen wir, entsteht, indem ein auf dem Erdboden ausgebreitetes Nebeneinander natürlicher Erscheinungen zu einer besonderen Art von Einheit zusammengefaßt wird, einer anderen als zu der der kausal denkende Gelehrte, 21 22 23 24 25

Piepmeier 1980a. Cosgrove 1985: 46, im Original kursiv, bzw. Daniels/Cosgrove 1988: 1. Greider/Garkovich 1994: 1. Schama 1995: 61. Novak [1980] 2007; Cosgrove/Daniels 1988; Hoelscher 2009 bzw. Clingerman et al. 2014; Drenthen 2017. 26 Simmel [1913] 1957: 142.

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der religiös empfindende Naturanbeter, der teleologisch gerichtete Ackerbauer oder Stratege eben dieses Blickfeld umgreift.“27 Konstitutiv für Landschaften ist, dass eine von der Natur allein oder von Natur und Menschenhand geformte Gegend von einem empfindenden Betrachter ästhetisch als harmonische, individuelle konkrete Ganzheit gesehen wird, die ihn umgibt.28 Diese Einheit bzw. Ganzheitlichkeit einer Landschaft ist vergleichbar mit der Einheit bzw. Ganzheitlichkeit einer Melodie: Melodie und Landschaft existieren beide nur als mentale Gebilde, in denen Einzelphänomene – hier verschiedene Töne, dort gestalthafte Phänomene wie Wald, Bach, Acker und Wiese – als bildhaft-ästhetische und als sinnhafte Ganzheit wahrgenommen werden. Eine Gegend als Landschaft sehen zu können, ist dabei keine naturgegebene Fähigkeit des Menschen, sondern ist eine im Laufe der Kulturgeschichte in manchen Kulturen – in Europa um 1500 – entstandene Sehweise.29 Nach der zweiten Auffassung, die man realistisch oder objektivistisch nennen kann, sind Landschaften Bestandteile der extramentalen Welt, die objektiv, unabhängig von menschlichen Wahrnehmungen existieren; „landscape belongs to an external, objectively real world. Landscapes […] are really out there: solid, physical and palpable entities, and not just figments of the imagination.“30 Genauer bestimmt werden Landschaften in dieser realistischen Auffassung als Kausalsysteme aus interagierenden biotischen und abiotischen Komponenten, also analog zu Ökosystemen, aber mit dem Unterschied, dass Landschaften als Komplexe oder Systeme aus mehreren Ökosystemen begriffen werden. So definieren etwa die nordamerikanischen Landschaftsökologen Richard Forman und Michel Godron31 „landscape as a heterogeneous land area composed of a cluster of interacting ecosystems that is repeated in similar form throughout.“ Nach dem deutschen Geographen Hartmut

27 Ebd.: 148. 28 Kirchhoff/Trepl 2009a: 21. 29 Zu deren Entstehung und kulturellen Voraussetzungen siehe insb. Simmel [1913] 1957; Friedländer 1947; Gombrich [1963] 1985; Ritter, J. 1963; Piepmeier 1980b; Boehm 1985; Cosgrove 1985; Bätschmann 1989; Dinnebier 1996; Gephart 1998: 215-234; Trepl 2012c: 37-63; zusammenfassend Kirchhoff/Trepl 2009a: 2729; Kirchhoff 2011a: 71-78. 30 Wylie 2007: 6, der hier die Position anderer Autorinnen und Autoren charak­ terisiert. 31 Forman/Godron 1986: 11, „landscape“ im Original hervorgehoben.

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Leser32 ist eine „Landschaft“ der „räumliche Repräsentant“ eines „Landschaftsökosystems“, das ist „ein hochkomplexes Wirkungsgefüge von physiogenen, biogenen und anthropogenen Faktoren, die mit direkten und indirekten Beziehungen untereinander einen übergeordneten Funktionszusammenhang bilden“. Die Einheit einer Landschaft wird dabei, wie die eines einzelnen Ökosystems, als kausale oder funktionale Einheit begriffen, die durch die Wechselwirkungen zwischen ihren Komponenten selbst hervorgebracht und erhalten wird. Diese funktionale Einheit zu entdecken und zu analysieren, darin sieht man eine zentrale Aufgabe von Disziplinen wie der Landschaftsökologie.33 Mit dieser realistisch-objektivistischen Landschaftsauffassung ist nicht bestritten, dass Landschaften auch als mentale Vorstellungsinhalte existieren und als solche ästhetische Gegenstände mit symbolischen Bedeutungen sind. Man nimmt nämlich an, dass die objektiv-funktionalen Landschaftseinheiten eine jeweils spezifische ästhetische Erscheinungsform besitzen (weil sie aus je spezifischen Komponenten bestehen, die in je spezifischen Strukturen angeordnet sind) und deshalb vom Menschen auch subjektiv-ästhetisch erkannt werden können. Aus der Perspektive der konstruktivistisch-subjektivistischen Landschaftsauffassung hingegen beruhen realistisch-objektivisti­ sche Landschaftsauffassungen darauf, dass der Inhalt ästhetischsymbolischer Landschaftswahrnehmung verdinglicht wird. „In human geography the interpretation of landscape and culture has a tendency to reify landscape as an object of empiricist investigation“.34 Diese Verdinglichung fällt nicht ohne weiteres auf, weil die kultu­ rellen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die der subjektiv-äs­ thetischen Konstruktion von Landschaften zugrunde liegen, zumeist so weitgehend internalisiert sind, dass sie unbewusst wirken, sodass das Ergebnis der Konstruktion als etwas unmittelbar, als etwas von Natur aus Gegebenes erscheint, obwohl es sich um eine ‚vermittelte Unmittelbarkeit‘ bzw. um eine ‚zweite Natur‘35 des Menschen han­ delt. „Reification is the apprehension of human phenomena as if they were things, […] the apprehension of the products of human 32 Leser 1997: 25. 33 Zu diesen beiden und drei weiteren Varianten des objektivistischen Land­schafts­ begriffs siehe Kirchhoff et al. 2013. 34 Cosgrove 1985: 46, im Original kursiv, bzw. Daniels/Cosgrove 1988: 1. 35 Rath 1996; Testa 2008.

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[perceptual] activity as if they were something other than human products – such as facts of nature […]. Reification implies that man is capable of forgetting his own authorship of the human world. […] The reified world is […] experienced by man as a strange facticity, an opus alienum […] rather than as an opus proprium“.36 Der subjektivistische Landschaftsbegriff ist innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften der bei weitem vorherrschende.37 Auch umgangssprachlich wird das Wort „Landschaft“ vor allem in diesem Sinn verwendet.38 Der objektivistische Landschaftsbegriff ist nur in einigen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Landschaftsökologie und in bestimmten Richtungen der Geographie vorherrschend,39 aber auch in Praxisfeldern wie Umweltpolitik, Naturschutz und Nachhaltigkeitsmanagement weit verbreitet. Er wird in einer unübersehbaren Anzahl geographischer, landschaftsökologischer, sozial-ökologischer usw. Studien verwendet. Was ist eine Kulturlandschaft? Auch bezüglich der Definition des Kulturlandschaftsbegriffs besteht keine Einigkeit. Die Hauptkontroverse lässt sich durch die folgenden beiden Definitionen abstecken:40 (1) Eine Kulturlandschaft ist jede Gegend, deren Erscheinungsbild deutlich erkennbar durch irgendeine beliebige menschliche Landnutzung geprägt ist. (2) Es handelt sich um eine Kulturlandschaft, wenn zusätzlich zum Definiens der ersten Definition Folgendes erfüllt ist: Das Erscheinungsbild der Gegend ist das Ergebnis eines historischen Prozesses, in dem die Menschen eine für diese Gegend charakteristische Vielfalt 36 Berger/Luckmann [1966] 1991: 106. 37 Als Vertreter genannt seien beispielhaft Simmel [1913] 1957; Gombrich [1963] 1985; Ritter, J. 1963; Piepmeier 1980a; 1980b; Eisel 1982; 1987; Cosgrove 1984; 1985; 1998; 2000; Daniels/Cosgrove 1988; Seel 1991; Greider/Garkovich 1994; Schama 1995; Dinnebier 1996; Gephart 1998; Kühne 2008; 2009; Kirchhoff/Trepl 2009a; Kirchhoff 2011a; Kirchhoff et al. 2013; Drexler 2010; Siegmund 2011; Vicenzotti 2011; Trepl 2012c; Bahr 2014: insb. 19 sowie alle/viele Beiträge in den Anthologien Smuda 1986; Cosgrove/Daniels 1988; Kirchhoff/Trepl 2009b. 38 Siehe insb. Hard 1970a: 28-35. 39 Aber auch in der Landschaftsökologie (siehe Kirchhoff et al. 2013) und in der Geographie (siehe insb. Hard 1970a; 1970b; 1982; 1983; Eisel 1980; 1987; 1992). 40 Vgl. zum Folgenden vor allem Jones 2003, zudem Rowntree 1996; Jones/Daug­ stad 1997; Cosgrove 2000; Heiland 2006: 48-51, 56-58; Kirchhoff et al. 2012a: 53-55.

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von Landnutzungsformen entwickelt haben, die an die natürlichen Bedingungen der Gegend angepasst sind, wobei diese Bedingungen nicht durch industrielle Technik beseitigt, sondern modifizierend genutzt wurden. Das heißt, es darf sich, anders als in der ersten Definition, nicht um beliebige Landnutzungen handeln. Die erste Definition ist eine deskriptive Definition, die Kulturlandschaft nur von Naturlandschaft abgrenzt, wobei als quantitatives Abgrenzungskriterium das Ausmaß der Veränderung durch den Menschen dient.41 Die zweite Definition ist eine engere, normative Definition, die Kulturlandschaft nicht nur von Naturlandschaft, sondern auch von Industrielandschaft42 im Sinne einer durch industrielle Land- und Forstwirtschaft geprägten Gegend abgrenzt. Dabei dient als qualitatives Abgrenzungskriterium zwischen den drei Landschaftstypen die Art und Weise der Landnutzung. Den normativen Bezugspunkt bildet zumeist das Ideal kulturlandschaftlicher Eigenart; es sollen historisch gewachsene, regionstypische Kulturlandschaften mit ihrer charakteristischen Vielfalt spezifischer Landnutzungsformen geschützt werden43 – geschützt einerseits vor ihrer Zerstörung durch Industrialisierung, Urbanisierung und Globalisierung, die zu einer monotonen, überall auf der Welt ähnlichen ‚Industrielandschaft‘ führt, andererseits vor ihrer Zerstörung durch Nutzungsaufgabe, die zu einer Naturlandschaft bzw. Wildnis führt. Das Ideal kulturlandschaftlicher Eigenart Im Folgenden soll das Ideal kulturlandschaftlicher Eigenart genauer beschrieben werden, um zu klären, was für eine Art von Gegenstand eine Kulturlandschaft ist, die diesem Ideal mehr oder weniger gut entspricht. Zudem ist die Kenntnis dieses Ideals eine wichtige Grundlage, um beurteilen zu können, in welchem Maße Ökosystemprozesse zu den intrinsischen Werten von Kulturlandschaften 41 Dieses quantitative Kriterium ist allerdings immer auch ein qualitatives, weil immer entschieden werden muss, wie relevant welche Veränderungen sein sol­ len (Festlegung der Gewichtungsfaktoren für alle Veränderungen). 42 Diesen Begriff übernehme ich von Sieferle 1995. 43 Siehe z. B. BNatSchG 1976: § 1 (1); BNatSchG 2009: § 1 (1 & 4); Department of the Environment/Department of National Heritage 1994; Bayerisches Landes­ amt für Umweltschutz (LfU) 1998; National Trust 2005. Vgl. Fischer-Hüftle 1997; Nohl 2000; 2010; Demuth 2000; Köhler/Preiss 2000; Kirchhoff 2014b; Schirpke et al. 2016: 78 f.

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beitragen (Kapitel 5.3) und welche Methoden erforderlich sind, um diese Werte zu erfassen (Kapitel 6.1, S. 121-127). Das Ideal kulturlandschaftlicher Eigenart ist um 1800 entstanden. Ihm liegt eine Kulturtheorie und Geschichtsphilosophie zugrunde, die sich gegen die Theorie der Aufklärung richtet, der zufolge es eine universelle, zeitlose menschliche Vernunft gibt, die sich im Laufe der Geschichte durchsetzen wird und soll, sodass sich überall auf der Welt dieselbe Zivilisation verbreitet. Eine solche aufklärungskritische Kulturtheorie und Geschichtsphilosophie ist in paradigmatischer Form von Johann Gottfried Herder formuliert worden.44 Gemäß Herder besteht das Ziel der Menschheitsgeschichte darin, dass sich überall auf der Welt besondere Formen von Kultur ausbilden, die jeweils eine charakteristische, historisch entwickelte Vernunft, eine charakteristische Organisationsweise und ein charakteristisches Mensch-Natur-Verhältnis aufweisen; „zur Vollkommenheit der menschlichen Natur gehört, daß sie unter jedem Himmel, nach jeder Zeit und Lebensweise sich neu organisire und gestalte“.45 Die Kulturen bzw. Nationen sollen sich „nach Ort, Zeit und ihrem innern Charakter“46 modifizieren, jede Kultur bzw. Nation soll Eigenart ausbilden. Dabei begreift Herder alle Formen von kultureller Eigenart als gleichberechtigt und das heißt als nur an sich selbst zu messen: Jede Kultur bzw. Nation – wie auch jeder einzelne Mensch – „trägt das Ebenmaas ihrer Vollkommenheit, unvergleichbar mit andern, in sich.“47 Eigenart meint dabei nicht, dass sich eine Kultur auf irgendeine beliebige Weise von allen anderen Kulturen unterscheidet. Eigenart meint vielmehr, dass ein Volk48 seine Kultur so gestaltet hat, wie es ihren besonderen Umständen angemessen ist, wobei – das ist entscheidend – diese besonderen Umstände in zwei Entwicklungsprinzipien bestehen, die in einem organischen Wechselwirkungsprozess ineinanderwirken:

44 Die nachfolgende Darstellung stützt sich insb. auf Eisel 1992; Kirchhoff 2005; 2012d: 13-16; 2015b: 23 f. Ausführlicher zu Herders Theorien siehe z. B. Berlin 1976; 2000; Eisel 1980; Spencer 1996; Heinz 1997; Irmscher 1997. 45 Herder SW, XII: 8. 46 Herder SW, XIV: 227. 47 Ebd. 48 Mit Blick auf den späteren Rassismus ist hervorzuheben, dass Herder Völker nicht als biologische Einheiten begreift, sondern als sprachlich und kulturell geeinte Gemeinschaften und dass er Volkszugehörigkeit – entgegen verbreite­ ten Fehlinterpretationen – nicht rassistisch, sondern kulturalistisch konzipiert (Kirchhoff 2015b: 23; vgl. Löchte 2005: insb. 20, 120, 129, 135).

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im „Charakter“ oder „Genius eines Volks“ und in den je besonderen natürlichen Bedingungen desjenigen „Erdstrichs“, der dem Volk als „Wohnplatz“ dient. Kultur entwickelt sich dann und nur dann vernünftig, wenn ein Volk einfühlsam die besonderen Nutzungsmöglichkeiten erfasst, die ihm sein Wohnplatz aufgrund seiner besonderen natürlichen Bedingungen bietet, und wenn das Volk diese besonderen Nutzungsmöglichkeiten auf spezifische Weise rea­lisiert – so, wie es seinem spezifischen Charakter entspricht. Auf diese Weise löst sich das Volk von direkten Naturzwängen, ohne die besonderen natürlichen Gegebenheiten – Herder nennt sie „Klima“ – zu negieren. Das führt zu einer Kulturlandschaft mit einer vielfältig differenzierten Landnutzung, die an die natürlichen Bedingungen des Gebietes angepasst und deshalb dauerhaft nützlich ist. Zugleich formt das „Klima“ den Charakter des Volkes: Es formt den Körperbau, die Sinnlichkeit und „Empfindungsart“ und damit auch die „Denkart“ der Menschen. Und das Klima spiegelt sich in den Kulturtechniken eines Volkes und in seiner Organisationsweise wieder. Zugleich verändert das Volk das Klima seines Wohnplatzes, indem es diesen, den natürlichen Vorgaben entsprechend, zweckmäßig gestaltet. Das heißt: Im Prozess der Ausbildung von Kultur modifizieren und formen sich Natur und Menschen wechselseitig und bilden als Ergebnis ihrer gemeinsamen Geschichte eine einzigartige, ‚organische‘ Einheit von „Land und Leuten“49 – so hat es 1854 der konservative Volkskundler und Kulturkritiker Wilhelm Heinrich Riehl genannt. In heutiger Terminologie würde man wohl sagen, dass die gelingende koevolutionäre Entwicklung von Mensch und Natur zu einzigartigen nachhaltigen und resilienten sozial-ökologischen Systemen geführt hat. Das Ideal kulturlandschaftlicher Eigenart ist kein allgemeinmenschliches Ideal und erst recht keine ahistorische anthropologische Konstante, sondern ein kulturelles Ideal, das erst um 1800 entstanden ist. So wurde z. B. über die Lüneburger Heide in Reiseberichten lange Zeit ausschließlich negativ berichtet, bevor sie seit dem 18. und vor allem dann im 19. Jahrhundert als schöne Landschaft gepriesen wurde.50 Zudem handelt es sich nicht um ein Land49 Riehl 1854: IX, im Original hervorgehoben. 50 „Die ersten aus der Neuzeit stammenden Reisebeschreibungen der Lüneburger Heide nahmen diese keineswegs als schöne Natur wahr. Vielmehr haben sie zumeist äußerst Negatives über das Gebiet zu berichten. 1666 schrieb Königin Christina von Schweden in Bezug auf die Heide: ‚Nachdem ich glücklich die

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schaftsideal, das seit seiner Entstehung alle Menschen teilen, sondern um ein auf bestimmte Kulturen und wohl auch Bevölkerungsgruppen begrenztes Ideal. Es ist innerhalb dieser Kulturen kein universelles, sondern ein partikulares Landschaftsideal, das man als konservatives Landschaftsideal bezeichnen kann und von aufklärerischen, romantischen und nationalsozialistischen Landschaftsidealen unterscheiden muss.51 Das Ideal kulturlandschaftlicher Eigenart oder Einzigartigkeit – im Englischen spricht man von uniqueness und unique character – war und ist aber dennoch sehr einflussreich. Es bildet die Grundlage des Forschungsprogramms der klassischen länder- bzw. landschaftskundlichen Geographie,52 war in vielen euro­ päischen Kulturen eine wesentliche Grundlage für den um 1900 entstandenen Heimat- und Naturschutz53 und ist in Praxisfeldern wie Naturschutz, Landschaftsplanung und nachhaltige Entwicklung

Wüste durchquert habe, das übelriechende und wilde Deutschland […].‘ [Zitiert nach Gröll 1998: 133.] Im folgenden Jahrhundert wurde die Gleichsetzung der Heide mit einer arabischen Wüstenlandschaft mitten in Nordeuropa zu einem serienmäßigen Topos, so dass es nicht lange dauerte, bis man auch ohne weitere Ausführungen von der ‚verrufenen‘ bzw. ‚übel beschrienen Lüneburger Heide‘ zu sprechen begann. […] Ende des 18. Jahrhunderts begann man allmählich die Heide mit neuen Augen zu betrachten. Bemerkenswert ist, dass fast dieselben Landschaftsmerkmale, die in früheren Zeiten gebrandmarkt, nun als schöne Na­ tur perzipiert wurden. Die Leere, das Eintönige und das Nackte genossen jetzt eine ästhetische Umwertung, primär dadurch, dass man die Erfahrung der phy­ sischen Heidelandschaft mit innerlichen Regungen anreicherte. Es war die Zeit der Empfindsamkeit, die das Ansehen der Lüneburger Heide veredelte. Intel­ lektuelle Reisende, welche eine neuartige, subjektive Erfahrung der natürlichen Umwelt an den Tag legten, erlebten nun die Heide emotional und in besonders intensiver und dramatischer Weise. Folglich löste die dürre und einsame Heide Gefühle der Unendlichkeit, der Tiefe und des Sakralen bei ihren schwermütigen Beobachtern aus, die in ihr allerhand märchenhafte Zaubereien und Phantasien zu erkennen glaubten […]. Diese Poetisierung der Heide ging in das kollektive Bild ein und war durchaus einflussreich in den folgenden Jahrzehnten.“ (Zelin­ ger 2012; vgl. Brandes 2006; Brockhoff et al. 1998) 51 Zu diesen anderen Landschaftsidealen siehe Eisel 1982; Kirchhoff/Trepl 2009a; Siegmund 2009; 2011; Vicenzotti 2011; Trepl 2012c; Kirchhoff 2014b; 2015b. 52 Entscheidend waren die Schriften des deutschen Geographen Carl Ritter (1806; 1817/18; 1834), die in fast ganz Europa und auch in Nordamerika rezipiert worden sind. Siehe zu diesem Prozess Glacken 1967: insb. 191, 277, 537-543, 600; Glacken 1973; Eisel 1980; 1992; Martin 2005: insb. 107, 120-126, 141-145, 305; Kirchhoff 2013: 82 f.; Kirchhoff et al. 2012a: 53 f.; 2013: 41. 53 Siehe z. B. für Deutschland: Rudorff 1897; 1901; Bund Heimatschutz 1907, für England: United Kingdom Parliament 1907, für die USA: Marsh 1864. Vgl. hierzu Oberkrome 2004: insb. 38-42; Ott 2005; Piechocki 2007.

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bis heute sehr einflussreich geblieben.54 Diese große Wertschätzung von Besonderheit im Sinne von Eigenart findet ihren Ausdruck etwa im Bundesnaturschutzgesetz, das die Erhaltung der Eigenart von Natur und Landschaft fordert.55 Sie zeigt sich auch darin, dass die Fachliteratur zur Analyse von Kulturlandschaften sowie zur Landschaftsbildbewertung fast durchgängig der Eigenart der Landschaft zentrale Bedeutung zumisst,56 und in Statements wie diesen: „Each traditional landscape expresses a unique sense or spirit of place (genius loci) that helps to define its identity“.57 „Much of what many people deplore about the human subversion of nature – and fear about the destruction of the environment – has to do with the loss of places that they keep in shared memory and cherish with collective loyalty. Many fears stem from the loss of the particular – the specific characteristics of places that make them ours – and so from the loss of the security one has when one is able to rely on the lore and the love of places and communities that one knows well.“58 Als Bedrohung kulturlandschaftlicher Eigenart werden vor allem zwei Entwicklungen angesehen: Industrialisierung und Nutzungsaufgabe. Einerseits verwandelt die Ausbreitung industrieller Formen von Landnutzung einzigartige Kulturlandschaften in Allerweltslandschaften ohne Charakter: „Modern land reforms can be achieved by a technology that can change rapidly vast areas and wipe out all existing structures. Economical rationalisation controls it and results in a uniform standard landscape ‚architecture‘. All regional diversity and the identity of landscapes become unrecognisable. The spirit of the place, the genius loci, is lost.“59 Andererseits gehen einzigartige Kulturlandschaften durch Nutzungsaufgabe verloren, deren Folge, normativ gesprochen, Ver-Wilderung ist bzw., ökologisch gesprochen, Sukzession der Vegetation, die zu-

54 Körner/Eisel 2003; Körner et al. 2003a; Bogner 2004; Fischer, H. 2004; Piechocki/ Wiersbinski 2007; Kirchhoff 2015b. 55 BNatSchG 1976: § 1 (1); BNatSchG 2009: § 1 (1). 56 Siehe z. B. Fischer-Hüftle 1997; Bayerisches Landesamt für Umweltschutz (LfU) 1998; Antrop 2000; 2005; Demuth 2000; Nohl 2000; The Countryside Agency/ Scottish Natural Heritage 2002; Gerhards 2003; Kirchhoff 2005; 2012d; 2015b; Eisel 2006; Kirchhoff/Trepl 2009a. Siehe aber die in Kapitel 4.7, S. 85-95 diskutierten evolutionären Ästhetiktheorien sowie für die Landschaftsbildbewertung z. B. Kiemstedt 1967; Roth 2012: 59 f. 57 Antrop 2005: 27. 58 Committee on Noneconomic and Economic Value of Biodiversity et al. 1999: 65. 59 Antrop 2000: 22.

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meist zu Waldgesellschaften führt (spontane Wiederbewaldung).60 Durch beide Entwicklungen, Industrialisierung und Nutzungsaufgabe, gehen die ortstypischen Landnutzungsformen verloren, die die Eigenart der Landschaft hervorgebracht und erhalten haben. Fazit Auf der Basis dieser Klärungen zu den Begriffen „Landschaft“ und „Kulturlandschaft“ sowie zum Ideal kulturlandschaftlicher Eigen­ art lässt sich zunächst festhalten: Die intrinsischen Werte von Naturphänomenen, die im ÖSD-Ansatz unter den Begriff der kulturellen ÖSD gefasst werden, beziehen sich insbesondere auf Kulturlandschaften im engeren, normativen Sinne, deren Eigenart noch mehr oder weniger vollständig erhalten ist. Gerade solche Kulturlandschaften bieten in besonderem Maße das, was im ÖSD-Ansatz61 als cultural identity services („the current cultural linkage between humans and their environment“), cultural heritage services („‚memories‘ in the landscape from past cultural ties“, inspirational services („the use of natural motives or artifacts in arts, folklore, and so on“) und aesthetic services („aesthetic appreciation of natural and cultivated landscapes“) bezeichnet wird, welche services zusammengenommen maßgeblich sind für die ÖSD recreation and tourism. Deshalb stellen einzigartige Kulturlandschaften auch eine bevorzugte Tourismusdestination dar.62 Für die Vertreter des subjektivistischen Landschaftsbegriffs ist unmittelbar klar, dass der Gegenstand dieser intrinsischen Werte von einzigartigen Kulturlandschaften nicht Ökosysteme, sondern ästhetische, bildhafte Repräsentationen von Ausschnitten der Erdoberfläche sind, die mit kulturell geprägten kollektiven symbolischen Bedeutungen assoziiert sind. Dies müsste man auch dann zugestehen können, wenn man als Vertreter des objektivistischen Landschaftsbegriffs den Begriff „Landschaft“ nicht für ein mentales ästhetisch-symbolisches Gebilde reservieren, sondern ihn zunächst einmal zur Bezeichnung einer bestimmten Form von extramentalen materiellen Kausalsystemen verwenden möchte. Denn für die oben aufgeführten sogenannten kulturellen ÖSD, die mit Kultur60 Hunziker 1995; 2000; Höchtl et al. 2005. 61 Vgl. Kapitel 2.3 zu den folgenden Unterformen kultureller ÖSD. 62 Siehe exemplarisch BMEL/IBV-BLE 2015.

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landschaften verbunden sind, ist nicht entscheidend, welche ökologischen Bedingungen in dem fraglichen Gebiet herrschen und ob diese noch denen der Vergangenheit entsprechen. Entscheidend ist vielmehr, in welchem Maße das ästhetische Erscheinungsbild und die Symbolik des Gebietes noch dem Idealbild dieser Kulturlandschaft entspricht, das der Betrachter im Kopf hat.63 Nachtrag: Subjektivierende versus objektivierende Naturauffassungen Ich habe dargelegt, dass das, was wir umgangssprachlich eine (Kultur-)Landschaft nennen – zumindest wenn es um intrinsische Werte geht – ein ästhetisch-symbolischer Gegenstand ist. Ich bestreite damit nicht, dass man denjenigen Ausschnitt der Erdoberfläche, den man lebensweltlich in ästhetisch-symbolischer Perspektive als (Kultur-)Landschaft sieht, auch in anderer Perspektive betrachten kann. Man kann ihn z. B. auch in landwirtschaftlicher Perspektive als Produktionsfläche oder in ökologischer Perspektive als Komplex von Ökosystemen begreifen. Aber es gilt, was Simmel konstatiert hat und oben bereits zitiert und erläutert wurde: „Landschaft, sagen wir, entsteht, indem ein auf dem Erdboden ausgebreitetes Nebeneinander natürlicher Erscheinungen zu einer besonderen Art von Einheit zusammengefaßt wird, einer anderen als zu der der kausal denkende Gelehrte [z. B. ein Ökologie], der religiös empfindende Naturanbeter, der teleologisch gerichtete Ackerbauer oder Stratege eben dieses Blickfeld umgreift.“64 Es besteht eine kategoriale Differenz zwischen lebensweltlicher, ästhetisch-symbolischer Naturwahrnehmung einerseits und naturwissenschaftlich-ökologischer Naturbeschreibung andererseits. Und es ist – zumindest derzeit – nicht möglich, erstere auf letztere zurückzuführen.65 Vielmehr 63 Ausführlicher hierzu siehe Kapitel 6.1, S. 121-125. 64 Simmel [1913] 1957: 148, Hervorhebungen T. K. 65 Es lässt sich nicht einmal schlüssig behaupten, dass letztere die wahre Repräsen­ tation einer beobachterunabhängigen Natur an sich sei. Die stärken Argumente sprechen dafür, anzunehmen: „‚Natur‘ gibt es nicht schon immer und auch nicht für jedermann zu jeder Zeit – das gilt gerade auch für die Gegenwart. Daß es Natur gibt, und als was es sie gibt, ist je abhängig von einem bestimmten Blick auf die Welt, von einer bestimmten Stellung des Subjekts zur Welt“ (Baumgart­ ner 1992: 237). Vgl. Großklaus/Oldemeyer 1983; Spaemann 1987; Hubig 2011; Kirchhoff 2011a.

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schließt die objektivierende Perspektive die subjektivierende aus: Die Natur der Naturwissenschaften, z. B. der Ökosystemtheorie, „ist methodisch objektivierte Natur. Diese Natur ist für die unbewaffneten Sinne nicht länger wahrnehmbar, sie ist theoretische Konstruktion einer Forschung, die zwar die Grundlagen des menschlichen Lebens, nicht aber die menschliche Lebenswirklichkeit zum Thema hat.“66 Diese kategoriale Differenz zwischen ästhetisch-symbolischen, subjektivierenden und naturwissenschaftlichen, objektivierenden Naturauffassungen möchte ich mit einem Beispiel aus einem anderen Wirklichkeitsbereich noch weiter verdeutlichen: Was ein Musiker in einem Konzert hervorbringt, kann lebensweltlich ästhetischsymbolisch wahrgenommen und beschrieben werden als Melodie oder aber naturwissenschaftlich-physikalisch gemessen und beschrieben werden als Abfolge sich komplex überlagernder Schallwellen unterschiedlicher Amplitude und Frequenz. Einmal geht es um Musik, einmal um Akustik, wobei gilt, „that it is one thing to talk music, another to talk acoustics. Sound is one thing, sound waves are another. And even if the word ‚sound‘ is used both in a book on harmony and in a physics book, it means utterly different things in the two contexts.“67 Entscheidend dabei ist: Die Musik oder Melodie existiert nur subjektiv in der Wahrnehmung des Zuhörers, wohingegen die Abfolge der Schallwellen unabhängig von der Wahrnehmung irgendeines Zuhörers objektiv existiert, ohne aber als solche eine Melodie zu sein. Es ist nicht so, dass es für Melodien nur bisher noch kein physikalisches Messgerät gibt, sondern es kann ein solches Messgerät nicht geben, weil die Melodie überhaupt nicht als physikalischer Gegenstand existiert, sondern nur als Ergebnis einer Wahrnehmungsleistung des Zuhörers. „In the case of music, then, we must clearly distinguish between the audible thing, which I shall call a perceptual object, and its physical basis. […] The physical basis of the music consists of things and events describable in the vocabulary of physics. […T]he aesthetic object […] is not something physical. We would not be tempted to identify a poem with the sound waves that carry it when it is read aloud, […] or with the ink marks in the book when it is printed.“68 66 Seel 1991: 22. 67 Beardsley [1958] 1981: 30. 68 Ebd.: 31 f.

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Um Missinterpretationen vorzubeugen, sei sogleich hinzugefügt, dass damit nicht bestritten ist, dass ästhetische Objekte eine physische Basis haben: „To make the distinction between the perceptual object and the physical object is not, of course, to deny the importance of the physical stuff involved in the process of painting, or sculpturing, or building.“69 Die Melodie existiert zwar nur subjektiv-mental, aber sie ist kein ‚Hirngespinst‘, sondern eine subjektive Repräsentation – nicht Abbildung – einer objektiv-extramentalen Realität. Diese Realität der Schallwellen stellt jedoch, anders als die Melodie, keine Ganzheit dar, sondern nur eine Abfolge, die irgendwann in der Zeit beginnt und endet.

4.5 Wildnis In den heutigen modernen europäischen und anderen Gesellschaften besteht, das belegen zahlreiche empirische Studien,70 ein großes und zunehmendes Interesse an Wildnis. Man kann geradezu von einer sich verstärkenden Sehnsucht nach Wildnis sprechen.71 Worum geht es bei dieser Sehnsucht und was für eine Art von Gegenstand ist Wildnis dabei? Was ist eine Wildnis – naturnahes Ökosystem oder symbolische Gegenwelt? Wie in der Kontroverse um den Landschaftsbegriff scheinen sich auch in der Kontroverse um den Wildnisbegriff naturwissenschaftlich-ökologische und kulturwissenschaftliche Definitionen und damit zwei kategorial verschiedene Definitionstypen gegenüberzustehen. Ein typisches Beispiel für den ersten Definitionstyp ist: „A wilderness is an area governed by natural processes. It is composed of native habitats and species, and large enough for the effective ecological functioning of natural processes. It is unmodified or only slightly modified and without intrusive or extractive human 69 Ebd.: 33. 70 Stellvertretend genannt sei BMUB/BfN 2014. Vgl. die in Fußnote 78 auf S. 68 genannten Studien. 71 Haß et al. 2012; Kirchhoff 2017b; Kirchhoff/Vicenzotti 2017.

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activity, settlements, infrastructure or visual disturbance.“72 Typischerweise geschützt werden sollen dann die Natürlichkeit und Integrität von Wildnis-Ökosystemen: „One of the primary purposes of designated wilderness areas is protection of natural ecosystems. However, the ecological integrity of these most protected of public lands is threatened by direct and indirect effects of human activities both internal and external to wilderness.“73 Dem zweiten Definitionstyp zuzuordnen sind Aussagen wie diese: „Der symbolische Gehalt von Wildnis ist für das Begriffsverständnis von zentraler Bedeutung.“74 „Wilderness is […] a dynamic social construct that derives meaning from current settings and cultures“.75 Diese Symbolik wird genauer bestimmt, indem man Wildnis definiert als ein Gebiet, das „als Gegenwelt zur Welt der Kultur bzw. Zivilisation angesehen wird, wobei Wildnis negativ oder aber positiv bewertet wird, je nachdem, ob die korrespondierende kulturelle Ordnung positiv oder aber negativ gewertet wird“.76 Wildnisschutz bedeutet entsprechend dieser Definition, die für Wildnis spezifischen Symbolisierungsmöglichkeiten zu erhalten. Zu diesen zählen laut empirischen Studien Bedeutungen wie „natural“, „unspoiled“, „untouched land remote from civilization“, „inspired“, „free“, „challenging“, „peace and solitude“.77 Die zweite, kulturwissenschaftliche Definition von Wildnis halte ich für treffend,78 die erste Definition für eine nur scheinbar naturwissenschaftliche Definition, die tatsächlich eine inhaltlich enggeführte Variante der zweiten Definition darstellt. Diese beiden Einschätzungen stütze ich im Folgenden mit selektiven Hinweisen 72 73 74 75 76

Wild Europe Initiative 2013: 2, im Original hervorgehoben. Cole/Landres 1996: 168. Stremlow/Sidler 2002: 26. Larkin/Beier 2014: 2. Kirchhoff/Vicenzotti 2017: 314; vgl. Großklaus/Oldemeyer 1983; Kirchhoff/ Trepl 2009a: 22; Kirchhoff 2011a: 80; Haß et al. 2012: 134; Kirchhoff/Vicenzotti 2014: 444. 77 Shultis 1999: 392. 78 Ähnliche Einschätzungen finden sich z. B. in den empirischen Studien Strem­ low/Sidler 2002; Bauer/Hunziker 2004; 2008; van den Berg/Koole 2006; Buijs et al. 2009; Cole/Williams 2012; Wall-Reinius 2012; BMUB/BfN 2014; Larkin/Bei­ er 2014 sowie in den theoretischen Studien; Nicolson [1959] 1997; Nash [1967] 2001; Woźniakowski 1987; Oelschlaeger 1991; Cronon 1995; Schama 1995; Cal­ licott/Nelson 1998; Hoheisel et al. 2010; Nelson/Callicott 2008; Kirchhoff/Trepl 2009a; Haß et al. 2012; Kirchhoff/Vicenzotti 2014; 2015; 2017; Dvorak/Borrie 2007; Kirchhoff 2017b.

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zur Kultur- und Bedeutungsgeschichte von Wildnis. Ich stütze sie außerdem mit einer Analyse der Wildniseigenschaft „Natürlichkeit“, in der ich feststelle, dass Natürlichkeit – entgegen dem ersten Anschein – keine naturwissenschaftliche Eigenschaft, sondern eine kulturelle Bedeutungszuweisung ist. Zur Kultur- und Bedeutungsgeschichte von Wildnis79 Im christlichen Denken hatte Wildnis bis ins 17. Jahrhundert fast nur negative Konnotationen: Sie war der reale, allegorische und symbolische Ort des moralisch Bösen. Als Wildnis galt dabei alles, was jenseits des kultivierten Gebietes von Burg, Stadt, Dorf und Feldflur lag, also z. B. Sümpfe, Wälder, Gebirge und Meere. Die Welt hielt man zwar als Gottes Schöpfung für gut; aber sie galt weithin als korrumpiert durch den Sündenfall (natura lapsa, natura corrupta).80 Manche christliche Theologen deuteten schroffe Berge als Mahnmale des Sündenfalls, als die von der Sintflut erschaffenen Ruinen der ursprünglich ebenen, wohlgeformten Erde, und die Meere als Überreste der Sintflut, die teuflischen Ungeheuern Zuflucht bieten. Es gab aber bereits im christlichen Denken des Mittelalters einige positive Wildnisbedeutungen: So war insbesondere Waldwildnis Zufluchtsort für Verfolgte und Geächtete, die sich zuweilen – wie Robin Hood – einer ungerechten Obrigkeit entgegenstellten. Analog zur Wüste arider Gebiete war sie der Ort, an den sich Eremiten zurückziehen, um ihr Leben ganz Gott zu widmen. Und sie war auch der Ort der Bewährung und Reifung von Helden im Kampf gegen das Böse. Im 17. Jahrhundert änderte sich das christliche Verständnis von Wildnis grundlegend. Ermöglicht vor allem durch die Annahme, dass Gottes Attribute auch in seiner Schöpfung repräsentiert sein müssten, entstand eine Ästhetik des Unendlichen und des Naturerhabenen. Gemäß einer einflussreichen Deutungsvariante musste die Welt – weil Gott, ihr Schöpfer, allmächtig, weise und gütig ist – 79 Die folgende Darstellung, die vor allem europäische Wildnisauffassungen be­ rücksichtigt, basiert auf Kirchhoff/Trepl 2009a; Kirchhoff 2011a; 2017b sowie auf Kirchhoff/Vicenzotti 2014; 2017, die eine umfassende Darstellung europä­ ischer Wildnisauffassungen sowie Angaben zu weiterer Primär- und Sekundär­ literatur enthalten. 80 Zu diesen Begriffen siehe Janz 1983; Groh 2003: insb. 15-23; Böckenförde 2006: 182.

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eine vollkommene Ordnung darstellen. Auf dieser Basis entstand die Wertschätzung von Wildnis als Ort, an dem die ursprüngliche göttliche Ordnung der Welt, die in ihrer Komplexität und Vollkommenheit jegliche menschliche Ordnung kategorial übersteigt, noch nicht durch den Menschen verändert und das heißt noch nicht beeinträchtigt war (natura integra).81 Diese vollkommene göttliche Ordnung sei, so etwa Shaftesbury,82 für den Menschen ästhetischintuitiv erkennbar, wenn er von seinen endlichen Nutzenkalkülen und Ordnungsvorstellungen absehe: „Unable to declare the Use or Service of all things in this Universe, we are yet assur’d of the Perfection of all, […] in respect to which, Things seemingly deform’d are amiable; Disorder becomes regular; Corruption wholesom“. Und folglich: „I shall no longer resist the Passion growing in me for Things of a natural kind; where neither Art, nor the Conceit or Caprice of Man has spoil’d their genuine Order, by breaking in upon that primitive state. Even the rude Rocks, the mossy Caverns, the irregular unwrought Grotto’s, and broken Falls of Waters, with all the horrid Graces of the Wilderness it-self, as representing Nature more, will be the more engaging, and appear with a Magnificence beyond the formal Mockery of princely Gardens.“ Kurzum: „The Wildness pleases.“ In demokratietheoretischen Strömungen der Aufklärung, die sich an Idealen von Freiheit und Vernunft orientieren, ist Wildnis zunächst einmal der symbolische Ort der Unfreiheit: der Herrschaft der Instinkte und Leidenschaften, an deren Stelle die Herrschaft der Vernunft treten muss. Sie ist aber auch derjenige Ort, an dem – so Immanuel Kant83 in seiner Theorie des Erhabenen – der Mensch sich gewahr werden kann, dass er als Vernunftwesen seiner eigenen Triebnatur überlegen ist: nämlich immer dann, wenn die Betrachtung von Naturphänomenen, die aufgrund ihrer Größe oder Regellosigkeit sein Anschauungsvermögen überwältigen (mathematisch Erhabenes) oder denen gegenüber er sich als Sinneswesen ohnmächtig weiß (dynamisch Erhabenes), mit einer „Erweckung des Gefühls eines übersinnlichen Vermögens in uns“ einhergeht, das heißt die Idee der Vernunft im Menschen wachgerufen wird.

81 Zu diesem Begriff siehe die in der vorigen Fußnote genannte Literatur. 82 Shaftesbury [1732] 2001, II: 388 f., 393 f., 388 für die drei nachfolgenden Zitate. 83 Siehe Kant [1790/1793] 1996: §§ 23-30, wörtliches Zitat ebd.: § 25, B 85.

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Im Übergang zur Aufklärungskritik wird, maßgeblich durch Jean-Jacques Rousseau,84 Wildnis mit dem Naturzustand assoziiert, in dem die Menschen noch nicht durch die Zivilisation verdorben waren – noch unentfremdet, in Harmonie miteinander und in Harmonie mit der äußeren Natur lebten. Wildnis und die dort lebenden sogenannten Edlen Wilden symbolisieren authentische Individualität und eine auf natürlichem Mitgefühl beruhende Gemeinschaft.85 Die Romantik, die – mit Max Webers späteren Worten – die „Entzauberung der Welt“86 durch den Verstand beklagt, wertschätzt Wildnis, weil ihr Anblick den menschlichen Verstand außer Kraft setzen könne, weil sie als Spiegel der irrationalen Abgründe der eigenen Seele fungieren könne und weil ihr Anblick die erstrebte ästhetische Wiederverzauberung der Welt durch das ästhetisch produktive Subjekt fördere. Das vereinzelte Individuum soll zumindest ästhetisch wieder eine Entgrenzung des Ich erfahren und ein Gefühl der Eingebundenheit in eine ursprüngliche Ganzheit empfinden können. Ein klassischer Topos dieser romantischen Wiederverzauberung ist der Blick über das Meer oder über waldbedeckte Hügel und Berge zum Horizont, an dem Erde und Himmel, Materielles und Immaterielles verschmelzen. Mit dem Aufkommen der Umweltbewegung in den 1960er Jahren wird Wildnis auch zum Inbegriff einer vollkommenen, vom Menschen unbeeinträchtigten natürlichen Ordnung. Die ökologische und evolutionäre Selbstorganisation der Natur habe im Laufe von Jahrtausenden zu funktional eng integrierten, sich selbst regulierenden Ökosystemen geführt, deren Organisationsweise hinsichtlich Komplexität, Effizienz und Stabilität die aller anthropogenen Organisationsformen – seien es menschliche Gesellschaften oder technische Artefakte – bei weitem überschreite. Damit entsteht die Idee, die ökologische Integrität von Wildnisökosystemen zu schützen vor ihrer Zerstörung durch den Menschen. Etwa seit den 1970er Jahren wird Wildnis auch zum Inbegriff unregulierter Prozessualität, von Wildheit. Wildnis wird zum symbolischen und teils auch realen Ort unreglementierter, triebhafter 84 Siehe Rousseau 1755; 1762. 85 Entgegen einer häufigen Unterstellung, zu der auch die fälschliche Zuschrei­ bung der Forderung „Zurück zur Natur“ gehört, ist Rousseau nicht für einen Primitivismus eingetreten. Sein Ideal war nicht der Naturzustand, den er für unwiederbringlich verloren hielt, sondern eine republikanische, agrarische Ge­ meinschaft, die auf Vernunft und Tugend beruht. 86 Weber [1919] 1968: 594.

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Aktivität und Überraschung, der Entlastung von Rationalität, Konventionen, Regeln, Scham- und Ekelgefühlen zivilisierten Lebens, aus dem man vorübergehend ausbrechen möchte. In diesem Sinne sieht z. B. der deutsche Survival-Experte Rüdiger Nehberg im tropischen Regenwald – im Dschungel – keine „grüne Hölle“, sondern eine „Herausforderung: kein Meter ohne Überraschung, gefüllte Speisekammer, action pur – grünes Paradies.“87 Fazit Dieser selektive Blick in die europäische Kultur- und Bedeutungsgeschichte von Wildnis – und Entsprechendes ließe sich z. B. für die US-amerikanische zeigen88 – belegt, dass Wildnis im Rahmen der meisten Deutungsmuster nicht als naturwissenschaftlich-ökologischer Gegenstand, nicht als Ökosystem wahrgenommen wird, sondern als ästhetisch-symbolischer Gegenstand, der wesentlich mit moralischen Konnotationen verbunden ist. Deshalb konnten sich die Bedeutungen und Bewertungen von Wildnisgebieten im Laufe der Geschichte auch grundlegend wandeln, ohne dass es zu relevanten physischen Veränderungen dieser Wildnisgebiete gekommen wäre. Beispielsweise wurden die Alpen um 1800 von einem ‚Ort des Schreckens‘ zu einem ‚Ort der Sehnsucht‘, allein deshalb, weil sich die kulturellen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster gewandelt hatten.89 Aber steht dieses Fazit nicht im Widerspruch dazu, dass mit „Wildnis“ seit den 1960er Jahren auch ein Gebiet gemeint sein kann, in dem die natürlichen Ökosysteme noch unbeeinträchtigt vom Menschen sind, und dass „Natürlichkeit“ auch in anderen Wildnisauffassungen eine zentrale Rolle spielt? Zum ersten Einwand ist zunächst zu sagen, dass die ‚ökologische‘ Wildnisauffassung in den letzten Jahrzehnten zwar sehr stark von Naturschützern verbreitet worden ist, es sich aber doch nur um eine von vielen Wildnisauffassungen handelt. Zudem ist anzumerken:

87 TARGET e. V. Ruediger Nehberg 2017; vgl. Nehberg 2005. Ausführlicher zum Dschungel als Wildnis siehe Hoheisel et al. 2005; Hupke 2009; Haß et al. 2012: 122-126; Trepl 2012b. 88 Siehe hierzu insb. Nash [1967] 2001; Oelschlaeger 1991; Cronon 1995; Schama 1995; Callicott/Nelson 1998; Nelson/Callicott 2008. 89 Siehe die in Fußnote 7 auf S. 49 genannte Literatur.

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Dieser ‚ökologischen‘ Wildnisauffassung liegt eine perfektionistische und organizistische Auffassung von der Selbstorganisation ökologischer Systeme zugrunde, die in der Naturwissenschaft Ökologie seit mehreren Jahrzehnten kaum noch vertreten wird (siehe Kapitel 4.7, S. 82 f.). Da die perfektionistisch-organizistische Wildnisauffassung strukturell der Auffassung entspricht, Wildnis sei ein Ort vollkommener göttlicher Ordnung, liegt der Schluss nahe, dass diese ‚ökologische‘ Wildnisauffassung eine verwissenschaftlichte bzw. naturalisierte Reformulierung jener Auffassung darstellt. Darüber hinaus gilt: Selbst dann, wenn ein Gebiet lebensweltlich im Rahmen der ‚ökologischen‘ Wildnisauffassung wahrgenommen wird, wird es nicht als Ökosystem, sondern als ästhetischer Gegenstand wahrgenommen, wobei man dann aus dem ästhetisch Wahrgenommenen auf bestimmte (angebliche) ökologische Eigenschaften schließt – die man nicht sehen, hören, riechen oder fühlen kann, sondern von denen man etwas aus der wissenschaftlichen oder nicht-wissenschaftlichen Literatur über Wildnis weiß.90 Zum zweiten Einwand ist zunächst zu sagen: Die Eigenschaft „Natürlichkeit“ spielt fraglos in mehreren Wildnisauffassungen eine zentrale Rolle. Hinzuzufügen ist aber: Wenn in Wildnisauffassungen von „Natürlichkeit“ die Rede ist, so ist damit keineswegs eine ökologische oder eine andere naturwissenschaftliche Eigenschaft gemeint, sondern es wird eine Bedeutung zugewiesen und eine Bewertung vorgenommen. Es gilt ganz generell – sogar dann, wenn von der „Natürlichkeit“ eines Ökosystems gesprochen wird –, dass „Natürlichkeit“ kein deskriptiver naturwissenschaftlicher Begriff ist, sondern ein normativer Begriff, mit dem eine kulturelle Bedeutungszuweisung einhergeht – wie im Folgenden gezeigt werden soll. Nachtrag: „Natürlichkeit“ ist keine ökologische Eigenschaft Natürlichkeit (naturalness) wird, vor allem in Naturschutzdiskur­ sen, häufig als eine naturwissenschaftliche Eigenschaft, als ein öko­ logischer Parameter angesehen. „Naturalness is a scientific concept that can be evaluated and quantified. Intactness or integrity of ecosystems can be defined and assessed in similar ways. Three indi90 Siehe hierzu die Ausführungen von Raymond et al. (2017) zum Zusammenspiel von sensory perception und cognitive production.

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ces of naturalness are proposed: (1) the degree to which the system would change if humans were removed; (2) the amount of cultural energy required to maintain the functioning of the system as it currently exists; and (3) the complement of native species currently in an area compared with the suite of species in the area prior to settlement.“91 In diesem Sinne wird z. B. mit dem Konzept der Hemerobiestufen versucht, Natürlichkeit als naturwissenschaft­lichen Parameter mittels intersubjektiv bestimmbarer Natürlichkeitsgrade zu operationalisieren, die von „ahemerob“ (keine an­thro­pogenen Einwirkungen) bis „metahemerob“ (vergiftete Ökosysteme und vollständig versiegelte Flächen) reichen.92 Der Begriff der Natürlichkeit ist jedoch kein naturwissenschaftlicher Begriff. Denn er setzt die Unterscheidung zwischen natürlicher Entstehung oder Verursachung einerseits und nicht natürlicher bzw. künstlicher, technischer, intentionaler etc. Entstehung oder Verursachung andererseits voraus. Aber diese Unterscheidung ist keine naturwissenschaftliche, sondern eine lebensweltlich-kulturelle bzw. kultur- und sozialwissenschaftliche.93 Das zeigt sich schon daran, dass Natürlichkeit in den Naturwissenschaften Physik und Chemie als Fachterminus im hier relevanten Sinne gar nicht vorkommt.94 Und sogar in der Naturwissenschaft Biologie kommt „Natürlichkeit“ als Fachterminus nicht vor, sondern nur in Diskursen um Naturschutz, Bioethik usw. Dass Natürlichkeit kein naturwissenschaftlicher Begriff ist, lässt sich systematisch so belegen: Wenn man einen Menschen als einen Organismus bzw. als ein Exemplar der biologischen Spezies Homo sapiens ansieht, dann ist dieser Mensch ein Teil der Natur (natursystematischer Begriff des Menschen).95 Somit ist alles, was dieser Mensch tut, ebenfalls natürlich. In dieser Perspektive gibt es in der Welt keine nicht-natürlichen Ursachen, sofern man nicht die Existenz übernatürlicher Ursachen behaupten will. Damit wird der Be91 92 93 94

Anderson 1991: 347. Jalas 1955; Sukopp 1972; Kowarik 1988; 1999; Klotz/Kühn 2002; Machado 2004. Vgl. Birnbacher 2006: 1-4; Spaemann 1987. Die Physik verwendet allerdings den Begriff der Natürlichkeit (naturalness), um eine Eigenschaft freier Parameter bzw. Konstanten in physikalischen Theorien zu bezeichnen (siehe Seiberg 1993). 95 Die Bezeichnung „natursystematischer Begriff des Menschen“ und die kor­ respondiere Bezeichnung „Wesensbegriff des Menschen“ stammen von Max Scheler (1927: Kapitel 4). Vgl. zu diesen beiden Begriffen Hartung/Kirchhoff 2014b: 19; Becker 2017.

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griff der Natürlichkeit hinfällig bzw. sinnlos. Daraus folgt: Wenn man sinnvoll vom Menschen als Verursacher nicht-natürlicher Phänomene reden will, dann muss man den Menschen meinen, soweit er selbst nicht Natur, nicht Organismus ist. Gemeint sein muss dann der Mensch, insofern er eine Person oder ein Individuum bzw. ein Kultur- oder Sozialwesen (Homo socialis) ist, als welches er eine Sonderstellung in der Welt einnimmt (Wesensbegriff des Menschen). Das heißt aber: Der Mensch wird als handelndes Wesen betrachtet, das für seine Handlungen bzw. deren Folgen verantwortlich ist. Ob jedoch ein handelndes Wesen, ein Mensch als Person (frei handelnde Ursache), oder etwas, das nicht zu handeln, sondern nur zu wirken vermag (Naturursache),96 die Ursache von etwas ist, das ist in naturwissenschaftlicher Perspektive irrelevant; denn von dieser Differenz wird die Wirkung nicht beeinflusst. Die Unterscheidung zwischen natürlichen und nicht-natürlichen Ursachen ist keine naturwissenschaftliche, sondern eine kulturelle mit moralischen, juristischen usw. Konsequenzen. Sie dient dazu zu bestimmen, wann eine Ursache vorliegt, für die ein Mensch verantwortlich ist. Wenn etwas als unnatürlich bezeichnet und kritisiert wird, so will man damit sagen, dass ein Mensch es verändert hat und dass er dies besser nicht getan hätte, sondern es in seinem von der Natur gegebenen Zustand belassen hätte. „Natürlichkeit“ ist also kein deskriptiver naturwissenschaftlicher, sondern ein normativer Begriff. Die Rede von Natürlichkeit zeigt an, dass etwas wertgeschätzt wird als authentisch, unverfälscht, echt, spontan usw. im Gegensatz zu etwas Unechtem, Gekünsteltem, Manieriertem, übermäßig Angepasstem oder auch als stimmig, harmonisch, proportioniert, rein, differenziert usw. in Abgrenzung von etwas Unstimmigem, Dissonantem, Deformiertem, Unreinem, Monotonem.97 „Apparent naturalness may be a nominal criterion in some expert assessments [of visual landscape quality] but the procedures applied are neither botanical nor geological. Operationally the emphasis is on visual design features (e. g. form, line, color, vividness, harmony, unity)“.98

96 Zu dieser Unterscheidung siehe z. B. Kant [1781/1787] 1993: B 478; Vossenkuhl 2003. 97 Birnbacher 2006: 33 f. Ausführlich zum normativen Gehalt des Begriffs der Natürlichkeit siehe Spaemann 1987; Taylor, C. 1992a; Schramme 2002; Siipi 2005; Birnbacher 2006; 2014. 98 Daniel 2001: 270, im Original teilweise kursiv.

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Wenn von der Natürlichkeit eines Wildnisgebietes die Rede ist, so gilt demnach: Es wird keine naturwissenschaftliche Beschreibung dieses Gebietes gegeben, sondern eine kulturell geprägte Bewertung dieses Gebietes als Gegenwelt zur Welt des Unnatürlichen, Künstlichen, Kulturellen, Technischen vorgenommen.

4.6 Resümee für den zweiten Kritikpunkt Ob es sich um unbelebte Naturphänomene, einzelne Lebewesen, Landschaftsbestandteile, Kulturlandschaften oder Wildnis handelt, die Analyse zu diesen Naturphänomenen zeigt: Wenn wir sie wegen der mit ihnen verbundenen intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte schätzen, dann nehmen wir sie als ästhetisch-symbolische Gegenstände wahr. Selbst die ‚ökologische‘ Wildnisauffassung ist davon letztlich nicht ausgenommen. Das aber heißt: Wenn es um intrinsische, nicht-instrumentelle Werte geht, nehmen wir Natur praktisch immer als einen Gegenstand wahr, der nicht unter die Definition dessen fällt, was laut dem ÖSD-Ansatz ein „Ökosystem“ ist, nämlich: „An ecosystem is a dynamic complex of plant, animal, and microorganism communities and the nonliving environment interacting as a functional unit.“99 Und wir nehmen Natur dann auch nicht als Bestandteil eines Ökosystems oder als Komplex aus mehreren Ökosystemen wahr. Wir nehmen Natur, wenn es um ihre intrinsischen Werte geht, nicht in objektivierender Weise als Kausalsystem wahr, das mit Begriffen wie Stoff- und Energiefluss, Primärproduzent, Konsument, Destruent, Entropie, Biomasse und Populationswachstum beschrieben werden könnte. Vielmehr nehmen wir Natur in subjektivierender Weise, aber im Rahmen kulturell geprägter intersubjektiver bzw. kollektiver Wahrnehmungsmuster als ästhetischen Gegenstand und als kollektives Symbol wahr: Es geht um Naturphänomene die schön, erhaben, wild, einzigartig, anmutig, geheimnisvoll, angsteinflößend usw. sind und Heimat, Identität, Freiheit, Authentizität usw. symbolisieren. Diese Unterscheidung ist von zentraler Bedeutung, weil sich die beiden Perspektiven auf Natur, die objektivierende und die subjektivierende,100 nicht ineinander überführen lassen, ihre Be99 MEA 2005c: V. 100 Vgl. Kapitel 4.4, S. 65-67.

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schreibungssprachen inkommensurabel sind. Die Konzeptualisierung z. B. einer Kulturlandschaft als Komplex von Ökosystemen ist inkommensurabel mit ihrer Konzeptualisierung als Gegenstand mit ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen. „Ökosystem ist kein Begriff der Alltagssprache, sondern ein naturwissenschaftlicher. Die Eigenschaften, die ein Ökosystem haben kann, sind durchwegs in naturwissenschaftlichen Begriffen zu beschreiben; ist das nicht der Fall, handelt es sich nicht um ein Ökosystem. Ein Wald-Ökosystem kann nie und nimmer die Eigenschaft haben, schön zu sein oder unheimlich zu wirken oder Symbol der Kraft oder der Innerlichkeit eines Volkes zu sein. Das Ökosystem hat eben nur Eigenschaften, die in naturwissenschaftlichen, und zwar in bestimmten, nicht in beliebigen naturwissenschaftlichen Begriffen zu beschreiben sind.“101 Diese Differenz zwischen subjektivierenden und objektivierenden Naturauffassungen und diese Inkommensurabilität ihrer Begrifflichkeiten ist zumindest so lange zu beachten, wie das Programm des szientifischen Naturalismus, das alle Konzeptualisierungen von Naturphänomenen auf eine einzige, naturwissenschaftliche Konzeptualisierung zurückführen will, für den Wirklichkeitsbereich unserer ästhetisch-symbolisch-moralischen Naturauffassungen noch nicht eingelöst ist – wofür es keine Anzeichen gibt. Deshalb ist es in unserem Fall sachlich unangemessen und begrifflich falsch, den Gegenstand der intrinsischen, nicht-instrumentellen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur als „Ökosystem“ zu bezeichnen und Ökosystemen ästhetische, symbolische oder moralische Qualitäten zuzuschreiben. „Die Absurdität der Behauptung, dass zum Beispiel Ästhetik und ‚spirituelle Werte‘ zu den Ökosystemdienstleistungen gehören, wird deutlich, wenn man die Sache umdreht und etwa sagt, ein soziales System habe ein bestimmtes Gewicht – dies deshalb, weil ja da, wo wir von sozialen Systemen sprechen, immer Menschen beteiligt sind und die nun einmal etwas wiegen. Ein soziales System hat kein Gewicht, besteht nicht aus Molekülen, leitet nicht Elektrizität – hat schlichtweg gar keine Eigenschaften, die man mit naturwissenschaftlichen Begriffen beschreiben könnte.“102 Als Lösung werde ich vorschlagen, die Gegenstände der sogenannten kulturellen ÖSD semantisch unbestimmt als „Naturphänomene“ bzw. als „Natur“ zu bezeichnen (siehe Kapitel 8.3). 101 Trepl 2014b: 17. 102 Ebd.

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4.7 Vier potenzielle Einwände gegen meinen zweiten Kritikpunkt Gegen meinen zweiten Kritikpunkt ist zumindest mit vier potenziellen Einwänden zu rechnen, die nun diskutiert werden sollen. Diese Einwände sind nicht aus der Luft gegriffen, sondern stützen sich auf Positionen und Argumente, die von Protagonistinnen und Protagonisten des ÖSD-Ansatzes in Publikationen vertreten werden bzw. mir oder Kolleginnen und Kollegen gegenüber informell geäußert wurden. Ich konstruiere diese Einwände in idealtypischer Weise. Einwand 1: Der Ökosystembegriff wird im Ökosystemdienstleistungs-Ansatz so verwendet, dass er alle relevanten Naturphänomene umfasst Der erste potenzielle Einwand lässt sich idealtypisch so formulieren: Es sei einmal zugestanden, dass die Gegenstände der kulturellen ÖSD tatsächlich keine Ökosysteme im Sinne der naturwissenschaftlichen Definition des Ökosystembegriffs sind, sondern ästhetisch-symbolische Gegenstände. Und es sei nicht bestritten, dass im ÖSD-Ansatz für den Ökosystembegriff eine naturwissenschaftliche Definition gegeben wird. Der vorgetragene zweite Kritikpunkt ignoriert jedoch, dass der Ökosystembegriff im ÖSD-Ansatz in einem weiteren Sinne verwendet wird. In diesem weiteren Sinn umfasst er alle Naturphänomene, die gemäß der Argumentation des zweiten Kritikpunktes die Gegenstände intrinsischer nicht-instrumentelle Werte von Natur sind. Der zweite Kritikpunkt macht somit nur auf ein Scheinproblem aufmerksam und stellt folglich keinen triftigen Einwand gegen das Konzept der kulturellen ÖSD dar. Diesem potenziellen Einwand ist entgegenzuhalten: Es ist nicht hinzunehmen, wenn im Rahmen eines wissenschaftlichen oder wissenschaftlich fundierten Ansatzes, den der ÖSD-Ansatz fraglos darstellen soll, Begriffe anders verwendet werden als sie definiert werden. Eine solche Differenz zwischen Begriffsdefinition und Wortverwendung stellt nicht nur eine begriffliche Inkonsistenz dar, die zu allerlei Missverständnissen führt und letztlich einen wissenschaftlichen Diskurs unmöglich macht. Sie hat auch gravierende inhaltliche Konsequenzen. Denn sie impliziert, dass man kein begriffliches Kriterium mehr zur Verfügung hat, anhand dessen intersubjektiv nachvollziehbar entschieden werden könnte, welche Ge-

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genstände bei der Ermittlung von ÖSD zu berücksichtigen sind und welche nicht. Man könnte folglich Alles oder Nichts oder Beliebiges berücksichtigen, indem man sagt, es sei ein Ökosystem, z. B. eine Fabrik mit ihren Arbeitern oder eine Künstlerin in ihrem Atelier. Das jedoch widerspricht offensichtlich der Zielsetzung des ÖSDAnsatzes, Dienstleistungen bestimmter Wirklichkeitsbereiche zu erfassen – nämlich die der Natur. Manche Vertreterinnen und Vertreter des ÖSD-Ansatzes ersetzen in der üblichen Definition von „ÖSD“ – „Ecosystem services are the benefits people obtain from ecosystems“103 – den Begriff „Ökosystem“ durch einen anderen Begriff, z. B. durch „Natur“: „Ecosystem services are benefits that people derive from nature“,104 oder durch „Umwelträume“: „The UK NEAFO defines cultural ecosystem services as the individual or shared benefits to human wellbeing that arise from the interactions between environmental spaces (e. g. gardens, parks, beaches and landscapes) and cultural practices (e. g. gardening, walking, painting and watching wildlife).“105 So begrüßenswert diese Modifikationen sind, insofern sie den Gegenstand der intrinsischen Werte von Natur angemessener bestimmen als es bei Verwendung des Ökosystembegriffs der Fall ist, haben sie für den ÖSD-Ansatz doch ein gravierendes Folgeproblem: Es gibt keine Rechtfertigung mehr dafür, noch von „Ökosystem-Dienstleistungen“ zu sprechen. Man müsste stattdessen von „environmental spaces services“ bzw. von „nature’s services“ oder besser, wie ich es vorschlagen werde, von „nature’s values“ sprechen (siehe Kapitel 8.3). Einwand 2: Ökosysteme sind auch ästhetische Gegenstände – sogar in der Ökologie Der zweite potenzielle Einwand lässt sich idealtypisch so fassen: Betrachtet man die Praxis der naturwissenschaftlichen Ökosystemforschung, so stellt man fest, dass Ökosysteme häufig zunächst intuitiv anhand ästhetischer Kriterien abgegrenzt werden, bevor eine Analyse der Kausalbeziehungen zwischen den Komponenten dieser ästhetisch abgegrenzten Einheiten erfolgt. Das ist den Vertreterinnen 103 MEA 2005c: V, 40. 104 Layke 2009: 1; vgl. UNEP-WCMC et al. 2009: 18; Watson/Venn 2012: 3. 105 UK NEA-FO 2014a: 5.

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und Vertretern des ÖSD-Ansatzes bewusst, wie z. B. dieses Zitat aus einer TEEB-Studie belegt: „Application of the ecosystem model […] implies comprehensive understanding of the interactions responsible for distinctive ecosystem types, but unfortunately this knowledge is rarely available. As a result, the use of the term ecosystem, when describing entities such as forests, grasslands, wetlands or deserts is more intuitive than based on any distinct spatial configuration of interactions.“106 Also ist der naturwissenschaftliche Ökosystembegriff auch ein ästhetischer Begriff. Mithin ist der zweite Kritikpunkt, der auf der These basiert, dass ästhetisch-symbolische Gegenstände nicht unter den naturwissenschaftlichen Ökosystembegriff fallen (können), nicht berechtigt. Ich halte den Befund zur primären Abgrenzung, der dem Einwand zugrunde liegt, für zutreffend. Diesbezüglich teile ich die oben aus der TEEB-Studie zitierte Einschätzung, die ich durch eine Diagnose von Kurt Jax noch stützen möchte: „In the everyday practice of ecology [… it] is common to speak of a piece of nature such as a piece of woodland or a pond that has been delimited spatially as an ‚ecosystem‘. The boundary criterion in the (often implicit) definition of the ecosystem is a topographical one in this case. The designation of this section of nature as an ecosystem in general is made without prior examination of functional relationships within the spatially delimited system of organisms and their abiotic environment.“107 Ich halte die Schlussfolgerung aus diesem Befund zur primären Abgrenzung jedoch für unzulässig: Man kann aus der Art und Weise, wie die Gegenstände identifiziert werden, nicht darauf schließen, wie sie definiert sind. Daraus, dass z. B. Menschen häufig anhand ihrer Körpergestalt als Menschen erkannt und anhand ihres Fingerabdrucks als Individuum identifiziert werden, folgt in keiner Weise, dass Menschsein über die Körpergestalt und Individualität über den Fingerabdruck definiert wäre. Entsprechend gilt für die Ökosystemforschung: Daraus, dass die Untersuchungsgegenstände, die im zweiten Schritt einer ökosystemtheoretischen Analyse unterzogen werden, im ersten Schritt – sei es manchmal, sei es immer – nach ästhetischen Kriterien abgegrenzt werden, folgt nicht, dass der Ökosystembegriff ein ästhetischer wäre. Ein Ökosystemforscher, der im ersten Schritt ein Untersuchungsgebiet räumlich anhand ästhetischer oder etwa auch floristischer Kriterien abgrenzt und dann im 106 TEEB 2010, chapter 2: 6. 107 Jax 2007: 349; vgl. Jax 2010: 194 f.

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zweiten Schritt eine funktionale Analyse der Kausalbeziehungen innerhalb des so abgegrenzten Gebietes durchführt, hat im ersten Schritt kein Ökosystem abgegrenzt, sondern eine ästhetische bzw. floristische Einheit. Um ein Ökosystem handelt es sich – solange man, wie es ÖSD-Ansatz geschieht, die funktionale Definition von „Ökosystem“ zugrunde legt – definitionsgemäß erst dann, wenn erstens die Beschreibung mit naturwissenschaftlichen Begriffen erfolgt: „Die Eigenschaften, die ein Ökosystem haben kann, sind durchwegs in naturwissenschaftlichen Begriffen zu beschreiben; ist das nicht der Fall, handelt es sich nicht um ein Ökosystem.“108 Zweitens müssen funktionale Kausalbeziehungen als konstitutiv für den Untersuchungsgegenstand angesehen werden. Einwand 3: Wie auch immer die Biosphäre subjektiv wahrgenommen wird, objektiv besteht sie aus Ökosystemen Der dritte potenzielle Einwand gegen meinen zweiten Kritikpunkt lässt sich idealtypisch so fassen: Es wird zugestanden, dass Ökosysteme nicht der Inhalt der Wahrnehmung sind, wenn es lebensweltlich um intrinsische ästhetische, symbolische und moralische Werte von Natur geht. Es wird auch zugestanden, dass meine Erwiderungen auf den ersten und zweiten potenziellen Einwand berechtigt sind. Die Rede von kulturellen ÖSD sei aber dennoch gerechtfertigt, weil die Biosphäre objektiv – „objektiv“ im Sinne einer beobachterunabhängigen Realität – aus Ökosystemen bestehe. Deshalb sei der objektive, extramentale Gegenstand menschlicher Naturwahrnehmung immer – auch im Falle intrinsischer ästhetischer, symbolischer und moralischer Werte – ein Ökosystem (bzw. ein Teil eines Ökosystems oder ein Komplex aus Ökosystemen), was auch immer der subjektive, mentale Inhalt dieser Naturwahrnehmung sein möge.109 Dieser Einwand setzt einen ontologischen Realismus110 bezüglich Ökosystemen voraus, denn das, was wir Menschen „Ökosys108 Trepl 2014b: 17; gleichlautend Trepl 2014a. 109 Zur Unterscheidung von (extramentalem) Gegenstand und (mentalem) Inhalt einer Vorstellung siehe grundlegend Twardowski 1894. 110 Unter ontologischem Realismus verstehe ich eine Position, die charakterisiert ist durch die Thesen, (i) dass die Gegenstände, deren Existenz behauptet wird, tatsächlich extramental existieren und (ii) dass diese Gegenstände auf von unserer Erfahrung, unserem Denken und unserer Sprache unabhängige Weise existieren, von diesen unabhängige Eigenschaften haben und in Beziehungen

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tem“ nennen, soll als beobachterunabhängiger Gegenstand existieren. Die Alternative zu diesem Ökosystem-Realismus wäre, Ökosysteme als beobachterabhängige Gegenstände zu begreifen, die in Abhängigkeit von wissenschaftlichen Theorien, von lebensweltlichen Wahrnehmungsmustern sowie von theoretischen und praktischen Interessen abgegrenzt werden, also einen ÖkosystemAntirealismus oder Ökosystem-Konstruktivismus zu vertreten. „Ecological units, like ecosystems, are sometimes seen as something that exists as such in nature, and thus has to be found and identified instead of being defined and delimited. This ontological approach to ecological units stands in contrast to a purely epistemological one, which perceives ecological units as abstractions an observer creates for the purposes of a specific task by selecting certain aspects from the whole of nature.“111 Einen ontologischen Realismus bezüglich Ökosystemen zu vertreten, setzt voraus, dass man Ökosysteme als Organismen oder zumindest als organismenähnliche Systeme begreift. Denn der ontologische Realismus erfordert die Annahme, dass Ökosysteme ein intrinsisches Prinzip der Einheit und damit auch der Abgrenzung besitzen. Dieses intrinsische Einheitsprinzip muss der funktionale Zusammenhang zwischen den Ökosystemkomponenten sein. Funktionale Einheiten, denen das Prinzip ihrer Einheit immanent ist, sind aber entweder Organismen oder organismenähnliche selbstorganisierende Systeme.112 Die bis in die 1980er Jahre weit verbreitete, ja sogar dominante Ansicht, dass vom Menschen unveränderte Ökosysteme Superorganismen oder eng integrierte selbstorganisierende Systeme sind, die durch jahrtausendelange koevolutionäre Prozesse entstanden sind, wird heutzutage in der miteinander stehen, die von diesen unabhängig sind. „a, b, and c and so on exist, and the fact that they exist and have properties such as F-ness, G-ness, and H-ness is (apart from mundane empirical dependencies of the sort sometimes encountered in everyday life) independent of anyone’s beliefs, linguistic practices, conceptual schemes, and so on.“ (Miller 2016: Introduction; vgl. Searle 1995: 155; Butchvarov 1999; Gethmann 2004) Einen ontologischen Realismus zu vertreten impliziert nicht, eine Korrespondenztheorie der Wahrheit zu vertreten, aber diese setzt jenen voraus (Searle 1995: 154), und Entsprechendes gilt für einen naturwissenschaftlichen Realismus (vgl. Fußnote 118 auf S. 84). 111 Jax 2006: 243 f. Vgl. McLaughlin 2001; Sterelny 2001; Kirchhoff 2007: 68-70; 2016a: 465; Jax 2007; 2010: 113-122; Kirchhoff/Voigt 2010: 190-192; Becker/ Breckling 2011. 112 Luhmann 1984: 55; Cheung 2000; Trepl 2005: 451-463; Kirchhoff 2007: 68-70, 80-89; 2012a: 163; Toepfer 2011b.

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Naturwissenschaft Ökologie – anders ist es im Naturschutz – jedoch praktisch nicht mehr vertreten bzw. sogar als widerlegt angesehen. „Until the past few years, the predominant theories in ecology either presumed or had as a necessary consequent a very strict concept of a highly structured, ordered, and regulated steady-state ecosystem. Scientists know now that this view is wrong at local an regional levels“ – so Daniel Botkin113 bereits im Jahr 1990. „In fact there is no such thing as an integrated, equilibrial, homeostatic ecosystem: It is a myth“ – so 2001 auch Robert O’Neill,114 ein prominenter früherer Vertreter solcher Theorien. In der Naturwissenschaft Ökologie „no one would now defend a view of functional organization of communities modeled on the functional organization of organisms“ – konstatieren 2008 die Wissenschaftstheoretiker James Maclaurin und Kim Sterelny.115 Statt organizistischer und mechanizistischer Gleichgewichtstheorien dominieren heutzutage individualistischinteraktionistische Ungleichgewichtstheorien fluktuierender Organisationsweisen und Artenzusammensetzungen von Biozönosen bzw. Ökosystemen.116 Die naturethische Konsequenz ist: „Der ökozentrische Gedanke von direkten moralischen Verpflichtungen gegenüber ‚natural wholes‘ als solchen erweist sich auch in seiner epistemologischen Dimension als abwegig.“117 Festzuhalten ist demnach: Selbst dann, wenn man einen ontologischen Realismus grundsätzlich für möglich hält, lässt er sich hinsichtlich Ökosystemen nicht vertreten, ohne den Forschungsstand der Naturwissenschaft Ökologie zu ignorieren. Damit ist aber auch das Argument des dritten potenziellen Einwandes hinfällig, man könne im Hinblick auf die intrinsischen Werte von Natur von ÖSD sprechen, obwohl Ökosysteme nicht der Gegenstand dieser Werte sind, weil die Biosphäre objektiv, als beobachterunabhängige Realität, aus Ökosystemen bestehe. 113 114 115 116

Botkin 1990: 9. O’Neill, R. V. 2001: 3276. Maclaurin/Sterelny 2008: 114; vgl. Sagoff 2013: 246. Zu Theorien einer balance of nature und ihrer Kritik siehe Egerton 1973; Jan­ zen 1985; Connell 1979; Pickett 1980; Botkin 1990; Steverson 1994: 79; O’Neill, R. V. 2001; Pigliucci/Kaplan 2000; Rohde 2005; Rozzi et al. 2009; Jelinski 2010; Sagoff 2013: 247 f.; Reichholf 2016: 33. Zur Charakterisierung und Kritik orga­ nizistischer Theorien siehe Trepl 1987: 139-158; Wilson 1992: 163 f.; Jax 2006: 243; Kirchhoff 2007: 204-240; 2014a: 101-103; 2014c: 225-230; 2015a: 176-183; 2016a: 465-467; Maclaurin/Sterelny 2008: 114-119; Sagoff 2013: 246 f.; Trepl/ Kirchhoff 2013: 15-21; Reichholf 2016: 32. 117 Ott 2011: 1211.

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Zugleich zeigt sich, dass innerhalb des ÖSD-Ansatzes offenbar, zumindest implizit, tatsächlich – und nicht nur als Voraussetzung des von mir formulierten vierten potenziellen Einwandes – ein ontologischer Realismus bezüglich Ökosystemen und zudem ein naturwissenschaftlicher Realismus118 bezüglich der Ökosystemtheorie vertreten wird, ein „biophysical realism of ecosystem data and models“.119 Dieser Realismus zeigt sich erstens darin, dass innerhalb des ÖSD-Ansatzes nicht davon gesprochen wird, dass Ökosysteme als funktionale Einheiten in Abhängigkeit von der jeweils betrachteten ÖSD abgegrenzt werden müssen. Davon muss man nur dann nicht sprechen, wenn man meint, die Biosphäre bestehe aus beobachterunabhängigen selbstreferenziellen funktionalen Einheiten, die die vorgegebenen Einheiten für die Erfüllung von Funktionen für Menschen sind. Andernfalls müsste man thematisieren, das Ökosysteme in Abhängigkeit vom jeweiligen Interesse als funktionale Einheiten abgegrenzt werden müssen.120 Zweitens zeigt sich der ontologische Realismus in der Annahme z. B. des MEA,121 die versorgenden, regulierenden und kulturellen ÖSD gründeten in sogenannten supporting services – womit letztlich nichts anderes behauptet ist als eine Selbstreproduktion beobachterunabhängig existierender Ökosysteme, die die Grundlage aller beobachterabhängigen ÖSD bilden.122 Drittens zeigt sich der ontologische Realismus in der Behauptung mancher Vertreter123 des ÖSD-Ansatzes, dass die Ausdrücke nature’s services 118 Mit (natur)wissenschaftlichem Realismus (scientific realism) meine ich die – mit einer Korrespondenztheorie der Wahrheit verbundene und einen ontolo­ gischen Realismus voraussetzende – Ansicht, dass es eine (natur)wissenschaft­ liche Erkenntnis der Realität gibt, die der beobachterunabhängigen Realität entspricht (Chakravartty 2016). 119 Seppelt et al. 2011: 1. 120 „Denn die Ökologie hat es mit einer Komplexität zu tun, die kein System ist, weil sie nicht durch eine eigene System/Umwelt-Differenz reguliert ist. (Die Begriffsbildung ‚ecosystem‘ verkennt diesen wichtigen Sachverhalt. Man sollte statt dessen lieber von eco-complex sprechen.) Eben darauf beruht die Schwierigkeit, in diesem Falle die Einheit der Vielheit zu begreifen; sie stellt sich nicht als selbstreferentielles System her, sondern wird erst durch Beobach­­ tung bzw. Eingriff konstituiert.“ (Luhmann 1984: 55, Klammersatz im Origi­ nal als Fußnote) Siehe hierzu die Unterscheidungen zwischen dispositionalen und ätiologischen Funktionen (siehe z. B. McLaughlin 2001) bzw. zwischen or­ ganizistischen und mechanizistischen Auffassungen von Ökosystemen (Kirch­ hoff/Voigt 2010: 190-192). 121 MEA 2005c: V f.; vgl. Costanza et al. 2017: 6. 122 Vgl. Lélé et al. 2013: 347. 123 Siehe z. B. Costanza et al. 2017: 2.

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und ecosystem services Synonyme seien. Denn diese Behauptung impliziert, dass Natur – wie auch immer sie von Menschen betrachtet oder für sie relevant wird – an und für sich ein Ökosystem ist bzw. aus an und für sich gegebenen Ökosystemen besteht. Einwand 4: Landschaftsästhetische Werte gründen in Ökosystemeigenschaften Den vierten potenziellen Einwand gegen meinen zweiten Kritikpunkt kann man idealtypisch so formulieren: Es sei einmal zugestanden, dass ästhetisch-symbolische Gegenstände und naturwissenschaftliche Gegenstände kategorial verschiedene Gegenstände mit inkommensurablen Eigenschaften sind. Und es sei auch zugestanden, dass dann, wenn es um die intrinsischen Werte von Natur geht, Natur nicht als funktionales Kausalsystem, nicht als Ökosystem, sondern als ästhetisch-symbolischer Gegenstand wahrgenommen wird. Es gilt aber: Die positiven oder auch negativen Emotionen und Beurteilungen, die mit der ästhetisch-symbolischen Wahrnehmung von Natur verbunden sind, lassen sich – insbesondere im Falle von Landschaften und Wildnisgebieten – auf deren biophysikalische Eigenschaften zurückführen. Diese biophysikalischen Eigenschaften werden am besten – nämlich objektiv und intersubjektiv nachvollziehbar – erfasst, wenn man Natur als Ökosystem konzeptualisiert. Demnach sind Ökosysteme zwar nicht der unmittelbare Gegenstand der intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur; sie sind jedoch derjenige Gegenstand, der betrachtet werden muss, um die letztendliche Basis dieser Werte wissenschaftlich exakt und nachvollziehbar zu erfassen. Deshalb ist es nicht nur möglich, sondern begrifflich konsequent, von kulturellen ÖSD zu sprechen. Dieser potenzielle Einwand setzt eine spezielle Variante von Naturästhetik voraus, nämlich eine funktionalistische Ästhetik, derzufolge ästhetische Urteile wie „ist schön“ letztlich Urteile über die Funktionalität von Gegenständen sind. „The basic idea of Functional Beauty is that a thing’s function being integral to its aesthetic character. Expressed slightly differently, the idea is that of a thing’s aesthetic qualities emerging from its function or something closely related to its function, such as its purpose, use, or end.“124 Diese 124 Parsons/Carlson 2008: 2.

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Funktionalität kann entweder als objektive äußere Zweckmäßigkeit, das heißt Nützlichkeit (etwa eines Stuhls zum Sitzen), oder als objektive innere Zweckmäßigkeit, das heißt als Eignung der Organisationsweise des Gegenstandes (etwa eines Organismus) im Hinblick auf seinen Selbstzweck (der Selbsterhaltung und Reproduktion) bestimmt werden.125 Beide Varianten funktionalistischer Ästhetik finden sich in der Naturästhetik und sollen im Folgenden anhand einflussreicher Theorievarianten diskutiert werden, die erste Theorievariante anhand des evolutionären Intuitionismus, die zweite anhand des szientifischen Kognitivismus. Der evolutionäre Intuitionismus (evolutionary intuitionism) ist eine evolutionäre Ästhetiktheorie,126 weil er davon ausgeht, dass die grundlegenden ästhetischen Intuitionen des Menschen sich in seiner Phylogenese durch natürliche Selektion vor Tausenden von Jahren ausgebildet haben und bis heute prägend geblieben sind. „The idea lying behind this view is that the pleasures that underlie aesthetic judgements have evolved because they have played some role in adapting humans to their environment, either by playing a role in finding healthy mates, thereby ensuring reproductive success, or by directly promoting survival, for example, by making safe habitats seem attractive and healthy food seem delicious.“127 Unsere grundlegenden ästhetischen Intuitionen sind demnach adaptive Präferenzen. Mit Blick speziell auf ästhetische Urteile über Landschaften wird nun angenommen, dass noch heute solche Gegenden intuitiv als schön empfunden werden, die früher, als die Menschen noch als Jäger und Sammler lebten, besonders vorteilhaft für ihr Überleben waren. Der evolutionäre Mechanismus für die Selektion dieser Intuition sei gewesen, dass „natural selection should have favored individuals [of hunter-gatherers] who were motivated to explore and settle in environments likely to afford the necessities of life but to avoid environments with poorer resources or posing

125 Zur Unterscheidung dieser beiden Formen objektiver Zweckmäßigkeit so­ wie ihrer Abgrenzung von subjektiver formaler Zweckmäßigkeit siehe Kant [1790/1793] 1996: §§ 61-63; vgl. Tonelli 1957/1958; Kirchhoff/Trepl 2009a: 25 f. 126 Ausführlich zur evolutionären Ästhetik siehe Bourassa 1991; Thornhill 1998; O’Hear 1999, chapter 7; Dutton 2003; Voland/Grammer 2003b, daraus insb. Ruso et al. 2003; Paden et al. 2012. 127 Paden et al. 2012: 134; vgl. Bourassa 1991: 26.

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higher risks“.128 Diese bevorzugten Habitate seien die afrikanischen Savannen gewesen – so behauptet es die prospect-and-refugeTheorie von Jay Appleton129 und ebenso die Savannen-Theorie von Gordon Orians,130 derzufolge die Menschen evolvierte Präferenzen für Habitate mit solchen Eigenschaften haben, die charakteristisch waren für die hochqualitativen tropischen afrikanischen Savannen, in denen die Menschen sich ursprünglich evolutionär entwickelt haben. Deshalb präferierten wir noch heutzutage Gegenden, die diesen Savannen ähnlich sehen, das heißt parkähnliche Landschaften mit einem Wechsel von Gehölzen und Offenlandbiotopen. Auf der Basis dieses evolutionären Intuitionismus ist es grundsätzlich möglich, begründet anzunehmen, was das dritte potenzielle Einwand voraussetzt: nämlich dass biologische Konzeptualisierungen von Natur die naturästhetisch entscheidenden Eigenschaften erfassen.131 Denn in dieser Perspektive ist der Mensch ein biologischer Organismus in einer biophysikalischen Umwelt und seine naturästhetischen Präferenzen sind etwas, das der Mensch erworben hat, insofern er ein Teil der Natur gewesen ist. Dennoch lässt sich der dritte potenzielle Einwand durch den evolutionären Intuitionismus nicht hinreichend stützen, weil dieser äußerst fragwürdig ist und, wenn überhaupt, Erklärungskraft nur für einen sehr kleinen Teil landschaftsästhetischer und anderer intrinsischer Werte von Natur besitzt. Gegen den evolutionären Intuitionismus ist insbesondere einzuwenden: (a) Unsere Vorfahren sind keineswegs alle in den Savannenlandschaften Afrikas phylogenetisch geprägt worden. Dort haben zwar wahrscheinlich die ersten Menschen gelebt (Out-ofAfrica-Theorie), aber auch nach der Ausbreitung des Menschen von dort in andere Erdgegenden sind noch weitere evolutionäre Prägungen erfolgt. (b) Selbst dann, wenn bis heute eine universelle phylogenetische Prägung der ästhetischen Intuitionen des Menschen durch Savannenlandschaften bestehen sollte, besitzt diese Prägung doch für die heutigen spezifischen naturästhetischen Urteile nur sehr geringe Erklärungskraft. Insbesondere nicht erklären lässt sich so die erhebliche Diversität naturästhetischer Ideale, die sowohl intra- als auch interkulturell besteht – z. B. dass nicht nur savannen128 129 130 131

Orians/Heerwagen 1992: 557, mit Verweis auf Orians 1980; 1986. Appleton 1975; 1984. Orians 1980; 1986; Orians/Heerwagen 1992; Heerwagen/Orians 1993. Vgl. Kleeberg 2003: 153 f.

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artige Kulturlandschaften, sondern auch Gebirge und wilde Wälder wertgeschätzt werden.132 Insbesondere nicht erklären lassen sich so auch die immer wieder und oftmals relativ kurzfristig erfolgten Wandlungen dominanter naturästhetischer Ideale, wofür der Übergang vom Ideal des Barockgartens zu dem des Landschaftsgartens ein ebenso eklatantes Beispiel ist wie der Bedeutungswandel der Lüneburger Heide von einer üblen zu einer geliebten Kulturlandschaft und die Umdeutung der Gebirge von ‚Orten des Schreckens‘ zu ‚Orten der Sehnsucht‘.133 Nicht nur für den evolutionären Intuitionismus, sondern generell für alle evolutionären Naturästhetiken ist festzuhalten: „Nun mag es zwar durchaus angeborene Referenzmuster geben, die für die menschliche Naturwahrnehmung von Bedeutung sind – historischen Wandel und kulturelle Besonderheiten ästhetischer Vorlieben können sie freilich nicht erklären.“134 Beides ist hingegen sehr gut erklärbar mit kulturalistischen Ästhetiktheorien, denen zufolge kulturell geprägte Wahrnehmungs- und Deutungsmuster die entscheidende Basis unserer ästhetisch-symbolischen Naturwahrnehmungen bilden:135 Die Haupteinflussfaktoren für ästhetische Urteile sind nicht natürliche Prägungen, sondern im Laufe der Sozialisation erworbene überindividuelle kulturelle Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, zu denen in der individuellen Lebensgeschichte erworbene persönliche Muster hinzukommen; „the foci of cultural and social valuation [of nature …] are rooted in individuals and at the same time are shaped by the social and cultural context in which individuals are embedded“.136 Erforderlich ist demnach „a tripartite framework of biological, cultural and personal modes of aesthetic experience as a fundamental organization of the 132 Zu intrakulturellen Differenzen in der Wahrnehmung von Landschaft und Wildnis siehe z. B. Eisel 1982; 2004; Kirchhoff/Trepl 2009a; Kirchhoff 2011a; 2014b; Kirchhoff/Vicenzotti 2014; 2017; Siegmund 2011; Trepl 2012c; BMUB/ BfN 2014, vgl. Martín-López et al. 2012. Zu interkulturellen Differenzen siehe z. B. Zube/Pitt 1981; Kaplan/Herbert 1987; Kaplan/Talbot 1988; Ver­ schuuren 2006; Buijs et al. 2009; Drexler 2009; 2010; Özgüner 2011. 133 Zur Veränderung von Gartenidealen siehe Buttlar 1989; Siegmund 2009; 2011. Zum Bedeutungswandel der Lüneburger Heide siehe Kapitel 4.4, S. 61 f. Zum Bedeutungswandel von Wildnis siehe Kapitel 4.5, S. 69-72. 134 Kleeberg 2003: 177. Vgl. Bourassa 1991: XIV f.; O’Hear 1999, chapter 7; Trepl 2012d; vgl. allgemein anthropologisch Mohensi/Quante 2017: 250. Siehe aber Kellert/Wilson 1993; Voland/Grammer 2003a. 135 Siehe dazu die Literatur, die in diesem Kapitel in den Fußnoten 7 f., 14, 25, 29, 37, 51, 78 f., 88, 132 und 137 benannt ist. 136 IPBES 2015: 39, mit Verweis auf Turnley et al. 2008.

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subject of landscape aesthetics.“137 Phylogenetisch determiniert sind nur die Grenzen des Möglichkeitsraums der kultur- und individualgeschichtlich entstandenen naturästhetischen Wahrnehmungen und symbolischen Bedeutungen. Diese Kritik am evolutionären Intuitionismus trifft auch die einflussreiche Weiterentwicklung der prospect-and-refuge-Theorie von Appleton zur information-processing-Theorie der Psychologen Rachel und Stephen Kaplan:138 Gemäß deren Theorie ist neben der physischen Struktur der Umwelt auch die spezifische Weise der Verarbeitung der Informationen über die Umwelt durch den menschlichen Verstand eine wesentliche Bestimmungsinstanz für landschaftsästhetische Präferenzen. Weil es so gewesen sei, „[that] man gained his selective advantage in a difficult and dangerous world in large part through the development of quick and efficient mechanisms for handling information“,139 seien phylogenetische Präferenzen für Umwelten entstanden, die den Menschen zur Informationsbeschaffung anregen und diese erleichtern – denn in solchen Umwelten konnten die Menschen früher im Überlebenskampf gegenüber Tieren besonders gut Vorteile erringen. Präferiert würden deshalb bis heute Umwelten, die den beiden Grundbedürfnissen menschlicher Informationsbeschaffung (basic informational needs) genügen: einerseits dem Bedürfnis nach Verstehen und Orientierung durch die Eigenschaften Kohärenz und Lesbarkeit, andererseits dem Bedürfnis nach Erkundung durch die Eigenschaften Komplexität und Mysteriosität. Gemäß dieser Analyse des evolutionären Intuitionismus kann man den vierten potenziellen Einwand gegen meinen zweiten Kritikpunkt – also den Einwand, dass Ökosysteme zwar zugestandenermaßen nicht der unmittelbare Gegenstand der intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur sind, aber doch derjenige Gegenstand, der betrachtet werden muss, um deren letztendliche Basis wissenschaftlich exakt und nachvollziehbar zu erfassen – nicht durch den evolutionären Intuitionismus fundieren, weil dieser kein hinreichendes Erklärungspotenzial für die intrinsischen Werte von Natur besitzt.

137 Bourassa 1991: XV. Vgl. Dearden 1989; Greider/Garkovich 1994: 5-7; O’Hear 1999: VII; Hunziker 2000; 2010; Jacobsen 2010: 184; Muhar et al. 2017. 138 Kaplan 1973; Kaplan/Kaplan 1989: insb. 49-57. 139 Kaplan 1973: 63.

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Zu prüfen ist nun noch, ob sich der vierte potenzielle Einwand gegen meinen zweiten Kritikpunkt durch den szientifische Kognitivismus (scientific cognitivism) fundieren lässt. Dieser wird insbesondere von Allen Carlson vertreten.140 Carlsons szientifischer Kognitivismus basiert auf einer funktionalistischen Ästhetiktheorie, die objektive innere Zweckmäßigkeit als Prinzip von Schönheit ansieht, wohingegen der evolutionäre Intuitionismus auf objektive äußere Zweckmäßigkeit referiert: „[O]ur conception of Functional Beauty holds to an ‚internal‘ relationship between function and aesthetic appreciation. It is not merely that certain of [e. g.] the cheetah’s features are attractive, and also happen to be functional. Rather, certain of its features are attractive, in part, because they possess a particular function. […] It is in this sense that Functional Beauty, in our sense, ‚emerges out of‘ the function of the object.“141 In dem Maße, in dem ein Naturphänomen funktional integriert ist, eine harmonische, in sich differenzierte Funktionseinheit darstellt, in dem Maße hat es, so Carlson, auch positive ästhetische Qualitäten.142 Das Maximum funktionaler Integrität und das Maximum ästhetischer Qualität fallen zusammen: „An object is aesthetically good in virtue of having formal qualities such as unity and balance – or more sophisticated variations such as ‚organic unity‘ or ‚variety in unity‘“.143 Weil dies so sei, könne, ja müsse sich die Beurteilung der ästhetischen Qualität von Naturphänomenen auf die Erkenntnis ihrer Funktionalität stützen (cognitivism); „given an object-focused approach [to natural beauty] together with the fact that these [natural] things are functional things, what is absolutely necessary for and central to their appropriate aesthetic appreciation is information about their functions.“144 Mit dem Argument, dass nur die Naturwissenschaften das erforderliche Wissen über die Funktionalität von Naturphänomenen liefern könnten, leitet Carlson die Notwendigkeit eines ästhetiktheoretischen szientifischen Kognitivismus ab: „The account of the appropriate aesthetic appreciation of nature 140 Carlson 1979; 1984; 1995; 2000; 2008; 2012; Parsons/Carlson 2008. Zur Be­ schreibung und Interpretation von Carlsons szientifischem Kognitivismus vgl. Stecker 1997; Brady 2003: 79, 87-93; Paden et al. 2012. Weitere Vertreter eines szientifischen Kognitivismus sind Holmes Rolston III, Glenn Parsons und Ma­ rica Eaton (Brady 2003: 79, 87, 92). 141 Parsons/Carlson 2008: 123. 142 Paden et al. 2012: 137; Davies 2010. 143 Carlson 2000: 29. 144 Ebd.: 134.

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suggested here can be elaborated as follows: first, as in the case of art, the aesthetic qualities natural objects and landscapes appear to have depend on how they are perceived. […] Second, as in art appreciation, […] to appropriately appreciate the [natural] objects or landscapes in question aesthetically – to appreciate their grace, majesty, elegance, charm, cuteness, delicacy, or ‚disturbing weirdness‘ – it is necessary to perceive them in their correct categories. This requires knowing what they are and knowing something about them – in the cases in question, something about biology and geology. In general, it requires the knowledge given by the natural sciences.“145 „For example, awareness and understanding of evolutionary theory is relevant to appreciating the natural order as revealed in flora and fauna; without such knowledge the biosphere may strike us as chaotic.“146 Oder: „For example, in appreciating a natural environment such as an alpine meadow, it is important to know […] that it survives under constraints imposed by the climate of high altitude. With such knowledge comes an understanding that diminutive size in flora is an adaptation to such constraints. [… Without such knowledge] we might neither appreciatively note their remarkable adjustment to their situation nor attune our senses to their subtle fragrance, texture, and hue.“147 Nach Carlson muss also eine durch naturwissenschaftliche Kenntnisse fundierte ästhetische Beurteilung der normative Standard für die ästhetische Beurteilung von Naturphänomenen sein: „[W]e must appreciate nature in light of our knowledge of what it is, that is, in light of knowledge provided by the natural sciences, especially the environmental sciences such as geology, biology, and ecology.“148 Oder, wie Glenn Parsons zustimmend die Ansicht Carlsons wiedergibt: „Scientific cognitivism is a normative thesis about aesthetically appreciating nature: nature must be aesthetically appreciated using, or with reference to, scientific information about it and its parts. […] That is, we appreciate nature’s aesthetic qualities in the proper manner in so far as we aesthetically appreciate it in light of scientific knowledge.“149 Gefordert wird, dass bei Naturphänome-

145 Ebd.: 89 f. 146 Ebd.: 120; vgl. Parsons 2007: 359 f. 147 Carlson 2000: XIX f. Vgl. die Beschreibung dieses Beispiels in Parsons 2007: 359 f. 148 Carlson 2000: 6. 149 Parsons 2002: 279.

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nen die Norm der evolutionsbiologisch und ökologisch erkennbaren Geschichte und Funktionsweise an die Stelle der für Kunstwerke gültigen Norm der Kunstgeschichte treten muss.150 Dabei schreibt Carlson der Ökologie eine entscheidende Rolle zu, weil „ecology not only is in certain respects all encompassing, but also puts considerable emphasis on qualities such as unity, harmony, and balance – ones we find particularly aesthetically good.“151 Weil Natur in ihrem ursprünglichen, vom Menschen unveränderten Zustand diese funktionalen Qualitäten aufweise, sei es ihr wesentlich, schön bzw. ästhetisch gut zu sein: „All virgin nature, in short, is essentially aesthetically good.“152 Im Hinblick auf den hier zu prüfenden vierten Einwand gegen meinen zweiten Kritikpunkt lässt sich diese Schlussfolgerung zur Rolle der Ökologie – wohl im Sinne von Carlson – so weiterentwickeln: Die Analysen der Naturwissenschaft Ökologie münden, weil Organismen nicht isoliert voneinander existieren, in die Analyse von ökologischen Gesellschaften bzw. Biozönosen. Diese münden, weil Biozönosen in Wechselwirkung mit einer abiotischen Umwelt existieren, in die Analyse von Ökosystemen. Die ultimative Referenz für ästhetische Urteile bzw. Schönheit ist also das Wissen der Ökosystemtheorie, und deren Gegenstand sind Ökosysteme im Sinne der Definition des ÖSD-Ansatzes. Demnach wäre mein zweiter Kritikpunkt, dass die Gegenstände der intrinsischen Werte von Natur keine Ökosysteme seien, als hinfällig, ja sogar als kontraproduktiv erwiesen – aber nur unter der Voraussetzung, dass Carlsons szientifischer Kognitivismus schlüssig ist und eine hinreichende Erklärungskraft für das gesamte Spektrum der intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur besitzt. Beides ist jedoch nicht der Fall.153 (1) Carlson bestimmt funktionale bzw. ästhetische Einheit sowie Harmonie bzw. Gleichgewicht als zentrale Qualitäten von Naturobjekten, die sich durch objektive innere Zweckmäßigkeit und deshalb durch Schönheit auszeichnen. „An object is aesthetically good in virtue of having formal qualities such as unity and balance – or more sophisticated variations such as ‚organic unity‘ or ‚variety in 150 151 152 153

Brady 2003: 72, mit (kritischem) Bezug auf Carlson 2000: 120. Carlson 2000: 95. Carlson 1984: 5; gleichlautend Carlson 2000: 72. Zu weiteren Kritikpunkten an Carlsons szientifischem Kognitivismus siehe Stecker 1997; Brady 2003: 93-102; Paden et al. 2012.

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unity‘“.154 Dass individuelle Organismen eine solche Organisationsweise besitzen ist praktisch unstrittig. Dass aber biologische Gesellschaften oder Biozönosen bzw. Ökosysteme eine solche Organisationsweise besitzen, das wird – wie ich in der Erwiderung auf den dritten Einwand bereits ausgeführt habe – in der Naturwissenschaft Ökologie jedoch seit einigen Jahrzehnten praktisch nicht mehr vertreten bzw. sogar als widerlegt angesehen. Carlsons szientifischem Kognitivismus liegt also eine nicht mehr aktuelle Auffassung von der ökologisch-evolutionären Selbstorganisation von Natur zugrunde.155 (2) Carlsons szientifischer Kognitivismus setzt eine funktionalistische Ästhetiktheorie voraus, der zufolge objektive innere Zweckmäßigkeit das letztlich entscheidende und einzig zulässige Kriterium für ästhetische Qualität ist. Und er setzt voraus, dass dieser ästhetische Funktionalismus es erlaubt, das gesamte Spektrum ästhetischer Naturerfahrungen angemessen zu erfassen. Für diese Voraussetzung liefert Carlson jedoch keine Argumente.156 Deshalb ist ein Ausschließlichkeitsanspruch für den szientifischen Kognitivismus unzulässig angesichts der Tatsache, dass es eine Vielzahl unterschiedlicher naturästhetischer Erfahrungen gibt (einige davon habe ich in den Kapiteln 4.1 bis 4.5 behandelt), für die diejenigen, die sie machen, nicht den subjektiven Eindruck haben, sich dabei auf naturwissenschaftliches Wissen (über objektive innere Funktionalität) zu beziehen. „By making science a necessary condition, all the [scientific] cognitive theories […] are too restrictive on the range of aesthetic appreciations that are considered reasonable.“157 154 Carlson 2000: 29. Siehe auch Carlsons zahlreiche, wenngleich nicht immer un­ eingeschränkt affirmativen Verweise auf Autoren wie George Perkins Marsh: „Here Marsh develops two hypotheses – that ‚nature left alone is in harmony‘ and that humanity is ‚the great disturber of nature’s harmonies‘“ (ebd.: 73, mit wörtlichen Zitaten aus Marsh 1864) und Holmes Rolston III: „Ecological de­ scription finds unity, harmony, interdependence, stability, etc.“ (Carlson 2000: 87, der hier wörtlich zitiert aus Rolston III 1975: 100) 155 Vgl. Paden et al. 2012: insb. 128, 133; Simus 2008, der allerdings an einem – gegenüber dem von Carlson veränderten – szientifischen Kognitivismus fest­ halten will. 156 Carlsons (2000: 42-51) Ausschluss dessen, was er das „object model“ und das „landscape model“ der Naturästhetik nennt (und an deren Stelle sein „natural environmental model“ treten soll), ist nicht schlüssig (Stecker 1997: 394-396; Brady 2003: 94 f.). Selbst dann, wenn sie es wäre, würde sie keinen Ausschließ­ lichkeitsanspruch des ästhetischen Funktionalismus rechtfertigen. 157 Brady 2003: 99 f. Vgl. Stecker 1997: 393 f., 398 f.

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Und dieser Ausschließlichkeitsanspruch ist auch unzulässig angesichts einer Vielzahl anderer naturästhetischer Theorien, die für solche naturästhetischen Erfahrungen plausible Interpretationen anbieten. Dabei ist sowohl an kognitivistische nicht-szientifische Naturästhetiken zu denken, die etwa auf Wissen um kulturelle Symboliken und Ideale rekurrieren – „when the knowledge gives natural things a ‚meaning‘, i. e. a significance to us“158 –, als auch an nicht-kognitivistische Naturästhetiken.159 Exemplarisch genannt für diese beiden Alternativen seien Martin Seels160 Naturästhetik mit ihrer analytischen Unterscheidung kontemplativer, imaginativer und korresponsiver Naturauffassungen, Emily Bradys Naturästhetik, derzufolge „we draw on associations, imagination and emotion, and non-scientific information in interpretation“,161 wenn wir Natur wahrnehmen, sowie Ludwig Trepls162 Theorie der Landschaft, die Landschaft als ästhetisch-symbolischen Gegenstand bestimmt, dessen Wahrnehmung maßgeblich durch kulturell geprägter Landschaftsideale bestimmt wird. Und dieser Ausschließlichkeitsanspruch eines szientifischen Kognitivismus ist auch unzulässig angesichts der Tatsache, dass sich durch ihn die intra- und interkulturelle Diversität von Naturwahrnehmungen nicht oder allenfalls mit gewagten Zusatzhypothesen über die Verbreitung und ästhetische Wirksamkeit naturwissenschaftlichen Wissens erklären lässt. Kurzum: Eine Engführung auf einen szientifischen Kognitivismus ist in der Naturästhetik nicht zu rechtfertigen, stellt einen ungerechtfertigten szientifischen Naturalismus dar. Stattdessen ist ein critical pluralism163 naturästhetischer Theorien erforderlich. Damit wird deutlich, dass die Engführung auf „Ökosysteme“ als Gegenstand ästhetischer Naturerfahrungen oder gar als Gegenstand aller intrinsischen Werte von Natur nicht gerechtfertigt ist.

158 Stecker 1997: 400. 159 Zur Unterscheidung kognitivistischer Naturästhetiken, die szientifisch oder nicht-szientifisch sein können, und nicht-kognitivistischer Naturästhetiken siehe z. B. Brady 2003: 86-119. 160 Seel 1991; zusammenfassend Siegmund 2012: 92-100; Schlette 2017: 192 f. Zu Seels Charakterisierung kontemplativer Naturauffassungen siehe Kapitel 6.1, S. 124. 161 Brady 2003: 72; vgl. ebd.: 146-186. 162 Trepl 2012c. 163 Brady 2003: 80.

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Somit erweist sich auch der vierte potenzielle Einwand gegen meinen zweiten Kritikpunkt als nicht haltbar. Denn die entscheidende Behauptung dieses Einwandes – dass Ökosysteme zwar nicht der unmittelbare Gegenstand der intrinsischen Werte von Natur sind, aber doch derjenige Gegenstand, der betrachtet werden muss, wenn diese Werte wissenschaftlich exakt und nachvollziehbar erfasst werden sollen – hat keinen Bestand. Diese Behauptung ist weder durch einen evolutionären Intuitionismus noch durch einen szientifischen Kognitivismus zu rechtfertigen, weil beide Theorien – wenn überhaupt – jeweils nur für kleine Teilbereiche der intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur angemessene Erklärungen zu geben vermögen.

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5. Kritikpunkt 3: Kein umfassender ko-produktiver Beitrag von Ökosystemen

Im vorangehenden Kapitel habe ich meinen zweiten Kritikpunkt entwickelt, dem zufolge das Konzept der kulturellen ÖSD unangemessen, ja begrifflich falsch ist, weil Ökosysteme nicht der Gegenstand der intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur sind. In diesem Kapitel soll geprüft werden, ob sich das Konzept der kulturellen ÖSD trotz dieses Kritikpunktes rechtfertigen lässt mit dem folgenden Argument: Ökosysteme sind zwar nicht der Gegenstand dieser intrinsischen Werte von Natur, sie leisten aber doch einen wesentlichen Beitrag zu diesen Werten. Diese mögliche Rechtfertigungsstrategie für das Konzept der kulturellen ÖSD betrachte ich nicht von ungefähr. Der Hintergrund ist eine immanente Kritik an der im ÖSD-Ansatz vorherrschenden Definition von (kulturellen) ÖSD, die wohl zuerst von den Ökonomen James Boyd und Spencer Banzhaf1 auf den Punkt gebracht wurde: ÖSD werden, z. B. im MEA, definiert als die Vorteile (benefits), die Menschen von Ökosystemen erhalten. Diese Vorteile basieren jedoch, vor allem im Falle kultureller ÖSD, nicht nur auf Prozessen und Strukturen von Ökosystemen, sondern es gehen auch nichtökologische Faktoren ein – und damit führt die übliche Definition zu einer falschen Berechnungsgrundlage für ÖSD: „Consider, for example, the benefits of recreational angling. Angling requires ecosystem services, including surface waters and fish populations, and other goods and services including tackle, boats, time allocation, and access. For this reason, angling itself – or ‚fish landed‘ – is not a valid measure of ecosystem services.“2 Um diesen Fehler zu beseitigen, fordern Boyd und Banzhaf, dass „ecosystem services should be isolated from nonecological contributions to final goods and services.“3 1 Boyd/Banzhaf 2007; vgl. Fisher/Turner 2008: 1167 f.; Chan et al. 2012a: 744 f.; 2012b: 9-13. 2 Boyd/Banzhaf 2007: 619; vgl. ebd.: insb. 621, 623, 625. 3 Boyd/Banzhaf 2007: 625.

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Kritikpunkt 3: Geringer koproduktiver Beitrag

Diese immanente Kritik an der Definition von (kulturellen) ÖSD mündete zum einen in begriffliche Unterscheidungen zwischen services und benefits – so z. B. bei Kai Chan et al.: „Benefits, as valued goods and experiences […]. Services, as the ecosystem processes underpinning benefits“4 – und in die Forderung, ÖSD nicht als „the benefits people obtain from ecosystems“5, sondern als „the contributions of ecosystems to benefits“6 oder als „the direct and indirect contributions of ecosystems to human well-being“7 zu definieren. Zum anderen führte sie – vielleicht in Anlehnung an Ko‑Produktions-Konzepte eines neueren dienstleistungsorientierten statt warenorientierten Marketing-Paradigmas8 – zu Ansätzen, die versuchen, ÖSD und insbesondere kulturelle ÖSD als Ergebnisse einer Interaktion bzw. Ko‑Produktion von Ökosystemen und sozialen Systemen zu konzeptualisieren,9 was mit einer Betonung der Kultur- und Kontextabhängigkeit kultureller ÖSD einherging.10 Diese modifizierte Definition von (kulturellen) ÖSD und der Ansatz, kulturelle ÖSD als Ko‑Produktionen von Ökosystemen und sozialen Systemen zu begreifen, stellen meines Erachtens wichtige Verbesserungen innerhalb des ÖSD-Ansatzes dar. Diese beiden Verbesserungen erweisen das Konzept der kulturellen ÖSD jedoch nicht ‚automatisch‘ als gerechtfertigt. Ob dieses Konzept innerhalb eines in diesen beiden Punkten modifizierten ÖSD-Ansatzes gerechtfertigt wäre,11 hängt vielmehr davon ab, ob Ökosystemprozesse und -strukturen tatsächlich einen wesentlichen ko‑produktiven Beitrag zu den intrinsischen Werten von Natur leisten. Entsprechend haben Daniel et al.,12 die das Konzept der kulturellen ÖSD nicht kritisieren, sondern besser in den ÖSD-Ansatz integrieren wollen, als Bedingung benannt: „[S]ome significant contribution from ecological

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Chan et al. 2012b: 10. MEA 2005c: V, 40. SEEA 2014: 14, im Original vollständig kursiv. TEEB 2010, chapter 1: 19. Vargo/Lusch 2004; Stauss 2005. Siehe z. B. Chan et al. 2011; 2012b; Daniel et al. 2012a; Casado-Arzuaga et al. 2014: 1394; Fischer, A./Eastwood 2016; Fish et al. 2016b; Palomo et al. 2016; Raymond et al. 2017. 10 Siehe z. B. Daniel et al. 2012a: 8814, mit Verweis auf Verschuuren 2006; MartínLópez et al. 2012; Hernández-Morcillo et al. 2013: 436; Church et al. 2014: 22 f. 11 Ich sage „wäre“, weil diese beiden Modifikationen sich innerhalb des ÖSD-An­ satzes (noch) nicht durchgesetzt haben. 12 Daniel et al. 2012a: 8813.

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structures and/or functions, however indirect, is required if cultural benefits are to be attributed as an ecosystem service.“ Ob und gegebenenfalls in welchem Sinne und Ausmaß diese Bedingung erfüllt ist, soll im Folgenden für verschiedene Typen von Naturphänomenen untersucht werden: unbelebte Naturphänomene (5.1), einzelne Lebewesen (5.2), Kulturlandschaft (5.3) und Wildnis (5.4).

5.1 Kein Beitrag von Ökosystemen bei vielen unbelebten Naturphänomenen Zu den Naturphänomenen, die Menschen wegen ihrer ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen wertschätzen, gehören auch unbelebte Naturphänomene. Damit meine ich – vergleiche Kapitel 4.1 – Naturphänomene, bei deren Wahrnehmung unbelebte Bestandteile bei Weitem im Vordergrund stehen, auch wenn es belebte Bestandteile geben mag. Zur Existenz vieler – und wohl der meisten ästhetisch-symbolisch wichtigen – unbelebten Naturphänomene tragen Ökosysteme nichts oder zumindest nichts Wesentliches bei. Berggipfel, Wasserfälle, Schluchten, Wüsten usw. sind nicht Produkte ökologischer oder ökosystemarer Prozesse, sondern Produkte geologischer und hydrologischer Prozesse. Entsprechendes gilt auch für Meere, Seen und Flüsse, sofern ihre intrinsischen Werte darin gründen, dass ihre Wasseroberfläche betrachtet wird und nicht die Lebewesen im Wasserkörper.13 Denn diese Wasserkörper werden in der Regel nicht von Ökosystemen produziert (eine Ausnahme sind z. B. durch Biberdämme aufgestaute Bäche). Und die ästhetische Beschaffenheit der Wasseroberfläche hängt vor allem ab von den physikalischen Eigen­ schaften des Wassers, von der Sonneneinstrahlung, von der Bewölkung und von den Windverhältnissen. Ein begrenzter Einfluss ökosystemarer Prozesse besteht aber z. B. darin, dass sich die Wasserfarbe mit dem Gehalt an Phytoplankton verändert.14 Allerdings 13 Vgl. Kapitel 4.1, S. 49 f., sowie Seels (1991) naturästhetische Analysen eines Blicks auf bzw. über den Bodensee. 14 Zu solchen Veränderungen siehe Siegel 2008, zu ihrer naturästhetischen Rele­ vanz Stedman 2003.

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ist der ökosystemare Prozess des Algenwachstums eher abträglich für die ästhetische Qualität, weil klares Wasser in der Regel mit Natürlichkeit assoziiert und positiver bewertet wird als durch Phytoplankton getrübtes und gefärbtes Wasser. Somit liegt in diesem Fall kein ecosystem service, sondern ein ecosystem disservice vor.15 Von einem Beitrag von Ökosystemen kann man allerdings bei biogenen16 unbelebten Naturphänomene wie Totholz und Muschelkalk sprechen – jedoch nur mit zumindest zwei Einschränkungen. Erstens muss man die Entstehung biogener unbelebter Naturprodukte nicht ökosystemtheoretisch konzeptualisieren; man kann sie, darauf gehe gleich anhand von Lebewesen ein, auch autökologisch konzeptualisieren. Zweitens haben biogene unbelebte Naturprodukte ihre ästhetisch-symbolisch relevante Form nicht als Produkte von Ökosystemen erhalten, sondern als Resultat geologischer und hydrologischer Prozesse, z. B. Kalksteinformationen oder Strände aus Kalksand. Dass es sich nicht um rezente, sondern um fossile Produkte von Ökosystemen handelt, scheint mir hingegen kein triftiger Einwand zu sein. Festzuhalten ist demnach: In vielen Fällen gibt es keinen positiven Beitrag von Ökosystemen zur Existenz unbelebter Naturphänomene, die intrinsische Werte für Menschen haben.

5.2 Ökologische Prozesse sind nicht konstitutiv für intrinsische, nicht-instrumentelle Werte, (re-)produzieren aber deren belebte Träger Die Existenz belebter Naturphänomene, einzelner Lebewesen, resultiert wesentlich aus natürlichen biologischen Prozessen. Das gilt auch dann noch, wenn kulturelle Prozesse wie Tierhaltung, Züchtung und gentechnische Veränderung, anthropogene Habitatveränderung usw. eine Rolle spielen. Für die meisten Arten von Lebewesen gilt zudem, dass sie sich nur aufgrund ökologischer Interak-

15 Zum Konzept der ecosystem disservices siehe McCauley 2006: 27; Zhang et al. 2007; Döhren/Haase 2015; Shackleton et al. 2016. 16 Vgl. die in der Ökologie übliche Unterscheidung zwischen biotischen und abio­ tischen Umweltfaktoren (siehe z. B. Trepl 2005: 169 f.).

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tionen mit anderen Arten von Lebewesen reproduzieren können,17 sodass man von einem wesentlichen Beitrag von Ökosystemprozessen zu ihrer Existenz sprechen kann. Relativierend ist jedoch hinzuzufügen, dass man die Reproduktion von Lebewesen zwar ökosystemtheoretisch konzeptualisieren kann, aber nicht muss. Man kann sie auch autökologisch-organismenzentriert begreifen, indem man von der fraglichen Art von Lebewesen ausgeht und ermittelt, was alles zu ihrer biotischen und abiotischen Umwelt gehört, das heißt, was ihre Existenz ermöglicht oder beeinträchtigt und ihre Eigenschaften und Existenzweise verändert. Dieser autökologisch-organismenzentrierte Ansatz ist sogar angemessener als der ökosystemtheoretische, wenn es um die Existenz bestimmter Arten von Lebewesen geht. Er geht nämlich definitionsgemäß von einzelnen Arten aus.18 Demgegenüber untersucht der ökosystemtheoretische Ansatz funktionale Systeme von Stoff- und Energieflüssen, in denen verschiedene funktionale Untereinheiten unterschieden werden, wobei alle Arten, die dieselbe Funktion erfüllen können, als durcheinander ersetzbar und Arten ohne nennenswerten aktuellen oder potenziellen funktionalen Beitrag als verzichtbar gelten; „the individual species are not of concern as such (in terms of their taxonomic identity), but only with respect to their function within the system, i. e. their role for the proper performance of the ecosystem process in focus.“19 Bei den intrinsischen Werten von Natur geht es aber nicht um solche funktionalen Beiträge von Arten und zumeist um bestimmte, nicht durch andere Arten ersetzbare Arten – was der Schutz sogenannter ikonischer Arten (iconic species) eindrücklich belegt.20 Und nicht selten werden 17 Das gilt für alle heterotrophen Organismen, sofern sie nicht künstlich mit synt­ hetischer Nahrung ernährt werden, und sogar für autotrophe Organismen, so­ fern sie z. B. auf von Detrivoren freigesetzte Nährstoffe angewiesen sind (Trepl 2005: 55 f.). 18 Siehe z. B. Andrewartha/Birch 1984; Walter/Hengeveld 2000; 2014. Vgl. zu sol­ chen Theorien Trepl 2005: insb. 25 f.; Kirchhoff 2007: 300-304. 19 Jax 2010: 188. Vgl. die in Fußnote 3 auf S. 23 genannte Literatur sowie Lindeman 1942; O’Neill/Reichle 1980; Hagen 1989: 436 f.; Jax 2010: 53-55, 187-191; Kirch­ hoff/Voigt 2010: 192. 20 „Iconic species can be those that have played an important part in the history or economy of people, species that are charismatic and recognisable, or species that in other ways capture the imagination of the public.“ (http://www.ecosys­ temservicesseq.com.au/step-5-services/iconic-species, 26.10.2017) „Iconic spe­ cies are animals or plants which are important to cultural identity as shown by their involvement in traditional activities such as local ethnic or religious

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intrinsische Werte Arten zugeschrieben, die funktional irrelevant sind, weil ihre Individuen kaum ökologische Auswirkungen haben und in sehr geringer Anzahl vorkommen (wie z. B. Edelweiß).21 Festzuhalten ist somit bisher: Die Existenz von Lebewesen mit intrinsischem Wert kann man als Ergebnis ökosystemarer Prozesse konzeptualisieren, man muss es aber nicht tun. Fest steht auch: Nur ausgewählte Arten von Lebewesen werden aufgrund ihrer ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen wertgeschätzt. Diese Qualitäten und Bedeutungen sind aber nicht die ‚Leistung‘ irgendeines Ökosystems, sondern verdanken sich kulturellen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern. Insofern sind die intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte einzelner Lebewesen – obwohl Lebewesen Naturprodukte sind – kein Naturprodukt, sondern ein Kulturprodukt: das Produkt einer Wahrnehmungs- und Deutungsleistung menschlicher Individuen.22 Aus diesem Grund halten einzelne Autoren es für grundsätzlich falsch, mit Blick auf die intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Natur von kulturellen ÖSD zu sprechen.23 Anstelle dieser kategorischen Einschätzung, die ich an anderer Stelle selbst vertreten habe,24 erscheint mir aber mittlerweile eine differenziertere Einschätzung angemessener. Um diese zu entwickeln, werde ich im Folgenden das Verhältnis zwischen den biologisch erzeugten physischen Eigenschaften von Einzelorganismen einerseits und den ästhetischen Qualitäten sowie symbolischen Bedeutungen dieser Ein-

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practices and/or which are locally or more broadly recognized for their exist­ ence and aesthetic values. Species important exclusively for economic reasons are not included, but economic importance does not disqualify species that are also culturally significant.“ (http://www.oceanhealthindex.org/methodology/ components/iconic-species-list, 26.10.2017) Dazu, unter welchen sehr voraus­ setzungsreichen, in der Naturwissenschaft Ökologie wenig verbreiteten Prämis­ sen über die Organisationsweise von Ökosystemen es auch im Ökosystemansatz um die Erhaltung bestimmter Arten(kombinationen) geht, siehe Kirchhoff 2013; 2014a; 2015a. Daraus ergeben sich in der Diskussion um die Erhaltung von Biodiversität die bekannten Inkongruenzen zwischen funktionalen Argumenten, z. B. der Erhö­ hung von Produktivität und Resilienz, und nicht-funktionalen Argumenten, wie sie im klassischen Artenschutzes vorgebracht werden (vgl. Ridder 2008; Jax 2010: 190 f.; Ingram et al. 2012; Kirchhoff 2014a: 111-113; Deliège/Neuteleers 2015). Vgl. Glaser 2006; Ernstson 2013; Bieling 2014: 208. Siehe insb. die Kritik von Trepl (2014a; 2014b). Vgl. die Kritik von Hunziker (2010: 39 f.) am Konzept der kulturellen Landschafts(dienst)leistungen. Kirchhoff et al. 2013: 48, note 6.

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zelorganismen andererseits noch genauer untersuchen. Zunächst werde ich herausstellen, dass nicht nur die sogenannten kulturellen, sondern auch die versorgenden und regulierenden ÖSD kulturell konstituiert sind. Sodann werde ich zeigen, dass im Rahmen dieser Gemeinsamkeit zwischen den sogenannten nicht-materiellen kulturellen ÖSD einerseits und den materiellen versorgenden und regulierenden ÖSD andererseits eine kategoriale Differenz besteht bezüglich ihres Verhältnisses zu den physischen Eigenschaften von Naturphänomenen. Bisher habe ich betont, dass sich die intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Natur, ihre ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen, im Wesentlichen nicht aus phylogenetischen Prägungen des Menschen, sondern aus kulturell geprägten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern ergeben. Sie sind nicht biologisch bedingt, sondern kulturell konstituiert oder sozial konstruiert – und variieren deshalb von Kultur zu Kultur, innerhalb einer Kultur und mit deren geschichtlichen Wandlungen. Ohne dies in irgendeiner Weise zu relativieren, ist nun hinzuzufügen: Entsprechendes gilt auch für die instrumentellen Nützlichkeiten bzw. extrinsischen Werte von Naturphänomenen, für die versorgenden und regulierenden ÖSD. Denn ein ökosystemarer Prozess oder dessen Resultat wird zu einer Ökosystemdienstleistung nur im Hinblick auf menschliche Bedürfnisse, Interessen, Ziele etc. Aus diesem Grund hat Kurt Jax25 zurecht darauf hingewiesen, dass die Kaskade „ecosystem components and processes – ecosystem services (selected components and services) – human benefits – human well-being“, die üblicherweise von links nach rechts gelesen wird,26 eigentlich von rechts nach links gelesen werden müsse: „To assess ecosystem services in a particular region, we have to work our way backwards from society and its specific needs to ecosystem processes – and not vice versa, as scientists mostly do.“27 Und weil mensch25 Jax 2010: 70 f.; vgl. Jax et al. 2013: 263. 26 Siehe ursprünglich Haines-Young/Potschin 2010a: 116, figure 6.2; darauf auf­ bauend: de Groot et al. 2010: 264, figure 2; TEEB 2010, chapter 1: 11; Potschin/ Haines-Young 2011: 578, figure 2; CICES 2017b. 27 Jax 2010: 70; vgl. Lélé et al. 2013: 347; Orenstein 2013. Auf der Lesart von links nach rechts zu bestehen, läuft darauf hinaus, dass man einen ontologischen Re­a­ lismus bezüglich Ökosystemen vertreten muss, der äußerst fragwürdig ist (siehe Kapitel 4.7, S. 81-83).

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liche Bedürfnisse, Interessen, Ziele etc. weitgehend kulturell geprägt sind, sind nicht nur die sogenannten kulturellen ÖSD, sondern auch die versorgenden und regulierenden ÖSD intra- und interkulturell sowie historisch variabel. Der Nutzen oder Gebrauchswert – den Karl Marx28 charakterisiert als die „stoffliche Seite“ der Ware, die der „Befriedigung irgendeines Systems menschlicher Bedürfnisse“ dient – ist auch bei Naturprodukten immer gesellschaftlich konstituiert.29 Es sind nicht nur die intrinsischen, nicht-instrumentellen ÖSD, sondern auch die extrinsischen, instrumentellen ÖSD soziale Konstruktionen. In diesem Sinne spricht Henrik Ernstson von einer „social production of ecosystem services“ und Terry Daniel et al. konstatieren: „The services derived from ecosystems […] cannot be defined without incorporating social constructs.“30 (Diese Einschätzung hat allerdings eine Voraussetzung, die indessen wenig umstritten sein dürfte: Man muss Vergesellschaftung bzw. Kulturentwicklung als Prozess auffassen, der zumindest in gewissem Maße autonom ist gegenüber Natur. Man darf also weder mit Blick auf den Menschen einen fragwürdigen Essentialismus der ‚inneren‘ Natur behaupten,31 noch bezüglich des Verhältnisses von Gesellschaft bzw. Kultur und ‚äußerer‘ Natur auf lange verworfene Positionen wie den Geo- oder Technikdeterminismus zurückfallen.32)

28 Marx [1857/1858] 1983: 767. 29 Schultz 1993: 164; Ritsert 2013: 20. Studien wie die von Moscovici ([1968] 1982), Merchant (1980), Williams (1980), Oldemeyer (1983), Janich (1987; Hartmann/ Janich 1996), Eder (1988), Macnaghten und Urry (1998) und Kraemer (2008) zeigen, dass diese Kontextabhängigkeit sich nicht nur auf den instrumentellen Nutzen selbst bezieht, sondern tiefer reicht bis in die wissenschaftliche und technische Konzeptualisierung von Natur, auf der die Realisierung dieses in­ strumentellen Nutzens maßgeblich gründet. 30 Ernstson 2013: 7 bzw. Daniel et al. 2012a: 8813. Vgl. Pröpper/Haupts 2014. 31 Für eine Charakterisierung und Kritik des anthropologischen Essenzialismus siehe Schlette/Jung 2005: 8-11; Mohensi/Quante 2017. 32 Gemäß dem Geodeterminismus – Synonyme sind Umwelt- oder auch Na­tur­ determinismus – ist Vergesellschaftung bzw. Kulturentwicklung ein­schließ­ lich ihrer Symbolsysteme direkt oder indirekt (vermittelt über symboli­sche Wahrnehmungen) kausal determiniert durch die natürlichen Bedingungen des Ortes der Vergesellschaftung bzw. Kulturentwicklung. Geodeterminismus be­ deutet, „alle menschlichen Kulturen und Gesellschaften als Ausdrucksformen natürlicher Bedingungen anzusehen und ursächlich auf diese zurückzuführen“ (Werlen 2000: 353; vgl. Eisel 2005: 45, 55; Greider/Garkovich 1994: 4 f.). Ge­ mäß dem Technikdeterminismus oder Technologischen Determinismus wird das Gesellschaft-Natur-Verhältnis durch die sich eigenständig entwickelnde Techno­ logie der Naturaneignung und Warenproduktion bestimmt (Degele 2002: 28-33;

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Gemeinsam ist den materiellen und den nicht-materiellen ÖSD bzw. den extrinsischen, instrumentellen und intrinsischen, nichtinstrumentellen Werten von Natur also, dass sie kulturell konstituiert bzw. sozial konstruiert sind. Sie unterscheiden sich aber im Hinblick darauf, welche Rolle die physischen Eigenschaften von Naturphänomenen bei ihrer kulturellen Konstituierung bzw. sozialen Konstruktion spielen. Die extrinsischen, instrumentellen Werte von Natur sind, zumindest in wesentlichen Teilen, durch die physischen Eigenschaften von Naturphänomenen erklärbar – erklärbar in dem Sinne, dass sich wesentliche Aspekte des materiellen Nutzens oder Gebrauchswertes von Naturphänomenen durch kausale Erklärungen aus ihren physischen Eigenschaften herleiten lassen. Wenngleich der materielle Nutzen eines Naturphänomens kulturabhängig, sozial konstruiert und historisch variabel ist, gilt doch: Es gibt einen kulturinvarianten, ahistorischen Zusammenhang des (tatsächlichen oder konkret möglichen) materiellen Nutzens von Naturphänomenen mit ihren physischen Eigenschaften. So ist z. B. der Nutzen von Holz als Brennmaterial auf dessen physische Eigenschaften zurückführbar – und dies mit Gültigkeit auch schon für Zeiten, in denen Menschen noch gar kein Feuer zum Kochen entzündet haben und Holz deshalb keinen Gebrauchswert als Brennmaterial hatte. Mit dieser kausalen Erklärbarkeit geht einher, dass der materielle Nutzen eines Naturphänomens zumindest prinzipiell mithilfe universeller naturwissenschaftlicher Parameter erfasst und auch quantifiziert werden kann (z. B. der Brennwert von Holz in Kilojoule pro Raummeter), sodass verschiedene Naturphänomene im Hinblick auf einen bestimmten materiellen Nutzen prinzipiell objektiv miteinander vergleichbar sind (z. B. der Brennwert von Kiefern- und Buchenholz, der Holzzuwachs von Eichen und Fichten, die Wasserspeicherfähigkeit von Sand- und Lehmboden oder der Nährwert von Reis und Kartoffeln). Für die intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Natur bzw. für die sogenannten kulturellen ÖSD sind solche Zusammenhänge mit den physischen Eigenschaften von Naturphänomenen in der Regel nicht gegeben. Die ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen eines Naturphänomens lassen sich nicht (kausal) erklären durch Rekurs auf seine physischen Eigenschaften. Das zeigt sich schon daran, dass ein und dasselbe Naturphänomen – Lutz 1987: 35 f.). Einen instruktiven Überblick über das weite Spektrum von Theorien des Gesellschaft-Natur-Verhältnisses gibt Knight 1992.

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z. B. ein als Wildnis angesehenes Waldgebiet – innerhalb einer Kultur für manche Menschen positive, für andere jedoch negative symbolische Bedeutungen hat und dass ein und dasselbe Naturphänomen – z. B. ein Gebirge – im Laufe der Kulturgeschichte von einem schrecklichen Orten zu einem Sehnsuchtsort werden kann, ohne sich nennenswert physisch verändert zu haben. „In the context of CES [cultural ecosystem services], the biophysical environment may play a subordinate role in that ‚the thing of value‘ may be an abstract layer of meaning rather than the ‚factual‘ environment itself. Abstract layers of meaning arise from a specific relationship between the observer and the environment and are linked to deeply held personal beliefs and convictions and specific social contexts. […] The physical environment is a mere bedrock of perception; intangible value is assigned by adding cognitive and imaginative overlays to this environment“.33 Diese Differenz zwischen den materiellen und nicht-materiellen ÖSD bzw. den extrinsischen, instrumentellen und intrinsischen, nicht-instrumentellen Werten von Natur lässt sich verdeutlichen anhand des Unterschieds zwischen einem Symbol einerseits und einem Ikon sowie Index andererseits, den Charles Sanders Peirce herausgearbeitet hat:34 Beim Symbol, als das ein Naturphänomen im Falle intrinsischer Werte fungiert, beruht die Zeichenfunktion bzw. der Objektbezug auf allgemeiner Konvention und Gewohnheit („whose relation to their objects is an imputed character“); beim Ikon hingegen beruht die Zeichenfunktion bzw. der Objektbezug auf Ähnlichkeit („a mere community in some quality“), z. B. bei onomatopoetischen Ausdrücken wie „Kuckuck“ und „Uhu“; beim Index beruht die Zeichenfunktion bzw. der Objektbezug auf einer unmittelbaren kausalen Verbindung („whose relation to their objects consists in a correspondence in fact“), z. B. bei Rauch als Zeichen für Feuer. Albert Atkin35 fasst Peirces Unterscheidung der drei Zeichentypen so zusammen: „[I]f the constraints of successful signification require that the sign reflect qualitative features of the object, then the sign is an icon. If the constraints of successful signification require that the sign utilize some existential or physical connection between it and its object, then the sign is an index. And 33 Gee/Burkhard 2010: 351, mit Verweis auf Brady 2003. Vgl. Köchy 2011a. 34 Alle nachfolgenden Zitate aus Peirce W: 2.56; vgl. Peirce CP: 2.247 f., 2.275 f., 2.293. 35 Atkin 2013: section 3.2.

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finally, if successful signification of the object requires that the sign utilize some convention, habit, or social rule or law that connects it with its object, then the sign is a symbol.“ Während sich die instrumentellen Nützlichkeiten bzw. extrinsischen Werte bzw. versorgenden oder regulierenden ÖSD eines Naturphänomens aus seinen physischen Eigenschaften ableiten lassen, gilt für seine intrinsischen Werte bzw. ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen: „The relationship is not rule‑governed, which is to say that we cannot infer from any set of non‑aesthetic properties a particular aesthetic description.“36 Es lässt sich zwar jeder Melodie – sei es nun eine von einem Musiker gespielte Melodie oder der Gesang eines Vogels, den wir als Melodie wahrnehmen – eine spezifische, physikalisch messbare Abfolge von Schallwellen zuordnen; über die ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen dieser Melodie und über ihren kulturellen Wert lässt sich aus der Messung dieser Abfolge jedoch nichts ableiten. Die intrinsischen Werte von Naturphänomenen stehen in einem kategorial anderen Verhältnis zu physischen Eigenschaften als die extrinsischen Werte von Naturphänomenen. Es handelt sich nicht um eine bloß quantitative Differenz, wie Daniel et al.37 zu meinen scheinen, wenn sie konstatieren, dass kulturelle ÖSD in größerem Ausmaß von sozialen Konstruktionen abhängig seien als versorgende und regulierende ÖSD. Die Differenz ist vielmehr eine qualitative, die auf einer kategorial unterschiedlichen Weise kultureller Konstitution bzw. sozialer Konstruktion beruht. In Übereinstimmung mit diesem Befund hat Robert Fish38 kritisiert, dass das Konzept der kulturellen ÖSD die problematische Annahme einer „linear and deterministic relationship between ecosystems and culture“ nahelegt. Fish et al.39 haben als Problem benannt, dass Erhebungen kultureller ÖSD „[involve] the misguided assumption that these services are born of processes and characteristics that can be observed in nature and measured against independently variable standards and thresholds as is the case with quantities of nutritious food, levels of water quality and so forth.“ Diese beiden Fehleinschätzungen dürften darin gründen, dass im ÖSD-Ansatz der Gegenstand der intrinsischen ästhetischen, sym36 37 38 39

Brady 2003: 18, mit Referenz auf Sibley 1959; vgl. Pudelek 2005: 527 f. Daniel et al. 2012a: 8813. Fish 2011: 674. Fish et al. 2016b: 210.

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bolischen und moralischen Werte von Natur fälschlich als Ökosystem begriffen wird (siehe Kapitel 4). Die kategoriale Differenz in der kulturellen Konstituierung bzw. sozialen Konstruktion von intrinsischen im Vergleich zu extrinsischen Werten von Natur impliziert: Sogar ein Beitrag von Ökosystemen zur Existenz eines physischen Objektes, z. B. eines Lebewesens, das als Naturphänomen mit intrinsischen Werten wahrgenommen wird, ist kein uneingeschränkt gültiges Argument dafür, von kulturellen ÖSD sprechen zu können. Denn die intrinsischen Werte von Naturphänomenen ergeben sich nicht wie ihre extrinsischen Werte aus ihren physischen Eigenschaften. Das Kriterium dafür, zulässigerweise von ÖSD sprechen zu können – „some significant contribution from ecological structures and/or functions, however indirect, is required if cultural benefits are to be attributed as an ecosystem service“40 –, ist also auch bei intrinsischen Werten von Lebewesen nicht uneingeschränkt erfüllt. Nicht erfüllt ist dieses Kriterium für die Entstehung oder Konstituierung dieser Werte. Diese sind kulturellen Ursprungs, wenngleich sie eines materiellen Substrats bedürfen, mit dem sie verbunden sind. Anders verhält es sich hinsichtlich der Aufrechterhaltung dieser Werte: Wenn eine bestimmte nicht-instrumentelle Bedeutung einmal kulturell an ein bestimmtes Naturphänomen – z. B. an eine bestimmte Art von Lebewesen wie Weiß-Storch oder Edelweiß – gebunden worden ist, dann muss die physische Basis dieses spezifischen Naturphänomens aufrechterhalten werden, um diese Bedeutung zu erhalten. Und diese Aufrechterhaltung kann als Beitrag von Ökosystemen begriffen werden, insofern die Reproduktion von Lebewesen als ökosystemarer Prozess begriffen werden kann; sie kann aber auch autökologisch-organismenzentriert konzeptualisiert werden, was sogar angemessener ist, wenn es um die (Re‑)Produktion bestimmter Arten von Lebewesen geht.41 Ein Beitrag von Ökosystemen zu den intrinsischen, nicht-instrumentellen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werten von Lebewesen besteht also nicht auf der Ebene der Konstituierung dieser Werte, sondern kann allenfalls für die Ebene der Entstehung und Erhaltung, der Produktion und Reproduktion der physischen Träger dieser Werte geltend gemacht werden.

40 Daniel et al. 2012a: 8813. 41 Siehe oben, S. 101 f.

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5.3 Ökosystemprozesse erzeugen keine einzigartigen Kulturlandschaften Ästhetische Wertschätzungen und symbolische Bedeutungen sowie Gefühle von Dazugehörigkeit, kultureller Identität, kultureller Kontinuität und moralischer Verpflichtung, die mit Kulturlandschaften verbunden sind, zählen wohl zu den wichtigsten intrinsischen, nicht-instrumentellen Werten von Naturphänomenen.42 Im ÖSDAnsatz werden diese vor allem als aesthetic services, cultural identity services und cultural heritage services behandelt.43 Die entscheidende Voraussetzung für die meisten dieser Werte von Kulturlandschaften ist, dass deren individueller Charakter, Eigenart oder Einzigartigkeit mehr oder weniger vollständig erhalten geblieben ist.44 Die Eigenart von Kulturlandschaften ist vor allem ein Resultat menschlicher Kultivierung. Das lässt sich am deutlichsten daran erkennen, dass es innerhalb eines Ausschnittes der Erdoberfläche, der demselben Biom zugehört und somit natürlicherweise eine relativ einheitliche Flora und Fauna aufweisen würde (z. B. die des in Mitteleuropa natürlicherweise weit verbreiteten Luzolo-Fagetum oder Hainsimsen-Buchenwaldes), eine Vielzahl einzigartiger Kulturlandschaften gibt. Zwar leisten Ökosystemprozesse einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung einzigartiger Kulturlandschaften, indem sie die für diese charakteristischen Lebewesen und Vegetationsstrukturen reproduzieren. Es ist aber auch so, dass Ökosystemprozesse den Fortbestand einzigartiger Kulturlandschaften permanent bedrohen und die vom Menschen geschaffenen Differenzierungen innerhalb eines Bioms beseitigen, weil sie die ökologische Sukzession hin zu einer einheitlichen Flora und Fauna vorantreiben. Die Eigenart von Kulturlandschaften – etwa die der Lüneburger Heide – muss deshalb permanent durch landschaftsspezifische menschliche Kulturtätigkeiten gegen natürliche Ökosystemprozesse aufrechterhalten werden – durch die das Gebiet der Lüneburger Heide früher oder später wieder mit einem Hainsimsen-Buchenwald bestockt wäre. Um einzigartige Kulturlandschaften zu erhalten, muss das Ablaufen vollständig natürlicher Prozesse immer wieder verhindert werden, sei es durch traditionelle 42 Vgl. Kapitel 4.4. Siehe Fußnote 12 auf S. 17, warum ich eine Kulturlandschaft als Naturphänomen bezeichnen kann. 43 Siehe Kapitel 2.3. 44 Zum Ideal kulturlandschaftlicher Eigenart siehe oben, Kapitel 4.4, S. 59-64.

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Landnutzungen oder sei es durch deren Simulation im Rahmen des Naturschutzes und der Kulturlandschaftspflege, „practices which typically involved repeatedly interrupting ecological succession“.45 Einzigartige, historisch gewachsene Kulturlandschaften mit ihrer charakteristischen Vielfalt von Landnutzungsformen sind gefährdet nicht nur durch Industrialisierung, Urbanisierung und Globalisierung, sondern auch durch Nutzungsaufgabe, die letztlich zu einer Naturlandschaft bzw. Wildnis führt.46 Aus der Perspektive der Wertschätzung kulturlandschaftlicher Eigenart ist das ein Prozess, der abwertend als „Verwilderung“ und nicht wertschätzend als „Renaturierung“ bezeichnet wird – wenn z. B. nicht mehr genutzte Almen verbuschen und sich dann spontan wiederbewalden.47 Daraus folgt: Falls man im Hinblick auf die Reproduktion erwünschter Kulturlandschaftsbestandteile von einem Beitrag von Ökosystemprozessen zur Erhaltung der intrinsischen Werte von Kulturlandschaften sprechen will (ecosystem services), muss man auch von einem negativen ‚Beitrag‘ von Ökosystemprozessen zu deren Erhaltung sprechen (ecosystem disservices), der in der Hervorbringung unerwünschter Arten und Strukturen besteht. Noch aus einem anderen Grund kann man im Hinblick auf die intrinsischen Werte einzigartiger Kulturlandschaften nur bedingt von Beiträgen von Ökosystemen sprechen: Einzigartige Kulturlandschaften sind keine beobachterunabhängig existierenden Gegenstände, sondern sie existieren nur als Ergebnis einer kulturell geprägten Wahrnehmungs- und Deutungsweise von Ausschnitten der Erdoberfläche. „Admittedly, ecosystems produce the plants and animals that we perceive as parts of landscapes; however, the object ‚cultural landscape‘ is a product of a specific way of seeing within the cultural framework of symbolic experience“.48 Zum einen ist die Einheit einer Kulturlandschaft – wie die einer Melodie – keine natürliche Gegebenheit, sondern sie wird durch den Betrachter hergestellt. Ökosysteme produzieren zwar einzelne Lebewesen, aber keine Landschaften – zumindest keine Landschaften in dem subjektivistischen Sinne des Begriffs, der im Hinblick auf die intrinsi-

45 Fuller, R. J. et al. 2017: 460. 46 Westhoff 1971; Küster [1995] 2013: 388-393; Vos/Meekes 1999; Plieninger/ Bieling 2012: 5; Plieninger et al. 2014; Kirchhoff 2012c; Fuller, R. J. et al. 2017. 47 Siehe hierzu z. B. Hunziker 1995; 2010; Bauer/Hunziker 2004; Höchtl/Lehringer 2005; Höchtl et al. 2005; Schirpke et al. 2016. 48 Kirchhoff 2012c.

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schen Werte von Kulturlandschaften in Anschlag zu bringen ist.49 Zum anderen ist räumliche Eigenart keine objektive, unabhängig vom Menschen existierende Tatsache, sondern das Ergebnis einer individualisierenden Interpretation natur- und kulturräumlicher Unterschiede, die in einem bestimmten, antiuniversalistischen Ideal von menschlicher Individualität und Vergesellschaftung gründet.50 Im Ergebnis dieser Analysen ist festzuhalten: Man kann allenfalls in einem sehr begrenzten Sinn davon sprechen, dass Ökosys­ teme zu den intrinsischen, nicht-instrumentellen Werten von Kulturlandschaften beitragen. Ihr Beitrag bezieht sich keinesfalls auf die Konstituierung dieser Werte, allenfalls auf die Reproduktion der materiellen Träger dieser Werte – und dies nur mit der Einschränkung, dass dann außer ecosystem services auch ecosystem disservices zu veranschlagen sind.

5.4 Ökologische Prozesse fördern die Wahrnehmung von Natur als Wildnis, sind aber nicht immer entscheidend Welchen Beitrag leisten Ökosysteme zu den intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werten von Gebieten, die als Wildnis wahrgenommen werden? Bei der Beantwortung dieser Frage gilt es zu berücksichtigen, was in Kapitel 4.5 dargelegt worden ist: Eine „Wildnis“ ist in den allermeisten Fällen nicht etwa ein Gebiet mit bestimmten ökologischen Eigenschaften, sondern ein Gebiet, das als symbolische Gegenwelt zur Welt der Kultur bzw. Zivilisation wahrgenommen wird. Von einem Beitrag von Ökosystemen kann man folglich nicht schon dann sprechen, wenn die ökologischen Bedingungen in einem Gebiet, das als Wildnis wahrgenommen wird, wesentlich durch vom Menschen unbeeinflusste ökologische Prozesse bestimmt wurden und werden. Ausschlaggebend ist vielmehr, welchen Beitrag solche natürlichen Prozesse, die man (am angemessensten) als Ökosystemprozesse konzeptualisieren kann, dazu leisten, dass ein Gebiet als symbolische Gegenwelt wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Das gilt, wie gezeigt, auch für ‚ökologische‘ Wildnisauffassungen bzw. den szientifischen Kognitivismus, die – auf der Basis mittlerweile ‚veralteter‘ Theorien 49 Siehe Kapitel 4.4, S. 54 ff. 50 Kirchhoff 2012d: 17. Siehe zu diesem Ideal Kapitel 4.4, S. 59-64.

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ökosystemarer Selbstorganisation und eines fragwürdigen ontologischen Realismus bezüglich Ökosystemen – die Bewunderung von Wildnis darauf zurückführen, dass dort eine vollkommene ökologische Ordnung herrsche bzw. Wildnis ein vollkommenes natürliches Ökosystem sei.51 Die beiden wohl entscheidenden Voraussetzungen dafür, dass ein Gebiet als symbolische Gegenwelt zur Welt der Kultur bzw. Zivilisation wahrgenommen wird, sind, dass es entweder als erhaben oder als natürlich oder als beides zugleich wahrgenommen wird, wobei „natürlich“ – wie oben gezeigt52 – keine ökologische Eigenschaft ist, sondern eine kulturell geprägte Unterscheidung und Beurteilung, bei der es darum geht, ob etwas authentisch, unverfälscht, echt, spontan usw. oder auch stimmig, harmonisch, proportioniert, rein, differenziert usw. ist. Gelegenheit für Erhabenheitsgefühle in der Wildnis geben überwiegend abiotische Naturphänomene wie Berge und Schluchten, Gletscher und Vulkane, Wüsten und Meere, Wasserfälle und Wildwasser, Gewitter und bestimmte Wolkenformationen, der Sternenhimmel usw., zu deren Existenz Ökosysteme praktisch nichts beitragen.53 Anders verhält es sich in den selteneren Fällen, in denen biogene Naturphänomene Gelegenheit für Erhabenheitsgefühle bieten, insbesondere weite Landschaften wie eine Prärie54 und sehr große Einzelorganismen wie Eichen oder Riesen- und Küstenmammutbäume,55 zudem gefährliche Tiere, die auch klein sein können,56 oder auch sehr 51 Zu ‚ökologischen‘ Wildnisauffassungen siehe Kapitel 4.5, S. 72 f., zum szientifi­ schen Kognitivismus Kapitel 4.7, S. 90-94. 52 Siehe Kapitel 4.5, S. 73-76. 53 Siehe Kapitel 5.1. 54 Siehe z. B. Seel 1991: 85; Shepard 2003: 108-122. 55 Salcedo-Chouré 2016: 70-72; Brady 2017: 186 f. Siehe auch Gemälde wie Die Tausendjährige Eiche (1837) von Carl Friedrich Lessing, Großer Baum auf Waldschneise (um 1849) von Johann Wilhelm Schirmer oder Giant Redwood Trees of California (1874) und The Great Trees, Mariposa Grove, California Gro­ ve (1876) von Albert Bierstadt. 56 Siehe z. B. die romantischen Gemälde wilder Tiere von Jean-Baptiste Oudry, George Stubbs, Théodore Géricault und Antoine-Louis Barye (Lodge 2012) so­ wie die Einschätzung von Edmund Burke (1757: II.2): „There are many animals, who, though far from being large, are yet capable of raising ideas of the sublime, because they are considered as objects of terror. As serpents and poisonous ani­ mals of almost all kinds.“ Siehe auch Elitzer et al. 2005, die wilde Tiere danach typisieren, ob sie ein Gebiet zu einer Wildnis machen (und auch im Zoo noch als wilde Tiere gelten) oder ob sie in einer Wildnis vorkommen müssen, um selbst als wild zu gelten.

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farb- oder strukturreiche Naturphänomene wie Korallenriffe und das Blättermeer eines Waldes im Herbst. Die (Re‑)Produktion dieser Naturphänomene erfordert biologische Prozesse, die man ökosystemtheoretisch konzeptualisieren kann, aber nicht muss. Subjektiv als natürlich wahrgenommen wird ein Gebiet, wenn seine physische Beschaffenheit dem Betrachter keinen Anlass dafür gibt, auf einen nennenswerten menschlichen Einfluss zu schließen. So definiert der US Wilderness Act ein Wildnisgebiet unter anderem dadurch, dass das Gebiet „generally appears to have been affected primarily by the forces of nature, with the imprint of [hu]man’s work substantially unnoticeable“.57 Ob ein eventuell vorhandener menschlicher Einfluss erkannt wird, hängt dabei vom Wissen des Betrachters ab, was sich z. B. daran zeigt, dass viele Menschen einen Buchenhallenwald und wohl die meisten Menschen einen Plenterwald als natürlich ansehen, obwohl beide tatsächlich das Ergebnis einer bestimmten Form von Waldbewirtschaftung sind. Der Eindruck von Natürlichkeit wird insbesondere durch spontane Wachstums- und Verbreitungsprozesse von Pflanzen hervorgerufen, die nicht die für menschliche Pflanzungen charakteristischen geometrischen oder anderswie regelmäßigen und relativ homogenen Strukturen und Artenzusammensetzungen aufweisen. Das schließt ein, dass die sichtbaren Resultate früherer menschlicher Handlungen beseitigt oder zumindest weniger wahrnehmbar werden. Diese Wachstums- und Verbreitungsprozesse der Vegetation kann man ökosystemtheoretisch konzeptualisieren, aber auch physiologisch, populationsbiologisch, biogeographisch etc. – denn im Hinblick auf den Eindruck von Natürlichkeit kommt es nicht darauf an, ob die ökosystemaren Stoffströme und Energieflüsse in einem vom Menschen unbeeinflussten Zustand sind. Somit kann man, muss aber nicht, einen wesentlichen Beitrag von Ökosystemprozessen dazu konstatieren, dass Gebiete als natürlich wahrgenommen werden. Diese Ökosystemprozesse sind aber nicht konstitutiv dafür, dass Natürlichkeit kulturell wertgeschätzt wird. Zudem ist der Beitrag von Ökosystemen zum Eindruck von Natürlichkeit zu relativieren, weil in einem Gebiet die ökosystemaren Prozesse weitgehend natürlich sein können, das Gebiet aber dennoch nicht als natürlich und vor allem nicht als Wildnis wahrgenommen wird. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es in einem Gebiet menschliche Bauwerke gibt, die die ökosystemaren Prozesse nur geringfügig und/oder nur 57 United States Congress 1964: section 2c.

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relativ kleinflächig verändern, aber weithin erkennbare Anzeichen bzw. Symbol von Kultivierung oder Zivilisation sind – man denke etwa an einen Sendemast auf einer Bergkuppe oder an eine Windkraftanlage über einem naturnahen Wald oder sogar nur an eine Bank mit Mülleimer oder an ein Hinweisschild, das ein Gebiet als Wasserschutzgebiet ausweist und somit einer gesellschaftlichen Zwecksetzung zuordnet. Weil Wildnis kein Gebiet mit besonderen ökologischen Eigenschaften ist, sondern eines mit einer spezifischen Symbolik, ist die Natürlichkeit ökologischer Prozesse nicht unbedingt hinreichend dafür, dass ein Gebiet als Wildnis wahrgenommen werden kann.

5.5 Resümee für den dritten Kritikpunkt Lässt sich das Konzept der kulturellen ÖSD rechtfertigen mit dem Argument, sie seien zwar nicht der Gegenstand der intrinsischen Werte von Natur, wohl aber deren Ko-Produzenten? Die obigen Analysen dazu haben ergeben: Zur Existenz unbelebter Naturphänomene wie Berge, Meere und Wüsten, die wichtige Gegenstände intrinsischer Werte von Natur sind, leisten Ökosystemen zumeist keinen nennenswerten Beitrag. Ökosystemprozesse sind niemals konstitutiv für die intrinsischen Werte von Naturphänomenen – auch nicht im Falle von Wildnis. Konstitutiv für diese sind vielmehr kulturell geprägte Deutungs- und Wahrnehmungsmuster, aufgrund derer z. B. ein Gebiet als Gegenwelt zur Kultur bzw. Wildnis wahrgenommen wird. Ökologische Prozesse tragen jedoch wesentlich bei zur Existenz bzw. Reproduktion der belebten Träger der kulturell konstituierten intrinsischen Werte von Natur. Allerdings muss dieser Beitrag nicht ökosystemtheoretisch konzeptualisiert werden. Er kann auch – und sollte sogar besser – autökologisch-organismenzentriert begriffen werden, weil es nicht um die Reproduktion austauschbarer ökosystemarer Funktionsträger, sondern um die Reproduktion bestimmter Arten geht. Einzigartige Kulturlandschaften, deren intrinsische Werte für Menschen von ganz besonderer Bedeutung sind (sense of place, feelings of cultural identity etc.), werden nicht durch Ökosystemprozesse erzeugt, sondern stellen menschliche Kulturleistungen dar.

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Ökologische Prozesse – für die wiederum gilt, dass man sie ökosystemtheoretisch konzeptualisieren kann, aber nicht muss – tragen zwar einerseits zur Reproduktion der charakteristischen belebten Elemente und Vegetationsstrukturen einzigartiger Kulturlandschaften bei (ecosystem service). Andererseits bedrohen sie aber immer auch die kulturlandschaftliche Eigenart, indem sie Lebewesen und Vegetationsstrukturen hervorbringen, die nicht charakteristisch für diese sind (ecosystem disservice) – was durch kontinuierliche menschliche Kulturleistungen verhindert werden muss. Dazu, dass Gebiete als natürlich wahrgenommen und deshalb als Wildnis wertgeschätzt werden können, leisten ökologische Prozesse – die ökosystemtheoretische konzeptualisiert werden können – wesentliche Beiträge. Weitgehend natürliche Ökosysteme sind aber keine hinreichende Bedingung dafür, dass ein Gebiet als Wildnis wahrgenommen werden kann, weil Wildnis auch durch Bauwerke zerstört werden kann, die zwar kaum ökologische Auswirkungen haben, aber deutlich Zivilisation symbolisieren. Angesichts dieser Befundlage ist festzuhalten: Die von Daniel et al.58 genannte Bedingung, dass „some significant contribution from ecological structures and/or functions, however indirect, is required if cultural benefits are to be attributed as an ecosystem service“, kann man zwar für einzelne Naturphänomene, insbesondere für Wildnis, als erfüllt ansehen. Wenn man aber alle Typen von Naturphänomenen berücksichtigt, die intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Wert haben, so erweist sich die Rede von Beiträgen von Ökosystemen einerseits als zu eng: Weder werden alle relevanten Naturphänomene abgedeckt, insbesondere nicht die abiotischen, noch wird das erforderliche Spektrum der Beiträge natürlicher Prozesse abgedeckt, insbesondere fehlen Beiträge nicht-ökologischer Naturprozesse, noch kann die jeweils passendste Variante ökologischer Konzeptualisierung gewählt werden. Andererseits erweist sich die Rede von Beiträgen von Ökosystemen als zu weit: Ökosystemprozesse sind nämlich nicht konstitutiv für die intrinsischen Werte von Natur, sondern reproduzieren allenfalls die biotischen Träger dieser Werte. Darüber hinaus zeigt die Analyse: Es gibt in keinem Fall einen zwingenden Grund, aus dem man von Ökosystem-Dienstleistungen sprechen müsste. Die Beiträge 58 Daniel et al. 2012a: 8813.

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Kritikpunkt 3: Geringer koproduktiver Beitrag

ökologischer Prozesse zur Existenz derjenigen Naturphänomene, die intrinsische Werte haben, lassen sich in allen Fällen auch – und zumeist sogar angemessener – auf andere Weise konzeptualisieren. Deshalb ist es angemessener, von Natur-Dienstleistungen bzw., da der Dienstleistungsbegriff problematisch ist (siehe Kapitel 3), von Natur-Beiträgen zu sprechen. Von Natur-Beiträgen zu sprechen hat darüber hinaus zumindest noch zwei weitere Vorteile: Erstens wird der falsche Eindruck vermieden, Ökosystemprozesse oder ‑eigenschaften seien konstitutiv für die intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur – womit einem problematischen szientifischen Naturalismus vorgebeugt wird. Zweitens wird der falsche Eindruck vermieden, diese intrinsischen Werte von Natur ergäben sich aus der Wahrnehmung von Natur als Ökosystem, obwohl sie sich aus der lebensweltlichen, ästhetisch-symbolischen Wahrnehmung von Natur ergeben – wobei Natur nicht, wie es ein fragwürdiger ontologischer Realismus behauptet, beobachterunabhängig-objektiv aus Ökosystemen besteht. Aus beiden Gründen hilft die Rede von Natur-Beiträgen, methodische Fehler bei der Erfassung der intrinsischen Werte von Natur zu vermeiden, die durch die Rede von einer Ko‑Produktion durch Ökosysteme gefördert werden: nämlich ökologische Eigenschaften für valide Parameter und sogar für die besten, weil einzig objektiven Parameter zu halten. Unter anderem darum soll es im folgenden Kapitel gehen.

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6. Kritikpunkt 4: Methodische Fehler

In den vorangehenden Kapiteln habe ich gezeigt: Mit der Rede von kulturellen Ökosystem-Dienstleistungen geht eine terminologische Engführung auf einen ethischen Subjektivismus einher, die sachlich unangemessen ist, weil Naturphänomene für viele Menschen auch objektive intrinsische Werte haben (Kritikpunkt 1, siehe Kapitel 3). Mit der Rede von kulturellen Ökosystem-Dienstleistungen wird der Gegenstand der unter dieses Konzept gefassten intrinsischen Werte von Natur falsch bestimmt, weil dieser kein Ökosystem im Sinne der Definition des ÖSD-Ansatzes ist, sondern Natur, die lebensweltlich als ästhetisch-symbolischer Gegenstand wahrgenommen wird (Kritikpunkt 2, siehe Kapitel 4). Ferner geht mit der Rede von kulturellen Ökosystem-Dienstleistungen – und auch noch mit der modifizierten Rede von einer Ko-Produktion der sogenannten kulturellen ÖSD bzw. der intrinsischen Werte von Natur durch Ökosysteme und Gesellschaften – die falsche Auffassung einher, dass Ökosystemprozesse bzw. naturwissenschaftlich-ökologische Eigenschaften konstitutiv für diese intrinsischen Werte von Natur seien, obwohl sie tatsächlich durch subjektive ästhetisch-symbolische Naturwahrnehmungen, die im Rahmen kulturell geprägter Wahrnehmungsmuster erfolgen, konstituiert werden (Kritikpunkt 3, siehe Kapitel 5). In diesem Kapitel entwickle ich zunächst die Hypothese, dass diese ontologischen und konstitutionstheoretischen Fehler des Konzeptes der kulturellen ÖSD zu methodischen Fehlern bei der Erfassung der intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur führen (Kapitel 6.1). Nicht thematisieren werde ich, dass sich auch aus der terminologischen Engführung auf ethischen Subjektivismus methodische Fehler ergeben: nämlich die Verwendung von Methoden, die zwar geeignet sind, um die subjektiven Werte von Naturphänomenen zu erfassen, aber ihre objektiven Werte nicht oder nicht angemessen erfassen. Sodann diskutiere ich den potenziellen Einwand gegen meine Hypothese, es gebe aber doch Methoden, die ökologische Parameter in valider Weise mit den intrinsischen, nicht-instrumentellen Werten von Natur in Verbin-

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Kritikpunkt 4: Methodische Fehler

dung bringen. Mein Hauptargument gegen diesen Einwand wird sein, dass es sich um nur scheinbar ökologische Parameter handelt (Kapitel 6.2). Schließlich thematisiere ich: Es gibt zwar zahlreiche neuere Studien zu intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werten von Natur, die von ihren Autorinnen und Auto­ ren dem ÖSD-Ansatz zugeordnet werden und in denen von der Erfassungen kultureller ÖSD gesprochen wird. Diese Studien liegen aber, wenn man nach ihrer Gegenstandsbestimmung und Methodik beurteilt, außerhalb des ÖSD-Ansatzes (Kapitel 6.3).

6.1 Falsche Ontologie impliziert fehlerhafte Methodik Der ÖSD-Ansatz bestimmt den Gegenstand seiner Analysen als Ökosysteme. Dabei werden Ökosysteme als naturwissenschaftliche Gegenstände definiert.1 Im Hinblick auf die intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur handelt es sich aber um eine falsche Gegenstandsbestimmung. Daraus ergeben zwangsläufig methodische Fehler bei der Erfassung dieser Werte. Zwangsläufig, insofern von einer wissenschaftlichen Methode zu fordern ist, dass sie auf der Konzeptualisierung des Untersuchungsgegenstandes basiert, und zudem faktisch gilt, „that the concepts determine the ways and methods in which we perceive of nature.“2 In diesem Fall impliziert die falsche naturwissenschaftliche Konzeptualisierung des Gegenstandes der intrinsischen Werte von Natur als Ökosystem, dass für die Charakterisierung der fraglichen Naturphänomene und für die Beschreibung ihrer Eigenschaften, die wesentlich für ihre intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte sind, naturwissenschaftliche bzw., genauer, ökosystemtheoretische Methoden mit quantifizierbaren und messbaren Parametern verwendet werden müssen, die universell im Sinne von kontextunabhängig sind.

1 2

Siehe Kapitel 2.1, S. 24 f. Grimm/Wissel 1997: 323.

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Unangemessenheit naturwissenschaftlicher Methoden Die instrumentellen Nützlichkeiten bzw. extrinsischen Werte von Naturphänomenen, die im ÖSD-Ansatz unter die Begriffe der versorgenden und regulierenden ÖSD gefasst werden, kann man tatsächlich mithilfe solcher Parameter erfassen. Denn diese Nützlichkeiten und Werte lassen sich, wie in Kapitel 5.2 dargelegt, auf ihre physischen Eigenschaften zurückführen. Zum Beispiel lässt sich die Nützlichkeit von Holz einer bestimmten Baumart als Brennmaterial durch Messung seines Brennwertes bestimmen, der mit dem Brennwert und damit Gebrauchswert anderer Baumarten und Brennstoffe objektiv verglichen werden kann. Mithilfe naturwissenschaftlicher Parameter lässt sich außerdem quantitativ erheben, welcher Zuwachs welcher Holzsorten in einem bestimmten Waldstück bzw. Waldökosystem derzeit und zukünftig zu erwarten ist. Damit ist der materielle Nutzen dieses Waldstücks bzw. Waldökosystems im Hinblick auf die Produktion von Brennholz, der firewood provision ecosystem service, objektiv und quantitativ festgestellt. So berechnen z. B. Alamgir et al.3 die ÖSD energy provision eines Waldgebietes mithilfe des Indikators Above Ground Tree Biomass (AGB) gemäß einer Modellierung von Chave et al. In entsprechender Weise berechenbar ist die regulierende ÖSD von Wald z. B. im Hinblick auf die Regulation der Erosion – so bei Alamgir et al.4 mithilfe des Stratified Vegetation Cover Index (Cs) von Zhongming et al. – oder z. B. im Hinblick auf die Regulation der Luftqualität – so bei Manes et al.5 in ihrer Modellierung speziell für Ozon. Auch wenn im Detail methodische oder empirische Probleme bei solchen Berechnungen bestehen mögen, so ändert dies doch nichts daran, dass sich die materiellen versorgenden und bereitstellenden ÖSD im Prinzip quantitativ ermitteln lassen durch naturwissenschaftliche Beschreibungen und Modellierungen, die Bezug nehmen auf ökosystemare Prozesse und/oder ökosystemare Strukturen und/oder Produkte von Ökosystemen. Und das Ergebnis solcher Berechnungen hat kulturübergreifende Geltung, auch wenn ganz erhebliche inner- und interkulturelle Differenzen bestehen hinsichtlich der Nachfrage, Prioritätensetzung, Zahlungsbereitschaft etc. für die verschiedenen versorgenden und bereitstellenden ÖSD. 3 4 5

Alamgir et al. 2016; Chave et al. 2005. Alamgir et al. 2016; Zhongming et al. 2010. Manes et al. 2016.

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Ganz anders verhält es sich bei den intrinsischen Werten von Natur, die im ÖSD-Ansatz unter den Begriff der kulturellen ÖSD gefasst werden. Denn der Gegenstand dieser intrinsischen Werte ist nicht etwa Natur, die als ein Ökosystem wahrgenommen wird, sondern Natur, die – im Rahmen kulturell geprägter und insofern intersubjektiver Wahrnehmungs- und Deutungsmuster – subjektiv als ästhetisch-symbolisch-moralischer Gegenstand wahrgenommen wird und damit ein Gegenstand von kategorial anderer Art ist als ein Ökosystem (siehe Kapitel 4). Auch sind ökologische Eigenschaften nicht konstitutiv für die intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Natur; diese lassen sich weder aus jenen ableiten noch auf jene zurückführen (siehe Kapitel 5). Theorien, die anderes behaupten wie der szientifische Kognitivismus und der evolutionäre Intuitionismus, haben fragwürdige Voraussetzungen und allenfalls eine sehr begrenzte Erklärungskraft für die intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur (siehe Kapitel 4.7, Einwand 4). Daraus folgt: Methoden, die ökosystemtheoretische Beschreibungen, Modellierungen und Parameter verwenden, sind nicht valide, wenn es darum geht, Natur im Hinblick ihre intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte zu erfassen. Die naturwissenschaftliche begriffliche Fundierung des ÖSD-Ansatzes führt bei den sogenannten kulturellen ÖSD zu methodischen Fehlern, denn sie impliziert „the misguided assumption that these services are born of processes and characteristics that can be observed in nature and measured against independently variable standards and thresholds as is the case with quantities of nutritious food, levels of water quality and so forth.“6 Ganz allgemein gilt, dass kulturelle Phänomene – zu denen Naturphänomene zählen, sofern es um ihre ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen geht – nicht mit naturwissenschaftlichen Kategorien und Begriffen angemessen erfassbar sind.7 „Zwar können Kulturphänomene einem naturwissenschaftlichen Raster unterworfen werden, sie ändern dann jedoch […] ihren Status und werden zu bloßen Naturobjekten.“8 Heranzuziehen sind stattdessen nicht-naturwissenschaftliche Methoden, die einzuschätzen erlauben, welche ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen das zu untersuchende Na6 Fish et al. 2016b: 210. 7 Vgl. Kirchhoff 2012c; 2012e: 19; Setten et al. 2012: 309. 8 Köchy 2012: 231, mit Verweisen auf Rickert [1898] 1926 und Cassirer 1998 ff., Band 24: 433.

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turphänomen in einer bestimmten Kultur hat. Zu berücksichtigen sind dabei einerseits die kulturell geprägten ästhetisch-symbolischen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster und andererseits die für diese relevanten physischen Eigenschaften des Naturphänomens, die aber keine ökologischen Eigenschaften sind.9 Die Grundlagen solcher Methoden liegen in Erkenntnissen aus Disziplinen wie Natur- und Landschaftsästhetik, Ikonografie und Hermeneutik von Natur und Landschaft, Geschichte der Gartenkunst oder Bedeutungsgeschichte von Wäldern, Bergen, Meeren, Flüssen, Wildnis, Tierarten usw. Ausgearbeitet sind solche Methoden z. B. als Verfahren für die Landschaftsbildbewertung, das scenic beauty assessment und das landscape character assessment. Anforderungen an geeignete Methoden Die ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen von Naturphänomenen sind prinzipiell nicht objektiv erfassbar, indem man physische Eigenschaften misst. Denn erstens sind diese Qualitäten und Bedeutungen keine objektiven, beobachterunabhängigen Eigenschaften physischer Gegenstände (im Sinne von John Lockes primären Qualitäten), sondern existieren nur subjektiv für den Betrachter bzw. für die Nutzerin,10 nur für das wahrnehmende Subjekt (John Lockes sekundäre Qualitäten11). „Visual quality is an experience or affect felt by people; it is dependent upon people, it exists only when people are present“.12 Und zweitens lassen sich diese ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen (entgegen

9 Ökologische Eigenschaften und Untersuchungen werden erst relevant, wenn ermittelt werden soll, wie die belebten materiellen Träger dieser Qualitäten und Bedeutungen erhalten werden können. Vgl. hierzu die in Kirchhoff et al. (2013: insb. 37 f., 45 f.) beschriebene „Konzeption 6“ von Landschaftsökologie. 10 Mit der Rede vom „Betrachter“ sollen nicht-visuelle, z. B. olfaktorische und hap­ tische Wahrnehmungen keineswegs ausgeschlossen werden. Die übliche Rede vom Betrachter bringt zum Ausdruck, dass der Sehsinn zumeist eine herausge­ hobene Rolle spielt. „Nutzerin“ meint hier Spaziergängerin etc., nicht Landwir­ tin etc. 11 Zur Unterscheidung und Charakterisierung primärer und sekundärer Eigen­ schaften/Qualitäten (properties/qualities) siehe, klassisch, John Locke (1690, book II, chapter 8, §§ 8-10). Zur neueren Diskussion über diese siehe z. B. Curley 1972; McGinn 1983; McDowell 1984. 12 Hull IV/Revell 1989: 324.

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Lockes Behauptung) nicht kausal aus physischen Eigenschaften ableiten.13 Folglich kann man die ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen unmittelbar nur erheben durch sogenannte subjektbezogene, nutzerabhängige Verfahren. Solche Verfahren können in Befragungen von potenziellen oder tatsächlichen Betrachtern bzw. Nutzerinnen zu ihrer Einschätzung der ästhetischen Qualität und Symbolik eines Naturphänomens, zu ihrer Zahlungsbereitschaft für die Erhaltung eines Naturphänomens usw. bestehen. Man kann aber auch Beobachtungen des Verhaltens von Nutzern im Hinblick auf Naturphänomene durchführen, z. B. in Form von Frequenz­ analysen.14 Alternativ oder ergänzend lassen sich die intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur mittelbar erheben durch sogenannte objektbezogene, nutzerunabhängige Expertenverfahren.15 Diese sind allerdings nur in dem Sinne nutzerunabhängig, dass in der Anwendung des Verfahrens selbst keine Nutzer befragt oder beobachtet werden. Ganz ohne Bezug auf Nutzer sind auch sie nicht möglich. „Man sollte sich […] nicht der Illusion hingeben, dass es tatsächlich nutzerunabhängige, das heißt ausschließlich am Objekt orientierte Methoden zur Bewertung landschaftlicher Schönheit gibt. Richtig ist es, von Verfahren zu sprechen, die entweder unter Einbeziehung von Landschaftsnutzern oder vom Planer allein angewandt werden können.“16 Ganz generell gilt: „All visual quality assessment methods involve people, directly or indirectly, explicitly or implicitly.“17 Im Falle von Expertenverfahren besteht dieser Bezug auf Nutzer darin, dass die Expertin, wenn das Verfahren sachgerecht sein soll, aus dem Wissen über die physischen Eigenschaften und die Kultur einer Gegend einerseits und aus Annahmen über die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster potenzieller Nutzer der Gegend andererseits ableiten muss, welche ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen die Gegend z. B. als Kulturlandschaft für potenzielle oder tatsächliche Nutzer haben dürfte. Diese Ableitungen beruhen auf Reflexionen 13 Siehe Kapitel 5.2, S. 105 f., und auch Kapitel 4.4, insb. S. 54-58. 14 Vgl. Demuth 2000: 89-96; Daniel 2001: 273; Wöbse 2002: 246-250; Arriaza et al. 2004; Roth 2012: 76 f. 15 Vgl. Demuth 2000: 97-102; Daniel 2001: 272; Wöbse 2002: 250-272; Tveit et al. 2006; Vouligny et al. 2009; Roth 2012: 75 f. 16 Wöbse 2002: 246. 17 Hull IV/Revell 1989: 324.

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der Expertin darüber, welche ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen die Kulturlandschaft für sie selbst hat, wobei sie z. B. Landschaftsbildbewertungsverfahren zu Rate ziehen kann, die auf solchen Reflexionen anderer Experten sowie auf Auswertungen von Befragungen und Beobachtungen von Nutzern beruhen. Dabei ist es erforderlich, dass die Expertin die kulturellen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der potenziellen Nutzer zu verstehen vermag, was am ehesten der Fall ist, wenn die Expertin und die potenziellen Nutzer derselben kulturellen Gemeinschaft angehören und die Expertin in der Lage ist, sich von ihren eigenen Vorlieben zu lösen. Sachlich angemessene Expertenverfahren haben hermeneutischen Charakter, insofern es um Sinnverstehen geht. Der Unterschied zum eigentlichen hermeneutischen Verfahren etwa bei der Deutung eines Landschaftsgemäldes, eines Naturgedichtes oder eines landschaftsarchitektonischen Entwurfs besteht lediglich darin, dass die Expertin nicht den Sinngehalt und kulturellen Wert des Werkes eines Menschen (das Ausdruck dieses Menschen ist) zu verstehen sucht, sondern zu verstehen sucht, welchen Sinngehalt und kulturellen Wert ein Naturphänomen (das sich keinem Ausdrucksgeschehen verdankt) aufgrund seiner ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen für andere Menschen hat. Expertenverfahren zur Erfassung der intrinsischen Werte von Natur sind demnach, zumindest im weiteren Sinne, den hermeneutischen Verfahren zuzuordnen, die den Gegenpol zu den erklärenden naturwissenschaftlichen Verfahren bilden.18 Entsprechendes könnte vielleicht gemeint sein, wenn im Rahmen des aktuellen IPBES-Verfahrens neuerdings „methods that apply a hermeneutic approach to the process of valuation“19 einbezogen werden sollen. Was eine angemessene nutzerunabhängige Erfassung der intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur methodisch erfordert und dass ökologische Parameter dazu nichts beizutragen vermögen, möchte ich an drei Beispielen illustrieren. 18 Zur hermeneutischen Methode siehe z. B. Gadamer [1960] 1990, zur kategori­ alen Differenz zwischen Erklären und Verstehen z. B. Apel, K.-O. 1979; vgl. zu beidem Schulz 2017. Zur Infragestellung der Ansicht, dass sich die Naturwissen­ schaften mithilfe dieser Unterscheidung methodisch von anderen Wissenschaf­ ten abgrenzen lassen, siehe Krohs 2014. 19 IPBES 2015: 39. „IPBES“ steht für Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services.

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(1) Martin Seel20 unterscheidet in seiner Naturästhetik analytisch zwischen kontemplativen, imaginativen und korresponsiven Naturwahrnehmungen. Charakteristisch für die kontemplative21 Wahrnehmung ist: Sie „verweilt bei den Erscheinungen, die ihr Gegenstand aufweist, sie ergeht sich in Unterscheidungen, die sie ihrem Gegenstand abgewinnt, ohne darüber hinaus auf eine Deutung zu zielen. […] Es ist die sinnfremde phänomenale Individualität eines Gegenstandes, auf die es bei der kontemplativen Wahrnehmung ankommt.“22 Inhalt dieser Erscheinungen können, wie in Seels Beispiel seines Blicks über den Bodensee, „das Tanzen der Lichtreflexe, die Wiederholung des Wellenschlags, die Fächerung der Farben, die Biegung der Uferlinie, die Weitung oder Verengung des Horizonts“23 sein. Dabei ist es „gerade die jederzeitige und jederzeit unberechenbare Veränderlichkeit der Szene, die den Betrachter dazu herausfordert, die Ziellosigkeit seiner [kontemplativen] Betrachtung durchzuhalten.“24 Kontemplative Wahrnehmungen sind nicht auf Naturphänomene beschränkt, diese laden jedoch besonders dazu ein, weil sie, entgegen Artefakten, nicht zu einem Zweck erzeugt worden sind. Aber es gilt doch: „Je mehr Natur, je freier die Natur, […] desto größer die kontemplative Attraktion.“25 Dabei meint ‚freie Natur‘ einen Phänomenbereich, der sich durch (graduelle) dynamische Eigenmächtigkeit bzw. (graduelle) Abwesenheit von technischer oder sonstiger Zurichtung durch einen Menschen auszeichnet.26 Ob ein Naturphänomen oder Gebiet als ‚freie Natur‘ wahrgenommen wird, hängt nicht ab von irgendwelchen ökologischen Eigenschaften, im Beispiel nicht von der Wassertemperatur, dem Fischbestand, dem Phosphorkreislauf usw. des Sees, sondern von ästhetischen Eigenschaften wie Lichtreflexen, Wellenbewegungen, Farbspielen usw.

20 Seel 1991; zusammenfassend siehe Siegmund 2012: 92-100; Schlette 2017: 192 f. 21 Gemeint ist nicht theoretische Kontemplation oder kontemplative Schau im Sinne der antiken theoria, die auf Erkenntnis zielt, sondern ästhetische Kontem­ plation, die sich ohne jegliches Erkenntnisinteresse vollzieht und ganz bei den sinnlichen Wahrnehmungen verbleibt (Seel 1991: 46, 50, 70-74). 22 Seel 1991: 39. 23 Ebd. 24 Ebd.: 38 f. 25 Ebd.: 85. 26 Ebd.: 20 f., 27. Zum graduellen Charakter von Natürlichkeit siehe Fuß­note 12 auf S. 17.

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(2) Die ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen von Kulturlandschaften – insbesondere Gefühle von Dazugehörigkeit, kultureller Identität und kultureller Kontinuität, die im ÖSDAnsatz als „cultural identity services“ und „cultural heritage services“ bezeichnet werden – beruhen wesentlich auf der Eigenart oder Einzigartigkeit von Kulturlandschaften.27 Um zu beurteilen, in welchem Maße eine Kulturlandschaft solche intrinsischen symbolischen und moralischen Werte hat, muss ermittelt werden, in welchem Maße ihre historisch entstandene Eigenart erhalten geblieben ist. Was ist methodisch erforderlich, um den Erhaltungsgrad der Eigenart einer Kulturlandschaft zu ermitteln? Der Referenzpunkt dafür ist nicht ein ökologischer Zustand der Kulturlandschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern das kulturell geprägte Idealbild dieser Kulturlandschaft. Man muss beurteilen, in welchem Maße das Bild der realen Kulturlandschaft noch mit diesem Idealbild übereinstimmt – in der Praxis der Landschaftsbildbewertung spricht man vom Erfüllungsgrad des Leitbildes für diese Landschaft.28 Dieser Erfüllungsgrad ist umso höher, einerseits, je vollständiger die als typisch für diese Kulturlandschaft geltenden Landschaftsbestandteile und Landschaftsstrukturen noch vorhanden sind, andererseits, je weniger nicht typische Landschaftsbestandteile und Landschaftsstrukturen es gibt – und inwieweit die Kulturlandschaft deshalb noch als in sich vielfältig differenzierte, typische Einheit wahrgenommen wird. Demnach sind nicht nur Methoden, die ökologische Parameter verwenden, grundsätzlich ungeeignet,29 sondern auch Methoden, die als Kriterium die Anzahl der Landschaftsbestandteile verwenden. Es kommt nicht an auf Diversität im Sinne von Vielzahl, also der absoluten Anzahl unterschiedlicher Landschaftselemente, sondern auf Diversität im Sinne von Vielfalt, also darauf, wie vollständig die für eine bestimmte Kulturlandschaft typischen Landschaftsbestandteile noch vorhanden sind und wie gering der Anteil untypischer Landschaftselemente noch ist.30 „An area’s […] value[s] 27 Siehe Kapitel 4.4, S. 64. 28 Siehe z. B. Demuth 2000: 104, 148, 155, 166, 172. 29 Dass landschafts- bzw. naturästhetische Theorien wie der evolutionäre Intuitio­ nismus und der szientifische Kognitivismus, die das Gegenteil behaupten, weder haltbar sind noch hinreichende Erklärungskraft für natur- und landschaftsästhe­ tische Phänomene haben, wurde in Kapitel 4.7, S. 85-95, gezeigt. 30 Ausführlich zur Unterscheidung von „Diversität als Vielzahl“ und „Diversität als Vielfalt“ siehe Kirchhoff 2012a; vgl. Kirchhoff/Trepl 2001: 34-44; Eisel 2006; Kirchhoff 2012c; 2012d; 2016b.

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with respect to feelings of belonging, cultural heritage, and other symbolic meanings […] essentially rely on an area’s unique character; thus, only an increase in characteristic elements will augment a landscape’s cultural value, whereas addition of uncharacteristic ones will diminish it.“31 Beispielsweise nimmt zwar die Anzahl der Landschaftselemente einer traditionellen Streuobstwiesenlandschaft zu, wenn dort eine Weihnachtsbaumplantage angelegt wird, aber ihr typisches Erscheinungsbild wird durch die Plantage – die einen Fremdkörper darstellt – beeinträchtigt.32 Entsprechendes gilt für ein intaktes Hochmoor, in dem sich die Anzahl der Landschaftselemente und auch die Artenzahl deutlich erhöht, wenn partiell entwässert und Torf gestochen wird – was aber zulasten der Eigenart des Landschaftsbildes sowie der Flora und Fauna des Hochmoores geht. (3) Dass im weiteren Sinne hermeneutische Methoden erforderlich und ökosystemtheoretische Methoden ungeeignet sind, um die intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur zu erfassen, möchte ich schließlich mithilfe eines Gedankenexperimentes zu einem Wildnisgebiet verdeutlichen: Stellen wir uns einen vom Menschen weitgehend unbeeinflussten, seit langem nicht mehr bewirtschafteten Wald vor, der auch nicht durch Wege erschlossen ist. Viele Menschen würden diesen wohl als eine Wildnis ansehen. Stellen wir uns nun vor, in diesem Wald würde man auf alle größeren Baumstämme in 150 Zentimetern Höhe einen 5 Zentimeter breiten gelben Farbstreifen aufmalen oder 10 Meter über dem Boden im Abstand von 100 Metern rote Seile parallel zueinander aufspannen. Meine These zu diesem Gedankenexperiment lautet: In beiden Fällen bleiben die ökologischen Bedingungen durch die Maßnahme praktisch unverändert, aber die Wahrnehmung des Waldes als Wildnis wird für viele Menschen erheblich beeinträchtigt sein, weil nun Symbole menschlicher Ordnung und Kontrolle allgegenwärtig sind. Ein reales aktuelles Beispiel einer solchen – nicht nur, aber wesentlich – symbolischen Beeinträchtigung dürften Windenergieanlagen sein, die in Wäldern errichtet werden.33 Angemessene Methoden für die Ermittlung der intrinsischen Werte von Wildnisgebieten müssen also zu bestimmen erlauben, in welchem 31 Kirchhoff 2012c, mit Verweis auf Eisel 2006 und Kirchhoff et al. 2012a. Vgl. Eser 1999: 211; Demuth 2000: 31; Kienast et al. 2007: 57, 63. 32 Vgl. Fischer-Hüftle 1997: 242. Siehe auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 6. August 2009, Az. 5 S 217/09. 33 Vgl. Kirchhoff 2014b.

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Maße Wildnis-Symboliken möglich sind bzw. durch menschliche Veränderungen und Artefakte beeinträchtigt werden.

6.2 Über nur scheinbar ökologische Methoden und Parameter Gibt es aber innerhalb des ÖSD-Ansatzes nicht Methoden und Studien zur Erfassung kultureller ÖSD, die ökologische Parameter verwenden und dennoch – entgegen meinen obigen Ausführungen – zu angemessenen Ergebnissen gelangen? Das möchte ich diskutieren anhand des einflussreichen Reviews von Daniel et al., die die Integration des kulturellen ÖSD in den ÖSD-Ansatz verbessern wollen, indem sie Methoden bzw. Modelle für deren Erfassung zusammentragen, die „explicitly link ecological structures and functions with cultural values and benefits“34. Mein nachfolgender kritischer Blick auf die von Daniel et al. herangezogenen Studien richtet sich nicht gegen diese Studien, sondern nur gegen die Ansicht, mit Verweis auf solche Studien ließe sich die Rede von kulturellen ÖSD methodisch rechtfertigen. (1) Für die sogenannte kulturelle ÖSD Recreation and Tourism führen Daniel et al. Studien an, die belegen sollen, dass sich das Ausmaß dieser kulturellen ÖSD anhand ökologischer Parameter wie z. B. Arten- und Habitatdiversität abschätzen lässt: „Of course, most recreation activities depend on built infrastructure, accessibility, and other factors, but the fundamental importance of ecological conditions has been widely demonstrated […]. For a specific example, Fuller et al.35 […] surveyed visitors to urban/suburban parks and found that psychological well-being (gauged by factors derived from park visitor’s reports, including reflection, identity, and attraction) was positively correlated with the species richness and habitat diversity in the park.“36 All diese Aussagen finden sich auch tatsächlich in der Studie von Robert Fuller et al., jedoch geben Fuller et al. in der Diskussion zu bedenken, dass „the increase in psychological well-being with species richness and the accurate assessment of richness levels presumably operate through some proxy mechanism. Positive relationships between the number of 34 Daniel et al. 2012a: 8812. 35 Fuller, R. A. et al. 2007. 36 Daniel et al. 2012a: 8815.

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habitats in the greenspace and (i) psychological benefits gained by users and (ii) perceived levels of plant diversity hint that gross structural habitat heterogeneity might cue the perceptions and benefits of biodiversity.“37 Diese „gross structural habitat heterogeneity“ bestand gemäß der Klassifikation von Fuller et al. aus sieben Habitattypen: Annehmlichkeitspflanzung (amenity planting), gemähtes Grasland, ungemähtes Grasland, Gebüsch, Waldgelände, Wasserfläche und versiegelte Flächen.38 Das aber ist – nicht mehr, aber auch nicht weniger als – eine übliche lebensweltliche Differenzierung, die auf visuellen, im weiteren Sinne ästhetischen Unterscheidungen basiert (und auf Wissen um deren unterschiedliche lebensweltliche Nutzbarkeit rekurriert). Demnach weist die Studie von Fuller et al. zwar einen Einfluss der Diversität ästhetisch-symbolisch unterschiedener Naturphänomene auf die Erholungswirkung nach. Sie ist aber kein Beispiel dafür, dass ökologische bzw. systemtheoretische Parameter erfolgreich eingesetzt worden sind, um die intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur zu erfassen. (2) Für die sogenannte kulturelle ÖSD Cultural Heritage konstatieren Daniel et al.: „Although it is often difficult to measure in ES assessments, cultural heritage values for given socioecological contexts have been concretely linked to specific ecosystem features. There are numerous instances where particular types of forests, heaths, prairies, or deserts; particular species; or even individual plants or animals are strongly associated with cultural identities, place attachments, social practices, and images“.39 Dem zweiten Satz ist uneingeschränkt zuzustimmen, fraglich ist aber, ob die genannten Beispiele überzeugende Belege dafür sind, dass – wie im ersten Satz behauptet – Ökosystemeigenschaften maßgeblich für diese kulturellen ÖSD sind. Daraus, dass die Blumen eines Geburtstagsstraußes Exemplare bestimmter biologischer Arten sind, folgt nicht, dass ein Geburtstagsstrauß ein biologischer Gegenstand ist. Entsprechendes gilt – siehe Kapitel 4 – für alle genannten Naturphänomene: Es handelt sich um Natur, die lebensweltlich als ästhetisch-symbolischer Gegenstand wahrgenommen wird, und nicht um Natur, die als Ökosystem oder als Teil von Ökosystemen im naturwissenschaftlichen Sinne begriffen wird. Und Beispiele für eindeutig ökologische Me37 Fuller, R. A. et al. 2007: 393. 38 Ebd.: 390. 39 Daniel et al. 2012a: 8814.

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thoden und Parameter, mit denen die genannten Naturphänomene beschrieben werden könnten, um die kulturelle ÖSD Cultural Heritage zu erfassen, bleiben Daniel et al. schuldig. (3) Für die sogenannte kulturelle ÖSD Landscape Aesthetics verweisen Daniel et al. zunächst auf Rudolf de Groot et al., die ästhetische ÖSD über die „appreciation of natural scenery“, und auf Kai Chan et al., die ästhetische Werte ländlicher Gebiete über „the amount or configuration of open space in agricultural or forested (land use/land cover) types“ erfassen.40 Die benannten Studien verwenden jedoch gar keine ökologischen Parameter, sondern „emphasize visual landscape aesthetics, especially scenic beauty“, wie Daniel et al. selbst konstatieren – und Entsprechendes gilt für die danach von ihnen angeführten perceptual surveys.41 Sodann verweisen Daniel et al. darauf, dass auf der Basis von Befragungen entwickelte „[m]ultiple regression models have related specific land cover patterns to perception-based measure of aesthetic quality“.42 So zutreffend dieser Hinweis ist – sofern man einschränkend hinzufügt, dass die Korrelationen nur für landschaftsästhetische Qualitäten gelten, die unabhängig von landschaftlicher Eigenart sind –, ist doch wiederum fraglich, ob die Referenz auf „land cover patterns“ belegt, dass ökologische Parameter verwendet werden. Das Beispiel, das Daniel et al. anschließend geben, spricht eher dagegen: Robert Ribe „showed that timber harvest practices affected judgments of scenic beauty for northwestern US forest vistas; perceived beauty increased as the percentage of green trees retained in cut areas increased, so long as retained trees were evenly dispersed rather than clumped in small groups.“43 Was Ribe hier beschreibt, sind nämlich nicht ökologische Eigenschaften, sondern ästhetisch-symbolische, z. B. dass die belassenen Bäume ästhetisch den Eindruck von Monotonie verhindern und symbolisch anzeigen, dass auf eine vollständige Ausbeutung der Natur verzichtet wurde. (4) Für die sogenannte kulturelle ÖSD Spiritual and Religious Significance benennen Daniel et al.,44 entgegen ihrer Ankündigung, keine einzige Methode, die ökologische Eigenschaften mit dieser

40 Daniel et al. 2012a: 8813, mit Verweis auf de Groot et al. 2010 bzw. Chan et al. 2011. 41 Daniel et al. 2012a: 8813, für die perceptual surveys mit Verweis auf Daniel 2001. 42 Daniel et al. 2012a: 8813. 43 Ebd., mit Verweis auf Ribe 2005. 44 Daniel et al. 2012a: 8815.

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ÖSD verknüpft. Stattdessen benennen sie ganz und gar ‚unökologische‘ Methoden und Parameter wie die Suche nach „religious symbols (e. g., crosses or prayer flags on mountain summits, shrines along pilgrimage routes)“ oder die Analyse der „poetry of song and dance […], to unlock the secrets of the landscape; examples range from Aborigine’s song lines and pastoralists’ oral mappings to Euro­ pean romantic operas.“ Die in dem Abschnitt zudem enthaltenen Hinweise dazu, dass religiöse und andere spirituelle Werte von Natur den Schutz von Biodiversität und die Ausweisung von Naturschutzgebieten unterstützen können, sind zwar zutreffend, tragen aber nichts bei zur methodischen Rechtfertigung des Konzeptes der kulturellen ÖSD. Exkurs: Artendiversität – ein ökologischer und ein valider Parameter? Bevor ich ein Fazit aus den obigen Überlegungen ziehe, möchte ich noch genauer auf die Frage eingehen, ob die Artenzahl oder Artendiversität erstens ein ökologischer Parameter und zweitens ein valider Parameter für intrinsische ästhetische, symbolische und moralische Werte von Natur ist. Rose Graves et al.45 haben eine empirische Untersuchung durchgeführt zu der Frage: „How well does species richness perform as an indicator of CES value compared with revealed social preferences for wildflower communities?“ Dazu ließen sie 293 Besucher öffentlicher Wälder aus Fotos von Wildblumengesellschaften auswählen, auf denen die Anzahl (richness), Häufigkeit (abundance) und die Gleichverteilung (evenness) der Blumenarten sowie die Farbdiversität und das Vorkommen charismatischer Arten digital manipuliert worden war. Als Ergebnis erhielten sie: „Aesthetic preferences among images were unrelated to species richness but increased with more abundant flowers, greater species evenness, and greater color diversity.“ Dieses Ergebnis interpretiere ich als Indiz dafür, dass der ökologische Parameter ‚species richness‘ kein valider Parameter für die Erfassung der intrinsischen ästhetischen Werte von Natur ist. Dafür spricht zudem die Tatsache, dass die allermeisten Arten eines Gebietes lebensweltlich zumeist unbeachtet bleiben – man denke nur an die unzähligen Arten wirbelloser Kleintiere auf dem oder gar im Boden eines Waldes, die eine „unseen

45 Graves et al. 2017, die beiden nachfolgenden Zitate dort von S. 3774.

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majority“46 darstellen. Und im Hinblick auf die intrinsischen Werte von Natur können sie – anders als im Hinblick auf die extrinsischen versorgenden und regulierenden ÖSD,47 für deren Einschätzung auch der ökologische Parameter ‚species richness‘ durchaus aussagekräftig sein kann – auch unbeachtet bleiben, denn es kommt auf die Anzahl, Verteilung und Differenziertheit ästhetisch und symbolisch wirksamer Organismen(arten) an, auf die ästhetischsymbolische Diversität und nicht auf die absolute Artenzahl. Ein valider Parameter für intrinsische Werte kann die Artenzahl also überhaupt nur dann sein, wenn nicht die ökosystemtheoretisch relevante Artenzahl gemeint ist, sondern die Anzahl der ästhetisch, symbolisch und moralisch relevanten Arten. Die Anzahl der ästhetisch, symbolisch und moralisch relevanten Arten und allgemein der ästhetisch, symbolisch und moralisch relevanten Landschaftsbestandteile kann im Hinblick auf manche intrinsische Werte von Natur als Diversität im Sinne von Vielzahl erfasst werden, z. B. wenn es um den Abwechselungsreichtum einer Landschaft geht. Aber zumindest dann, wenn die Eigenart bzw. Einzigartigkeit einer Gegend konstitutiv für den intrinsischen Wert ist, muss stattdessen die Diversität im Sinne von Vielfalt erfasst werden.48 Das aber bedeutet: „This value can be assessed only through hermeneutic approaches that determine how far an actual landscape reflects the idea of this landscape and that judge how far the given arrangement corresponds to the specific meaningful scenery expected in this geographical region by the users“.49 Als Ergebnis meiner Analyse ist festzuhalten: Daniel et al.50 können ihr Programm, für alle sogenannten kulturellen ÖSD die Existenz von Methoden bzw. Modellen nachzuweisen, die „explicitly link ecological structures and functions with cultural values and 46 Van der Heijden et al. 2008: 296/title. 47 „Soil ecology has much to contribute to our understanding of important processes at the ecosystem level such as primary production as affected by the rhizosphere biota, organic matter dynamics and nutrient cycling and soil structure dynamics. Soil animals play an important part in these processes“ (Brussaard 1998: 123). Vgl. Wardle et al. 2004; Jouquet et al. 2006; Lavelle et al. 2006. 48 Zur Unterscheidung zwischen „Diversität als Vielzahl“ und „Diversität als Viel­ falt“ siehe S. 125. Zum Ideal kulturlandschaftlicher Eigenart siehe S. 59-64. 49 Kirchhoff 2012c. 50 Daniel et al. 2012a.

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benefits“,51 nicht überzeugend umsetzen. Entweder werden Methoden bzw. Parameter wie die Artenzahl benannt, die zwar ökologisch zu sein scheinen, sich aber bei Prüfung als nicht-ökologisch und stattdessen ästhetisch-symbolisch erweisen – so für Recreation and Tourism, Cultural Heritage sowie Landscape Aesthetics. Oder es werden Methoden und Parameter benannt, die ganz offensichtlich nicht ökologisch sind – so für Spiritual and Religious Significance. Diese Situation scheint mir repräsentativ zu sein für weite Teile der Diskussion um die Erfassung der sogenannten kulturellen ÖSD. Zumindest sehe ich keine Ansätze zu deren Erfassung, die tatsächlich ökologische Methoden und Parameter verwenden und dennoch zu einem angemessenen Ergebnis gelangen – und damit die Ergebnisse meiner ontologischen und konstitutionstheoretischen Kritik am Konzept der kulturellen ÖSD in Frage stellen würden. Das gilt auch dann, wenn auf der Basis eines szientifischen Kognitivismus versucht wird, die ästhetischen Werte von Gebieten zu ermitteln, indem die Integrität oder Natürlichkeit der dort vorkommenden Ökosysteme untersucht wird – denn der szientifische Kognitivismus beruht auf Prämissen, die nicht haltbar sind.52

6.3 Über zu Unrecht dem Ökosystemdienstleistungs-Ansatz zugeordnete Studien Aber ignoriert meine methodologische Kritik am Konzept der kulturellen ÖSD nicht, dass es innerhalb des ÖSD-Ansatzes seit einigen Jahren Studien gibt, deren Ziel es ist, kulturelle ÖSD zu erfassen, und für die zu konstatieren ist, dass die verwendeten Methoden geeignet sind, um die intrinsischen ästhetischen, moralischen und symbolischen Werte von Natur zu erfassen? Verweisen könnte man diesbezüglich z. B. auf die 2016 erschienenen Studien „Conceptualising cultural ecosystem services: A novel framework for research and critical engagement“ und „Making space for cultural ecosystem services: Insights from a study of the UK nature improvement initiative“ von Robert Fish et al. sowie „Cultural ecosystem services of mountain regions: Modelling the aesthetic value“ von Uta Schirpke et al.53 51 Ebd.: 8812. 52 Siehe Kapitel 4.7, S. 92-94. 53 Fish et al. 2016a; 2016b; Schirpke et al. 2016.

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Auch ich bin der Ansicht, dass es zahlreiche Studien gibt, die von ihren Autorinnen und Autoren dem ÖSD-Ansatz zugeordnet werden, als deren Inhalt die Erfassung kultureller ÖSD benannt wird und die (trotzdem) sehr gute Beiträge zur Erfassung der intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur liefern. Solche Studien gibt es sogar schon länger, z. B. die 2010 erschienene Studie „Cultural ecosystem services in the context of offshore wind farming“54 von Kira Gee und Benjamin Burkhard. Solche Studien sind aber, wenn man nicht die gewählten Bezeichnungen, sondern die Begrifflichkeit der Gegenstandsbestimmung und der Methodik als Kriterien zugrunde legt – entgegen der Selbsteinschätzung ihrer Autorinnen und Autoren oder vielleicht sogar nur entgegen der von ihnen aus strategischen Gründen vorgenommen Selbsteinordnung ihrer Studien – de facto gar nicht dem ÖSD-Ansatz zuzuordnen. Das Label „ÖSD-Ansatz“ oder die Rede von „kulturellen ÖSD“ impliziert nicht, dass eine Studie tatsächlich konzeptionell dem ÖSD-Ansatz zuzuordnen ist. So haben David Abson et al. in ihrer Analyse von peer-reviewed Publikationen zu „ecosystem services“ für etwa ein Drittel der Publikationen gefunden, „[that] they either used the ecosystem services concept as a buzzword (e.g. as a post hoc justification for the research), or ecosystem services was only a minor focus of the publication.“55 Betrachten wir exemplarisch die oben zitierten Studien von Fish et al. Die Autoren legen eine Theorie der Ko‑Konstruktion der sogenannten kulturellen ÖSD zugrunde: „Conceptually, the framework’s relational focus is designed to clarify that services and benefits do not simply arise from ecosystems, but are co-constructed through the interaction between people and their environments“.56 Fish et al. konzeptualisieren diesen Ko-Konstruktionsprozess aber, wie sich im obigen Zitat schon andeutet, nicht als Interaktion zwischen Ökosystemen und sozialen Systemen, sondern als Interaktion zwischen „environmental spaces“, die sie als „[g]eographical contexts of interactions between people and nature“ charakterisieren, und „cultural practices“, die sie als „[a]ctivities that relate people to each other and the natural world“ charakterisieren.57 Dabei begreifen sie nicht erst das Ergebnis der Interaktion zwischen „en54 55 56 57

Gee/Burkhard 2010: 349/title. Abson et al. 2014: 30. Fish et al. 2016b: 330. Fish et al. 2016a: 221; ebenso 2016b: 331.

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vironmental spaces“ und „cultural practices“, sondern bereits die „environmental spaces“ explizit als „culturally constructed“58 – und begreifen diese also nicht als beobachterunabhängige Gegenstände, die aus Ökosystemen bestehen. Und nicht einmal die Natur-Seite der kulturellen Konstruktion dieser „environmental spaces“ konzeptualisieren die Autoren als Ökosystem, sondern als „[b]iophysical domain“59 – also ohne Festlegung auf eine bestimmte Art und Weise der Konzeptualisierung von Natur. Der Begriff „ecosystem“ wird von Fish et al. in der graphischen Darstellung ihres „conceptual framework for cultural ecosystem services“60 überhaupt nicht verwendet, um irgendeinen Gegenstand zu bezeichnen; außer in dem Ausdruck „cultural ecosystem services“ kommt er gar nicht vor. Und auch in der Erfassungsmethodik spielen ökosystemtheoretische oder andere ökologische Eigenschaften keine Rolle: „We used a structured questionnaire survey to make an assessment of cultural services and benefits that reflected the conceptual framework outlined above. The questionnaire primarily involved respondents ticking standardized response boxes but contained space for open, qualitative, comment. It solicited general insights on: the ‚qualities‘ people felt were associated with the surrounding natural environment (covering a range of attributes such as associations with scenic value, tranquillity and character); the types of ‚practices‘ they engaged in (such as walking, creative practice and gardening); and the ‚benefits‘ arising (such as solitude, relaxation, sharing).“61 Ähnliches gilt für die oben zitierte Studie von Schirpke et al.:62 Die Studie ist eine klassische Landschaftsbildanalyse, die sich auf Befragungen zu alpinen Landschaften mittels eines Fotovergleichs stützt. Sie enthält keinerlei Aussagen dazu, ob und wie Ökosystemprozesse zu den ästhetischen Qualitäten der Alpenlandschaften beitragen, sondern liefert Ergebnisse der folgenden Art: „Very high values were assigned to pictures of the subalpine and alpine landscape with long vistas […], and pictures including settlements, infrastructure or intensive agricultural use obtained the lowest values.“ Demnach gibt es keine konzeptionelle Rechtfertigung dafür, die zitierten und zahlreiche entsprechende Studien dem ÖSD-Ansatz 58 59 60 61 62

Fish et al. 2016a: 221; vgl. 2016b: 335. Fish et al. 2016a: 221; ebenso 2016b: 331. Fish et al. 2016a: 221; ebenso 2016b: 331. Fish et al. 2016b: 332. Schirpke et al. 2016, beide nachfolgende Zitate: 82.

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zuzuordnen und zu behaupten, dass die intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur, die in solchen Studien fraglos erfasst werden, entsprechend dem Konzept der kulturellen ÖSD erfasst würden. Es handelt sich vielmehr um Studien, die konzeptionell und methodisch außerhalb des ÖSD-Ansatzes liegen, aber – aus welchen Gründen auch immer – dessen Terminologie aufgreifen.

6.4 Resümee für den vierten Kritikpunkt In diesem Kapitel habe ich die Hypothese entwickelt, dass die ontologischen und konstitutionstheoretischen Fehler, die mit dem Konzept der kulturellen ÖSD verbunden sind, zwangsläufig zu methodischen Fehlern bei der Erfassung der intrinsischen, nicht-instrumentellen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur führen. Sodann habe ich gezeigt, dass Studien, die gegen diese Hypothese zu sprechen scheinen, entweder nur scheinbar ökologische Parameter verwenden oder zwar auf die Terminologie des ÖSD-Ansatzes zurückgreifen, aber konzeptionell und methodisch außerhalb dieses Ansatzes liegen. Demnach spricht in methodischer Perspektive nichts für und vieles gegen das Konzept der kulturellen ÖSD. Valide Methoden zur Erfassung der intrinsischen Werte von Natur erfordern eine kategorial andere Konzeptualisierung von Natur als sie im ÖSD-Ansatz vorgegeben ist. In eine ähnliche Richtung weisen die Überlegungen von Tengberg et al.,63 die konstatieren: „The specific concept of ecosystem services is mainly based on natural science paradigms, which make it difficult to apply the concept in safeguarding of cultural ecosystem services.“ Im Gegensatz zu Tengberg et al. halte ich die Anwendung des ÖSD-Konzeptes und damit von naturwissenschaftlichen Methoden und Parametern bei der Erfassung der intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur jedoch nicht nur für schwierig, sondern für sachlich unangemessen. In der Praxis der Erfassung dieser intrinsischen Werte von Natur generiert das Konzept der kulturellen ÖSD bestenfalls nur verwirrende Inkonsistenzen zwischen der naturwissenschaftlichen Konzeptualisierung von Natur als Ökosystem einerseits und Methoden 63 Tengberg et al. 2012: 15.

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zur Erfassung der intrinsischen Werte von Natur, die Natur implizit oder explizit als ästhetisch-symbolisch-moralischen Gegenstand konzeptualisieren. Schlimmstenfalls führt das Konzept der kulturellen ÖSD dazu, dass man bei der Bewertung von Naturphänomenen tatsächlich ökologische, nicht‑valide Parameter verwendet und so ihre intrinsischen Werte nicht richtig erfasst. Insbesondere zwei Gefahren ergeben sich dadurch: erstens, dass die Relevanz ästhetisch-symbolisch-moralisch besonders wirksamer Landschaftsbestandteile, die ökologisch relativ wenig Einfluss haben, unterschätzt wird – z. B. das Vorkommen von Edelweiß in einer Alpenlandschaft; zweitens, dass man irrtümlich meint, mit der Erhaltung bzw. Verbesserung der Funktionsfähigkeit von Ökosystemen würde (immer auch) eine Erhaltung bzw. Verbesserung der intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Natur einhergehen. Dies alles kann dazu führen, dass Maßnahmen zur Erhaltung oder Optimierung der intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur nicht optimal oder sogar falsch konzipiert werden. Diese Problematik ist nicht auf das Konzept der kulturellen ÖSD beschränkt. Sie tritt immer dann auf, wenn nicht hinreichend zwischen objektivierenden naturwissenschaftlichen und subjektivierenden nicht-naturwissenschaftlichen Auffassungen von Natur bzw. zwischen extrinsischen, instrumentellen und intrinsischen, nicht-instrumentellen Werten von Natur unterschieden wird. Das ist beispielsweise auch in Diskursen um die Erhaltung von Biodiversität der Fall, z. B. wenn nicht hinreichend zwischen Artenvielzahl als Voraussetzung für die funktionale Resilienz ökologischer Systeme einerseits und Artenvielfalt als Basis kultureller Symboliken unterschieden wird. Und erst recht tritt diese Problematik auf, wenn ein szientifischer Naturalismus vertreten wird, der behauptet, für alle Wirklichkeitsbereiche seien valide naturwissenschaftliche Beschreibungen möglich (siehe Kapitel 1).

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7. Kritikpunkt 5: Ein kommunikativ problematischer Begriff

„Gestern bin ich in einem schönen Ökosystem spazieren gegangen.“ „Im Urlaub haben wird die Farbenpracht der uns unbekannten Ökosysteme bewundert.“ „Es war ein faszinierender Anblick, als die Sonne im Meerökosystem versank.“ Derartige Sätze werden normalerweise nicht gesagt. Stattdessen sprechen wir davon, dass wir in einer Landschaft spazieren gegangen sind, die Farbenpracht eines Waldes bewundert haben oder uns der Sonnenuntergang im Meer fasziniert hat. Wenn es um die intrinsischen Werte von Natur, um ihre ästhetischen Qualitäten, symbolischen Bedeutungen und moralischen Wertschätzungen geht, dann bezeichnen wir Naturphänomene auf vielfältige Weise – aber normalerweise nicht als „Ökosystem“.1 Wissenschaftliche Untersuchungen zum semantischen Hof des Ökosystembegriffs, zu seinen Konnotationen und zu den mit ihm verbundenen Assoziationen liegen mir zwar nicht vor.2 Dennoch scheint mit Blick auf den oben skizzierten alltäglichen Sprachgebrauch, auf meine Ausführungen zum Gegenstand der intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Natur (Kapitel 4) sowie auf die Herkunft des Ökosystembegriffs aus der Naturwissenschaft Biologie folgende Hypothese plausibel: Der Ökosystembegriff ist mit Konnotationen und Assoziationen verbunden, die semantisch und emotional nicht zu denjenigen Konnotationen und Assoziationen passen oder gar konträr sind zu denjenigen, die bei intrinsischen Werten von Natur eine Rolle spielen. Bei diesen Werten geht es um die Ästhetik, Symbolik und moralische Bewertung von Naturphänomenen, um Emotionen und Gefühle, um Sinn und Verpflichtungen. Es geht um Natur, die auf 1

Vgl. Reichholf (2016: 39), der konstatiert: „Wir brauchen keine Pseudo-Verwis­ senschaftlichung, sondern nennen den Wald, den See, den mageren, artenreichen Hang, den wir erhalten sehen wollen, nicht ‚Ökosystem Wald‘ … “ usw. 2 Was zu untersuchen wäre, lässt sich den Studien von Hard (1969; 1970a) zum semantischen Hof des Wortes „Landschaft“ entnehmen.

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Kritikpunkt 5: Kommunikative Problematik

der Basis intersubjektiver Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in subjektivierender Weise als ästhetischer Gegenstand, als kollektives Symbol und als Gegenstand moralischer Verpflichtungen wahrgenommen wird. Es geht um Qualitäten wie schön, erhaben, einzigartig, anmutig, heroisch, geheimnisvoll, angsteinflößend und um Symbole für Heimat, Identität, Tradition, gutes Leben, Authentizität, Freiheit, Lebendigkeit, Unkontrolliertheit, Funktionslosigkeit usw. und um moralische Bewertungen wie ‚erhaltenswert‘ und ‚zu bewahren‘. Der Ökosystembegriff hingegen steht für eine objektivierende, naturwissenschaftliche Wahrnehmung von Natur, bei der Begriffe wie Stoff- und Energiefluss, ökologische Interaktion, Primärproduzent, Konsument, Destruent, Entropie, Biomasse, Populationswachstum usw. eine zentrale Rolle spielen und die mit Konnotationen und Assoziationen wie Determinismus, Kontrolle, Funktion, Verwertung, Ressource, Manipulierbarkeit usw. verbunden ist. Diese Konnotationen und Assoziationen ergeben sich daraus, dass die naturwissenschaftliche Perspektive auf Natur, wenngleich ihre Urteilsform theoretisch und wertungsfrei ist, mit technisch-praktischen Interessen verbunden und insofern nicht neutral bzw. wertfrei ist. Die analytisch-empirischen Naturwissenschaften beschreiben nicht die Natur, wie sie ‚an sich‘ beobachterunabhängig ist, sondern es verhält sich so, „daß sich die erfahrungswissenschaftlich relevanten Tatsachen als solche durch eine vorgängige Organisation unserer Erfahrung im Funktionskreis instrumentalen Handelns erst konstituieren [… und] daß erfahrungswissenschaftliche Theorien die Wirklichkeit unter dem leitenden Interesse an der möglichen informativen Sicherung und Erweiterung erfolgskontrollierten Handelns erschließen. Dies ist das Erkenntnisinteresse an der technischen Verfügung über vergegenständlichte Prozesse.“3 Über diesen generellen Bezug von Naturwissenschaft auf Technik hinaus ist der Begriff des Ökosystems ein besonders deutliches Beispiel dafür, dass die „Biologie […] in vielen ihrer Konzepte bereits eine sog. Technomorphie [zeigt], was bedeutet, dass sie biologische Kategorien mit Hilfe technischer Konzepte wie Funktion, Organismus und Information entwirft, die auf dem Prinzip der Zweckmäßigkeit beruhen und daher zweckinstrumentell modelliert und extrapoliert

3 Habermas [1965] 1968: 156 f. Zur gesellschaftlichen Konstitution von Natur sowie zu deren dia- und synchron unterschiedlichen Formen siehe die in Fußno­ te 29 auf S. 104 genannte Literatur.

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werden können.“4 Der Ökosystembegriff ist eine technomorphe Naturauffassung, weil mit ihm Natur analog zu einer Maschine bzw. Fabrik begriffen wird, die sich durch Stoff- und Energieflüsse charakterisieren lässt und bestimmte Funktionen erbringt. Innerhalb der Biologie steht gerade der Ökosystembegriff für Visionen der Regulation, Beherrschung und sogar Konstruktion von Natur – auch wenn in Reaktion auf solche Visionen die Ansicht vertreten wird, natürliche Ökosysteme seien zu komplex, um sie regulieren und beherrschen oder gar durch künstlich konstruierte Ökosysteme ersetzen zu können. Weil demnach die Konnotationen und Assoziationen des Ökosystembegriffs semantisch und emotional nicht zu denjenigen Konnotationen und Assoziationen passen, um die es bei den intrinsischen ästhetischen und symbolischen Werten von Natur, von Landschaft,5 von Wildnis usw. geht, ist das Konzept der kulturellen ÖkosystemDienstleistungen kommunikativ problematisch. Insbesondere ist zu befürchten, dass Laien in Texten, die den Ökosystembegriff verwenden, die von ihnen wertgeschätzte Natur und die ihnen wichtigen ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen von Natur – zu Recht – nicht repräsentiert sehen. Das beeinträchtigt bei Laien und lokalen Akteuren die Unterstützung und Akzeptanz von Maßnahmen zur Erhaltung der intrinsischen, nicht-instrumen­ tellen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur. Wenn deren Gegenstand in einer naturwissenschaftlichen Terminologie konzeptualisiert wird, dann passt das nicht zu der Art und Weise, wie Menschen durch ihre kulturellen Wahrnehmungsund Deutungsmuster emotional mit Naturphänomenen verbunden sind.6 Diese emotionale Verbundenheit ist aber eine ganz wesentliche Motivation für Umwelt- und Naturschutz und eine ganz wesentliche Basis für die Akzeptanz von Maßnahmen des Umwelt-

4 5

6

Karafyllis 2011: 247. Dieser Gegensatz besteht, obwohl nicht nur Natur als Ökosystem, sondern auch Natur als Landschaft ein Produkt oder Konstrukt menschlicher Wahrnehmung ist. Denn es handelt sich um kategorial verschiedene Weisen der Konstruktion: im Falle von Landschaften um eine ästhetisch-symbolische zentralperspektivi­ sche lebensweltliche, im Falle von Ökosystemen um kausale theoretisch-natur­ wissenschaftliche. Siehe hierzu Kapitel 4.4, S. 54-58, sowie Simmel [1913] 1957; Gombrich [1963] 1985; Ritter, J. 1963; Piepmeier 1980a; 1980b; Cosgrove 1985; Wedewer 1986. Vgl. Defra 2007; Setten et al. 2012: 309.

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und Naturschutzes. Entsprechend wird im UK NEA7 festgehalten: „A recent survey suggests that in the UK, ecosystem services is not a meaningful framework of interpretation of human-environment relations for the vast majority of people, although it has gained traction in science policy. Culturally, the concepts which have most meaning are those of nature, place and landscape“. Kommunikativ problematisch am Konzept der kulturellen ÖSD ist nicht nur der Ökosystembegriff, sondern auch der Dienstleistungsbegriff, weil viele Menschen ihre nicht-instrumentellen ästhetischen, symbolischen und moralischen Wertschätzungen von Natur – zu Recht – in der Rede von Dienstleistungen (services) und Vorteilen (benefits) nicht repräsentiert sehen dürften. Diese beiden kommunikativen Probleme entfallen, wenn man – wie ich oben bereits aus anderen Gründen vorgeschlagen habe – nicht von kulturellen Ökosystem-Dienstleistungen, sondern von den ästhetischen, symbolischen und moralischen „Werten von Natur“ spricht (siehe Kapitel 8).

7

UK NEA 2011a: 40; vgl. Defra 2007: 40-42.

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8. Plädoyer für eine pluralistische Konzeptualisierung von Natur

8.1 Zusammenfassung: Fünf kritische Thesen zum Konzept der kulturellen Ökosystemdienstleistungen Mit dem Konzept der kulturellen Ökosystemdienstleistungen ist eine sachlich unangemessene terminologische Engführung auf einen ethischen Subjektivismus verbunden. Die im ÖSD-Ansatz etablierte Rede von Dienstleistungen (services) und Vorteilen (benefits) mag angemessen sein im Hinblick auf versorgende und regulierende ÖSD. Im Hinblick auf die Werte von Natur, die im ÖSD-Ansatz unter das Konzept der sogenannten kulturellen ÖSD gefasst werden, ist sie jedoch nicht umfassend genug. Sie erfasst nur einen Teil des Spektrums von Werten, das dann de facto angesprochen wird. Denn die Rede von services und benefits gehört in den Rahmen eines ethischen Subjektivismus, der nicht nur die Existenz objektiver theozentrischer und objektiver physiozentrischer Werte leugnet, sondern auch die Existenz objektiver intrinsischer anthropozentrischer Werte. Nicht gerecht wird die Terminologie des ÖSD-Ansatzes der Tatsache, dass es bei den intrinsischen Werten von Natur wesentlich auch um etwas geht, das kategorial verschieden ist von subjektiven Bedürfnissen und Präferenzen bzw. Annehmlichkeiten: nämlich um kulturell geprägte intersubjektive Werte und moralische Verpflichtungen bzw. um kulturellen Sinn. Mit dem Konzept der kulturellen Ökosystemdienstleistungen wird der Gegenstand der intrinsischen, nicht-instrumentellen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur falsch bestimmt. Das Konzept der kulturellen ÖSD erweckt den falschen Eindruck, der Gegenstand der unter dieses Konzept gefassten intrinsischen Werte seien Ökosysteme (realistischer Ökosystembegriff) oder ihr Gegenstand sei zumindest als Ökosystem konzeptua­ lisierbar (konstruktivistischer Ökosystembegriff),1 wobei der Öko1

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systembegriff jeweils einen naturwissenschaftlichen Gegenstand bezeichnet und im ÖSD-Ansatz auch in diesem Sinn definiert wird. Die intrinsischen Werte von Natur beziehen sich aber – wie ich für unbelebte Naturphänomene, einzelne Lebewesen, Landschaftsbestandteile, Kulturlandschaften oder Wildnis gezeigt habe – auf von Ökosystemen kategorial verschiedene Gegenstände: nämlich auf lebensweltliche ästhetische Repräsentationen von Natur, die mit kulturell geprägten symbolischen Bedeutungen und moralischen Verpflichtungen verbunden sind. Wenn wir Naturphänomene wegen ihrer ästhetischen Qualitäten, symbolischen Bedeutungen und zudem moralisch wertschätzen, dann nehmen wir sie nicht so wahr, dass sie unter die Definition eines „Ökosystems“ fallen würde. Und Eigenschaften, die für diese intrinsischen Werte entscheidend sind, lassen sich auch nicht mit naturwissenschaftlichen Begriffen beschreiben. Das Konzept der kulturellen Ökosystem-Dienstleistungen ist also sachlich unangemessen. Das Konzept der kulturellen Ökosystemdienstleistungen lässt sich angesichts des zweiten Kritikpunktes nicht hinreichend mit dem Argument rechtfertigen, Ökosysteme seien zwar nicht der Gegenstand der intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Natur, leisteten aber doch einen wesentlichen ko-produktiven Beitrag zu diesen. In wesentlichen Fällen liegt nämlich – das habe ich am Beispiel von abiotischen Naturphänomenen, einzelnen Lebewesen, Landschaft und Wildnis gezeigt – entweder kein nennenswerter Beitrag von Ökosystemen zu diesen Werten vor oder dieser Beitrag liegt zwar vor, ist aber nicht konstitutiv für die intrinsischen Werte von Natur, sondern trägt nur zur ‚Reproduktion‘ der belebten Träger dieser Werte bei. Denn die intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Natur lassen sich, anders als ihre extrinsischen, instrumentellen Werte, nicht kausal durch Rekurs auf ökologische Eigenschaften erklären, sondern sie werden durch kulturell geprägte Wahrnehmungs- und Deutungsmuster konstituiert. Die mit dem Konzept der kulturellen Ökosystemdienstleistungen verbundenen ontologischen und konstitutionstheoretischen Fehler führen zu methodischen Fehlern bei der Erfassung der intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Natur. Denn wenn man Ökosysteme als Gegenstände und als ‚Produzenten‘ der intrinsischen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur bestimmt, dann impliziert dies – weil wissenschaftliche Methoden auf der zugrunde liegenden Ontologie basieren müssen – Methoden, mit denen objektive Eigenschaften von ökosystemaren Prozessen

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oder ökosystemaren Strukturen oder Produkten von Ökosystemen durch naturwissenschaftliche Parameter erfasst werden, um diese Werte zu ermitteln. Solche Eigenschaften und Parameter sind aber ungeeignet, um die ästhetischen Qualitäten, symbolischen Bedeutungen und moralischen Wertschätzungen von Natur zu erfassen. Das Konzept der kulturellen ÖSD führt zu einer ungerechtfertigten Ausweitung des Anwendungsbereichs naturwissenschaftlicher Methoden und damit zu einem unangemessenen szientifischen Naturalismus. Studien, die gegen diese Schlussfolgerung zu sprechen scheinen, verwenden entweder nur scheinbar ökologische Parameter oder greifen zwar auf die Terminologie des ÖSD-Ansatzes zurück, liegen aber konzeptionell und methodisch außerhalb dieses Ansatzes. Valide Methoden zur Erfassung der intrinsischen, nicht-instrumentellen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur erfordern eine kategorial andere Konzeptualisierung von Natur als sie im ÖSD-Ansatz vorgegeben ist. Die mit dem Konzept der kulturellen ÖSD verbundenen methodischen Fehler sind praktisch relevant, weil sie dazu führen können, dass Maßnahmen zur Erhaltung oder Optimierung dieser Werte falsch oder zumindest nicht optimal konzipiert werden. Das Konzept der kulturellen Ökosystemdienstleistungen ist kommunikativ problematisch. Denn der Ökosystembegriff hat naturwissenschaftlich-technische Konnotationen und Assoziationen, die semantisch und emotional nicht zu denjenigen Konnotationen und Assoziationen passen oder gar konträr sind zu denjenigen, die bei intrinsischen, nicht-instrumentellen Werten von Natur, Landschaft und Wildnis im Spiel sind. Zudem dürften viele Menschen ihre ästhetischen, symbolischen und moralischen Wertschätzungen durch die Rede von Dienstleistungen und Vorteilen nicht angemessen repräsentiert sehen.

8.2 Schlussfolgerung: Das Konzept der kulturellen Ökosystemdienstleistungen sollte aufgegeben werden In der Gesamtschau auf meine Analyseergebnisse wird deutlich, dass das Konzept der kulturellen ÖSD mit gravierenden terminologischen, ontologischen, konstitutionstheoretischen, methodischen und kommunikativen Problemen und sogar Fehlern verbunden ist. Dem stehen keine zwingenden Gründe gegenüber, aus denen man –

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zumindest in bestimmten Fällen – von kulturellen ÖSD sprechen müsste, wenn man die intrinsischen, nicht-instrumentellen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur thematisieren möchte. Deshalb sollte das Konzept der kulturellen ÖSD aufgegeben werden. Ich gelange also im Ergebnis meiner Analysen zu einer Einschätzung, die Robert Fish, ohne dafür im Detail Gründe zu nennen, den meisten Kulturtheoretikern zuschreibt: nämlich „[that] many of whom would be more likely to regard [the concept of] cultural ecosystem services as an object of critique, rather than a concept to be embraced.“2 Gegen diese Schlussfolgerung könnte man anführen wollen, dass das Konzept der kulturellen ÖSD mittlerweile recht gut etabliert ist. Es aufzugeben würde nach Meinung einiger Autoren dazu führen, dass die intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Natur noch weniger Berücksichtigung fänden, als es ohnehin (immer noch) der Fall ist. Man solle am Konzept der kulturellen ÖSD festhalten getreu dem Motto: „‚better cultural ecosystem services than no culture at all‘“.3 Dieser Einschätzung ist jedoch entgegenzuhalten: Die behauptete Konstellation, dass die intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Natur entweder als kulturelle ÖSD oder gar nicht berücksichtigt werden, besteht überhaupt nicht. Denn es gibt alternative, ältere Ansätze zur Erfassung dieser Werte von Natur, die schon lange und erfolgreich in der Praxis angewandt werden, beispielsweise in der Landschaftsbildbewertung im Rahmen der Landschaftsplanung in Deutschland und beim „Landscape Character Assessment“ in England und Schottland. Ich möchte sogar die These wagen: Das meiste von dem, was heutzutage unter Bezeichnungen wie „assessment of cultural ecosystem services“ an theoretischen und empirischen Studien vorgelegt wird, beinhaltet, wenn die ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen angemessen erfasst werden, der Sache nach entweder kaum etwas anderes als diese älteren Ansätze. Oder es handelt sich um – oftmals sehr gute – Weiterentwicklungen der Methoden dieser älteren Ansätze, die konzeptionell und methodisch außerhalb des ÖSD-Ansatzes liegen, auch wenn sie dessen Terminologie verwenden (siehe die 2 Fish 2011: 674. 3 Fish (2011: 674) formuliert hier nicht seine eigene Ansicht, sondern eine mög­ liche Position in der Diskussion um das Konzept der kulturellen ÖSD, die z. B. Daniel et al. (2012b) eingenommen haben in Reaktion auf die Kritik am Konzept der kulturellen ÖSD von Kirchhoff (2012c).

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Kapitel 6.2 und 6.3). Was methodisch geboten wird, ist ‚Guter alter Wein in neuen Schläuchen mit falschem Etikett‘. Nicht das Verwerfen des Konzeptes der kulturellen ÖSD, sondern das Konzept der kulturellen ÖSD selbst birgt die Gefahr, dass die so wichtigen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur nicht angemessen erfasst werden und die gesellschaftliche Verständigung über deren Erhaltung untergraben wird. Dies liegt auch daran, dass das Konzept der kulturellen ÖSD, wie Fish vermutet, offenbar wenig geeignet ist, um den wissenschaftlichen Dialog zwischen Disziplinen wie Ökologie, Kulturwissenschaften und Naturästhetik zu fördern. Deshalb plädiere ich – obwohl es mir wie Daniel et al.4 und anderen Vertreterinnen und Vertretern des Konzeptes der kulturellen ÖSD darum geht, die Berücksichtigung der intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Natur zu verbessern – für eine andere Strategie als die von diesen verfolgte. Während diese Autorinnen und Autoren das Ziel erreichen wollen, indem sie die sogenannten kulturellen ÖSD besser in den ÖSD-Ansatz integrieren, plädiere ich dafür, die intrinsischen, nichtinstrumentellen ästhetischen, symbolischen und moralischen Werte von Natur außerhalb des ÖSD-Ansatzes auf der Basis einer für sie angemessenen, nicht-ökologischen Terminologie, Ontologie und Methodik zu behandeln.5

8.3 Lösungsvorschlag: Natur und ihre Werte pluralistisch konzeptualisieren Wenn man, wofür einiges spricht, einen Oberbegriff zur Verfügung haben möchte, unter den sich alle Werte von Natur und alle dabei relevanten Wahrnehmungsweisen von Natur fassen lassen, so muss ein Oberbegriff verwendet werden, der – anders als das Konzept der Ökosystemdienstleistungen – weder eine Engführung auf bestimmte Werte von Natur noch eine Engführung auf eine bestimmte Wahrnehmungs- oder Konzeptualisierungsweise von Natur beinhaltet.

4 5

Daniel et al. 2012a; 2012b. Vgl. Kirchhoff 2012c; 2012e.

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„Werte von Natur“ als umfassender Oberbegriff Als umfassender Begriff für alle Nützlichkeiten, Bedeutungen und Wertschätzungen von Natur bietet sich der Begriff „Werte“ (values) an. Dabei meint „Wert“ hier – das gilt es zu beachten – nicht den Grund, sondern das Ergebnis einer Wertung: Wert meint eine Eigenschaft oder eine Qualität, die einem Naturphänomen zugeschrieben wird (attributiver Wert), aufgrund eines Prinzips ‚im Hintergrund‘, das bestimmt, welche Gegenstände aufgrund welcher Eigenschaften und Qualitäten als wertvoll beurteilt werden (axiologischer Wert).6 Der Wertbegriff wird, auch wenn er keineswegs eindeutig und unproblematisch ist, in der Umwelt- bzw. Naturethik häufig in diesem umfassenden attributiven Sinne verwendet. Und er findet sich in dieser Bedeutung auch an einigen Stellen in den TEEB-Studien sowie in einem jüngst formulierten Vorschlag, den gesamten „ecosystem services framework“ umzubenennen in „ecosystem valuing framework“.7 Als Begriff, der den Gegenstand aller möglichen Werte von Natur zu umfassen vermag, weil er – anders als Begriffe wie „Ökosystem“, „Landschaft“ und „Wildnis“ – noch keine Wahrnehmungsund Konzeptualisierungsweise von Natur ausschließt, kommt nur der unbestimmte Naturbegriff selbst infrage. Es sind, entgegen der Ansicht z. B. von Robert Costanza et al.,8 Ausdrücke wie nature’s services und ecosystem services eben keine Synonyme, weil der Ökosystembegriff für eine bestimmte Konzeptualisierung von Natur steht und ein ontologischer Realismus bezüglich Ökosystemen nicht haltbar ist.9 Der Naturbegriff ließe sich allenfalls zum Begriff „Naturphänomen“ spezifizieren, wenn man betonen will, dass Wahrnehmungen von Natur den Ausgangspunkt der Wertschätzung von Natur bilden, oder zum Begriff „natürliche Umwelt“, wenn man betonen will, dass auch nicht wahrnehmbare Wirkungen von Natur zu berücksichtigen sind. Der Naturbegriff kann deshalb als dieser umfassende Begriff fungieren, weil Natürlichkeit nicht nur als ausschließender, klassifizierender Begriff (Natur versus

6 Zu dieser Doppeldeutigkeit des Wertbegriffs siehe Najder 1975: insb. 42–65; Ritsert 2013: 1–6. 7 Gunton et al. 2017: 253. 8 Costanza et al. 2017: 2. 9 Zu den unhaltbaren Voraussetzungen eines ontologischen Realismus bezüglich Ökosystemen siehe Kapitel 4.7, S. 81-83.

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Technik/Kunst/Geist usw.), sondern auch als komparativer Begriff verwendet werden kann, nach dem es Grade von Natürlichkeit gibt,10 sodass man unter ihn alle Gegenstände der nicht-sozialen Umwelt fassen kann, die Menschen als etwas wahrnehmen, das zumindest in Teilen auf natürliche Weise entstanden ist und/oder aktuell zumindest in Teilen eine natürliche Beschaffenheit aufweist. In Anlehnung an Gretchen Dailys berühmte Formulierung „Nature’s Services“,11 aber unter Vermeidung des werttheoretisch zu engen service-Begriffs, schlage ich deshalb vor, als Oberbegriff „Werte von Natur“ (values of nature; nature’s values) zu verwenden. Das ist in der Naturethik üblich12 und findet sich z. B. auch im Titelslogan „Making Nature’s Values Visible“ der TEEB-Homepage sowie zumindest im Titel des Aufsatzes „The value of nature and the nature of value“ von Daily et al.13 Von „Werten von Natur“ zu sprechen, beseitigt nicht nur die terminologischen, ontologischen und methodischen Fehler, sondern auch die kommunikativen Probleme, die mit dem Konzept der kulturellen ÖSD verbunden sind; denn der Naturbegriff funktioniert auch alltagssprachlich als Begriff, der alle relevanten Konnotationen und Assoziationen umfasst. Pluralistische Konzeptualisierung der „Werte von Natur“ Diese „Werte von Natur“ lassen sich dann, entsprechend einer naturethischen Axiologie,14 in Typen von Werten von Natur untergliedern. Dabei ist eines entscheidend: Die terminologische Bezeichnung, die begriffliche Bestimmung und die methodische Erfassung muss jeweils so erfolgen, wie es für den jeweiligen Werttypus und den korrespondierenden Gegenstandstypus angemessen ist. Es ist innerhalb der einheitlichen Konzeptualisierung als „Werte von Natur“ eine pluralistische Konzeptualisierung der verschiedenen Werte von Natur sowie ihrer jeweiligen Erfassung erforderlich.15 Eine universell anwendbare Evaluierungsmethode zu entwickeln – was 10 11 12 13 14 15

Siehe hierzu Fußnote 12 auf S. 17. Daily 1997. Siehe die auf S. 32 in den Fußnoten 2 und 3 genannte Literatur. Siehe TEEB 2017 bzw. Daily et al. 2000. Siehe hierzu meinen Vorschlag in Kapitel 3.1, S. 32-41. Vgl. Raymond et al. 2013, die verschiedenartige Metaphern für erforderlich halten, um die Beziehungen zwischen Menschen und ihrer natürlichen Umwelt zu verstehen.

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wohl eines der Hauptziele von Rudolf de Groot in seiner Publikation „Functions of Nature“16 war, die eine wesentliche Basis für das später entwickelte Konzept der ecosystem services darstellt17 – ist nicht sachlich angemessen realisierbar. Das wird ersichtlich aus einer Axiologie der Werte von Natur in Verbindung mit einer Reflexion darauf, dass den unterschiedlichen Werttypen von Natur ganz unterschiedliche Naturauffassungen zugrunde liegen. Für einen Teilbereich der „Werte von Natur“, nämlich für die extrinsischen, instrumentellen Werte, kann der ÖSD-Ansatz einschließlich seiner Unterscheidung in versorgende und regulierende ÖSD beibehalten werden. Ich plädiere also nicht dafür, den ÖSDAnsatz in Gänze zu verwerfen, aber dafür, seine Anwendung auf die extrinsischen, instrumentellen Werte zu beschränken – wobei allerdings die Werte abiotischer Naturphänomene auszunehmen sind.18 „Eudaimonistische Werte“, „kulturelle Werte“ oder „ästhetisch-symbolisch-moralische Werte“? Für die Erfassung der intrinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Natur müssen, wie dargelegt, Konzeptualisierungen außerhalb des ÖSD-Ansatzes gewählt werden. Ich spreche bewusst im Plural, weil es innerhalb der intrinsischen Werte nicht nur verschiedenartige Werttypen gibt, sondern diesen auch verschiedenartige Naturauffassungen zugrunde liegen, denen ‚nur‘ gemeinsam ist, nicht naturwissenschaftlich zu sein. So unterscheiden sich beispielsweise die Wahrnehmung und Wertschätzung eines Gebietes im Rahmen einer kontemplativen Naturauffassung, im Rahmen des Ideals landschaftlicher Eigenart und im Rahmen einer Sehnsucht nach Wildnis kategorial voneinander, wobei Natur jeweils unterschiedliche Werte hat für die jeweils unterschiedliche Eigenschaften ausschlaggebend sein können.19 Wegen dieser Pluralität ist es nicht leicht möglich, einen inhaltlich bestimmten und zugleich prägnanten Ausdruck für die in-

16 17 18 19

De Groot 1992. Burkhard et al. 2009: 2. Zur Begründung siehe Kapitel 5.1. Zur kontemplativen Naturauffassung siehe Kapitel 6.1, S. 124, zum Ideal land­ schaftlicher Eigenart siehe Kapitel 4.4, S. 59-64, zur Sehnsucht nach Wildnis siehe Kapitel 4.5, S. 67-76.

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trinsischen, nicht-instrumentellen Werte von Natur zu finden. Sie „eudaimonistische Werte“ zu nennen, wäre zwar prägnant, würde aber einerseits subjektive intrinsische Werte nicht (vollständig) einschließen und andererseits extrinsische, instrumentelle Werte nicht klar ausschließen.20 Von „kulturellen Werten“ zu sprechen halte ich ebenfalls nicht für überzeugend, womit noch ein weiterer Kritikpunkt am Konzept der kulturellen ÖSD formuliert ist. Erstens ist der Kulturbegriff vieldeutig: Zu unterscheiden sind zumindest ein totalitätsorientierter Kulturbegriff (Kultur als Gesamtheit der spezifischen Lebensform eines menschlichen Kollektivs in einer historischen Epoche), ein differenzierungstheoretischer Kulturbegriff (Kultur meint nicht eine Lebensweise als Ganze in allen ihren Aspekten, sondern nur solche intellektuellen und künstlerischen Aktivitäten, die einer normativen Ausdeutung würdig erscheinen) und ein bedeutungs- sowie wissensorientierter Kulturbegriff (Kultur als Komplex von dynamischen, revidierbaren, wenngleich nicht beliebig veränderbaren Sinnsystemen, symbolischen Ordnungen und Wissensordnungen, mit denen sich Menschen ihre Wirklichkeit als bedeutungsvoll erschaffen und sich so Handeln ermöglichen).21 Zweitens sind alle drei Kulturbegriffe entweder zu weit oder zu eng: ‚Kulturelle Werte von Natur‘ im Sinne des totalitätsorientierten Kulturbegriffs würden auch die extrinsischen, instrumentellen Werte von Natur umfassen.22 ‚Kulturelle Werte von Natur‘ im Sinne des differenzierungstheoretischen Kulturbegriffs würden viele der alltäglichen ästhetischen und symbolischen Werte von Natur nicht umfassen. Und ‚kulturelle Werte von Natur‘ im Sinne des bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriffs würden nicht sinnbezogene Werte von Natur, um die es z. B. bei kontemplativen Naturauffassungen und in bestimmten Wildnisauffassungen geht, nicht umfassen. Die beste Möglichkeit scheint mir – wie ich es im Verlaufe meiner Analyse schon stillschweigend getan habe – von „ästhetischen, symbolischen und moralischen Werten“ zu sprechen, auch wenn dieser aufzählende Ausdruck nicht besonders prägnant ist. Dabei meint „ästhetisch“ eine Perspektive, „die sich in vollzugsorientierter Aufmerksamkeit an die sinnliche und/oder 20 Siehe Kapitel 3.1, S. 40 f. 21 Zu diesen Kulturbegriffen siehe Reckwitz 2000: 64–90; vgl. Nünning 2009. 22 Vgl. Kapitel 3.2, S. 41. Vgl. Church et al. 2014: 5, die die Charakterisierung der kulturellen ÖSD als „immateriell“ kritisieren, weil diese auch materielle Vortei­ le umfassten.

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sinnhafte Präsenz und Prägnanz ihrer Gegenstände hält“,23 „symbolisch“ eine Perspektive, die ihren Gegenstand als sinnhaltigen oder bedeutungsvollen Ausdruck, vor allem als ikonisches Zeichen, versteht,24 und „moralisch“ eine Perspektive, die sich in irgend­ einer Weise bezieht auf Moral im weiteren Sinne eines Ensembles gelebter Überzeugungen, Regeln, Sitten, Gefühle usw., durch die Handlungen oder Zustände als richtig oder falsch, gut oder böse, angemessen oder unangemessen usw. beurteilt werden.25 Diese drei Perspektiven sind nicht exklusiv, sondern überschneiden sich. Wie stark sie sich überschneiden, hängt insbesondere davon ab, ob man eine nicht-kognitivistische oder aber eine kognitivistische Ästhetik zugrunde legt26 und wie man das Verhältnis zwischen Ästhetik und Moral27 bestimmt.

8.4 Pluralistische Naturphilosophie gegen szientifischen Imperialismus Die Analyse des Konzeptes der sogenannten kulturellen ÖSD habe ich durchgeführt vor dem Hintergrund der in der Einleitung skizzierten Diskurse um einen szientifischen Naturalismus. Meine Analyse hat gezeigt: Das Konzept der kulturellen ÖSD ist ein Beispiel für einen „scientific imperialism“28, also dafür, dass eine naturwissenschaftliche Perspektive – in diesem Fall eine ökosystemtheoretische – auf Wirklichkeitsbereiche angewandt wird – in diesem Fall auf lebensweltliche ästhetisch-symbolisch-moralische Naturauffassungen –, für die diese Perspektive begrifflich und methodisch unangemessen ist. Damit macht die Analyse des Konzeptes der kulturellen ÖSD in exemplarischer Weise deutlich: Nicht nur die Untersuchung von Wirklichkeitsbereichen wie Sprache, Bewusstsein, Gesellschaft und Moral, die man gemeinhin nicht zur Natur zählt, ist nicht in naturwissenschaftliche Zuständigkeit 23 24 25 26

Seel 1991: 35. Vgl. Fußnote 9 auf S. 16. Schwemmer 2006: 7. Vgl. Fußnote 10 auf S. 16. Ott et al. 2016: 5. Vgl. Fußnote 11 auf S. 16 f. Zu dieser grundlegenden ästhetiktheoretischen Unterscheidung siehe Brady 2003: 86–119. 27 Zu verschiedenen Auffassungen über dieses Verhältnis siehe z. B. Früchtl 1996; Seel 1991; 1997; Barck et al. 2003. 28 Dupré 1994: 380.

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überführbar,29 sondern dies gilt auch für bestimmte Auffassungen von Wirklichkeitsbereichen wie Tieren und Pflanzen, Bergen und Wäldern, Landschaften und Wildnissen, die man gemeinhin zur Natur zählt. Deshalb bedarf es einer Naturphilosophie, die nicht auf Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften reduziert ist. Es bedarf einer Naturphilosophie, die die Pluralität der menschlichen Wahrnehmungen und Wertschätzungen von Natur – einschließlich der naturwissenschaftlich-technischen – ernst nimmt und deren jeweilige Eigenart, historisch-kulturelle Fundierung, gesellschaftliche Bedeutung sowie normative und pragmatische Orientierungsleistung untersucht.30

29 Ich greife hier eine Formulierung von Köchy 2011a: 139 auf. 30 Kirchhoff/Karafyllis 2017; vgl. Schiemann/Heidelberger 2010. Siehe exempla­ risch für dieses Programm das Lehrbuch Kirchhoff et al. 2017.

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