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German Pages 248 Year 2016
Christiane Mahr »Alter« und »Altern« – eine begriffliche Klärung mit Blick auf die gegenwärtige wissenschaftliche Debatte
Alter(n)skulturen Herausgegeben von Peter Angerer, Ute Bayen, Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch, Christoph Kann, Ulrich Rosar, Christian Schwens, Shingo Shimada, Stefanie Ritz-Timme und Jörg Vögele | Band 11
Dem Andenken meines Vaters Werner Mahr
Christiane Mahr, geb. 1977, studierte Kulturwissenschaften und Philosophie an der Fernuniversität Hagen und war Promotionsstipendiatin im Rahmen des Graduiertenkollegs »Alter(n) als kulturelle Konzeption und Praxis« an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Angewandten Ethik und der Analyse wissenschaftlicher Grundbegriffe wie »Alter(n)« und »Krankheit«.
Christiane Mahr
»Alter« und »Altern« – eine begriffliche Klärung mit Blick auf die gegenwärtige wissenschaftliche Debatte
Unter dem Titel »Der Begriff des Alter(n)s in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Debatte – Versuch einer semantischen Klärung« im SS 2015 als Diss. von der Philos. Fak. der Univ. Düsseldorf (D61) angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Justine Haida, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3308-5 PDF-ISBN978-3-8394-3308-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Danksagung | 7 Einleitung | 9 1. Methodische Grundlagen | 19 1.1 Sprachphilosophische Prämissen | 21 1.2 Typologie der Alternsbegriffe | 29
2. Der Begriff des Alterns in der Geschichte der Philosophie: ein exemplarischer Abriss | 39 2.1 Relevanz der in diesem Kapitel behandelten Autoren | 39 2.2 Platon: Der Staat | 46 2.3 Aristoteles: Rhetorik | 51 2.4 Cicero: De senectute | 65 2.5 Seneca: Briefe | 70 2.6 Michel de Montaigne: Die Essais | 83 2.7 Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena | 94
3. Der Begriff des Alterns in der Biologie | 107 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Einführung | 107 Der Unterschied zwischen Funktions- und Evolutionsbiologie und seine Bedeutung für die Erforschung des Alterns | 110 Der Begriff des Alterns in der Funktionsbiologie | 116 Der Begriff des Alterns in der Evolutionsbiologie | 124 Auswertung und Einordnung der Ergebnisse | 136
4. Der Begriff des Alterns in der Soziologie | 139 4.1 4.2 4.3 4.4
Einführung | 139 Eine Besonderheit der soziologischen Herangehensweise an das Thema »Alter(n)« und ihre Implikation für den Begriff des Alter(n)s | 142 Einflussreiche Forschungsansätze und ausgewählte Thesen innerhalb der Soziologie des Alter(n)s | 156 Auswertung und Einordnung der Ergebnisse | 169
5. Der Begriff des Alterns in der Psychologie | 177 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Einführung | 177 Systematische Unterteilungen innerhalb der Psychologie des Alterns | 179 Personale Begriffe des Alterns in der Psychologie | 188 Suborganismische und subpersonale Begriffe des Alterns in der Psychologie | 208 Einordnung und Auswertung der Ergebnisse | 213
6. Zusammenfassung und Auswertung der Ergebnisse | 217 6.1 6.2
Zum Verhältnis der verschiedenen wissenschaftlichen Begriffe des Alterns untereinander | 217 Die wissenschaftlichen Begriffe des Alterns und das Prinzip der semantischen Arbeitsteilung | 228
Literatur | 237
Danksagung
Das vorliegende Buch ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner im Sommersemster 2015 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eingereichten und von der Philosophischen Fakultät angenommenen Dissertation mit dem Titel: »Der Begriff des Alter(n)s in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Debatte – Versuch einer semantischen Klärung«. Mein Dank gilt allen, die mich auf dem langen und manchmal mühevollen Weg zur Promotion unterstützt haben. An erster Stelle zu nennen sind hier Professor Dr. Dr. med.h. c. Jan Peter Beckmann und Professor Dr. Markus Rothhaar, von denen ich während meines Studiums an der Fernuniversität Hagen hervorragend betreut und unterstützt wurde. Ohne Ihre Ermutigung und Unterstützung hätte ich den Schritt, mich an eine Doktorarbeit zu wagen und mich um ein Promotionsstipendium zu bewerben, nicht gewagt. Mein besonderer Dank gilt den beiden Betreuern meiner Doktorarbeit, Herrn Professor Dr. Christoph Kann und Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Dieter Birnbacher. Von Beginn bis zum Ende der Arbeit war ich Ihrer Unterstützung und Ihrer wohlwollenden Kritik sicher. Für die wertvollen Anregungen, die ich von Ihnen erhielt, danke ich Ihnen sehr. Darüber hinaus danke ich der Heinrich-Heine-Universität, die mir im Rahmen des Graduiertenkollegs »Alter(n) als kulturelle Konzeption und Praxis« ein Stipendium gewährte, welches mir ermöglichte, mich ganz und gar auf meine Arbeit zu konzentrieren. Dem Sprecher des Kollegs danke ich ebenso wie den aktiven Mitgliedern, den Doktorandinnen und Doktoranden sowie dem Koor-
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dinator für ihre Bereitschaft, einzelne Abschnitte der Arbeit mit mir zu diskutieren und mich durch Anregungen und kritische Nachfragen zu unterstützen. Besonders bedanken möchte ich mich bei Dr. Tobias Hainz und Stefanie Jung. Neben den Menschen, denen ich zu Dank verpflichtet bin, weil sie direkt in die Entstehung der vorliegenden Arbeit involviert waren, gibt es diejenigen, die mich durch ihre Geduld und Rücksichtnahme durch teilweise aufreibende Zeiten begleitet haben. Zuvörderst danke ich von ganzem Herzen meinen Kindern und besonders meinem Mann. Ihre liebevolle Zugewandtheit hat mir den Rückhalt geboten, den ich benötigte, um diese Arbeit erfolgreich abzuschließen. Außerdem liegt mir sehr daran, Herrn Martin Beer an dieser Stelle für seine unerschütterliche Freundschaft und seine mannigfaltige Unterstützung auf einem langen gemeinsamen Weg herzlich zu danken. August 2015 Christiane Mahr
Einleitung
Eine zentrale Aufgabe der Philosophie ist die Untersuchung der Bedeutung von Begriffen. Im Alltag wird häufig als selbstverständlich vorausgesetzt, dass die Bedeutung der Begriffe, die in der Kommunikation verwendet werden, klar ist. Dieser Anschein kann jedoch trügen, wie die Tätigkeit eines der bedeutendsten Philosophen belegt. Wenn man den Quellen Glauben schenken darf, dann zielte das Philosophieren des Sokrates vor allem darauf ab, die Bedeutung wichtiger Begriffe, von der seine Zeitgenossen nur ein unbestimmtes Vorverständnis hatten, zu präzisieren und so zu angemessenen Definitionen zu gelangen. Beispielsweise können seine Gesprächspartner zwar einschlägige Beispiele dafür anführen, was »Tugend«, »Wissen« oder »Gerechtigkeit« jeweils bedeutet; sobald sie aber aufgefordert werden, von den Beispielen zu einer allgemeinen Begriffsbestimmung überzugehen, geraten sie immer in Schwierigkeiten. Das Beispiel des Sokrates führt ein Problem anschaulich vor Augen: Für die erfolgreiche Verständigung zwischen den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft ist es in der Regel nicht erforderlich, dass Begriffe ausdrücklich definiert werden. Die Philosophie kann sich jedoch nicht mit dem vagen Vorverständnis bestimmter Begriffe zufriedengeben, vor allem dann nicht, wenn diese Begriffe für die Klärung philosophischer Probleme benötigt werden. Was soeben über die alltägliche sprachliche Kommunikation gesagt wurde, gilt in vielen Fällen auch für die wissenschaftliche Praxis. Auch Wissenschaftler verständigen sich häufig erfolgreich mithilfe von Begriffen, obwohl diese niemals explizit definiert worden
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sind. So geht etwa ein Mathematiker in der Regel nicht der Frage nach, was eine Zahl ist und wie der Begriff der Zahl definiert werden soll.1 Er verwendet Zahlen und den Begriff der Zahl mit einem nicht näher geklärten Vorverständnis. Ebenso wenig muss sich der Biologe in seiner tagtäglichen Forschung Rechenschaft über die Bedeutung der Begriffe »Leben« oder »Lebendigkeit« ablegen. Vielmehr beruht die Arbeit des Biologen auf der unausgesprochenen Voraussetzung, dass sich in aller Regel lebendige von nicht-belebten Gegenständen aufgrund ihrer phänomenalen Merkmale unterscheiden lassen.2 Die vorliegende Arbeit untersucht die Begriffe »Alter« und »Altern«, die in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen ganz selbstverständlich gebraucht werden. Als ebenso selbstverständlich wird in interdisziplinären Projekten präsupponiert, dass in Bezug auf die Bedeutung des Begriffs »Alter(n)« hinreichende Übereinstimmung zwischen den Fächern besteht, um über die Grenzen der Disziplinen hinweg einen sinnvollen Diskurs über das Altern führen zu können. Allerdings zeigt schon ein flüchtiger Blick in die einschlägige Literatur, dass sich die vermeintliche Einheitlichkeit der Begriffsverwendung mit guten Gründen bezweifeln lässt. Während beispielsweise Biologen den Begriff des Alterns nicht nur auf Menschen, sondern auch auf andere Lebewesen und suborganismische Entitäten, wie etwa Organe und Zellen, beziehen, befassen sich Soziologen nur mit dem Altern des Menschen. Die Vermutung, dass sich diese Differenz auf der Ebene der Untersuchungsgegenstände auch auf der Ebene der Bedeutung finden lässt, erscheint zumindest auf den ersten Blick nicht unplausibel. Warum es sich nicht von selbst versteht, dass die wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Altern beschäftigen, den gleichen Begriff des Alterns verwenden, lässt sich 1 | Vgl. G. Frege: Die Grundlagen der Arithmetik, Hildesheim/Zürich/New York 1990. 2 | Vgl. zu diesem Problem u.a. H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York 1975, S. 111-118, v.a. S. 114f.
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vorwegnehmend anhand eines weiteren Beispiels verdeutlichen. Innerhalb der biologischen Erforschung des Alterns wird dieses nur als natürliches Phänomen aufgefasst. Daraus folgt u.a., dass die Einstellung der alternden Individuen zu ihrem eigenen Altern und dem anderer Organismen nicht thematisiert wird. In der soziologischen Auseinandersetzung mit dem Altern hingegen sind diese Haltungen integraler Bestandteil des Untersuchungsgegenstandes, weil die Soziologie das Altern als kulturelles Konstrukt begreift. Auch dieses Beispiel legt die Vermutung nahe, dass aus der Verwendung ein und desselben Wortes »Altern« in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen nicht notwendigerweise folgt, dass diese Fächer den gleichen Begriff des Alterns voraussetzen und verwenden. Aus dieser Überlegung ergibt sich folgende Frage: Erweckt der Gebrauch desselben Wortes in verschiedenen Wissenschaften vielleicht nur den Anschein, dass diese Wissenschaften auf dasselbe Phänomen rekurrieren? Diese Frage ist nicht nur von philosophischem Interesse, sondern sollte auch den Disziplinen, die das Alter(n) erforschen, nicht gleichgültig sein. Möglicherweise beruht die interdisziplinäre Kommunikation zwischen den einzelnen Fächern auf einem stillschweigend geteilten Missverständnis, nämlich auf der Annahme, dass sie alle über dasselbe sprechen, wenn sie vom Alter(n) reden. Falls sich jedoch herausstellen sollte, dass sich die in verschiedenen Wissenschaften gebrauchten Begriffe des Alter(n)s teilweise oder gänzlich unterscheiden, dann würde daraus folgen, dass diese Disziplinen, wenn sie Aussagen über das Alter(n) treffen, auch teilweise oder gänzlich über verschiedene Gegenstände sprechen. Daraus könnte sich wiederum u.a. ergeben, dass sich scheinbare Widersprüche zwischen einzelnen Thesen über das Alter(n) leicht auflösen ließen, weil sie sich gar nicht auf dieselben Objekte bezögen. Die in der vorliegenden Untersuchung durchgeführten semantischen Analysen beschränken sich vollständig auf die Verwendung der Begriffe »Alter« und »Altern« im wörtlichen Sinne. Dadurch soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass diese und ähnliche sprachliche Ausdrücke häufig auch im übertragenen Sin-
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ne gebraucht werden. So spricht man etwa von »alternden Gesellschaften« oder »alternden Kulturen«. Wie später gezeigt werden soll (Kapitel 4), lassen sich diese figurativen Gebrauchsweisen auf die wörtliche Verwendung zurückführen. Was hingegen verwandte sprachliche Ausdrücke wie etwa »veraltet« oder »überaltert« betrifft, so sind diese von vornherein aus der Untersuchung auszuschließen, weil sie offensichtlich eine andere Bedeutung als das Prädikat »alt« aufweisen. Beispielsweise besagt die Behauptung, dass eine bestimmte Theorie »veraltet« sei, nicht, dass Theorien überhaupt reifen, sich entwickeln und altern können. Vielmehr soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass diese Theorie nicht mehr dem Stand der Forschung entspricht. Das Adjektiv »veraltet« kann in diesem Zusammenhang ohne Bedeutungsverlust durch das Wort »überholt« ersetzt werden. Ebenso verhält es sich mit dem Ausdruck »überaltert«. Aus den genannten Gründen wird im Folgenden ausschließlich der wörtliche Gebrauch des Begriffs »Alter(n)« untersucht. Die Analyse der in den einzelnen Wissenschaften verwendeten Begriffe des Alterns ist in der heutigen Zeit von besonderer Relevanz und von erheblichem öffentlichem Interesse. In sogenannten »alternden Gesellschaften« – schon dieser Ausdruck wirft die Frage auf, ob Gesellschaften in der gleichen Weise wie Individuen altern können – gewinnt die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Altern zunehmend an Bedeutung. Da die Alterung der Bevölkerung in vielen Staaten gravierende ökonomische, kulturelle und politische Auswirkungen zeitigt, sind Regierungen, wissenschaftliche Institutionen und Stiftungen bereit, die Erforschung des Alterns auf großzügige Weise finanziell zu fördern. Dies führt seit Jahrzehnten zu einer Expansion der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Altern, die sich in einer kaum noch zu überblickenden Fülle von entsprechenden Publikationen niederschlägt. Dass die wissenschaftliche Untersuchung des Alterns auch handfeste praktische Relevanz besitzen kann, zeigt das folgende Beispiel: Neuere Erkenntnisse aus den Technikwissenschaften, die sich mit dem Altern auseinandersetzen, verändern den Bereich der
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Pflege alter Menschen durch die Einführung innovativer Assistenzsysteme nachhaltig. Ein weiteres Indiz für die praktische Bedeutsamkeit der theoretischen Beschäftigung mit dem Altern ist die Tatsache, dass interdisziplinäre Forschungsgruppen angehalten sind, Empfehlungen zu erarbeiten, wie »mit den Herausforderungen des demographischen Alterns klug«3 umgegangen werden kann. Wie bereits erwähnt, hat die Relevanz des Themas maßgeblich dazu beigetragen, dass das Altern immer intensiver und extensiver untersucht wird. Dieses gesteigerte wissenschaftliche Interesse führt allerdings auch zu einer semantischen Unübersichtlichkeit. Aus dieser semantischen Unübersichtlichkeit ergibt sich ein Klärungsbedarf im Hinblick darauf, ob der Begriff »Altern« in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen die gleiche Bedeutung hat. Falls sich herausstellen sollte, dass dies nicht der Fall ist, müsste im nächsten Schritt untersucht werden, ob sich aus den verschiedenen Verwendungsweisen zumindest ein Bedeutungskern extrahieren lässt und worin dieser gegebenenfalls besteht. Durch die Beantwortung der Frage, ob die verschiedenen Disziplinen, die das Altern erforschen, über denselben Gegenstand sprechen oder nicht, soll ein klärender Beitrag zur interdisziplinären Kommunikation im Bereich der Alternsforschung geleistet werden. Prinzipiell sind nur drei Antworten auf diese Frage möglich: (i) Die erste Möglichkeit besteht darin, dass die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die das Wort »Altern« verwenden, auf den gleichen Begriff rekurrieren, d.h. dass die Alternsbegriffe vollständig synonym sind. Warum dies zweifelhaft ist, wurde bereits angedeutet. (ii) Die zweite Möglichkeit besteht in der diametralen Umkehrung der ersten Vermutung. Die Antwort wäre also, dass es keinerlei semantische Überschneidung zwischen den in den verschiedenen Disziplinen geläufigen Alternsbegriffen gibt. Auch diese Antwort erscheint unplausibel. Der Begriff »Altern« wird seit Jahrtausenden verwendet. Es ist nicht wahrscheinlich, dass eine Gruppe von Wissenschaftlern den Begriff »Altern« in der einen 3 | Nova Acta Leopoldina, Nr. 363, Band 99, Halle (Saale) 2009, S. 7.
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Weise verwendet und eine andere Gruppe wiederum auf gänzlich andere Weise, und zwar deshalb, weil sie alle an die im Alltag gebräuchliche Verwendung des Begriffs anknüpfen. (iii) Die dritte Möglichkeit, die in der vorliegenden Untersuchung als Arbeitshypothese zugrunde gelegt wird, lässt sich wiederum in zwei Ansätze untergliedern. (a) Es gibt eine partielle Übereinstimmung zwischen den in den verschiedenen Disziplinen verwendeten Begriffen des Alterns. In diesem Fall ließe sich ein allgemein anerkannter Minimalgehalt extrahieren, der dann von den einzelnen Disziplinen auf jeweils besondere Art und Weise ergänzt würde. Die Intension des Minimalbegriffs »Altern« würde notwendige und hinreichende Bedingungen für das Vorliegen des Phänomens Altern angeben. (b) Es gibt partielle Übereinstimmungen zwischen den Bedeutungen der verschiedenen Alternsbegriffe. Allerdings sind diese so beschaffen, dass es keinen Bedeutungskern gibt, an dem alle Alternsbegriffe teilhaben, sondern dass sie im Sinne der wittgensteinschen Familienähnlichkeit lose miteinander verbunden sind. Der direkte Vergleich zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Alternsbegriffen wird im Übrigen dadurch erschwert, dass der Begriff des Alterns einerseits auf dreierlei Weise verwendet werden kann und dass andererseits häufig nicht deutlich genug angegeben wird, um welche Art der Verwendung es sich im einzelnen Falle handelt. Gemeint sind die deskriptive, die evaluative und die präskriptive Verwendung des Alternsbegriffs. Der Unterschied zwischen diesen drei Gebrauchsweisen wird in Kapitel 1 näher erläutert (S. 19ff). An dieser Stelle soll es genügen, darauf hinzuweisen, dass der Begriff des Alterns überhaupt mit drei verschiedenen Zwecken verwendet werden kann und dass diese Heterogenität der Funktionen bei der semantischen Analyse der Alternsbegriffe berücksichtigt werden muss. Wie schon erwähnt wurde, ist die Anzahl der Disziplinen, die sich mit dem Phänomen des Alterns beschäftigen, groß. Eine Untersuchung aller wissenschaftlichen Begriffe des Alterns ist jedoch weder möglich noch sinnvoll. Die Auswahl der hier vorgestellten Disziplinen erfolgte anhand jeweils paradigmatischer Aspekte
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des menschlichen Lebens und Erlebens.4 Die drei ausgewählten Disziplinen Biologie, Soziologie und Psychologie repräsentieren die objektive, die soziale und die subjektive Welt des Menschen auf exemplarische Art und Weise. In der Biologie wird das Altern als objektives Phänomen untersucht, die Soziologie begreift es als soziale Tatsache und die Psychologie u.a. als etwas subjektiv Erlebtes. Bereits lange bevor die empirischen Wissenschaften entstanden, beschäftigte sich die Philosophie auf theoretisch-reflexive Weise mit dem Thema des Alterns. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, die gegenwärtige wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Altern vor dem Hintergrund dieser philosophischen Ideengeschichte des Alterns zu analysieren. Sowohl die Eigenheiten der gegenwärtigen Begriffsverwendung als auch die für die aktuelle Forschung spezifischen Erkenntnisinteressen treten vor dieser Kontrastfolie besonders deutlich hervor. Darüber hinaus wird sich in diesem Kapitel zeigen, dass die extensionalen Übereinstimmungen und intensionalen Differenzen nur auf den deskriptiven Begriff des Alterns zutreffen. In allen vorgestellten wissenschaftlichen Disziplinen konnten jedoch darüber hinaus auch evaluative Alternsbegriffe identifiziert werden. Diese evaluativen Begriffe des Alterns werden gelegentlich dazu verwendet, präskriptive Urteile über das Altern zu formulieren. Beispielsweise wird von einigen Autoren gefordert, dass das Altern mit Hilfe der modernen Wissenschaft verzögert oder gar verhindert wird. Wenn man davon ausgeht, dass sich Wertmaßstäbe und Handlungsgebote nicht im Rahmen empirischer Wissenschaften begründen lassen, dann handelt es sich bei dem evaluativen und präskriptiven Gebrauch des Alternsbegriffs um Verwendungsweisen, welche die wissenschaftliche Analyse des Phänomens überschreiten. Diese Gebrauchsweisen lassen sich zwar nicht aus dem Zusammenhang der empirischen Alternsforschung heraus erklären, sie zeigen jedoch die enge Bindung an die Tradition der ideengeschichtlichen Begriffsbildung auf. Kontroversen darüber, ob das Altern abgeschafft werden 4 | Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981, Bd. 1, S. 115ff. Habermas nimmt hier Bezug auf Karl Popper.
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sollte oder wie eine erfolgreiche Bewältigung des Alterns aussehen könnte, lassen sich nicht wissenschaftlich entscheiden. Stattdessen haben die empirischen Wissenschaften, die sich mit dem Alter(n) auseinandersetzen, solche und ähnliche Fragen von der philosophischen Tradition gleichsam geerbt. Aus diesen Gründen ist den Kapiteln zum Begriff des Alter(n)s in der Biologie (Kapitel 3), der Soziologie (Kapitel 4) und der Psychologie (Kapitel 5) ein Überblick zum Begriff des Alterns in der philosophischen Ideengeschichte vorangestellt (Kapitel 2). Im ersten Kapitel werden die methodischen Grundlagen der in der vorliegenden Arbeit durchgeführten komparatistisch-analytischen Untersuchung vorgestellt. Die Arbeit schließt mit einem Kapitel, in welchem die Ergebnisse der vorhergehenden Kapitel, die in diesen jeweils nur zusammengefasst worden sind, mit Mitteln der Sprachphilosophie analysiert und systematisiert werden (Kapitel 6). Aufmerksamen Lesern wird bereits aufgefallen sein, dass in der vorliegenden Untersuchung zwei verschiedene Begriffe analysiert werden sollen: »Alter« und »Altern«. Dies wird in der Regel durch die Schreibweise »Alter(n)« angezeigt. Die Berechtigung dieser doppelten Ausrichtung, welche auf den ersten Blick als Ausdruck der theoretischen Unentschiedenheit missdeutet werden könnte, liegt darin, dass erstens in allen Wissenschaften, die sich mit Altern und Alter beschäftigen, beide Begriffe verwendet werden. Zwar lassen sich innerhalb der einzelnen Disziplinen und Forschungsrichtungen jeweils bestimmte Präferenzen für den einen oder anderen Begriff ausmachen; nichtsdestoweniger werden beide gebraucht. Dafür gibt es einen guten Grund. »Alter« und »Altern« bezeichnen zwei untrennbar miteinander zusammenhängende Phänomene, gleichsam zwei Seiten derselben Medaille. Unter »Altern« versteht man in der Regel einen bestimmten Prozess, unter »Alter« hingegen eine Lebensphase beziehungsweise einen Lebensabschnitt. Der unauflösbare Zusammenhang zwischen diesen beiden besteht nun darin, dass der Lebensabschnitt »Alter« genau die Zeit umfasst, in der sich der Prozess, welcher als »Altern« im engeren Sinne bezeichnet wird, vollzieht (Näheres dazu in Kapitel 1). Ein Organismus befindet sich
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genau dann in dem Lebensabschnitt Alter, wenn er im engeren Sinne altert. Aufgrund dieser unauflösbaren Verschränkung zwischen den beiden Begriffen ist es sinnvoll, ja geradezu unausweichlich, die Analyse nicht auf einen der beiden Begriffe zu beschränken, sondern jeweils beide einzubeziehen. Wenn im Folgenden nichts anderes gesagt wird, dann bezeichnet »Alter« jeweils einen Lebensabschnitt und »Altern« den Prozess, durch dessen Dauer diese Lebensphase von den anderen Lebensabschnitten und dem Tod abgegrenzt wird. Die vorliegende Untersuchung begreift sich dezidiert als eine philosophische. Worin die spezifisch philosophische Herangehensweise der folgenden Überlegungen besteht, lässt sich durch den Hinweis darauf präzisieren, dass die Philosophie hier drei verschiedene Funktionen erfüllt. Erstens bildet sie, wie soeben dargelegt wurde, in Form der Ideen- und Begriffsgeschichte den historischen Hintergrund für die systematische Analyse der zeitgenössischen Begriffe des Alterns. Zweitens werden bestimmte sprachphilosophische Unterscheidungen und Thesen als Grundlage für die Durchdringung und Aufarbeitung des empirischen Materials herangezogen. Drittens schließlich ist die Untersuchung insofern philosophisch, als die in den gegenwärtigen Wissenschaften geläufigen Alternsbegriffe von einem Metastandpunkt aus semantisch analysiert werden. Zusammengefasst tritt die Philosophie also in dreierlei Form auf: als Ideengeschichte, als sprachphilosophische Grundlegung und als metasprachliche Durchführung. Die vorliegende Untersuchung zielt nicht in erster Linie darauf ab, die in den wissenschaftlichen Disziplinen verwendeten Begriffe des Alterns einer kritischen Prüfung im Hinblick auf ihre Angemessenheit zu unterziehen. Im Vordergrund steht nicht die Kritik, sondern der Versuch einer begrifflichen Klärung. Das Ziel dieser Arbeit besteht somit darin, folgende Fragen zu beantworten: • Weisen die in der Philosophiegeschichte, der Biologie, der Soziologie und der Psychologie gebräuchlichen Begriffe des Alter(n)s eine einheitliche Bedeutung auf?
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• Falls die Bedeutungen der verschiedenen Alternsbegriffe divergieren: Lässt sich ein semantischer Kern dieser Begriffe extrahieren? • Worin besteht gegebenenfalls die Minimalbedeutung des Begriffs »Altern«, d.h. durch welche Merkmale wird diese Minimalbedeutung konstituiert? • [Lassen sich bestimmte Gebrauchsweisen der Begriffe »Alter« und »Altern« in den genannten Wissenschaften als unangemessen oder unterbestimmt kritisieren?]
1. Methodische Grundlagen
Dieses Kapitel dient der Erläuterung der methodischen Grundlagen, mittels derer die Frage beantwortet werden soll, welche Bedeutung der Begriff »Altern« in verschiedenen Wissenschaften hat. Es ist in zwei Abschnitte gegliedert: Im ersten Abschnitt werden die sprachphilosophischen Voraussetzungen der folgenden Untersuchung expliziert. Im zweiten Abschnitt wird eine Typologie möglicher Alternsbegriffe vorgestellt. Diesen beiden Unterabschnitten ist ein klärender Hinweis in Bezug auf die gesamte Arbeit vorangestellt. Es geht den Wissenschaftlern, die sich mit Altern oder Alter beschäftigen, gewöhnlich1 nicht darum, auf den Veränderungsprozess zu rekurrieren, der sich während der gesamten Lebensspanne abspielt. Freilich altern Organismen in einem weiten Sinne des Wortes ihr ganzes Leben lang. Diese Art des Alterns, welche als chronologisches Altern bezeichnet wird, bildet nicht den Untersuchungsgegenstand der Alternswissenschaften. Vielmehr untersuchen diese nur einen unbestimmt bestimmten Abschnitt des gesamten Lebens, dessen relative Länge im Vergleich zur absoluten Lebensspanne je nach Disziplin und Untersuchungsgegenstand stark divergiert. Um diesen Lebensabschnitt von anderen unterscheiden zu können, muss eine bestimmte Grenze oder ein Schwellenwert festgelegt werden. Da jedoch die Entwicklung von Organismen im All1 | Eine Ausnahme stellt beispielsweise die Biologie dar, in der manchmal der gesamte Lebensprozess als Altern begriffen und untersucht wird (vgl. dazu Kapitel 3).
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gemeinen und von Menschen im Besonderen einen kontinuierlichen Prozess darstellt, erscheint jede denkbare Festlegung einer Grenze, jenseits derer ein Individuum alt ist, willkürlich. Im Handbook of Theories of Aging findet sich diesbezüglich folgende Feststellung: »It may be one of the main gerontological paradoxes that all human beings age, but at a certain moment in their lives they are labeled as ›aged‹ or ›older‹ (older than whom?) and their living beyond that point as ›aging‹. The expressions ›aged‹ and ›aging‹ are without any further explanation used as references to an abnormal group, although these expressions actually indicate a universal and continiuous process of living in time. Persons are transformed into ›aging‹, ›aged‹, or ›older‹ bodies at a particular chronological age without any evidence that important changes are taking place at that age apart from this sudden cultural relocation.« 2
Festgehalten werden kann somit zweierlei: (i) Einerseits erscheint jede Festlegung einer Grenze zwischen nicht alten und alten Menschen willkürlich und insofern ungerechtfertigt. (ii) Andererseits ist zunächst zur Kenntnis zu nehmen, dass die Alternswissenschaften in der Regel faktisch eine solche Grenze zugrunde legen. Nicht dem gesamten Alternsprozess vom Beginn eines Lebens bis zu seinem Ende wird in der Alternsforschung Aufmerksamkeit zuteil, vielmehr wird in der Regel ein engerer Begriff des Alterns zugrunde gelegt, der sich nur auf einen zeitlichen Abschnitt des Lebens bezieht. Dieser Abschnitt soll im Folgenden als »Altern« oder »Altern im Alter« bezeichnet werden.
2 | J. Baars: »Problematic Foundations: Theorizing Time, Age, and Aging«, in: V. L. Bengston/M. Silverstein/N. M. Putney/D. Gans (Hg.): Handbook of Theories of Aging, 2nd Edition, New York 2009, S 87–99, S. 87.
1. Methodische Grundlagen
1.1 S pr achphilosophische P r ämissen Verweist der Gebrauch des Wortes »Altern« in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen darauf, dass in diesen Wissenschaften auch immer der gleiche Begriff verwendet wird? Wie bereits in der Einleitung dargelegt wurde, lässt diese Frage prinzipiell nur drei mögliche Antworten zu, von denen zwei wahrscheinlich falsch sind. Es ist ebenso unwahrscheinlich, dass die verschiedenen Alternsbegriffe völlig unterschiedliche Bedeutungen haben, wie die Annahme, dass ihre Bedeutungen gänzlich übereinstimmen. Somit verbleibt die dritte Möglichkeit, die besagt, dass sich die Bedeutungen der Alternsbegriffe partiell überschneiden. Diese partielle Übereinstimmung kann nun wiederum zwei verschiedene Formen annehmen. Diesen beiden Formen entsprechen zwei Theorien der Bedeutung von Begriffen. Gemäß der traditionellen Auffassung wird ein Begriff durch eine Menge von Prädikaten konstituiert, welche diejenigen Merkmale bezeichnen, die zusammengenommen notwendige und hinreichende Bedingungen für die Zugehörigkeit zu der Gegenstandsklasse bilden, die unter den Begriff fällt. Die einflussreichste theoretische Alternative zu dieser traditionellen Auffassung ist Ludwig Wittgensteins Lehre von den Familienähnlichkeiten. In diesem Abschnitt sollen beide Ansätze nacheinander in aller Kürze dargestellt werden. Die traditionelle Lehre von der Bedeutung von Begriffen wurde am genauesten von Gottlob Frege, dem Begründer der formalen Logik, ausgearbeitet. Frege unterscheidet zwischen einem Zeichen, dem davon Bezeichneten und der Art und Weise der Bezugnahme auf das Bezeichnete. Wörter eines bestimmten Typs bezeichnen als sprachliche Zeichen in verschiedenen Einzelsprachen jeweils denselben Begriff.3 Ein Begriff steht jeweils für eine Menge von Gegen3 | Dass hier nur von Wörtern eines bestimmten Typs die Rede ist, ergibt sich daraus, dass andere Arten von Wörtern keine Begriffe bezeichnen, sondern andere Entitäten, z.B. Einzeldinge (Eigennamen) oder logische Relationen (Konjunktionen).
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ständen. Ein und derselbe Begriff kann durch verschiedene Wörter als sprachliche Zeichen zum Ausdruck gebracht werden. Beispielsweise bezeichnet der Begriff der Pflanze die Menge aller Pflanzen und kann in verschiedenen Einzelsprachen durch verschiedene Wörter vertreten werden: »plant«, »plante«, »roślina«, »растение«. Allerdings hat die strukturalistische Sprachwissenschaft darauf aufmerksam gemacht, dass die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke nicht nur von ihrer Beziehung auf Begriffe und nicht-sprachliche Gegenstände abhängt, sondern auch davon, in welchem semantischen Feld ein Wort jeweils steht. Beispielsweise bezeichnet das deutsche Wort »Himmel« nicht dasselbe wie das englische Wort »sky«, weil Letzteres in einem semantischen Feld mit »heaven« steht, so dass seine Bedeutung u.a. durch die Differenz zur Bedeutung zu »heaven« konstituiert wird. Deshalb stehen die sprachlichen Zeichen »Himmel« und »sky« nicht für denselben Begriff. Wie dieses Beispiel zeigt, muss jeweils im Einzelfall geprüft werden, ob die Bedeutungen verschiedener einzelsprachlicher Ausdrücke, die scheinbar dasselbe bezeichnen, tatsächlich völlig übereinstimmen. Die sprachliche Unterscheidung zwischen Begriffen und Begriffswörtern lässt sich auch im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Arbeit fruchtbar machen. In den verschiedenen Alternswissenschaften stehen die Wörter »Alter« und »Altern« jeweils für Begriffe des Alters und des Alterns. Daraus allein folgt nicht, dass die Begriffe, welche durch diese Wörter vertreten werden, in Bezug auf ihre Bedeutung völlig übereinstimmen. Darüber hinaus hängt möglicherweise auch die Bedeutung der verschiedenen Alternsbegriffe zumindest teilweise davon ab, in welchem semantischen Feld diese jeweils stehen, weil diese auch durch die Differenz zu den übrigen Ausdrücken im selben Feld konstituiert wird. Frege kommt das Verdienst zu, innerhalb der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke eine weitere wichtige Unterscheidung getroffen zu haben. Er führte die bahnbrechende Differenzierung zwischen Sinn und Bedeutung ein. Heute werden diese beiden Aspekte sprachlicher Ausdrücke meist als Intension und Extension bezeichnet. Dabei bezeichnet »Sinn« beziehungsweise »Intension« die Menge
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aller Merkmale, die den Begriff bilden. »Bedeutung« oder »Extension« bezieht sich hingegen auf die Menge aller Gegenstände, die unter den Begriff fallen. Beispielsweise wird die Intension des Begriffs »Pflanze« u.a. durch die Merkmale der Lebendigkeit und die Zugehörigkeit zu den Eukaryoten konstituiert. Die Extension des Begriffs »Pflanze« besteht aus der Menge aller Pflanzen. Zwischen Intension und Extension besteht eine Beziehung der Abhängigkeit: Der Umfang der Extension wird immer von der zugrunde gelegten Intension bestimmt, weil es von der Auswahl der zusammengestellten Merkmale oder Prädikate abhängt, welche Gegenstände unter den Begriff fallen. Somit kommt der Analyse des Sinns eines Begriffs der methodische Vorrang vor der Untersuchung seiner Bedeutung zu. Die Unterscheidung zwischen Intension und Extension ist u.a. deshalb relevant, weil verschiedene sprachliche Ausdrücke, die einen unterschiedlichen Sinn haben, die gleiche Bedeutung haben können. Anhand der beiden Eigennamen »Morgenstern« und »Abendstern« verdeutlicht Frege, dass ein und derselbe Gegenstand auf verschiedene Weise gegeben sein kann, ohne dass dabei notwendigerweise bemerkt würde, dass es sich dabei um denselben Gegenstand handelt.4 Bevor entdeckt wurde, dass »Morgenstern« und »Abendstern« denselben Gegenstand bezeichnen, nämlich die Venus, ging man davon aus, dass diese beiden Wörter auf verschiedene Entitäten Bezug nehmen. Das Wort »Morgenstern« steht für den Himmelskörper, der in unseren Breitengraden am Morgen am längsten sichtbar bleibt; »Abendstern« verweist hingegen auf den Himmelskörper, der in unserer Region am Abend als Erster zu sehen ist. Nachdem entdeckt wurde, dass man es nur mit einem Gegenstand zu tun hat, konnte festgestellt werden, dass die Wörter »Morgenstern« und »Abendstern« zwar dasselbe Ding bezeichnen,
4 | Vgl. zu diesem Beispiel G. Frege: »Über Sinn und Bedeutung«, in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, Göttingen 1986, S. 4065, S. 41.
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dass sie auf diesen Gegenstand jedoch auf verschiedene Weise Bezug nehmen. In dem von Frege verwendeten Beispiel wurde von zwei verschiedenen Wörtern lange Zeit angenommen, dass sie Verschiedenes bezeichnen, während sie sich tatsächlich auf denselben Gegenstand beziehen. Möglicherweise verhält es sich in Bezug auf die in den Alternswissenschaften gebräuchlichen Wörter gerade umgekehrt. Die Alternsforscher wären in diesem Fall irrtümlicherweise der Meinung, dass das Wort »Altern« jeweils denselben Gegenstand bezeichnet, während tatsächlich die verschiedenen Begriffswörter, wie etwa »AlternSoziologie« oder »AlternBiologie« zumindest teilweise eine verschiedene Bedeutung aufweisen würden. Deshalb könnte ein Ergebnis der Untersuchung der Intension verschiedener Alternsbegriffe Folgendes sein: Verschiedene Disziplinen verwenden dasselbe sprachliche Zeichen »Altern«, den verschiedenen Wissenschaften ist das Altern jedoch auf verschiedene Art und Weise gegeben. Das bedeutet, dass die Intensionen teilweise übereinstimmen und sich teilweise unterscheiden. Aufgrund der Abhängigkeit der Extension von der Intension wirkt sich diese partielle Übereinstimmung und Nicht-Übereinstimmung auf der Ebene der Extension aus. Die verschiedenen Alternsbegriffe könnten somit einerseits einen semantischen Kern miteinander gemeinsam haben, andererseits könnte ein jeder von ihnen daneben eine über die Minimalbedeutung hinausgehende Intension und Extension aufweisen. Die folgende Abbildung verdeutlicht diese Möglichkeit:
B Semantischer Kern A, B, C, D
A
D
C
1. Methodische Grundlagen
Die vier wissenschaftlichen Disziplinen A, B, C und D verwenden innerhalb ihrer Forschung gleichermaßen das sprachliche Zeichen »Altern«. Dabei stimmen die Bedeutungen der verschiedenen Begriffswörter teilweise überein, nämlich in Bezug auf den ihnen gemeinsamen semantischen Kern; allerdings fügt jede Disziplin der Minimalbedeutung von »Altern« jeweils spezifische Aspekte hinzu, die sich aus der ihr eigenen Herangehensweise an den Gegenstand ergeben. Die soeben erläuterte Möglichkeit unterscheidet sich von der früher erwähnten und verworfenen völligen Übereinstimmung der Bedeutung aller in den Wissenschaften geläufigen Altersbegriffe. Mit der völligen Übereinstimmung ist die vollständige Gleichheit der Intension und Extension der verwendeten Alternsbegriffe gemeint. Die Disziplinen würden in diesem Falle über exakt dieselben Gegenstände sprechen und diese nur auf verschiedene Arten und Weisen untersuchen. In einem solchen Falle wäre die Möglichkeit von Missverständnissen logisch ausgeschlossen, da die wissenschaftlichen Disziplinen über exakt dieselbe Gegenstandsklasse sprächen. Diese vollständige Gleichheit von Intension und Extension der Alternsbegriffe kann jedoch ausgeschlossen werden. Schon ein oberflächlicher Vergleich der Extension der in der Biologie, der Soziologie und der Psychologie gebräuchlichen Alternsbegriffe ist ein Indiz dafür: In der Biologie wird der Begriff des Alterns nicht nur auf diverse Spezies angewandt, sondern auch auf verschiedene suborganismische Entitäten. Im Gegensatz dazu ist die Extension des soziologischen Alternsbegriffs wesentlich kleiner. Ein Soziologe, der sich mit dem Altern beschäftigt, interessiert sich nicht für den Alternsprozess bei Fadenwürmern oder bei Darmzellen, sondern nur für das Altern des Menschen. Deshalb ist die Extension des soziologischen Alternsbegriffs bedeutend kleiner als diejenige des biologischen. Dies spricht dafür, dass die Möglichkeit der vollständigen intensionalen und extensionalen Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Alternsbegriffen wahrscheinlich ausgeschlossen werden muss. Ebenso unwahrscheinlich ist die Möglichkeit, dass es keinerlei Übereinstimmung zwischen den Alternsbegriffen der verschiede-
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»Alter« und »Altern« — eine begriffliche Klärung
nen Fächer gibt. In diesem Falle würde die gesamte interdisziplinäre Kommunikation auf einem Missverständnis beruhen, denn jede Disziplin verwendete zwar dasselbe Wort, aber bezeichnete damit jeweils einen völlig anderen Begriff. Gegen die Plausibilität dieser Möglichkeit spricht ein starkes Indiz: Das Wort »Altern« stammt nicht aus der wissenschaftlichen Theoriebildung, sondern wird in der Umgangssprache seit Jahrtausenden verwendet. Anders als rein theoretische Begriffswörter wie »Energiequantum«, »transzendentale Apperzeption« oder »Seyn«, die keinen externen Maßstab für die Angemessenheit ihrer Bedeutung haben, ist der umgangssprachliche Begriff des Alterns der gemeinsame Ausgangspunkt der Analyse in allen Wissenschaften, die sich mit dem Altern befassen. Diese theoretische Überlegung soll durch ein Beispiel untermauert werden: Dass die Alternsforschung durch ein vages vorwissenschaftliches Verständnis geprägt ist, lässt sich auf der empirischen Ebene durch den Verweis auf die Auswahl der Gegenstände, die jeweils von den Einzeldisziplinen untersucht werden, leicht verdeutlichen. Diese Auswahl wird selbst nicht wissenschaftlich begründet, sondern erfolgt intuitiv: Eine Alternsforscherin aus dem Bereich der Soziologie, die ihre Untersuchungen zum Thema »Altern« bei 17-Jährigen durchführen würde, müsste sich die kritische Nachfrage gefallen lassen, ob sie verstanden habe, worin ihr Forschungsgegenstand besteht.5 Wie dieses Beispiel zeigt, stützen sich die Alternswissenschaften bei der Auswahl ihrer Untersuchungsgegenstände jeweils auf ein Vorverständnis, welches sie der vorwissenschaftlichen Verwendung des Alternsbegriffs entnehmen. Bisher wurden im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Arbeit zwei Möglichkeiten ausgeschlossen, nämlich die der völligen Übereinstimmung und die der völligen Verschiedenheit der Alternsbegriffe in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen. Darüber hinaus wurde eine der beiden Deutungen der hier zugrunde gelegten Arbeitshypothese im Sinne der traditionellen Begriffs5 | Eine Ausnahme von dieser generellen Feststellung stellt beispielsweise die psychologische Lebenslaufforschung dar (vgl. dazu Kapitel 5).
1. Methodische Grundlagen
lehre vorgestellt. Das Vorliegen notwendiger und hinreichender Bedingungen, anhand derer sich eine Übereinstimmung in Form eines semantischen Kerns ausmachen lässt, setzt ein traditionelles Verständnis des Begriffs »Begriff« voraus: Ein Begriff besteht aus einer Menge von Prädikaten, welche diejenigen Merkmale bezeichnen, die die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Zugehörigkeit zu der Gegenstandsklasse angeben, die unter den Begriff fällt. Von den in der Einleitung erwähnten möglichen Antworten auf die hier behandelte Frage verbleibt noch Antwort (3b). Falls sich herausstellen sollte, dass die in den verschiedenen Wissenschaften gebräuchlichen Alternsbegriffe keinen semantischen Kern aufweisen, müsste die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass die wissenschaftlichen Begriffe des Alterns auf andere Art und Weise partiell miteinander übereinstimmen, und zwar im Sinne der Familienähnlichkeiten.6 Zwar gäbe es keine Minimalbedeutung, die alle Alternsbegriffe miteinander gemein hätten, jedoch würde jeder Begriff des Alterns mit mindestens einem anderen Begriff des Alterns zumindest ein Merkmal teilen, so dass die einzelnen Alternsbegriffe gleichsam wie eine Kette zusammenhingen. Diese Auffassung richtet sich gegen die der traditionellen Begriffslehre zugrunde liegende Voraussetzung, dass es ausschließlich notwendige und hinreichende Bedingungen sind, die einen Begriff konstituieren. 6 | Im Allgemeinen verbindet man die Lehre von den Familienähnlichkeiten vor allem oder sogar ausschließlich mit dem Namen Ludwig Wittgensteins. In der Forschung ist jedoch darauf hingewiesen worden, dass sich die Idee der Familienähnlichkeiten »der Sache nach schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts« (D. Birnbacher: Die Logik der Kriterien, Hamburg 1974, S. 59) bei anderen Autoren, wie etwa Stewart und Mill nachweisen lässt und dass sie bereits vor Wittgenstein von William Whewell im Kontext der Botanik verwendet wurde (vgl. ebd., S. 59f.). In Anbetracht dieser Tatsache dürfte Wittgensteins Verdienst vor allem darin bestehen, dass er den Begriff der Familienähnlichkeiten als terminus technicus in die philosophische Debatte eingeführt und die entsprechenden Ideen ausgearbeitet hat.
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»Alter« und »Altern« — eine begriffliche Klärung
Ludwig Wittgenstein hat diesen Gedanken folgendermaßen ausgedrückt: »Dieses Argument geht aus der Auffassung hervor, daß es das Gemeinsame der Vorgänge, oder Gegenstände etc. ist, welches ihre Charakterisierung durch ein gemeinsames Begriffswort rechtfertigen muß. Diese Auffassung ist, in gewissem Sinne, zu primitiv. Was das Begriffswort anzeigt, ist allerdings eine Verwandtschaft der Gegenstände aber diese Verwandtschaft muß keine Gemeinsamkeit einer Eigenschaft oder eines Bestandteils sein. Sie kann die Glieder kettenartig verbinden, so daß eines mit einem anderen durch Zwischenglieder verwandt ist; und zwei einander nahe Glieder können gemeinsame Züge haben, einander ähnlich sein, während entferntere nichts mehr mit einander gemein haben und doch zu der gleichen Familie gehören. Ja selbst wenn ein Zug allen Familienmitgliedern gemeinsam ist, muß nicht er es sein, der den Begriff definiert. Die Verwandtschaft der Glieder des Begriffs kann durch die Gemeinsamkeit von Zügen in ihnen hergestellt sein, deren Auftreten in der Familie des Begriffs sich auf äußerst komplizierte Weise kreuzt.« 7
Diese Passage lässt sich wie folgt auf den Begriff »Altern« in verschiedenen Disziplinen übertragen: Die Alternsbegriffe würden auf »eine Vielzahl verschiedener, aber miteinander zusammenhängender Phänomene Bezug« 8 nehmen und dabei kettenartig miteinander zusammenhängen. Unter der Voraussetzung, dass die Buchstaben ABCDEFG für verschiedene Merkmale und ihnen entsprechenden Prädikate stehen, ließen sich die einzelnen wissenschaftlichen Alternsbegriffe folgendermaßen darstellen: BCD, ADEG, ABCF, ACDEG, ABCFG, AEFG usw. Falls sich die Vermutung bestätigen sollte, dass die verschiedenen wissenschaftlichen Begriffe des Alterns durch Familienähnlichkeiten verbunden sind, würden die Alternsbegriffe in den einzelnen Disziplinen, obwohl sie keinen semantischen Kern mitei7 | L. Wittgenstein: Philosophische Grammatik, Frankfurt a.M. 1973, S. 75. 8 | H.-J. Glock: Wittgenstein-Lexikon, Darmstadt 2000, S. 111.
1. Methodische Grundlagen
nander teilten, nicht gänzlich unverbunden nebeneinander stehen. In diesem Fall müsste jeweils im Einzelfall geprüft werden, ob zwei Vertreter verschiedener Disziplinen, wenn sie über das Altern und Altern im Alter sprechen, damit auf mindestens ein gemeinsames Merkmal des Phänomens Bezug nehmen und welches dies ist. Aus den in diesem Abschnitt genannten Gründen gehe ich in der vorliegenden Untersuchung von der Arbeitshypothese aus, dass entweder Möglichkeit 3a oder Möglichkeit 3b zutrifft.
1.2 T ypologie der A lternsbegriffe Im Folgenden wird eine Typologie von Begriffen des Alterns vorgestellt. Sie dient als theoretisches Instrument zur Systematisierung des Materials, denn sie bietet die Möglichkeit, die von mir untersuchten Begriffe gezielt im Hinblick auf bestimmte Aspekte zu vergleichen. Sofern sich im Verlauf der komparatistischen Analyse herausstellen sollte, dass diese Möglichkeit des Vergleichs besteht, werden die untersuchten Begriffe anhand dieser Typologie eingeordnet. Sie ist anhand von vier Gesichtspunkten, denen jeweils ein begrifflicher Gegensatz entspricht, erstellt worden. Die verschiedenen Alternsbegriffe lassen sich anhand folgender Gesichtspunkte jeweils in Typen unterscheiden: 1. in Bezug auf den Teil der Welt, in dem der Untersuchungsgegenstand verortet wird 2. hinsichtlich der Gegenstände, auf die das Prädikat »alt« angewandt wird 3. in Bezug auf die Art der Erfahrungen, welche der Begriffsbildung zugrunde gelegt werden 4. im Hinblick auf die Funktion des Alternsbegriffs
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1. Die Einteilung anhand des Teils der Welt, in dem der Untersuchungsgegenstand verortet wird: naturalistische und kulturalistische Alternsbegriffe Je nachdem, ob das Altern als ein natürlicher oder kulturell konstituierter Prozess begriffen wird, lassen sich naturalistische und kulturalistische Alternsbegriffe unterscheiden.9 Beide Begriffstypen, die im Hinblick auf ihre Kriterien gegensätzlich sind, können auf zweierlei Weise verwendet werden. Sowohl die naturalistischen als auch die kulturalistischen Alternsbegriffe können in einer schwachen und starken Ausprägung auftreten. Ein schwacher naturalistischer Alternsbegriff liegt vor, wenn einerseits die Begriffsbildung nur in Bezug auf natürliche Gegenstände erfolgt, wenn aber andererseits nicht ausgeschlossen wird, dass bestimmte begriffliche Merkmale des Alterns kulturell beschaffen sind. Bei der Beschränkung auf natürliche Aspekte handelt es sich dann nicht um eine ontologische, sondern um eine epistemologische Festlegung, die zur Folge hat, dass eine mögliche kulturelle Dimension gar nicht in den Untersuchungsbereich fällt. Das Kriterium der Natürlichkeit des Alterns kann jedoch auch auf starke Weise, nämlich reduktionistisch verstanden werden. In diesem Falle wird unterstellt, dass das Altern ein rein natürliches Phänomen ist und dass Aspekte des Alterns, die scheinbar kulturell konstituiert sind, letztlich auf natürliche Eigenschaften oder Vorgänge zurückgeführt werden können. 9 | Wie sich im Verlauf der Untersuchung noch deutlicher zeigen wird, beruht die Begriffsbildung in den Wissenschaften vom Altern häufig auf der Unterstellung, dass sich Natur und Kultur bzw. Natürliches und Kulturelles klar voneinander unterscheiden lassen. Wie beispielsweise Dieter Birnbacher gezeigt hat, versteht sich diese Annahme jedoch nicht von selbst (vgl. D. Birnbacher: Natürlichkeit, Berlin/New York 2006). Wenn, wie Birnbacher behauptet, der Begriff der Natürlichkeit notorisch vieldeutig und unbestimmt ist, dann lässt sich auch keine klare Grenze zwischen Natur und Kultur ziehen. Trotz dieser berechtigten Zweifel ist es im Rahmen der vorliegenden Arbeit hermeneutisch sinnvoll, sich auf die Voraussetzung der hier behandelten Theorien einmal probeweise einzulassen.
1. Methodische Grundlagen
Die Beschränkung auf die natürliche Welt ergibt sich hier nicht aus einer epistemologischen Festlegung, sondern beruht vielmehr auf einer ontologischen Annahme: Letztlich besteht die gesamte Welt nur aus natürlichen Entitäten. Was soeben über die naturalistischen Begriffe des Alterns gesagt wurde, gilt auch für ihr kulturalistisches Pendant. Auch in diesem Falle lassen sich schwache und starke Versionen unterscheiden. Wenn die Begriffsbildung auf die kulturelle Welt beschränkt wird, ohne dass dabei behauptet würde, dass das Altern ein rein kultureller Prozess sei, dann handelt es sich um einen schwachen kulturalistischen Alternsbegriff. Die Beschränkung auf die kulturelle Welt wird dann nur als eine epistemologische, nicht jedoch als eine ontologische aufgefasst. So kann beispielsweise eine Soziologin mit Blick auf die Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Wissenschaften einerseits anerkennen, dass das Altern auch natürliche Aspekte aufweist, und sich selbst andererseits im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit auf die Untersuchung der kulturellen Aspekte des Alterns beschränken. Im Gegensatz dazu steht die vom Konstruktivismus vertretene These, dass es überhaupt keine nicht kulturell geprägten Gegenstände oder keinen nicht kulturell geprägten Zugang zum Altern gibt. Diese Auffassung führt zu einem starken kulturalistischen Begriff des Alterns. Der Ausschluss des Natürlichen ist hier nicht nur als epistemologischer, sondern auch als ontologischer zu verstehen.
2. Die Einteilung anhand der Gegenstände, auf die das Prädikat »alt« angewandt wird: nur organismusbezogene versus nicht ausschließlich organismusbezogene Alternsbegriffe Je nachdem, auf welche Arten von Gegenständen der Alternsbegriff bezogen wird, lassen sich wiederum zwei Begriffstypen gegenüberstellen. Einerseits ist es möglich, den Anwendungsbereich des Prädikats »alt« und des entsprechenden Begriffs im Einklang mit der umgangssprachlichen Verwendung von vornherein auf Organismen als Ganze, zum Beispiel auf menschliche Individuen, zu beschränken. In diesem Falle wird unterstellt, dass im wörtlichen
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Sinne nur Lebewesen als Ganze altern können und dass die Rede vom Altern suborganismischer oder metaorganismischer Entitäten metaphorisch verstanden werden muss. Beispielsweise meinten diejenigen, die von der »alternden Gesellschaft« sprechen, nicht, dass Gesellschaften als Ganze ebenso wie Individuen altern könnten. Vielmehr verwendeten sie diesen Ausdruck nur elliptisch, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass der Anteil der alten Menschen in der Gesellschaft zunehme. Andererseits kann man im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung das Prädikat »alt« auch anders als in der Umgangssprache verwenden und es nicht nur auf Organismen als Ganze beziehen, sondern auch auf Teile von Organismen, zum Beispiel auf Zellen und Organe, oder auf aus Individuen zusammengesetzte Entitäten, wie etwa Gesellschaften.
3. Die Einteilung in Bezug auf die Art der Erfahrungen, welche der Begriffsbildung zugrunde gelegt werden: subjektivistische versusobjektivistischeAlternsbegriffe Alternsbegriffe lassen sich noch auf ganz andere Weise typisieren und zwar im Hinblick darauf, welche Arten von Erfahrungen der Begriffsbildung zugrunde gelegt werden. Wenn man davon ausgeht, dass ein Begriff des Alterns nur dann adäquat ist, wenn er subjektive Momente enthält, dann entwirft man einen subjektivistischen Alternsbegriff. Objektivistische Begriffe des Alterns beruhen hingegen auf der Voraussetzung, dass sich die wesentlichen Merkmale des Alterns auch dann durch Beobachtung feststellen lassen, wenn der Beobachter selbst nicht altert, d.h. unabhängig vom subjektiven Erleben des Alterns. Ebenso wie die naturalistischen und kulturalistischen Alternsbegriffe lassen sich subjektivistische und objektivistische Begriffe des Alterns jeweils in eine schwache und eine starke Variante unterteilen. Ein schwacher subjektivistischer Begriff des Alterns liegt dann vor, wenn die Begriffsbildung ausschließlich anhand subjektiver Merkmale erfolgt, d.h. wenn sie nur vom Erleben oder Erlebnisberichten alternder Menschen ausgeht, ohne dass dabei behauptet würde, dass das Altern keine objektiven begrifflichen Merkmale im Sinne von intersubjektiv zugänglichen
1. Methodische Grundlagen
Eigenschaften aufweist. Die Beschränkung auf den subjektiven Zugang ist in diesem Falle nur eine epistemologische, keine ontologische. Anders verhält es sich, wenn die Begriffsbildung auf der starken Annahme beruht, dass ein adäquater Begriff des Alterns nur subjektive Merkmale enthalten kann. In diesem Falle wird unterstellt, dass sich das Altern nur für denjenigen zeigt, der es am eigenen Leib und Geist erlebt, d.h. dass es keinen objektiven Zugang zum Phänomen des Alterns gibt. Diese Annahme impliziert, dass die Beschränkung auf subjektive Merkmale nicht nur eine epistemologische, sondern auch eine ontologische ist. Die gleiche Unterscheidung lässt sich in Bezug auf objektivistische Alternsbegriffe treffen. Wenn sich eine wissenschaftliche Disziplin in ihrer Beschäftigung mit dem Altern auf objektiv zugängliche Eigenschaften beschränkt, ohne dabei zu behaupten, dass es keine rein subjektiven begrifflichen Merkmale des Alterns gibt, dann hat man es mit einem schwachen objektivistischen Begriff des Alterns zu tun. Beispielsweise könnte ein Soziologe einerseits ohne Weiteres einräumen, dass bestimmte Eigenheiten des Alterns nur im Erleben, d.h. auf subjektive Weise erfasst werden können, und sich andererseits im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit auf die Untersuchung objektiv zugänglicher Merkmale konzentrieren. Ein starker objektivistischer Begriff des Alterns liegt hingegen dann vor, wenn der Ausschluss subjektiver Aspekte auf der These beruht, dass alle wesentlichen Merkmale des Alterns objektiv im Sinne von intersubjektiv zugänglich sind.
4. Die Einteilung anhand der Funktionen der Begriffe: deskriptive, evaluative und präskriptive Begriffe des Alterns Grundsätzlich lassen sich Begriffe in deskriptive und evaluative einteilen. Deskriptive Begriffe bezeichnen mittels der Kombination bestimmter Prädikate (der Intension) bestimmte Gegenstandsmengen (Extension), ohne dabei die Gegenstände, die unter sie subsumiert werden, zu bewerten. Beispiele für rein deskriptive Begriffe sind etwa »Zahl«, »Stein« oder »Helium«. Evaluative Begriffe zeichnen sich demgegenüber dadurch aus, dass sie über die
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bloße Beschreibung hinaus mindestens ein wertendes Prädikat als Teil ihrer Intension aufweisen. Beispiele dafür sind »Nichtsnutz«, »Versager«, »Vorbild« oder »Charmeur«. Die Unterscheidung zwischen deskriptiven und evaluativen Begriffen ist eine semantische, bei der von den pragmatischen Kontexten der Begriffsverwendung abgesehen wird. Wenn man diese Kontexte einbezieht, dann zeigt sich, dass Begriffe drei verschiedene Funktionen erfüllen können: Sie können zur bloßen Beschreibung, zur wertenden Beschreibung oder zur Formulierung von Handlungsvorschriften verwendet werden. Die zuletzt genannte präskriptive Funktion von Begriffen ist selbstverständlich nur dann möglich, wenn der Begriff selbst bereits evaluativ ist. Wenn schon der Begriff einer Sache zum Ausdruck bringt, dass diese in irgendeiner Hinsicht gut oder schlecht ist, dann kann der evaluative Begriff dazu benutzt werden, präskriptive Urteile folgender Art zu formulieren: »X sollte herbeigeführt werden«, »Y sollte verhindert werden«, »Man sollte Z aus dem Wege gehen«. In diesen Fällen sind nicht etwa die Begriffe X, Y und Z selbst präskriptiver Art, sondern vielmehr die Art ihrer Verwendung. Diese Unterscheidung lässt sich auch auf die Begriffe des Alterns beziehen. Auch die Alternsbegriffe können drei verschiedene Funktionen erfüllen. Sie können dazu dienen, etwas zu beschreiben oder festzustellen (deskriptive Funktion). Man kann sie andererseits dazu verwenden, bestimmte Bewertungen zum Ausdruck zu bringen (evaluative Funktion). Schließlich können sie auch dazu gebraucht werden, Handlungsanweisungen zu formulieren (präskriptive Funktion). – Die deskriptive Verwendung eines Alternsbegriffs liegt dann vor, wenn dieser ausschließlich die Funktion erfüllen soll, das Phänomen des Alterns möglichst vollständig zu beschreiben oder zu benennen. Dabei werden Bewertungen des Alterns ausdrücklich ausgeschlossen. Wenn die Beschreibung des Alterns durch eine Bewertung ergänzt wird, beispielsweise als gut oder schlecht, zuträglich oder schädlich, dann liegt ein evaluative Begriffsverwendung vor. Wie sich im folgenden Kapitel über die Ideengeschichte des Alterns zeigen wird, werden die philoso-
1. Methodische Grundlagen
phischen Begriffe des Alterns in der Regel evaluativ verwendet. Schließlich besteht die Möglichkeit, dass aus der auf einer bestimmten Beschreibung beruhenden Beurteilung des Alterns eine Handlungsanweisung abgeleitet wird. Wenn dies der Fall ist, dann handelt es sich um eine präskriptive Verwendung des Begriffs. Da nicht auf der Hand liegt, wie die präskriptive Funktion des Alternsbegriffs – der ja selbst, wie oben dargelegt wurde, nicht präskriptiv sein kann – beschaffen sein könnte, soll dies kurz anhand eines Beispiels verdeutlicht werden. In seinem Aufsatz »The Fable of the Dragon Tyrant« vertritt Nick Bostrom die These, dass es moralisch und politisch geboten ist, alle verfügbaren Kräfte zur wissenschaftlichen Erforschung der Ursachen des Alterns einzusetzen, um den Alterungsprozess bei möglichst vielen Menschen zu verlangsamen oder gar zu verhindern.10 Diese präskriptive Auffassung beruht erstens auf der deskriptiven Annahme, dass das Altern eine der wichtigsten Ursachen für menschliche Todesfälle ist, und zweitens auf der präskriptiven Prämisse, dass das, was den Tod des Menschen herbeiführt, beseitigt oder verhindert werden soll: »The general ethical argument in the fable is simple: there are obvious and compelling moral reasons for the people in the fable to get rid of the dragon. Our situation with regard to human senescence is closely analogous and ethically isomorphic in the situation of the people in the fable with regard to the dragon. Therefore, we have compelling moral reasons to get rid of human senescence. The argument is not in favour of lifespan extension as such. […] The argument is in favour of extending, as far as possible, the human healthspan.«11
10 | Eine ausführliche Argumentation für die These, dass die Bekämpfung des Alters mittels der radikalen technischen Lebensverlängerung moralisch erlaubt ist, findet sich bei T. Hainz: Radical Life Extension. An Ethical Analysis, Münster 2014. 11 | N. Bostrom: »The fable of the dragon tyrant«, in: Journal of Medical Ethics 31(2005), S. 273-277, S. 277.
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»Alter« und »Altern« — eine begriffliche Klärung
Wie dieses Beispiel verdeutlicht, können wissenschaftliche oder philosophische Begriffe des Alterns präskriptiv verwendet werden, um Handlungsanweisungen zu formulieren.12 Die vier anhand verschiedener Kriterien vorgenommen Einteilungen ergeben eine Typologie der Alternsbegriffe, die sich in tabellarischer Form darstellen lässt: Typ Typ 1
Typ 2
Typ 3
Teil der Welt
naturalistisch
kulturalistisch
------------------
Gegenstand
nur organimusbezogen
nicht nur organismusbezogen
------------------
Art der Erfahrung
subjektivistisch
objektivistisch
------------------
Funktion der Begriffe
deskriptiv
evaluativ
präskriptiv
Kriterium der Unterscheidung
Gegen diesen Vorschlag der Typologisierung könnte eingewendet werden, dass er insofern unstimmig sei, als sich nur in Bezug auf die Funktion der Begriffe eine Dreiteilung findet. Müsste sich nicht in Bezug auf die anderen Unterscheidungskriterien ebenfalls jeweils eine dritte Option angeben lassen? Anders gesagt: Lässt sich die Sonderstellung der funktionalistischen Trias im Rahmen der 12 | Ein weiteres Beispiel für eine präskriptive Verwendung des evaluativnegativen Alternsbegriffs findet sich bei M. Fossel: Das Unsterblichkeitsenzym. Die Umkehrung des Alterungsprozesses ist möglich, München 1996. Vgl. v.a. Kapitel 6 mit dem Titel »Die Uhr zurückstellen« und Kapitel 7 »Gewonnene Lebenszeit«.
1. Methodische Grundlagen
Typologie theoretisch rechtfertigen? – Dies ist tatsächlich der Fall. Der Grund dafür besteht darin, dass die den anderen Kriterien entsprechenden Möglichkeiten jeweils eine vollständige Disjunktion bilden. Beispielsweise deckt der Gegensatz zwischen natürlichen und kulturellen Entitäten die Gesamtheit aller raumzeitlichen Gegenstände13 ab. Alles, was in Raum und Zeit existiert, ist entweder etwas Natürliches oder ein Artefakt oder eine Mischung14 aus beiden. Im Unterschied dazu handelt es sich bei der Gegenüberstellung zwischen der deskriptiven und der evaluativen Funktion eines Begriffs jedoch nicht um eine erschöpfende Disjunktion, weil Begriffe darüber hinaus auch vorschreibend gebraucht werden können, ohne selbst präskriptiv zu sein, nämlich dann, wenn sie (i) evaluativ sind und wenn es (ii) möglich ist, die von dem Begriff bezeichneten Gegenstände durch menschliches Handeln zu beeinflussen. Zum Abschluss dieses Kapitels soll noch eine Bemerkung zur Methode ihren Platz finden. Eine Schwierigkeit der Untersuchung der Begriffe des Alterns in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen besteht darin, dass diese immer im Rahmen einer Theorie verwendet werden bzw. in eine solche eingebettet sind. Es ist kennzeichnend für Theorien des Alterns, dass diese Aussagen über die Ursachen und die Folgen des Alterungsprozesses enthalten. Darüber hinaus wird in vielen Fällen der Begriff des Alterns u.a. anhand der Ursachen oder der Folgen des Alterns bestimmt. Daraus ergibt sich die Schwierigkeit, dass ein wissenschaftlicher Begriff des Alterns kaum von Annahmen über die Verursachung oder die Folgen des Alterns bestimmt werden kann. Dennoch muss in dieser Arbeit 13 | In Bezug auf das Altern können abstrakte Gegenstände von vornherein außer Acht gelassen werden. 14 | Eine Kombination aus zwei Möglichkeiten darf selbstredend nicht mit einer eigenständigen, d.h. hier irreduziblen dritten Möglichkeit verwechselt werden. – Dass die Unterscheidung zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit grundsätzlich fragwürdig ist, wurde bereits erwähnt (vgl. oben Fn. 9).
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versucht werden, die Begriffe, soweit es möglich und sinnvoll ist, zu isolieren. Die Grenze, die dabei gezogen werden muss, mag in einzelnen Fällen willkürlich erscheinen. Allerdings ist eine solche Grenzziehung aus pragmatischen Gründen und mit Blick auf das Ziel dieser Arbeit unvermeidlich.
2. Der Begriff des Alterns in der Geschichte der Philosophie: ein exemplarischer Abriss 2.1 R ele vanz der in diesem K apitel behandelten A utoren Die theoretische Auseinandersetzung mit dem Altern und Altern im Alter beginnt nicht erst mit der Untersuchung dieses Phänomens durch die seit Beginn der Neuzeit entstandenen einzelnen Wissenschaften. Vielmehr haben sich Philosophen bereits seit Jahrtausenden mit dem Wesen und den Auswirkungen des Alters und Alterns beschäftigt. Obgleich die Begriffs- und Ideengeschichte des Alter(n)s im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Arbeit nicht unmittelbar von Bedeutung ist, soll sie hier zumindest exemplarisch dargestellt werden. Dafür sprechen vor allem zwei Gründe: Erstens nimmt die philosophische Reflexion auf das Alter(n) eine bemerkenswerte Mittelstellung zwischen der alltagssprachlichen Verwendung der entsprechenden Begriffe einerseits und deren einzelwissenschaftlicher Analyse andererseits ein. Beispielsweise fragt die Philosophie im Unterschied zur modernen Biologie nicht nach den Ursachen und der organischen Realisierung des Alterns auf der Mikroebene. Anders als etwa die soziologische Gerontologie untersucht die Philosophie das Altern auch nicht auf empirische Weise mittels exakter statistischer Methoden und dem Anspruch auf quantitative Präzision. Dennoch handelt es sich beim philosophischen Nachdenken über das Alter(n) um eine Form der theoretischen Reflexion. Dieses
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Merkmal teilt es mit der wissenschaftlichen Untersuchung des Alter(n)s. Andererseits knüpfen Philosophen in ihrer Reflexion über das Alter(n) an alltägliche Verhaltensweisen, teilweise auch an persönliche Erfahrungen an. Somit verbindet die philosophische Beschäftigung mit dem Alter(n) die alltäglichen Urteile und Haltungen mit allgemeinen theoretischen Aussagen. Dabei – und dies ist der zweite Grund für die Relevanz der Ideengeschichte des Alter(n)s für mein systematisches Thema – steht die Analyse des Alter(n)s in aller Regel in einem ethischen Kontext. Die Fragen, was das Alter(n) im Wesentlichen ausmacht, ob es etwas Gutes oder Schlechtes ist und wie man sich zu ihm verhalten soll, werden zumeist im Hinblick auf die Beantwortung der Frage nach dem guten Leben gestellt. Daraus ergibt sich eine Besonderheit der philosophischen Begriffe des Alter(n)s: In fast allen Fällen enthalten die philosophischen Altersbegriffe neben dem deskriptiven ein evaluatives, gelegentlich sogar ein präskriptives Element. Aufgrund dieser semantischen Eigenheit eignen sich die philosophischen Konzeptionen des Alter(n)s m.E. als Kontrastfolie für die Analyse der in den gegenwärtigen Wissenschaften gebräuchlichen Begriffe des Alter(n)s. Wie bereits aus dem Untertitel dieses Abschnitts hervorgeht, sind die folgenden Ausführungen zur Geschichte der philosophischen Konzeptionen des Alter(n)s nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit verbunden. Stattdessen wird diese Ideengeschichte hier exemplarisch anhand ausgewählter Autoren dargestellt. Für diese Auswahl waren folgende Kriterien maßgeblich: (i) Behandelt werden nur Autoren, deren Schriften über das Alter sich als kanonisch erwiesen haben. Dies impliziert u.a., dass Veröffentlichungen aus der Philosophie der Gegenwart von vornherein außer Acht gelassen wurden, weil uns der historische Abstand fehlt, der benötigt wird, um beurteilen zu können, welche Schriften sich über längere Zeit hinweg als einflussreich erweisen werden. Deshalb werden Autoren, die in einer Darstellung der gegenwärtigen Philosophie des Alter(n)s in jedem Falle vertreten sein müssten, wie etwa Otfried Höffe, Odo Marquard, Thomas Rentsch oder auch Nick Bos-
2. Der Begriff des Alterns in der Geschichte der Philosophie
trom15, hier nicht diskutiert. (ii) Außerdem zielt die Auswahl darauf ab, das Spektrum der denkbaren Begriffsbestimmungen und Bewertungen des Alter(n)s möglichst vollständig zu erfassen. Um Doppelungen zu vermeiden, kommt dabei jeweils dem Denker, der bestimmte Gedanken über das Alter(n) zuerst geäußert hat, der Vorrang vor allen anderen Autoren zu, die Gleiches zu einem späteren Zeitpunkt gesagt haben. Dies ist das Kriterium der Originalität. (iii) Es wurden nur rein philosophische Texte berücksichtigt. Aus diesem Grunde scheiden erstens alle Texte aus, die eher der Theologie als der Philosophie zugeordnet werden müssen. Zweitens bleiben daher auch Schriften unberücksichtigt, die einen eher subjektiv-literarischen Charakter aufweisen und die nicht das Niveau der objektiv-theoretischen Verallgemeinerung erreichen, das hier als Maßstab vorausgesetzt werden muss, um die Vergleichbarkeit mit den wissenschaftlichen Begriffen des Alter(n)s, die im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehen, zu gewährleisten. Daraus erklärt sich, dass die Texte bestimmter Autorinnen und Autoren, so lesenswert diese auch sind, wie etwa diejenigen von Simone de Beauvoir, Jean Améry und Norberto Bobbio16 im Folgenden nicht einbezogen werden. Damit soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass die Bücher der genannten Autoren über das Alter(n) als Grundlage philosophischer
15 | Vgl. O. Höffe: »Gerontologische Ethik. Zwölf Bausteine für eine neue Disziplin«, in: T. Rentsch/M. Vollmann (Hg.), Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen, Stuttgart 2012, S. 212-232; O. Marquard: »Theoriefähigkeit des Alters«, in: T. Rentsch/M. Vollmann (Hg.), Gutes Leben im Alter, a.a.O., S. 207-211; T. Rentsch: »Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische Ethik der späten Lebenszeit«, in: ders./M. Vollmann (Hg.), Gutes Leben im Alter, a.a.O., S. 189-206; N. Bostrom: »The fable of the dragon tyrant«, Journal of Medical Ethics 31(2005), S. 273-277. 16 | Vgl. S. de Beauvoir: Das Alter, Reinbek bei Hamburg 2000 (Neuausg.) [Frz. 1970]; J. Améry: Über das Altern. Revolte und Resignation, Stuttgart 1968; N. Bobbio: Vom Alter – De senectute, 5. Aufl., Berlin 2004 [Ital. 1996].
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Reflexionen dienen können. Behauptet wird hier nur, dass es sich bei diesen Texten selbst nicht um rein philosophische Schriften handelt. Aus der Entscheidung für die eben erläuterten Auswahlkriterien ergibt sich, dass in dem folgenden historischen Überblick eine unübersehbare Lücke zwischen der Antike und der Frühen Neuzeit klafft.17 Diese Auswahl setzt sich dem Einwand aus, dass eine ganze Epoche der Philosophiegeschichte, nämlich das Mittelalter, zu Unrecht aus der Untersuchung ausgeklammert wird. Auf diesen ernst zu nehmenden Einwand lässt sich Folgendes erwidern. Nach dem Urteil angesehener Spezialisten für die Philosophie des Mittelalters finden sich in dieser Epoche der Philosophiegeschichte kaum originelle – in dem Sinne von Originalität, der hier zugrunde gelegt wurde – Überlegungen über das Alter(n). So stellt etwa Alexander Brungs, der sich in seiner Untersuchung allerdings auf die Rezeption der aristotelischen Gedanken über das Alter im 13. Jahrhundert beschränkt, fest: »Wer nun hofft, mit einem Blick in philosophische Texte des 13. Jahrhunderts auf diesem Feld [Hervorhebung – C.M.] intellektuelle Schätze heben zu können, die kraft Originalität und Durchdringungstiefe neue bzw. lange verschüttete Sichtweisen und Einsichten nahe legen, wird wohl enttäuscht werden.«18 Dieser Befund, der bei Brungs nur auf das Thema des Alters bezogen ist, findet sich als Diagnose über die Philosophie des Mit17 | Auch in dem von T. Rentsch und M. Vollmann herausgegebenen Sammelband Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen (a.a.O.) sind keine Autoren des Mittelalters vertreten. Wie in der vorliegenden Arbeit setzt der historische Überblick dort nach Seneca und Musonius, zwei Denkern aus dem ersten Jahrhundert nach Christus, in der Frühen Neuzeit mit Montaigne wieder ein. Auch in E. Martens’ Lob des Alters. Ein philosophisches Lesebuch finden sich keine Autoren des Mittelalters. Diese Tatsachen sind ein weiteres Indiz dafür, dass das Mittelalter keine kanonischen Texte zur Philosophie des Alter(n)s hervorgebracht hat. 18 | A. Brungs: »Die philosophische Diskussion des Alters im Kontext der Aristoteles-Rezeption des 13. Jahrhunderts«, in E. Vavra (Hg.), Alterskulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Wien 2008, S. 91-107, S. 91.
2. Der Begriff des Alterns in der Geschichte der Philosophie
telalters im Ganzen auch bei Loris Sturlese, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die deutsche Philosophie19 zwischen dem 8. und dem 13. Jahrhundert zu untersuchen und dabei eine »möglichst repräsentative[n] Auswahl von großen, mittleren und kleinen Denkern«20 zu Wort kommen zu lassen. Sturlese weist darauf hin, dass die philosophischen Bibliotheken gefüllt waren mit Texten von Aristoteles, Cicero und Seneca: »Das Spektrum der zitierten auctoritates erweist sich hier als überraschend schmal. Neben einigen Boethius-, Macrobius- und Sallustzitaten ist die überwiegende Anzahl der Texte drei Autoren entnommen: Cicero, Seneca und Aristoteles. […] Von Cicero- und Senecatexten quollen die damaligen Bibliotheken geradezu über, und man braucht sich hierüber nicht lange auszulassen.« 21
Wie diese Forschungsergebnisse zeigen, beschränkte sich die mittelalterliche Rezeption der antiken Philosophie lange Zeit fast ausschließlich auf die drei genannten Autoren. Was das philosophische Nachdenken über das Alter(n) betrifft, so lässt sich diese Vermutung u.a. durch die Beobachtung stützen, dass sich beispielsweise Thomas von Aquin – zweifellos einer der bedeutendsten und einflussreichsten Denker des Mittelalters – in den Passagen, in denen er sich mit dem Alter beschäftigt, gänzlich dem Urteil des Aristoteles anschließt, ohne dieses durch eigene Gedanken zu erweitern. 19 | »Von einer ›deutschen Philosophie‹ zu sprechen heißt nun keineswegs die philosophischen Ideen nach ihrer nationalen Zugehörigkeit und Verwurzelung zu befragen. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, ein neues Forschungsgebiet durch eine vernünftige und begründete Umschreibung ihrer Grenzen abzustecken – den Versuch, so könnte man ihn bezeichnen, einer neuen ›regionalen Philosophiegeschichte‹.« (L. Sturlese: Die deutsche Philosophie im Mittelalter. Von Bonifatius bis zu Albert dem Großen 748-1280, München 1993, S. 13). 20 | L. Sturlese: Die deutsche Philosophie im Mittelalter, a.a.O., S. 14. 21 | Ebd., S. 292f.
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So referiert er etwa die von Aristoteles in der Rhetorik getroffene Einschätzung, dass alte Menschen neidisch22 und von Natur aus habsüchtig23 seien. Die von Sturlese auf die Philosophie im Allgemeinen bezogene Vermutung wird also mit Bezug auf das besondere Problem des Alter(n)s zumindest im Hinblick auf Thomas von Aquin bestätigt. Wenn man die Frage beantworten will, ob sich dieses Resultat verallgemeinern lässt, wird man mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass die Geschichte der philosophischen Ideen über das Alter(n) im Mittelalter bisher kaum erforscht worden ist. Hinzu kommt, dass die einschlägigen mittelalterlichen Texte in der Regel von Theologen im weiten Sinne des Wortes24 verfasst wurden. Dies hat zur Folge, dass diese Schriften selbst dort, wo genuin philosophische Thesen und Argumente erörtert werden – und das ist häufig der Fall –, in erster Linie theologischer Natur sind. Im Falle eines Konflikts werden in ihnen die philosophischen Gründe stets den als wahr vorausgesetzten religiösen Lehren untergeordnet.25 Daher werden im Großen und Ganzen die im Mittelalter 22 | »Deshalb sagt Aristoteles: ›Die älteren Leute beneiden die jüngeren; […]‹.« (T. von Aquin: Summa Theologica, lat./dt., Band 17b, Heidelberg u.a. 1966, Teil II-II, Frage 36, S. 40) 23 | »Was sich naturhaft einstellt, ist nicht sündhaft. Habsucht ist aber eine natürliche Folge des Alters und jeglicher Daseinsgefährdung. (Aristoteles). Also ist sie keine Sünde.« (T. von Aquin: Summa Theologica, lat./dt., Bd. 20, München/Heidelberg 1943, Teil II-II, Frage 118, S. 227) 24 | Da im Mittelalter bekanntlich noch keine Universitäten existierten, wäre es unangemessen, die Bedeutung des Begriffs »Theologe« in Bezug auf diese Epoche auf hauptamtlich an Hochschulen Lehrende und Forschende zu beschränken. Unter »Theologen im weiten Sinn des Wortes« verstehe ich Gelehrte, deren Betätigung darin besteht, die Heilige Schrift zu studieren und zu interpretieren sowie religiöse Fragen auf wissenschaftliche Art und Weise zu erörtern. 25 | K. Flasch, einer der bedeutendsten Kenner der mittelalterlichen Philosophie, fasst den Charakter der Wissenschaft im Mittelalter folgender-
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entstandenen Schriften, sofern sie sich überhaupt mit dem Alter(n) beschäftigen, auch dem oben genannten dritten Kriterium nicht gerecht: Zwar ist unbestreitbar, dass viele dieser Abhandlungen insofern philosophische Schriften sind, als sie sich mit philosophischen Themen beschäftigen und dabei auf philosophische Argumente und Thesen eingehen; maßgeblich dafür, dass im Folgenden keine mittelalterlichen Autoren berücksichtigt wurden, war jedoch auch die Tatsache, dass es sich bei den aus dem Mittelalter überlieferten Quellen nicht um rein philosophische Texte handelt. Aus den genannten Gründen setzt der folgende Überblick nach der Behandlung der wichtigsten antiken Texte über das Alter(n) mit Michel de Montaignes Essays wieder ein. In der folgenden Darstellung und Analyse werde ich die im ersten Kapitel entwickelte Typologie zugrunde legen. Dadurch wird erstens sichergestellt, dass sich die verschiedenen Begriffe des Alter(n)s, die sich bei den einzelnen Autoren finden, im Hinblick auf ein und dasselbe begriffliche Schema miteinander vergleichen lassen. Darüber hinaus ist diese systematische Bearbeitung des historischen Stoffes auch in Bezug auf den Vergleich mit den in den
maßen zusammen: »Zwischen der Absetzung des letzten weströmischen Kaisers (476) und der Kaiserkrönung Karls des Großen am Weihnachtstag des Jahres 800 haben sich die Rahmenbedingungen geändert, unter denen jede Weiterentwicklung, auch die wissenschaftliche, stand. […] Mit dem Zusammenbruch des römischen Reiches und dem Untergang seiner Beamtenschaft veränderte auch die ›Wissenschaft‹ ihre Funktion. In der Welt, die jetzt entstand, erhielt ›Denken‹ einen anderen Sinn. Der antike Zusammenhang von denkender Orientierung und politischem Handeln hatte sich seit dem 1. Jahrhundert gelöst, jetzt zerbrach er vollends – wenigstens in seiner bisherigen Form. Mit dem Vermögensverlust der bisher führenden Schichten verschwand auch die soziale Vorbedingung des antiken Lebensideals der Muße: Sofern die Wissenschaft in den nächsten Jahrhunderten überhaupt noch vorkam, diente sie kirchlichen Zwecken.« (Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986, S. 139)
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gegenwärtigen Wissenschaften gebräuchlichen Alter(n)sbegriffen nützlich und sinnvoll.
2.2 P l aton : D er S taat Platons Einschätzung des Alters findet sich in seinem großen Dialog Der Staat. In diesem Werk untersucht Platon, was das Wesen der Gerechtigkeit ist und ob diese sowohl an sich als auch im Hinblick auf ihre Folgen erstrebenswert ist: »Denn ich will hören, was denn beides [das Gerechte und Ungerechte – C.M.] wesenhaft ist und welche Macht es an sich besitzt, wenn es in der Seele wohnt, ohne Rücksicht auf Ertrag und Folgen.«26 Platons zentrale These in diesem Dialog, die nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern auch für die Polis als Ganze gilt, lautet, dass Gerechtigkeit darin bestehe, dass ein Jedes das Seinige tue. Bezogen auf den Menschen bedeutet dies, dass ein Mensch dann gerecht ist, wenn jeder seiner drei Seelenteile die ihm zukommende Aufgabe erfüllt. Im Staat entsprechen den drei Seelenteilen drei Stände. Ein Staat ist genau dann gerecht, wenn jeder der drei Stände seine spezifische Funktion erfüllt. Worin das Originelle an Platons Auffassung besteht, wird deutlich, wenn man diese mit der auf Simonides zurückgehenden Definition, die von Platon in entscheidender Hinsicht abgewandelt wird, vergleicht. Simonides zufolge besteht Gerechtigkeit darin, dass ein Jeder das Seinige erhält. Dieser rein passivischen Konzeption der Gerechtigkeit setzt Platon eine aktivische Auffassung entgegen: Gerechtigkeit besteht darin, dass die Seelenteile oder die Stände das ihrige tun. Da Platon das gerechte Leben zugleich als das gelingende und glückliche Leben begreift, folgt aus dem eben Dargestellten, dass nach Platon das Glück eines Menschen dadurch konstituiert wird, dass dieser auf eine ganz bestimmte Art und Weise handelt, und 26 | Platon: Der Staat, übers.u. hg. v. K. Vretska, Stuttgart 2010, S. 125 [358b].
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dies heißt in Bezug auf sein Leben als Ganzes, das er dieses Leben auf eine bestimmte Art und Weise führt. Somit ist das Glück im Sinne Platons kein Widerfahrnis, sondern das Ergebnis einer Aktivität. Aus dieser allgemeinen Charakterisierung der platonischen Ethik lässt sich vorwegnehmend folgende Hypothese ableiten: Wenn eine bestimmte Art, zu handeln und sein Leben zu führen, notwendige und hinreichende Bedingung für die Erlangung der eudaimonía ist, dann folgt daraus, dass alle Umstände, die nicht in der Macht eines Menschen stehen, für dessen Glück irrelevant sind oder dass sie es nur insofern beeinflussen können, als sie die Möglichkeit des Menschen, so oder so zu handeln, in entscheidender Hinsicht modifizieren. Vor diesem Hintergrund müssen auch Platons knappe Ausführungen über das Alter interpretiert werden. Wie bereits erwähnt, geht Platon auf das Alter in der Rahmenhandlung der Politeia ein. Innerhalb dieser Rahmenhandlung, in der Platon bereits implizit die Untersuchung des Wesens der Gerechtigkeit vorbereitet, lässt er seinen literarischen Sokrates den alten Kephalos nach den Bürden des Alters befragen. Dieser antwortet dem Sokrates, dass das Greisenalter höchst individuell erlebt wird und darüber hinaus auch Vorteile in Bezug auf die Gesamtkonstitution eines Einzelnen haben kann: »Wahr und offen, bei Zeus, will ich dir, Sokrates, meine Meinung sagen. Oft kommen wir Gleichaltrigen zusammen und bestätigen das alte Sprichwort. Die meisten von uns jammern nun dabei, weil sie sich nach den Freuden der Jugend sehnen und sich erinnern der Liebesgenüsse, der Gelage und Genüsse und all der ähnlichen Dinge; und sie sind verdrossen, als ob sie weiß Gott wieviel verloren hätten, als ob ihr Leben damals wunderbar gewesen, ihr heutiges ein Nichts wäre. Einige klagen auch über schlechte Behandlung durch ihre Verwandten wegen ihres hohen Alters und wissen daher ein Lied zu singen von den Beschwerden, an denen das Alter schuld sei. Ich glaube, Sokrates, sie treffen da nicht die richtige Ursache. Wäre es so, dann hätte ich doch – was das Alter anlangt – dieselben Beschwerden, ich und alle Gleichaltrigen. Nun traf ich aber schon manche, die sich nicht so fühlen; vor
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allem kam ich einmal dazu, wie den Dichter Sophokles einer fragte: ›Wie hältst du es, Sophokles, mit der Liebe? Kannst du noch mit einer Frau verkehren?‹ – ›Still doch, Mensch! Bin ich doch froh, dem entkommen zu sein, als wär’ ich einem rasenden, wilden Herrn entlaufen!‹ Gut gefiel mir das damals schon und heute nicht minder! Denn von alldem hat man im Greisenalter heiligen Frieden und Freiheit.« 27
An dieser Stelle nimmt Platon bereits die These vorweg, dass Glückseligkeit in einer bestimmten Art und Weise des Tätigseins besteht. Glücklich ist ein Mensch genau dann, wenn jeder seiner drei Seelenteile28 das Seinige tut, d.h. wenn jeder von ihnen seine spezifische Funktion im Streben nach Gerechtigkeit erfüllt: »In Wahrheit, solcher Art ist zwar die Gerechtigkeit, aber sie bezieht sich nicht auf die äußeren Auswirkungen des Menschen, sondern auf seine innere Haltung, auf sein Selbst und sein Wesen; ein solcher Mensch läßt keinen der Seelenteile Unangemessenes verrichten noch sich in die Aufgaben anderer vielgeschäftig einmischen: sondern er baut in Wahrheit sein Haus trefflich, herrscht über sich in Ordnung und Freundschaft zu sich selbst und stimmt die drei Seelenteile ab wie die Hauptsaiten der Lyra, die oberste, unterste und mittlere; und alles, was dazwischen liegen mag, all das bindet er zusammen und wird so aus vielem wahrhaft einer, besonnen und harmonisch; […].« 29
Darüber hinaus ist im menschlichen Streben nach Glückseligkeit die Harmonie der Seelenteile derjenigen des Körpers übergeordnet.30 Die körperliche Konstitution eines Menschen spielt im Stre27 | Ebd., S. 85 [329a-329c]. 28 | Seelenteile: begehrend, vernünftig und emotional, vgl. ebd. Buch IV. 29 | Ebd., S. 238f. [443c-443d]. 30 | »[…] die ganze Seele aber erreicht den besten, ihrer Natur gemäßen Zustand, erwirbt mit der Einsicht zugleich Besonnenheit und Gerechtigkeit und erlangt damit einen höheren Wert, als je ein Leib es kann, mag er auch mit der Gesundheit zugleich Stärke und Schönheit erwerben; einen Wert,
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ben nach Gerechtigkeit also eine untergeordnete Rolle: »Ein tüchtiger Körper schafft sich, glaube ich, niemals durch seine Tüchtigkeit eine gute Seele, sondern im Gegenteil vervollkommnet eine tüchtige Seele durch ihre Kraft den Körper aufs beste.«31 Eine gute körperliche Verfassung ist nach Platon weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung der eudaimonía. Wenn in der Seele eines jungen Menschen Unordnung herrscht, wenn beispielsweise der vernünftige Seelenteil nicht fähig ist, die anderen beiden zu lenken, dann wird jener Mensch auch dann nicht glücklich sein, wenn er sich uneingeschränkter Gesundheit erfreut. Unabhängig vom Alter wird die Glückseligkeit durch das Zusammenspiel der Seelenteile konstituiert. Demnach sind Gesundheit, Kraft oder Schmerzlosigkeit keine hinreichende Bedingung der Glückseligkeit. Andererseits wird ein alter Mensch, der im Sinne Platons gerecht ist, selbst dann glücklich sein, wenn ihn altersbedingte körperliche Beschwerden plagen. Daher ist eine gute körperliche Konstitution auch keine notwendige Bedingung des Glücks. Vielmehr ist dieses nach Platon weitgehend unabhängig vom Alter. Dies übersehen Kephalos zufolge viele seiner Altersgenossen. Diese sehnten sich nach den oberflächlichen Vergnügungen der Jugend, nicht aber nach der eudaimonía. Sie übersähen dabei beispielsweise, dass das Nachlassen der Leidenschaften einen Gewinn an Freiheit in sich birgt. Platon zufolge hängt es von der Beschaffenheit des ethischen Charakters ab, in welcher Form das hohe Alter erlebt wird. Im weiteren Verlauf des Dialogs weist Kephalos ausdrücklich darauf hin, dass das nicht nur für Hochbetagte gilt, sondern dass der Charakter in jeder Lebensphase darüber entscheidet, wie ein Mensch sich zu dem, was ihm widerfährt, verhalten kann:
der soviel höher ist, als die Seele wertvoller ist als der Leib. […] Diesem Ziel wird also der vernünftige Mensch in seinem Leben mit aller Kraft zustreben.« (Ebd., S. 429f. [591b-591c]) 31 | Ebd., S. 186 [403d].
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»Aber an alldem, auch an der üblen Behandlung durch die Verwandten, ist nur eines schuld – nicht das Greisenalter, Sokrates, sondern der Charakter des Menschen; wären sie maßvoll und verträglich, dann wäre auch das Greisenalter eine erträgliche Last; so aber sind Greisenalter und Jugend, mein Sokrates für diese Leute gleich beschwerlich.« 32
In Platons knappen Ausführungen über das Alter scheinen mir folgende Aspekte im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Arbeit wesentlich zu sein: • Platon erörtert das Alter ausschließlich in einem ethischen Kontext, nämlich im Hinblick auf die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit und der Glückseligkeit. • Das Alter an sich ist weder ein Gut noch ein Übel, sondern ein adiáphoron, d.h. etwas, das im Hinblick auf die Erlangung der eudaimonía keinen Unterschied macht. • Dem Alter als Lebensabschnitt kommt weder im Hinblick auf das gesamte Leben noch im Hinblick auf Gerechtigkeit und Glückseligkeit eine Sonderstellung zu. • Mit Bezug auf die im Kapitel I eingeführte Typologie lässt sich Platons Konzeption des Alters folgendermaßen einordnen: • Platons Altersbegriff enthält sowohl objektive als auch subjektive Merkmale. Daher lässt sich Platons Charakterisierung des Alters weder dem objektivistischen noch dem subjektivistischen Begriffstyp zuordnen. • Seine Beschreibung des Alters bezieht naturale und kulturelle Aspekte ein, sodass diese gegenüber der Opposition zwischen naturalistischen und kulturalistischen Altersbegriffen neutral ist. • Sein Begriff des Alters erschöpft sich nicht in einer Beschreibung dessen, was das Alter ausmacht, sondern enthält darüber hinaus eine explizite Bewertung des Alters. Somit liegt uns bei Platon ein evaluativer Begriff des Alters vor. 32 | Ebd., S. 85 [329d].
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2.3 A ristoteles : R hetorik Aristoteles analysiert die Altersgruppen vornehmlich im Rahmen seiner Rhetorik.33 Diese Schrift untersucht unter anderem die in einer Rede verwirklichte »Fähigkeit, bei jeder Sache das möglicherweise Überzeugende zu betrachten«34. Dem Redner kann es auf zweierlei Weise gelingen, seine Zuhörer zu überzeugen, entweder durch die Anwendung kunstgemäßer Mittel oder durch den Rückgriff auf kunstfremde Mittel. Kunstfremde Mittel der Überzeugung sind nach Aristoteles beispielsweise die Folterung oder die Anhörung von Zeugen, kurzum alle Mittel, »die nicht durch uns zustande gebracht worden sind, sondern […] zuvor bestanden haben«35. Als kunstgemäß bezeichnet Aristoteles hingegen die durch uns hervorgebrachten und gefundenen Mittel und Methoden. Er unterscheidet drei Formen dieser Überzeugungsmittel in einer Rede. Das erste kunstgemäße Mittel, die Rolle, die der Charakter des Redners für den Zuhörer spielt, wird folgendermaßen dargestellt: »Durch den Charakter also (erfolgt die Überzeugung), wenn die Rede so gehalten wird, dass sie den Redner glaubwürdig macht; denn wir glauben den Tugendhaften in höherem Maße und schneller – und zwar im Allgemeinen bei jeder Sache, vollends aber bei solchen Fällen, in denen es nichts Genaues, sondern geteilte Meinungen gibt. Dies muss sich aber durch die Rede ergeben, und nicht durch eine vorab bestehende Meinung darüber, was für ein Mensch der Redner ist; es verhält sich nämlich nicht so, wie einige Rhetoriklehrer in ihren Lehrbüchern behaupten, dass die Tugendhaftigkeit des Redners zur Überzeugungskraft nichts beiträgt, vielmehr verfügt der Charakter beinahe sozusagen über den wichtigsten Aspekt der Überzeugung.« 36 33 | Auf die verstreuten Bemerkungen über das Alter, die sich in der Nikomachischen Ethik finden, werde ich im Folgenden ebenso eingehen. 34 | Aristoteles: Rhetorik, übers.u. hg. v. C. Rapp, Bd. 1, Berlin 2002, S. 22 [1355b1 26-27]. 35 | Ebd., S. 22f [1355b1 36-1356a 1]. 36 | Ebd., S. 23 [1356a 5-14].
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Die anderen beiden kunstgemäßen Mittel der Überzeugung bestehen erstens darin, den »Zuhörer in einen bestimmten Zustand zu versetzen«37, und zweitens in dem vorgebrachten »Argument selbst«38. Im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Arbeit können diese beiden Aspekte im Gegensatz zur Tugendhaftigkeit unberücksichtigt bleiben.39 Der Tugendhaftigkeit als charakterlicher Disposition40 kommt ein besonderer Stellenwert im Hinblick auf die Frage zu, wodurch ein Redner zu überzeugen vermag. Darüber hinaus hängt die richtige Wahl der rhetorischen Mittel unter anderem davon ab, welcher Altersgruppe 41 die Zuhörer, die er überzeugen möchte, angehören. Aus diesem Umstand ergibt sich m.E. eine plausible Erklärung dafür, dass Aristoteles die Merkmale der Altersgruppen gerade in der Rhetorik behandelt hat. Die Unterscheidung der drei Altersgruppen »Jugend«, Blütezeit« und »Alter«42 ist mit den Charaktertypen 43 verknüpft, und zwar im Hinblick dar37 | Ebd. [1356a 15]. 38 | Ebd. [1356a 4]. 39 | Allerdings können die drei Elemente miteinander verknüpft sein, beispielsweise in Fällen, in denen es keine klare Entscheidung für oder wider eine Sache gibt, weil die zu überzeugenden Zuhörer keine Einigung erzielen können: »In solchen Situationen – so scheint der Gedanke zu sein – schließt man sich gerne (und nicht ganz unberechtigterweise) dem Urteil des glaubwürdigen Redners an, weil es für die eigene Überzeugungsbildung keine in der Sache begründeten Faktoren gibt, die das Urteil eindeutig und zuverlässig determinieren könnten.« (C. Rapp: »Kommentar«, in: Aristoteles, Rhetorik, übers.u. erl. v. C. Rapp, Bd. 2, Berlin 2002, S. 13-1007, S. 142f) 40 | Rapp weist darauf hin, dass die kunstgemäße Überzeugungskraft »die vermeintliche oder dargestellte Tugendhaftigkeit des Redners« betrifft und nicht zwingend die tatsächliche (ebd., S. 143f.). 41 | Aristoteles: Rhetorik, a.a.O., S. 97f [1388b 31-1389a 1]. 42 | Aristoteles führt die drei Altersgruppen ein in: Rhetorik, a.a.O., S. 98 [1388b 31-1389a 1]. 43 | Die Frage, wie der Charakter bei Aristoteles definiert sei, beantwortet C. Rapp im Anschluss an F. Ricken wie folgt: »Der Begriff des Charakters
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auf, was und wie etwas jeweils in einer bestimmten Altersgruppe gewollt wird. Um zu verdeutlichen, welchen Ursprung die Verbindung der Altersgruppen mit den charakterlichen Dispositionen hat, soll hier in aller Kürze auf Aristoteles’ Konzeption des Strebens nach sittlicher Vollkommenheit (Tugendhaftigkeit) eingegangen werden. Dies geschieht skizzenhaft, da im Rahmen dieser Arbeit nicht dezidiert auf die aristotelische Ethik und ihre Implikationen eingegangen werden kann. Die aristotelische Tugendethik beruht auf der Grundannahme, dass alle Menschen in ihrem Tätigsein ein Endziel um »seiner selbst willen erstreben«44. Dieses um seiner selbst willen vom Menschen angestrebte Gut ist die eudaimonía, das gelungene Leben. Wie schon sein Lehrer Platon, so begreift auch Aristoteles die eudaimonía aktivisch. Im Unterschied zu dem uns heute geläufigen Begriff des Glücks, der in erster Linie einen Zustand des Hochgefühls bezeichnet, versteht Aristoteles nämlich unter dem Glück (eudaimonía) eine ganz bestimmte Art und Weise des Tätigseins. Diese Art des Tätigseins wird näherhin charakterisiert als ein vernunftgemäßes Leben. Somit fallen das vernünftige, das sittlich vollkommene und das glückliche Leben zusammen: »[…] aber entscheidend für das echte Glück ist die Verwirklichung sittlicher Vollkommenheit, während das Gegenteil zum Unglück führt« 45. Möglich ist die Verwirklichung sittlicher Vollkommenheit durch die für den Menschen spezifische Fähigkeit der Vernunft. Sie befähigt ihn, sich in seinem Überlegen und Handeln von praktischen Überlegungen leiten zu lassen und seine Affekte zu beherrschen. Aristoteles unterscheidet zwei Arten von Tugenden: die Verstandestugenden und die Cha[…] bezeichnet die Beschaffenheit des Strebevermögens, insofern sie für menschliches Handeln von Bedeutung ist. (C. Rapp: »Kommentar«, a.a.O., S. 142; vgl. dazu F. Ricken: Der Lustbegriff in der ›Nikomachischen Ethik‹ des Aristoteles, Göttingen 1976, S. 61). 44 | Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers.u. mit einem Nachwort vers. v. F. Dirlmeier, Stuttgart 2003, Buch I, S. 5 [1094a 1-21]. 45 | Ebd., S. 25 [1100b 2-25].
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raktertugenden.46 Da er die Unterschiede zwischen den drei Altersgruppen fast ausschließlich im Hinblick auf die Tugenden des Charakters untersucht, kann seine Lehre von den Verstandestugenden hier außer Acht gelassen werden. Aristoteles zufolge lassen sich die möglichen Ausformungen des menschlichen Charakters in drei Typen zusammenfassen: Der sittlich erstrebenswerte Charaktertyp stellt ein noch näher zu charakterisierendes Mittleres dar zwischen den Charaktertypen, die durch ein Zuwenig oder Zuviel konstituiert werden. Welcher Charaktertyp vorliegt, zeigt sich daran, inwieweit der nicht vernünftige Seelenteil eines Menschen bei dessen Streben nach Lust und Unlust dem Vernünftigen folgt.47 Unter einem sittlich tüchtigen Charakter versteht Aristoteles einen, der jeweils im Hinblick auf eine bestimmte charakterliche Anlage die Extreme des Zuviel und des Zuwenig meidet und stattdessen freiwillig48 das Mittlere zwischen ihnen anstrebt und verwirklicht: »Es gibt also drei Grundhaltungen: zwei fehlerhafte, durch Übermaß und Unzulänglichkeit gekennzeichnet, und eine richtige: die Mitte. Dabei stehen in gewissem Sinne alle zueinander in Gegensatz. Die Extreme stehen im Gegensatz zur Mitte und zu sich selbst, die Mitte wiederum zu den Extremen. Wie nämlich das Gleiche im Verhältnis zum Kleineren als größer erscheint, im Verhältnis zum Größeren dagegen als kleiner, so weisen die Grundhaltungen der rechten Mitte gegenüber dem Zuwenig ein Mehr, gegen46 | »Die Tüchtigkeit ist also zweifach: es gibt Vorzüge des Verstandes (dianoetische) und Vorzüge des Charakters (ethische).« (Ebd, S. 34 [1103a 14-33]) 47 | Vgl. ebd., Buch II,, S. 42 [1105b 26-1106a 14]. 48 | Aristoteles grenzt freiwilliges Handeln von unfreiwilligem Handeln wie folgt ab: »Als unfreiwillig gilt also, was unter Zwang und auf Grund von Unwissenheit geschieht. Dementsprechend darf als freiwillig das gelten, dessen bewegendes Prinzip in dem Handelnden selbst liegt, wobei er ein volles Wissen von den Einzelumständen der Handlung hat.« (Ebd., S. 58 [1111a 7-27])
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über dem Zuviel ein Weniger auf, und zwar im Bereiche des Handelns wie in dem der irrationalen Regungen.« 49
Aristoteles zeigt im Folgenden, dass das, was das Mittlere ist, in Bezug auf die einzelnen Anlagen des Charakters sehr unterschiedlich sein muss50: »Zur Mitte steht manchmal das Zuwenig, manchmal das Zuviel in schärferem Gegensatz.«51 Zu beachten ist, dass Aristoteles zufolge das Mittlere nicht identisch mit einer arithmetischen Mitte ist: »Unter dem Mittleren des Dinges verstehe ich das, was von beiden Enden gleichen Abstand hat und für alle Menschen eines ist und dasselbe. Mittleres dagegen in Hinsicht auf uns ist das, was weder zu viel ist noch zu wenig: dies ist jedoch nicht eines und dasselbe für alle. […] So meidet also jeder Sachkundige das Übermaß und das Zuwenig und sucht nach dem Mittleren und dieses wählt er, allerdings nicht das rein quantitativ Mittlere, sondern das Mittlere in Beziehung auf uns selbst.« 52
Zum Zwecke der Verdeutlichung des Gemeinten führt Aristoteles Beispiele für dieses Mittlere in verschiedenen Hinsichten an. So ist etwa die Tapferkeit das Mittlere zwischen dem einen Extrem der 49 | Ebd., S. 50 [1108b 6-30]. 50 | Darüber hinaus schränkt er den Bereich dieser Theorie wie folgt ein: »Indes kann unsere Theorie der Mitte nicht auf jedes Handeln und auf alle irrationalen Regungen angewendet werden, denn letztere schließen bisweilen schon in ihrem bloßen Namen das Negative ein, z.B. Schadenfreude, Schamlosigkeit, Neid – und auf der Seite des Handelns: Ehebruch, Diebstahl, Mord. All diese und ähnliche Dinge werden ja deshalb getadelt, weil sie in sich negativ sind und nicht nur dann, wenn sie in einem übersteigerten oder unzureichenden Maße auftreten. Es ist also unmöglich, hier jemals das Richtige zu treffen: es gibt nur das Falschmachen.« (Ebd., S. 45f. [1107a 14-b4]) 51 | Ebd., S. 51 [1108b 30-1109a 21]. 52 | Ebd., S. 43 [1106a 14-b3].
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Ängstlichkeit und dem anderen Extrem der Verwegenheit.53 Die Großzügigkeit, um noch ein weiteres Beispiel anzuführen, ist im Hinblick auf den Umgang mit Geld das Mittlere zwischen Geiz und Verschwendungssucht.54 Nach diesen hier skizzierten tugendethischen Grundannahmen des Aristoteles werden nun seine Gedanken zu den verschiedenen Altersgruppen vorgestellt. Wie schon erwähnt, verknüpft er dabei jeweils eine bestimmte Altersgruppe mit Annahmen über deren allgemeinen Charakter. Auf die offensichtliche Diskrepanz zwischen dem individuellen Streben nach dem Mittleren und den durch das physische und psychische Alter allgemein von Aristoteles konstatierten Abweichungen vom Mittleren in einer bestimmten Altersgruppe wird später eingegangen. Aristoteles unterscheidet drei Altersgruppen: Jugend, Blütezeit und Alter. Zu klären ist zuvörderst, wie er diese drei Lebensabschnitte charakterisiert und voneinander abgrenzt.55 Die Blütezeit wird von Aristoteles durch konkrete Angaben zum chronologischen Alter näher bestimmt. Die beiden anderen Altersklassen können somit mittelbar und im Hinblick auf seine Differenzierung zwischen körperlicher und seelischer Blütezeit bestimmt werden. Den Gipfel seiner Leistungsfähigkeit erreicht der Körper nach Aristoteles »zwischen dem dreißigsten und fünfunddreißigsten Lebensjahr, die Seele um das neunundvierzigste Lebensjahr«56. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass zu der Gruppe der körperlich Jungen all jene gehören, die das dreißigste Lebensjahr noch nicht vollendet haben, während die Gruppe der seelisch Jungen alle jene umfasst, die das neunundvierzigste Lebensjahr noch nicht erreicht haben. Nimmt man diese Auffächerung ernst, dann folgt daraus, dass die Blütezeit sowohl Elemente des jungen als auch des alten Charakters 53 | Vgl. ebd., S. 46 [1107a14-b4] u. S. 71 [1115a1-23]. 54 | Vgl. ebd., S. 87 [1119b22-1120a5]. 55 | Zu beachten ist, dass Aristoteles sich bei seiner Beschreibung der Altersgruppen auf freie Männer beschränkt. 56 | Aristoteles: Rhetorik, a.a.O., S. 101 (Hervorh. v. mir).
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in einer ganz besonderen Ausgewogenheit hat.57 Dies ergibt sich daraus, dass Aristoteles zwischen dem körperlichen und seelischen Leistungsgipfel unterscheidet und darüber hinaus die Auffassung vertritt, dass beide nicht gleichzeitig, sondern zeitlich versetzt erreicht werden. Daher gehören Männer, die das fünfunddreißigste Lebensjahr vollendet haben, körperlich in der Regel nicht mehr zu den Jungen; was ihr geistiges oder seelisches Alter betrifft, so stehen diese Männer allerdings noch nicht in der Blüte ihrer Jahre. Darüber hinaus muss festgehalten werden, dass sich nicht genau bestimmten lässt, wann der Übergang von der seelischen Reife zum seelischen Alter vollzogen wird, weil Aristoteles sagt, dass die seelische Blüte um das neunundvierzigste Lebensjahr erreicht wird. Im Folgenden werde ich die den Altersgruppen zugehörigen Handlungsmotive, die sich in der Rhetorik finden, vorstellen. Aristoteles behandelt die drei Altersgruppen nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern beschäftigt sich zuerst mit der Jugend, dann mit dem Alter und erst zuletzt mit der Blütezeit. Dies erklärt sich daraus, dass er zuerst die beiden einander entgegengesetzten unvollkommenen Extreme in ihrem Zusammenhang darstellen möchte, bevor er auf das Ideal der sittlichen Vollkommenheit eingeht. Meine Darstellung schließt sich dieser Reihenfolge an. Die drei Altersklassen Jugend, Blütezeit und Alter58 werden durch jeweils typische Charakterdispositionen unterschieden: »Als nächstes wollen wir die Charaktertypen behandeln, von welcher Art man hinsichtlich der Emotionen und Charaktereigenschaften entsprechend 57 | Aristoteles unterstreicht diesen Eindruck durch Beispiele des Hangs zur Mitte als Bestimmung der Eigenheiten in der Blütezeit, die zwischen den Extremen der Orientierung zum Schönen und der zum Nützlichen liegt (vgl. ebd., S. 101 [1390b]). 58 | In der Übersetzung von G. Krapinger wird diese Trias folgendermaßen wiedergegeben: »Lebensalter sind Jugend, Lebenshöhepunkt und Greisenalter.« (Aristoteles: Drei Bücher der Rhetorik, übers.u. hg. v. G. Krapinger, Stuttgart 1999, S. 110)
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den Altersgruppen und den vom Glück abhängigen Faktoren ist. Mit ›Emotionen‹ meine ich Zorn, Begierde und das derartige, worüber wir zuvor gesprochen haben, mit ›Charaktereigenschaften‹ meine ich Tugenden und Laster; auch über diese ist schon früher gesprochen worden sowie darüber, für was für Dinge man sich jeweils entscheidet und zu was für Handlungen man neigt. Altersgruppen sind Jugend, Blütezeit und Alter.« 59
Der sich in den Handlungen widerspiegelnde Charakter der Jugend zeichnet sich nach Aristoteles durch ein »Zu-viel oder Zu-sehr«60 aus. Ein Grund dieses Übermaßes der Jugend liegt darin, dass sie von den Begierden dominiert wird.61 Weitere Ursachen dieser Charaktereigenschaft liegen u.a. darin, dass die jungen Männer noch nicht so oft getäuscht wurden62 und dass sie die Zukunft noch vor sich haben und daher voller Hoffnung sind.63 Junge Männer begingen Unrecht »aus Übermut, nicht aus Bosheit«64. Die sittlichen Mängel der alten Männer sind denen der jungen entgegengesetzt. Während diese, wie gerade dargestellt, nur über wenige enttäuschende Erfahrungen verfügen können, bilden die vielen negativen Erfahrungen, die die älteren Männer im Laufe ihres Lebens sammeln konnten, die Grundlage ihres Charakters: 59 | Aristoteles: Rhetorik, übers.u. erl. v. C. Rapp, a.a.O., S. 97f. [1388b 31-1389a 1]. 60 | Ebd., S. 99 [1389b]. 61 | »Die Jungen also sind dem Charakter nach auf das Begehren ausgerichtet, und sie befinden in einem solchen Zustand, dass sie das machen, was auch immer sie begehren. Und von den körperlichen Begierden leisten sie am meisten dem Geschlechtstrieb Folge und sind darin unbeherrscht. Hinsichtlich der Begierden sind sie unbeständig und einer Sache schnell überdrüssig; sie haben ein starkes Begehren, jedoch ist es auch schnell wieder vorbei. Ihre Wünsche sind nämlich heftig, aber gehen nicht tief, wie die Durst- und Hungerempfindungen der Kranken.« (Ebd., S. 98 [1389a]) 62 | Vgl. ebd. [1389a]. 63 | Vgl. ebd. S. 99 [1388b 30-1389a 13]. 64 | Ebd.
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»Weil sie nämlich viele Jahre gelebt, sich öfters getäuscht und mehr Fehler gemacht haben, und weil sich die Mehrzahl der Dinge als schlecht erwiesen hat, behaupten sie nichts mit Sicherheit […]. Auch sind sie übelgesinnt; Übelgesinntheit besteht darin, hinter allem das Schlechtere anzunehmen. Auch sind sie argwöhnisch wegen des Misstrauens; misstrauisch aber sind sie aufgrund ihrer Erfahrung. […] Auch sind sie ohne Hoffnung wegen ihrer Erfahrung – denn das meiste von dem, was geschieht, ist schlecht; jedenfalls ist das meiste im Ergebnis schlechter (als man hoffte) – und auch wegen ihrer Feigheit. Auch leben sie mehr im Zustand der Erinnerung als im Zustand der Hoffnung; der Rest des Lebens nämlich ist nur gering, das Vergangene aber viel, es bezieht sich aber die Hoffnung auf das Künftige, die Erinnerung hingegen auf das Vergangene.« 65
Weitere charakterliche Eigenschaften, die Aristoteles den Alten zuschreibt, sind u.a. Kleingesinntheit, Knausrigkeit, Selbstbezogenheit, Geschwätzigkeit, Schamlosigkeit und Weinerlichkeit.66 Zu diesen alterstypischen Eigenschaften kommt folgende Einschätzung hinzu: »Auch das Unrecht, das sie begehen, begehen sie aus Bosheit, nicht aus Übermut«67, denn sie sind berechnend. Aus dieser Aufzählung sittlich schlechter Eigenschaften der alten Männer darf man allerdings nicht den voreiligen Schluss ziehen, dass Aristoteles das Alter gänzlich negativ bewertet hätte. Vielmehr stellt »das gute Alter«68 als ein Zustand der Abwesenheit von Gebrechlichkeit neben der edlen Abkunft, vielen guten Freunden, Reichtum und anderem
65 | Ebd., S. 99f. [1389b 14-1390a 10]. 66 | Alle aufgezählten Dispositionen führt er darauf zurück, dass die Alten schlechte Erfahrungen sammeln konnten, und darauf, dass sie nach dem Nützlichen und nicht nach dem Schönen streben. Dies wiederum ist negativ konnotiert, da nicht alle Güter den gleichen Wert besitzen: »Das Nützliche nämlich ist für einen selbst ein Gut, das Schöne ist ein Gut schlechthin.« (Ebd., S. 100 [1389b 25-1390a 24]) 67 | Ebd., S. 99f. [1390a]. 68 | Ebd., S. 32f. [1360b 15-1361b 35].
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eine notwendige Bedingung der Glückseligkeit dar.69 Insofern findet sich bei Aristoteles eine durchaus differenzierte Einschätzung der Mängel und Vorzüge des Alters. Jugend und Alter neigen nach Aristoteles aus den soeben vorgestellten gegensätzlichen Gründen70 zu Extremen. Diesen beiden Extremen steht die Blütezeit als Altersgruppe gegenüber, die sich dadurch auszeichnet, dass das rechte Maß gehalten werden kann: »Um es allgemein zu sagen: Alle die nützlichen (Eigenschaften), welche die Jugend und das Alter unter sich aufgeteilt haben, diese haben sie [die Männer in der Blütezeit des Lebens – C. M.] jeweils beide, was jene aber im Übermaß oder zuwenig haben, davon haben sie ein mittleres Maß und das Angemessene.« 71 Der Höhepunkt in der Entwicklung des Charakters ist nach Aristoteles also dann erreicht, wenn einerseits die Begierden nicht mehr handlungsmotivierend sind und andererseits die gemachten Erfahrungen noch nicht notwendigerweise zu einem allgemeinen Pessimismus geführt haben. Weder nur das Nützliche, das der Alte aufgrund seiner Schwäche fokussiert, noch nur das Schöne, das der Junge um seiner selbst willen leidenschaftlich erstrebt, leiten in dieser Altersgruppe das Denken und Handeln. Damit ist die Darstellung der Zusammenhänge zwischen den Altersgruppen und den sittlich relevanten Charaktereigenschaften abgeschlossen. Bevor ich die bisher referierte Einschätzung der Altersgruppen durch Aristoteles kritisch prüfe, soll ein kurzer Exkurs über die Frage eingefügt werden, ob einer der Lebensabschnitte in einem besonders engen Verhältnis zur ästhetischen Bewertung des Aristoteles steht. Während Aristoteles betreffs des Charakters das 69 | Aristoteles definiert das Glück folgendermaßen: »Es sei also das Glück gelingendes Handeln verbunden mit Tugend oder Selbstgenügsamkeit des Lebens oder das angenehmste mit Sicherheit verbundene Leben oder reichliches Vorhandensein von Besitz und körperlichen Gütern verbunden mit der Fähigkeit, diese zu bewahren und damit umzugehen.« (Ebd., S. 32 [1360b]) 70 | Vgl. ebd. 71 | Ebd., S. 101[1390b].
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mittlere Alter aus den genannten Gründen favorisiert, findet eine solche Bevorzugung in ästhetischer Hinsicht nicht statt. Schönheit ist kein Privileg einer bestimmten Altersgruppe, sondern in jedem Alter als jeweils verschieden ausgeprägte Möglichkeit angelegt: »Schönheit aber ist je nach Alter verschieden. Bei einem jungen Mann ist Schönheit der Besitz eines für Mühen geeigneten Körpers, und zwar für den Wettlauf und einen Kraftwettkampf, wobei der Körper angenehm zum Genuss anzusehen ist. […] Bei einem Mann in seinen Blütejahren besteht die Schönheit darin, für die kriegerischen Mühen geeignet zu sein und eine angenehme, aber zugleich Respekt einflößende Erscheinung zu haben. Bei einem alten Mann besteht die Schönheit darin, für die notwendigen Mühen geeignet zu sein und ohne Beschwerde zu sein, weil er nichts von dem hat, wodurch das Alter zur Qual wird.« 72
Während sich also die Schönheit der Jungen in einem athletischen Körper widerspiegelt, besitzt der Mann in der Blüte seines Daseins ein stattliches Erscheinungsbild, und der Alte ist schön, wenn sein Körper ihn befähigt, die im höheren Alter notwendigen Aufgaben zu verrichten. Die Schönheit der Alten liegt dafür im Gegensatz zu derjenigen der Jungen und der Männern in der Blüte nicht in der Ausprägung eines ganz bestimmten Attributes, sondern vielmehr darin, dass bestimmte Merkmale nicht ausgeprägt sind. Die Freiheit von Beschwerden, die es ermöglicht, die altersspezifischen Arbeiten zu verrichten, ergibt sich aus der Abwesenheit irreversibel degenerativ verlaufender Prozesse. Aus dieser Passage wird u.a. auch deutlich, dass Aristoteles zwischen Alterungs- und Krankheitsprozessen differenziert, da sich das Moment der Schönheit des höheren Alters gerade im Fehlen von Krankheit und Schmerz verwirklicht. Auch in diesem kurzen Exkurs zeigt sich, dass Aristoteles’ Ausführungen über Altersgruppen evaluative Momente enthalten. Da hier das Hauptaugenmerk auf der Verbindung zwischen den verschiedenen Altersgruppen und den ihnen zugeordneten Charakter72 | Ebd. S. 34 [1361b].
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eigenschaften liegt, soll nun abschließend auf eine schon erwähnte Unstimmigkeit eingegangen werden. Auf der einen Seite betont Aristoteles, dass das Streben nach dem sittlich Guten höchstlich individuell ist. Auf der anderen Seite beschreibt er im Hinblick auf den Charakter altersgruppenspezifische und damit überindividuelle Eigenschaften. Die Altersgruppe derer, die ihren körperlichen und seelischen Zenit überschritten haben, kommt in den zweifelhaften Genuss eines breiten Spektrums negativer Eigenschaften. Der Grund dafür liegt nach Aristoteles darin, dass sie mehr Zeit hatten, schlechte Erfahrungen zu sammeln, für die Zukunft kaum mehr etwas erwarten und darüber hinaus darin, dass die Begehrlichkeiten im Verlauf des chronologischen Alters abnehmen. Während Adolf Dyroff in der Übertragung der im »Ethischen gangbare[n] Dreiheit« 73 auf die Altersgruppen eine »unglückliche Schematisierung« 74 sieht, weist Christof Rapp75 darauf hin, dass Aristoteles an anderer Stelle 76 explizit zwischen der individuellen Reife und dem chronologischen Alter differenziert. Dieser Vorbehalt des Autors könne, so Rapp, obschon nicht expliziert, auch in der Rhetorik mitgelesen werden: »Ob jemand unreif oder reif ist und in diesem Sinn jung oder alt ist, würde dann nicht ausschließlich vom Lebensalter abhängen.« 77 Doch die von Aristoteles hergestellte Verknüpfung zwischen charakterlichen Dispositionen und biologischen Entwicklungsstufen legt die Vermutung nahe, dass Aristoteles in seiner Zuordnung durchaus die Lebensalter avisiert. Rapp verteidigt Aristoteles gegen den Vorwurf des Altersgruppenessentialismus: Zwar liege tatsächlich eine Verschränkung von Charakter und Alter vor, weil Aristoteles Beobachtungen über nachlassende Begierden für die Gruppe der Alten verallgemeinere und von der Hypothese ausgehe, das im Allgemeinen das hohe Alter mit der Häufung negati73 | A. Dyroff: Der Peripatos über das Greisenalter, Paderborn 1939, S. 16. 74 | Vgl. ebd. 75 | Vgl. C. Rapp: »Kommentar«, a.a.O., S. 684. 76 | Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, a.a.O., S. 7 [1095a6-8]. 77 | C. Rapp: »Kommentar«, a.a.O., S. 684.
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ver Erfahrungen einhergehe. Diese »Annahme der Akkumulation von schlechten Erfahrungen« 78 sei jedoch auch mit der Annahme vereinbar, dass das hohe Alter weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für die Akkumulation negativer Erfahrungen sei. Rapp plädiert – auch unter Verweis auf die Politik79 – dafür, diese Typisierung als eine Regularität zu lesen und also nicht als »im strengen Sinn verallgemeinerungsfähig« 80. Gegen Rapps Verteidigung spricht jedoch m.E., dass selbst mit der Einschränkung »in der Regel« die in der Ethik vorausgesetzte Annahme, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, sich individuell zu entwickeln, und der in der Rhetorik vertretene biologische Determinismus wohl kaum miteinander zu vereinbaren sein dürften. Nach diesen Überlegungen stellt sich nun abschließend die Frage, was sich allgemein über den Altersbegriff des Aristoteles resümieren lässt. • Aristoteles unterscheidet ausdrücklich zwischen körperlichem und seelischem Alter. Außerdem vertritt er die Auffassung, dass das körperliche und seelische Alter zu verschiedenen Zeitpunkten einsetzen. Der Abschnitt des seelischen Altseins beginnt erst etwa 15 Jahre nach dem körperlichen Altsein. • Zumindest beiläufig differenziert Aristoteles zwischen altersund krankheitsbedingten Veränderungen. Aus diesem Grund behandelt er explizit die Möglichkeit des guten Alters. • Was die Beurteilung des Alters anbetrifft, so behandelt Aristoteles das Alter – ebenso wie Platon – vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, im Kontext ethischer Überlegungen. Eine Ausnahme stellen seine ästhetischen Betrachtungen über die Schönheit der Lebensabschnitte dar (s.u.). • Jeder der drei Lebensabschnitte weist im Hinblick auf die Möglichkeit der Ausbildung der Charaktertugenden eine Spezifik 78 | Ebd., S. 685. 79 | Vgl. ebd. 80 | Ebd.
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auf. Im Gegensatz zur Blütezeit werden sowohl die Jugend als auch das Alter in ethischer Hinsicht negativ beurteilt. In Bezug auf die Möglichkeit, ein gutes Leben im Sinne eines sittlichen Lebens zu führen, wird das Alter von Aristoteles somit im Großen und Ganzen negativ eingeschätzt (zur Ausnahme des guten Alters s.o.). Anders als Platon, dem zufolge das Alter weder ein Gut noch ein Übel ist, hält Aristoteles den letzten Lebensabschnitt, von wenigen Einschränkungen abgesehen, eindeutig für ein Übel. Ästhetisch betrachtet, kann dem Alter wie der Jugend und der Blütezeit eine ihm eigene Schönheit zukommen. Dieser differenzierte Altersbegriff des Aristoteles lässt sich folgendermaßen in die von mir in Kapitel I entwickelte Typologie einordnen: Da Aristoteles in seinen Beschreibungen des Alters ausschließlich von einer beobachtenden Perspektive ausgeht, muss seine Konzeption des Alters dem objektivistischen Typ der Altersbegriffe zugeordnet werden. Obwohl in seine Charakterisierung des Alters sowohl naturale als auch kulturelle Merkmale eingehen, tendiert Aristoteles zu einer kulturalistischen Beurteilung des Alters, weil er sich in seinem negativen ethischen Urteil über den letzten Lebensabschnitt vor allem auf charakterliche Entwicklungen stützt, die eine Folge typischer sozialer Erfahrungen sind. Auf der Grundlage der genannten Beschreibungen entwickelt Aristoteles einen evaluativen Begriff des Alters. Ethisch betrachtet, ist dieses alles in allem etwas Schlechtes.
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2.4 C icero : D e senectute 81 Cicero ist vermutlich der erste Philosoph, der eine ausschließlich dem Alter gewidmete Abhandlung verfasst hat. Diese Schrift mit dem schlichten Titel Über das Alter zählt zweifellos zu den klassischen Schriften über die fragliche Lebensphase. Cicero lässt Cato den Älteren im Gespräch mit Scipio Africanus und Gaius Laelius auftreten. Diese beiden jüngeren Männer bewundern den 84-jährigen Cato82 dafür, dass er – im Gegensatz zu den meisten Alten, denen dieser Lebensabschnitt »eine Last, die schwerer als der Ätna« 83 ist – sein hohes Alter mit Leichtigkeit trägt. Cato lobt die Philosophie, »deren gefolgsamer Zögling ja seine gesamte Lebenszeit ohne Beschwerde verbringen kann« 84. Bevor Cato als alter ego Ciceros die einzelnen Aspekte, die gegen das hohe Alter angeführt werden, prüft, stellt er wie schon Platon fest, dass es charakterliche Dispositionen sind, die einzelne Lebensphasen entweder glücklich oder beschwerlich machen. Das Alter gehöre als von Natur aus notwendiger Bestandteil zum Leben, und derjenige, der gegen diesen natürlichen Verlauf auf begehrt, sei dumm.85 Da sowohl Scipio als auch Laelius den Wunsch hegen, ein hohes Alter zu erreichen, befragen sie Cato den Älteren im Hinblick auf Aspekte, die ihnen schwer mit einem glücklichen Lebensabend vereinbar zu sein scheinen. Er habe schon einen großen Teil des Weges, von dem sie hof81 | In diesem Abschnitt stütze ich mich maßgeblich auf einen Abschnitt meiner Masterarbeit (vgl. C. Mahr: Das Verhältnis von Alter und Krankheit aus philosophischer Sicht, Typoskript, Hagen 2009, S. 63-66). 82 | Vgl. Cicero: De senectute. Über das Alter, Stuttgart 1998, S. 51. 83 | Ebd., S. 21. 84 | Ebd. 85 | »Wer aber alles Gute bei sich selbst sucht, dem kann nichts schlimm erscheinen, was die Naturnotwendigkeit ihm bringt. Dazu gehört vor allem das Alter; alle wünschen, daß sie es erreichen, doch wenn es erreicht ist, klagen sie es an; so unbeständig und abartig ist die Dummheit.« (Ebd., S. 23)
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fen, dass er ihnen noch bevorsteht, zurückgelegt und scheint ihnen aus diesem Grund ein guter Ansprechpartner zu sein. Cato fasst die Gründe, aus denen das hohe Alter kein erstrebenswerter Zustand zu sein scheint, wie folgt zusammen: »So finde ich denn, wenn ich zusammenfasse, vier Gründe, weshalb das Alter beklagenswert erscheint: einmal weil es uns von der Ausübung einer Tätigkeit abhalte, zum andern weil es unseren Körper schwäche, drittens weil es uns fast sämtlicher Genüsse beraube und viertens, weil es dem Tode nahe sei.« 86 Der erste Aspekt betrifft den vermeintlich verminderten Aktionsradius des betagten Menschen. Er besagt, dass der alte Mensch nicht mehr im Stande sei, bestimmte Tätigkeiten auszuführen. Cicero verteidigt durch die Rede Catos den alten Menschen als tätigen Menschen. Er lässt Cato so auf diese »Anklage« gegen das Alter reagieren, dass zwei implizite Annahmen, auf denen sie beruht, bestritten werden: Die erste Voraussetzung lautet, dass es um körperliche Tätigkeiten geht; zweitens beruht die Anklage auf der Setzung, dass sich alte Menschen in diesem Betätigungsfeld an Jungen messen lassen müssten. Cato lenkt die Aufmerksamkeit jedoch zunächst auf geistige Betätigungsfelder und stellt fest, dass im Bereich der geistigen Herausforderungen die Fähigkeiten »im Alter nicht nur nicht abzunehmen, sondern gar noch zuzunehmen« 87 pflegen. Nicht nur, dass das Altern in seinen Spätphasen nicht als ein Prozess betrachtet wird, der ausreichend über die Abnahme von Fähigkeiten beschrieben werden könnte, vielmehr sei dieser Prozess mit einem Gewinn an Fertigkeiten verbunden. Hochbetagte Menschen könnten in verschiedenen Bereichen wichtige Beiträge zum Gemeinwohl leisten und die Gemeinschaft durch »Planung,
86 | Ebd., S. 35. 87 | Ebd. – Vgl. auch folgende Parallelstelle: »So rühmt sich etwa Solon, wie wir sehen, in seinen Versen, wenn er erklärt, er werde alt, indem er täglich etwas dazulerne, und so habe ich es gehalten, denn ich habe im Alter noch Griechisch gelernt.« (Ebd., S. 45)
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Geltung und Entscheidung«88 unterstützen. Cato setzt der zur Jugendlichkeit gehörenden Unbesonnenheit die altersbedingte Klugheit gegenüber. Anhand der Möglichkeit, in der Politik, der Kunst, dem häuslichen Bereich und in der Erziehung zu wirken, zeigt Ciceros alter ego auf, in welchen Bereichen ein alter Mensch aktiv sein kann und sollte. Dem Einwand, dass auch geistige Fähigkeiten hochbetagter Menschen nachließen, hält Cato entgegen, dass das stetige Tätigsein der geistigen Zerrüttung vorbeuge: »Alten Menschen bleiben ihre Geistesgaben erhalten, wenn ihnen nur ihr Eifer und Fleiß erhalten bleibt, und das gilt nicht nur bei berühmten und geehrten Persönlichkeiten, sondern auch im ruhigen, privaten Leben.«89 Der zweite Grund, aus dem das Alter vermeintlich beklagenswert ist, betrifft das Schwinden körperlicher Kraft. Im Zusammenhang mit dieser Anklage geht Cato auf das Verhältnis zwischen dem Prozess des Alterns und altersbedingten Gebrechen ein. Nicht diese selbst, wie beispielsweise die Schwäche, machten einen Menschen zu einem Greis, sondern ein Mensch mache sich durch eine selbstbezügliche geistige Haltung zu einem Greis, auf den die vier zitierten Anklagepunkte zutreffen.90 Gegen körperliche Gebrechen müsse man »wie gegen eine Krankheit«91 ankämpfen. Diese körperlichen Gebrechen könnten jedoch zu jedem beliebigen Zeitpunkt des chronologischen Alters auftreten. Sie seien für den Zustand des Altseins keine notwendige Bedingung, weil es auch Alte gibt, die nicht gebrechlich sind. Darüber hinaus sei das Vorliegen körperlicher Gebrechen auch keine hinreichende Bedingung des Altseins, weil auch junge Menschen gebrechlich sein können. Der dritte Punkt betrifft die mit dem Alter vermeintlich abnehmende Fähigkeit Lust zu empfinden. Cicero entkräftet diesen Einwand durch den Hinweis, dass die mit dem Alternsprozess einhergehenden Veränderungen fälschlicherweise als Verlust betrachtet 88 | Ebd., S. 37. 89 | Ebd., S. 41. 90 | Vgl. ebd., S. 51f. 91 | Ebd., S. 55.
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würden, denn ein Verlust sei immer bestimmt durch etwas, was dem Menschen fehlt. Dem weisen alten Menschen fehlten jedoch die Ausschweifungen der Jugend nicht. Dies eröffne ihm die Möglichkeit, sich ungehindert geistigen Aufgaben hinzugeben: »Die Lust behindert ja die Überlegung, sie ist die Feindin der Vernunft, sie blendet sozusagen die Augen des Geistes, und sie verträgt sich überhaupt nicht mit der Tugend.«92 Die Nähe zum Tode – der vierte und letzte Anklagepunkt gegen das Alter – stellt für Cicero ebenfalls nichts Negatives dar. Entweder werde die Seele im Tode völlig ausgelöscht, oder aber sie werde an einen Ort ewigen Lebens geführt.93 Daraus folge, dass der Tod nicht zu fürchten sei, denn entweder könne der Mensch, nachdem er gestorben ist, »nicht unglücklich sein«94, oder er werde »glückselig«95. In diesem Zusammenhang kommt Cicero nochmals auf das Verhältnis zwischen Alter und Krankheit zu sprechen: »Wer ist indessen so töricht, mag er auch noch so jung sein, daß er es für eine ausgemachte Sache hält, er werde bis zum Abend leben? In dieser Altersstufe gibt es ja sogar noch viel mehr Todesfälle als in der unseren. Junge Leute werden leichter krank, ihre Krankheiten sind schwerer, und sie zu pflegen ist trauriger. Deswegen sind es nur wenige, die bis zum Greisenalter gelangen.« 96
Ebenso wenig wie die Möglichkeit, krank zu werden, sei die Sterblichkeit allein den älteren Menschen vorbehalten. Ganz im Gegenteil konstatiert Cicero, dass es vielen Menschen gar nicht möglich sei, ein hohes Alter zu erreichen. Der Unterschied zwischen dem Tod eines jungen Menschen und dem eines alten Menschen liege
92 | Ebd., S. 63. 93 | Vgl. ebd., S. 89. 94 | Ebd. 95 | Ebd. 96 | Ebd.
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nur darin, dass der Tod eines Jungen als verfrüht eingeschätzt werde und der eines Alten als naturgemäß.97 Für die Analyse des Begriffs des Alters sind die folgenden Gesichtspunkte in Ciceros Überlegungen festzuhalten: • Da es wenigen Menschen vorbehalten ist, ein hohes Alter zu erreichen, sollte dieses als ein Privileg betrachtet werden. • Im Gegensatz zu Platon, der die Auffassung vertritt, dass das Alter ein adiáphoron ist, und zu Aristoteles, der das Alter als ein Übel begreift, ist Cicero zufolge das hohe Alter zumindest für diejenigen Menschen, die es auf vernünftige Weise zu nutzen wissen, ein Gut. • Cicero nimmt die weit verbreitete Auffassung, dass das hohe Alter eine schwere Last darstellt, ernst und versucht, diese mittels detailierter philosophischer Argumentationen zu widerlegen und nachzuweisen, dass das Alter dem Anschein zum Trotz einen lebenswerten Abschnitt des menschlichen Daseins darstellt. Insofern handelt es sich bei seiner Schrift Über das Alter um die erste philosophische Trostschrift angesichts des Alters. Ciceros Begriff des Alters lässt sich wie folgt in die hier zugrunde gelegte Typologie einordnen: • Cicero beschreibt die Lebensphase des Alters nicht nur aus der Perspektive eines selbst nicht betroffenen Beobachters; vielmehr fließen in die Argumentation der Hauptfigur Cato offensichtlich persönliche Erfahrungen des Autors ein, der zum Zeitpunkt der Abfassung der Schrift in Bezug auf die damalige Lebenserwartung selbst bereits ein alter Mann war. Ciceros Analyse des Alters enthält somit neben den objektiven auch zahlreiche subjektive Merkmale. Der Tendenz nach ist Ciceros Begriff des Alters ein subjektivistischer.
97 | Vgl. ebd., S. 93f.
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• Im Hinblick auf die Gegenüberstellung naturalistischer und kulturalistischer Konzeptionen des Alters verhält sich Ciceros Begriff des Alters m.E. neutral, da er in seinen Beschreibungen sowohl auf natürliche als auch auf kulturelle Aspekte Bezug nimmt. • Wie bereits bei der Einführung der Typologie dargelegt wurde, schließt jede Beurteilung des Alters eine Beschreibung desselben ein. Daher setzt jeder evaluative Begriff des Alters ein deskriptives Moment voraus. Dies wird bei Cicero, der in seiner Auseinandersetzung mit den Vorwürfen gegen das Alter ausführlich das Leben alter Menschen mitsamt dessen Veränderungen schildert, besonders deutlich. Da er die These vertritt, dass das hohe Alter für denjenigen, der es zu nutzen weiß, ein Gut ist, handelt es sich bei seinem Begriff des Alters zweifelsohne um eine Version des evaluativen Typs. Außerdem ist bei Cicero zumindest in Ansätzen bereits ein präskriptiver Begriff des Alters erkennbar, weil der Autor darlegt, wie man sich vernünftigerweise zu den mit dem Alter einhergehenden Veränderungen der eigenen körperlichen und seelischen Konstitution verhalten sollte.
2.5 S eneca : B riefe Der römische Schriftsteller und Philosoph Lucius Annaeus Seneca, der etwa vierzig Jahre nach dem Tod Ciceros geboren wurde, zählt neben Marcus Aurelius, dem »Philosophen auf dem Thron«, zu den bekanntesten und einflussreichsten Vertretern der sogenannten späten Stoa. Obwohl Seneca in der Forschung gewöhnlich der Stoa zugerechnet wird, darf nicht übersehen werden, dass er auch andere philosophische Schulen intensiv rezipiert hat und dass seine Philosophie daher teilweise eklektische Züge aufweist. So ist beispielsweise unübersehbar, dass Senecas Überlegungen zu den Themen Alter und Tod stark durch seine Beschäftigung mit der Philosophie Platons und wohl auch Epikurs geprägt wurden. Anders als bei Cice-
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ro, der seine Betrachtungen über das Alter in einer einzigen Schrift zusammengefasst hat, ist die Quellenlage in Bezug auf das Thema meiner Arbeit bei Seneca verhältnismäßig unübersichtlich. Seine Überlegungen zum Alter hat er nirgendwo in kompakter und prägnanter Form zusammengefasst; stattdessen sind diese über mehrere Schriften verstreut. Einschlägig sind in diesem Zusammenhang vor allem Passagen aus den Werken Über die Kürze des Lebens, Über das glückliche Leben und Über die Muße. Als besonders ergiebig in Bezug auf Senecas Verständnis und Beurteilung des Alters erweisen sich seine Briefe an Lucilius. Senecas wesentliche Aussagen über das Alter werden im Folgenden aus den verschiedenen Quellen zusammengetragen und systematisiert. Der Übersichtlichkeit halber wird dabei im Haupttext nicht in jedem Fall explizit angegeben, aus welcher Schrift bestimmte Motive stammen. Wenn man Senecas Beurteilung des Alters verständlich machen will, empfiehlt es sich, von der wichtigen Feststellung auszugehen, dass sich das menschliche Leben anhand verschiedenartiger Kriterien in Abschnitte untergliedern lässt. Die konventionelle Einteilung der Phasen des Lebens entspricht der von der Natur vorgegebenen Abfolge von Kindheit, Jugend, Reifezeit und Alter. Aus einem noch zu erörterndem Grund hält Seneca diese Einteilung der Lebensphasen für irrelevant und in ethischer Hinsicht sogar für irreführend. Die sittlich relevante Untergliederung des menschlichen Daseins erfolgt seiner Meinung anhand eines anderen Kriteriums, nämlich in Bezug auf die Frage, welche Zeitabschnitte wir durch unser Handeln beeinflussen können und welche nicht. Diese Einteilung ist Seneca zufolge unabhängig von der natürlichen Gliederung des menschlichen Lebens und somit altersunabhängig: »In drei Abschnitte gliedert sich das Leben: was war, was ist, was sein wird. Davon ist, was wir tun, kurz, was wir tun werden, ungewiß, was wir getan haben, gewiß.«98 Im Hinblick auf die Möglichkeit der mo98 | Seneca: »Über die Kürze des Lebens«, in: ders., Philosophische Schriften, lat. u. dt., übers.u. hg. v. M. Rosenbach, Bd. 2, Darmstadt 2011, S. 175239, S. 203.
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ralischen Vervollkommnung, die im Mittelpunkt der Philosophie Senecas steht, kommt der Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Vorrang vor der Untergliederung in Jugend, Reifezeit und Alter zu, und zwar aus zwei Gründen: (i) Aus der Sicht des Stoikers kommt es in erster Linie auf das an, was ein Mensch tun kann, um sich sittlich zu vervollkommnen. Da das Vergangene nicht ungeschehen gemacht werden kann, ist die Vergangenheit im Hinblick auf die Möglichkeit moralischen Handelns nicht mehr von Bedeutung. Ob der Einzelne in der nahen oder fernen Zukunft Gelegenheit haben wird, einen edlen Charakter auszubilden, ist ungewiss. Unzweifelhaft ist nur, dass ich jetzt die Möglichkeit habe, mein Leben auf richtige Art und Weise zu führen. Somit kommt der Gegenwart der ethische Primat gegenüber Vergangenheit und Zukunft zu. (ii) Dass das Leben sich jeweils in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gliedert, ist nicht das Spezifikum eines besonderen Lebensabschnitts. Vielmehr gilt dies für alle Phasen des menschlichen Lebens. Insofern ist die moralisch relevante zeitliche Einteilung des Lebens altersunabhängig. Daraus folgt, dass das hohe Alter als Lebensabschnitt aus der ethischen Perspektive Senecas keine Sonderstellung einnimmt. Der Gedanke, dass dem hohen Alter als Lebensphase keine besondere Bedeutung zukommt, lässt sich mit Seneca durch einen weiteren Gedankengang untermauern. Seneca wird nicht müde zu betonen, dass es nicht darauf ankomme, möglichst lange zu leben, sondern darauf, möglichst gut im moralischen Sinne zu leben. Die sittliche Qualität eines Lebens hängt nicht davon ab, wie lange dieses gedauert hat, sondern davon, wie der einzelne Mensch seine Lebenszeit genutzt hat. Deswegen ist es, ethisch betrachtet, irreführend, sich bei der Beurteilung eines Lebens an dessen absoluter Dauer zu orientieren: »In seine beste Verfassung bringt es [das menschliche Leben – C.M.] seine Beschaffenheit, nicht seine Größe: daher gilt gleich ein Leben, das lang und kurz, ausgedehnt und eingeschränkter, in viele Gegenden und viele Richtungen verteilt und auf einen Punkt konzentriert. Wer es nach Zahl einschätzt
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und Maß und Teilbarkeit, raubt ihm das, was es als Vorzug besitzt. Was aber ist am glücklichen Leben der Vorzug? Daß es erfüllt ist.« 99
Die sittliche Vortrefflichkeit, welche von Seneca mit der Glückseligkeit identifiziert wird, ist von der Länge des Lebens ausdrücklich völlig unabhängig.100 Erfüllt ist nach Seneca ein Leben dann, wenn der, der es führt, nach sittlicher Vollkommenheit strebt. Der Gedanke, dass die absolute Dauer eines Lebens in Bezug auf die Möglichkeit, glücklich zu werden, irrelevant ist, impliziert offensichtlich, dass auch das chronologische Alter keinen besonderen Stellenwert für die Beurteilung des Lebens hat. Diese bisher noch sehr allgemein gehaltene These Senecas über die Irrelevanz des Alters lässt sich präzisieren, wenn man seinen Begriff der Glückseligkeit expliziert. In seiner Schrift Über das glückliche Leben untersucht Seneca, was sich über den Gegenstand des Glücks sagen lässt. Grundsätzlich und zuvörderst stellt er dabei heraus, dass jeder Mensch durch den Gebrauch seiner Vernunft und abgesehen von fremden Vorbildern101 ein Leben anstreben soll, das
99 | Seneca: »An Lucilius. Briefe über Ethik«, in: ders., Philosophische Schriften, lat. u. dt., übers.u. hg. v. M. Rosenbach, Bde. 3 u. 4, Darmstadt 2011, 85. Brief (»Der Weise ist frei von Leidenschaften«), Bd. 4, S. 231-255, S. 243f. 100 | »Ob du einen größeren oder kleineren Kreis beschreibst, betrifft seinen Flächeninhalt, nicht seine Gestalt: mag der eine länger bleiben, magst du einen anderen sofort wieder auswischen und ihn in den Sand auflösen, in den du ihn gezeichnet hast, von derselben Gestalt waren beide.« (Ebd., Bd. 4, 74. Brief, S. 79) 101 | »Nichts also ist mehr zu beachten, als daß wir nicht nach Art des Viehs folgen der vorangehenden Herde, indem wir als Weg wählen nicht, wo zu gehen ist, sondern wo man geht. Und doch: keine Situation verwickelt uns in größere Unannehmlichkeiten, als daß wir uns nach dem Gerede richten – für das Beste das ansehend, was unter großem Beifall gutgeheißen wird – und, weil sich uns viele Beispiele bieten, nicht nach Einsicht, sondern nach Anpassung leben.« (Seneca: »Über das glückliche Leben«, »› in: ders.,
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dem eigenen Wesen gemäß102 ist. Um glücklich sein zu können, so Seneca, müssen die Dinge, auf die der Mensch keinen Einfluss hat, von ihm mit Gleichmut getragen werden. Nur dasjenige, worauf der Mensch selbst einen Einfluss hat, kann Bestandteil seiner sittlichen Vollkommenheit sein. Die Übereinstimmung mit dem eigenen Wesen begründet die innere Freiheit eines Menschen und macht ihn unabhängig von allem, was zufällig in sein Leben oder aus seinem Leben tritt. Das höchste Gut ist die sittliche Vollkommenheit auch deshalb, weil das mit ihr verbundene Glück weder zu- noch abnehmen kann.103 Dieses Gefühl des Glücks befindet sich »an einer einzigen Stelle, in der Seele selbst, groß, beständig, gelassen«104 . Eine nicht nur für das zu bearbeitende Thema wichtige Konsequenz dieser Lokalisation des Glücks in der Seele besteht darin, dass der Körper für die Erlangung der Glückseligkeit von untergeordneter, wenn nicht gar von gar keiner Bedeutung ist. Im Hinblick auf das Alter ist diese Konsequenz von Interesse, weil viele typische Merkmale des Alters körperliche Eigenschaften sind.
Philosophische Schriften, lat. u. dt., übers.u. hg. v. M. Rosenbach, Bd. 2, Darmstadt 2011, S. 1-77, S. 5) 102 | »Vorerst – worin unter allen Stoikern Einstimmigkeit herrscht – pflichte ich der Natur bei; von ihr nicht abzuweichen und nach ihrem Gesetz und Vorbild sich sein Leben zu ordnen ist Weisheit. Glücklich also ist ein Leben, übereinstimmend mit dem eigenen Wesen, das nicht anders [uns] zuteil werden kann, als wenn zuerst die Seele gesund ist […].« (Ebd., S. 9) 103 | »Im übrigen hat sie [die sittlich vollkommene Seele – C.M.] viele Erscheinungsformen, die sich entsprechend der Vielfalt des Lebens und entsprechend den [einzelnen] Handlungen entfalten: sie selbst wird weder kleiner noch größer. Abnehmen nämlich kann das höchste Gut nicht, noch kann die sittliche Vollkommenheit sich rückwärts bewegen; aber in andere und andere Erscheinungsformen verwandelt sie sich, nach der Dinge, die sie zu tun vorhat, Beschaffenheit sich gestaltend.« (Seneca: »An Lucilius«, a.a.O., Bd. 3, 66. Brief, S. 559) 104 | Ebd., Bd.4, 74. Brief, S. 79.
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Was es mit der Lokalisierung des Glücks in der Seele auf sich hat, lässt sich anhand folgender zwei Beispiele verdeutlichen: Ein glücklicher Mensch kann nach Seneca selbst der Folter des eigenen Körpers gleichmütig gegenüberstehen105 oder während einer an ihm vollzogenen chirurgischen Operation in einem Buch lesen106. Für die Herausbildung dieser gleichmütigen Haltung gegenüber dem eigenen Körper ist die Tugend der Klugheit eine wesentliche Voraussetzung. Sie versetzt den Menschen in die Lage, seine Affekte zu beherrschen. Diejenigen, die von dieser Fähigkeit der Affektbeherrschung Gebrauch machen, gewinnen dadurch an Freiheit und Glück: »Wer klug ist, ist auch selbstbeherrscht; wer selbstbeherrscht ist, ist auch beständig; wer beständig ist, ist frei von Affekten; wer frei von Affekten ist, ist ohne Traurigkeit, wer ohne Traurigkeit ist, ist glücklich; also ist der Kluge glücklich und Klugheit ist zum glücklichen Leben genug.«107 Klugheit ist somit notwendige und hinreichende Bedingung eines glücklichen Lebens. Dieser Gedanke Senecas muss m.E. so gelesen werden, dass eine gute körperliche Konstitution weder notwendige noch hinreichende Bedingung für ein glückliches Leben ist. Diese These erscheint mir aus folgendem Grunde fragwürdig zu sein. Wenn man Senecas eigene Konzeption der Glückseligkeit zugrunde legt, stellt die körperliche Konstitution sehr wohl eine notwendige Bedingung für Glückseligkeit dar. Im Rahmen einer immanenten Kritik kann man gegen Seneca einwenden, dass seine These von der Irrelevanz der körperlichen Konstitution für die Glückseligkeit schon deshalb unplausibel ist, weil die Herausbildung und der Gebrauch der Klugheit nur möglich sind, wenn bestimmte physische Voraussetzungen erfüllt sind. Beispielsweise 105 | »Gleich sind daher Freude sowie tapferes und standhaftes Ertragen der Folter: bei beidem nämlich ist es dieselbe Seelengröße, im einen Fall entspannt und locker, im anderen kämpferisch und angespannt.« (Ebd., Bd. 3, 66. Brief, S. 563) 106 | Vgl. ebd., Bd. 4, 78. Brief, S. 139. 107 | Ebd., 85. Brief, S. 233.
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sind Menschen, deren Gehirn aufgrund einer Fehlbildung oder infolge eines Schlaganfalls nicht mehr völlig funktionstüchtig ist, nicht in der Lage, ihr Leben gemäß dem von Seneca vertretenen ethischen Ideal zu führen. Das Verhältnis der Seele und des Körpers ist nach Seneca derart, dass alles, was für die Seele gut ist, auch dem Körper zugutekommt.108 Obwohl Seneca explizit erklärt, dass der Körper keine entscheidende Rolle für ein glückliches Leben spielt109, sollte der Mensch dennoch seinem Körper gegenüber nicht gänzlich gleichgültig sein, weil das bloße Leben als grundlegende Bedingung des glücklichen Lebens ohne einen funktionsfähigen Organismus unmöglich ist. Daher ist der Mensch seinem Körper gegenüber verpflichtet und darf ihn vernünftigerweise nicht beliebigen Gefahren aussetzen. Diese Pflicht zur Erhaltung des eigenen Körpers ist nach Seneca übrigens durchaus vereinbar mit dem Recht oder sogar der Pflicht, sich unter Umständen selbst zu töten. Genauer gesagt, gibt der Kluge die Sorge um den Körper erst dann auf, »wenn es fordert die Vernunft, wenn die Würde, wenn die Treue«110. Die Möglichkeit der Selbsttötung, die sich aus der Unterordnung des Körpers unter die Seele und dem stoischen Ideal der Lebensführung ergibt, ist für Seneca ein Ausdruck der Freiheit. Die Seele ist im Gegensatz zum Körper unvergänglich, deshalb gilt das Streben des Menschen der Vervollkommnung der Seele und nicht derjenigen des Körpers. Der freie und glückliche Mensch schont vernünftigerweise seinen Körper; er liebt ihn aber nicht so sehr, dass er sich nicht von ihm 108 | Vgl. ebd., z.B. Bd. 4, 78. Brief, S. 129. 109 | »Wohlan, stell auf die eine Seite einen Mann von Wert, im Reichtum lebend, auf die andere Seite einen, der nichts besitzt, aber alles in sich hat: jeder von beiden wird gleichermaßen ein Mann von Wert sein, auch wenn sie in unterschiedlicher Lebenslage sich befinden. Dasselbe Urteil, wie ich gesagt habe, gilt bei Dingen wie bei Menschen: gleichermaßen lobenswert ist die sittliche Vollkommenheit, in einen gesunden und freien Körper gesetzt, wie in einen kranken und gefesselten.« (Ebd., Bd. 3, 66. Brief, S. 571) 110 | Vgl. ebd., Bd. 3, 14. Brief, S. 99.
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lossagen könnte.111 In welcher Weise die Hierarchie von Seele und Körper im Alter eine Rolle spielt, wird nun zu untersuchen sein. Senecas Überlegungen zu Altern und Alter finden sich u.a. gebündelt im 26. Brief, der sich mit dem Greisenalter und dem Tod beschäftigt. Wie er Lucilius schreibt, reflektiert er diesen Prozess und den entsprechenden Zustand unter der Voraussetzung, dass er den Lebensabschnitt des Alters am eigenen Leibe kennen gelernt hat. Er geht sogar so weit zu behaupten, dass er das Alter schon hinter sich habe.112 Hier wird deutlich, dass Seneca das Altern in erster Linie aus der subjektiven Perspektive des Betroffenen betrachtet. Altern ist für Seneca ein Prozess, der sich zuvörderst am Körper vollzieht.113 Dieser Prozess kann mit Einbußen verbunden sein. Allerdings sind nicht alle dieser Einbußen negativ. Vielmehr altern auch die Schwächen, die beherrscht werden müssen. Dieses Nachlassen körperlicher Bedürfnisse verschafft der Seele neue Freiräume, da sie sich »eines großen Teiles ihrer Bürde«114 entledigt hat. Die Seele tritt im Alter in ihre Blütezeit.115 Obschon Seneca die Seele über den Körper stellt116 und konstatiert, dass die Phase des Alters die Blüte-
111 | »So nahe ist die Freiheit: und Sklave sein wird irgend jemand? So wolltest du nicht lieber sterben sehen deinen Sohn als in Trägheit alt zu werden? Was ist es, weswegen du dich beunruhigen läßt, wenn männlich zu sterben auch eines Knaben Tat ist? Glaube, du wolltest nicht folgen: abgeführt wirst du. Tu in Selbstbestimmung, was fremden Willen unterliegt. Wirst du nicht des Knaben Gesinnung annehmen, um sagen zu können: ›Nicht bin ich Sklave‹? Unseliger, du bist Sklave der Menschen, Sklave der Dinge, Sklave des Lebens: denn das Leben, wenn die sittliche Kraft zum Sterben fehlt, ist Sklaverei.« (Ebd., Bd. 4, 77. Brief S. 123f) 112 | Vgl. ebd., Bd. 3, 26. Brief, S. 221. 113 | Vgl. ebd., Bd. 3, 26. Brief, S. 221ff. 114 | Vgl. ebd., Bd. 3, 26. Brief, S. 223. 115 | Vgl. ebd. 116 | »Daher trennt ein bedeutender und kluger Mann den Geist vom Körper und beschäftigt sich viel mit dem besseren und göttlichen Teil, mit die-
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zeit der Seele ist, hält Seneca das Alter alles in allem nicht für einen wünschenswerten Zustand: »Es vermag die Anspruchslosigkeit zu verlängern das Alter, das ich zwar nicht für begehrenswert halte, aber auch nicht für verächtlich. Angenehm ist es, mit sich zusammenzusein möglichst lange, wenn einer sich würdig gemacht hat, an sich Freude zu haben: daher werden wir darüber abstimmen, ob es nötig ist, zu verachten das äußerste Alter und das Ende nicht abzuwarten, sondern mit eigener Hand herbeizuführen. Nahe ist einem Furchtsamen, wer das Schicksal untätig erwartet, so wie jener über das Maß hinaus ergeben ist dem Weine, wer den Krug bis zur letzten Neige leert und auch den Bodensatz ausschlürft. Darüber dennoch werden wir nachdenken, ob der letzte Lebensabschnitt ein Bodensatz ist oder ein Klarstes und Reinstes, wenn nur der Geist ohne Beeinträchtigung ist, unversehrt die Sinne die Seele unterstützen und nicht entkräftet und fast schon tot der Körper ist: sehr viel kommt es nämlich darauf an, ob einer das Leben verlängert oder den Tod.«117
Dieses Zitat verdeutlicht auf eindrucksvolle Weise, dass es Seneca zufolge nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität des Lebens ankommt. Wie in jeder anderen Lebensphase auch, hängt die ethische Qualität des Lebens im Alter vor allem davon ab, ob und in welchem Maße ein Mensch im Stande ist, seinen Geist zu gebrauchen. Insofern unterscheidet sich der letzte Abschnitt des Lebens nicht von den anderen. Allerdings weist das Alter im Hinblick auf die ethisch verstandene Qualität des Lebens auch eine Besonderheit auf: Aufgrund der mit dem Alter verbundenen degenerativen Prozesse ist gemäß Seneca im Alter die Gefahr, der geistigen Fähigkeiten verlustig zu gehen, besonders groß. Auf dieses Problem werde ich zurückkommen.
sem quengeligen und anfälligen, soweit es nötig ist.« (Ebd., Bd. 4, 78. Brief, S. 133) 117 | Ebd., Bd. 3, 58. Brief, S. 489.
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Bisher wurde noch nichts darüber gesagt, wie Seneca das Alter definiert oder von anderen Lebensphasen abgrenzt. Im Gegensatz zu Aristoteles118 vertritt Seneca nicht die Auffassung, dass der Übergang von der Jugend in das Alter in einem ganz bestimmten chronologischen Alter geschieht. Stattdessen unterscheidet er Junge und Alte anhand des Zieles ihrer Lebensführung: »Vor Eintritt in das Alter sorgte ich dafür, gut zu leben, im Alter, gut zu sterben: gut zu sterben, heißt aber, gern zu sterben.«119 Der Prozess des Alterns ist charakterisiert durch die Möglichkeit, die eigene Vergänglichkeit zu reflektieren, sich Stück für Stück von der »Fessel«, die der Seele durch den Körper angelegt ist120, zu befreien und dadurch an Freiheit zu gewinnen.121 Wie aus dem gerade angeführten Zitat hervorgeht, wird diese Freiheit des alten Menschen durch die Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit ermöglicht. In der Regel wird diese Akzeptanz in der Form des passiven Hinnehmens erfolgen. Seneca betont jedoch, dass es unter bestimmten Umständen sogar sittlich geboten sein kann, den eigenen Tod aktiv herbeizuführen, um die aus dem Alter resultierenden Verfallsprozesse rechtzeitig abzubrechen, bevor das Streben nach sittlicher Vollkommenheit aufgrund des Verlustes geistiger Fähigkeiten oder aufgrund des Erleidens ständigen Schmerzes nicht länger möglich ist: »Hör mich nicht widerwillig an, als beträfe dich bereits dieser Gedanke, und bedenke, was ich sage: nicht werde ich auf das Alter verzichten, wenn es 118 | Vgl. dazu oben S. 51ff. 119 | Seneca: »An Lucilius«, a.a.O., Bd. 3, 61. Brief, S. 513. 120 | Vgl. u.a. ebd., Bd. 3, 65. Brief, S. 551. 121 | »Eine großartige Sache ist es, den Tod zu lernen. Überflüssig, denkst du vielleicht, das zu lernen, was man ein einziges Mal können muß: das gerade ist es, dessentwegen wir daran denken müssen; stets muß man lernen, wovon wir nicht erproben können, ob wir es verstehen. ›Denke an den Tod‹: wer das sagt, heißt an die Freiheit zu denken. Wer zu sterben gelernt hat, Sklave zu sein hat er verlernt: oberhalb aller Macht er, bestimmt außerhalb jeder Macht.« (Ebd., Bd. 3, 26. Brief, S. 227)
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mich ganz für mich bewahrt, ganz jedoch auf jener besseren Seite; aber wenn es beginnt, zu zerstören meinen Geist, Teile von ihm zu vernichten, wenn es mir nicht das Leben läßt, sondern nur den Atem, werde ich aus dem Gebäude springen, da es morsch und brüchig. Vor einer Krankheit werde ich nicht mit Hilfe des Todes fliehen, solange sie heilbar und nicht beeinträchtigt die Seele. Nicht werde ich Hand an mich legen wegen Schmerzes: so zu sterben heißt unterliegen. Wenn ich allerdings weiß, ständig muß ich ihn erleiden, werde ich gehen, nicht seiner selbst wegen, sondern weil er mir hinderlich sein wird bei allem, dessentwegen ich lebe.«122
Ausgangspunkt des Gedankenganges in diesem Abschnitt war die Frage, was sich über die Ausgangsvoraussetzungen sagen lässt, die nach Seneca notwendig und hinreichend für ein glückliches Leben sind. Das soeben angeführte Zitat erlaubt es nun, diese Frage so zu präzisieren, dass sie sich nicht mehr auf das Leben im Allgemeinen, sondern auf den Alterungsprozess bezieht: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ein alter Mensch, der möglicherweise unter Krankheiten leidet, ein glückliches Leben führen kann? – Aus dem Gebrauch der Metapher des morschen und brüchigen Gebäudes lässt sich schließen, dass es nach Seneca eine Verbindung zwischen der Quantität und der Qualität des Lebens gibt. Der Vergleich eines alten menschlichen Körpers mit einem morschen und brüchigen Gebäude verdeutlicht den körperlichen und gegebenenfalls darüber hinaus auch den geistigen Verschleiß. Daraus lässt sich in Bezug auf das Verhältnis zwischen Quantität und Qualität des Lebens folgende Schlussfolgerung ziehen: Je länger ein Mensch lebt, um so geringer ist die Wahrscheinlichkeit, ein Leben gemäß den stoischen Idealen führen zu können. Aus dieser Verbindung zieht Seneca eine normative Konsequenz: Er beschreibt zwei Folgen des Alterungsprozesses, die aus seiner Sicht auf das Streben nach sittlicher Vollkommenheit so störend wirken, dass sie es notwendig machen, den Körper aufzugeben: i) eine irreversibel verlaufende Krankheit, die
122 | Ebd., Bd. 3., 58. Brief, S. 491.
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mit langanhaltendem Leid einhergeht und ii) die sukzessive Zerstörung kognitiver Fähigkeiten. Wie schon bei den anderen Autoren, so sollen auch bezüglich Senecas Begriff und Beurteilung des Alters zusammengetragen werden: • Seneca unterscheidet zwischen dem körperlichen und dem geistigen Altern. Anders als Aristoteles legt er sich im Hinblick auf den Beginn des jeweiligen Prozesses nicht auf ein bestimmtes chronologisches Alter fest. • M. E. ist Seneca der erste Philosoph, der in seinen Beschreibungen den Prozess des Alterns stärker in den Mittelpunkt rückt als das hohe Alter im Sinne des Resultats des Prozesses. • Im Vergleich zu der Einteilung des menschlichen Lebens anhand der Handlungsmöglichkeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist die natürliche Gliederung in Kindheit, Jugend, Reifezeit und Alter, ethisch gesehen, zweitrangig. • Das hohe Alter ist weder notwendigerweise ein Gut noch notwendigerweise ein Übel. Je nachdem, wie der Prozess des Alterns im Einzelfall verläuft, kann das Altern allerdings etwas Gutes oder etwas Schlechtes sein. • Wenn das Altern nicht dazu führt, dass ein Mensch an gravierenden Krankheiten oder anderen nennenswerten Beeinträchtigungen leidet, dann ist das Altern ein Gut, da einerseits die körperlichen Begierden, welche ein Hindernis für die sittliche Lebensweise darstellen, nachlassen und andererseits die geistigen Fähigkeiten nicht beeinträchtigt werden. • Wenn das Altern dazu führt, dass ein Mensch unter schweren Krankheiten oder anderen gravierenden Beeinträchtigungen seiner Fähigkeit, klug zu entscheiden, leidet, dann ist das Altern ein Übel, weil es dem Menschen die Möglichkeit raubt, ein Leben gemäß dem sittlichen Ideal des Stoikers zu führen. • Einerseits hängt das sittliche Gelingen eines Lebens nicht davon ab, wie lange ein Mensch lebt, sondern davon, wie gut (im moralischen Sinne) er sein Leben führt. Das heißt, dass die
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Glückseligkeit nicht von der Quantität, sondern von der Qualität des Lebens abhängt. Andererseits darf man nach Seneca nicht übersehen, dass zwischen der Quantität und der Qualität eines menschlichen Lebens ein kausaler Zusammenhang bestehen kann. Je länger ein menschliches Leben dauert, desto größer wird das Risiko, dass der Einzelne aufgrund der degenerativen Alternsvorgänge die Fähigkeiten verliert, die er benötigt, um ein gelingendes und somit glückliches Leben zu führen. Insofern hat die Quantität des Lebens im hohen Alter zwar keinen direkten, aber einen indirekten Einfluss auf die Möglichkeit, die Glückseligkeit zu erlangen. Auch Senecas Begriff des Alterns soll kurz in die früher zugrunde gelegte Typologie eingeordnet werden: • Senecas Alternsbegriff umfasst sowohl subjektive als auch objektive Elemente. Daher lässt er sich weder dem subjektivistischen noch dem objektivistischen Begriffstyp zuordnen. Allerdings spielen für Senecas Beurteilung des Alterns die Erfahrungen, die er selbst im hohen Alter gesammelt hat, eine nicht unwesentliche Rolle. • Auch im Hinblick auf den Gegensatz zwischen naturalistischen und kulturalistischen Begriffen des Alterns kann Seneca nicht eindeutig klassifiziert werden, da er sich sowohl auf naturale als auch auf kulturelle Aspekte des Alterns bezieht. • Wie die anderen drei bisher behandelten Philosophen, so geht auch Seneca über den rein deskriptiven Begriff des Alterns hinaus, indem er dieses ethisch bewertet. Seine Originalität gegenüber den anderen Autoren besteht darin, dass er für eine je nach Einzelfall differenzierte Beurteilung des Alterns plädiert. Das Alter ist weder immer ein Gut noch immer ein Übel. Ob es im Hinblick auf die Möglichkeit des sittlichen Handelns etwas Gutes oder Schlechtes ist, hängt von den individuellen Lebensumständen ab.
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2.6 M ichel de M ontaigne : D ie E ssais Wirft man einen Blick in das Personen- und Sachregister der Essais, so fallen einerseits der Umfang der aufgeführten Themen und die Vielzahl der Namen ins Auge. Andererseits ist auch ersichtlich, dass sich Gedanken zu einzelnen Themen in unterschiedlichsten Kontexten finden. Ersteres ist der Gelehrsamkeit des Autors und Letzteres der Methode seiner Arbeit geschuldet. Montaigne ist ein großer Kenner der antiken Autoren. Bei oberflächlicher Lektüre kann aufgrund der vielen Zitate und Anspielungen auf antike Quellen der Eindruck entstehen, Montaigne sei ein oberflächlicher Eklektiker und die Essais seien eine bloße Kompilation. Tatsächlich darf jedoch nicht übersehen werden, dass sich der Humanist Montaigne die Gedankengänge antiker Denker auf originelle Art und Weise zu eigen gemacht hat.123 Dabei entwickelt er einen neuen Ausdrucksstil: den Essay (franz.: »essai«). Entgegen der für diese Zeit dem wissenschaftlichen Standard entsprechenden »geschlossenen Schulform«124 schreibt er subjektivistisch und pointiert in »›einer hüpfenden und springenden Gangart‹ des Stils und eines vom Zufall bestimmten Nachdenkens über Sachverhalte gänzlich ungleichen Charakters, um das grenzenlos wandelbare Einzelleben in der ›Flüchtigkeit und Zwiespältigkeit‹ zu erfassen«125. Diese Form erlaubt es ihm, anders als in logisch stringenten, geschlossenen Abhandlungen in immer wieder neuen Assoziationen auf bestimmte Resultate der Selbstbeobachtung zurückzukommen. 123 | P. Burke drückt diesen Sachverhalt treffend wie folgt aus: »Er liebte es, andere Schriftsteller zu zitieren, aber er fand nicht weniger Vergnügen daran, die Zitate gegen ihren neuen Zusammenhang auszuspielen, um ihnen eine andere Bedeutung zu geben.« (P. Burke: Montaigne zur Einführung, Hamburg 1993, S. 8) 124 | Art. »Essay« in: G. v. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, 8. Aufl., Stuttgart 2001, S. 240-242, S. 241. 125 | M. Schmitz: Art. »Montaigne, Michel Eyquem de«, in: B. Lutz (Hg.), Metzler Philosophen Lexikon, 2. Aufl., Stuttgart 1989, S. 544-547, S. 546.
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Aus diesem Grund überrascht es nicht, dass sich die Reflexionen des Autors über das Alter und das Altern nicht nur in dem Essay Über das Alter126 finden, sondern dass diese über mehrere Essais verstreut sind. Entstanden sind die drei Bücher umfassenden Essais nach dem Rückzug Montaignes aus dem öffentlichen Leben. Sie sind geprägt von einer »Herbststimmung«127, die bereits in den einleitenden Worten an den Leser zum Ausdruck kommt: »Ich wünschte, es [das Werk – C.M.] könnte meinen Verwandten und meinen Freunden nützlich sein: Wenn ich nicht mehr bei ihnen bin (das ist ja bald zu erwarten), können sie in diesem Buche vielleicht einige Züge meines Wesens und meiner Gemütsart wiederfinden und dadurch das Bild, das sie von mir gewonnen haben, vervollständigen und beleben.«128
Auch die besondere Methode der Selbstreflexion wird an dieser Stelle als solche benannt: Nicht die allgemeine Betrachtung, sondern vielmehr der Versuch, sich selbst ehrlich und in seiner »einfachen, gewöhnlichen, unstudierten und ungekünselten Gestalt«129 zu untersuchen, soll der Beantwortung der Frage nach dem Wesen des Menschen dienen. Montaignes Beschreibung und Bewertung des Alter(n)s muss vor dem Hintergrund seiner Einteilung des Lebens betrachtet werden. Die Entwicklung des Menschen wird hinsichtlich des Aspektes der Leistungsfähigkeit vom Autor in drei Lebensphasen untergliedert: die Spanne bis zum 20. Lebensjahr, die Zeit zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr und diejenige nach dem 30. Lebensjahr. Angesichts der Textlage kann m.E. kein Zweifel daran bestehen, dass bei Mon126 | Vgl. M. de Montaigne: »Über das Alter« in: ders., Die Essais, hg. v. A. Franz, Stuttgart 2005, S. 152-155. 127 | A. Franz: »Einleitung«, in: M. de Montaigne, Die Essais, hg. v. A. Franz, Stuttgart 2005, S. 3-26, S. 25. 128 | M. de Montaigne: »An den Leser«, in ders., Die Essais, a.a.O., S. 34. 129 | Ebd.
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taigne diese Einteilung mit einer eindeutigen Bewertung verbunden ist. Die beste Lebensphase ist die Mittlere, weil der Mensch in dieser in der Regel im Besitz seiner voll ausgebildeten körperlichen und geistigen Fähigkeiten ist. An zweiter Stelle steht der erste Abschnitt des Lebens. Zwar weist dieser im Vergleich zur mittleren Lebensphase den Nachteil auf, dass die menschlichen Fähigkeiten noch nicht vollständig entwickelt sind; allerdings zeichnet ihn gegenüber dem Alter der Vorzug aus, dass er noch nicht mit dem Verlust an Leistungsfähigkeit einhergeht. Da dieser unvermeidbare Verlust das charakteristische Merkmal der letzten Lebensphase ist, handelt es sich beim Alter um die schlechteste Lebensspanne: »Wenn man mich fragt, so meine ich, daß im allgemeinen unsere innere Entwicklung mit 20 Jahren abgeschlossen ist, und daß man da schon sehen kann, was von jemandem zu erwarten ist: jeder, aus dem später etwas geworden ist, hat bis zu diesem Alter schon deutlich erkennen lassen, was an ihm daran ist. […] Wenn ich alle schönen menschlichen Leistungen überschaue, ganz gleich auf welchem Gebiet, die mir bekannt geworden sind, möchte ich meinen, ich hätte eine größere Zahl von solchen aufzuzählen, die, in der Vergangenheit und in der Gegenwart, von Menschen unter dreißig Jahren vollbracht worden sind als von Menschen über dreißig; ja, das gilt oft auch für das Leben der gleichen Menschen. […] Man kann ja möglicherweise, wenn man seine Zeit gut ausnutzt, im weiteren Leben sein Wissen und seine Erfahrung erweitern; aber Lebenskraft, Entschlußfähigkeit, Sicherheit und andere Eigenschaften, die für uns charakteristischer, wichtiger und wesentlicher sind, lassen dann nach und erschlaffen.«130
Wie werden Altern und Alter von Montaigne beschrieben? Das Altern ist nach Montaigne ein natürlicher Prozess, der schleichend verläuft und an dessen Ende das vom Autor negativ belegte hohe Alter steht:
130 | Ebd., S. 154.
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»Eine dauernde Veränderung und ein allmähliches Absinken unserer Lebenskraft bleibt niemandem erspart; die Natur hat es aber so eingerichtet, daß wir nicht sehen, was wir verloren haben und wie es mit uns abwärts geht. Das wollen wir uns einmal vor Augen führen. Was bleibt einem Greis von der Kraft seiner Jugend, seines Lebens? ›Ach, wie klein ist der Rest des Lebens, der den Alten geblieben ist!‹ […] Wenn wir auf einmal so tief herunterstürzten, so würden wir, glaube ich, nicht imstande sein, einen solchen Wechsel zu ertragen. Aber die Natur rollt uns auf einer Bahn, die sich langsam und kaum merklich senkt, allmählich, stufenweise hinab in das Elend des Alters, so daß wir es hinnehmen und keinen Stoß fühlen, wenn die Jugend in uns stirbt; und doch ist dies eigentlich und in Wahrheit ein härterer Tod als das endgültige Erlöschen eines matten Lebens und als das Sterben aus Altersschwäche. Ist doch der Sprung vom Elend ins Nichtsein nicht so hart wie der von der blühenden Jugendkraft in ein schmerzensreiches, kümmerliches Altern.«131
Die Klage, dass eine Konsequenz des hohen Alters der Verlust von Lebenskraft sei, wurde durch Cicero positiv umgedeutet.132 Bei dieser Umdeutung stützt sich Cicero im Wesentlichen auf folgende drei Annahmen: (i) die Diversität von Tätigkeitsfeldern; (ii) die Inkongruenz der Vergleiche zwischen Menschen verschiedener Altersgruppen; (iii) die Unzulässigkeit der Annahme, Einschränkungen des Aktionsradius seien altersspezifisch und nur mit dem hohen Alter verknüpft. Wie sich dem oben angeführten Zitat entnehmen lässt, beurteilt Montaigne die mit dem Verlust an Lebenskraft einhergehenden Veränderungen differenzierter als Cicero. Genauer gesagt, finden sich in dem Zitat zwei miteinander verknüpfte Aspekte: (i) Der Prozess des Alterns ist einerseits negativ, da mit ihm zwangsläufig der Verlust von Fertigkeiten einhergeht. Das einzig Positive, was Montaigne diesem Prozess andererseits abzugewinnen vermag, ist, dass dieser, weil er unmerklich in gleichsam kaum 131 | M. de Montaigne: »Philosophieren heißt sterben lernen«, in ders., Die Essais, a.a.O., Stuttgart 2005, S. 52-62, S. 58. 132 | Vgl. dazu oben den Abschnitt 2.4.
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wahrnehmbaren Schritten verläuft, dem Menschen ermöglicht, sich nach und nach mit dem letztlich Unvermeidbaren abzufinden, nämlich dem endgültigen Verlust der eigenen Leistungsfähigkeit und dem bevorstehenden Tod.133 (ii) Das Alter selbst wird vom Autor eindeutig als Übel betrachtet: »Was mich betrifft, halte ich es für sicher, daß mein Geist und mein Körper seit diesem Alter [seit der Vollendung des 30. Lebensjahres – C.M.] mehr eingebüßt als gewonnen haben und mehr zurück- als vorwärtsgekommen sind.«134 Wie schon die antiken Philosophen unterscheidet Montaigne zwischen physischem und geistigem Altern und konstatiert, dass beide Prozesse nicht parallel verlaufen müssen: »Manchmal ergreift das Altern zuerst den Körper, manchmal aber den Geist. Ich habe viele Fälle erlebt, in denen das Gehirn vor dem Magen und den Beinen schwach wurde; dieses Leiden ist um so gefährlicher, weil der, den es trifft, wenig davon merkt und weil es sich äußerlich kaum zeigt.«135 Montaigne teilt also die Einschätzung von Denkern wie Seneca, dass der geistige Verfall als Folge des Alterungsprozesses ein größeres Übel ist als die Folgen des physischen Alterungsprozesses. Der Grund dafür liegt – anders als bei Seneca, für den diese Alterserscheinung den Menschen an der Vervollkommnung seiner Seele hindert – darin, dass dieser Prozesses den Betroffenen daran hindert, Aufgaben für die Gemeinschaft verantwortungsvoll ausführen zu können. Montaigne rückt also im Hinblick auf die Bewertung der verschiedenen Auswirkungen des Alterns den tätigen 133 | Darüber hinaus ist das Altern ein Prozess, der bestenfalls dann endet, wenn der Mensch an sogenannter Altersschwäche stirbt: »Aus Altersschwäche sterben, das ist ein seltener, ein eigenartiger, ein ungewöhnlicher Tod und darum weniger natürlich als die anderen Todesarten; es ist die letzte, die äußerste Möglichkeit des Sterbens; je weiter wir von ihr entfernt sind, um so weniger können wir hoffen, sie zu erleben; es ist die äußerste Grenze, die wir erreichen können […].« (M. de Montaigne: »Über das Alter«, a.a.O., S. 153) 134 | Ebd., S. 155. 135 | Ebd., S. 155.
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Menschen in den Fokus. Aus der Feststellung, dass der alternde Mensch notwendigerweise die körperlichen und geistigen Fähigkeiten einbüßt, die benötigt werden, damit ein Mensch bestimmte Aufgaben im Rahmen des Gemeinschaftslebens übernehmen kann, zieht Montaigne u.a. die Schlussfolgerung, dass der Einzelne früher in das Allgemeinwesen eingebunden werden sollte: »Freilich mache ich unseren Gesetzen nicht zum Vorwurf, daß sie uns zu spät pensionieren, sondern daß sie uns zu spät anstellen.«136 Montaigne geht an anderer Stelle noch genauer darauf ein, welche konkreten Folgen das hohe Alter für einen Schriftsteller wie ihn, d.h. für einen geistig tätigen Menschen hat: »Für den Schriftsteller hat die Altersreife ebenso ihre Nachteile wie die Jugendfrische, und zwar schlimmere. […] Wenn wir alt werden, wird auch unser Geist hartleibig und schwerflüssig. Ich spreche hochtrabend und breit vom Nichtwissen und vom Wissen mager und kümmerlich; vom zweiten nur zusätzlich und als Nebensache; vom ersten ausdrücklich und als Hauptsache; wenn es darauf ankommt, spreche ich von nichts weiter als vom Nichts; und von keinem anderem Wissen als von dem um das Nichtwissen. Ich habe die Zeit gewählt, wo ich das Leben, das ich zu beschreiben habe, ganz überschauen kann; was mir vom Leben bleibt, gehört mehr in das Gebiet des Todes; […].«137
Dieses Zitat belegt in aller Deutlichkeit, dass sich Montaignes Begriff des geistigen Alterns nicht in der Deskription erschöpft, sondern darüber hinaus eine Evaluation einschließt, und dass das geistige Altern von Montaigne eindeutig negativ bewertet wird. Wie bereits erwähnt, setzt sich Montaigne nicht nur mit den Auswirkungen des Alterns auf den Verstand auseinander. Ein Aspekt, dem er besondere Beachtung hinsichtlich der Veränderungen des Körpers schenkt, ist, wie auch schon in der Antike, die Frage, ob 136 | Ebd. 137 | M. de Montaigne: »Über die Deutung des Inneren aus dem Äußeren«, in: ders., Die Essais, a.a.O., S. 351-358, S. 358.
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mit dem Alter die Fähigkeit, Sinnenlust zu empfinden, notwendigerweise abnimmt und ob dies, falls es sich tatsächlich so verhielte, ein Nachteil wäre. In diesem Zusammenhang gelangt der Autor zu folgenden Ergebnissen: »Übrigens kann ich die äußerlich bedingte Reue, die das Alter mit sich bringt, nicht leiden. Der Mann, der im Altertum sagte, er fühle sich den Jahren dankbar verpflichtet, weil sie ihn von der Sinnenlust befreit hätten, war anderer Ansicht als ich: die Impotenz begrüße ich sicher nie, auch wenn sie mir noch so gesund ist. ›Das Schicksal verleugnet seine Kräfte nie so vollständig, daß Schwäche ihm wertvoll erscheint.‹ Unsere Gelüste sind im Alter selten; wenn sie befriedigt sind, ergreift uns tiefer Ekel; darin sehe ich nichts, was mit dem Gewissen zu tun hätte; Verdrießlichkeit und Schwäche erzeugen in uns eine feige und schleimige Tugend. Weil ich jung war und weil mir’s Spaß machte, deshalb habe ich früher keineswegs verkannt, was in der Sinnenlust Sünde war; und weil es mich jetzt, wegen meiner Jahre, nicht mehr reizt, verkenne ich auch nicht, was für Wonnen die Sünde bringen kann; jetzt wo ich nicht mehr drin bin, urteile ich noch genauso, als wenn ich noch drin wäre. Ich rüttle meinen Verstand energisch und aufmerksam durch, und da finde ich, daß, wenn er jetzt dagegen ist, daß ich mich in dieses Vergnügen einlasse, weil er wegen meiner körperlichen Gesundheit Bedenken hat, er wegen meiner geistigen Gesundheit nichts einzuwenden haben würde. Deshalb, weil der Verstand jetzt aus dem Gefecht geschieden ist, kann ich seinen Wert nicht höher einschätzen: meine Versuchungen sind so matt und kraftlos geworden, daß es sich für den Verstand nicht lohnt, ihnen entgegenzutreten; ich brauche, um sie zu bannen, bloß meine Hände bittend ihnen entgegenzustrecken.«138
Montaigne widerspricht also einer in der Antike verbreiteten These im Hinblick auf die Bewertung der nachlassenden Begierden in zweierlei Form: (i) Montaigne vertritt die Auffassung, dass antike Autoren wie Cicero, welche den Verlust der Fähigkeit, Lust zu empfinden, in sittlicher Hinsicht positiv bewerten, das reale Verhältnis 138 | Ebd., S. 291f.
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zwischen Ursache und Wirkung ins Gegenteil verkehrt haben. Aus der Sicht Montaignes behauptet Cicero, dass die nachlassende Fähigkeit der alten Männer zum Geschlechtsverkehr für diese kein Nachteil sei, weil ihre Lust auf sexuellen Umgang ohnehin längst abgenommen habe oder gar verschwunden sei. (Ob diese Interpretation Ciceros Text gerecht wird, muss hier nicht entschieden werden.) Nach Montaigne ist hingegen die Abnahme der sexuellen Lust eine Folge der Abnahme oder des Verschwindens der sexuellen Potenz. Alles in allem bewertet Montaigne somit – anders als Cicero – sowohl die Abnahme der Fähigkeit zum Kopulieren als auch die Reduktion der Lust auf den Akt – eindeutig negativ. Wie das Zitat zum Ausdruck bringt, kann Montaigne diesem Verlust auch im Hinblick auf die Tugendhaftigkeit nichts abgewinnen: Es sei kein sittliches Verdienst, dass ein alter Mann, der aufgrund seines Alters impotent geworden ist, seiner kaum noch vorhandenen Lust auf den Geschlechtsakt widersteht. (ii) Montaigne unterstellt den im Rahmen des Zitates erwähnten antiken Autoren, dass sie Folgendes behauptet hätten: Weil mit dem fortschreitenden Alter die sexuelle Lust abnimmt, gewinne der Verstand, der nun von der Last des Kampfes mit der Begierde befreit sei, an Kraft. Dieser Behauptung widerspricht der Autor, indem er darauf hinweist, dass die Kraft des Verstandes keine komparative, sondern eine absolute Größe sei. Die Illusion, dass die Macht des Denkens im hohen Alter zunehme, ergebe sich nur daraus, dass dessen Gegenspielerin, die Lust, von der Bildfläche verschwunden sei. Bisher sind Montaignes Begriff und Bewertung des geistigen und körperlichen Alterns dargestellt worden. Dabei hat sich herausgestellt, dass beide Arten des Alterns von Montaigne als Übel klassifiziert werden. Wenn man die Relevanz und die Reichweite dieser These Montaignes richtig einschätzen will, muss man allerdings berücksichtigen, dass der Autor wie schon Seneca vor ihm zwischen der Quantität und der Qualität desselben unterscheidet und darüber hinaus davon ausgeht, dass der Wert des Lebens nicht von dessen Quantität, sondern von der Qualität abhängt:
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»Man kann den Wert eines Lebens nicht nach der Länge messen; er ist vom Inhalt abhängig. Manches lange Leben ist inhaltlos. Nutzt es, solange ihr es in den Händen habt: von eurem Entschluss, nicht von der Lebensdauer hängt es ab, ob ihr euch mit dem Gedanken abfindet: wir haben genug gelebt. Ihr konntet doch nicht erwarten, daß ihr das Ziel, auf das ihr immer zugingt, nie erreichen würdet?«139
Wie auch Seneca, der ausgiebig die verschiedenen Modi der Verschwendung der Lebenszeit beschreibt,140 geht Montaigne davon aus, dass die Quantität eines Lebens keine Auskunft darüber gibt, ob ein Leben erfüllt ist oder nicht. Vielmehr hängt der Sinn eines Lebens, den das Leben in sich selbst haben muss141, von »der Lebensordnung, Lebenshaltung und Lebensleid«142 ab. Die Kunst, seine Lebenszeit klug zu verwenden, begreift Montaigne als »das umfassendste und hauptsächlichste Kapitel«143 im Leben des Menschen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass, obgleich das hohe Alter Montaigne zufolge etwas Schlechtes ist, ein langes Leben nicht notwendigerweise misslingen oder scheitern muss. Ob ein langes Leben auch ein Gutes ist, hängt davon ab, wie der alte Mensch seine Lebenszeit genutzt hat und nutzt. Ein abschließendes Urteil über das Gelingen oder Misslingen eines Lebens lässt sich allerdings erst dann fällen, wenn man weiß, wie der einzelne Mensch der Herausforderung des Sterbens begegnet ist:
139 | Ebd., S. 61. 140 | Seneca: »Über die Kürze des Lebens«, in: ders., Philosophische Schriften, lat. u. dt., übers.u. hg. v. M. Rosenbach, Bd. 2, Darmstadt 2011, S. 175239. 141 | Vgl. M. Montaigne: »Äußeres und Inneres«, in: ders. Die Essais, a.a.O., S. 351-358, S. 355. 142 | Ebd. 143 | Ebd.
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»Das eigentliche Lebensglück, das in geistiger Ruhe und Zufriedenheit und in seelischer Geradheit und Sicherheit besteht, darf man nie einem Menschen zusprechen, ehe man nicht gesehen hat, wie er den letzten und zweifellos den schwierigsten Akt im Schauspiel des Lebens gespielt hat. Überall sonst ist Verstellung möglich: entweder wir beherzigen die schönen Lehren der Philosophie nur äußerlich, oder was uns trifft, trifft uns nicht bis ins Mark, so daß wir immer ein gefaßtes Gesicht behalten können; aber bei der letzten Szene zwischen uns und dem Tod, da gilt keine Verstellung mehr, da muß man seine wirkliche Meinung sagen, da muß man zeigen, was an Gutem und Sauberem im tiefsten Grunde unseres Herzens liegt. […] Wenn es sich darum handelt, das Leben eines anderen Menschen zu beurteilen, so richte ich immer meinen Blick darauf, wie es ausgeklungen ist, und meine wichtigste Bemühung ist, zu erreichen, daß mein Leben gut ausklingt, daß heißt ruhig und still.«144
Auch diese Passage macht deutlich, dass das absolute Alter eines Menschen zum Zeitpunkt seines Todes in Bezug auf das Gelingen oder Misslingen seines Lebens nur einer von mehreren Faktoren ist. Wie bereits gesagt wurde, hängt der Wert eines Lebens von dessen Qualität ab. Nun kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Eine weitere notwendige Bedingung für das Gelingen eines Lebens besteht darin, dass ein Mensch in der letzten Phase seines Lebens im Angesicht des Todes Gelassenheit bewahrt hat. An dieser Stelle sei jedoch darauf hingewiesen, dass Montaigne immer wieder betont, dass »die Seele des gewöhnlichen Menschen«145 sich durch Dumpf- und Stumpfsinn auszeichnet. Dies hat m.E. zur Folge, dass in den Augen Montaignes’ nur ein kleiner und ausgewählter Kreis überhaupt ein gelungenes Leben zu führen in der Lage ist.146 144 | M. de Montaigne: »Das menschliche Glück kann man nur nach dem Tode beurteilen«, in: ders., Die Essais, a.a.O., S. 50-51. 145 | M. de Montaigne: »Äußeres und Inneres«, in: ders. Die Essais, a.a.O., S. 351-358, S. 355. 146 | »Aber ich denke wohl, dass der Tod wohl das Ende, aber nicht das Ziel des Lebens ist; er ist der Schluß, die Grenze, aber nicht der Inhalt des
2. Der Begriff des Alterns in der Geschichte der Philosophie
Die folgenden Aspekte sind für die Analyse des Begriffs des Alters und des Alterns festzuhalten: • Montaigne unterscheidet zwischen dem Prozess des Alterns und dem hohen Alter als Ergebnis dieses Prozesses. • Er differenziert zwischen geistigem und körperlichem Altern. Beide Arten des Alterns bestehen aus einem unvermeidbaren, unumkehrbaren und nicht kompensierbaren Verlust von Leistungsfähigkeit. Dieser Prozess stellt aufgrund seiner schleichenden Natur eine schrittweise Vorbereitung auf den endgültigen und vollständigen Verlust aller Fähigkeiten, d.h. auf den Tod dar. • Da der Wert eines menschlichen Lebens nicht von dessen Quantität, sondern von der Qualität abhängt, lässt sich daraus, in welchem Alter ein Mensch verstorben ist, nicht ableiten, ob er ein gelungenes Leben geführt hat. Obwohl das hohe Alter nach Montaigne in jedem Fall ein Übel ist, kann ein langes Leben gelingen, und zwar dann, wenn es auf richtige Weise genutzt wurde. Montaignes Konzeption des Alter(n)s lässt sich folgendermaßen in die von mir zugrunde gelegte Typologie einordnen:
Lebens. […] Nur die Gelehrten lassen sich, wenn sie auch ganz gesund sind, den Appetit und die Laune durch die Vorstellung des Todes verderben: die anderen Menschen verlangen nach Heilmitteln und nach Trost nur in dem Augenblick, wo es Ernst wird; nur soweit ihnen etwas weh tut, kümmern sie sich darum. Wir haben schon früher darauf hingewiesen, daß das Volk durch seine Stumpfheit und seine Unempfindlichkeit zu seiner großen Geduld gegenüber dem Bösen, das Menschen trifft, befähigt wird und zu seiner tiefen Gleichgültigkeit gegenüber allem Schlimmen, das ihnen bevorsteht. Die Seele des gewöhnlichen Menschen hat eine Schutzschicht von Dumpfheit und wird deshalb weniger leicht getroffen und erregt.« (Ebd.)
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• Obwohl eine Tendenz zur subjektivistischen Auffassung des Alter(n)s bei Montaigne unübersehbar ist, lässt er sich m.E. weder der subjektivistischen noch der objektivistischen Auffassung des Alter(n)s eindeutig zuordnen. Der Grund dafür ist, dass Montaigne sich nicht nur auf seine eigenen Erlebnisse stützt, sondern auch ausgiebig Gebrauch von den Erfahrungen macht, die er an anderen alten Menschen gemacht hat. Das subjektive Erleben des Alter(n)s bildet für ihn den Ausgangspunkt seiner Überlegungen; diese zielen aber letztlich darauf ab, zu allgemein gültigen Aussagen über Altern und Alter zu gelangen. • Da er sowohl natürliche als auch kulturelle Phänomene in seiner Beschreibung und Bewertung des Alter(n)s berücksichtigt, ist seine Auffassung weder naturalistisch noch kulturalistisch. Allerdings lassen sich bestimmte Gewichtungen ausmachen: Der Prozess des Alterns wird von Montaigne fast ausschließlich als natürlicher Verlauf analysiert. Was jedoch die Ergebnisse dieses Prozesses betrifft, so bezieht er sowohl natürliche Folgen, wie etwa die Impotenz, als auch kulturelle Auswirkungen des Alterns, zum Beispiel den Verlust sozialer Funktionen, ein. • Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Montaignes Konzeption des Alter(n)s nicht nur deskriptiv, sondern auch evaluativ ist. Altern und Alter sind ihm zufolge in jedem Falle etwas Schlechtes. Ein präskriptives Begriffsmoment lässt sich bei Montaigne nicht ausmachen.
2.7 A rthur S chopenhauer : Parerga und Paralipomena Als letzter Philosoph soll hier Arthur Schopenhauer (1788-1860) behandelt werden. Schopenhauer nimmt innerhalb der Geschichte der Philosophie eine Sonderstellung ein, weil er sich keiner der geläufigen Schulen oder Strömungen zuordnen lässt. Im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Untersuchung ist zu berücksichtigen, dass Schopenhauer – anders als etwa Montaigne oder später
2. Der Begriff des Alterns in der Geschichte der Philosophie
Jean Améry – ein eigenes philosophisches System ausgearbeitet hat. Somit müssen seine Überlegungen zum Altern im Rahmen seiner systematisch entfalteten Philosophie verstanden werden. Die beiden hervorstechenden Züge seines Denkens bestehen sicherlich darin, dass Schopenhauers Philosophie eine transzendentale im weitesten Sinne des Wortes ist und dass seine Lehre durch und durch pessimistisch ist. Insbesondere der zweite dieser beiden Aspekte, so darf man erwarten, dürfte sich auf seine Beurteilung des Alters und des Alterns nachhaltig ausgewirkt haben. Im Rahmen dieser Arbeit kann Schopenhauers Metaphysik nicht in Gänze referiert werden. Zumindest einige ihrer zentralen Gedanken müssen jedoch in der gebotenen Kürze in Erinnerung gerufen werden, damit die sich anschließenden Analysen seiner Aussagen über Alter und Altern eingeordnet und angemessen gewürdigt werden können. Schopenhauer, der sich selbst als Vollender der Kant’schen kritischen Philosophie ansah, übernimmt von Kant die grundlegende Unterscheidung zwischen den Erscheinungen und dem Ding an sich. In Bezug auf die inhaltliche Deutung dieser beiden Korrelate weicht er allerdings erheblich von Kant ab. Der erste wesentliche Unterschied zu Letzterem besteht darin, dass Schopenhauer zufolge das Ding an sich der Wille ist. Als Ding an sich ist der Wille, der allen empirischen Gegenständen und Ereignissen zugrunde liegt, nicht den Anschauungsformen des Raumes und der Zeit und somit auch nicht dem principium individuationis unterworfen. Sofern der Wille hingegen als Erscheinung betrachtet wird, tritt er immer als individuierter und somit als in Raum und Zeit existierender auf. Zweitens teilt Schopenhauer nicht Kants Auffassung, dass die Dinge an sich grundsätzlich nicht erkannt werden können. Vielmehr vertritt er die These, dass der Mensch vermittels seines Leibes, welcher ja eine Individuation des Willens ist, über einen direkten epistemischen Zugang zur Erkenntnis des Dings an sich verfügt. Für Lebewesen im Allgemeinen und daher auch für den Menschen im Besonderen gilt, dass bei ihnen der Wille stets Wille zum Leben ist. Aus verschiedenen Gründen, die hier nicht im Einzel-
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nen erörtert werden können, führt diese Tatsache dem Autor zufolge dazu, dass das menschliche Leben notwendigerweise Leiden beinhaltet. Der wichtigste Grund dafür besteht wohl darin, dass das Wollen des Menschen sich stets auf etwas richtet, was dem Menschen fehlt und unter dessen Mangel er demzufolge leidet. Die Befriedigung eines Begehrens führt nun deshalb nicht zu Glückseligkeit oder Seelenruhe, weil sie in der Regel nicht lange anhält, sodass der Mensch einem periodischen Wechsel von unbefriedigtem Wollen und peremtorischer Befriedigung unterworfen ist. Die philosophische Einsicht, dass das Wollen unzertrennlich mit dem Leiden einhergeht, stellt ein sogenanntes »Sedativ« des Willens dar und kann insofern in einem bestimmten Maße zur Befreiung vom Leiden beitragen. Schopenhauers Ausführungen über das Alter und Altern müssen vor dem Hintergrund der eben genannten metaphysischen Voraussetzungen verstanden werden. Im Vergleich zu den bereits vorgestellten Denkern fällt zunächst auf, dass Schopenhauer das Leben des Menschen nicht in drei, sondern in zwei Lebenshälften mit vier Lebensaltern untergliedert: die Kindheit, die Jugend, das Alter und das hohe bzw. späte Alter, das er auch als Greisenalter bezeichnet.147 Kindheit und Jugend bilden die erste, Alter und Greisenalter die zweite Lebenshälfte. Auffällig ist, dass Schopenhauer die einzelnen Lebensalter nicht an sich, d.h. isoliert voneinander betrachtet, sondern dass er sie stattdessen komparativ beschreibt und bewertet. So tritt beispielsweise die Eigenart des Greisenalters erst im Vergleich mit den übrigen drei Lebensaltern gänzlich hervor. Darüber hinaus ist Schopenhauers Bewertung der Lebensalter vergleichsweise differenziert, weil er sie jeweils im Hinblick auf verschiedene Gesichtspunkte vornimmt, z.B. in Bezug auf das Verhältnis zwischen Erkennen und Wollen oder im Hinblick auf das Erleben der Zeit: 147 | Vgl. AL, S. 569ff. – Schopenhauers Werke werden nach folgenden Siglen zitiert: Die Welt als Wille und Vorstellung. Band 1 = WWV I; Die Welt als Wille und Vorstellung. Band 2 = WWV II; »Aphorismen zur Lebensweisheit« = AL.
2. Der Begriff des Alterns in der Geschichte der Philosophie
»Unser ganzes Leben hindurch haben wir immer nur die Gegenwart inne und nie mehr. Was dieselbe unterscheidet, ist bloß, daß wir am Anfang eine lange Zukunft vor uns, gegen das Ende aber eine lange Vergangenheit hinter uns sehn; sodann, daß unser Temperament, wiewohl nicht unser Charakter, einige bekannte Veränderungen durchgeht, wodurch jedesmal eine andere Färbung der Gegenwart entsteht.«148
Insbesondere die erste Eigenheit, die vergleichende Betrachtung der Lebensalter, macht es erforderlich, neben dem hohen Alter, das selbstredend im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, auch die anderen drei Lebensalter in Kürze vorzustellen. Die Kindheit: Die Kindheit umfasst den Zeitraum von der Geburt bis zum Einsetzen der Pubertät, insbesondere bis zur Herausbildung des Geschlechtstriebes. Dieser Abschnitt des Lebens wird von Schopenhauer als Zeit der Unschuld und des Glückes149, der Heiterkeit und Poesie150 bezeichnet. Die Kindheit sei »das Paradies des Lebens, das verlorene Eden, auf welches wir unsern ganzen übrigen Lebensweg hindurch sehnsüchtig zurückblicken«151. Bei der Erklärung dieser Tatsache greift Schopenhauer auf eine bedeutsame Annahme über das Verhältnis zwischen Erkennen und Wollen zurück: »Die Basis jenes Glückes aber ist, daß in der Kindheit unser ganzes Dasein viel mehr im Erkennen als im Wollen liegt; welcher Zustand zudem noch von außen durch die Neuheit aller Gegenstände unterstützt wird.«152 Der wesentliche Grund dafür, dass während der Kindheit die erkennende Haltung zu sich selbst und zur Welt noch nicht dem Wollen untergeordnet ist, besteht darin, dass beim Kind der Geschlechtstrieb als Wille zur Lust und zur Fortpflanzung noch nicht ausgebildet ist: »Gerade weil im Kinde jener unheilschwangere Trieb [der Geschlechtstrieb – C.M.] fehlt, ist das Wollen 148 | AL, S. 569. 149 | Vgl. WWV II, § 31, S. 509. 150 | Vgl. AL, S. 569. 151 | WWV II, § 31, S. 509. 152 | Ebd.
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desselben so gemäßigt und dem Erkennen untergeordnet, woraus jener Charakter von Unschuld, Intelligenz und Vernünftigkeit entsteht, welcher dem Kindesalter eigentümlich ist.«153 Die Jugend: Das Einsetzen der Pubertät stellt für die Entwicklung des Menschen eine wesentliche Zäsur dar, weil der Sexualtrieb, welcher am Ende der Pubertät voll ausgebildet ist, Schopenhauer zufolge die mächtigste Objektivation des Willens im menschlichen Leben darstellt. Die Jugend wird vom Autor als eine stürmische und schwermütige Phase bezeichnet.154 Charakteristisch für sie ist, dass sich aus dem eben genannten Grunde der Wille vor das Erkennen schiebt. Darüber hinaus sei es typisch für diese Lebensphase, dass der jugendliche Mensch voller Übermut sei und dass ihm seine Zukunft als unendlich lange Zeit erscheint.155 Bewertung von Kindheit und Jugend: Ungeachtet der Unterschiede zwischen Kindheit und Jugend neigt Schopenhauer aus gutem Grunde dazu, diese beiden ersten Lebensphasen aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten als erste Lebenshälfte im Unterschied zur zweiten einheitlich zu bewerten. Alles in allem sei die erste Hälfte des Lebens in der Regel glücklicher, d.h. bei einem Pessimisten wie Schopenhauer weniger unglücklich als die zweite. Sie falle im Allgemeinen heiterer und unbeschwerter als die zweite Lebenshälfte aus. Ein wesentlicher Grund dafür sei, dass Kinder und Jugendliche in aller Regel den eigenen Tod noch nicht ständig antizipierten: »Die Heiterkeit und der Lebensmut unserer Jugend beruht zum Teil darauf, daß wir bergaufgehend den Tod nicht sehn; weil er am Fuß der andern Seite des Berges liegt.«156 Zum relativ unbeschwerten Charakter der ersten Hälfte des Lebens trage auch die Tatsache bei, dass für den jungen Menschen die Zeit gefühltermaßen langsamer vergehe als für den älteren:
153 | WWV II, § 31, S. 510. 154 | Vgl. ebd. 155 | AL, S. 576. 156 | AL, S. 575.
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»Die Zeit selbst hat in unserer Jugend einen viel langsameren Schritt; daher das erste Viertel unsers Lebens nicht nur das glücklichste, sondern auch das längste ist, so daß es vielmehr Erinnerungen zurückläßt und jeder, wenn es darauf ankäme, aus demselben mehr zu erzählen wissen würde als aus zweien der folgenden.«157
Allerdings darf nicht übersehen werden, dass im Hinblick auf die positive Bewertung der ersten Lebenshälfte zumindest in einer Hinsicht zwischen Kindheit und Jugend differenziert werden muss: »Was […] den Rest der ersten Lebenshälfte, die so viele Vorzüge vor der zweiten hat, also das jugendliche Alter, trübt, ja unglücklich macht, ist das Jagen nach Glück, in der festen Voraussetzung, es müsse im Leben anzutreffen sein. Daraus entspringt die fortwährend enttäuschte Hoffnung und aus dieser die Unzufriedenheit.«158
Dieses Zitat und andere gleichlautende Stellen legen die Vermutung nahe, dass Schopenhauers positive Einschätzung der ersten Lebenshälfte möglicherweise auf die Kindheit beschränkt werden muss. Diesem exegetischen Problem kann jedoch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht nachgegangen werden. Das reife Alter: Diese Lebensphase ist in erster Linie dadurch gekennzeichnet, dass beim reifen Mann (über reife Frauen ist bei Schopenhauer nichts zu erfahren) die realistische Sicht auf sich selbst und die Welt an die Stelle des Wunschdenkens und der mit diesem verbundenen ständigen Enttäuschungen tritt: Der reife Mann »allererst sieht die Dinge ganz einfach und nimmt sie für das, was sie sind; während dem Knaben und Jüngling ein Trugbild, zusammengesetzt aus selbstgeschaffenen Grillen, überkommenen Vorurteilen und seltsamen Phantasien, die wahre Welt bedeckte oder verzerrte«159. 157 | AL, S. 576. 158 | AL, S. 572. 159 | AL, S. 574.
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Aus dieser realistischen Haltung resultiert eine relative Zufriedenheit mit dem eigenen Dasein. Das reife Alter ist überdies eine Zeit der Ruhe und Beständigkeit. Allerdings gibt es innerhalb dieser vergleichsweise langen Lebensphase Schopenhauer zufolge eine Zäsur, die er um das 35. Lebensjahr herum datiert und deren Folgen sich nicht sofort, sondern schleichend und unmerklich bemerkbar machen: »Die größte Energie und höchste Spannung der Geisteskräfte findet ohne Zweifel in der Jugend statt, spätestens bis ins fünfunddreißigste Jahr: von dem an nimmt sie, wiewohl sehr langsam ab.«160 Im Allgemeinen setzt also bereits in der Mitte des Lebens der schleichende Abbau der körperlichen und geistigen Kräfte ein. Diese Annahme impliziert, dass der Verlust an Leistungsfähigkeit kein spezifisches Merkmal des Greisenalters ist. In dieser Hinsicht kann der Unterschied zwischen dem dritten und dem vierten Lebensalter somit kein prinzipieller, sondern nur ein quantitativer sein. Unter der Voraussetzung, dass ein Mensch das Glück hat, gesund zu sein, kann das reife Alter zumindest in einer Hinsicht durchaus positiv beurteilt werden: »[…], so ist, wenn nur die Gesundheit sich erhalten hat, im ganzen genommen die Last des Lebens wirklich geringer als in der Jugend: daher nennt man den Zeitraum, welcher dem Eintritt der Schwäche und der Beschwerden des höheren Alters vorhergeht, ›die besten Jahre‹. In Hinsicht auf unser Wohlbehagen mögen sie es wirklich sein: hingegen bleibt den Jugendjahren, als wo alles Eindruck macht und jedes lebhaft ins Bewußtsein tritt, der Vorzug, die befruchtende Zeit für den Geist, der blütenansetzende Frühling desselben zu sein.«161 160 | AL, S. 582. – Für die Vermutung, dass der Mitte des vierten Lebensjahrzehntes eine besondere Bedeutung als einer Zäsur im Leben zukomme, spricht auch folgende Stelle: »Hinsichtlich der Lebenskraft sind wir bis zum sechsunddreißigsten Jahre denen zu vergleichen, welche von ihren Zinsen leben: was heute ausgegeben wird, ist morgen wieder da.« (AL, S. 578) 161 | AL, S. 581.
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An dieser Stelle tritt ein früher bereits beiläufig erwähnter Zug in Schopenhauers Überlegungen über die Lebensalter besonders deutlich zutage: seine differenzierte Beurteilung derselben. Der Autor legt sich nicht oder nur selten auf eine absolute Rangfolge der vier Lebensalter fest. Stattdessen versucht er, jeweils im Einzelnen anzugeben, in welcher Hinsicht ein Lebensalter einem anderen vorzuziehen ist und in welcher nicht. Das Greisenalter: Schopenhauer stimmt mit vielen anderen Autoren darin überein, dass das Greisenalter vor allem durch den fortgeschrittenen und sich beschleunigenden Verlust der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit charakterisiert ist und vom reifen Alter abgegrenzt werden muss. Ein weiterer negativer Wesenszug des hohen Alters sei »das Enttäuscht sein: die Illusionen sind verschwunden, welche bis dahin dem Leben seinen Reiz und der Tätigkeit ihren Sporn verliehen; man hat das Nichtige und Leere aller Herrlichkeiten der Welt, zumal des Prunkes, Glanzes und Hoheitsscheins, erkannt; man hat erfahren, daß hinter den meisten gewünschten Dingen und ersehnten Genüssen gar wenig steckt, und ist so allmählig zu der Einsicht in die große Armut und Leere unsers ganzen Daseins gelangt.«162
Die negative Bewertung der letzten Lebensphase wird durch die Behauptung vervollständigt, dass viele alte Menschen zunehmend unflexibel, monoton und desinteressiert an Neuem werden, weil sie gleichsam wie Automaten ihr Leben gewohnheitsmäßig führen: »Die meisten freilich, als welche stets stumpf waren, werden im höhern Alter mehr und mehr zu Automaten: sie denken, sagen und tun immer dasselbe, und kein äußerer Eindruck vermag mehr etwas daran zu ändern oder etwas Neues aus ihnen hervorzurufen. Zu solchen Greisen zu reden ist wie in den Sand zu schreiben: der Eindruck verlischt fast unmittelbar darauf.«163 162 | AL, S. 589. 163 | Ebd.
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Diesen zweifellos schlechten Merkmalen des Greisenalters stehen aber nach Schopenhauer etliche positive Eigenheiten gegenüber. An erster Stelle nennt er in diesem Zusammenhang die »geistige Kompensation«164 für den Verlust an Leistungsfähigkeit. Alte Menschen verfügten aufgrund ihrer Lebenserfahrung in der Regel über umfassendere und gründlichere Kenntnisse als junge: »im Alter ist mehr Urteil, Penetration und Gründlichkeit«165. Etwas modern reformuliert, könnte man in Anschluss an Schopenhauer sagen, dass alte Menschen den Mangel an Schnelligkeit und Originalität aufgrund ihres Erfahrungsschatzes und ihrer Routine im positiven Sinne des Wortes auszugleichen vermögen. In den Bereich der geistigen Kompensation fällt auch eine veränderte Sichtweise auf das Leben als Ganzes: »Nur wer alt wird, erhält eine vollständige und angemessene Vorstellung vom Leben, in dem er es in seiner Ganzheit und seinem natürlichen Verlauf, besonders aber nicht bloß wie die übrigen von der Eingangs-, sondern auch von der Ausgangsseite übersieht, wodurch er dann besonders die Nichtigkeit desselben vollkommen erkennt; während die übrigen stets noch in dem Wahne befangen sind, das Rechte werde noch erst kommen.«166
Dem alten Menschen wird also etwas zuteil, was die Jüngeren noch nicht erreicht haben können, nämlich eine Gesamtansicht des menschlichen Lebens, welche die retrospektive Betrachtung einschließt. Ein weiterer Vorzug des hohen Alters besteht darin, dass alte Männer in der Regel vom Joch des Geschlechtstriebes befreit worden sind, sodass das ursprünglich in der Kindheit gegebene Verhältnis zwischen Erkennen und Wollen unter veränderten Umständen wiederhergestellt wird. Aufgrund des früher erwähnten Zusammenhanges zwischen Wollen und Leiden ist leicht einzusehen, dass das Nachlassen des Sexualtriebes Schopenhauer zufolge die 164 | AL, S. 582. 165 | AL, S. 583. 166 | Ebd.
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Lebenszufriedenheit steigert, weil eine, wenn nicht die wichtigste Quelle der beständigen Unzufriedenheit im Alter versiegt ist. Wie aus den vorigen Abschnitten dieses Kapitels hervorgeht, ist dieser Gedanke durchaus nicht neu. Er findet sich bereits bei Platon und mit besonderer Betonung bei Cicero. Als größten Vorzug des Alters stellt Schopenhauer die Möglichkeit dar, sich aufgrund des Kräfteverfalles dem Tod anzunähern und diesen gelassen zu erwarten: »Das Schwinden aller Kräfte im zunehmenden Alter, und immer mehr und mehr ist allerdings sehr traurig: doch ist es notwendig, ja wohltätig; weil sonst der Tod zu schwer werden würde, dem es vorarbeitet. Daher ist der größte Gewinn, den das Erreichen eines sehr hohen Alters bringt, die Euthanasie, das überaus leichte, durch keine Krankheit eingeleitete, von keiner Zuckung begleitete und gar nicht gefühlte Sterben; […].«167
Dieser Gedanke lässt sich m.E. auch anders formulieren. Das hohe Alter erlaubt es in gewisser Weise, den Tod als logisches Ende der Fortsetzung des Kräfteverfalles in das Leben zu integrieren. Wenn man bedenkt, dass zu Schopenhauers Lebzeiten nur verhältnismäßig wenige Menschen das Greisenalter erreichten, dann wird deutlich, dass diese sanfte Annäherung an den Tod ein Privileg weniger Menschen war. Übrigens ist nicht zu übersehen, dass Schopenhauer hier der Sache nach mit Montaigne übereinstimmt. Auch dieser weist ja darauf hin, dass das Alter als Vorbereitung auf den Tod begriffen und insofern auch positiv bewertet werden kann. Als wesentliche Resultate der Analyse können folgende Einsichten festgehalten werden: • Schopenhauers Begriff des hohen Alters gewinnt seine Bedeutung aus der Einordnung in ein Schema mit zwei Lebenshälften und vier Lebensaltern. Dabei bilden Kindheit und Jugend die erste, das reife und das hohe Alter die zweite Lebenshälfte. 167 | AL, S. 589.
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• Was das Verhältnis zwischen der dritten und der vierten Lebensphase betrifft, so betont der Autor einerseits die Kontinuität zwischen ihnen. Nach dem Erreichen der Reife setzt der Abbau der körperlichen und geistigen Kräfte bereits verhältnismäßig früh, nämlich um das 35. Lebensjahr herum ein. Daher ist der Kräfteverfall kein spezifisches Merkmal des Greisenalters. In diesem beschleunigt sich vielmehr nur der Prozess, der bereits in der Mitte des vierten Lebensjahrzehntes begonnen hat. Andererseits ist die Unterscheidung der beiden Lebensalter dadurch gerechtfertigt, dass der Abbau der Fähigkeiten im hohen Alter ein Maß erreicht, welches es deutlich von der dritten Lebensphase unterscheidet. • Schopenhauers Bewertung der einzelnen Lebensalter fällt erstaunlich differenziert aus. Zwar ist die erste Lebenshälfte alles in allem der zweiten vorzuziehen. Diese allgemeine Einschätzung ist jedoch vereinbar damit, dass der Autor auch der dritten und der vierten Lebensphase bestimmte Vorzüge zuschreibt. • Das Greisenalter weist drei wesentliche negative Merkmale auf. Erstens lassen sowohl die körperlichen wie auch die geistigen Kräfte in immer stärkerem Maße nach. Zweitens sind alte Menschen aufgrund der Erfahrungen, die sie im Verlauf ihres Lebens gesammelt haben, in der Regel enttäuscht und desillusioniert. Drittens nimmt die Offenheit für Neues im hohen Alter aufgrund der sich verfestigenden Gewohnheiten radikal ab. • Diesen Nachteilen des hohen Alters stehen allerdings auch einige positive Eigenschaften gegenüber, und zwar insbesondere das Nachlassen des Geschlechtstriebes und die daraus resultierende Ruhe und Zufriedenheit, die geistige Kompensation in Gestalt von Erfahrung, Urteilsfähigkeit und Routine sowie schließlich die Möglichkeit, sich dem Tod auf sanfte Weise anzunähern und diesen gelassen zu erwarten. Schopenhauers Begriff des Alters und Alterns lässt sich wie folgt in die Typologie einordnen:
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• Insgesamt weist Schopenhauers Beschreibung und Bewertung des Alterns eine größere Nähe zum Naturalismus als zum Kulturalismus auf, weil er sich vor allem auf natürliche Prozesse und ihre Wirkungen bezieht. Auffällig ist demgegenüber, dass die kulturellen Folgen des Alterns, wie etwa die Veränderung oder der Verlust sozialer Rollen, bei ihm kaum thematisiert werden. • In Bezug auf den Gegensatz zwischen subjektivistischen und objektivistischen Alternsbegriffen kann keine eindeutige Zuordnung getroffen werden. Einerseits geht der Autor von subjektiven Erfahrungen des Alters und des Alterns aus, andererseits erhebt er den Anspruch, dass diese Erfahrungen repräsentativ und insofern verallgemeinerbar sind. Man kann seinen Begriff des Alterns nur in dem schwachen Sinne als subjektivistisch bezeichnen, dass dieser das Erleben des Alterns aus der Perspektive der ersten Person einschließt. • Wie bereits hervorgehoben wurde, erschöpft sich Schopenhauers Begriff des Alterns nicht im Deskriptiven. Es ist offensichtlich, dass sein Begriff des Alterns darüber hinaus evaluative Momente einschließt. Das Altern wird von ihm im Hinblick auf dessen Vor- und Nachteile differenziert bewertet.
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3. Der Begriff des Alterns in der Biologie 3.1 E inführung Dieses Kapitel ist der sprachlichen Analyse der in der Biologie verwendeten Begriffe des Alters und des Alterns gewidmet. Zuvörderst sind mit Blick auf den Umfang des Gegenstandes der biologischen Untersuchung des Alterns folgende zwei Eigenheiten zu konstatieren: i) Während die anderen hier behandelten Disziplinen sich gänzlich oder zumindest in erster Linie für die Besonderheiten des menschlichen Alterns interessieren, gilt das Interesse der biologischen Erforschung des Alterns denjenigen Merkmalen, die das Altern als biotisches Phänomen1 überhaupt kennzeichnen. Somit stellt die Untersuchung des Alterns des Menschen für die Biologie nur einen Spezialfall eines beinahe universellen Prozesses dar, der
1 | Hier wie in allen Bereichen der wissenschaftlichen Forschung empfiehlt es sich, terminologisch zwischen der Gegenstandsebene und der Ebene der Theorie, in welcher der Gegenstand untersucht wird, zu unterscheiden. So untersucht beispielsweise die Soziologie soziale Prozesse, die Psychologie befasst sich mit psychischen Entitäten. Dies wird durch den Unterschied zwischen den Prädikaten »sozial« und »soziologisch« beziehungsweise »psychisch« und »psychologisch« angezeigt. In diesem Sinne soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit zwischen »biotischen« Prozessen und »biologischen« Aussagen, Thesen usw. unterschieden werden. Das Prädikat »biotisch« bezieht sich somit immer auf die Gegenstandsebene, d.h. auf Organismen oder Teile von Organismen. Hingegen bezeichnet das Adjektiv »biologisch« immer theoretische Entitäten.
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sich bei fast allen Arten von Organismen2 beobachten lässt. Dieser Unterschied zwischen der biologischen Herangehensweise einerseits und derjenigen anderer mit dem Altern befasster Disziplinen andererseits ergibt sich in einigen Fällen aus der Sache selbst, nämlich dem Untersuchungsgegenstand. So ist beispielsweise das Altern im Sinne eines bewusst erlebten Vorganges einschließlich der mit diesem verbundenen Folgen nur beim Menschen der wissenschaftlichen Erforschung direkt zugänglich, weil man nur alte Menschen in Bezug auf das Altern befragen kann. Alternde und alte Pflanzen oder Tiere können der Psychologin nun einmal keine Auskunft darüber geben, wie es sich anfühlt, alt zu sein. Dazu sind nur Menschen als sprachfähige Wesen imstande. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich die Psychologie des Alterns und des Alters auf das Altern des Menschen fokussiert. Ähnliches lässt sich über die philosophische und die soziologische Beschäftigung mit dem Altern sagen. In der Biologie hingegen muss es nicht in erster Linie darum gehen, zu klären, worin sich das menschliche Altern vom Altern anderer Spezies unterscheidet. Vielmehr zielt die biologische Erforschung des Alterns vor allem darauf ab, speziesneutrale Merkmale des Alterns als solche zu bestimmen. Daraus folgt, dass das menschliche Altern ebenso im Interesse der Biologen liegt wie das Altern einer Kohlmeise, einer Colorado-Zitterpappel, eines Hefepilzes oder eines Fadenwurmes. ii) Die biologische Untersuchung des Alterns beschränkt sich nicht auf den gesamten Organismus oder das Individuum als Gan2 | Der Begriff des Organismus ist in der gegenwärtigen Biologie wie folgt bestimmt: »Der Organismus, als primäre Einheit der Lebensprozesse, gibt einerseits den Rahmen für die funktionierende Rolle der individuellen Lebenserscheinungen vor, andererseits interagiert der Organismus als biologisches Individuum mit seiner Umwelt und mit anderen Organismen. Dadurch ist der Organismus sowohl Träger der Lebenserscheinungen als auch Teilnehmer an biologischen Prozessen.« (M. D. Laubichler: »Systemtheoretische Organismuskonzeptionen«, in: U. Krohs/G. Toepfer (Hg.): Philosophie der Biologie. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 2005, S. 109-124).
3. Der Begriff des Alterns in der Biologie
zes, sondern schließt Teile und Ebenen des Organismus mit ein, beispielsweise das Altern körpereigener Stoffe, bestimmter Zellen oder Zellverbände sowie einzelner Organe. Auch hierin unterscheidet sich die biologische Beschäftigung mit dem Altern beispielsweise von der philosophischen und soziologischen. Wenn Philosophen oder Soziologen vom Altern sprechen, dann versteht es sich von selbst, dass sie sich dabei auf menschliche Individuen als Ganze beziehen. – Außerdem kann in diesem Zusammenhang vorwegnehmend festgestellt werden, dass die biologische Begriffsverwendung in Bezug auf die Gegenstandsklassen, denen die Prädikate »alt« und »alternd« zugeschrieben werden, erheblich von der umgangssprachlichen Verwendung der entsprechenden Begriffe abweicht. In der Umgangssprache wird das Prädikat »alt« zumindest im wörtlichen Sinne nur ganzen Organismen zugeschrieben. Die zweite Eigenheit der biologischen Erforschung des Alterns weist noch zwei weitere wichtige Aspekte auf. Erstens sind die auf den verschiedenen Ebenen ablaufenden Alterungsprozesse kausal miteinander verknüpft. Deshalb kann ein und dieselbe Veränderung je nach Perspektive und Interessenschwerpunkt häufig sowohl als Ursache des Alterns als auch als Realisation desselben betrachtet werden. Beispielsweise wird die Auffassung vertreten, dass das Nachlassen der Zellatmung eine wesentliche Ursache für das Altern der Zelle ist.3 Insofern kann dieser Funktionsverlust als Ursache des Alterns auf der nächst höheren Ebene angesehen werden. Andererseits lässt sich das Nachlassen der Zellatmung auch als Wirkung 3 | »The mitochondrial theory of aging predicts that normal metabolic processes cause ROS [reactive oxygen species – C.M.] production from electron transport chain and that these ROS cause damage to cellular components, including genetic material, membranes, and enzymes. This damage leads to a decrease in mitochondrial bioenergetic function, cellular decline, and senescense.« (C. L. Quinlan/J. R. Treberg/M. D. Brand: »Mechanisms of Mitochondrial Free Radical Production and their Relationship to the Aging Process« in: E. J. Masoro/St. N. Austad (Hg.): Handbook of the Biology of Aging, 7th Edition, London 2011, S. 47-61, S. 54)
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des Nachlassens der Funktionsfähigkeit des Mitochondriums und insofern als Realisation des Alterns selbst beschreiben. Zweitens kann die Geschwindigkeit des Alterungsprozesses nicht nur je nach Ebene, sondern auch auf ein und derselben Ebene und in Abhängigkeit von der Umgebung variieren.4 So kann etwa das Altern auf der Ebene der Organe mehr oder weniger schnell vor sich gehen als auf der Ebene der Zellen.5 Auf Letzterer kann das Altern wiederum mit verschiedenen Geschwindigkeiten ablaufen. Schließlich hängt das Tempo des Alterungsvorganges beispielsweise auch davon ab, wo ein Organismus lebt. Erstaunliche Ergebnisse wurden hier u.a. mit Nematoden (Strongyloides ratti) erzielt: Während eine im Boden lebende Adultform innerhalb von fünf Tagen stirbt, erreicht ihr parasitär in Ratten lebender und genetisch identischer Artgenosse ein Alter von bis zu über einem Jahr.6
3.2 D er U nterschied z wischen F unktions - und E volutionsbiologie und seine B edeutung für die E rforschung des A lterns Innerhalb der modernen Biologie müssen meiner Meinung nach zwei grundsätzlich verschiedene Herangehensweisen an den zu untersuchenden Gegenstand unterschieden werden: die Funktionsbiologie und die Evolutionsbiologie. Die Funktionsbiologie geht davon aus, dass die Angehörigen einer Spezies in der Regel über für sie charakteristi4 | Vgl. R. E. Ricklefs/C. E. Finch: Altern. Evolutionsbiologie und medizinische Forschung, übers. v. J. Urban, Heidelberg/Berlin/Oxford 1996, S. 32ff. 5 | Vgl. u.a. J. Dichgans: »Alter und Altern aus biologischer Perspektive«, in: K. Gabriel/W. Jäger/G. M. Hoff (Hg.): Alter und Altern als Herausforderung, Freiburg i.Br. 2011, S. 21-48, S. 35f. 6 | Vgl. D. Gems: »Eine Revolution des Alterns; Die neue Biogerontologie und ihre Implikationen«, übers. v. M. Weber, in: S. Knell/M. Weber (Hg.): Länger leben? Philosophische und biowissenschaftliche Perspektiven, Frankfurt a.M. 2009, S. 25-45, S. 28.
3. Der Begriff des Alterns in der Biologie
sche Merkmale verfügen, und zwar sowohl über geno- als auch phänotypische Eigenschaften. So ist es beispielsweise charakteristisch für Schmetterlinge, dass sie im Laufe ihrer Individualentwicklung vier Metamorphosen durchlaufen. Die Funktionsbiologie fragt nun danach, wodurch die entsprechenden Vorgänge ausgelöst werden und durch welche Mechanismen sie reguliert werden. Sie zielt also auf die Feststellung der Ursachen und der Regularitäten bestimmter arttypischer Prozesse ab. Die Frage, warum diese Prozesse überhaupt typisch für einzelne Spezies sind, wird dabei von der Funktionsbiologie nicht gestellt. Stattdessen bildet die Feststellung derartiger arteigener Merkmale den Ausgangspunkt ihrer Untersuchung. Das, was von der Funktionsbiologie vorausgesetzt wird, bildet eines der Explananda der Evolutionsbiologie. Ihr Anliegen besteht darin, zu erklären, warum einzelne Arten im Verlauf der Evolution bestimmte Merkmale herausgebildet haben. Beispielsweise könnte eine evolutionsbiologische Fragestellung lauten, warum sich die durch mehrere Metamorphosen gekennzeichnete typische Individualentwicklung eines Schmetterlings evolutionär durchgesetzt hat. Die Unterscheidung zwischen der Funktions- und der Evolutionsbiologie ist auch im Hinblick auf die biologische Erforschung des Alterns von Bedeutung, weil sie impliziert, dass die Biologie in Bezug auf das Altern ganz verschiedene Fragen stellen kann. Einerseits kann sie als Faktum voraussetzen, dass die Mitglieder bestimmter Spezies ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Regel altern7, um dann zu fragen, welche Bedingungen das Einsetzen des Alterungsprozesses auslösen oder verhindern können und gemäß welchen Regularitäten er sich vollzieht. Dies ist die funktionsbiologische Herangehensweise an das Altern. Andererseits kann die Biologie jedoch auch die grundsätzliche Frage stellen, warum die 7 | Es existieren auch Arten, bei denen kein Alterungsprozess festgestellt werden konnte und die als »potentiell unsterblich« gelten. D.h., dass sie nicht aufgrund intrinsischer Ursachen ableben. Auf diesen Aspekt wird an anderer Stelle näher eingegangen. Gems führt exemplarisch die Süßwasser-Hydra an (vgl. ebd.).
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Anlage zu altern sich überhaupt als Merkmal bestimmter Spezies ausgebildet und durchgesetzt hat. Dies ist die evolutionsbiologische Herangehensweise an das Altern. Innerhalb der Evolutionsbiologie lassen sich wiederum zwei verschiedene Erklärungsansätze unterscheiden. Auf der einen Seite finden sich Theorien, welche die Herausbildung des Phänomens »Altern« durch dem Organismus inhärente Merkmale zu erklären versuchen. So erklärt beispielsweise die Theorie der antagonistischen Pleiotropie organismusinterne evolutionäre Mechanismen des Alterns auf der Grundlage genetischer Defekte.8 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Annahme, dass der Alterungsprozess zwar durch externe Faktoren ausgelöst werden kann, dass seine Ursachen jedoch im Inneren des Organismus zu lokalisieren sind. Auf der anderen Seite gibt es eine Version der evolutionsbiologischen Erklärung des Alterns, der zufolge das Altern nicht genetisch programmiert ist und somit auch nicht durch organismusinterne Merkmale im Sinne der genetischen Disposition erklärt werden kann. Stattdessen wird angenommen, dass »die Ursachen des Alterns außerhalb des genetischen Plans, ja sogar außerhalb des Organismus und damit jenseits des Wirkungsbereichs der Evolution«9 liegen. Die Verschleißtheorie des Alterns lokalisiert die Ursachen des Alterns außerhalb des Organismus, wobei »außerhalb« hier nicht im räumlichen Sinne missverstanden werden darf. Vielmehr liegen alle Ursachen außerhalb des Organismus, die nicht in dessen genetischen Programm angelegt sind. Auch ein Prozess, der sich, 8 | »Basically, the antagonistic pleiotropy theory holds that certain genes that are highly beneficial at younger stages are detrimental later, causing degeneration. A central feature of this theory is that these genes could not be selected against because their detrimental effects are expressed postreproductively.« (L. D. Noodén/J. J. Guiamét: »Genetic Control of Senescene and Aging in Plants«, in: E. L. Schneider/J. W. Rowe [Hg.]: Handbook of Biology of Aging, 4th Edition, London 1996, S. 94-118, S. 106) 9 | R. E. Ricklefs/C. E. Finch: Altern. Evolutionsbiologie und medizinische Forschung, a.a.O., S. 160f.
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räumlich betrachtet, im Inneren des Organismus vollzieht, beispielsweise die Ansammlung toxischer Nebenprodukte des Stoffwechsels, gilt in diesem Sinne als organismusextern. Aufgrund der soeben dargestellten Pluralität der biologischen Herangehensweisen an das Altern sowie der Tatsache, dass die Biologie Alterungsprozesse auf verschiedenen, hierarchisch geordneten Ebenen beziehungsweise in Teilen des Organismus lokalisiert, ist es nicht verwunderlich, dass die moderne biologische Erforschung des Alterns eine große Vielzahl von Theorien hervorgebracht hat. Bereits vor mehr als zwanzig Jahren schätzte der Biologe Zhores A. Medvedev die Anzahl der Alternstheorien10 in der Biologie folgendermaßen ein: »There are now more than 300 theories of ageing and the number continues to grow. This is a natural result of the very rapid progress in our knowledge of biological phenomena and the application of many new approaches, methods and techniques to ageing research.«11 Im Folgenden soll versucht werden, anhand der bereits eingeführten Unterscheidung zwischen Funktions- und Evolutionsbiologie etwas Ordnung in die auf den ersten Blick unübersichtliche Menge der biologischen Begriffe des Alterns und des Alters zu brin10 | Während Medvedev in seinem 1990 veröffentlichtem Artikel den Begriff »theories of ageing« verwendet, findet sich in dem acht Jahre später veröffentlichen Beitrag von V. J. Cristofalo/M. Tresini/M. K. Francis/C. Volker in dem Handbook of Theories of Aging mit expliziter Bezugnahme auf Medvedevs Artikel folgender Vorschlag zur begrifflichen Abgrenzung von Altern im unspezifischen Sinne der Entwicklung des Organismus und Altern im engeren Sinne als letzter Abschnitt des Lebens: »With the passage of time, organisms undergo progressive physiological deterioration that results in increased vulnerability to stress and an increased probability of death. This phenomenon is commonly referred to as aging, but as aging can refer to any time-related process, a more correct term is senescence.« (V. J. Cristofalo/M. Tresini/M. K. Francis/ C. Volker: »Biological Theories of Senescence«, in: V. L. Bengston/K. W. Schaie [Hg.]: Handbook of Theories of Aging, New York 1999, S. 98-112, S. 98). 11 | Z. A. Medvedev: »An Attempt at a Rational Classification of Theories of Ageing«, in: Biological Reviews 65 (1990), S. 375-398, S. 375.
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gen. Dabei beziehe ich mich vor allem auf den Zweck der Begriffsbildung in den biologischen Alternstheorien. Hierbei lassen sich die Überlegungen des bedeutenden Evolutionsbiologen Ernst Mayr für die Strukturierung des Materials nutzbar machen. Mayr, der u.a. der Frage nach »Ursache und Wirkung in der Biologie«12 nachgeht, konstatiert, dass »das Wort Biologie zwei weitgehend getrennte Gebiete bezeichnet, die sich, was Methode, Fragestellung und Grundbegriffe betrifft, erheblich voneinander unterscheiden«13. Die hier von Mayr vorgenommene Differenzierung ist diejenige von Funktions- und Evolutionsbiologie. Mayr verdeutlicht anhand eines Beispiels die Unterschiede in den Erklärungsansätzen dieser beiden Teilgebiete. Er trägt folgende Frage an Funktions- und Evolutionsbiologen heran: »Warum begann der Baumsänger auf meinem Sommersitz in New Hampshire seinen Flug nach Süden in der Nacht des 25. August?«14 Mayr gibt exemplarisch vier gleichberechtigt nebeneinander stehende Erklärungen für diesen Sachverhalt an. Hierbei nehmen die ersten beiden Erklärungen auf die mittelbaren, die folgenden beiden Erklärungen auf die unmittelbaren Ursachen Bezug. Nach Mayr führt die erste Erklärung den Flug nach Süden auf ökologische Ursachen zurück, nämlich auf das Ernährungsverhalten des Vogels. Zieht der Baumsänger nicht in den Süden, so muss er verhungern. Ein zweiter Grund für das Verhalten des Baumsängers liegt in seiner genetischen Konstitution. Diese genetische Ursache, auf welche die zweite mögliche Erklärung rekurriert, ist das Ergebnis einer langen Auslese über viele Generationen hinweg. Neben diesen beiden mittelbaren Ursachen können auch unmittelbare Ursachen für die Erklärung des Verhaltens des Vogels herangezogen werden. Die erste Erklärung dieser Art verweist auf eine innere physiologische Ursache. Sie bezieht sich auf den Photoperiodismus, der die Zugperioden des Vogels reguliert. 12 | E. Mayr: »Ursache und Wirkung in der Biologie« in: ders., Eine neue Philosophie der Biologie, München 1991, S. 36-50. 13 | Ebd., S. 37. 14 | Ebd., S. 40.
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Die letzte von Mayr angeführte Erklärung bezieht sich auf äußere Ursachen. Im Rahmen dieser Erklärung sorgte ein Temperatursturz dafür, dass der Baumsänger, der sich bereits in einer allgemeinen Wanderbereitschaft befand, am 25. August nach Süden aufbrach. Um das Verhalten des Vogels zu erklären, geben Biologen also entweder ultimate, d.h. auf mittelbare Ursachen verweisende oder proximate, d.h. auf unmittelbare Ursachen rekurrierende Erklärungen. Dass die beiden Erklärungstypen komplementär und voneinander sachlich unabhängig sind, lässt sich durch die Verschiedenheit der Interessenschwerpunkte, welche der Betrachtung des Phänomens jeweils zugrunde gelegt werden, erklären. Antworten, die auf der Physiologie des Vogels basieren, erklären, wie der Baumsänger bestimmte, dieses Verhalten auslösende Informationen aus der Umwelt verarbeiten kann. Das heißt, dass die physiologische Grundausstattung des Tieres und bestimmte Reize, die gemäß dieser Grundausstattung verarbeitet werden können, in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden. Diese funktionsbiologische Herangehensweise beschränkt sich auf die Angabe proximater Ursachen bestimmter biotischer Prozesse. Die ultimaten Erklärungen der Evolutionsbiologie versuchen hingegen mit Blick auf die »generische Theorie«15 der natürlichen Auslese die Frage zu beantworten, warum sich der Baumsänger überhaupt Jahr für Jahr so und nicht anders verhält, d.h. warum Individuen, die zur Spezies der Baumsänger gehören, überhaupt regelmäßig den Flug gen Süden antreten, um dort zu überwintern. Das Interesse gilt hier also dem Problem, warum sich eine bestimmte Verhaltensweise im Verlauf der natürlichen Evolution herausgebildet und erhalten hat, unabhängig davon, welche Ursachen das entsprechende Verhalten im Einzelfall auslösen. 15 | Innerhalb der Evolutionsbiologie wird der Begriff der generischen Theorie der natürlichen Auslese als Sammelbegriff für alle Theorien, die auf dem Prinzip der natürlichen Auslese beruhen, verwendet, und zwar unabhängig davon, wie die Wirkungsweise dieses Prinzips im Einzelnen interpretiert wird (vgl. E. Mayr: Eine neue Philosophie der Biologie, a.a.O., S. 123).
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Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich diese beiden, bisher nur im Allgemeinen dargestellten Frage- und Erklärungstypen in der biologischen Erforschung des Phänomens »Altern« wiederfinden und in welcher Form sich diese Differenzierung von Erklärungsebenen für die semantische Analyse nutzbar machen lässt. Im nächsten Abschnitt wird zunächst dargelegt, welches Verständnis des Alterns der Funktionsbiologie zugrunde liegt. Im Anschluss daran soll analysiert werden, wie die Evolutionsbiologie den Begriff gebraucht. Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass sie jeweils zumindest implizit ein bestimmtes Vorverständnis des Alterns voraussetzen müssen, um einen Ausgangspunkt für ihre Untersuchungen zu haben.
3.3 D er B egriff des A lterns in der F unktionsbiologie Wie bereits erwähnt wurde, interessiert sich die Funktionsbiologie dafür, welche physiologischen Ursachen bestimmten biotischen Phänomenen zugrunde liegen und welche Regularitäten diese Phänomene aufweisen: »Der Funktionsbiologe befaßt sich im wesentlichen mit der Wirkungsweise und den wechselseitigen Beziehungen struktureller Elemente, von den Molekülen bis hin zu Organen und ganzen Individuen.«16 So untersuchen beispielsweise Biochemiker im Rahmen der Funktionsbiologie, welche Wirkung bestimmte Stoffe auf Prozesse ausüben, und Genetiker, wie sich das Zusammenspiel bestimmter Gene auf den Phänotyp auswirkt.17 Die Funktionsbiologie geht von einer hierarchischen Organisation des Organismus aus. Um erklären zu können, welche Ursachen bestimmte Phänomene haben, muss ein Biologe dieses Zweiges be16 | Ebd., S. 37. 17 | Dies ist eine vereinfachte Form der Darstellung. Ein Überblick zu Problemen, die sich zwischen klassischer und molekularer Genetik entsponnen haben, findet sich bei P. Beurton: »Genbegriffe«, in: U. Krohs/G. Toepfer: Philosophie der Biologie: Eine Einführung, Frankfurt a.M. 2005, S. 195-211.
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stimmen, (i) auf welcher artspezifischen Organisationsebene die Ursachen lokalisiert sind und (ii) auf welchen Organisationsebenen die Wirkungen dieser Ursachen beschrieben werden. Um hierbei zufällige von validen Ergebnissen unterscheiden zu können, versucht er, »alle Variablen auszuschalten oder unter Kontrolle zu bringen, und wiederholt seine Experimente unter konstanten oder geplant wechselnden Bedingungen so lange, bis er die Funktion des untersuchten Elementes geklärt zu haben glaubt«18. Was bisher im Allgemeinen über die Ziele und Methoden der Funktionsbiologie gesagt wurde, lässt sich auch auf den besonderen Untersuchungsgegenstand des Alterns anwenden. Theorien, die erklären, warum wir altern, indem sie beschreiben, wie bestimmte biotische Prozesse auf mehreren Ebenen eines Organismus ablaufen, gehen »davon aus, daß Alternsmechanismen jeweils auf die eine oder andere dieser hierarchischen Ebenen einwirken«19. Der Begriff »Altern« kann von funktionsbiologischen Theorien und Modellen auf jede dieser verschiedenen Ebenen des Organismus bezogen werden. Es ist daher im Rahmen dieses Forschungsbereiches beispielsweise ebenso möglich, vom Altern einer Zelle zu sprechen20 wie von der alternsbedingt veränderten Leistungsfähigkeit von Mitochondrien21 oder der unterschiedlichen Alterung von Organen. Im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Arbeit kann an dieser Stelle ein wichtiger semantischer Unterschied zwischen 18 | E. Mayr: Eine neue Philosophie der Biologie, a.a.O., S. 37. 19 | R. E. Ricklefs/C. E. Finch: Altern. Evolutionsbiologie und medizinische Forschung, a.a.O., S. 22. 20 | Vgl. u.a. L. Liu/T. A. Rando: »Aging of Stem Cells: Intrinsic Changes and Environmental Influences«, in: E. J. Masoro/St. N. Austad (Hg.): Handbook of the Biology of Aging, 7th Edition, London 2011, S. 141-161. 21 | »Mitochondrial oxidative phosphorylation, a process for usable energy production in cell, diminishes in efficiency with age […].« (V. J. Cristofalo/M. Tresini/M. K. Francis/C. Volker: »Biological Theories of Senescence« in: V. L. Bengston/K. W. Schaie [Hg.]: Handbook of Theories of Aging, New York 1999, S. 98-112)
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dem funktionsbiologischen Begriff des Alterns und dem alltagssprachlich gebräuchlichen Alternsbegriff konstatiert werden. Während der nicht-wissenschaftliche Begriff des Alterns in der Regel nur auf Organismen als Ganze bezogen wird, ist es innerhalb dieses Forschungszweiges gang und gäbe, vom Altern suborganismischer Entitäten zu sprechen. Dieser Sprachgebrauch wirft die Frage auf, ob die Verwendung des Alternsbegriffes in Bezug auf suborganismische Ebenen wörtlich zu verstehen ist oder ob es sich hier um eine abkürzende oder gar metaphorische Redeweise handelt. Ist es beispielsweise plausibel, dass ein Organ wie die Lunge genauso altert wie ein Mensch? Wenn nicht, lässt sich dann die Rede vom Altern suborganismischer Entitäten als abkürzende Redeweise auffassen, die zum Ausdruck bringen soll, dass das Altern, welches im wörtlichen Sinne immer nur ein Merkmal des Organismus als Ganzen ist, durch Prozesse verursacht wird, die sich innerhalb des Ganzen abspielen? Oder ist schließlich die Rede vom Altern suborganismischer Entitäten nur als Gleichnis dafür zu verstehen, dass auch Zellen, Mitochondrien und Organe im Verlauf der Zeit ihre Leistungsfähigkeit einbüßen? – Auf diese Fragen werde ich am Ende des Kapitels zurückkommen. Am Beginn dieses Abschnitts wurde darauf hingewiesen, dass die Funktionsbiologie zumindest implizit immer schon ein Vorverständnis des Alterns voraussetzen muss, damit sie ihren Untersuchungsgegenstand eingrenzen kann. Wie ist nun dieser zugrunde liegende Begriff des Alterns beschaffen? Diejenigen, die sich noch nie eingehend mit der Erforschung des Alterns in der Funktionsbiologie beschäftigt haben, werden wahrscheinlich annehmen, dass diesem auch technologisch hoch spezialisierten Bereich der Alternsforschung ein klar bestimmtes Explanandum zugrunde liegt. Wer die Ursachen für das Altern untersucht, sollte von einer klaren Definition des Untersuchungsgegenstandes ausgehen oder zumindest über eine Explikation desselben verfügen. Dem Anschein nach könnte ansonsten nicht überprüft werden, ob bestimmte biotische Phänomene zur Extension des Gegenstands gehören. Überraschenderweise findet sich jedoch meines Wissens innerhalb der Funk-
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tionsbiologie keine explizite Definition oder nähere Bestimmung des Begriffs »Altern«. Obwohl es keine Definition des Alterns gibt, besteht allerdings in diesem Forschungsbereich kein Dissens darüber, welche Phänomene überhaupt untersucht werden sollen. Da man von einer engen Verknüpfung zwischen den unterschiedlichen funktionsbiologischen Ansätzen ausgehen muss, stellt das Ausbleiben eines Dissenses über den Untersuchungsgegenstand ein klares Indiz dafür dar, dass es zumindest implizite Übereinstimmungen im Gebrauch des Begriffes »Altern« gibt. In Ermangelung einer expliziten Definition des Begriffs des Alterns muss das implizite Begriffsverständnis aus Aussagen allgemeinerer Art extrapoliert werden. Im Folgenden soll verdeutlicht werden, worin die Gemeinsamkeiten zwischen der Verwendung des Begriffs »Altern« mit Bezug auf die biochemische, molekulare und zellulare Ebene bestehen. Exemplarisch werden im Folgenden drei Ansätze aus der neuesten funktionsbiologischen Alternsforschung vorgestellt. Es wird sich zeigen, dass alle drei trotz unbestreitbarer signifikanter Unterschiede zwischen ihnen wesentliche Gemeinsamkeiten aufweisen: (1) »Collectively, these studies suggest that different DR [dietary restriction – C.M.] regimens evoke mostly separate pathways rather than a unique universal DR pathway. A prediction based on the relative independency of DR pathways is that different DR regimens should act additively to extend life span. […] These observations suggest that it is important to study multiple DR methods to understand the network as a whole, as a way to reveal the ensemble of players in the DR network. Understanding all the different nodes of the DR network may help identify ways to harness the full benefits of DR on life span and health span.« 22 (2) »Mitochondria are critical to the life and death of a cell. Their importance in such processes as metabolism, energy conversion, and apoptosis 22 | E. Greer/A. Brunet: »The Genetic Network of Life-Span Extension by Diatry Restriction«, in: E. J. Maso-ro/St. N. Austad (Hg.): Handbook of the Biology of Aging, 7th Edition, London 2011, S. 3-23, S. 17 [Herv. v. mir – C. M.].
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has raised them to the forefront of many physiological and pathological hypotheses. Of these hypotheses, one of the most intriguing is the free radical theory of aging […] Oxygen radicals are produced during enzymatic redox chemistry in biological systems, and this theory proposes that these radicals result in oxidative damage, which is the cause of aging.« 23 (3) »Although the loss of skeletal myocytes and cardiomyocytes takes place over the life span of an organism, the rate of this loss occurs more rapidly at the oldest ages. Therefore, to establish a definitive cause-andeffect relationship between apoptosis and loss of skeletal muscle or heart cells [Hervorh. C. M.], it will be necessary to manipulate the expression and/or function of various apoptotic genes or proteins and study their effects on muscle retention over the life span of the animal. […] As a result, additional research is needed to clarify the role of nuclear apoptosis in the pathogenesis of sarcopenia and heart failure in aging.« 24
Ohne näher auf die Einzelheiten der unterschiedlichen Theorien und Ansätze eingehen zu müssen, lässt der Vergleich der drei Zitate folgende Feststellungen zu: (i) Bei allen Autoren ist der implizit zugrunde gelegte Begriff des Alterns nicht positiv, sondern nur negativ bestimmt. Altern wird jeweils verstanden als »Verlust von …« oder »Abwesenheit von …«. (ii) Bei der Identifikation von Alterungsprozessen auf verschiedenen suborganismischen Ebenen wird vorausgesetzt, dass zwischen diesen Ebenen kausale Wechselbeziehungen bestehen. Darüber hinaus lässt sich in der Regel dem, was als Altern auf einer Ebene beschrieben wird, auf einer davon verschiedenen Ebene ein anderer Prozess als Ursache zuordnen. So wird beispiels23 | C. L. Quinlan/J. R. Treberg/M. D. Brand: »Mechanisms of Mitochondrial Free Radical Production and their Relationship to the Aging Process«, in: E. J. Masoro/St. N. Austad (Hg.): Handbook of the Biology of Aging, 7th Edition, London 2011, S. 47-61, S. 47 [Herv. v. mir – C. M.]. 24 | St. E. Alway/M. R. Morissette/P. M. Siu: »Aging and Apoptosis in Muscle«, in: E. J. Masoro/St. N. Austad (Hg.): Handbook of the Biology of Aging, 7th Edition, London 2011, S. 63-118, S. 100f. [Herv. v. mir – C. M.].
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weise in dem letzten Zitat vorausgesetzt, dass sich auf der Ebene der Muskulatur das Altern als Abnahme der Skelettmuskulatur beschreiben lässt. Zweitens geht aus dem Zitat hervor, dass sich das so bestimmte Altern auf der Ebene der Muskulatur kausal durch das Absterben von Zellen auf einer niederen Ebene erklären lässt. – Beide Merkmale des funktionsbiologischen Alternsbegriffs sollen im Folgenden eingehender erläutert werden. Die negative Bestimmung des Alternsbegriffs zeigt sich darin, dass das Altern durch Zuschreibungen von Verlust, Schädigung oder Rückbildung charakterisiert wird. Unabhängig von der Beschreibungsebene wird Altern jeweils als Reduktion im Vergleich zu einem Normalzustand aufgefasst. Beispielsweise führt gemäß dem zweiten Zitat die Zunahme von oxydativen Schadstoffen im Organismus dazu, dass bestimmte Zellen ihre Funktionsfähigkeit teilweise oder gänzlich einbüßen. Es ist bemerkenswert, dass aufgrund der rein negativen Bestimmung der funktionsbiologische Begriff des Alterns in die Nähe des Begriffs der Krankheit gerückt wird. Auch der Begriff der Krankheit wird gewöhnlich nicht positiv bestimmt, sondern nur negativ durch den Verlust bestimmter Fähigkeiten charakterisiert.25 In dem ersten der oben angeführten Zitate wird dies besonders deutlich. Dort wird das Altern, ohne dass dies ausdrücklich erwähnt würde, der Aufrechterhaltung der Gesundheit entgegengesetzt. Implizit wird das Altern somit als partieller oder vollständiger Verlust der Gesundheit aufgefasst. An dieser Stelle mag der Eindruck entstehen, dass sich aufgrund dieser Gemeinsamkeit Altern und Krankheit nicht klar voneinander abgrenzen lassen.26 Es ließe sich jedoch nachweisen, dass dieser Anschein trügerisch ist. Besonders deutlich lassen sich 25 | Vgl. zum Überblick über die neuere Debatte über den Begriff der Krankheit T. Schramme (Hg.): Krankheitstheorien, Berlin 2012, insb. die Einleitung des Herausgebers, ebd., S. 9-37. 26 | Mit diesem Thema habe ich mich ausführlich in meiner Masterarbeit beschäftigt: Das Verhältnis von Altern und Krankheit aus philosophischer Sicht, Hagen 2009.
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die Unterschiede zwischen Altern und Krankheit vor Augen führen, wenn man das Wernersche-Syndrom oder das Hutchinson-GilfordSyndrom, deren Symptome einigen typischen Merkmalen des Alterns zum Verwechseln ähnlich sind, analysiert.27 Somit kann festgehalten werden, dass, obwohl Altern und Krankheit die Gemeinsamkeit aufweisen, dass sie sich begrifflich nur negativ erfassen lassen, dennoch zwei grundsätzlich verschiedene Phänomene sind. Zum zweiten der oben genannten Merkmale: Wie oben bereits erwähnt wurde, besteht ein wesentliches Merkmal des implizit in der Funktionsbiologie vorausgesetzten Alternsbegriff darin, dass Alterungsprozesse nicht nur auf der Ebene des Organismus als Ganzen, sondern auch auf verschiedenen suborganismischen Ebenen anzutreffen sind. Darüber hinaus geht die Funktionsbiologie davon aus, dass zwischen diesen, auf verschiedenen Ebenen lokalisierten Alterungsprozessen kausale Wechselwirkungen bestehen, die nicht regellos sind, sondern bestimmten Regularitäten unterliegen. Die Möglichkeit, derartige Regularitäten festzustellen, ergibt sich aus den spezifischen Methoden der funktionsbiologischen Erforschung des Alterns. In der Regel untersuchen Funktionsbiologen Alterungsprozesse, indem sie unter Laborbedingungen bestimmte Prozesse so häufig ablaufen lassen, dass die Ergebnisse der entsprechenden Versuchsreihen im statistischen Sinne valide sind.28 27 | »Unter den abertausend erblichen Krankheiten des Menschen gibt es, mit einem Anteil von nur ungefähr sieben Prozent, die sogenannten progeroiden Erkrankungen, die Symptome bei Kindern und Heranwachsenden verursachen, wie sie sonst nur bei manchen altersbedingten pathologischen Zuständen vorkommen. Beispiele einer solchen erblichen Veranlagung sind die extrem seltenen Hutchinson-Gilford- und Werner-Progerien. […] Es gibt jedoch keine einzige progeriode Mutation, ja nicht einmal mehrere derartige Mutationen zusammengenommen, die all die Erscheinungen des Alterns hervorbringen, die man bei älteren Menschen beobachten kann.« (R. E. Ricklefs/C. E. Finch: Altern. Evolutionsbiologie und medizinische Forschung, a.a.O., S. 170) 28 | Vgl. E. J. Masoro/St. N. Austad (Hg.): Handbook of the Biology of Aging, 7th Edition, London 2011; V. L. Bengston/D. Gans/N. M. Putney/M. Silver-
3. Der Begriff des Alterns in der Biologie
Die Tatsache, dass die Feststellung kausaler Regularitäten ein wesentlicher Bestandteil der funktionsbiologischen Erforschung des Alterns ist, erklärt im Übrigen auch die enorme Vielfalt der mit dem Begriff »Altern« assoziierten und unter ihn subsumierten Phänomene innerhalb dieser Disziplin. Da die in der Funktionsbiologie zugrunde gelegte Auffassung vom Wesen kausaler Zusammenhänge unabdingbar für das Verständnis der Verwendung des Begriffs »Altern« in diesem Forschungsbereich ist, muss an dieser Stelle in der gebotenen Kürze auf dieses Verständnis der Kausalität eingegangen werden. Der auf den ersten Blick überraschend weite Umfang der Bedeutung des Begriffs »Altern« ergibt sich zum einen aus der bereits dargelegten Eigenheit, dass innerhalb der Funktionsbiologie der Begriff des Alterns nicht nur auf Organismen als Ganze, sondern auch auf suborganismische Entitäten bezogen wird. Hinzu kommt zum anderen, dass man in der Funktionsbiologie annimmt, dass kausale Einwirkungen in einem Organismus nicht nur in einer Richtung erfolgen. Die für Laien plausible Annahme, dass in einem Organismus aufgrund seiner hierarchischen Konstitution Verursachung immer nur von einer relativ niedrigeren in Richtung einer relativ höheren Ebene erfolgen könne, zum Beispiel von Zellen zu Organen, aber nicht umgekehrt, wird innerhalb der Funktionsbiologie im Allgemeinen nicht geteilt. Stattdessen geht man hier davon aus, dass zwischen den hierarchisch gegliederten Ebenen kausale Wechselbeziehungen bestehen. Ebenso wie beispielsweise Veränderungen auf der Zellebene bestimmte Prozesse auf der Ebene der Organe bewirken können, ist es möglich, dass Veränderungen, die ein Organ als Ganzes betreffen, sich kausal auf die Zellen dieses Organs auswirken. Diese Verursachungen nach unten wurden u.a. von Campbell ana-
stein (Hg.): Handbook of Theories of Aging, 2nd Edition, New York 2009; V. L. Bengston/K. W. Schaie (Hg.): Handbook of Theories of Aging, New York 1999; E. L. Schneider/J. W. Rowe (Hg.): Handbook of Biology of Aging, 4th Edition, London 1996.
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lysiert.29 Dabei hängt es jeweils davon ab, aus welcher Richtung ein bestimmter Prozess betrachtet wird, ob dieser als Ursache des Alterns, als Realisation des Alterns oder als dessen Wirkung angesehen wird. Aus diesem Grund können Funktionsbiologen mit dem Begriff »Altern« auf die Veränderungen verschiedener Entitäten – Moleküle, Zellen, Gewebe, Organe – rekurrieren. Die Analyse der einschlägigen Literatur hat ergeben, dass sich in der funktionsbiologischen Erforschung des Alterns keine explizite Definition des Alterns findet. Daher musste die Bedeutung des implizit vorausgesetzten Alternsbegriffes hier aus Beschreibungen von Mechanismen des Alterns extrapoliert werden. Dass die Funktionsbiologie des Alterns keine Definition des eigenen Explanandums aufweist, ist nur auf den ersten Blick erstaunlich. Aufgrund der Komplementarität von Funktions- und Evolutionsbiologie ist zu erwarten, dass sich die Bestimmung des in der Funktionsbiologie immer schon vorausgesetzten Alternsbegriffs in der Evolutionsbiologie finden lässt.
3.4 D er B egriff des A lterns in der E volutionsbiologie Wie schon deutlich wurde, will die evolutionsbiologische30 Alternsforschung vor allem die Frage beantworten, warum es das biotische Phänomen des Alterns überhaupt gibt, d.h. warum sich die Anlage zu altern im Verlauf der Evolution erhalten hat. Sie kann dabei beispielsweise erforschen, warum unterschiedliche Arten verschieden 29 | Vgl. D. T. Campbell: »›Downward causation‹ in hierachically organised biological systems.«, in: F. J. Ayala/T. Dobzhansky (Hg.): Studies in the philosophy of biology. Reduction and related problems, London/Basingstoke 1974, S. 179-186. 30 | Für die Gegenstandskonstitution und die Begründungskonzepte hinsichtlich evolutionsbiologischer Theoriebildung siehe u.a. M. Gutmann: »Begründungsstrukturen von Evolutionstheorien«, in: U. Krohs/G. Toepfer: Philosophie der Biologie, Frankfurt a.M. 2005, S. 249-266.
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schnell altern, oder sie fragt danach, welchen Sinn dieser Vorgang hat. Dieser Zweig der Biologie profitiert von den Daten und Forschungsergebnissen der Funktionsbiologie, fokussiert dabei jedoch nicht nur einzelne Bestandteile des Organismus.31 Evolutionsbiologen versuchen zu erklären, worin die evolutionären Ursachen des Alterns bestehen. Dabei fällt auf, dass die theoretischen Ansätze innerhalb der evolutionsbiologischen Erklärung des Alterns, anders als man erwarten könnte, ausgesprochen heterogen sind und dass sie einander in Bezug auf »Ausgang und Folgen«32 teilweise sogar widersprechen. Das Spektrum neuer Ansätze wird durch Theorien ergänzt, die zwischenzeitlich als längst wiederlegt und überholt gegolten hatten, die jedoch aufgrund der Erhebung neuer Daten in der jüngeren Vergangenheit wiederentdeckt und modifiziert worden sind. So wird heute beispielsweise die auf August Weismann zurückgehende These, dass »die jungen und frischen Individuen sich besser entfalten können und nicht mit ihrer Vorgänger-Generation um Lebensraum und Ressourcen im Wettbewerb stehen«33, von Joshua Mitteldorf34 in einer modifizierten Variante – »ageing is affirmatively selected for its contribution to demographic homeostasis«35 – aufgegriffen, obgleich die Weismann’sche These schon 1977 mit dem Argument der Zirkularität von Kirkwood wie folgt zurückgewiesen wurde: 31 | Bei der Beantwortung der Frage, warum Organismen altern, können zwei Ansätze unterschieden werden: der mikroevolutionsbiologische und der makroevolutionsbiologische. Eine solide Übersicht dieser beiden Teilbereiche der Evolutionsbiologie findet sich u.a. in E. Sober: Philosophy of Biology, Boulder/San Francisco 1993. 32 | M. Gutmann: »Begründungsstrukturen von Evolutionstheorien«, in: U. Krohs/G. Toepfer (Hg.): Philosophie der Biologie. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 2005, S. 249-266, S. 250. 33 | S. Knell/M. Weber: Menschliches Leben, Berlin/New York 2009, S. 59. 34 | Vgl. J. Mitteldorf: »Ageing selected for its own sake«, in: Evolutionary Ecology Research 6 (2004), S. 937-953. 35 | http://arxiv.org/ftp/q-bio/papers/0602/0602020.pdf
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»The question of why we age and most other higher animals age is not trivial since many organisms, notably higher plants, live and propagate indefinitely. Perhaps because we are so familiar with ageing it is dangerously easy to fall into circular argument such as that ageing is a mechanism for riding a population of old and worn-out individuals who would otherwise compete for resources with younger and fitter ones. This makes sense if, for example, we assume individuals to have a defined reproductive lifespan, but is circular since the cessation of reproduction is itself a phenomenon of ageing.« 36
Mitteldorf, der den Alternsprozess als direkte Adaptation betrachtet, kritisiert seinerseits explizit eine andere, 1957 von dem Evolutionsbiologen George C. Williams37 formulierte Theorie.38 Williams39 beschreibt den Alternsprozess in seiner Theorie der antagonistischen Pleiotropie als organismusinternes Merkmal. Im Gegensatz zum Gedanken der direkten Adaptation von Mitteldorf wird der Alternsprozess gemäß der Lehre von der antagonistischen Pleiotropie durch einen Effekt hervorgerufen, der zu einem früheren Zeitpunkt eine positive Wirkung auf das Überleben des Organismus besitzt. Bei der Beantwortung der Frage, warum wir altern, verweist Williams 36 | T. B. L. Kirkwood: »Evolution of ageing«, in: Nature 270 (1977), S. 301304, S. 301. 37 | G. C. Williams: »Pleiotropy, Natural Selection, and the Evolution of Senescence«, in: Evolution 11 (1957), S. 398-411. 38 | »Population genetic theory was established as the canonical quantitative realization of Darwinian dynamics. Despite a few dissenting voices […], a theoretical consensus emerged that the dominant operation of natural selection was individual-by-individual and gene-by-gene. Within this framework, it would be impossible for ageing to evolve as an adaption.« (J. Mitteldorf: »Ageing selected for its own sake«, a.a.O., S. 937) 39 | M. R. Rose weist darauf hin, dass erstmals der Immunologe Peter Medawar in zwei von ihm 1946 und 1952 veröffentlichten Artikeln davon sprach, dass die Kraft der natürlichen Selektion mit zunehmendem Alter geschwächt würde (vgl. M. R. Rose: The Long Tomorrow. How Advances in Evolutionary Biology Can Help Us Postpone Aging, Oxford 2005, S. 25f).
3. Der Begriff des Alterns in der Biologie
auf Gene, die sich zu verschiedenen Zeitpunkten gegensätzlich auf den gesamten Organismus auswirkenden: »Basically, the antagonistic pleiotropy theory holds that certain genes that are highly beneficial at younger stages are detrimental later, causing degeneration. A central feature of this theory is that these genes could not be selected against because their detrimental effects are expressed post-reprodictively.«40 Diese Theorie basiert auf zwei Prämissen. Erstens ist der Alternsprozess auf genetische Dispositionen zurückführbar: Es können Gene identifiziert werden, die in einer bestimmten Lebensphase positive und in einer anderen negative Auswirkungen auf den Organismus haben. Zweitens beruht diese Theorie auf der Annahme, dass mit zunehmendem Alter der natürliche Selektionsdruck abnimmt. Diese Abnahme ist dafür verantwortlich, dass diese Gene nicht selektiert werden: »Medawar (1952) und Williams (1957) argued that species might harbor deleterious genes whose time of onset has been delayed until the postreproductive period, when they would have little effect on subsequent generations. They further suggested that there may, in fact, be a selective pressure to maintain some of these genes, for example, if the genes have beneficial effects early in life and enhance reproduction, an idea known as antagonistic pleiotropy.« 41
Ein gänzlich anderer Ansatz als derjenige der direkten Adaptation oder der der antagonistischen Pleiotropie findet sich in der Verschleißtheorie.42 Dieser Theorie gemäß ist der Alternsprozess nicht 40 | L. D. Noodén/J. J. Guiamét: »Genetic Control of Senescence and Aging in Plants«, a.a.O., S. 106. 41 | Vgl. V. J. Cristofalo/M. Tresini/M. K. Francis/C. Volker: »Biological Theories of Senescence«, in: V. L. Bengston/K. W. Schaie (Hg.): Handbook of Theories of Aging, New York 1999, S. 98-112, S. 100f. 42 | Einen interessanten Überblick bietet hier beispielsweise Z. A. Medvedev: »An Attempt at a Rational Classification of Theories of Ageing«, in: Biological Reviews 65 (1990), S. 375-398.
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auf ein organismusinhärentes Merkmal zurückführbar, sondern ist »eine unausweichliche Folge der Lebensprozesse selbst«43. Die Ursachen des Alternsprozesses liegen gemäß diesem Ansatz außerhalb des Organismus. Die Frage, warum Organismen altern, wird durch Rekurs auf Verschleiß und Abnutzung beantwortet: »Aging may be an inevitable consequence of life itself, reflecting wear and tear on the organism, the accumulation of toxic metabolic byproducts, damage to proteins and DNA from ultraviolet radiation and toxins in food or air, and so on. In this case, the causes of aging lie outside the genetic blueprint, even outside the body itself, and are beyond the reach of evolution.« 44
Wenn dieser Ansatz richtig ist, dann fällt m.E. die Untersuchung des Alternsprozesses nur insofern in den Bereich der evolutionsbiologischen Forschung, als nachgewiesen werden muss, dass das Altern nicht durch organismusinterne Prozesse hervorgerufen wird. Wie aus der Zusammenfassung der drei Erklärungsansätze des Alterns hervorgeht, kann ein wichtiger Unterschied innerhalb der evolutionsbiologischen Theorien des Alterns festgehalten werden. Anders als die Lehre von der direkten Adaptation und die Theorie der antagonistischen Pleiotropie, die übereinstimmend behaupten, dass das Altern (i) ein Produkt der Evolution ist und (ii) durch organismusinterne Ursachen ausgelöst wird, geht die Verschleißtheorie davon aus, dass (i) das Altern nicht als Ergebnis der evolutionären Auslese angesehen werden darf und (ii) der Alternsprozess durch organismusexterne Ursachen hervorgerufen wird. Demnach lassen sich innerhalb der evolutionsbiologischen Erklärungen des Alterns in Bezug auf das Verhältnis zwischen Evolution und Altern zwei Typen unterscheiden: Internalistischen Theorien zufolge ist das Altern 43 | R. Ricklefs/C. E. Finch: Altern. Evolutionsbiologie und medizinische Forschung, a.a.O., S. 160. 44 | R. E. Ricklefs/C. E. Finch: Aging: A Natural History, New York 1995, S. 142. [Herv. v. mir – C.M.].
3. Der Begriff des Alterns in der Biologie
aus der Evolution hervorgegangen und wird durch organismusinterne Mechanismen ausgelöst. Gemäß den externalistischen Theorien handelt es sich beim Altern hingegen nicht um ein Produkt der Evolution, sondern vielmehr um einen Verfallsprozess, der durch organismusexterne Faktoren verursacht wird.45 Während in Bezug auf die eben genannte Unterscheidung die Theorie der direkten Adaptation und die Lehre von der antagonistischen Pleiotropie unter einen Typ subsumiert und der Verschleißtheorie gegenübergestellt werden können, ergibt sich eine andere Zuordnung der drei hier vorgestellten Theorien, wenn man von der bereits erwähnten Unterscheidung zwischen mikroevolutionsbiologischen und makroevolutionsbiologischen Erklärungsansätzen ausgeht. In diesem Fall steht die Theorie der direkten Adaptation als Vertreterin der makrobiologischen Lehren sowohl der These der antagonistischen Pleiotropie als auch der Verschleißtheorie, die in Bezug auf dieses Kriterium demselben Typ angehören, gegenüber. Anders als in der Funktionsbiologie, in der sich, wie oben dargestellt wurde, keine explizite Definition des Alternsbegriffs findet, lassen sich innerhalb der evolutionsbiologischen Theorien des Alterns ausdrückliche und positive begriffliche Bestimmungen des Untersuchungsgegenstandes ausmachen. Eine innerhalb der evolutionsbiologischen Erforschung des Alterns weitgehend anerkannte Prämisse wird von David Gems folgendermaßen zusammengefasst: »Es gibt viele verschiedene Theorien darüber, was sich genau während des Alterns abspielt und was letztlich die zugrunde liegenden Ursachen sind […]. Trotzdem gibt es eine gemeinsame Prämisse, die besagt, dass das Altern auf die Anhäufung von Schäden an Proteinen, Lipiden und DNA eines Organismus zurückzuführen ist. Es scheint, als ob die molekulare Maschinerie des Lebens sich abnützen würde. Die Zunahme von solchen Schäden
45 | Die terminologische Unterscheidung zwischen internalistischen und externalistischen Erklärungen des Alterns stammt von mir.
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mit zunehmendem Alter ist gut dokumentiert und wurde bei vielen Organismen, von Hefezellen bis hin zum Menschen, beobachtet.« 46
Obwohl Gems an der zitierten Stelle nicht den Anspruch erhebt, den Begriff des Alterns vollständig zu explizieren oder gar zu definieren, lassen sich diesem Zitat m.E. vier wichtige Aussagen über das evolutionsbiologische Verständnis des Alterns entnehmen. (i) Als impliziter Vergleichsmaßstab für die Identifikation alternder Organismen wird das durchschnittliche, leistungsfähige, ausgereifte Mitglied einer Spezies zugrunde gelegt. (ii) Das Altern wird als ein Merkmal von Organismen als Ganzen aufgefasst. Anders als in der Funktionsbiologie (s.o.) wird das Prädikat »altern« nicht auf suborganismische Entitäten bezogen. (iii) Der Prozess des Alterns wird begrifflich bestimmt als eine Reihe von Funktionsverlusten, die durch Schädigungen innerhalb des Organismus verursacht werden. (iv) Aufgrund der Tatsache, dass der Autor so unterschiedliche Organismen wie Hefezellen und Menschen als Beispiele anführt, darf man zumindest vermuten, dass seiner Meinung nach die mikroevolutionsbiologische Theorie des Alterns davon ausgeht, dass es Merkmale des Alterns gibt, die sich übereinstimmend bei zahlreichen Spezies feststellen lassen. Während bei Gems und anderen Autoren die Definition des Begriffs »Altern« aus Aussagen über dessen Ursachen extrapoliert werden muss, finden sich innerhalb der evolutionsbiologischen Theorien des Alterns auch explizite begriffliche Bestimmungen des Alterns. Einer einflussreichen Auffassung zufolge muss man bei der Begriffsbestimmung von der Frage ausgehen, welche Kriterien »erfüllt sein müssen, damit ein Phänomen zum Alterungsprozess sowohl einfacher als auch komplexer Lebewesen beitragen kann«47. Der Prozess muss: 46 | D Gems.: »Eine Revolution des Alterns. Die neue Biogerontologie und ihre Implikationen«, übers. v. M. Weber, a.a.O., S. 25-45. 47 | A. Viidik: »Was ist Altern – Eine allgemeine Sicht der Frage mit Betonung biologischer Aspekte«, in: F. Böhmer (Hg.): Was ist Altern? Eine Analyse aus interdisziplinärer Perspektive, Frankfurt a.M. 2000, S. 17-31, S. 23f.
3. Der Begriff des Alterns in der Biologie
»1) universell sein – jedes Mitglied der Spezies muß es unter der Voraussetzung, es lebt lange genug, aufweisen, 2) intrinsisch sein – es darf nicht durch externe Faktoren beeinflußt sein, was schwierig ist, denn es ist alles immer unter dem Einfluß externer Faktoren, 3) progressiv sein – es müssen langsame [d.h. langsam voranschreitende – C.M.] Veränderungen sein, nicht plötzliche Ereignisse, 4) schädlich sein – es muss die Funktionalität und/oder das Überleben verringern.« 48
Diese vier Kriterien bestimmen positiv, wie sich Alternsprozesse von anderen Prozessen abgrenzen lassen. Jede der genannten Bedingungen ist notwendig, keine ist für sich genommen hinreichend dafür, einen Alterungsprozess als solchen zu identifizieren. Das erste Kriterium besagt, dass nur diejenigen im Verlauf der Zeit eintretenden Veränderungen zum Altern gehören, die sich nicht nur bei einzelnen Individuen, sondern bei nahezu allen Mitgliedern einer Spezies feststellen lassen – vorausgesetzt, dass sie lang genug leben. Damit wird nicht behauptet, dass es in dem Sinne universelle Merkmale des Alterns gibt, die sich ab einem bestimmten Zeitpunkt bei Mitgliedern aller Arten beobachten lassen. Die Universalität bezieht sich in diesem Zusammenhang nur auf die Gesamtheit aller Individuen einer Spezies. Das zweite Kriterium beschreibt den Prozess als einen, der sich von Auswirkungen verschiedener Umweltfaktoren auf Organismen unterscheiden lässt.49 In Anbetracht der früheren Ausführungen über die Verschleißtheorie versteht 48 | Ebd. 49 | »It is included as an additional criterion because certain age changes may be universal but still be a consequence of environmental effects on the living system.« (B. L. Strehler: Time, Cells, and Aging, New York 1962, S. 14)
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es sich von selbst, dass diese evolutionsbiologische Erklärung des Alterns die Einzige ist, der zufolge die interne Verursachung kein Kriterium des Alterns ist. Die dritte Bedingung grenzt Veränderungen, die Organismen im Verlaufe ihrer Existenz aufgrund der fortschreitenden Lebensdauer durchlaufen, von krankheitsbedingten Veränderungen ab: »Many age-correlated changes occur suddenly. Among these are the changes which follow the occurrence of a coronary artery occlusion, a cerebrovascular accident, or the initiation of a tumor. These three events, which incidentally account for the majority of deaths in the older age group in Western countries, are not themselves considered to be as part of the aging process even though they might occur universally.« 50
Das vierte Kriterium ist von Bedeutung, weil es die Unterscheidung zwischen Reifungsprozessen, in deren Verlauf Organismen an Leistungsfähigkeit zunehmen, und Alternsprozessen erlaubt. Altern umfasst immer Schädigungen oder Schwächungen des Organismus, beispielsweise die Abnahme der Reproduktionsfähigkeit, die Anfälligkeit für Krankheiten und die Zunahme der Mortalität. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nach herrschender Meinung gemäß der Evolutionstheorie Altern als ein Prozess beschrieben wird, der vier notwendige Merkmale aufweist. Er ist universell mit Bezug auf eine Spezies, intrinsisch verursacht, progredient und bewirkt Schädigungen. Mit Ausnahme des dritten Merkmals, der Progredienz, lassen sich gegen alle anderen genannten Kriterien beziehungsweise Konstitutiva des Alterns ernst zu nehmende Einwände vorbringen. Wie bereits bemerkt wurde, bestreitet die Verschleißtheorie die Richtigkeit des zweiten Kriteriums, der internen Verursachung (s.o.). Gegen das Merkmal der speziesbezogenen Universalität lassen sich Forschungsergebnisse über die Variabilität des Alterns innerhalb einzelner Arten anführen. Untersuchungen haben ergeben, dass 50 | Ebd.
3. Der Begriff des Alterns in der Biologie
in bestimmten Fällen innerhalb einer Gattung eine bemerkenswert hohe phänotypische Plastizität zu verzeichnen ist. Wie oben schon einmal erwähnt wurde, kann die Lebensdauer genetisch identischer Fadenwürmer so stark variieren, dass einige Populationen bis zu 80 Mal länger leben als andere.51 Diese empirische Feststellung für sich allein genommen spricht selbstredend noch nicht gegen die Richtigkeit des ersten Kriteriums. Wenn man sie allerdings mit der aus dem vierten Kriterium folgenden Annahme verbindet, dass mit fortschreitendem Alter die Mortalität zunimmt, dann ergibt sich ein starker Einwand gegen die Gültigkeit des ersten Kriteriums, weil in diesem Fall aus der Tatsache, dass in einigen Populationen die Mortalität erst zu einem bedeutend späteren Zeitpunkt signifikant ansteigt als in anderen genetisch identischen Populationen, geschlussfolgert werden kann, dass bei jenen auch der Alterungsprozess erst bedeutend später einsetzt als bei diesen. Angesichts neuester Forschungsergebnisse erscheint auch das vierte Kriterium des Alterns problematisch. Die Idee, dass das Altern notwendigerweise mit der Schädigung oder der Schwächung der betroffenen Individuen verbunden ist, wird durch eine neue Vergleichsstudie von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts zumindest in Frage gestellt. Sie verglichen den Alternsprozess bei 46 Arten anhand von Parametern wie Fertilität und Mortalität. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Selbstverständlichkeit, mit der universelle Parameter für Alternsprozesse angenommen, aufgestellt und für Vergleiche herangezogen werden, überdacht werden sollte: »For most species […] the age pattern of mortality is derived from data on ages rather than stages. For some of these species, mortality levels off at advanced ages (for example, for the collared flycatcher, […]) and in others remain constant at all adult ages (for example, for Hydra magnipapillata). For hydra in the laboratory, this risk is so
51 | Vgl. D. Gems: »Eine Revolution des Alterns. Die neue Biogerontologie und ihre Implikationen«, übers. v. M. Weber, a.a.O., S. 25-45, S. 28.
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small that we estimate that 5 % of adults would still be alive after 1.400 years under those controlled conditions.«52 Während sich die Sterbewahrscheinlichkeit also bei einigen Arten mit steigendem chronologischem Alter erhöht, trifft dies auf andere Arten wie die Süßwasserhydra oder den Einsiedlerkrebs ebenso wenig zu wie auf die Kalifornische Gopherschildkröte. Während die Mortalität der Süßwasserhydra im Verlauf des chronologischen Lebens konstant bleibt, sinkt sie sogar bei der kalifornischen Gopherschildkröte. Das bedeutet, das bei diesen beiden Arten, statistisch betrachtet, die Fähigkeit zu überleben konstant bleibt oder steigt. Dies spricht zumindest prima facie gegen die Notwendigkeit des vierten Kriteriums des Alterns. Allerdings muss man sich vor einer übereilten und falschen Interpretation dieses Forschungsergebnisses hüten. Aus der Tatsache, dass die Mortalität der genannten Spezies nicht sinkt, folgt durchaus nicht, dass die Hydra oder die Gopherschildkröte unsterblich sind. Beide Arten bleiben unabhängig von ihrem chronologischen Alter immer tötbar. Sie verfügen jedoch im Gegensatz zu anderen Arten über eine zeitlich versetzte und abgeschwächte Ausprägung der Alterssterblichkeit.53 Auch die zweite Annahme, dass eine Korrelation zwischen steigendem chronologischem Alter und der Abnahme der Fruchtbarkeit besteht, wird durch die genannte Studie in Frage gestellt: »The fertility trajectories show considerable variation. For humans the trajectories are bell-shaped and concentrated at younger adult ages, but other shapes are apparent […]. The patterns for killer whales […] are also approximately bell-shaped but spread over more of the course of life. Other species 52 | O. R. Jones et al.: »Diversity of ageing across the tree of life«, Nature 505 (2013), S. 169-173, S. 171. 53 | Vgl. zu Unterscheidung zwischen »Tötbarkeit« und »Alterssterblichkeit« H. Wittwer: »Risiken und Nebenwirkungen der Lebensverlängerung. Eine Antwort auf die wissenschaftliche Preisfrage ›Welt ohne Tod – Hoffnung oder Schreckensvision?‹«, in: H.-J. Höhn (Hg.): Welt ohne Tod – Hoffnung oder Schreckensvision?, Göttingen 2004, S. 19-58, S. 22f.
3. Der Begriff des Alterns in der Biologie
show trajectories of gradually increasing fertility […], asymptotic fertility […], or constant fertility[…].« 54
Während beim Menschen die Phase, in der Frauen reproduktionsfähig sind, im Verhältnis zur durchschnittlichen Lebenserwartung kurz ist und danach eine lange Lebensphase folgt, in welcher sich Frauen nicht mehr fortpflanzen können, gibt es andere Arten wie u.a. den Steppenpavian, deren Fertilität (ab Ausprägung des Merkmals) im chronologischen Verlauf nicht abnimmt, sondern konstant bleibt. Bei anderen Spezies, wie etwa beim Alpensegler, kann sogar ein Anstieg der Fruchtbarkeit im Laufe des chronologischen Alternsprozesses konstatiert werden. Die hier in aller Kürze referierten Ergebnisse der neueren Forschung sprechen nicht nur gegen die Annahme, dass die Schädigung beziehungsweise die Schwächung des Organismus ein notwendiges Merkmal des Alterns ist. Darüber hinaus sind sie von Bedeutung im Hinblick auf die Frage, wie Alternsprozesse verschiedener Arten, deren durchschnittliche Lebenserwartung sich signifikant unterscheidet, miteinander verglichen werden können. Wie lässt sich etwa das Altern von Eintagsfliegen, die, wie ihr Name schon sagt, nur wenige Stunden oder Tage leben, mit dem Alterungsprozess von Riesenschildkröten, die mehrere hundert Jahre alt werden können, sinnvollerweise vergleichen? Um Vergleiche zwischen verschiedenen Gattungen zu ermöglichen, also das Altern als Teil des Lebenszyklus des Organismus einer Art mit dem Altern einer anderen Art zu vergleichen, werden Parameter benötigt. Gemäß der lange Zeit innerhalb der Evolutionsbiologie herrschenden Meinung eignen sich, dem vierten Kriterium des Alterns entsprechend, die Abnahme der Fertilität und die Zunahme der Sterbewahrscheinlichkeit als Parameter für speziesübergreifende Vergleiche in Bezug auf das Altern: »Ageing is usually defined as the progressive loss of function accompanied by decreasing 54 | O. R. Jones et al.: »Diversity of ageing across the tree of life«, in: Nature 505 (2013), S. 169–173, S. 171.
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fertility and increasing mortality with advancing age.«55 Diese beiden Parameter, nachlassende Reprodukionsfähigkeit und Zunahme der Sterbewahrscheinlichkeit im chronologischen Lebensverlauf, sollen also einen Vergleich des Alternsprozesses zwischen verschiedenen Arten ermöglichen. Diesem Vergleich liegt jedoch implizit die Annahme zugrunde, dass das Altern bei allen Arten notwendigerweise eine Schädigung beziehungsweise Schwächung der betroffenen Individuen beinhaltet. Angesichts der oben referierten Ergebnisse der neuesten Forschung erscheint diese Annahme jedoch als ungerechtfertigt. Wenn sich dieser Verdacht bestätigen sollte, dann müsste man nach anderen geeigneten Parametern für speziesübergreifende Alternsvergleiche suchen.
3.5 A uswertung und E inordnung der E rgebnisse In diesem Abschnitt werden die Ergebnisse der Analyse der Alternsbegriffe in der funktions- und evolutionsbiologischen Alternsforschung zusammengefasst. Dabei wird auch auf die im ersten Kapitel vorgestellte Typologie Bezug genommen. Wie gezeigt wurde, lassen sich in der biologischen Alternsforschung zwei komplementäre Bereiche voneinander unterscheiden. Dabei kann konstatiert werden, dass die funktionsbiologische Alternsforschung implizit einen Begriff des Alterns voraussetzt, der sich explizit in der evolutionsbiologischen Alternsforschung findet. Angesichts dieser Tatsache ist zu vermuten, dass in beiden Teilbereichen Begriffe des Alterns verwendet werden, die zumindest im Hinblick auf ihre wesentlichen Elemente übereinstimmen. Das Ziel der funktionsbiologischen Alternsforschung besteht darin, proximate Ursachen des Alternsprozesses zu identifizieren. Dabei fokussiert dieser Forschungszweig unterschiedliche Bezugsebenen und bezieht den Begriff »Altern« auf diese Bezugs55 | T. B. Kirkwood/St. N. Austad: »Why do we age?«, in: Nature 408, (2000), S. 233-238, S. 233.
3. Der Begriff des Alterns in der Biologie
ebenen. D.h., dass es in der funktionsbiologischen Alternsforschung ebenso gut möglich ist, vom Altern eines Mitochondriums zu sprechen wie vom Altern von Gewebestrukturen. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass in der Funktionsbiologie der Begriff des Alterns einerseits im wörtlichen Sinne verwendet wird, nämlich mit Bezug auf Organismen als Ganze, dass sich aber daneben auch noch eine übertragene Verwendung dieses Begriffs konstatieren lässt, und zwar im Hinblick auf suborganismische Ebenen. Dieser Begriffsgebrauch legt die Vermutung nahe, dass im Rahmen der funktionsbiologischen Forschung der Begriff »Altern« mit mindestens zwei Bedeutungen verwendet wird: Wie es scheint, bezeichnet er erstens den Begriff des Alterns selbst und zweitens die Gesamtheit der Ursachen dieses Prozesses, die auf den verschiedenen Ebenen innerhalb des Organismus wirksam sind. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die mit dem Altern verbundenen prädikativen Zuschreibungen nicht neutral und somit nicht rein deskriptiv sind. Vielmehr sind diese durch den Gebrauch von Begriffen wie »Verlust« oder »Schädlichkeit« häufig negativ konnotiert. Die evolutionsbiologische Alternsforschung sucht nach ultimaten Ursachen des Alternsprozesses. Obwohl dieser Forschungszweig verschiedene Ebenen des Organismus für die Klärung der Frage, warum Organismen altern, avisiert, ist der Bezugsgegenstand der evolutionsbiologischen Alternsforschung stets der Organismus als Ganzer. Gemäß der Evolutionsbiologie können im wörtlichen Sinne nur Lebewesen als Ganze altern, nicht aber Zellen, Gewebe oder Organe. Was den Begriff des Alterns betrifft, so wird der Alternsprozess anhand von vier Kriterien bestimmt: Universalität innerhalb einer Art, Progredienz, intrinsische Verursachung und Schädlichkeit. Allerdings sind drei dieser vorgeschlagenen Kriterien ernst zu nehmenden Einwänden ausgesetzt. Das einzige unstrittige Kriterium ist das der Progredienz. Da auch die Evolutionsbiologie im Allgemeinen einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Altern und Schwächung beziehungsweise Verlust an Leistungsfähigkeit annimmt, kann auch mit Bezug auf diesen Zweig
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der biologischen Alternsforschung eine Tendenz zum evaluativen Gebrauch des Begriffs Altern festgestellt werden. Im Gegensatz zu vielen anderen Alternsbegriffen ist der biologische nicht auf den Menschen beschränkt. Dieser Begriff ist (i) naturalistisch, weil er sich ausschließlich auf natürliche Entitäten bezieht. Er ist (ii) objektivistisch, denn das subjektive Erleben des Alterns wird bei der biologischen Untersuchung dieses Phänomens absichtlich methodisch ausgeklammert. Darüber hinaus ist der biologische Begriff des Alterns (iii) deskriptiv und evaluativ, weil die Beschreibungen und Erklärungen der mit dem Altern einhergehenden Veränderungen am Maßstab der voll ausgebildeten Funktionsfähigkeit von Organismen oder Teilen von Organismen gemessen und daher als Verluste beurteilt werden. Schließlich weist dieser Begriff (iv) die Eigenheit auf, dass er nicht nur auf Organismen als Ganze (Evolutionsbiologie), sondern auch auf suborganismische Ebenen (Funktionsbiologie) angewandt wird.
4. Der Begriff des Alterns in der Soziologie
4.1 E inführung In diesem Kapitel werden die Begriffe des Alters und des Alterns in der soziologischen Forschung untersucht. In der Gegenwart ist die Vielzahl der soziologischen Theorien des Alters und des Alterns kaum noch überschaubar. Diese Theorien unterscheiden sich nicht nur im Hinblick auf ihre Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand, d.h. methodologisch, sondern auch in Bezug auf die Fragen, die sie zu beantworten suchen, und die Thesen, die in ihnen vertreten werden.1 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann es nicht darum gehen, diese Mannigfaltigkeit der soziologischen 1 | Vgl. zum Überblick etwa H. Künemund/K. R. Schroeter: »Alterssoziologie«, in: G. Endruweit u.a. (Hg.): Wörterbuch der Soziologie, 3., völlig überarb. Aufl., Konstanz/München 2014; R. A. Settersten/J. L. Angel (Hg.): Handbook of Sociology of Aging, New York u.a. 2011, S. 16-22; V. L. Bengston u.a. (Hg.): Handbook of Theories of Aging, 2nd Edition, New York 2009, »Part V: Social Science Perspectives on Theories of Aging«; R. Schulz/L. S. Noelker/ K. Rockwood/R. L. Sprott (Hg.): The Encyclopedia of Aging, 4th Edition, New York 2006, insbes. Vol. II, S. 1098-1125; V. L. Bengtson/K. W. Schaie (Hg.): Handbook of Theories of Aging, New York 1999, »Section IV: Social Science Concepts and Theories of Aging«; H.-W. Prahl/K. R. Schroeter: Soziologie des Alterns. Eine Einführung, Paderborn u.a. 1996; R. H. Binstock/L.K. George (Hg.): Handbook of Aging and the Social Sciences, 4th Edition, San Diego u.a. 1995.
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Theorien des Alters und Alterns auch nur überblicksweise darzustellen. Vielmehr besteht das Ziel dieses Kapitels darin, die in den Sozialwissenschaften gebräuchlichen Begriffe »Alter« und »Altern« zu analysieren. Die entsprechenden Theorien werden nur insoweit berücksichtigt, wie es für die semantische Analyse notwendig ist. Vorwegnehmend soll auf eine bemerkenswerte Tatsache hingewiesen werden: Die Sichtung der einschlägigen Literatur hat ergeben, dass sich in der Alterssoziologie in aller Regel keine explizite Definition der Begriffe »Alter« und »Altern« findet. Diese erstaunliche Tatsache lässt sich am besten durch die Hypothese erklären, dass in der soziologischen Alternsforschung ein zumindest scheinbares Einvernehmen über das begriffliche Abgrenzungskriterium des Alters besteht. Kein Soziologe, der sich, aus welcher Perspektive auch immer, mit Alter und Altern beschäftigt, wird beispielsweise Menschen im Alter von fünf bis fünfundzwanzig Jahren im Hinblick auf seine Theoriebildung als Bezugsgegenstand verstehen. Deshalb gehe ich im Folgenden von der Erklärungshypothese aus, dass sich die Abwesenheit einer expliziten Definition der Begriffe des Alters und des Alterns im Alter durch ein stillschweigendes Einvernehmen über deren Minimalbedeutung erklären lässt und dass daher der soziologische Begriff des Alters nur implizit aus Theorien erschlossen werden kann. Eine weitere erwähnenswerte Eigenheit der soziologischen Beschäftigung mit Alter und Altern im Alter besteht darin, dass diese – ob gewollt oder ungewollt – häufig im Hinblick auf die Lösung politischer Probleme erfolgt. Angesichts des demographischen Wandels, der von manchen beklagten »Überalterung der Gesellschaft« und des Wandels der Altersbilder in der Gegenwart werden entweder von den Soziologen selbst oder von der Öffentlichkeit und der Politik bestimmte Erwartungen an die praktische Verwertbarkeit der soziologischen Erforschung des Alters und des Alterns im Alter gestellt. Hans-Werner Prahl und Klaus R. Schroeter beispielsweise behaupten in ihrem Werk Soziologie des Alterns von 1996: »Das Thema ›Altern‹ rückt immer stärker in den politischen Raum vor, es wird zum zentralen Thema der Zukunft hochstilisiert. In der Bun-
4. Der Begriff des Alterns in der Soziologie
desrepublik Deutschland wurde dies spätestens seit der Schaffung eines Ministeriums für Familie und Senioren im Jahre 1990 offiziell besiegelt.«2 Als Beispiele für Politikfelder, die als »›altersrelevant‹ zu bezeichnen sind«3, zählen die beiden Autoren u.a. folgende Bereiche auf: Gesundheitspolitik, Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Wohnungspolitik sowie Verkehrspolitik.4 Aufgrund der soeben dargestellten Wechselwirkung zwischen wissenschaftlicher Analyse und politischem Entscheidungs- und Handlungsdruck sowie den stark ausgeprägten gesellschaftlichen und politischen Interessen an den Resultaten der soziologischen Erforschung des Alterns darf man davon ausgehen, dass in diesem Bereich der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Altern und Alter die Begriffsbildung stärker als in anderen Disziplinen von praktischen Interessen geprägt oder gar geleitet sein wird.5 Zurück zur Analyse des Altersbegriffs in der Soziologie: Im Folgenden sollen zunächst die Besonderheit der soziologischen Herangehensweise an das Thema sowie deren Auswirkungen auf den Begriff des Alter(n)s dargestellt werden (4.2). Danach werden einige einflussreiche Forschungsansätze innerhalb der Alterssoziologie vorgestellt sowie einige repräsentative Verwendungen des Begriffs innerhalb der Soziologie analysiert (4.3). Abschließend sollen die Ergebnisse des Kapitels zusammengefasst und in die in Kapitel 1 entwickelte Typologie eingeordnet werden (4.4).
2 | H.-W. Prahl/K. R. Schroeter: Soziologie des Alterns. Eine Einführung, a.a.O., S. 32. 3 | Ebd. 4 | Vgl. ebd., S. 32f. 5 | Ganz besonders deutlich wird diese praktische Orientierung der theoretischen Beschäftigung mit Altern und Alter beispielsweise bei: S. Shimada/C. Tagsold: Alternde Gesellschaften im Vergleich. Solidarität und Pflege in Deutschland und Japan, Bielefeld 2006; F.-X. Kaufmann: Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt a.M. 2005.
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4.2 E ine B esonderheit der soziologischen H er angehensweise an das Thema »A lter (n)« und ihre I mplik ation für den B egriff des A lter (n) s Zuvörderst lässt sich ungeachtet der soeben erwähnten Vielfalt der soziologischen Alterstheorien eine auffällige Besonderheit der Soziologie des Alter(n)s feststellen: Alter und Altern werden hier – anders als in der Biologie – in erster Linie als soziale Konstrukte aufgefasst. Darüber herrscht über die Schulgrenzen hinaus Einigkeit. Dies bedeutet, dass das Alter, mit dem sich die Soziologie beschäftigt, keine von der Natur vorgegebene Tatsache ist, sondern dass Menschen oder Gesellschaften als Ganze durch die Zuschreibung des Prädikats »alt« selbst festlegen, welche Individuen als alt gelten.6 Dabei müssen die zugrunde gelegten Kriterien der Klassifikation als alter Mensch nicht offengelegt worden sein. Die Annahme, dass Alter ein soziales Konstrukt ist, wird in der Regel mit der unbestreitbaren empirischen Feststellung verbunden, dass es zwischen einzelnen Kulturen oder Epochen wesentliche Unterschiede im Hinblick auf soziale Klassifikationen gibt. Aus der Konjunktion dieser beiden Prämissen ergibt sich die Konklusion, dass es jeweils vom konkreten sozialen Kontext abhängt, welche Menschen aus welchen Gründen ab wann als alt gelten. Aus Sicht der Soziologie ist die Frage, was das Alter an sich, d.h. außerhalb eines bestimmten 6 | »Die Art, wie Gesellschaften Lebensalter praktisch und begrifflich gliedern und bestimmte Lebensläufe vorschreiben oder als erstrebenswert definieren, ist außerordentlich vielfältig, wie die ethnologische Forschung anschaulich zeigt […]. Die menschlichen Lebensalter sind sozial konstruiert. Der Begriff ›soziale Konstruktion‹ bezieht sich auf zwei Dimensionen: daß die Lebensalter nicht einfach vorgegeben, sondern das Ergebnis eines Konstruktionsprozesses sind, und daß es sich dabei um einen sozialen Prozeß handelt.« (M. Kohli: »Altern in soziologischer Perspektive«, in: P. B. Baltes/J. Mittelstraß/U. M. Staudinger: Alter und Altern. Ein interdisziplinärer Studientext zur Gerontologie, Berlin/New York 1992, S. 231-259, S. 234).
4. Der Begriff des Alterns in der Soziologie
gesellschaftlichen Umfeldes zu einer bestimmten Zeit ist, unbeantwortbar, wenn nicht sogar sinnlos. Eine Soziologin bringt diese konstruktivistische Auffassung in Bezug auf Altersbilder so zum Ausdruck, »dass sie nicht einfach Wirklichkeit abbilden, sondern Wirklichkeit herstellen« 7. Auf diese kulturrelativistische Prämisse und ihre Reichweite wird später zurückzukommen sein. An dieser Stelle muss einem naheliegenden Missverständnis vorgebeugt werden. Die Tatsache, dass sich die Soziologie vornehmlich für das Alter als soziales Konstrukt interessiert, impliziert durchaus nicht, dass die Alterssoziologie leugnet, dass Altern auch als biologisches oder rein chronologisches Phänomen betrachtet werden kann. Im Gegenteil: Dies wird gelegentlich sogar ausdrücklich eingeräumt. So werden beispielsweise in dem Wörterbucheintrag »Alterssoziologie« drei Arten des Alters unterschieden: »Alter und Altern sind […] keine eindeutig definierten Begriffe, sondern je nach (disziplinärer) Perspektive unterschiedlich akzentuierte und semantisch verschieden gefasste, idealtypische soziale Konstruktionen. Das biologische Alter oder physiologische Alter bezeichnet z.B. den körperlichen Zustand des Menschen aufgrund biologischer Vorgänge von Wachstum, Reife, Abbau und Verfall. Diese ›biologischen Grundbefindlichkeiten‹ (Schelsky [1959] 1965: 199) sind jedoch keine sozialen Realitäten sui generis, sondern stets einem sozialen Wandel unterworfen, wobei sich das je biologisch Vorgegebene und das gesellschaftlich Konstruierte im Erkenntnisprozess nicht vollständig voneinander trennen lassen. Als Maßstab wird zumeist das kalendarische oder chronologische Alter – die seit der Geburt vergangene […] Kalenderzeit verwendet […]. Mit der Verwendung des Kalenders als Messinstrument sind […] (möglicherweise problematische) Annahmen wie gleichmäßig voranschreitende und irreversible Entwicklung verbunden. Eine Alternative ist das funktionale Alter – eine soziale Kate-
7 | B. Pichler: »Aktuelle Altersbilder: ›junge Alte‹ und ›alte Alte‹«, in: K. Aner/ U. Karl (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2010, S. 415425, S. 416.
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gorisierung, die auf Einschränkungen bzw. Kompetenzen im Vergleich zu Durchschnittswerten abhebt.« 8
Wie dieses Zitat belegt, vertritt die Soziologie nicht die starke These, dass es sich bei »Alter« und »Altern« um soziale Konstrukte handelt, die völlig unabhängig von natürlichen Prozessen sind. Stattdessen gesteht sie zu, dass man das Alter(n) auch biologisch oder chronologisch betrachten kann. Die Soziologie besteht aber erstens darauf, dass wir keinen direkten, d.h. nicht durch soziale Kommunikation vermittelten Zugang zum biologischen Alter haben: »Das Alter scheint […] eine ganz natürliche Gegebenheit zu sein, eine Naturtatsache sozusagen. Dass dies nicht der Fall ist, sondern Alter vielmehr als eine soziale Konstruktion betrachtet werden muss, machen historisch und interkulturelle Vergleiche schnell deutlich – zu anderen Zeitpunkten und in anderen Gesellschaften existieren mitunter gänzlich andere Altersnormen oder Altersgrenzen.« 9
Hervorzuheben ist, dass aus der Sicht der beiden soeben zitierten Autoren, die mit ihrer Auffassung nicht allein stehen, nicht nur die im Alltag, der Verwaltung, der Politik und anderen Bereichen gebräuchlichen Begriffe des Alters soziale Konstrukte sind, sondern dass prinzipiell alle Begriffe des Alters symbolisch vermittelte Ordnungen der Wirklichkeit sind. Daher haben auch die Naturwissenschaften in dieser Hinsicht keine privilegierte Stellung. Auch ihnen ist die Möglichkeit einer direkten, nicht durch Sprache oder andere symbolische Medien vermittelten Bezugnahmen auf das »Alter(n)« an sich verwehrt. Diese Allgemeingültigkeit der konstruktivistischen Bedeutungstheorie, von der auch die Naturwissenschaften 8 | H. Künemund/K. R. Schroeter: »Alterssoziologie«, in: G. Endruweit u.a. (Hg.): Wörterbuch der Soziologie, Konstanz/München 2014, S. 16-22, S. 17. 9 | K. R. Schroeter/H. Künemund: »›Alter‹ als Soziale Konstruktion – eine soziologische Einführung«, in: K. Aner/U. Karl (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2010, S. 393–401, S. 393.
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nicht ausgenommen sind, bringen die beiden Autoren folgendermaßen zum Ausdruck: »Auch biologisches, medizinisches, naturwissenschaftliches Wissen ist eine Konstruktion. Und die Erkenntnis über den ›natürlichen Alterungsprozess‹ kann nicht mit dem Wahrgenommenen oder dem mit Bedeutung versehenen ›biologischen Altern‹ gleichgesetzt werden. Auch die biologischen Theorieangebote zum Altern (u.a. Freie-Radikale-Theorie, Mutationstheorie, Autoimmun-Theorie) und die biologischen Erklärungen zu den organischen Veränderungen sind zunächst einmal Konstruktionen. Das Altern ist somit nicht einfach etwas natürlich Vorgegebenes. Vielmehr ist die für seine biologische Verwirklichung erforderliche alltägliche wie auch wissenschaftlich-methodische Wahrnehmung kulturell geformt.«10
Zweitens betont die Soziologie zu Recht, dass das bloße kalendarische oder chronologische Alter keine relevante und aussagekräftige Größe ist: »Das Erreichen eines bestimmten kalendarischen Alters, gewisse Merkmale der äußeren Erscheinung oder des Verhaltens machen eine Person noch nicht alt, erst die Vorstellungen und Meinungen, die in einer Gesellschaft an diese Eigenschaften geknüpft sind, lassen sie in den Augen ihrer Umwelt – wie auch mit der Zeit in ihren eigenen – als ›alt‹ erscheinen.«11
Aus der Tatsache, dass innerhalb der Soziologie verschiedene Arten des Alter(n)s unterschieden werden, ergibt sich die wichtige Frage, wie sich diese Typen zueinander verhalten. Ist etwa das Erreichen eines bestimmten biologischen Alters eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung für das Vorliegen eines näher zu bestimmenden sozialen Alters? Wie die Antwort auf diese grundlegende Frage jeweils ausfällt, wird sicherlich davon abhängen, wel10 | Ebd., S. 396. 11 | J. Hohmeier: »Alter als Stigma«, in: ders./H.-J. Pohl (Hg.): Alter als Stigma oder Wie man alt gemacht wird, Frankfurt a.M. 1978, S. 10-30, S. 11f.
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che Theorie die einzelnen Autoren jeweils vertreten. Grundsätzlich und unabhängig davon, welche Theorie zugrunde gelegt wird, lässt sich jedoch festhalten, dass aus Sicht der Soziologie weder das biologische noch das kalendarische Alter eine hinreichende Bedingung für soziales Alter sein kann. In diesem Zusammenhang kann eine Aussage, die im Rahmen der sogenannten Stigmatisierungstheorie des Alters getroffen wurde, verallgemeinert werden. Die Bestimmung des Alters als eines sozialen Konstruktes dürfe nicht »in dem Sinne missverstanden werden, daß objektive Merkmale des Individuums – z.B. biologische – in den Definitionsprozessen keine Rolle spielten. Sie spielen sie indes nicht als hinreichende Bedingung für Definitionen [Hervorh. – C. M.], sondern als Auslöser für die Zuschreibung von Eigenschaften, die jeweils als ›typisch‹ für alte Menschen angesehen werden.«12
Weil das biologische Alter, für sich genommen, nicht hinreichend dafür ist, dass ein Mensch im sozialen Sinne alt ist, kann man in der Soziologie die auf den ersten Blick vielleicht kontraintuitive These vertreten, dass Alter und Altern immer soziale Konstrukte sind. In diesem Sinne schreibt etwa Christine L. Fry: »Age is a social construction and the experience of growing old is culturally mitigated. Because biological processes of aging take place in a social and cultural context, the comparative method is used to examine the impact of specific aspects of sociocultural contexts on the experience of old age.«13
Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass im Hinblick auf den Begriff des Alters ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen der im vorigen Kapitel behandelten Biologie und der Soziologie besteht. Die Biologie behandelt Alter und Altern als natürliche Arten, das heißt 12 | J. Hohmeier: »Alter als Stigma«, a.a.O., S. 12. 13 | Ch. L. Fry: »Age, Aging, and Culture«, in: R. H. Binstock/L.K. George (Hg.): Handbook of Aging and the Social Sciences, 4th Edition, San Diego u.a. 1995, S. 117–136, S. 123.
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als Gegenstandsklassen, welche nicht durch Menschen konstruiert, sondern durch natürliche Vorgänge konstituiert werden. Deshalb können sich Biologen ihrem methodologischen Selbstverständnis nach unmittelbar den physischen Prozessen des Alterns zuwenden, ohne dabei die soziale Kommunikation über diese Prozesse berücksichtigen zu müssen. Dass sich andererseits Soziologen nicht direkt auf das Altern als natürlichen Vorgang beziehen, ergibt sich aus der bereits dargestellten, im diametralen Gegensatz zur naturalistischen Herangehensweise stehenden Annahme, dass Alter und Altern stets im oben dargestellten Sinne soziale Konstrukte sind. Dieser Gegensatz zwischen den Disziplinen wird zweifellos von signifikanter Bedeutung sein für den semantischen Vergleich zwischen den Altersbegriffen in verschiedenen Wissenschaften, auf den die vorliegende Arbeit ja abzielt. In Abschnitt 4.4 wird auf dieses Problem näher eingegangen. Die der Alterssoziologie zugrunde liegende Voraussetzung, dass es jeweils vom konkreten gesellschaftlichen Umfeld abhängt, welche Menschen aus welchen Gründen ab wann als alt gelten und sich selbst als alt betrachten, wirft ein weiteres, grundsätzliches Problem auf: Wenn es jeweils von der gesellschaftlichen Situation und dem Zeitpunkt abhängt, wer alt ist, kann die Soziologie dann überhaupt über einen einheitlichen Begriff des Alters verfügen? Anders gesagt: Schließt nicht die konstruktivistische Voraussetzung von vornherein aus, dass es einen Begriff des Alters gibt, der sich kontextunabhängig, d.h. mit Bezug auf alle Gesellschaften zu allen Zeiten anwenden lässt? – Dieses Problem kann dadurch gelöst werden, dass man eine Minimalbedeutung, also einen semantischen Kern des Begriffs »Alter« unterscheidet von Elementen seiner Bedeutung, die nicht notwendig sind. Für alle innerhalb der Alterssoziologie vertretenen Theorien ist folgende Minimalbestimmung des Alters konsensfähig: Das Alter ist die letzte von mehreren möglichen Lebensphasen, also diejenige, welche dem Tod am nächsten ist. Dabei wird implizit vorausgesetzt, dass ein Mensch im Verlaufe seines Lebens verschiedene Phasen durchlaufen kann, die aufeinander auf bauen und daher in einer unabänderlichen Rei-
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henfolge stehen. Nicht behauptet wird damit, dass jeder Mensch die Lebensphase Alter erreicht. Wer, beispielsweise aufgrund eines tragischen Unfalls oder einer tödlich verlaufenden Krankheit bereits mit zwei Jahren verstirbt, der hat die Lebensphase »Alter« niemals erreicht. Insofern unterscheidet sich die Phase des Alterns im Alter von derjenigen der frühen Kindheit darin, dass diese notwendig, jene hingegen nur möglich ist. Kein Mensch kann existiert haben, ohne zumindest einen bestimmten Zeitraum als Kind gelebt zu haben. Viele Menschen haben jedoch existiert, ohne jemals alt geworden zu sein. Diese rein begriffliche Aussage kann durch eine empirische Behauptung ergänzt werden. Einigkeit herrscht nämlich auch darüber, dass alle Gesellschaften zu allen Zeiten auf irgendeine Weise einen Abschnitt des menschlichen Lebens als Alter von den anderen Lebensphasen abgrenzen. Insofern weist somit der soziologische Begriff des Alters einen universalistischen Aspekt auf. Auf der anderen Seite ist jedoch, wie bereits ausführlich dargestellt wurde, die Vorstellung, dass jede Gesellschaft auf je eigene Weise das Alter konstruiert, zentral für die Soziologie. Hierbei handelt es sich zweifellos um einen relativistischen Aspekt des Begriffs des Alters. Es kann daher festgestellt werden, dass die konstruktivistische Voraussetzung, dass Alter und Altern soziale Konstrukte sind, dann vereinbar mit einem einheitlichen Begriff des Alters und Alterns ist, wenn man dessen Bedeutung auf die eben beschriebene Weise auf einen Minimalgehalt beschränkt. Im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung ist dies durchaus kein triviales Ergebnis. Wenn man nicht die Unterschiede zwischen den zahlreichen soziologischen Theorien des Alters in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt, sondern – wie es hier geschieht – nach der Gemeinsamkeit zwischen ihnen sucht, kommt in Anbetracht der konstruktivistischen Herangehensweise der Soziologie als kleinster gemeinsamer Nenner nur die Bestimmung des Alters als letzter aller möglichen Lebensphasen in Frage. Wie eben dargestellt wurde, lassen sich innerhalb der soziologischen Altersbegriffe ein kontextunabhängiges, universalistisches
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und ein kontextabhängiges, relativistisches Element unterscheiden.14 Es kann allerdings kein Zweifel daran bestehen, dass sich die Soziologie im Allgemeinen viel stärker für die gesellschaftsspezifischen Momente der Konstruktion des Alters interessiert. Insofern kann nicht bestritten werden, dass die Alterssoziologie eher zum semantischen Relativismus als zum Universalismus tendiert. Nichtsdestoweniger ist es notwendig, beide Elemente des Altersbegriffes zumindest exemplarisch zu erläutern. Für das universalistische Element ist dies bereits geschehen. Der relativistische Aspekt soll im Folgenden anhand zweier Beispiele erläutert werden. Unabhängig davon, wie eine einzelne Gesellschaft festlegt, wer warum ab wann als alt gilt, lässt sich das Alter als letzte Phase des Lebens bestimmen. Dies ist das kontextunabhängige semantische Element des Alter(n)s. Innerhalb der Soziologie besteht allerdings keine Einigkeit darüber, wie viele und welche Lebensphasen unterschieden werden müssen. Dieser Dissens entspricht der semantischen Kulturrelativität des Begriffs »Alter«. In der Geschichte finden sich u.a. Einteilungen in drei, vier, sieben und zehn Lebensalterstufen.15 Stellvertretend für viele soll hier die Phaseneinteilung, die sich innerhalb der gegenwärtigen Soziologie des Alters als besonders einflussreich erwiesen hat16, kurz vorgestellt werden. Peter 14 | So bezeichnet etwa Göckenjan das soziale Bedürfnis, einen Lebensabschnitt als Alter auszuzeichnen und dementsprechend eine bestimmte Gruppe der Bevölkerung als Alte von den Übrigen abzugrenzen, als »zeitlose Kategorie« oder »anthropologische Konstante«: »Aber konstant sind die genannten Regelungsbedürfnisse, weniger die Probleme, die für eine bestimmte Altersgruppe spezifisch wären, erst recht nicht, daß hier die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung alter Leute entscheidbar sein könnte.« (G. Göckenjan: Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a.M. 2000, S. 26) 15 | Vgl. Schroeter/Kühnemund: »›Alter‹ als Soziale Konstruktion – eine soziologische Einführung«, a.a.O., S. 399ff. 16 | Vgl. I. Saake: Die Konstruktion des Alters. Eine gesellschaftstheoretische Einführung in die Alternsforschung, Wiesbaden 2006, S. 114f.
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Laslett unterscheidet vier Lebensalter17, die von Irmhild Saake folgendermaßen dargestellt werden18: Erstes Alter
Zeit der Abhängigkeit, Sozialisation, Unreife und Erziehung Zweites Alter Zeit der Unabhängigkeit, Reife, des Verdienens und Sparens Drittes Alter
Zeit der persönlichen Erfüllung
Viertes Alter
Zeit der unabänderlichen Abhängigkeit, Altersschwäche und des Todes
Auffällig an dieser Einteilung des menschlichen Lebenslaufes ist, dass drei der vier Lebensalter durch das Verhältnis der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von anderen Menschen charakterisiert werden. Nur bei der Beschreibung des dritten Lebensalters, das den ersten Unterabschnitt des Alters im engeren Sinne bildet, wird dieser Aspekt nicht erwähnt. Dieses wird vielmehr »als dasjenige gekennzeichnet […], in dem der höchste Punkt in der Bahn des individuellen Lebens erreicht wird«19: »Zudem hat der Lebenslauf, der in diese vier Blöcke eingeteilt ist, seinen Höhepunkt im Dritten Alter: dem Alter der persönlichen Errungenschaften und Erfüllung, und nicht im Zweiten Alter und bestimmt nicht im Vierten.«20 Wie Laslett selbst betont, besteht die wichtigste mit seinem Vorschlag verbundene Innovation darin, dass der lange Abschnitt am Ende des menschlichen Lebens, der bis dahin meist innerhalb des drei-Stufen Schemas von Jugend, Reife und Alter einen ungeschiedenen,
17 | Vgl. P. Laslett: Das Dritte Alter. Historische Soziologie des Alterns, Weinheim/München 1995, S. 35. – Die Unterscheidung von vier anstelle von drei Lebensaltern ist nicht originell. In der Ideengeschichte findet sie sich u.a. schon im 19. Jahrhundert bei Schopenhauer (vgl. hier Kapitel 2). 18 | I. Saake: Die Konstruktion des Alters, a.a.O., S. 114. 19 | P. Laslett, a.a.O., S. 35. 20 | Ebd.
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einheitlichen Abschluss bildete, von ihm in zwei Phasen des Lebens untergliedert worden ist, nämlich das Dritte und das Vierte Alter. Den Ausgangspunkt seiner Ausdifferenzierung bildet die These, dass es »niemals wahr gewesen [sei – C.M.], daß all jene im fortgeschrittenen Alter wirklich die klapprigen Abhängigen waren, wie es die üblichen Geschichten glauben machen wollen«21. Vielmehr sei die Mehrheit von körperlich und geistig gesunden Alten mit der Minderheit von »Krüppeln«22 identifiziert worden. Mit der enormen Steigerung des Lebensniveaus großer Teile der Bevölkerung in den entwickelten Industrienationen hat diese Gleichsetzung zunehmend ihre Berechtigung verloren. Somit beruht Lasletts Phaseneinteilung nicht nur auf einer kritischen Beobachtung, die seiner Meinung nach für alle Epochen gilt; vielmehr reagiert Laslett mit der Einführung des positiv bewerteten Dritten Alters offensichtlich auch auf zwei Tendenzen, die charakteristisch für alle hoch entwickelten Staaten Ende des 19. Jahrhunderts sind: den demographischen Wandel und die Einführung der Altersvorsorge. Bekanntlich ist die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen in den entwickelten Staaten, abgesehen von der Zeit der beiden Weltkriege, seit Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen. Der wichtigste Grund dafür besteht darin, dass immer mehr Menschen immer länger in einem relativ guten Gesundheitszustand verbleiben, und zwar in vielen Fällen über den Zeitpunkt des Austritts aus dem Berufsleben hinaus. Dieser demographische Wandel geht einher mit der Einführung und Ausbreitung einer Altersvorsorge für große Teile der Bevölkerung, sei diese nun staatlich organisiert wie etwa in Deutschland oder privat wie in anderen Staaten. In ihrem Zusammenspiel haben diese beiden Faktoren laut Laslett dazu geführt, dass es theoretisch notwendig geworden ist, die nun zeitlich stark ausgedehnte letzte Lebensphase qualitativ in »Erfüllung« und »Verfall«23 zu differenzieren. 21 | Ebd., S. 32. 22 | Ebd. 23 | Ebd., S. 36.
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Im Hinblick auf die Bedeutung des Altersbegriffs und insbesondere auf die in Kapitel 1 eingeführte Typologie ist daran bemerkenswert, dass das Alter bei Laslett sowohl einen eindeutig positiv konnotierten als auch einen eindeutig negativ bewerteten Unterabschnitt aufweist. Diese Zusammensetzung lässt sich als Hinweis auf die evaluative Ambivalenz des Alters verstehen. Diese Ambivalenz ist eine Folge der Tatsache, dass die große Menge der sogenannten Alten seit Jahrzehnten in verschiedenen Hinsichten immer heterogener wird, so beispielsweise im Hinblick auf ihren Gesundheitszustand, Einkommen und Vermögen, die Intensität der sozialen Interaktion etc. Lasletts Reaktion auf den Prozess der horizontalen und vertikalen Heterogenisierung des letzten Lebensabschnitts durch die Unterscheidung zwischen Drittem und Viertem Alter ist nur ein besonders bekanntes Beispiel für die soziologische Begriffsbildung mit Blick auf eine alternde Gesellschaft, dem sich weitere zur Seite stellen lassen. Erwähnt sei hier nur die bereits 1974 von Bernice L. Neugarten eingeführte Unterscheidung zwischen »jungen Alten« und »alten Alten«.24 Beiden terminologischen Vorschlägen, also demjenigen von Laslett und demjenigen von Neugarten, ist gemeinsam, dass das vormals ungeschieden betrachtete Alter(n) in zwei Abschnitte unterteilt wird: den ersten, positiv bewerteten und den zweiten, negativ bewerteten. Auf diese evaluative Ambivalenz des Alters in der modernen Gesellschaft wird unten in Abschnitt 4.4 zurückzukommen sein. Das kontextabhängige Element des Altersbegriffs soll hier anhand eines weiteren einschlägigen historischen Beispiels erläutert werden. In der Literatur herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Einführung der Altersrente und des damit verbundenen einheitlichen Verrentungsalters eine Zäsur in der Geschichte des Alters in den entwickelten Sozialstaaten darstellte. Gertrud Backes
24 | Vgl. B. L. Neugarten: »Age Groups in American Society and the Rise of the Young-Old«, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 415 (1974), S. 187-198.
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und Wolfgang Clemens fassen diese einschneidende Veränderung in der gesellschaftlichen Abgrenzung des Alters so zusammen: »Die Entwicklung der Alterssicherung als wesentliches Element der Entwicklung eines staatlich organisierten Wohlfahrtssystems und die Institutionalisierung des Lebenslaufs hängen eng zusammen […]: Spätestens seit Beginn der Industrialisierung werden Vergesellschaftungsmodelle des Alterns und der Lebensphase Alter als gesellschaftliche Konstruktionen zu Merkmalen der Sozialstruktur. Sie definieren Lebensalter in Anbetracht der konkreten Verwertungsmöglichkeiten und des Bedarfs von Arbeitskraft, weisen die Position zum Erwerbsprozess zu und regeln eine relativ zuverlässige Versorgung auf legitimationsfähigem, allerdings geringerem Niveau für die Personen, die nicht in den Erwerbsprozess integriert sind – insbesondere für alte Menschen.« 25
Die wichtigsten Gründe für die Einführung einer staatlichen Altersrente oder einer Pension und des damit verbundenen einheitlichen Ruhestandsalters sind die folgenden26: (i) Bereits seit der späten Aufklärung hatte es Bemühungen gegeben, das Problem der Altersarmut durch staatliche Hilfsleistungen zu lösen. Während diese Bemühungen lange Zeit auf einzelne alte Menschen, insbesondere Invaliden beschränkt gewesen waren, wird die staatliche Altersversorgung im Zuge der rechtlichen Vereinheitlichung nun seit Ende des 19. Jahrhunderts verallgemeinert. (ii) Als Folge der Industrialisierung war aufseiten der Unternehmer das Interesse entstanden, eine klare Grenze zwischen noch effizient verwertbaren und nicht mehr hinreichend leistungsfähigen Arbeitskräften zu ziehen 25 | G. M. Backes/W. Clemens: Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung, 4. Aufl, Weinheim/Basel 2013 [4. überarbeitete und erweiterte Auflage], S. 27. 26 | Vgl. zu den Ursachen und Folgen der Einführung einer staatlichen Altersvorsorge die ausführliche Darstellung bei G. Göckenjan: Das Alter würdigen, a.a.O., Kap. VII: Sozialpolitik und die Umgestaltung des Alters, S. 298-361.
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und Letzere aus dem Produktionsprozess ausgliedern zu können. (iii) Im direkten Zusammenhang mit (ii) steht die Tatsache, dass sich die Arbeiterschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Gewerkschaften und Parteien organisiert hatte, um ihre Interessen gegen diejenigen der Arbeitgeber durchzusetzen. Die Suche nach einer Lösung für diesen gesellschaftlichen Interessenkonflikt wurde als »soziale Frage« bekannt. Eine wesentliche Forderung der Arbeiter bestand darin, dass die vom langen Arbeitsleben erschöpften, nicht mehr arbeitsfähigen Arbeitnehmer Anspruch auf eine gesicherte Altersversorgung haben sollten. (iv) Schließlich lässt sich in allen entwickelten Staaten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine verstärkte Tendenz zur rationalen Gestaltung und Verwaltung möglichst aller Bereiche des sozialen Lebens verzeichnen. Die Etablierung der staatlichen Rentenversorgung hatte weitreichende Folgen für die Bedeutung des im Alltag gebräuchlichen Begriffs des Alters. Die Einführung von Systemen einer staatlich geregelten Altersversorgung stellte deshalb eine Zäsur in der Geschichte der sozialen Abgrenzung des Alters dar, weil es bis dahin keinen einheitlichen Standard 27 für die Identifikation alter Menschen gegeben hatte. Die Mehrzahl der Menschen hatte bis zum Lebensende in irgendeiner Weise tätig sein müssen, sei es als Arbeitskraft auf einem Hof, sei es als Helfer in der Großfamilie. In der soziologischen Forschung wird nun die These vertreten, dass die Ein27 | Einheitlich bedeutet hier nur: für alle Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft in einem bestimmten Zeitraum gültig, nämlich für die Bürgerinnen und Bürger entwickelter westlicher Sozialstaaten von der Einführung der staatlichen Altersrente bis etwa in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein. In der gegenwärtigen Forschung wird die Auffassung vertreten, dass der Eintritt ins Rentenalter in den letzten Jahrzehnten aufgrund der Heterogenisierung der Lebensläufe seine Tauglichkeit als Abgrenzungsmaßstab für die Lebensphase Alter zunehmend verloren hat (vgl. z.B. G. Göckenjan: »Altersbilder in der Geschichte«, in: K. Aner/U. Karl (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2010, S. 403-413, S. 412; G. M. Backes/W. Clemens: Lebensphase Alter, a.a.O., S. 22).
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führung eines mehr oder weniger einheitlichen Verrentungsalters dazu führte, dass der Eintritt in die Lebensphase Alter durch ein bestimmtes kalendarisches Alter markiert wurde. In diesem Zusammenhang spielte die Tatsache, dass Menschen mit dem Eintritt in den Ruhestand ihre wichtigste soziale Funktion als Arbeiter, Angestellter oder Beamter verloren, eine entscheidende Rolle. Von nun an galt der Eintritt in den Ruhestand als hinreichende Bedingung für die Zugehörigkeit zur Gruppe der Alten.28 Gerd Göckenjan resümiert die Folge der abschließenden Einführung der staatlichen Altersversorgung für den Begriff des Alters in prägnanter Form: »Die nicht intendierte Folge der Rentenversicherungsreform [von 1957 – C.M.] war die Entstehung der sozialen Figuration eines Rentenalters, des Alters als eine eigenständige, institutionell formierte Lebensphase der Ruhe und Freizeit.«29 Das Beispiel der Einführung der staatlichen Altersrente dürfte verdeutlicht haben, dass und warum die Bedeutung der Begriffe »Alter« und »Alte« abhängig von sozialen und politischen Bedingungen und in diesem Sinne relativ zum kulturellen Kontext ist. Insbesondere wird an dem Beispiel deutlich, wie sich politische Interessen und Entscheidungen darauf auswirken können, was in einer bestimmten Gesellschaft in einem bestimmten Zeitraum unter »Alter« verstanden wird. Insofern stellt es auch einen plausiblen Beleg für die früher dargestellte konstruktivistische Voraussetzung dar, dass das Alter nichts von der Natur einfach Vorgegebenes ist.
28 | Zu den Folgen der Einführung der staatlichen Altersversorgung vgl. u.a. G. M. Backes/W. Clemens: Lebensphase Alter, a.a.O., S. 26f. 29 | G. Göckenjan: »Altersbilder in der Geschichte«, a.a.O., hier S. 411.
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4.3 E influssreiche F orschungsansät ze und ausge wählte Thesen innerhalb der S oziologie des A lter (n) s Obwohl die Unterscheidung verschiedener Forschungsansätze innerhalb der Soziologie des Alterns im Alter keine grundsätzlichen Auswirkungen auf die Bedeutung des Begriffs des Alterns hat, soll diese dennoch der Vollständigkeit halber in aller Kürze dargestellt werden. Es ist üblich, innerhalb der Soziologie des Alters zwischen makro- und mikrosoziologischen Ansätzen zu differenzieren.30 Einerseits werden im Rahmen des makrosoziologischen Zugangs Prozesse und Strukturen untersucht, die im Hinblick auf die gesellschaftliche Bestimmung des Alters und der Lebensphase Alter relevant sind. Ansätze, die diesen Aspekt avisieren, analysieren beispielsweise die ökonomische und politische Bedeutung der Veränderungen des prozentualen Verhältnisses von Jungen und Alten für die Gesellschaft. Fokussiert wird aus dieser Perspektive u.a. auch der öffentliche Diskurs, innerhalb dessen bestimmte Altersrollen und die mit ihnen verbundenen Verhaltenserwartungen und Werte konstruiert werden. Neben makrosoziologischen Theorien, 30 | Vgl. u.a. V. W. Marshall/V. L. Bengtson: »Theoretical Perspectives on the Sociology of Aging«, in: R. A. Settersten, Jr./J. L. Angel (Hg.): Handbook of Sociology of Aging, New York u.a. 2011, S. 17-33; V. L. Bengston/D. Gans/N. M. Putney/M. Silverstein: »Theories About Age and Aging«, in: V. L. Bengston/D. Gans/N. M. Putney/M. Silverstein (Hg.): Handbook of Theories of Aging, 2nd Edition, New York 2009, S. 3-23; E. O. Burgess/V. L. Bengston: »Social Gerontology: Theories«, in: R. Schulz/L. S. Noelker/K. Rockwood/R. L. Sprott (Hg.): The Encyclopedia of Aging, 4th Edition, New York 2006, S. 1098-1101; L. Rosenmayr: »Soziologische Theorien des Alterns und der Entwicklung im späten Leben«, in: F. Karl (Hg.): Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie. Alter und Altern als gesellschaftliches Problem und individuelles Thema, Weinheim/München 2003, S. 19-43; V. W. Marshall: »Analyzing Social Theories of Aging«, in: V. L. Bengston/K. W. Schaie (Hg.): Handbook of Theories of Aging, New York 1999, S. 434-455, hier besonders S. 438 u. S. 445.
4. Der Begriff des Alterns in der Soziologie
die überindividuell gesellschaftliche Strukturen und Tendenzen untersuchen und beschreiben, kann die soziologische Alternsforschung andererseits im Rahmen von mikrosoziologischen Ansätzen auch das Individuum und dessen soziale Entwicklung in den Blick nehmen. Hier wird etwa der kontinuierliche Prozess des chronologischen Alterns mit altersspezifischen Anforderungen in bestimmten Lebensphasen verbunden. Im Rahmen dieser Forschungsperspektive dominieren handlungs- und interaktionstheoretische Ansätze. Zwischen diesen beiden perspektivischen Extremen existieren Theorien, die den Blick auf die Struktur der gesellschaftlichen Konstitution von »Alter« und »Altern im Alter« und denjenigen auf den Veränderungsprozess des Individuums miteinander verknüpfen. Gemeinsam ist vielen Theorien der Rekurs auf »die Lebenschancen, Lebensqualität und Lebensformen älterer und alter Menschen in der Gesellschaft«31. Wie bereits erwähnt wurde, wirkt sich die Wahl der Forschungsperspektive, so bedeutsam diese zweifellos in anderer Hinsicht sein mag, nicht grundsätzlich auf die Definition des Begriffs des Alters aus. Ganz anders verhält es sich mit den einzelnen soziologischen Theorien des Alters. Jede von ihnen fügt der Minimalbestimmung des Alters als der letzten möglichen Lebensphase (vgl. 4.2) mindestens ein weiteres Merkmal hinzu. Aufgrund der Tatsache, dass die soziologischen Theorien des Alters in vielen Fällen miteinander konkurrieren, sind diese zusätzlichen Bestimmungen des Begriffs »Alter« innerhalb der soziologischen Altersforschung nicht konsensfähig. Dennoch gibt es einen guten Grund, zumindest einige von ihnen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zu berücksichtigen: Wenn man sich bei der Analyse des Begriffs des Alterns in der Soziologie auf diejenigen Prädikate bzw. die entsprechenden Merkmale beschränkt, über deren Notwendigkeit innerhalb der soziologischen Alternsforschung Einigkeit besteht (wie hier in 4.2), hat das den Vorteil, dass das Ergebnis der Begriffsanalyse repräsentativ für die gesamte Soziologie des Alterns ist. Allerdings zahlt man in diesem 31 | G. M. Backes/W. Clemens: Lebensphase Alter, a.a.O., S. 125.
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Fall für die Allgemeingültigkeit des Resultats einen verhältnismäßig hohen Preis. Alle inhaltlichen Bestimmungen des Alterns, die über den Minimalgehalt hinausgehen, werden aus der Begriffsanalyse ausgeschlossen. Dies ist aus mindestens zwei Gründen theoretisch unbefriedigend. Erstens blieben bei der Konzentration auf konsensfähige Begriffsbestimmungen zahlreiche relevante und einflussreiche Thesen der Soziologie des Alters unberücksichtigt, sodass diese nur in stark verzerrter Form dargestellt würde. Zweitens sind es gerade diejenigen Thesen über das Alter und den Begriff des Alterns, die im Rahmen öffentlicher und wissenschaftlicher Debatten die Reflexion über das Alter und den Umgang mit ihm am stärksten belebt haben. Deshalb sollen im Folgenden zumindest einige einflussreiche soziologische Theorien des Alters im Hinblick auf den Altersbegriff in stark komprimierter Form referiert werden. Somit verhalten sich die in Abschnitt 4.2 und in diesem Abschnitt durchgeführten semantischen Analysen komplementär zueinander. Während in 4.2 nach den Gemeinsamkeiten zwischen den Theorien gesucht wurde, widmet sich dieser Abschnitt den zusätzlichen Begriffsbestimmungen, die aufgrund ihrer theoretischen Herkunft innerhalb der Soziologie des Alters nicht konsensfähig, aber nichtsdestoweniger von Interesse sind. Aus der Fragestellung der vorliegenden Untersuchung ergibt sich, dass die ausgewählten soziologischen Theorien des Alters hier nicht kritisch im Hinblick auf ihre Plausibilität diskutiert werden können. Das Augenmerk liegt allein auf den semantischen Implikationen der einzelnen Theorien. Die Auswahl der vorzustellenden Theorien orientiert sich an neueren und neuesten Nachschlage- und Überblickswerken, an denen erkennbar ist, dass sich in der Alterssoziologie der Gegenwart ein gewisser Kanon allgemein als einschlägig anerkannter Theorien herausgebildet hat. Die nachfolgende Darstellung orientiert sich vor allem an den Zusammenfassungen bei Gertrud M. Backes und Wolfgang Clemens sowie bei Harald Künemund und Klaus R. Schroeter.32 32 | Vgl. G. M. Backes/W. Clemens: Lebensphase Alter, a.a.O., S. 122177; H. Künemund/K. R. Schroeter: »Alterssoziologie«, in: G. Endruweit/G.
4. Der Begriff des Alterns in der Soziologie
Die in den 1960-er Jahren begründete Aktivitätstheorie, die u.a. von Rudolf Tartler und von Sheldon Tobin gemeinsam mit Bernice L. Neugarten sowie mit Einschränkungen von Robert G. Havighurst vertreten wurde, gilt als eine der »am häufigsten implizit oder explizit verwendeten und diskutierten, aber auch kritisierten«33 soziologischen Theorien des Alters. Sie fußt auf der psychologischen Annahme, dass, abgesehen von bestimmten Ausnahmen, chronologisch alte Menschen und Menschen im mittleren Alter vergleichbare psycho-soziale Bedürfnisse haben. Zu diesen Bedürfnissen zählt u.a. der Wunsch, aktiv am sozialen Leben teilzunehmen. Zweitens beruht die Theorie auf der wohl kaum zu bezweifelnden empirischen Voraussetzung, dass in modernen Industriestaaten die Mehrzahl der chronologisch alten Menschen aufgrund der Regelungen über den Eintritt in das Rentenalter zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem gesellschaftlichen Prozess der Produktion, der Verteilung und der Verwaltung ausgegliedert wird. Im Zuge dieser Ausgliederung wird ihnen in aller Regel die Möglichkeit genommen, sich außerhalb des Kreises der Familie selbst aktiv an der sozialen Kooperation zu beteiligen. Mit dem Eintritt in den Ruhestand werden somit Menschen in die Beschäftigungslosigkeit gedrängt. Laut der Aktivitätstheorie führt erst diese erzwungene Passivität zu dem häufig bei Rentnern und Pensionären zu beobachtenden Abbau von Fertigkeiten und Fähigkeiten. Die Pointe der Aktivitätstheorie besteht darin, dass sie die geläufige Auffassung über das kausale Verhältnis zwischen dem Eintritt in den Ruhestand und dem schrittweisen Verlust geistiger und körperlichen Fähigkeiten umkehrt. Während man häufig davon ausgeht, dass Menschen ab einem bestimmten chronologischen Alter aus dem aktiven Berufsleben ausscheiden sollten, weil sie im Vergleich zu Jüngeren bestimmte Fertigkeiten in signifikantem Maße verloren haben, ist gemäß der Aktivitätstheorie dieser Verlust gewöhnlich erst die Folge der erzwungenen BeschäfTrommsdorff/N. Burzan (Hg.): Wörterbuch der Soziologie, 3., völl. überarb. Aufl., Konstanz/München 2014, S. 18-22. 33 | G. M. Backes/W. Clemens: Lebensphase Alter, a.a.O., S. 128.
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tigungslosigkeit. Franz Thieding hat die Pointe dieser Theorie im Jahre 1965 prägnant zusammengefasst: »Die Monotonie und Langeweile umgeben ihn [den Rentner oder Pensionär – C.M.]. Durch das Nichtstun, durch den Mangel an körperlicher und geistiger Tätigkeit verfällt er [der Rentner oder Pensionär – C.M.] notwendigerweise einem atrophischen Siechtum.«34 Es ist offensichtlich, dass die Aktivitätstheorie beachtliche Implikationen für die Bedeutung des Begriffs des Alters und des Alterns im Alter hat. Auffällig ist zunächst, dass der Geltungsbereich dieser Theorie auf moderne, westliche Industrienationen beschränkt ist, in denen der Eintritt in den Ruhestand gesetzlich geregelt ist. Somit trifft die Theorie keine Aussagen über das Alter als solches, sondern nur über die Lebensphase Alter in einem zeitlich und räumlich stark eingeschränkten Abschnitt der menschlichen Zivilisation. Zugespitzt formuliert, beschränkt sie sich auf die Analyse des Alters in einem Zeitraum weniger Jahrzehnte in wenigen Staaten der Welt. Diese Feststellung spricht durchaus nicht gegen die Aktivitätstheorie, vielmehr ergibt sie sich aus der konsequenten Anwendung der oben dargestellten konstruktivistischen Voraussetzung, dass es das Alter an sich nicht gibt, sondern dass das Alter immer eine soziale Konstruktion ist. Im Rahmen der Aktivitätstheorie wird der Minimalgehalt des Begriffs »Alter(n)« folgendermaßen ergänzt: In den genannten Gesellschaften gilt erstens in der Regel derjenige als alt, der in den Ruhestand eingetreten ist. Dabei darf das Ausscheiden aus dem Berufsleben nicht als notwendige Bedingung für die Zugehörigkeit zur Gruppe der Alten aufgefasst werden, weil es auch Alte gibt, die niemals oder nur kurzzeitig berufstätig waren, wie etwa alte Hausfrauen oder Rentiers. Hingegen ist der Ruhestand eine hinreichende Bedingung für das Altsein im sozialen Sinne. Fasst man diese beiden Aussagen zusammen, so ergibt sich, dass der Ruhestand in den modernen, westlichen Industrienationen ein typisches Merkmal des Alters ist, d.h. ein Merkmal, das zwar nicht alle, 34 | F. Thieding: Der alte Mensch und die Gesellschaft, Stuttgart 1965, S. 34.
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aber doch die meisten alten Menschen aufweisen. Zweitens impliziert der Alternsbegriff der Aktivitätstheorie, dass das Ausscheiden aus dem Berufsleben und somit der Übergang in die Lebensphase Alter gesetzlich geregelt, d.h. institutionalisiert ist. Schließlich ist es gemäß der Theorie ein typisches Merkmal alter Menschen, dass sie aufgrund der ihnen aufgezwungenen Beschäftigungslosigkeit sukzessive ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten verlieren. Es ist zu beachten, dass die Vertreter der Aktivitätstheorie des Alters nicht selbst festlegen wollen, was es heißt, alt zu sein, sondern, wie es in der Soziologie üblich ist, in erster Linie bestrebt sind, als Beobachter des gesellschaftlichen Lebens zu konstatieren und zu analysieren, wie jeweils die Gruppe der Alten sozial konstruiert wird. Mit Blick auf moderne, westliche Gesellschaften gelangen sie dabei zu den soeben referierten Resultaten. Der sozial etablierte Begriff des Alters wird allerdings von den Vertretern der Theorie nicht einfach zur Kenntnis genommen, sondern häufig auch kritisch beurteilt. Daraus folgt, dass zwar nicht der von der Gesellschaft konstruierte und der Theorie vorgegebene Begriff des Alters selbst, wohl aber die Haltung der Theorie zu diesem Begriff ein evaluatives Moment aufweist. Auf diese Differenz wird in 4.4 zurückzukommen sein. Die von Elaine Cumming und William E. Henry begründete Disengagementtheorie, die auf Deutsch auch als »Theorie des sozialen Rückzugs« bezeichnet wird, entstand in den 1960-er Jahren als Reaktion auf die Aktivitätstheorie. Die zentrale These dieser Theorie lautet, dass das Alter eine eigenständige, (das Erreichen eines chronologischen Alters vorausgesetzt) unvermeidbare und durch eine spezifische Aufgabe charakterisierte Phase des menschlichen Lebens ist. Anders als die Aktivitätstheorie geht sie davon aus, dass die sozialen Bedürfnisse der Menschen ab dem mittleren Alter nicht konstant bleiben, sondern dass sich diese in der Regel im Alter grundsätzlich verändern. Typisch für alte Menschen sei das Bedürfnis, sich schrittweise aus den sozialen Beziehungen und den mit ihnen verbundenen Verpflichtungen zurückzuziehen. Dieser Rückzug (Disengagement) entlaste einerseits die Alten, weil er sie von bestimmten
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Aufgaben befreie und sie vor Enttäuschungen bewahre; andererseits ermögliche er der Gesellschaft, die frei werdenden Positionen mit Jüngeren zu besetzen. Insofern sei der meist freiwillig erfolgende Rückzug im Interesse sowohl der Alten als auch der Gesellschaft als Ganzer. Die spezifische Funktion der Lebensphase Alter besteht gemäß der Disengagementtheorie in der Vorbereitung auf das Ende des Lebens. Darüber hinaus sei der Rückzug aus den sozialen Beziehungen, worunter hier vor allem das Erwerbsleben verstanden wird, eine notwendige Voraussetzung für »erfolgreiches Altern«. Auch im Falle der Disengagementtheorie35 wirken sich die Thesen auf die Bedeutung des Begriffs »Alter« aus. Im Gegensatz zur Aktivitätstheorie ist der Gegenstandsbereich der »Theorie des sozialen Rückzugs« zeitlich und kulturell nicht beschränkt. Stattdessen beansprucht sie zumindest im Hinblick auf ihren Grundgedanken universale Geltung: Laut Disengagementtheorie ist das Prinzip des sozialen Rückzugs im Alter »in allen Gesellschaften gleich, wobei die genaue Ausformung und der Zeitpunkt interkulturell variieren«36. Der Minimalgehalt des Begriffs »Alter« wird hier folgendermaßen ergänzt. Erstens sei das Alter die Phase am Ende des Lebens, in welcher Menschen gewöhnlich das Bedürfnis ausgebildet haben, sich gänzlich oder teilweise aus dem sozialen Leben zurückzuziehen, und in der ihnen von der Gesellschaft diese Möglichkeit geboten wird. Zweitens sei die Abgrenzung der Lebensphase Alter insofern nicht willkürlich, als die Herausbildung des genannten Bedürfnisses das Ergebnis eines natürlichen Prozesses sei. Auch in diesem Falle darf man wohl, wie schon mit Bezug auf die Aktivitätstheorie, davon ausgehen, dass diese Aussagen nicht im Sinne von notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu verstehen sind, sondern als Feststellung typischer Merkmale des Alters und 35 | Vgl. zur zusammenfassenden Darstellung dieser Theorie neben den bereits genannten Quellen auch M. Krohn: »Theorien des Alterns«, in: J. Hohmeier/H.-J. Pohl (Hg.): Alter als Stigma oder Wie man alt gemacht wird, Frankfurt a.M. 1987, S. 54-75, S. 58ff. 36 | G. M. Backes/W. Clemens: Lebensphase Alter, a.a.O., S. 133.
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der Alten. Somit spricht die Tatsache, dass manche alte Menschen nicht das Bedürfnis haben, sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzuziehen, noch nicht gegen die Theorie. Drittens werde die Lebensphase Alter durch die Aufgabe, sich mit dem eigenen Tod und dem Tod der Nächsten auseinanderzusetzen, konstituiert. Im Vergleich mit der Aktivitätstheorie fällt auf, dass die Vertreter der Disengagementtheorie den sozial etablierten Begriff des Alters nicht explizit bewerten. Dies legt die Vermutung nahe, dass es sich bei der Theorie des sozialen Rückzugs um eine rein beschreibende Lehre handelt. Andererseits wird im Rahmen dieser Theorie immer wieder betont, dass der Rückzug der Alten aus dem Erwerbsleben dazu dient, dass durch die veränderten Bedürfnisse der Alternden gestörte Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft wiederherzustellen. Unter der Voraussetzung, dass die Erhaltung des sozialen Gleichgewichts in funktionaler Hinsicht wünschenswert ist, kann man somit davon ausgehen, dass auch die Disengagementtheorie ein evaluatives Moment des Alternsbegriffs aufweist. Als dritter soziologischer Begriff des Alters soll hier der auf der Stigmatisierungstheorie beruhende vorgestellt werden. Die Stigmatisierungstheorie, welche den interaktionistischen Theorieansätzen zuzurechnen ist, wurde mit Bezug auf das Alter und Altern im Alter zuerst von Jürgen Hohmeier ausgearbeitet und entfaltete danach eine beachtliche Wirkung, wird allerdings »gegenwärtig eher in anderen Forschungskontexten behandelt, vor allem in der psychologisch dominierten Forschung zu Altersbildern«37. Wie sich dem Namen der Theorie entnehmen lässt, lautet ihre zentrale These, dass in modernen entwickelten Industriegesellschaften Altern beziehungsweise Altsein ein Stigma darstellt. Diese Behauptung lässt sich in zwei Teilthesen aufspalten. Erstens wird im Rahmen der Theorie behauptet, dass Altsein kein inhärentes Merkmal bestimmter Menschen, sondern das Ergebnis einer sozialen Askription ist. Aus dieser recht allgemeinen Annahme allein, der sich sicherlich auch Vertreter anderer soziologischer Alter(n)stheorien anschlie37 | Ebd., S. 154.
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ßen könnten, folgt nicht, dass Alter und Altern im Alter ein Stigma ist, weil es sich bei einer Stigmatisierung nicht um irgendeine beliebige, sondern stets um die Zuschreibung einer eindeutig negativen Eigenschaft handelt. Dass die Zuschreibung des Prädikats »alt« zu Recht als Stigmatisierung begriffen werden kann, wird von Jürgen Hohmeier folgendermaßen begründet: »Es erscheint gerechtfertigt, die in bezug auf Alter und Altsein stattfindenden Definitionsprozesse als Stigmatisierungen zu bezeichnen, weil die Erklärungen in der Regel monokausal ausfallen – die Ursachen werden mehr oder weniger ausschließlich in biologischen Veränderungen gesucht –, weil die Bewertungen fast immer negativ sind – alt zu sein, gilt als unvereinbar mit zentralen gesellschaftlichen Werten – und weil die Definitionen bestimmbare ungünstige Konsequenzen für die subjektive und objektive Situation alter Menschen haben. Die objektiven Folgen sind mit dem Begriff der ›Ausgrenzung‹ (Junker 1973) erfaßt worden. Das Stigma ›alt‹ stellt einen Interpretationsrahmen dar, der der Umwelt und den alten Menschen selbst zur Einordnung, Deutung und Bewertung einer Vielzahl individuell sehr unterschiedlich bedingter Erscheinungen dient. Es ermöglicht darüber hinaus die einheitliche Zuordnung von individuell verschiedenartigen Personen zu der Kategorie ›alte Menschen‹.« 38
Dieses Zitat enthält in nuce alle wesentlichen Elemente der Stigmatisierungstheorie. Vorausgesetzt wird erstens, dass bestimmte biologische Veränderungen, die häufig mit dem fortschreitenden kalendarischen Alter einhergehen, wie zum Beispiel Faltenbildung, das Ergrauen der Haare oder das Nachlassen der Hörfähigkeit, selbst keine konstitutiven Merkmale des Alters sind, sondern dass diese als Auslöser für die Zuschreibung des Prädikats »alt« fungieren. Dieses Prädikat geht nun zweitens insofern über die genannten Auslöser hinaus, als mit seiner Askription bestimmte evaluative und präskriptive Urteile verbunden sind, zum Beispiel dass ein bestimmter Mensch nicht mehr so leistungsfähig wie früher ist und sich 38 | J. Hohmeier: »Alter als Stigma«, a.a.O., S. 12.
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deshalb aus dem Berufsleben zurückziehen sollte. Drittens wohnt der Verwendung des Prädikats »alt« eine Tendenz zur ungerechtfertigten Generalisierung inne. Dabei orientieren sich die pauschalen Werturteile an anerkannten gesellschaftlichen Normen, wie etwa dem Leistungsprinzip. Sogenannte »alte Menschen« werden im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit und sozialen Rollen als mehr oder weniger gleich behandelt, und zwar unabhängig davon, ob und in welchem Maße das einzelne Individuum tatsächlich die typischen Einschränkungen bestimmter Menschen eines kalendarischen Alters aufweist oder nicht. Schließlich wirkt sich laut Theorie die Stigmatisierung durch andere auf das Selbstbild der Betroffenen aus. Diese verinnerlichen gleichsam die ihnen von außen zugewiesenen Verhaltenserwartungen und nehmen somit das Stigma »Altsein« an. Die Stigmatisierung der Alten läuft also auf eine ungerechtfertigte Diskriminierung einer bestimmten Gruppe der Bevölkerung hinaus. Im Hinblick auf die semantischen Implikationen der Stigmatisierungstheorie muss zunächst wiederum festgehalten werden, dass ihre Begriffe des Alters und des Alterns im Alter eine stark eingeschränkte Reichweite besitzen. Die Aussagen der Theorie gelten wiederum nur für hoch entwickelte, industrialisierte, westliche Sozialstaaten. Zweitens ist auffällig, dass der sozial etablierte Begriff des Alters gemäß der Theorie eindeutig evaluativ und präskriptiv ist. Er ist evaluativ, weil die Klassifikation eines Individuums als alter Mensch impliziert, dass diese Person in bestimmten Hinsichten weniger leistungsfähig ist als andere; er ist präskriptiv, da die Zuschreibung des Prädikats »alt« damit verbunden ist, dass sowohl an den betroffenen Menschen als auch an diejenigen, die mit ihm interagieren, bestimmte Verhaltenserwartungen gestellt werden. Von besonderer Bedeutung ist in Bezug auf die Stigmatisierungstheorie die Differenz zwischen der beobachteten sozialen Realität und deren kritischer Reflexion durch die Vertreter der Theorie. Diese Theorie erhebt nicht den Anspruch, selbst einen Begriff des Alters und des Alterns im Alter zu konstruieren. Stattdessen sieht sie ihre Aufgabe zunächst darin, zu beobachten,
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wie Individuen in modernen, westlichen Industriegesellschaften typischerweise das Prädikat »alt« verwenden. Allerdings beschränken sich die Vertreter der Stigmatisierungstheorie nicht auf die bloße Deskription der sozialen Faktizität. Vielmehr verfolgen sie ein dezidiert gesellschafts- und ideologiekritisches Anliegen: Sie wollen die Stigmatisierung des Alters als eine durch ökonomische Interessen geleitete Praxis entlarven. Im Unterschied zu anderen soziologischen Alter(n)stheorien »zeichnet sich der Ansatz durch eine kritische Haltung gegenüber der existierenden Gesellschaft aus«39. Charakteristisch für die Stigmatisierungstheorie sei »die Kritik an der Leistungs- und Chancengleichheitsideologie und damit implizit an der entsprechenden Gesellschaft«40. Als letztes Beispiel dafür, wie die soziologischen Begriffe des Alters und des Alterns im Alter jeweils durch den theoretischen Rahmen, in dem sie stehen, geprägt werden, soll hier die Theorie der Lebensphasen vorgestellt werden. Der entsprechende Begriff bezeichnet eine Gruppe von miteinander verwandten Theorien. Zu nennen sind hier vor allem die Lebenslaufforschung, die Biographieforschung sowie die auf die Lebensverlaufsperspektive gerichtete Soziologie.41 Als besonders einflussreich für die Soziologie des Alter(n)s hat sich die Soziologie des Lebenslaufs erwiesen. Ihr Hauptvertreter im deutschsprachigen Raum ist Martin Kohli.42 Das genuine Merkmal der Lebenslauftheorie besteht darin, dass sie die einzelnen Phasen des menschlichen Lebens nicht statisch oder synchron, sondern dynamisch beziehungsweise diachron in ihrem Zusammenhang betrachtet, wobei sie den Übergängen von jeweils einer zur nächsten Phase besondere Aufmerksamkeit schenkt. Die wesentlichen Aussagen der Theorie sind die folgenden. Innerhalb 39 | G. M. Backes/W. Clemens: Lebensphase Alter, a.a.O., S. 153. 40 | Ebd., S. 154. 41 | H. Kühnemund/K. R. Schroeter: »Alterssoziologie«, a.a.O., S. 20. 42 | Vgl. M. Kohli: Soziologie des Lebenslaufs, Darmstadt/Neuwied 1978, insb. die Einleitung des Herausgebers mit dem Titel »Erwartungen an eine Soziologie des Lebenslaufs«, S. 9-31.
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moderner Arbeitsgesellschaften werde der Lebenslauf der meisten Individuen im Hinblick auf den gesellschaftlichen Arbeitsprozess strukturiert. Im Mittelpunkt des menschlichen Lebens stünden die drei Phasen, die unmittelbar auf die Teilnahme am sozialen Arbeitsleben bezogen sind: die Phase der Vorbereitung, die Phase der beruflichen Aktivität und diejenige des Ruhestandes.43 Besonders betont wird im Rahmen der Theorie, dass sowohl die Abfolge als auch der Inhalt sowie die Übergänge der Lebensphasen institutionalisiert sind.44 Darüber hinaus ist zu beachten, dass gemäß der Theorie ein gewisser Spielraum in Bezug auf die Korrelierung zwischen chronologischem Alter einerseits und den Lebensphasen sowie den Übergängen zwischen ihnen anderseits besteht. Dies bedeutet, dass sich die Aufeinanderfolge und Länge der Lebensphasen zwar am kalendarischen oder chronologischen Alter orientiert, dass aber nicht zwingend auf das Lebensjahr genau festgeschrieben ist, wann eine Phase beendet und die nächste eingeleitet werden soll.45 Zumindest in der Hochphase der Institutionalisierung der Lebensläufe seien diese weitgehend homogenisiert worden. Dabei sei die Institutionalisierung des Lebenslaufs »um das Berufsleben herum organisiert und gesellschaftlich durch das Bildungs- und Sozialversicherungssystem ausgeprägt worden«46. Insgesamt tendierte die soziale Regulierung der Lebensläufe bis zu ihrem Höhepunkt am Ende der 1960-er Jahre zur Etablierung eines Normallebenslaufs als Maßstabs für die Gestaltung des individuellen Lebens. Im Rahmen dieses normalen Lebenslaufs sei die Lebensphase Alter »ge43 | Vgl. G. M. Backes/W. Clemens: Lebensphase Alter, a.a.O., S. 164. 44 | Als Reaktion auf Einwände gegen seine ursprünglich in den 1970er Jahren entwickelte Theorie und auf neuere gesellschaftliche Tendenzen hat Kohli die These von der Institutionalisierung des Lebenslaufs später abgeschwächt. In den 1990-er Jahren räumte er »›gewisse Tendenzen zu einer De-Institutionalisierung‹« seit den 1960-er Jahren ein (zit.n. G. M. Backes/W. Clemens: Lebensphase Alter, a.a.O., S. 165). 45 | Vgl. u.a. H. Künemund/K. R. Schroeter: »Alterssoziologie«, a.a.O., S. 17f. 46 | G. M. Backes/W. Clemens: Lebensphase Alter, a.a.O., S. 164.
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mäß der Dreiteilung des Lebenslaufs […] mit der nachberuflichen Phase gleichgesetzt«47 worden. Es ist offensichtlich, dass der im Rahmen der Lebenslauftheorie entwickelte Begriff des Alters Gemeinsamkeiten mit den bereits dargestellten anderen soziologischen Altersbegriffen aufweist. Zu nennen ist hier in erster Linie der Gedanke, dass das Alter kein natürliches Phänomen, sondern eine sozial konstruierte Lebensphase darstellt: »Im Zentrum [der Theorie – C.M.] steht die Frage der sozialen Konstruktion des Lebenslaufs.«48 Zweitens beschränkt sich auch diese Theorie zuvörderst auf die Analyse des Alters in den modernen, westlichen Arbeitsgesellschaften. Darüber hinaus enthält auch in diesem Falle der Begriff des Alters das Element des Rückzugs aus dem gesellschaftlich geregelten Erwerbsleben in den ebenso sozial regulierten Ruhestand. Wiederum muss diese Aussage dahingehend verstanden werden, dass der Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand nicht als notwendige Bedingung für den Beginn der Lebensphase Alter verstanden werden darf. Vielmehr handelt es sich hier um den typischen Beginn des Alters im Rahmen eines normalen Lebenslaufs. Schließlich ist erwähnenswert, dass der im Kontext der Lebenslauftheorie entwickelte Begriff des Alters und des Alterns im Alter das Element der Verknüpfung zwischen der strukturellen Sphäre der Gesellschaft und der individuellen Sphäre der Persönlichkeit enthält. Nachdem in diesem Abschnitt die Vielfalt der soziologischen Begriffe des Alters exemplarisch anhand von vier einflussreichen Theorien dargestellt worden ist, sollen die bisher angestellten Überlegungen nun im Hinblick auf die Analyse des Begriffs des Alters systematisch ausgewertet werden.
47 | Ebd., S. 165. 48 | M. Kohli, »Vorwort«, in: ders., Soziologie des Lebenslaufs, a.a.O., S. 7-8, S. 8.
4. Der Begriff des Alterns in der Soziologie
4.4 A uswertung und E inordnung der E rgebnisse Im Unterschied zu den im vorigen Kapitel behandelten biologischen Begriffen des Alters weisen alle soziologischen Altersbegriffe die Gemeinsamkeit auf, dass sie sich auf den Menschen beschränken. Die soziologischen Theorien des Alters sind ausnahmslos nur im Hinblick auf Menschen und menschliche Gesellschaften entwickelt worden. Deshalb handelt es sich bei den soziologischen im Unterschied zu den biologischen Altersbegriffen um speziesbezogene Begriffe des Alters und Alterns im Alter. Zwar wird im Rahmen der Soziologie des Alters die Frage, ob sich die soziologischen Begriffe des Alters auch auf andere Spezies beziehen lassen, nicht explizit erörtert; es liegt jedoch auf der Hand, dass dies wohl kaum möglich sein dürfte, weil diese Begriffe auf spezifisch menschliche Fähigkeiten und Aktivitäten Bezug nehmen, wie etwa auf die Fähigkeit zu sprechen, zu arbeiten oder sich wechselseitig bestimmte Prädikate zu- oder abzusprechen. Von einigen Ausnahmen abgesehen, gilt des Weiteren für die Soziologie des Alters, dass Soziologen, die sich mit Alter und Altern im Alter beschäftigen, in der Regel nicht das Ziel verfolgen, die Begriffe des Alters und des Alterns im Alter selbst zu bestimmen.49 Stattdessen sehen sie ihre Aufgabe zumeist darin, als Beobachter zu analysieren, wie diese Begriffe innerhalb der sozialen Praxis, genauer gesagt, im Rahmen bestimmter Gesellschaften in bestimmten Zeiträumen gebraucht werden.50 Aus der Differenz zwischen sozialer Praxis und soziologischer Theorie ergibt sich für 49 | Eine Ausnahme stellt beispielsweise P. Lasletts Lehre von den vier Lebensaltern dar, weil diese ausdrücklich mit dem Anspruch verbunden ist, den sozial etablierten Begriff des Alters durch einen differenzierteren Begriff zu ersetzen (vgl. dazu oben). 50 | Dabei kann zwar die Analyse der sozial etablierten Begriffe »Alter« und »Altern« in historische Vergleiche eingebettet sein (vgl. G. Göckenjan: Das Alter würdigen, a.a.O.; P. Laslett: Das Dritte Alter, a.a.O.), dies muss jedoch nicht der Fall sein.
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die Soziologen die Möglichkeit, zu den sozial etablierten Begriffen des Alters und des Alterns kritisch Stellung zu beziehen. Hier stößt man wiederum auf einen augenfälligen Unterschied zur Biologie. Biologen können nicht als Beobachter konstatieren, wie innerhalb der gesamten Flora und Fauna der Begriff des Alter(n)s verwendet wird, weil die überwältigende Mehrheit der Spezies nicht über eine propositional strukturierte Sprache verfügt. Beispielsweise sind Fadenwürmer, von denen im vorigen Kapitel mehrmals die Rede war, weil sie in biologischen Experimenten zur Erforschung des Alterns häufig als Versuchsobjekte dienen, außerstande, sich selbst oder andere Individuen als alt zu bezeichnen. Aus dieser Tatsache folgt, dass die Biologen gezwungen sind, den Begriff des Alter(n)s selbst zu bestimmen. Weil dies so ist, findet sich die erwähnte Differenz zwischen der beobachteten Verwendung des Prädikats »alt« und der möglichen Einschätzung derselben im Rahmen der Theorie zwar in der Soziologie, nicht jedoch in der Biologie. Im Übrigen folgt aus der bloßen Möglichkeit, die sozial etablierte Alterszuschreibung kritisch zu reflektieren und zu beurteilen, selbstverständlich nicht, dass diese Möglichkeit in allen soziologischen Theorien des Alters auch genutzt wird. Deshalb ist die kritische Reflexion auf den aus der Beobachtung gewonnenen Altersbegriff kein notwendiges Merkmal der Soziologie des Alters. Ferner hat die Untersuchung ergeben, dass zwischen dem Minimalgehalt des soziologischen Begriffs des Alters und darüber hinausgehenden Begriffsbestimmungen unterschieden werden muss. Der soziologische Minimalbegriff des Alters ist derjenige, welcher innerhalb der Soziologie des Alters schulübergreifend konsensfähig ist. Hingegen sind die zusätzlichen Begriffsbestimmungen jeweils theorierelativ. Der soziologische Minimalbegriff des Alters wurde oben (siehe 4.2) folgendermaßen bestimmt: Das Alter ist die letzte der möglichen Phasen im Leben eines Menschen, wobei die Abgrenzung dieser Lebensphase nicht auf natürliche Weise konstituiert, sondern stets sozial konstruiert wird. Dieser Minimalbegriff des Alters soll nun in die in Kapitel 1 entwickelte Typologie der Altersbegriffe eingeordnet werden.
4. Der Begriff des Alterns in der Soziologie
Dieser Begriff ist (i) speziesrelativ, nämlich nur mit Bezug auf unsere Gattung konzipiert worden. Er ist (ii) im Unterschied zu einigen biologischen Altersbegriffen strikt organismusbezogen. Im Rahmen der Soziologie wird nicht behauptet, dass auch suborganismische Entitäten, wie etwa Zellen oder Organe, altern. Die Vermutung, dass das Prädikat »alt« von der Soziologie nicht nur auf einzelne Menschen als ganze Organismen, sondern auch auf supraorganismische Entitäten, wie etwa Gesellschaften als Ganze, bezogen werden könnte, hat sich m. E. nicht bestätigt. Ausdrücke wie »alternde Gesellschaft« erweisen sich bei genauerem Hinsehen als abkürzende Redeweisen, die zum Ausdruck bringen sollen, dass der Anteil alter Individuen an der Gesamtbevölkerung zunimmt, mit denen aber nicht behauptet werden soll, dass die Gesellschaft als Ganze im gleichen Sinne altert wie einzelne Menschen.51 Charakteristisch für den soziologischen Minimalbegriff ist (iii), dass er eindeutig kulturalistisch ist. Ungeachtet der zwischen ihnen bestehenden Meinungsverschiedenheiten stimmen alle soziologischen Theorien des Alters darin überein, dass das Alter immer, d.h. in beliebigen Gesellschaften zu beliebigen Zeitpunkten ein soziales Konstrukt und keine natürliche Tatsache ist. Gewöhnlich geht diese konstruktivistische Annahme mit der weitergehenden relativistischen These einher, dass das Alter in verschiedenen Gesellschaften und Epochen auf unterschiedliche Art und Weise sozial konstruiert wird. Da im Rahmen der soziologischen Erforschung des Alters sowohl objektiv feststellbare als auch subjektiv erlebbare Aspekte berücksichtigt werden können, lässt sich der soziologische Begriff des 51 | Besonders deutlich wird dies bei F.-X. Kaufmann: Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt a.M. 2005, in dem Abschnitt »Das Altern der Bevölkerung« (S. 39-48). Hier wird der Ausdruck »Altern der Bevölkerung« durchgängig als Abkürzung für die Zunahme des Anteils alter Menschen an der Gesamtbevölkerung verwendet. Ebenso S. Shimada/C. Tagsold: Alternde Gesellschaften im Vergleich. Solidarität und Pflege in Deutschland und Japan, Bielefeld 2006, S. 94f.
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Alters (iv) weder dem objektivistischen noch dem subjektivistischen Begriffstypus zuordnen. Während etwa der Zeitpunkt, zu dem Menschen innerhalb einer bestimmten Gesellschaft aufgrund entsprechender gesetzlicher Regelungen aus dem Arbeitsleben ausscheiden, objektiv feststellbar ist, kann die Frage, wie sich der Eintritt in den Ruhestand auf das Wohlbefinden und das Selbstwertgefühl der Betroffenen auswirkt, nicht ohne deren Mitwirkung, d.h. nicht ohne Berücksichtigung des subjektiven Moments beantwortet werden. Im Rahmen der Soziologie des Alters ist in diesem Zusammenhang oft von »Selbstbildern« alter Menschen die Rede. Als bedeutend schwieriger erweist sich die semantische Klassifikation, wenn man vom soziologischen Minimalbegriff des Alters und des Alterns im Alter zu den zusätzlichen, theorierelativen Begriffsinhalten übergeht. Aufgrund der bereits mehrfach erwähnten Vielfalt und Heterogenität der soziologischen Alter(n)stheorien lassen sich hier keine allgemeingültigen Aussagen treffen. Es können jedoch einige Feststellungen getroffen werden, die zwar nicht auf alle soziologischen Theorien des Alter(n)s zutreffen, die aber dennoch mit gewissen Einschränkungen als charakteristisch für die soziologische Erforschung des Alter(n)s bezeichnet werden können. An dieser Stelle ist eine wichtige und folgenreiche Eigenheit der Soziologie des Alters in Erinnerung zu rufen: Weil Soziologen bei der Untersuchung des Alter(n)s in der Regel den Beobachterstandpunkt einnehmen, um von diesem aus zu ermitteln, mit welcher Bedeutung der Begriff des Alter(n)s in einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gebraucht wird, ergibt sich aus der Differenz zwischen dem beobachteten, sozial etablierten Alter(n)sbegriff und der Theorie die Möglichkeit, den in der Gesellschaft gebräuchlichen Begriff des Alters und des Alterns im Alter kritisch zu reflektieren. Auf die Bedeutung dieser Differenz im Hinblick auf die semantische Ausdeutung des Alter(n)sbegriffs wird gleich zurückzukommen sein. Dem aufmerksamen Leser wird sicherlich nicht entgangen sein, dass bei der Einordnung des soziologischen Minimalbegriffs in die früher entwickelte Typologie ein Kriterium der Typologisierung
4. Der Begriff des Alterns in der Soziologie
noch nicht berücksichtigt wurde, nämlich die Frage, ob Alter(n)sbegriffe deskriptiv, evaluativ oder präskriptiv sind. Dies soll nun nachgeholt werden. Der soziologische Minimalbegriff des Alter(n)s ist zunächst ein deskriptiver. Zumindest einige der theorierelativen Begriffsbestimmungen sind jedoch zweifellos in einem bestimmten, zu präzisierenden Sinne sowohl evaluativ als auch präskriptiv. Innerhalb der Soziologie des Alter(n)s wird häufig behauptet, dass der sozial etablierte Begriff des Alters und des Alterns im Alter nicht nur deskriptiv, sondern auch evaluativ und präskriptiv gebraucht wird, weil er mit bestimmten Bewertungen alter Menschen und mit Handlungs- und Rollenerwartungen verbunden ist. Zu dieser Einsicht gelangte die Forschung bereits in den 1960-er Jahren. So konstatieren Victor W. Marshall und Vern L. Bengtson im Rückblick auf diese Zeit: »In the early 1960s, Bernice Neugarten and her students began conducting systematic research on age norms, concluding that in America there exists a prescriptive timetable for the ordering of major life events, such as the appropriate age to finish education, get married, have children, and retire [Neugarten et al. 1965]. Moreover, the age expectations and the actual age at which these events occurred were highly related. They concluded that age norms operate as accellerators and brakes on individual behavior, sometimes hastening an event and sometimes delaying it.« 52
Die in diesem Zitat zum Ausdruck gebrachte Auffassung ist m.E. repräsentativ für große Teile der Soziologie des Alters. Zahlreiche Vertreter des Faches stimmen darin überein, dass die innerhalb moderner, westlicher Arbeitsgesellschaften jeweils gebräuchlichen Alter(n)sbegriffe nicht nur zur Beschreibung und Einordnung von Lebensphasen und Individuen verwandt werden, sondern auch dazu, mit ihrer Hilfe bestimmte Bewertungen und Handlungserwartungen auszudrücken. Insofern ist die Behauptung, dass zumindest 52 | V. W. Marshall/V. L . Bengtson: »Theoretical Perspectives on the Sociology of Aging«, a.a.O., S. 18.
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einige soziologische Alter(n)sbegriffe nicht nur deskriptiv, sondern auch evaluativ und präskriptiv sind, korrekt. Allerdings trifft dies nur zu, wenn man unter einem soziologischen Begriff des Alter(n)s denjenigen in der sozialen Praxis etablierten Begriff versteht, der von Soziologen als Beobachter konstatiert und analysiert wird. Zu beachten ist jedoch, dass Soziologen aufgrund der theoretischen Distanz zu ihrem Untersuchungsgegenstand diesen nochmals beurteilen können. Nicht alle, aber einige Schulen machen von dieser Möglichkeit auch Gebrauch. Mit Bezug auf derartige Fälle muss nun strikt zwischen dem soziologischen Alter(n)sbegriff im Sinne des sozialen Begriffs des Alter(n)s und dem soziologischen Alter(n)sbegriff im Sinne der kritischen Reflexion auf jenen unterschieden werden. Es ist im Rahmen verschiedener soziologischer Alter(n)stheorien üblich, die sozial etablierten Alter(n)sbegriffe entweder offen zu kritisieren oder sie durch den Aufweis ihrer sozialen Genese als Konstrukte und Ausdruck bestimmter Interessen zu desavouieren und dadurch zu suggerieren, dass sie kritikwürdig sind. Diese Behauptung soll abschließend anhand dreier Beispiele exemplarisch belegt werden. Manche Soziologen verbinden die theoretische Beschäftigung mit Alter und Altern im Alter mit dem Anspruch, dazu beizutragen, auch in unseren modernen, stark individualisierten Gesellschaften ein »gelingendes« oder »erfolgreiches« Alter zu ermöglichen.53 Diejenigen Autoren, die sich explizit zu diesem Ziel bekennen, legen die normative Grundlage ihrer Kritik an der sozialen Praxis der Alter(n)szuschreibung offen. Dies gilt auch für die nicht geringe Zahl der Theoretiker, welche ihre Kritik an den sozial etablierten Alter(n)sbegriffen in den größeren Rahmen der Kapitalismuskritik oder der Kritik an der Leistungsgesellschaft stel53 | Vgl. u.a. P. B. Baltes/M. M. Baltes: »Erfolgreiches Altern: Mehr Jahre und mehr Leben«, in: M. M. Baltes/M. Kohli/K. Sames (Hg.): Erfolgreiches Altern. Bedingungen und Variationen, Bern/Stuttgart/Toronto 1989; P. Laslett, Das dritte Alter, a.a.O.; L. Rosenmayr, »Soziologische Theorien des Alterns«, a.a.O.
4. Der Begriff des Alterns in der Soziologie
len.54 Schließlich kann als drittes Beispiel für die erwähnte Distanz zum gesellschaftlich akzeptierten, evaluativ-präskriptiven Alter(n)sbegriff die dekonstruktivistische Herangehensweise genannt werden, der zufolge Alter(n)sbilder »immer vor dem Hintergrund von Machtverhältnissen zu betrachten«55 sind. Somit kann abschließend konstatiert werden, dass soziologische Begriffe des Alter(n)s einerseits nicht notwendigerweise über die bloße Deskription hinausgehen. Andererseits können sie gleich in zweifacher Hinsicht evaluativ beschaffen sein. Sowohl ein innerhalb einer bestimmten Gesellschaft akzeptierter Begriff des Alter(n)s als auch dessen kritische Reflexion innerhalb der Soziologie können bestimmte Bewertungen implizieren.
54 | Vgl. J. Hohmeier, »Alter als Stigma«,a.a.O.; M. Krohn, a.a.O. 55 | B. Pichler: »Aktuelle Altersbilder«, a.a.O., S. 416.
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5. Der Begriff des Alterns in der Psychologie 5.1 E inführung Dieses Kapitel widmet sich der Analyse des Alternsbegriffs in der Psychologie. Da hier nur der psychologische Begriff des Alterns untersucht wird, geht es auch in diesem Kapitel nicht darum, eine möglichst große Menge von Theorien vorzustellen. Vielmehr soll geprüft werden, ob verschiedene theoretische Ansätze innerhalb der Psychologie des Alterns die Begriffe »Altern« und »Alter« mit der gleichen Bedeutung verwenden oder nicht. Die Auswahl der Theorien orientiert sich an den einschlägigen Nachschlagewerken aus neuerer und neuester Zeit.1 Dabei werden im Anschluss an diese Überblicksdarstellungen auch Ansätze berücksichtigt, die zwar schon etwas älter sind, die sich jedoch über Jahrzehnte hinweg bis in die Gegenwart hinein als besonders einflussreich erwiesen haben.
1 | K. W. Schaie/S. L. Willis (Hg.): Handbook of the Psychology of Aging, 7th Edition, Amsterdam/Boston u.a. 2011; V. L. Bengston/D. Gans/N. M. Putney/M. Silverstein (Hg.): Handbook of Theories of Aging, 2nd Edition, New York 2009; J. E. Birren/K. W. Schaie (Hg.): Handbook of the Psychology of Aging, 6 th Edition, Amsterdam/Boston/Heidelberg u.a. 2006; U. Lehr: Psychologie des Alterns, Wiebelsheim 2003; J. E. Birren/J. J. F. Schroots (Hg.): Handbook of the Psychology of Aging, 5th Edition, San Diego/San Francisco/New York u.a. 2001; F. I. M. Craik/T. A. Salthouse (Hg.): The Handbook of Aging and Cognition, Hillsdale/New Jersey/Hove/London 1992.
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In Bezug auf den Untersuchungsgegenstand weist die Psychologie des Alterns bestimmte Ähnlichkeiten mit der Biologie auf der einen Seite und der Soziologie auf der anderen Seite auf. Wie auch die Biologie kann die Psychologie das Phänomen »Altern« auf einer suborganismischen Ebene untersuchen. Ein Beispiel dafür ist die Erforschung der Veränderungen des Gedächtnisses im Alter, die durch Veränderungen innerhalb des Nervensystems verursacht werden.2 Darüber hinaus bezieht die Psychologie den Begriff des Alterns auch auf subpersonale Phänomene. Nach Franz E. Weinert kann innerhalb der Psychologie des Alterns unterschieden werden »zwischen einer isolierten Betrachtung einzelner Variablen (subpersonale Ebene) und einer Berücksichtigung der Person als einer übergeordneten Einheit psychischer Merkmale (personale Ebene; […])«3. Charakteristisch für die subpersonale Ebene sei »die separate Analyse und funktionale Verknüpfung von Variablen (Lebensalter, Intelligenz, Gedächtnis, Selbstkonzept, Lebenszufriedenheit, Geschlecht usw.). Unterstellt wird dabei, daß psychologische Gesetzmäßigkeiten unabhängig von der Person als einem wertorientierten, intentional handelnden und zur Selbstreflexion fähigen Subjekt wissenschaftliche Geltung haben.« 4
Die auffälligste Gemeinsamkeit mit der Soziologie des Alterns besteht darin, dass die Psychologie sich nicht darin erschöpft, objektiv konstatierbare Fakten zu sammeln und zu erklären, sondern dass sie zumindest teilweise ausdrücklich die subjektive Perspektive der Betroffenen einbezieht. Außerdem findet sich auch in der 2 | Vgl. M. Moscovitch/G. Winocur: »The Neuropsychology of Memory and Aging«, in: F. I. M. Craik/T. A. Salthouse (Hg.): The Handbook of Aging and Cognition, Hillsdale/New Jersey/Hove/London 1992, S. 315-372. 3 | F. E. Weinert: »Altern in psychologischer Perspektive«, in: P. B. Baltes/ J. Mittelstraß/U. M. Staudinger (Hg.): Alter und Altern. Ein interdisziplinärer Studientext zur Gerontologie, Berlin/New York 1994, S. 180-203, S. 187. 4 | Ebd.
5. Der Begriff des Alterns in der Psychologie
Psychologie des Alterns die bereits aus der Soziologie bekannte kulturalistische Annahme (vgl. Kap. 4), dass beim Altern nicht nur biotische Prozesse Auswirkungen auf Verhalten und Kognition haben, sondern dass auch soziale und kulturelle Bedingungen die organische Konstitution kausal beeinflussen können. Schon diese kurze Einführung zeigt, dass die Beschäftigung mit dem Altern in der Psychologie eine geradezu unübersichtliche Vieldimensionalität aufweist. Deshalb erscheint »die Binnendifferenzierung eines Forschungsprogramms […], das die psychologischen Aspekte des Alterns zum Gegenstand hat«5, schwierig. Dennoch soll im Folgenden versucht werden, die verschiedenen Forschungsansätze innerhalb der Psychologie des Alterns zu systematisieren, um die Analyse der Alternsbegriffe vorzubereiten.
5.2 S ystematische U nterteilungen innerhalb der P sychologie des A lterns Wie bereits angedeutet wurde, ist die Breite der psychologischen Beschäftigung mit dem Altern in Bezug auf die Untersuchungsgegenstände, die Fragestellungen und die angewandten Methoden ebenso beeindruckend wie verwirrend. Um dies zu verdeutlichen, sollen nur einige wenige, willkürlich ausgewählte Punkte aus dem Inhaltsverzeichnis des erstmals vor mehr als 40 Jahren von Ursula Lehr veröffentlichten und nun in der zehnten, korrigierten Auflage vorliegenden6 Klassikers Psychologie des Alterns7 aufgezählt werden: Defizitmodelle des Alterns, Gerotranszendenz, geschlechtsspezifische Unterschiede, Psychomotorik, Konstanz und Variabilität von Eigenschaften, Zeitperspektive, sexuelles Verhalten, produktives Altern, Typologien der Mediennutzung im Alter etc. Wie diese 5 | Ebd., S. 181. 6 | Vgl. U. Lehr: Psychologie des Alterns, Wiebelsheim 2003. – Die neunte Auflage wurde von Ursula Lehr gemeinsam mit Hans Thomae verfasst. 7 | U. Lehr: Psychologie des Alterns, a.a.O.
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Aufzählung verdeutlicht, sind die im Rahmen der Psychologie des Alterns untersuchten Themen außerordentlich heterogen. Darüber hinaus ist die Psychologie des Alterns sowohl quantitativ wie auch qualitativ eine sehr weit entwickelte Wissenschaft. Angesichts der daraus resultierenden Unübersichtlichkeit dürfte man erwarten, dass die führenden Experten versucht haben, das vielschichtige Material zu ordnen. Es ist jedoch auffällig, dass selbst in einschlägigen Nachschlagewerken, abgesehen von Darstellungen der historischen Entwicklung der psychologischen Alternsforschung8, selten eine explizite Systematisierung der Psychologie des Alterns zu finden ist. Grundsätzlich lassen sich m.E. mindestens zwei Hinsichten identifizieren, die die Grundlage einer solchen Unterteilung bieten könnten: (i) Die erste Möglichkeit besteht darin, die Themen und Fragestellungen der Psychologie des Alterns zu sortieren. (ii) Ein zweiter Ansatz besteht in der Darstellung der Teilgebiete und angewandten Methoden mit Blick auf die Allgemeine Psychologie. Ungeachtet des Mangels an expliziten Einteilungen stößt man gelegentlich zumindest auf implizit zugrunde gelegte Systematisierungen. In dem bereits erwähnten Standardwerk von Ursula Lehr lässt sich eine solche, implizit vorgenommene Unterscheidung erkennen. Lehr unterscheidet u.a. zwischen sozialpsychologischen Theorien, entwicklungspsychologischen Ansätzen und persönlichkeitspsychologischen Forschungsprogrammen. Diese Einteilung entspricht einer geläufigen Unterteilung innerhalb der Allgemeinen Psychologie. In der sechsten Auflage des Handbook of the Psychology of Aging9 werden die Schwerpunkte hingegen u.a. auf die biologischen und sozialen Einflüsse auf das Altern und das Verhalten, auf Verhaltens8 | Vgl. u.a. J. E. Birren/J. J. F. Schroots: »The History of Geropsychology«, in: dies. (Hg.) Handbook of the Psychology of Aging, 5th Edition, San Diego/ San Francisco/New York u.a. 2001, S. 3-28; U. Lehr: Psychologie des Alterns, a.a.O. 9 | Vgl. J. E. Birren/K. W. Schaie (Hg.): Handbook of The Psychology of Aging, 6 th Edition, Amsterdam/Boston u.a. 2006.
5. Der Begriff des Alterns in der Psychologie
änderungen und Altern sowie auf komplexe Verhaltenskonzepte und Alternsprozesse gelegt. Diese Kategorisierung beruht auf der Unterscheidung zwischen den Fragen, was das Altern ausmacht, wodurch es bewirkt wird und welche Folgen es hat. Eine der seltenen expliziten Systematisierungen des Forschungsfeldes hat Timothy A. Salthouse vorgelegt.10 Dabei handelt es sich um eine metatheoretische Aufgliederung der psychologischen Erforschung des Alterns. Anhand einer Taxonomie, in der Salthouse Fragetypen erfasst, unterscheidet er Forschungsthemen.11 Die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Theorien ließen sich durch eine Reihe von Fragen erfassen12: • • • • •
Was? Wann? Wo? Warum? Wie?
10 | Im Vorwort der siebten Ausgabe des Handbuches weisen die Autoren ausdrücklich darauf hin, dass Artikel in diesem Handbuch einen Schwerpunkt aufweisen: »Some topics covered in earlier editions of the Handbook are not included in the present edition. For this reason readers are advised to consult earlier volumes both for data and for interpretations. The previous editions should be consulted for a perspective on the development of the subject matter of the psychology of aging.« (K. W Schaie/S. L. Willis [Hg.]: Handbook of the Psychology of Aging, 7th Edition, Amsterdam/Boston u.a. 2011, Preface) 11 | »In addition to providing a systematic basis for evaluation theories, the taxonomy may also be useful in understanding how theories differ from one another and why it is often not feasible to make direct comparisons among theories.« (T. A. Salthouse: »Theoretical Issues in the Psychology of Aging«, in: J. E. Birren/K. W. Schaie [Hg.]: Handbook of the Psychology of Aging, 6 th Edition, Amsterdam/Boston/Heidelberg u.a. 2006, S. 3-13, S. 4) 12 | Vgl. ebd. die Tabelle 1.1 auf S. 4.
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Die erste und systematisch grundlegende Frage nach dem Was ist diejenige, welches Phänomen von der Psychologie des Alterns überhaupt beschrieben werden soll. Konkreter formuliert, muss die Frage, in welcher spezifisch psychologischen Hinsicht sich Menschen unterschiedlichen Alters unterscheiden, beantwortet werden: »The question of what is clearly relevant to distinctions among theories because the answer will affect the intended scope of the theory. For example, if the theory is primarily concerned with age differences in a limited aspect of behavior, then it would be probably be considered relatively narrow in scope. In contrast, if the phenomenon is defined in general terms that encompass many different types of variables, then it would be viewed as fairly broad. How a theory answers the question of what will also determine which aspects of the phenomenon are considered primary, and perhaps somewhat analogous to the central ›disease‹ and which are considered secondary, and possibly more analogous to ›symptoms‹ of the disease. […] Because in the former case the answer to the what question refers to the relation among reaction times in different age groups whereas in the latter case it refers to the role of speed in age-related differences in cognition performance, the theories are not addressing the same phenomena, and consequently it may not make sense to attempt to make direct comparisons among them.«13
Salthouse identifiziert in der Beantwortung der Was-Frage im Hinblick auf den Umfang des Untersuchungsgegenstandes und damit auf den Begriff »Altern« zwei Extreme: Auf der einen Seite kann der Umfang des Untersuchungsgegenstandes sehr klein sein, und zwar dann, wenn der Gegenstand durch wenige Aspekte charakterisiert und dementsprechend nur mit Blick auf diese wenigen Merkmale untersucht wird. Da diese Merkmale mit dem Begriff des Alterns inhaltlich verbunden sind, ist die Intension des Begriffs ebenfalls sehr begrenzt. Im Gegensatz dazu stehen Theorien, die in Bezug auf das zu beschreibende Phänomen eine Vielzahl von Aspekten 13 | Ebd., S. 4f.
5. Der Begriff des Alterns in der Psychologie
berücksichtigen. In diesem Fall ist der Inhalt des in der Theorie verwendeten Begriffs »Altern« weit gefasst. Darüber hinaus weist Salthouse auf eine weitere wesentliche Tatsache in Bezug auf die Untersuchungsgegenstände verschiedener psychologischer Theorien des Alterns hin: Ein und dasselbe Merkmal (M) des Alterns kann in zwei Theorien auf völlig unterschiedliche Phänomene Bezug nehmen. Wenn beispielsweise innerhalb zweier Theorien jeweils alternsabhängige Veränderungen der Reaktionszeiten (M) untersucht werden, dann kann dabei Verschiedenes im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Einerseits kann der Unterschied zwischen den Reaktionszeiten von Mitgliedern verschiedener Altersgruppen, beispielsweise von 40-jährigen und 80-jährigen, als solcher fokussiert werden. Andererseits ist es möglich, dass dieser Aspekt nur von mittelbarem Interesse ist, weil nach der kausalen Relevanz der Reaktionszeit für unterschiedliche kognitive Leistungen gefragt wird. Die Frage Wann zielt darauf ab, von welchem Zeitpunkt an ein Phänomen im Rahmen der Psychologie des Alterns untersucht und beschrieben wird. Auch sie spielt im Hinblick auf den Vergleich verschiedener Alternspsychologien eine Rolle: »The question of when is relevant to the evaluation of theories because if the theory assumes that the phenomenon begins early in adulthood, then the theorist needs to consider what can be learned by studying age differences very late in life, whereas if the theory assumes that the phenomenon begins late in life, then the relevance of observations in early adulthood needs to be considered. […] Many studies compare a sample of young college students with a sample of adults between 60 and 80 years of age, others restrict their focus to adults above a certain age, such as 50 or 70, and a few studies compare adults across a wide range of 18 to 90 or older.«14
Salthouse lenkt hier die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass der Abschnitt des menschlichen Lebens, der von verschiedenen psy14 | Ebd., S. 5.
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chologischen Theorien des Alterns in den Blick genommen wird, jeweils zu verschiedenen Zeitpunkten beginnen und enden kann. Dieser Hinweis zielt auf die Vergleichbarkeit und Anwendbarkeit von erhobenen Daten ab. Die Daten, die mit Blick auf Unterschiede und Veränderungen zwischen Gruppen in verschiedenen Lebensaltern erhoben werden, zum Beispiel zwischen 50-jährigen und 70-jährigen, avisieren unter Umständen andere Phänomene als Daten, die Veränderungen erfassen, die sich von einem bestimmten Zeitpunkt an, zum Beispiel ab dem 80. Lebensjahr im höheren Lebensalter vollziehen. Im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Arbeit kann hier bereits vorwegnehmend konstatiert werden, dass innerhalb der Psychologie des Alterns der Umfang der Untersuchungsgegenstände stark variiert. Es ist zu vermuten, dass auch die Intensionen der dabei zugrunde gelegten Begriffe des Alterns stark voneinander abweichen können. Der Umfang des Begriffs ist in Theorien, die Veränderungsprozesse ab einem bestimmten Zeitpunkt im höheren Lebensalter untersuchen, wesentlich enger als in Theorien15, die Veränderungsprozesse während des gesamten Lebens erforschen. Dieses weit gefasste Verständnis von »Altern« wirft die Frage auf, ob und wie Theorien, die den Begriff des Alterns auf das gesamte Leben eines Menschen beziehen, zwischen den Begriffen »Altern« und »Entwicklung« differenzieren können. Darauf wird auf den Seiten 202-207 noch einmal genauer eingegangen werden. Bei der Frage Wo geht es darum, wo die Ursprünge von altersbedingten Veränderungen jeweils lokalisiert werden. Diese Frage kann nach Salthouse auf mindestens fünf Weisen beantwortet werden: »Most of the questions of where have tried to localize age-related effects within some type of conceptual or neuroanatomical model of the behavioral variable of interest. […] Although the question of where, in the form of 15 | Vgl. u.a. P. B. Baltes unter Mitarb. von L. H. Eckensberger (Hg.): Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, Stuttgart 1979.
5. Der Begriff des Alterns in der Psychologie
either conceptual or neuroanatomical localization, has been the focus of a great deal of aging-related research in the area of cognitive functioning, it actually may be the least important of the major theoretical questions.«16
Auf die Wo-Frage soll hier nicht weiter eingegangen werden, da sie Salthouse zufolge von untergeordneter Bedeutung ist. Ganz anders verhält es sich mit den Fragen nach dem Warum und dem Wie. Diese beiden Aspekte sind nach Salthouse häufig eng miteinander verbunden: »The question of why is often closely linked to the question of how because the latter focuses on the specific manner by which the postulated causes (i.e., the hypothesized answer to why) produce the phenomenon. A successful answer to the question of why should therefore be accompanied by a fairly thorough understanding of the basis for the developmental trends of interest, and a successful answer to the question of how should specify the mechanisms underlying any interventions or moderators that might be found to alter the rate of aging.«17
Welche kausalen Determinanten für den Alternsprozess von den Wissenschaftlern in ihrer Forschung angenommen werden, ist notwendig mit der Beantwortung der Frage verbunden, welche Auswirkungen des Alterns überhaupt betrachtet werden. Deshalb sind die jeweils angenommenen kausalen Determinanten in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Einerseits sind sie relevant im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand. Wenn beispielsweise das Phänomen »Verhaltensveränderungen im hohen Alter« im Rahmen neuropsychologischer Modelle erklärt wird, dann fokussieren Psychologen etwas anderes, als wenn diese Veränderungen durch den ausschließlichen Rekurs auf die Kommunikationsstruktur in einem 16 | T. A. Salthouse: »Theoretical Issues in the Psychology of Aging«, in: J. E. Birren/K. W. Schaie (Hg.): Handbook of the Psychology of Aging, 6 th Edition, Amsterdam/Boston/Heidelberg u.a.2006, S. 3-13, S. 6. 17 | Ebd.
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bestimmten soziokulturellen Umfeld erklärt werden. Dabei hängen die Annahmen über das Warum und das Wie untrennbar miteinander zusammen. Wenn man beispielsweise von der Voraussetzung ausgeht, dass alterstypische Verhaltensveränderungen maßgeblich durch organische Prozesse im Gehirn verursacht werden (Warum), dann wird man bei der Erklärung dieser Veränderungen auf Modifikationen bestimmter Hirnstrukturen rekurrieren (Wie). Zweitens können die Annahmen über die Verursachung des Alterns dazu führen, dass zeitlich verschieden ausgedehnte Phasen in Betracht gezogen werden. Einerseits können zur Erklärung bestimmter Veränderungen im Verhalten von Hochbetagten ausgesuchte Parameter aus dem Umfeld ihrer Jugendzeit herangezogen werden. Wenn andererseits vorausgesetzt wird, dass alterstypische Veränderungen des Verhaltens im Wesentlichen durch Prozesse verursacht werden, die in der Regel erst ab einem bestimmten, verhältnismäßig hohen chronologischen Alter auftreten, dann wird man nur den letzten Abschnitt des Lebens berücksichtigen. Während Salthouse aus metatheoretischer Perspektive grundlegende Fragen in den einzelnen Alternstheorien im Hinblick auf deren Vergleichbarkeit aufzeigt und diskutiert, identifiziert der bedeutende Psychologe Franz E. Weinert hinsichtlich des Themenspektrums der Psychologie des Alterns vier Fragestellungen.18 Thematisch lassen sich nach Weinert dabei die folgenden Bereiche voneinander unterscheiden: • Beschreibung und Analyse der Alternsveränderungen psychischer Merkmale und Mechanismen (Was macht das Altern aus?) • Analyse der psychischen oder sich psychisch manifestierenden Bedingungen des menschlichen Alterns (Was liegt dem Altern zugrunde?) • Psychische Verarbeitung und Bewältigung des Alters beziehungsweise der mit dem Älterwerden verbundenen Defizite, 18 | Vgl. F. E. Weinert: »Altern in psychologischer Perspektive«, a.a.O., S. 180f.
5. Der Begriff des Alterns in der Psychologie
Einschränkungen und Verluste (Wie gehen Menschen tatsächlich mit dem Altern um, und wie kann das Altern erfolgreich bewältigt werden?) • Psychosoziale Beeinflussung unerwünschter Erscheinungen und Begleiterscheinungen des Altwerdens (Wie können das Altern und dessen Erleben zielgerichtet beeinflusst werden?) Auffallend an dieser Systematisierung ist, dass die ersten beiden Themenbereiche hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes im Gegensatz zu den anderen beiden wertneutral sind. Deshalb liegt dieser themenbezogenen Gliederung eine fundamentalere Unterscheidung zugrunde. Während die psychologische Alternsforschung auf der einen Seite empirische Fragen bearbeitet, kann sie auf der anderen Seite auch evaluative und normative Fragen stellen, wie beispielsweise danach, wie das Altern bewältigt werden sollte oder worin ein gelingendes Altern besteht. Im Hinblick auf diesen zweiten Fragetypus besteht begrifflich eine Nähe zwischen »Altern« und »Gesundheit« bzw. »Krankheit«. Dieser Aspekt wird auf Seite 194f. noch einmal ausführlich dargestellt. Dies unterscheidet die Psychologie des Alterns gänzlich von der Biologie und teilweise von der Soziologie. Biologen, die das Altern und dessen Ursachen und Wirkungen untersuchen, sehen es nicht als eine ihrer Aufgaben an, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie das Altern erfolgreich bewältigt werden kann. Ihnen geht es allein um die Beschreibung, Erklärung und Voraussage empirischer Ereignisse. Beispielsweise prüfen sie experimentell, ob sich der Alterungsprozess bestimmter Organismen hinausschieben und verzögern lässt. Die Frage, ob die dabei verwendeten Versuchsorganismen ihr Altern erfolgreich bewältigen oder nicht, gehört nicht zum Gegenstandsbereich der Biologie. Im Übrigen lässt sich diese evaluative Frage im Rahmen der Biologie auch gar nicht beantworten. Anders verhält es sich mit der Soziologie des Alterns. Wie bereits dargestellt wurde (Kapitel 4), ist die Frage nach dem gelingenden Altern der Soziologie durchaus nicht fremd. In dieser Hinsicht stimmen die psychologische und die soziologische Erforschung des Alters und Alterns überein.
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Am nächsten kommt die Psychologie des Alterns, wenn sie sich mit evaluativen Problemen beschäftigt, allerdings der in Kapitel 2 dargestellten Philosophie des Alterns. Seit der Antike wurde im Rahmen der philosophischen Beschäftigung mit dem Altern die evaluative Frage erörtert, ob das Altern an sich etwas Gutes oder etwas Schlechtes ist. Häufig zielte sie auf die Beantwortung der präskriptiven Frage ab, wie der Mensch im Allgemeinen oder der Philosoph im Besonderen sich vernünftigerweise zu seinem eigenen Altwerden verhalten solle. Wie diese Reminiszenz zeigt, steht die Psychologie des Alterns, sofern sie das Problem der Bewältigung des Alterns aufwirft, in einer weit zurückreichenden Theorietradition.
5.3 P ersonale B egriffe des A lterns in der P sychologie Die Ausführungen über die Systematik der Psychologie des Alterns haben bereits zu dem wichtigen Ergebnis geführt, dass sich innerhalb der Alternspsychologie in verschiedenen Hinsichten jeweils engere und weitere Begriffe des Alterns unterscheiden lassen. Dabei ist jedoch noch nicht hinreichend deutlich geworden, was denn die Psychologie überhaupt unter »Altern« versteht. Diese Frage soll im Folgenden im Anschluss an einen aussagekräftigen Aufsatz von Franz E. Weinert beantwortet werden. Für die Auswahl dieses Textes mit dem Titel »Altern in psychologischer Perspektive« spricht vor allem, dass Weinert einer der wenigen Forscher auf diesem Gebiet ist, die sich ausdrücklich und ausführlich zum Begriff des Alterns geäußert haben. Wie bereits angemerkt wurde (vgl. oben), finden sich darüber hinaus in den neueren und neuesten Nachschlagewerken zur Psychologie des Alterns kaum explizite Definitionen oder Explikationen des Begriffs des Alterns bzw. des Forschungsgegenstandes dieser Disziplin. Auch deshalb ist der Text von Weinert, obwohl er bereits im Jahr 1994 publiziert wurde, nach wie vor einschlägig im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Untersuchung.
5. Der Begriff des Alterns in der Psychologie
Was eine wissenschaftliche Disziplin jeweils unter »Altern« versteht, wird maßgeblich davon abhängen, wie die Vertreter dieser Disziplin diese selbst einschließlich ihrer Ziele und Methoden begreifen. Anders gesagt, hängt die Bedeutung des psychologischen Begriffs des Alterns unter anderem davon ab, was Psychologen unter Psychologie verstehen. Für Franz E. Weinert umfasst die Psychologie »alle erfahrungswissenschaftlichen Versuche, menschliches Erleben und Verhalten zu beschreiben, zu klassifizieren, zu erklären, vorherzusagen und zu modifizieren«19. Bemerkenswert an dieser Auffassung sind m.E. die folgenden Aspekte: (i) Die Psychologie wird ausdrücklich als erfahrungswissenschaftliche, d.h. empirische Wissenschaft bestimmt. Daraus ergibt sich die Frage, welchen Platz die Theorie im Sinne eines nicht-empirischen, die empirische Theoriebildung anleitenden Unternehmens innerhalb einer so verstandenen Psychologie haben könnte. (ii) Als Untersuchungsgegenstand der Psychologie gibt Weinert »menschliches Erleben und Verhalten« an. Da zweifellos die Psychologie nicht die einzige Wissenschaft ist, die sich mit menschlichem Erleben und Verhalten beschäftigt, muss geklärt werden, worin das Spezifikum der psychologischen Untersuchung dieses Gegenstandes besteht. Unbestreitbar ist etwa, dass auch die Soziologie menschliches Erleben und Verhalten untersucht. Was genau unterscheidet die Psychologie dann von der Soziologie? – Darüber hinaus lässt sich fragen, ob diese Auffassung der Psychologie, der zufolge ausschließlich menschliches Erleben und Verhalten untersucht werden soll, imstande ist, auch diejenigen Strömungen innerhalb der Psychologie zu integrieren, die sich mit subpersonalen Phänomenen beschäftigen. (iii) Die Eigenart der Psychologie wird näherhin anhand ihrer Ziele präzisiert. Es gehe ihr darum, zu beschreiben, zu klassifizieren, zu erklären, vorherzusagen und zu modifizieren. Auffällig ist an dieser Aufzählung, dass die Aufgabenbestimmung der Psychologie einerseits unübersehbare Gemeinsamkeiten mit der Zielbestimmung anderer Wissenschaften aufweist. Beschreibung, Klassifizierung, 19 | F. E. Weinert: »Altern in psychologischer Perspektive«, a a.O., S. 180.
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Erklärung und insbesondere Vorhersage gehören zum Kernbestand nicht aller, aber doch verschiedener Wissenschaften20, insbesondere der Naturwissenschaften. Diese messen den Grad ihrer Erkenntnis häufig u.a. daran, inwiefern ihre Theorien kontrafaktische Konditionale stützen. Andererseits enthält die Liste ein Element, das nicht von allen Wissenschaften als Teil ihres Aufgabengebietes akzeptiert würde: Menschliches Erleben und Verhalten soll nicht nur erklärt und vorhergesagt, sondern auch »modifiziert« werden. Diese Aussage verdient Beachtung, weil sie ein Selbstverständnis der Psychologie zum Ausdruck bringt, das sich nicht allein aus dem Begriff der Wissenschaft ergibt. Damit eine Disziplin sich das Ziel setzen kann, ihren Gegenstand nicht nur theoretisch zu erfassen, sondern ihn auch zu verändern, benötigt sie mindestens zweierlei. Erstens muss sie über einen evaluativen Maßstab verfügen, der es ihr erlaubt, mit wissenschaftlichen Mitteln festzustellen, dass und warum eine von ihr untersuchte Entität überhaupt verändert werden sollte. Mit anderen Worten kann der Ist-Zustand nur dann als modifikationsbedürftig beurteilt werden, wenn man über eine klare Vorstellung von einem Soll-Zustand verfügt. Zweitens muss es zumindest prinzipiell möglich sein, den Untersuchungsgegenstand so zu verändern, dass er dem evaluativen Standard stärker als vorher gerecht wird. Diese zweite Voraussetzung mag trivial erscheinen; dem Anschein zum Trotz versteht sie sich jedoch keineswegs von selbst. Dass der normative Anspruch auf zielgerichtete Veränderung nicht automatisch aus der Beurteilung folgt, ergibt sich daraus, dass auch Fälle denkbar sind, in denen die Beurteilung eines Gegenstandes als mangelhaft oder unvollkommen nicht impliziert, dass dieser verändert werden sollte, und zwar deshalb nicht, weil die Veränderung oder Vervollkommnung unmöglich ist. So kann man etwa der Auffassung sein, dass eine Welt ohne Krankheiten besser wäre als
20 | Vgl. dazu G. Keil: »Ist die Philosophie eine Wissenschaft?«, in: S. Dietz u.a. (Hg.): Sich im Denken orientieren. Für Herbert Schnädelbach, Frankfurt a.M. 1996, S. 23-51.
5. Der Begriff des Alterns in der Psychologie
diejenige, in der wir leben, und gleichzeitig davon überzeugt sein, dass es unmöglich ist, Krankheiten gänzlich auszulöschen. Wenn man Weinerts allgemeine Charakterisierung der Aufgaben der Psychologie auf den besonderen Gegenstand des Alterns bezieht, so ergibt sich, dass die Psychologie des Alterns dieses nicht nur beschreiben und erklären, sondern auch modifizieren will. Wie sich im Verlaufe der weiteren Analysen zeigen wird, besteht der evaluative Maßstab, welchen sie dabei zugrunde legt, in einer so oder so beschaffenen Vorstellung vom »optimalen«, »gelingenden« oder »erfolgreichen« Altern. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf eine Spannung, die zwischen dem ersten und dem dritten Element der Weinert’schen Charakterisierung der Psychologie besteht. Einerseits wird diese als empirische Disziplin bestimmt, andererseits soll zu ihren Zielen die Modifikation ihres Untersuchungsgegenstandes gehören. Diese Auffassung wirft verschiedene Fragen auf. Widerspricht der Anspruch auf zielgerichtete Veränderung des Untersuchungsgegenstandes, nämlich des menschlichen Erlebens und Verhaltens, nicht dem Selbstverständnis der Psychologie als einer »erfahrungswissenschaftlichen« Disziplin? Woher könnte eine empirische Wissenschaft den Maßstab nehmen, den sie für die Beurteilung ihrer Objekte als modifikationsbedürftig benötigt? Würde es sich bei diesem Maßstab dann noch um einen wissenschaftlichen handeln, oder müssen nicht Psychologen, welche das Erleben und Handeln der Menschen zielgerichtet verändern wollen, dabei auf einen vor- oder nicht-wissenschaftlichen oder philosophisch begründeten Maßstab zurückgreifen? – Diese kritischen Fragen können im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zwar nicht beantwortet werden, immerhin kann aber im Rahmen einer begrifflichen Analyse auf sie hingewiesen werden. Im Übrigen wird auf die Problematik, die mit der Vorstellung von einem erfolgreichen Altern verbunden ist, noch zurückzukommen sein. Im Hinblick auf die Frage, was psychologisch überhaupt unter Altern verstanden wird, konstatiert Weinert zunächst: »Schon in dieser Definitionsfrage besteht keine Einigkeit, denn es werden für verschiedene altersbezogene Veränderungen, die bestimmten
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Abschnitten des Lebenslaufes zugeordnet werden können, unterschiedliche Begriffe verwendet.«21 Dabei ließen sich insbesondere drei unterschiedliche Alternsbegriffe ausmachen. Mit Verweis auf J. F. Fries und J. E. Birren identifiziert Weinert (i) eine nominale Bestimmung des Alterns mit einer starken biologischen Ausrichtung. (ii) Eine andere Bestimmung des Begriffs des Alterns findet sich bei Psychologen, die mit »Altern« nicht auf einen festgelegten Lebensabschnitt rekurrieren. Das impliziert, dass der Alternsbegriff nicht ausschließlich qualitativ negativ bestimmt wird. (iii) Im dritten Fall wird der Alternsbegriff unter denjenigen der Entwicklung subsumiert. Autoren wie beispielsweise Paul Baltes geben die Unterscheidung zwischen Altern und Entwicklung zugunsten einer »konsequenten Anwendung der theoretischen Prinzipien einer Lebensspannenpsychologie«22 auf. Diese drei hier nur skizzierten Konzeptionen des Alterns sollen im Folgenden näher expliziert werden.
(i) Altern als Lebensabschnitt der gesteigerten Morbidität Als Beispiel für den ersten Typus psychologischer Alternsbegriffe führt Weinert den Aufsatz »Erfolgreiches Altern« von J. F. Fries an. Fries’ Begriff des Alterns erschließt sich am besten, wenn man von seinem Projekt des Aufschubs des Alterns ausgeht. Bisher, so konstatiert Fries im Jahre 1989, sei das Altern durch eine signifikante Zunahme der Morbidität charakterisiert.23 Der Begriff »Morbidität« bezeichnet dabei die Häufigkeit des Auftretens bestimmter chronischer Krankheiten innerhalb einer Bevölkerungsgruppe. Demnach sei die Zunahme bestimmter Krankheiten das wesentliche Merkmal des Alterns. Fries vertritt nun die These, dass bei 21 | F. E.Weinert: »Altern in psychologischer Perspektive«, a.a.O., S. 182. 22 | Ebd. 23 | Wie bereits in Kapitel 3 dargelegt wurde, wird diese Annahme durch neuere Erkenntnisse der Biologie in Frage gestellt.
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der Untersuchung des sogenannten erfolgreichen Alterns eine perspektivische Verschiebung von der Mortalität, d.h. der Sterberate, hin zur Morbidität sinnvoll ist. Seine Überlegungen beruhen auf der Unterscheidung zwischen erfolgreichem24 und pathologischem Altern. Dabei versteht er unter erfolgreichem Altern dasjenige, in dem es gelingt, das Auftreten chronischer Krankheiten trotz stark fortgeschrittenen chronologischen Alters so lange aufzuschieben, dass die Phase der signifikant gesteigerten Morbidität am Ende des Lebens verkürzt (»komprimiert«) wird. Das pathologische Altern ist im Gegensatz dazu mit einer verhältnismäßig frühen und starken Zunahme chronischer Krankheiten verbunden. Daher nimmt infolge des pathologischen Alterns die Morbidität relativ früh stark zu. Fries’ These der »komprimierten Morbidität« besagt, dass bei einer genetisch festgelegten, durchschnittlichen Lebensspanne einer Spezies der Beginn der Phase der mit dem hohen chronologischen Alter einhergehenden chronischen Erkrankungen aufgeschoben werden kann.25 Das Ziel besteht in der Analyse von Strategien, die zu einer Komprimierung der Morbiditätsphase führen. Auch wenn das entsprechende Wort bei Fries noch nicht vorkommt, so hat er doch offensichtlich der Sache nach die aus der Gegenwart geläufige Auffassung vorweggenommen, dass es darauf ankomme,
24 | Zum Konzept des »erfolgreichen Alterns« vgl. u.a. P. B. Baltes/M. M. Baltes: »Erfolgreiches Altern: Mehr Jahre und mehr Leben«, a.a.O., S. 5-10. 25 | »Generell besagt das Modell: wenn a) die Morbidität als die Periode zwischen dem Eintreten einer ersten irreversiblen chronischen Krankheit und dem Tod definiert ist, b) das Datum des Eintretens diese biologischen Markers hinausgezögert werden kann und c) die Rate der zeitlichen Verzögerung größer als die Rate der Zunahme der Lebenserwartung für die betreffende Person ist, dann kann d) die Morbidität in eine kürzere Zeitspanne komprimiert werden.« (J. F. Fries: »Erfolgreiches Altern: Medizinische und demographische Perspektiven«, in: M. M. Baltes/M. Kohli/K. Sames [Hg.]: Erfolgreiches Altern. Bedingungen und Variationen, Berlin/Stuttgart/Toronto 1989, S. 19-26, S. 24)
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den Anteil der sogenannten Gesundheitsspanne (health-span) an der Gesamtdauer des Lebens zu erhöhen. Von besonderem Interesse ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit die von Fries’ vertretene These, dass sich Altern und chronische Krankheiten ähneln, weil sie vier wesentliche Merkmale miteinander teilen: »Ähnlich wie die chronische Krankheit ist das Altern universell, progressiv, hat eine lange vorsymptomatische Phase und ist relativ behandlungsresistent.«26 Offensichtlich wäre es ein Missverständnis, wenn man aus dieser Aussage folgerte, dass Altern und Krankheit identisch sind beziehungsweise dass das Altern eine Krankheit ist. Im Gegenteil: Die Behauptung, dass das pathologische Altern dadurch charakterisiert ist, das es zu einer signifikanten Zunahme des Auftretens chronischer Krankheiten führt, setzt voraus, dass pathologisches Altern und Krankheiten nicht identisch sind. Dies lässt sich anhand einer Formalisierung verdeutlichen. Die Aussage, dass A dazu führt, dass immer mehr Bs auftreten, ist nur dann sinnvoll, wenn A und B nicht identisch sind. Darüber hinaus kann das Altern nach Fries auch deshalb keine Krankheit sein, weil er das Projekt des erfolgreichen Alterns für erstrebenswert und grundsätzlich realisierbar hält. Wenn man von der plausiblen Annahme ausgeht, dass Krankheit intrinsisch schlecht ist, dann ist ein erfolgreiches Kranksein also schon aus einem begrifflichen Grunde ausgeschlossen. Somit muss man davon ausgehen, dass Fries das Altern selbst nicht als Krankheit begreift. Freilich bleibt dabei eine wichtige Frage offen: Wenn Altern und Krankheit die vier in dem Zitat genannten Merkmale miteinander teilen, wodurch unterscheiden sie sich dann? Mit anderen Worten: Worin besteht die differentia specifica zwischen Altern und Krankheit? Diese entscheidende Frage muss m.E. im Hinblick auf den Aufsatz von Fries folgendermaßen beantwortet werden. Obwohl er nicht ausdrücklich zwischen beiden unterscheidet, legt er offensichtlich die Differenz zwischen chronologischem und pathologischem Altern zugrunde. Letzteres wird bestimmt als der Abschnitt am Ende 26 | A. a. O., S. 21.
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des Lebens, in dem in der Regel aufgrund einiger mit steigendem chronologischem Alter einhergehender Prozesse die Anfälligkeit für chronische Krankheiten signifikant steigt. Diese Zunahme der Anfälligkeit für chronische Krankheiten und damit der Morbidität ist jedoch keine notwendige. Stattdessen hält es Fries für möglich, dass das Einsetzen des pathologischen Alterns verzögert und dieses dadurch komprimiert wird.27 Diese Möglichkeit eröffnet die Aussicht eines erfolgreichen chronologischen Alterns. Dabei wird unter einem erfolgreichen chronologischen Altern die letzte Lebensspanne verstanden, in der trotz relativ fortgeschrittenen chronologischen Alterns die Zunahme der Anfälligkeit für chronische Krankheiten lange verzögert werden könnte. Dem aufmerksamen Leser dürfte nicht entgangen sein, dass in Fries’ Ausführungen über das Verhältnis zwischen chronologischem Altern, pathologischem Altern und Krankheiten seelische Aspekte keine Rolle spielen. Vielmehr beschränkt er sich gänzlich auf den Zusammenhang zwischen Altern und physischen Krankheiten. Aus diesem Grund erscheint es fraglich, ob sein Begriff des Alterns tatsächlich, wie Weinert annimmt, ein Beispiel für einen psychologischen Alternsbegriff darstellt. Dagegen spricht außerdem, dass der Begriff des »seelischen Alterns«, den Weinert bei Fries zu finden meint,28 in dessen Text gar nicht auftaucht. Daher handelt es sich meiner Meinung nach bei Fries’ Definition des Alterns, obwohl seine Theorie als solche in der Psychologie rezipiert worden ist, nicht um eine psychologische, sondern um eine rein biologistische oder medizinische Begriffsbestimmung. Ob sich im Anschluss an diesen rein medizinisch-biologischen Alternsbegriff ein gehaltvoller psychologischer Begriff des Alterns bilden lässt, soll im Folgenden mit Bezug auf den von Weinert ebenfalls angeführten James E. Birren geprüft werden. 27 | Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die gesamte Lebensspanne entweder konstant bleibt oder in geringerem Maße zunimmt, als die Phase des pathologischen Alterns komprimiert wird. 28 | Vgl. Weinert, a.a.O., S. 182.
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Festzuhalten ist zuvor zweierlei. Erstens weist das Altern nach Fries vier Merkmale auf. Es ist universell, progressiv, es weist eine lange vorsymptomatische Phase auf, und es ist behandlungsresistent. In Anbetracht des bereits erwähnten Mangels an expliziten Aussagen zum psychologischen Begriff des Alterns ist dies ein bemerkenswertes Ergebnis. Diese These provoziert aber auch die kritische Nachfrage, ob mit Bezug auf eine Lebensphase überhaupt sinnvoll die Rede davon sein kann, dass diese lange vorsymptomatisch bleibt und behandlungsresistent ist. Was sollte es etwa bedeuten, dass die Kindheit oder die Pubertät behandlungsresistent seien? M. E. lässt sich dieser und ähnlicher Aussagen kein verständlicher Sinn abgewinnen. – Zweitens muss konstatiert werden, dass Fries’ Begriff des Alterns kein rein deskriptiver ist, sondern dass dieser darüber hinaus ein evaluatives und sogar ein präskriptives Moment aufweist. Der Autor setzt als selbstverständlich voraus, dass das von ihm als signifikante Zunahme der Häufigkeit chronischer Krankheiten bestimmte pathologische Altern etwas Schlechtes sei, und leitet daraus die präskriptive Forderung ab, dass die Lebensspanne des pathologischen Alterns verkürzt werden soll. Wie bereits erwähnt wurde, ordnet Franz E. Weinert, an dessen Systematisierung sich die vorliegende Darstellung orientiert, neben dem gerade behandelten Fries auch James E. Birren demselben Typ des Alternsbegriffs zu. In seinem Aufsatz »A Contribution to the Theory of the Psychology of Aging: As a Counterpart of Development«29 verfolgt Birren das schon im Titel explizierte Ziel aufzuzeigen, dass das Altern ein Prozess ist, der in seinem Verlauf dem der Entwicklung entgegengesetzt ist. Er identifiziert zweierlei Merkmale des Alterns: erstens solche, die für das Phänomen »Altern« konstitutiv sind und die sowohl von der Psychologie als auch von anderen Wissenschaften wie der Biologie und der Soziologie untersucht werden, und zweitens solche, die er als spezifisch psychische und 29 | J. E. Birren: »A Contribution to the Theory of the Psychology of Aging: As a Counterpart of Development«, in: J. E. Birren/V. L. Bengston (Hg.): Emergent Theories of Aging, New York 1988, S. 153-176.
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somit von der Psychologie zu untersuchende bestimmt.30 Bezug nehmend auf solche Merkmale definiert Birren den Alternsprozess wie folgt: »Aging is defined here as the transformation of the human organism after the age of physical maturity – that is, optimum age of reproduction – so that the probability of survival constantly decreases and there are regular transformations in appearance, behavior, experience, and social roles.«31 Altern wird hier als Prozess bestimmt, der auf die Reife, verstanden als Ergebnis des Entwicklungsprozesses, folgt. In einer chronologischen Reihenfolge ist der Prozess des Alterns somit bestimmt als die letzte Lebensphase eines Individuums. Diese ist nach Birren grundlegend dadurch gekennzeichnet, dass sie mit einer konstanten Abnahme der Überlebenswahrscheinlichkeit einhergeht. Darüber hinaus ist der Alternsprozess gekennzeichnet durch Veränderungen der Erscheinungsform, des Verhaltens und Erlebens sowie der sozialen Rollen. Birrens nominale Bestimmung des Alterns schließt mithin zwei Aspekte ein. Einerseits ist sein Begriff des Alterns ein biologischer, wie sich u.a. an dem Rekurs auf die Fortpflanzungsfähigkeit zeigt; andererseits berücksichtigt er auch soziale Aspekte, wie etwa die sozialen Rollen. Deshalb handelt es sich bei dieser Begriffsbestimmung m.E. um eine hybride: Birrens Begriff des Alterns ist insofern hybrid, als in ihm rein natürliche und kulturelle Merkmale verwoben werden. Im Hinblick auf die in Kapitel 1 entwickelte Typologie bedeutet dies, dass Birrens Begriff des Alterns weder ein naturalistischer noch ein kulturalistischer ist. Diese Vermutung wird dadurch bestätigt, dass Birren innerhalb des Alterns (aging) drei verschiedene Prozesse unterscheidet, nämlich die Seneszenz (senescence), das Älterwerden (eldering) und das eigene Verhalten zum eigenen Altern (geronting). Diese drei Prozesse werden folgendermaßen erläutert: »senescence, the process of increasing probability of dying with age; eldering, the process of acquiring social roles and behaviors appropriate to our age group; and 30 | Vgl. ebd., S. 156f. 31 | Ebd., S. 159.
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geronting, the self-regulation we exercise«32 . Aus dieser Annahme leitet der Autor eine methodologische Folgerung ab, die die hier geäußerte Vermutung, dass es sich bei seinem Begriff des Alterns um einen hybriden handelt, stützt: »Since the manner of our aging is presumed to be a product of these three forces, the psychologist must be at the same time a biologist and social scientist and must incorporate thinking from the ›islands of dense information‹ explored by these different areas. Further, since our biological existence is a prior condition to either our culture or individual identity, it is a prerequisite to explore the origin of control over our aging, or our senescing.« 33
Wie aus dem letzten Satz des Zitates hervorgeht, kommt dem biotischen Aspekt des Alterns insofern eine Sonderstellung gegenüber den anderen beiden zu, als er deren Grundlage bildet. Daraus ergibt sich nach Birren der methodologische Vorrang der Untersuchung des biologischen Alterns vor dem Altern im sozialen Sinne. Zusammenfassend lässt sich zu Birrens Alternsbegriff Folgendes festhalten: Altern ist ein Vorgang, der drei Prozesse umfasst, die Seneszenz, das soziale Älterwerden und das eigene Verhalten zum eigenen Altern. Außerdem wird das Altern rein negativ als Abnahme bzw. Verlust bestimmter biotischer und sozialer Fähigkeiten bestimmt. Da der Autor davon ausgeht, dass der Begriff der Entwicklung die Entstehung und Herausbildung von Fähigkeiten bezeichnet, stellt »Altern« den Gegenbegriff zu »Entwicklung« dar. Entwicklung und Altern werden jeweils als Merkmale von Organismen als Ganzen aufgefasst. Als solche schließen sie sich wechselseitig aus. Durch diese Entgegensetzung gewinnt der Begriff des Alterns bei Birren eine vergleichsweise klare Kontur.
32 | Ebd., S. 160. 33 | Ebd.
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(ii) Altern als ein Entwicklungsaspekt im Lebenslauf Als Beispiel für den zweiten psychologischen Begriff des Alterns wird von Weinert ein Text von D. L. Featherman zitiert. Eine der Kernfragen, denen Featherman nachgeht, ist die nach einer auf dem »Lebenslauf basierenden Diskontinuität zwischen der adaptiven Kompetenz in der Jugend und der sich im erfolgreichen Altern manifestierenden adaptiven Kompetenz im späten Erwachsenenalter«34. Featherman vertritt die Position, dass der Begriff der Entwicklung ebenso wenig auf einen bestimmten Lebensabschnitt beschränkt werden kann wie der des Alterns ausschließlich auf den letzten Lebensabschnitt.35 Der Begriff »Entwicklung« wird von dem Autor wie folgt bestimmt: »Namely, development involves additions to reserve or adaptive capacity in mind and behavior across the lifespan […]. […] Development involves specialization and, hypothetically, both gains and losses.«36 Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der Begriff der Entwicklung anhand des Begriffs der Zunahme von verhaltensbezogener Anpassungsfähigkeit definiert. Aufgrund dieses definitorischen Rekurses auf das Verhalten handelt es sich hier zweifellos nicht um einen biologischen, sondern um einen psychologischen Begriff der Entwicklung, genauer gesagt um einen behavioristischen Entwicklungsbegriff. Auffällig ist ferner, dass der hier zugrunde gelegte Entwicklungsbegriff nicht ausschließlich »Zugewinnaspekte«, nicht nur Lernprozesse im Hinblick auf den Erwerb von Fertigkeiten eines Individuums, sondern auch (wenn 34 | D. L. Featherman: »Erfolgreiches Altern: Adaptive Kompetenz in einer Ruhestandsgesellschaft«, in: M. M. Baltes/M. Kohli/K. Sames (Hg.): Erfolgreiches Altern. Bedingungen und Variationen, Berlin/Stuttgart/Toronto 1989, S. 11-18, S. 13. 35 | Vgl. D. L. Featherman: »›What Develops in Adulthood?‹ A Developmentalist’s Response to Atchley’s Demographic View«, in: K. W. Schaie/ C. Schooler (Hg.): Social Structure and Aging. Psychological Processes, Hillsdale 1989, S. 41-56. 36 | Ebd., S. 43.
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auch nur hypothetische) Verluste an schon ausgebildeten Fähigkeiten umfasst. Das Altern im engeren Sinne wird von Featherman bestimmt als die Abnahme von verhaltensbezogener Anpassungsfähigkeit: »I prefer to designate the losses of adaptive capacity, that is, the reductions of developmental reserve as aging.«37 Diese Anpassungsfähigkeit definiert der Autor an anderer Stelle wie folgt: »Adaptive Kompetenz ist die generalisierte Fähigkeit, flexibel auf Anforderungen der Umwelt zu reagieren.«38 Im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Arbeit muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass dieser psychologische Begriff des Alterns ausschließlich negativ durch den Verlust von verhaltensbezogener Anpassungsfähigkeit definiert wird. Grundsätzlich stimmt diese Konzeption des Alterns darin mit anderen, schon dargestellten Alternsbegriffen überein, die ebenfalls durch den Verlust bestimmter Fähigkeiten charakterisiert sind. Das Verhältnis zwischen Entwicklung und Altern beschreibt der Autor folgendermaßen: »Because gains and losses are potentially possible across the entire life span, both development and aging are not age-graded processes.«39 Diese Aussage ist nur dann verständlich, wenn man wiederum – wie schon bei Fries – unterstellt, dass der Autor implizit zwei Begriffe des Alterns unterscheidet: Altern im engeren Sinne als Verlust von Anpassungsfähigkeit und im weiteren Sinne als chronologisches Altern. Legt man diese Differenzierung zugrunde, besagt das Zitat, dass sowohl der Erwerb als auch der Verlust bestimmter adaptiver Fähigkeiten nicht nur während jeweils einer Lebensphase auftreten, sondern dass es im Verlaufe des gesamten Lebens möglich ist, solche Fähigkeiten zu erwerben oder zu verlieren. Altern im engeren Sinne des Verlustes von Anpassungsfähigkeit ist somit nicht an ein bestimmtes chronologisches Altern gebunden. 37 | Ebd. 38 | D. L. Featherman: »Erfolgreiches Altern«, a.a.O., S. 11. 39 | Ebd.
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Feathermans Theorie des Alterns stimmt darin mit der bereits vorgestellten Theorie von Fries überein, dass auch sie sich nicht im Deskriptiven erschöpft, sondern darauf abzielt, menschliches Altern zu modifizieren, genauer gesagt: zu optimieren. Im Unterschied zu Fries geht es Featherman jedoch nicht darum, den Verlust der körperlichen Widerstandskraft möglichst lange aufzuschieben, sondern die geistige Anpassungsfähigkeit im Sinne einer verhaltensbezogenen Adaptivität möglichst lange zu erhalten. Dieser Ansatz des sogenannten erfolgreichen Alterns ist auch in der gegenwärtigen Psychologie des Alterns ausgesprochen weit verbreitet. Er beruht auf dem Gedanken, dass es möglich ist, bestimmte Alternsprozesse so zu kontrollieren, dass das Altern »bestmöglich« verläuft. Als Beleg dafür, dass die Lehre vom kontrollierten oder gelingenden Altern nicht nur in populärwissenschaftlichen, sondern auch in ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen eine immer größere Rolle spielt, sei hier ein Eintrag aus der neuesten Auflage des renommierten Handbook of Psychology of Aging aus dem Jahre 2011 zitiert: »Application of the control construct to the field of aging is more recent, but the notion that one can ›take control over the aging process‹ is now widespread. The lucrative anti-aging industry, which offers products and treatments designed to prevent, slow, reverse, or compensate for aging-related changes in the face, body, and the mind, counts on the consumer to accept that there are things we can do to control aging-related changes and losses. Control over the aging process is heralded not only in the popular media and advertising industry, but also in professional journals and books such as Sucsessful Aging by Rowe and Kahn (1998) and Aging Well by Vaillant (2002). A key message conveyed ist that although aging is influenced to some degree by genetic factors, there is a large component that is determined by lifestyle choices and behavioral factors; that is, the nature of aging is to some extent under one’s own control.« 40 40 | M. E. Lachman/S. D. Neupert/S. Agrigoroaei: »The Relevance of Control Beliefs for Health and Aging«, in: K. W. Schaie/S. L. Willis (Hg.): Hand-
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Wie dieses Beispiel zeigt, stellt Feathermans evaluativ-präskriptiver Begriff des Alterns im Rahmen der psychologischen Erforschung des Alterns durchaus keine Ausnahme dar. Vielmehr lässt sich eine allgemeine Tendenz hin zu einer präskriptiven Verwendung konstatieren.
(iii) Altern als Teil der Entwicklung Im Gegensatz zu dem unter (i) referierten Autor Birren vertritt Paul B. Baltes, der inzwischen verstorbene Nestor der deutschsprachigen Alternsforschung, in seinem Aufsatz »Entwicklungspsychologie der Lebensspanne: Theoretische Leitsätze« die Auffassung, dass sich Entwicklung und Altern nicht wechselseitig ausschließen. Stattdessen lasse sich das Altern unter die Entwicklung subsumieren. Voraussetzung dieser begrifflichen Strategie ist eine Auffassung des Begriffs »Entwicklung«, die sich deutlich von derjenigen anderer Autoren unterscheidet. Baltes geht davon aus, »daß sich jeder Entwicklungsprozess durch ein dynamisches Wechselspiel zwischen Wachstum und Abbau kennzeichnen läßt«41. Diese Annahme ermöglicht es ihm, die negativen Aspekte des Alterns als Teil einer übergreifenden Entwicklung aufzufassen. Darüber hinaus vertritt Baltes dezidiert die These, dass sich das Altern nicht in negativen Merkmalen erschöpft, sondern dass es auch positive Aspekte umfasst. Wenn man beide Teilthesen in ihrem Zusammenhang in den Blick nimmt, dann zeigt sich, dass Baltes sowohl den Begriff der Entwicklung als auch denjenigen des Alterns erweitert. In beiden Fällen werden Intension und Extension vergrößert. Allerdings darf m.E. nicht übersehen werden, dass die Bedeutungserweiterung aus gänzlich verschiedenen Gründen vorgenommen wird. Beim Begriff der Entwicklung beruht die Ausweitung der Bedeutung auf einer book of the Psychology of Aging, 7th Edition, Amsterdam/Boston u.a. 2011, S. 175-190, S. 175. 41 | P. B. Baltes: »Entwicklungspsychologie der Lebensspanne: Theoretische Leitsätze«, in: Psychologische Rundschau 41 (1990), S. 1-24, S. 2.
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theoretisch zweifellos legitimen terminologischen Festlegung. Da das Phänomen der Entwicklung keine natürliche Art ist, steht es jedem Autor frei, selbst zu definieren, was jeweils unter dem entsprechenden Begriff verstanden werden soll. Aus diesem Grunde ist weder Birrens Voraussetzung, dass Entwicklung nur die Entstehung und Erweiterung von Fähigkeiten umfasst, noch Baltes’ Annahme, dass Entwicklung auch den Abbau und Verlust von Fähigkeiten einschließt, richtiger oder falscher als die jeweils andere. Ganz anders verhält es sich mit der Erweiterung des Begriffs »Altern«. Diese wird durch Rekurs auf empirische Daten und Erkenntnisse gerechtfertigt. Die Bedeutungserweiterungen der beiden Begriffe sind daher komplementär: Dem Begriff der Entwicklung, der von vielen anderen Autoren nur als Gewinn verstanden wird, fügt Baltes den negativen Aspekt des Verlustes hinzu; hingegen wird der Begriff des Alterns, der von den meisten Autoren nur negativ bestimmt wird, positiv um den Aspekt der Herausbildung oder Zunahme bestimmter Fähigkeiten bereichert. Baltes’ Konzept des Alterns ist eingebettet in eine Theorie der »lebenslangen Entwicklung«: »Das Konzept der lebenslangen Entwicklung beinhaltet zwei Aspekte. Zum einen ist dies die allgemeine Vorstellung, daß sich Entwicklung über die gesamte Lebensspanne erstreckt. Zum zweiten geht es um den Aspekt, dass die lebenslange Entwicklung auch Veränderungsprozesse umfassen kann, die nicht mit der Geburt, sondern erst in späteren Phasen der Lebensspanne beginnen.« 42
Dieses Zitat bringt einerseits die bereits genannte begriffliche Voraussetzung zum Ausdruck, dass Entwicklung als Kombination aus Gewinn und Verlust aufgefasst wird. Geht man von dieser terminologischen Prämisse aus, ist es durchaus folgerichtig, das gesamte Leben von der Geburt bis zum Tode als Entwicklung zu bezeichnen, wie es Baltes hier tut. Diese Erweiterung des Entwicklungsbegriffs 42 | A. a. O., S. 4f.
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birgt allerdings die Gefahr, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Phasen des als Entwicklung aufgefassten Lebens verwischt werden. Dieser Gefahr begegnet der Autor mit der zweiten Aussage, dass die Idee der lebenslangen Entwicklung durchaus vereinbar ist mit der Annahme, dass bestimmte Prozesse erst im Verlauf des Lebens einsetzen und daher spezifisch für einzelne Lebensphasen sind. Neben der Verknüpfung aus Gewinn und Verlust weist die lebenslange Entwicklung nach Baltes noch weitere wichtige Merkmale auf. Hier sollen nur die zwei wichtigsten genannt werden, nämlich die Multidirektionalität und die Plastizität.43 Die Eigenschaft der Multidirektionalität wird folgendermaßen erläutert: »Die Richtung der ontogenetischen Veränderungen variiert nicht nur beträchtlich zwischen verschiedenen Verhaltensbereichen (z.B. Intelligenz versus Emotion), sondern auch innerhalb derselben Verhaltenskategorie. In ein und demselben Entwicklungsabschnitt und Verhaltensbereich können manche Verhaltensweisen Wachstum und andere Abbau zeigen.« 44
Wie sich die Multidirektionalität in Bezug auf das Altern ausprägt, wird noch darzulegen sein. Zuvor muss jedoch angegeben werden, was im Rahmen der Baltes’schen Theorie der lebenslangen Entwicklung unter »Plastizität« verstanden wird. Der Autor selbst beschreibt diese so: »Psychologische Entwicklung ist durch eine hohe intraindividuelle Plastizität (Veränderbarkeit innerhalb einer Person) gekennzeichnet. Der Entwicklungsverlauf einer Person variiert in Abhängigkeit von ihren Lebensbedingungen und Lebenserfahrungen.«45 Ganz allgemein gesagt bedeutet dies, dass sich einzelne Menschen im Hinblick darauf, wann und wie sie bestimmte Entwicklungsstadien durchlaufen, je nach ihren individuellen Lebens43 | Baltes nennt darüber hinaus noch die »geschichtliche Einbettung« und den »Kontextualismus«. (Vgl. ebd., Tabelle 1, S. 4). 44 | Ebd. 45 | Ebd.
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bedingungen und persönlichen Erfahrungen erheblich voneinander unterscheiden können. Insbesondere das Merkmal der Multidirektionalität wird von Baltes in Bezug auf das Altern ausführlich erörtert. Dabei ist zu beachten, dass seine Terminologie von derjenigen anderer Autoren abweicht. Wenn man als tertium comparationis ein bestimmtes chronologisches Alter ansetzt, etwa dasjenige ab der häufig herangezogenen Zäsur des 65. Lebensjahres, dann lässt sich sagen, dass dem, was von der Mehrheit der Autoren als »Altern« oder »Seneszenz« bezeichnet wird, bei Baltes das sogenannte »höhere Erwachsenenalter« entspricht.46 Die bereits referierte These, dass »in ein und demselben Entwicklungsabschnitt und Verhaltensbereich […] manche Verhaltensweisen Wachstum und andere Abbau zeigen« 47, erläutert Baltes anhand verschiedener Formen der Intelligenz. Einerseits sei unbestreitbar, dass im Verlauf des höheren Erwachsenenalters manche intellektuelle Fähigkeiten, wie etwa die Fähigkeit des Fremdsprachenerwerbs, abnehmen. Andererseits dürfe jedoch nicht übersehen werden, dass im Alter einige Formen der Intelligenz überhaupt erst entstehen und andere stärker ausgeprägt werden. Als Beispiele hierfür nennt Baltes die Reminiszenz und den Lebensrückblick, das autobiographische Gedächtnis, die Expertise auf bestimmten Fachgebieten, die pragmatische Intelligenz im Umgang mit lebenspraktischen Problemen, die Weisheit und die Fähigkeit der kompensatorischen Anpassung an den Verlust der biologischen Energie und der mentalen Reserven.48 Diese eindrucksvolle Liste illustriert auf anschauliche Weise, was mit der Rede von der Entwicklung als Kombination aus Gewinn und Verlust gemeint ist. Die von Baltes vertretene These, dass sich im höheren Erwachsenenalter bestimmte kognitive Fähigkeiten, wie etwa die Weisheit, erst herausbilden, ist in der neueren alternspsychologischen For46 | Vgl. ebd., S. 6. 47 | A. a. O., S. 4. 48 | Vgl. a.a.O., S. 6-10.
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schung aufgegriffen und auf produktive Weise weitergeführt worden. So wird beispielsweise in der Gegenwart untersucht, ob die im Alter gewonnene Weisheit mit Lebenszufriedenheit (well-being) korreliert: »Do people grow wiser with age and what are the benefits of wisdom in the later years of life? Are wise older people more content and better able to cope with adversities of old age than elders who failed to grow wiser with age?« 49 In Bezug auf diese Fragen wird vermutet, dass Weisheit, obwohl sie zweifellos für Angehörige aller Altersgruppen von Vorteil ist, »might be particularly important in old age when people are confronted by physical and social decline and their own mortality«50. Die Ergebnisse der zu diesem Thema vorliegenden empirischen Untersuchungen lassen vermuten, dass Weisheit und Lebenszufriedenheit zumindest innerhalb mancher Bevölkerungsgruppen korrelieren: »[…] despite the differences in measurement, personal wisdom in the later years of life tends to be posivitely related to subjective and psychological well-being, except in samples of highly educated and priviliged middle-aged and older adults. This suggests that wisdom might be less related to the well-being of individuals who have the economic and social resources to fulfill their material and social needs, even though educational opportunities might also foster the development of wisdom.« 51
Wenn man die neueren Untersuchungen zum möglichen Zusammenhang zwischen Weisheit und Lebenszufriedenheit mit Baltes’ These in Zusammenhang verknüpft, dass das Altern sowohl Verluste als auch Gewinne mit sich bringt, dann ergibt sich die Vermutung, dass diese Gewinne und Verluste in bestimmten Bereichen
49 | M. Ardelt: »Wisdom, Age, and Well-Being«, in: K. W. Schaie/S. L. Willis (Hg.): Handbook of the Psychology of Aging, 7th Edition, Amsterdam/Boston u.a. 2011, S. 279-291, S 279. 50 | A. a. O., S. 287. 51 | Ebd.
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derart miteinander zusammenhängen, dass der Zugewinn jeweils eine mögliche Kompensation für alterstypische Verluste darstellt. Zusammenfassend lässt sich zu Baltes’ Begriff des Alterns Folgendes festhalten: Dem, was gemeinhin als Altern (aging) bezeichnet wird, entspricht bei ihm das sogenannte höhere Erwachsenenalter. Dieses bildet einen, und zwar in der Regel den letzten Abschnitt der lebenslangen Entwicklung. Als solcher weist das höhere Erwachsenenalter bestimmte Eigenheiten auf, die es von anderen Lebensabschnitten deutlich unterscheiden, beispielsweise den schrittweisen Abbau der Reaktionsfähigkeit und die Herausbildung der Weisheit. Wesentlich ist, dass das Altern im Sinne des höheren Erwachsenenalters nicht – wie bei Birren und anderen – als Gegensatz zur Entwicklung, sondern als Teil eines übergreifenden Entwicklungsprozesses aufgefasst wird. Allerdings ist Baltes’ Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Entwicklung und Altern möglicherweise weniger originell, als der Autor suggeriert. Folgt man Baltes, dann unterscheidet sich sein eigener theoretischer Vorschlag darin von der herrschenden Meinung, dass diese Entwicklung und Altern als sich wechselseitig ausschließende Gegensätze betrachtet, während er Altern als Teil der Entwicklung ansieht. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich dieser vermeintliche sachliche Gegensatz zumindest teilweise jedoch als bloßes Ergebnis verschiedener terminologischer Festlegungen. Diejenigen, die behaupten, dass das Altern der Gegensatz zur Entwicklung sei, gehen dabei davon aus, dass der Begriff »Entwicklung« ausschließlich die Entstehung und Zunahme von Fähigkeiten bezeichnet. Da Baltes hingegen Entwicklung stets als Kombination aus Gewinn und Verlust begreift, geht er offensichtlich von einem grundsätzlich anderen begrifflichen Verständnis als die von ihm kritisierten Autoren aus. Die Möglichkeit, die negativen Aspekte des Alterns unter den Begriff der Entwicklung zu subsumieren, ergibt sich also schlichtweg aus einer idiosynkratischen semantischen Festlegung. Was hingegen die positiven Aspekte des Alterns betrifft, z.B. die Herausbildung neuer Formen der Intelligenz, so ergibt sich im
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Hinblick auf das Thema der vorliegenden Untersuchung ein anderes Problem. Die Behauptung, dass das Altern nicht nur durch den Verlust, sondern auch durch den Gewinn bestimmter Fähigkeiten charakterisiert sei, beruht auf empirischen Untersuchungen. Wenn man nun davon ausgeht, dass empirische Erkenntnisse über einen Gegenstand stets nur zu kontingenten Merkmalen führen, dann kann es sich bei den von Baltes angeführten Spezifika des höheren Erwachsenenalters nicht um wesentliche Eigenschaften des Alterns handeln. Unter dieser Voraussetzung stellt sich jedoch die Frage, ob der Begriff des Alterns durch derartige empirische Aussagen überhaupt in Bezug auf seine Intension erweitert wird oder ob nicht vielmehr Korrelationen zwischen dem Altern und dem Auftreten bestimmter anderer Merkmale festgestellt werden, ohne dass diese Merkmale selbst Teil des Alterns wären. Dieses grundsätzliche semantische Problem wird im letzten Kapitel ausführlicher erörtert werden.
5.4 S uborganismische und subpersonale B egriffe des A lterns in der P sychologie Wie bereits ausführlich dargestellt wurde, kommt Franz E. Weinert u.a. das Verdienst zu, eine Systematisierung verschiedener in der Psychologie verwendeter Alternsbegriffe vorgenommen zu haben. Allerdings beschränkt sich seine Darstellung auf Theorien, die im Rahmen der Entwicklungspsychologie entwickelt worden sind und deren Untersuchungsgegenstand deshalb auf der personalen Ebene angesiedelt ist. Die Entwicklungspychologie beschäftigt sich mit der Entwicklung von menschlichen Individuen als Ganzen. Da jedoch, wie bereits in Abschnitt 5.1 angemerkt wurde, der Begriff des Alterns in der Psychologie nicht nur auf Personen als Ganze, sondern auch auf suborganismische und subpersonale Entitäten bezogen wird, ist Weinerts Überblick unvollständig und somit ergänzungsbedürftig. Dies soll anhand einiger Beispiele zumindest in Kürze verdeutlicht werden.
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Wie auch die Biologie, so bezieht die Psychologie den Begriff des Alterns nicht nur auf Gesamtorganismen. Psychologen sprechen nicht nur vom Altern von Menschen, sondern auch von der Alterung des Hirns als eines ganzen Organs oder der Alterung von Hirnzellen und Hirngewebe und unterscheiden verschiedene Formen dieser Prozesse.52 Eine besondere Rolle kommt den Veränderungen des Hirns dabei deshalb zu, weil man davon ausgeht, dass die kognitiven Fähigkeiten des Menschen ihr anatomisches und funktionales Substrat nicht im gesamten menschlichen Körper haben, sondern nur im Gehirn. Daher ist beispielsweise aus psychologischer Sicht die altersspezifische Entwicklung der Kniegelenke irrelevant. Was hingegen die biotischen Veränderungen sowohl des gesamten Hirns als auch seiner einzelnen Regionen betrifft, so entsprechen diesen in der Regel psychische Veränderungen wie beispielsweise denjenigen des verbalen Arbeitsgedächtnisses: »There is clear evidence that with age, older adults show more activation in prefrontal cortex than younger adults on verbal memory tasks […]. […] In addition to the ubiquitous finding of increased frontal recruitment with age, there is growing evidence that older adults show less neural specificity in face, place, and object-recognition areas of the brain […]. Activation patterns are less selective to different categories in old compared to young, providing a neural equivalent to the behavioral measures of dedifferentiation described by Lindenberger & Baltes (1994).« 53
In diesem Zitat wird in Bezug auf die suborganismische Beschreibungsebene auf alterstypische Unterschiede zwischen Menschen 52 | Vgl. u.a. K. M. Rodrigue/K. M. Kennedy: »The Cognitive Consequences of Structural Changes to the Aging Brain«, in: K. W. Schaie/S. L. Willis (Hg.): Handbook of the Psychology of Aging, 7th Edition, Amsterdam/Boston u.a. 2011, S. 73-91. 53 | D. C. Park/G. N. Bischof: »Neuroplasticity, Aging, and Cognitive Function«, in: K. W. Schaie/S. L. Willis (Hg.): Handbook of the Psychology of Aging, 7th Edition, Amsterdam/Boston u.a. 2011, S. 109-119, S. 111.
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(als ganzen Organismen) hingewiesen: Bei der Bewältigung derselben Aufgaben werden von Menschen unterschiedlichen chronologischen Alters unterschiedliche Regionen des Hirns in verschiedenem Maße aktiviert. Außerdem nimmt die Aktivierung bestimmter Hirnregionen beim Menschen infolge des chronologischen Alters in der Regel ab. Ebenso wandelt sich die Beschaffenheit der Strukturen dieser Regionen. Diese suborganismischen Veränderungen wirken sich qualitativ auf psychische Merkmale von Personen als Ganzen und auf deren Verhalten aus und sind wiederum auf der subpersonalen Ebene bedeutungsvoll, wie sich etwa hinsichtlich kognitiver Fähigkeiten nachweisen lässt: »Like all organs in the human body, the brain experiences wear and tear throughout the life span. Because the state of the brain’s structure affects the quality of its function, the study of changes in brain structure has proven fruitful in understanding cognitive aging.«54 Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass auf der suborganismischen Ebene zwischen zwei Prozessen unterschieden wird, die im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Arbeit relevant sind. Einerseits werden Alternsprozesse des Gehirns sowie seiner Teile und Strukturen untersucht, erklärt und beschrieben. Andererseits werden Korrelationen zwischen biotischen Veränderungen und psychischen Merkmalen untersucht.55 Das Al54 | K. M. Rodrigue/K. M. Kennedy: »The Cognitive Consequences of Structural Changes to the Aging Brain«, a.a.O., S. 73. 55 | In einem Überblicksartikel über die Zusammenhänge zwischen dem Nachlassen der Plastizität des Gehirns, dem Altern und bestimmten kognitiven Funktionen wird beispielsweise festgestellt: »It is clear that as people age, they show declines in tasks that are markers of fluid intelligence such as speed of processing, working memory function, longterm memory, and reasoning. At the same time as changes in cognitive hardware occurs, there is preservation, if not growth, in markers of crystallized ability such as vocabulary and general knowledge.« (C. Park/G. N. Bischof: »Neuroplasticity, Aging, and Cognitive Function«, a.a.O., S. 112)
5. Der Begriff des Alterns in der Psychologie
tern wird auf der suborganismischen Ebene damit in mindestens zweierlei Weise untersucht: als komplexer biotischer Vorgang in einem bestimmten Organ und als Prozess, der an Veränderungen der subpersonalen Ebene gebunden ist. Diese zwei Hinsichten sind in den untersuchten Überblickswerken nicht in jedem Falle klar voneinander zu trennen, denn biotische Veränderungen werden in dieser wissenschafltlichen Disziplin der Alternsforschung stets mit Blick auf die Veränderungen psychischer Merkmale untersucht. Anders als in der Biologie des Alterns sind innerhalb der Psychologie des Alterns anatomische, physiologische oder andere Veränderungen auf der Ebene des Gehirns und seiner Bestandteile nicht an sich von Interesse, sondern nur insofern diese Auswirkungen auf die psychische Konstitution und das Verhalten von Menschen haben. Ein signifikanter Unterschied in der Erforschung der beiden Hinsichten, der suborganismischen und supersonalen, besteht jedoch darin, dass im Rahmen der Untersuchungen auf der suborganismischen Ebene erstens nicht nur menschliche, sondern auch tierische Strukturen untersucht werden. Beispielsweise werden entsprechende Experimente mit Ratten, Mäusen und Katzen durchgeführt. Zweitens werden auch alternsbedingte Veränderungen bei Vertretern verschiedener Spezies56 verglichen. Auch bei dieser artübergreifenden Forschung besteht das Ziel darin, eine Verbindung zwischen der suborganismischen Ebene und derjenigen der psychischen Merkmale herzustellen: »In all cases, the challenge will be to build the necessary bridges between changes in the neural substrate and changes in behavior with age.«57 Wiederum gilt das Interesse der psychologischen Forschung nicht den neuronalen Prozessen als solchen. Vielmehr werden diese stets 56 | Vgl. u.a. G. O. Ivy/C. M. MacLeod/T. L. Petit/E. J. Markus: »A Physiological Framework for Perceptual and Cognitive Changes in Aging«, in: F. I. M. Craik/T. A. Salthouse (Hg.): The Handbook of Aging and Cognition, Hillsdale/ New Jersey/Hove/London 1992, S. 273-314. 57 | Ebd., S. 304.
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im Hinblick auf ihre kausale Relevanz für die Veränderungen psychischer Merkmale und des Verhaltens untersucht. Somit kann festgehalten werden, dass die psychologische Erforschung des Alterns in einer Hinsicht mit der Biologie des Alterns übereinstimmt. Der Bereich der psychologischen Alternsforschung, der sich mit Phänomenen auf der suborganismischen Ebene auseinandersetzt, teilt mit der biologischen Alternsforschung das Merkmal, sich nicht auf den Menschen zu beschränken, weder auf den Menschen als Ganzen im Unterschied zu seinem Gehirn noch auf den Menschen im Vergleich zu anderen Spezies. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass auch in der psychologischen Alternsforschung kausale Zusammenhänge zwischen verschiedenen Teilen oder Aspekten eines Gesamtorganismus berücksichtigt werden. So werden beispielsweise kausale Beziehungen zwischen verschiedenen suborganismischen Vorgängen beschrieben: »Vascular health risk factors such as hypertension, appear to accelerate structural brain aging.«58 Allerdings darf an dieser Stelle nicht übersehen werden, dass das Interesse der beiden genannten Disziplinen an sich überlappenden Untersuchungsgegenständen verschieden motiviert ist. Während aus der Sicht der Biologie altersspezifische Veränderungen auf der Organ- oder Zellebene an sich selbst von Interesse sind, gewinnen diese ihre Relevanz für die Psychologie des Alterns nur aufgrund ihrer kausalen Rolle für die Veränderung psychischer und behavioraler Merkmale. Wie schon erwähnt, beschränkt sich die psychologische Alternsforschung auf der suborganismischen Ebene nicht auf die Beschreibung der Veränderungen des Hirns als eines ganzen Organs. Vielmehr werden auch Veränderungen bestimmter Regionen des Hirns und deren Beschaffenheit, die Unterschiede zwischen diesen Bereichen sowie deren Einfluss auf die subpersonale Ebene untersucht:
58 | K. M. Rodrigue/K. M. Kennedy: »The Cognitive Consequences of Structural Changes to the Aging Brain«, a.a.O., S. 85.
5. Der Begriff des Alterns in der Psychologie
»The regions of the human brain age in a differential fashion, with some areas quite vulnerable to the aging process (association cortices) and others relatively resistant (primary sensory). […] The different tissue components, which have a different cellular make up, also age differentially. The cortical gray matter appears to follow a steady linear decline across the life span, whereas white matter shrinkage appears to accelerate in late middle age.« 59
Aus diesem Zitat geht hervor, dass die einzelnen Hirnregionen erstens nicht mit der gleichen Geschwindigkeit und zweitens nicht alle auf dieselbe Weise altern.
5.5 E inordnung und A uswertung der E rgebnisse Eine der Fragen, welche in der vorliegenden Arbeit beantwortet werden sollen, lautet, ob die verschiedenen in den heutigen Wissenschaften gebräuchlichen Begriffe des Alterns in Bezug auf ihre Bedeutung einen Minimalgehalt aufweisen. Im Hinblick auf die Psychologie lässt sich diese Frage folgendermaßen beantworten. Der kleinste gemeinsame Nenner der psychologischen Alternsbegriffe besteht darin, dass das Altern als ein Abschnitt des Lebens aufgefasst wird, der dadurch charakterisiert ist, dass in ihm aufgrund der mit dem fortgeschrittenen chronologischen Altern einhergehenden Prozesse bestimmte Fähigkeiten abnehmen oder verloren gehen. Altern wird also in erster Linie als Verlust begriffen. Dieses Ergebnis ist nicht so trivial, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, und zwar aus folgenden Gründen. Erstens fällt im Vergleich mit der Soziologie des Alterns auf, dass sich die Psychologen, die sich mit dem menschlichen Altern beschäftigen, in Bezug auf den Zeitpunkt, zu dem dieses einsetzt, selten so klar auf ein bestimmtes chronologisches Alter festlegen wie die Soziologen. Wie in Kapitel 4 dargestellt wurde, neigt man in der Soziologie des Alterns dazu, den Zeitpunkt um das 65. Lebens59 | Ebd., S. 84.
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jahr als entscheidende Zäsur zu betrachten. Dabei scheint Übereinstimmung darüber zu bestehen, dass dem Zeitraum in der Mitte des siebenten Lebensjahrzehntes für das Altern besondere Bedeutung zukommt. Eine solche explizite Festlegung auf ein bestimmtes chronologisches Alter als Korrelat oder Ursache des Alterns im engeren Sinne ist innerhalb der Psychologie des Alterns nicht zu verzeichnen. Zweitens weichen die hier behandelten psychologischen Alternsbegriffe im Hinblick darauf voneinander ab, welche Fähigkeiten mit dem Alter abnehmen oder verloren gehen. Genannt werden hier etwa die Widerstandskraft gegen chronische, mit dem Tod endende Krankheiten, die Reproduktionsfähigkeit, die allgemeine Anpassungsfähigkeit des Organismus, bestimmte kognitive Fähigkeiten wie etwa das Kurzzeitgedächtnis sowie die Fähigkeit des Gehirns, durch Umstrukturierungen auf neue Herausforderungen zu reagieren (Plastizität des Gehirns). Auffällig ist, dass sich einige Begriffe des Alterns, die in der Forschung als psychologische gehandelt werden, bei näherer Betrachtung als rein biologische Bestimmungen erwiesen haben. Dies gilt etwa für Fries’ Begriffsbestimmung, der zufolge das Altern durch eine Zunahme der Morbidität charakterisiert ist, sowie für Feathermans Annahme, dass das wesentliche Merkmal des Alterns die durch das chronologische Altern verursachte Abnahme der allgemeinen Anpassungsfähigkeit des Organismus ist. In Bezug auf diese und ähnliche Auffassungen ist m.E. nicht erkennbar, inwiefern sie über biologische Bestimmungen des Alterns hinausgehen. Es ist darauf hinzuweisen, dass sich die hier untersuchten psychologischen Alternsbegriffe nicht in jedem Falle in dem eben genannten Bedeutungskern erschöpfen. Wie oben dargelegt wurde, vertritt etwa Baltes die Auffassung, dass der Erwerb oder die Zunahme neuer Fähigkeiten ebenso charakteristisch für das Altern sei wie der Verlust oder die Abbnahme anderer Fähigkeiten. Aufgrund der Heterogenität der psychologischen Begriffe des Alterns ist es schwer, die Psychologie in die in Kapitel 1 entwickelte Typologie einzuordnen. Den psychologischen Begriff des Alterns
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gibt es nicht. Daher kann die Frage, ob die psychologischen Alternsbegriffe jeweils dem einen oder dem anderen Typ zuzuordnen sind, immer nur differenziert beantwortet werden. Wenn man dies tut, ergibt sich folgendes Bild. Teil der Welt, der in Betracht gezogen wird: In der Psychologie finden sich sowohl naturalistische Begriffe des Alterns als auch solche, die sich weder dem Naturalismus noch dem Kulturalismus zuschlagen lassen. Zu den naturalistischen Alternsbegriffen im Rahmen der Psychologie gehören diejenigen, die Altern ausschließlich anhand biotischer Merkmale identifizieren. Naturalismus- und kulturalismusneutrale Begriffe liegen hingegen immer dann vor, wenn bei der Erfassung des Gegenstandes auch kulturell geprägte Aspekte einbezogen werden. Dies trifft etwa auf Baltes’ Konzept des Alterns zu. Gegenstand, der untersucht wird: Auch hier lassen sich die psychologischen Begriffe des Alterns aufgrund ihrer Heterogenität nicht eindeutig einordnen. Neben nur organismusbezogenen bzw. personalen Alternsbegriffen finden sich in der Psychologie auch solche, die nur auf suborganismische oder subpersonale Prozesse oder Eigenschaften Bezug nehmen (vgl. hierzu Salthouse). Unter subpersonalen Eigenschaften werden hier einzelne Aspekte von Personen verstanden, die sich isoliert von der Gesamtheit der Person betrachten lassen, beispielsweise das Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Wie bereits erwähnt wurde, sind suborganismische Veränderungen für die Psychologie des Alterns nur insofern relevant, als sie dazu führen, dass auf der subpersonalen Ebene signifikante Modifikationen feststellbar sind. Art der Erfahrung, von der ausgangen wird: Auch in Bezug auf dieses Kriterium kann die psychologische Erforschung des Alterns in ihrer Gesamtheit weder der objektivistischen noch der subjektivistischen Schule der Begriffsbildung zugeordnet werden. Zwar dürfte kaum zu bestreiten sein, dass in der Alternspsychologie eine unübersehbare Tendenz zur objektivistischen Herangehensweise an das Altern zu verzeichnen ist. In den zahlreichen Experimenten, in denen die altersspezifischen Veränderungen kognitiver Fähig-
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keiten untersucht werden, gilt das Interesse der Forscherinnen und Forscher keineswegs der Frage, wie es sich anfühlt, alt zu werden, sondern vielmehr nur der präzisen Erfassung der Veränderungen isolierter kognitiver Fähigkeiten. An den Probanden interessiert, etwas zugespitzt formuliert, nur, wie sich beispielsweise ihre visuelle Wahrnehmungsfähigkeit entwickelt. Andererseits muss darauf hingewiesen werden, dass in anderen Bereichen der psychologischen Alternsforschung der subjektive Aspekt im Vordergrund der Betrachtung steht. Dies trifft u.a. auf die Forschungen zum Wohlbefinden (well-being) in Abhängigkeit vom chronologischen Alter zu. Diese Art der wissenschaftlichen Untersuchung ließe sich auf rein objektivistische Weise gar nicht durchführen. Funktion der Begriffsbildung: In der von mir rezipierten Literatur ist eine Tendenz hin zum evaluativen und präskriptiven Gebrauch der Alternsbegriffe zumindest in einigen Bereichen der psychologischen Alternsforschung konstatierbar. Der bekannteste evaluative Begriff des Alterns ist sicherlich derjenige des erfolgreichen bzw. des gelingenden Alterns. Auch Baltes’ These, dass das Altern nicht nur aus Verlusten besteht, sondern auch Gewinne umfasst, dürfte zweifellos unter die evaluativen Alternsbegriffe zu subsumieren sein. Manche Autoren, wie etwa Fries, gehen noch einen Schritt weiter, indem sie aus der Evaluation eine Handlungsaufforderung ableiten und somit vom evaluativen zum präskriptiven Gebrauch des Alternsbegriffs übergehen. Fries’ Forderung, dass die Morbiditätsspanne am Ende des Lebens komprimiert werden solle, ist dafür ein klares Beispiel. Auch in Bezug auf dieses Unterscheidungskriterium muss jedoch betont werden, dass es unmöglich ist, die psychologische Erforschung des Alterns als Ganze einem Typus der Begriffsbildung zuzuordnen.
6. Zusammenfassung und Auswertung der Ergebnisse
6.1 Z um V erhältnis der verschiedenen wissenschaf tlichen B egriffe des A lterns untereinander Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung war die Frage, wie sich die Begriffe des Alterns in den zeitgenössischen Wissenschaften vom Altern zueinander verhalten. Stimmen die Bedeutungen dieser Begriffe gänzlich miteinander überein? Wenn dies nicht der Fall ist, weisen sie dann zumindest eine Bedeutungsüberschneidung auf? In Kapitel 1 wurde im Hinblick auf diese Fragen folgende Arbeitshypothese zugrunde gelegt: Die einzelnen wissenschaftlichen Alternsbegriffe könnten erstens eine ihnen allen gemeinsame Minimalbedeutung aufweisen. Gemäß der traditionellen Begriffslehre gäbe es in diesem Falle eine Menge von notwendigen Bedingungen, die im Verbund zugleich hinreichend dafür wären, dass etwas altert. Diese Minimalbedeutung würde dann im Rahmen einzelner Disziplinen oder Theorien durch weitere Merkmale oder entsprechende Prädikate ergänzt. Als zweite, alternative Möglichkeit wurde ins Auge gefasst, dass die verschiedenen wissenschaftlichen Begriffe des Alterns nur durch Familienähnlichkeiten im Sinne Wittgensteins miteinander verbunden sein könnten. In diesem Falle gäbe es keine Menge von notwendigen Bedingungen, die in ihrer Gesamtheit hinreichend für die Zugehörigkeit zur Menge der alten oder alternden Individuuen wären. Stattdessen wären diese gleichsam kettenartig miteinander verbunden. Hinzuweisen ist
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darauf, dass diese Auffassung vereinbar ist mit der Annahme, dass es einzelne notwendige Bedingungen des Alterns gibt. Ob dies der Fall ist, hängt allerdings davon ab, wie allgemein diese notwendigen Bedingungen formuliert werden. Dieser Gedanke wird später noch ausführlich erläutert. Die Frage, ob und ggf. in welchem Maße eine der beiden Theorien auf die gegenwärtige Begriffslandschaft zutrifft, kann nun beantwortet werden. Vorbereitend muss dabei auf ein wichtiges Resultat der hier durchgeführten Analysen hingewiesen werden. In allen im Rahmen dieser Untersuchung behandelten wissenschaftlichen Disziplinen wird implizit oder explizit zwischen dem chronologischen Alter(n) und dem je nach Disziplin spezifizierten Alter(n) im engeren Sinne unterschieden. Vom chronologischen Altern wird also das biotische, das soziale und das psychische Altern unterschieden. Somit kann als erste, wenn auch nur negativ bestimmte Gemeinsamkeit zwischen den drei wissenschaftlichen Alternsbegriffen festgehalten werden, dass sie nicht mit dem Begriff des chronologischen Alterns synonym sind. Darüber hinaus hat sich ergeben, dass die wissenschaftlichen Begriffe des Alters und des Alterns tatsächlich durch eine hinreichende Bedingung der beiden Phänomene miteinander verbunden sind, welche aus zwei Aspekten besteht, die eng miteinander zusammenhängen: (i) Unter »Alter« wird der letzte mögliche Lebensabschnitt eines Menschen, anderen Lebewesens oder suborganismischer Entitäten verstanden. (ii) »Altern« wird definiert als der Prozess, in dem bestimmte Fähigkeiten, welche im Stadium der Reife bei gesunden Individuen oder suborganismischen Entitäten in der Regel voll ausgebildet sind, entweder abnehmen oder sogar verschwinden. Es liegt auf der Hand, dass die beiden Aspekte der Minimalbedeutung der Begriffe »Alter« und »Altern« nicht zusammenhanglos nebeneinander stehen. Vielmehr ergibt sich die Minimalbedeutung von »Altern« dann aus derjenigen von »Alter«, wenn man voraussetzt, dass der normale Verlauf eines Lebens aus verschiedenen Phasen besteht, die durch jeweils spezifische Merkmale charakterisiert sind und die eben deshalb in einer ganz bestimmten
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Reihenfolge stehen, welche nicht abänderbar ist. Gewöhnlich verfügen Individuen am Beginn ihres Lebens noch nicht über die Fähigkeiten, die für ausgereifte Organismen typisch sind. Diese werden vielmehr im Verlauf der ersten Lebensphase erst herausgebildet. Dieser Lebensabschnitt, der beim Menschen die Kindheit und das Jugendalter umfasst, kann daher als Phase der Entwicklung bezeichnet werden. Auf sie folgt eine mehr oder weniger ausgedehnte Phase, in welcher die arttypischen Fähigkeiten vollständig ausgebildet sind. Dies ist das Stadium der Reife. Aus Gründen, über deren Beschaffenheit Dissens besteht, lässt sich der Zustand der Reife gewöhnlich nicht bis zum Ende des Lebens aufrechterhalten. Deshalb schließt sich an das Stadium der Reife der letzte Lebensabschnitt, welcher als Alter bezeichnet wird, an. Selbstverständlich lässt sich diese Dreiteilung des Lebenslaufes durch die Einführung weiterer Unterscheidungen noch verfeinern (siehe Kapitel 4). In jedem Falle wird es jeweils unter allen genannten Lebensphasen genau eine letzte geben. Nachdem die beiden Elemente der Minimalbedeutung des Begriffs »Altern« im Sinne einer hinreichenden, aber nicht notwendigen Bedingung genannt worden sind und der Zusammenhang zwischen ihnen erläutert worden ist, muss noch geklärt werden, was es mit der Rede vom letzten möglichen Lebensabschnitt auf sich hat. Offensichtlich ist es nicht notwendig, dass ein Individuum alle Lebensabschnitte, die ihm prinzipiell offen stehen, tatsächlich durchläuft. Organismen können bereits während der ersten oder der zweiten Phase gefressen werden, ertrinken, verdursten, erschossen werden, sich selbst töten, an einer Krankheit sterben oder auf andere Art und Weise am Erreichen des dritten Lebensabschnittes gehindert werden. Aus diesem Grund handelt es sich beim Alter nicht um einen notwendigen, sondern nur um einen möglichen Lebensabschnitt. Als zweites Resultat der Analysen kann festgehalten werden, dass sich in den Wissenschaften vom Altern nur selten ausdrückliche Definitionen oder Explikationen der Begriffe »Alter« und »Altern« finden. Dieser Tatbestand lässt sich m.E. am plausibels-
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ten durch die Annahme erklären, dass alle hier behandelten Disziplinen den umgangssprachlichen Begriff des Alterns als selbstverständlich voraussetzen. Die Intension dieses alltagssprachlich gebräuchlichen Begriffs wird vor allem durch phänomenale Merkmale gebildet, d.h. durch Merkmale, die ohne technische Hilfmittel wahrgenommen werden können, wie etwa Faltenbildung, graues Haar, gekrümmter Rücken, langsamere Bewegungsabläufe u.Ä. Hinzu kommt in vielen Gesellschaften das chronologische Alter. Im Unterschied zu den phänomenalen Eigenschaften lässt sich das chronologische Alter nicht einfach wahrnehmen. Man kann einem Menschen nicht ansehen, ob er 62, 63 oder 64 Jahre alt ist. Damit das chronologische Alter angegeben werden kann, müssen vielmehr zwei Bedingungen erfüllt sein. Erstens muss innerhalb einer Gesellschaft eine Methode der Zeitmessung allgemein gebräuchlich sein, und zweitens muss es üblich sein, die Zeitpunkte der Geburt und des Todes aufzuzeichnen. Der soeben explizierte umgangssprachliche Begriff des Alterns wird von den empirischen Disziplinen immer dann als selbstverständlich vorausgesetzt, wenn sie ihre Untersuchungsgegenstände auswählen. Gewöhnlich beschäftigen sich Alternssoziologen weder mit Zweijährigen noch mit Zwanzigjährigen. Auch Biologen gewinnen im Rahmen ihrer Laborversuche zum Altern ihre Erkenntnisse nicht anhand frisch geschlüpfter Fruchtfliegen oder neugeborener Ratten. Diese benötigen sie zwar als »Material«, relevant ist für den Biologen jedoch jeweils nur die Lebensspanne als Ganze oder der letzte Lebensabschnitt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der bereits explizierte umgangssprachliche Begriff des Alterns und des Alters den gemeinsamen Bezugspunkt für die Auswahl der Untersuchungsgegenstände aller hier behandelten Disziplinen bildet. Dies trifft im Übrigen auch auf die Philosophie zu. Wie soeben dargelegt wurde, versteht man in Übereinstimmung mit der Umgangssprache heutzutage in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen unter »Altern« mindestens den letzten möglichen Abschnitt des Lebens, der durch die Abnahme oder den Verlust bestimmter Fähigkeiten charakterisiert ist, welche
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bei ausgereiften Individuuen in der Regel vorliegen. An dieser Stelle ist nun auf die in der Einleitung aufgeworfene Frage zurückzukommen, ob die zeitgenössischen wissenschaftlichen Begriffe des Alterns im Sinne der traditionellen Auffassung von Begriffen durch eine Menge von notwendigen und zugleich hinreichenden Bedingungen oder aber durch Familienähnlichkeiten im Sinne Wittgensteins miteinander verbunden sind. Anders, als man auf den ersten Blick vermuten könnte, lässt diese Frage keine eindeutige Antwort zu. Wie sie jeweils zu beantworten ist, hängt vielmehr davon ab, wie allgemein oder spezifisch die in Frage stehenden Bedingungen formuliert werden. Dies soll im Folgenden ausgeführt werden. Als möglichst allgemein formulierte Bedingung für das Altern kommt in Betracht, dass es sich dabei um einen Abschnitt des Lebens eines Organismus handelt, der dadurch charakterisiert ist, dass sich an bzw. in diesem Lebewesen ganz bestimmte Prozesse vollziehen. In den hier behandelten Disziplinen herrscht Einigkeit darüber, dass dies eine notwendige Bedingung des Alterns ist. Durch sie wird ausgeschlossen, dass Entitäten, die keine Lebewesen oder Teile von Lebewesen sind, im nicht-chronologischen Sinne altern können. Beispielsweise ist es nicht sinnvoll, Artefakten oder unbelebten natürlichen Gegenständen im nicht-chronologischen Sinne das Prädikat »alt« zuzuschreiben. Freilich kann man im nicht-metaphorischen Sinne sagen, dass ein Bild, ein Gebäude oder das Universum alt seien. In diesem Falle bezieht man sich jedoch auf das chronologische Alter, welches, wie oben bereits bemerkt wurde, vom biotischen, sozialen und psychischen Alter(n) zu unterscheiden ist. Die hier vorgeschlagene Bedingung ist, wie sich leicht erkennen lässt, zwar eine notwendige, aber keine hinreichende für das Vorliegen des Alterns. Sie trifft nämlich auch auf den Lebensabschnitt der Entwicklung zu. Somit handelt es sich nur um eine notwendige, nicht jedoch um eine hinreichende Bedingung. Auf dieser allgemeinen Ebene der Beschreibung lässt sich der Zusammenhang zwischen den einzelnen Begriffen des Alterns daher nicht mittels der traditionellen Auffassung von Begriffen erklären. Andererseits ist das Vorliegen dieser notwendigen Bedingung des Alterns vereinbar mit
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Wittgensteins Lehre von den Familienähnlichkeiten. Diese besagt nämlich nicht, dass die Gegenstände, die unter einen Begriff fallen, kein einzelnes Merkmal miteinander gemein haben können, sondern nur, dass dieses gemeinsame Merkmal nicht vorliegen muss. Anders fällt die Antwort auf die genannte Frage aus, wenn man die Bedingung folgendermaßen spezifiziert: Das Sichbefinden im letzten möglichen Lebensabschnitt ist aus Sicht aller hier behandelten Wissenschaften sowohl eine notwendige als auch eine hinreichende Bedingung dafür, dass ein Organimus oder ein Teil eines Organismus im engeren Sinne des Wortes altert. Kein Individuum, das sich nicht im letzten möglichen Lebensabschnitt befindet, altert in diesem Sinne. Daher hat man es mit einer notwendigen Bedingung zu tun. Darüber hinaus ist die Tatsache, dass ein Organismus den letzten der für Mitglieder seiner Spezies möglichen Lebensabschnitte erreicht hat, eine hinreichende Bedingung dafür, dass er alt ist. Auch dies wird von keiner der gegenwärtigen Wissenschaften vom Alter bestritten. In Bezug auf die derart spezifizierte Bedingung lässt sich der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Alternsbegriffen durch die traditionelle Auffassung von Begriffen erklären. Allerdings darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass das Prädikat »letzter möglicher Lebensabschnitt«, wie später noch ausgeführt wird, intensional und daher auch extensional entschieden unbestimmt ist. Das Bild verändert sich wiederum, wenn man die Bedingung nochmals spezifiziert. Das Sichbefinden im letzten möglichen Lebensabschnitt wird nun ersetzt durch das Überschrittenhaben der durchschnittlichen Lebenserwartung und die Annäherung an die maximale Lebenserwartung relativ auf eine bestimmte Spezies zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Lebensraum. Auch dieses Merkmal ist ein plausibler Kandidat für eine hinreichende Bedingung für das Alter(n). Beispielsweise würde man weder in der Biologie noch in der Soziologie noch auch im Rahmen der Psychologie bezweifeln, dass gegenwärtig ein Mensch, der das 95. Lebensjahr vollendet hat, alt ist. Das Überschrittenhaben der durchschnittlichen und die starke Annährung an die maximale Le-
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benserwartung ist somit eine hinreichende Bedingung dafür, dass ein Individuum alt ist. Allerdings hat sich beispielsweise in dem Kapitel über die Soziologie gezeigt, dass manche Forscher den Beginn des letzten möglichen Lebensabschnitts des modernen Menschen mit dem Renteneintrittssalter gleichsetzen. Dieses liegt seit längerer Zeit deutlich unter der durchschnittlichen Lebenserwartung von Frauen und Männern in modernen Staaten. Daraus ergibt sich, dass aus Sicht dieser Strömung innerhalb der Soziologie das Überschrittenhaben der durchschnittlichen Lebenserwartung keine notwendige Bedingung für das Altsein ist. Somit muss festgestellt werden, dass ab einem bestimmten Grad der Spezifizierung wiederum Wittgensteins Auffassung besser als die traditionelle Begriffslehre dazu geeignet ist, das Verhältnis zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Begriffen des Alter(n)s zu erklären. Die vorläufige und noch zu vervollständigende Antwort auf die in der Einleitung formulierten Fragen lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: • Alle hier untersuchten wissenschaftlichen Disziplinen legen bei der Auswahl ihrer Untersuchungsgegenstände die umgangssprachliche Bedeutung der Begriffe »Altern« und »Alter« zugrunde. Diese umgangssprachliche Bedeutung umfasst neben Prädikaten, die sich auf phänomenale Merkmale wie etwa Faltenbildung beziehen, in der Regel auch das fortgeschrittene chronologische Alter. • Die wissenschaftlichen Begriffe des Alterns werden durch eine Minimalbedeutung miteinander verbunden. Unter »Altern« versteht man mindestens den letzten möglichen Lebensabschnitt, der durch Abnahme oder Verlust von Fähigkeiten, welche bei gesunden, reifen Organismen in der Regel voll ausgeprägt sind, gekennzeichnet ist. Auf diesem Niveau der Spezifizierung lässt sich somit eine Bedingung angeben, die sowohl notwendig als auch hinreichend für das Altern ist. • Darüber hinaus besteht Konsens darüber, dass das Überschrittenhaben der durchschnittlichen und die starke Annäherung an
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die maximale Lebenserwartung eine hinreichende Bedingung für das Altsein darstellt. Andererseits haben die semantischen Analysen auch zu dem Resultat geführt, dass das Überschrittenhaben der durchschnittlichen und die starke Annäherung an die maximale Lebenserwartung nur eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für das Altsein ist. In Bezug auf diese stärker spezifizierte Voraussetzung trifft die traditionelle Begriffslehre nicht zu. Die Auffassung, dass das Altern der letzte, durch Fähigkeitsabnahme gekennzeichnete Lebensabschnitt ist, impliziert mindestens zwei Probleme, die im Folgenden exponiert werden sollen: (i) das Problem der unscharfen Grenze am Beginn des Alterns im engeren Sinne und (ii) das Problem des unstetigen Bezugs auf das chronologische Altern. Zu (i): Wie lässt sich der letzte mögliche Lebensabschnitt von den anderen Phasen des Lebens abgrenzen? Kann in jedem einzelnen Fall zweifelsfrei entschieden werden, ob sich ein Mensch bereits in der letzten oder noch in der vorigen Lebensphase befindet? Diese Fragen würden sich genau dann eindeutig beantworten lassen, wenn es eine klar definierte Grenze zwischen den einzelnen Lebensphasen gäbe. Nun ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die verschiedenen Einteilungen in Lebensabschnitte an der Herausbildung, dem Besitz und dem Verlust bestimmter Fähigkeiten orientiert sind. Zu diesen Fähigkeiten zählen einerseits physische, wie etwa die Hör- und Sehfähigkeit oder die Widerstandskraft gegen chronische Krankheiten, und andererseits psychische, wie beispielsweise das Kurzzeitgedächtnis oder die Fähigkeit, Fremdsprachen zu erlernen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gilt sowohl für die Entstehung als auch für die Abnahme und den Verlust solcher Fähigkeiten, dass es sich bei ihnen um kontinuierlich verlaufende Prozesse handelt, die von Natur aus keine klaren Zäsuren aufweisen. Gewöhnlich geht etwa im Alter die Fähigkeit zu hören nicht schlagartig von einem Tag auf den anderen verloren. Vielmehr vollzieht sich die Abnahme der Hörfähigkeit in der Regel ohne klare Sprünge. Eine Ausnahme bildet hierbei der Verlust der weiblichen Reproduktionsfähigkeit, der sich bei jedem
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weiblichen Individuum sehr genau datieren lässt. Wenn man nun die beiden semantischen Annahmen, dass der letzte mögliche Lebensabschnitt durch die Abnahme bestimmter Fähigkeiten charakterisiert ist und dass sich diese Reduktion in aller Regel kontinuierlich vollzieht, miteinander verknüpft, dann ergibt sich die Schlussfolgerung, dass der Begriff des Alterns auf der zeitlichen Seite seines Beginns eine unscharfe, nicht klar definierte Grenze aufweist.1 Diese Schwierigkeit lässt sich folgendermaßen veranschaulichen. Auf der einen Seite gibt es Menschen, die aus der Sicht aller Wissenschaften alt sind, zum Beispiel 95-Jährige. Darüber hinaus besteht – von wenigen bereits erwähnten Ausnahmen abgesehen – Einigkeit darüber, dass andere Menschen aufgrund der Tatsache, dass sie sich noch in der Entwicklungsphase befinden, noch nicht alt im engeren Sinne sind. Dies gilt etwa für dreijährige Kinder. Aus der vagen Minimalbedeutung der Begriffe »Altern« und »Alter« ergibt sich nun aber, dass in Bezug auf einige Menschen nicht in jedem Fall zweifelsfrei festgestellt werden kann, ob sie sich bereits in der letzten oder noch in der vorletzten Phase befinden. Diese Unbestimmtheit am Beginn des Alterns im engeren Sinne stellt keine für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Altern spezifische Eigenheit dar. Vielmehr weist der umgangssprachlich gebräuchliche Begriff des Alterns dieselbe Vagheit auf. Was in der Alltagssprache, die ja meist nicht mit dem Anspruch auf Exaktheit verbunden ist, gewöhnlich nicht zu Schwierigkeiten führt, ist allerdings im Rahmen der wissenschaftlichen Bildung und Verwendung von Begriffen problematisch. Wie soeben festgestellt wurde, sind die wissenschaftlichen Begriffe »Altern« und »Alter« im Bezug auf ihre Minimalbedeutung sowohl intensional als auch extensional teilweise unbestimmt. Wann genau das Altern beginnt, dafür gibt es keine präzisen Kriterien. Diese Unbestimmtheit eröffnet Spielraum für die Hinzunahme zusätzlicher Gesichtspunkte, die sowohl im Rahmen einer einzelnen Disziplin als auch disziplinübergreifend 1 | Hingegen ist das Ende des letzten möglichen Lebensabschnitts durch den Tod so präzise wie möglich definiert.
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verschieden beschaffen sein können. Beispielsweise neigten insbesondere in der älteren Soziologie des Alterns etliche Autoren dazu, dem Eintritt in den Ruhestand für den Beginn des Alterns besondere Bedeutung beizumessen. Durch derartige Zusatzannahmen wird zwar in der wissenschaftlichen Praxis das Problem der Vagheit des Begriffs pragmatisch gelöst, seine prinzipielle Unbestimmheit, die sich aus dem kontinuierlichen Charakter der Abnahme der Fähigkeiten ergibt, wird dadurch jedoch nicht beseitigt. Zu (ii): Die zweite sich aus der Minimalbedeutung ergebende Schwierigkeit besteht darin, dass das Verhältnis zwischen dem Altern im engeren Sinne und den entsprechenden Lebensphasen im chronologischen Sinne unstetig, d.h. variabel und somit nicht ein für alle mal festgelegt ist. In welchem chronologischen Alter der letzte mögliche Lebensabschnitt beginnt, wie lange er dauert und wann er endet, ist davon abhängig, wie hoch die durchschnittliche und die maximale Lebenserwartung innerhalb einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ist. Deshalb hängt es jeweils vom hygienischen und medizinischen Entwicklungsstand einer bestimmten Gesellschaft ab, ob bestimmte Menschen alt sind oder nicht. Beispielsweise dürfte aus Sicht aller hier behandelten Wissenschaften feststehen, dass am Ende des 14. Jahrhunderts Menschen, die das 60. Lebensjahr erreicht hatten, alt waren. In der Gegenwart dürfte diese Zuordnung hingegen in Bezug auf viele 60-Jährige durchaus strittig sein. Der Grund dafür besteht darin, dass heutzutage der Lebensabschnitt, in welchem die kontinuierliche Abnahme bestimmter Fähigkeiten wie etwa der Bewegungsoder Hörfähigkeit einsetzt, in entwickelten Industriegesellschaften bedeutend später beginnt als um das Jahr 1500. An dieser Stelle liegt es nahe, auf das in Kapitel 4 referierte, innerhalb der Soziologie verbreitete, konstruktivistische Verständnis der Begriffe »Alter« und »Altern« zurückzugreifen und die soeben herausgestellte historische Varianz der Bedeutung dieser Begriffe dadurch zu erklären, dass innerhalb verschiedener Gesellschaften in unterschiedlichen historischen Epochen verschiedene Kriterien für die Zuschreibung des Prädikats »alt« verwendet werden. So
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plausibel diese Vermutung auf den ersten Blick zu sein scheint, so liefert sie doch keine vollständig befriedigende Erklärung für die historisch-soziale Varianz der Bedeutung des Begriffs »Altern« im engeren Sinne, und zwar aus folgendem Grunde: Dass die durchschnittliche und maximale Lebenserwartung der Menschen in den vergangenen Jahrhunderten im Großen und Ganzen stetig angestiegen ist und dass die durch die Abnahme bestimmter Fähigkeiten geprägte, letzte mögliche Lebensphase heute in der Regel bedeutend später beginnt als früher, dies sind keine gedanklichen Konstrukte, sondern handfeste Tatsachen, von denen viele Bewohner der Gegenwart in einem am eigenen Leib erfahrbaren Sinne profitieren. Im Hinblick auf die Leitfrage der vorliegenden Untersuchung lassen sich die Implikationen der beiden mit der Minimalbedeutung der Begriffe »Altern« und »Alter« zusammenhängenden Probleme folgendermaßen zusammenfassen: Aus der Verbindung der beiden Aspekte der Minimalbedeutung, dass nämlich erstens das Altern der durch die Abnahme bestimmter Fähigkeiten charakterisierte, letzte mögliche Lebensabschnitt ist und dass zweitens diese Abnahme gewöhnlich ein kontinuierlicher Prozess ohne klar erkennbare Zäsuren ist, ergibt sich, dass die Lebensphase des Alterns an ihrem Beginn eine unscharfe Grenze aufweist. Diese partielle Unbestimmtheit des Begriffs »Altern« folgt aus seiner Bedeutung selbst und kann daher prinzipiell nicht beseitigt werden. Das Altern im engeren Sinne kann nicht epochen- und kulturübergreifend auf eindeutige Weise einer chronologisch bestimmten Lebensphase zugeordnet werden. Der Grund dafür besteht darin, dass die durchschnittliche und die maximale Lebenserwartung je nach dem Entwicklungsstand einzelner Gesellschaften stark variieren. Wer im Jahr 1500 als alt galt, kann in der Gegenwart möglichweise noch der Gruppe der reifen Menschen zugeordnet werden.
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6.2 D ie wissenschaf tlichen B egriffe des A lterns und das P rinzip der semantischen A rbeitsteilung Im Folgenden soll versucht werden, die bisher erreichten Ergebnisse im Anschluss an eine einflussreiche These von Hilary Putnam zu präzisieren. In seiner bekannten Untersuchung Die Bedeutung von »Bedeutung« hat Putnam in Bezug auf Begriffe, die sich auf natürliche Klassen von Gegenständen beziehen, die Auffassung vertreten, dass bei der Bestimmung ihrer Bedeutung häufig Arbeitsteilung zwischen der Sprachgemeinschaft als Ganzer und einzelnen Wissenschaften herrscht. Diese Auffassung lässt sich anhand eines auch von Putnam angeführten Beispiels veranschaulichen. Alle kompetenten Sprecher können in der Regel Wasser von anderen Substanzen anhand phänomenaler Merkmale unterscheiden. Auch ohne Berufsausbildung oder einen Doktortitel in Chemie können die meisten Sprecher des Deutschen Wasser von anderen Flüssigkeiten normalerweise ohne Schwierigkeiten unterscheiden. Das bedeutet, dass sowohl über die Extension als auch über die Intension des Begriffs »Wasser« hinreichend Einigkeit besteht. Zur Intension zählen in diesem Falle etwa die Merkmale »bei Zimmertemperatur flüssig, durchsichtig und geruchlos«, »gefriert bei niedrigen Temperaturen«, »siedet bei 100° Celsius« und »lässt Eisen rosten«. Die modernen Wissenschaften, insbesondere die Chemie und die Physik haben nun mit Hilfe ihrer spezifischen Methoden und Geräte diese Intension des Begriffs »Wasser« durch die Angabe der chemischen Struktur des Wassers erweitert und präzisiert. Insofern kann von einer Arbeitsteilung zwischen der vorwissenschaftlichen Alltagspraxis einer Sprachgemeinschaft und den Wissenschaften die Rede sein. Dies zeigt sich besonders deutlich daran, dass im Zweifelsfalle nur die zuständigen Spezialisten, also beispielsweise Chemiker entscheiden können, ob etwas aus Wasser besteht oder nicht. In Bezug auf das Wasser dürfte dies selten der Fall sein. Welche Art von Problem Putnam im Sinn hat, lässt sich aber anhand des feinen Unterschiedes zwischen den zwei Mineralien Jadeit und Nephrit erläutern:
6. Zusammenfassung und Auswer tung der Ergebnisse
»Obwohl es den Chinesen nicht aufgefallen ist, steht der Ausdruck ›Jade‹ für zwei Mineralien: Jadeit und Nephrit. Chemisch gesehen, gibt es da einen deutlichen Unterschied. Jadeit ist eine Verbindung aus Aluminium und Natrium; Nephrit besteht aus Kalzium, Magnesium und Eisen. Diese zwei völlig verschiedenen Mikrostrukturen erzeugen die gleichen, charakteristischen Materialeigenschaften!« 2
Mit Bezug auf derartige strittige Fälle vertritt Putnam die bereits erwähnte These von der universellen sprachlichen Arbeitsteilung: »Jede Sprachgemeinschaft weist die eben beschriebene Art von sprachlicher Arbeitsteilung auf, das heißt, sie verwendet wenigstens einige Ausdrücke, für die gilt: Die mit diesen Ausdrücken verknüpften Kriterien kennt jeweils nur eine Teilmenge der Menge aller Sprecher, die diesen Ausdruck beherrschen, und ihre Verwendung durch andere Sprecher beruht auf einer spezifischen Kooperation zwischen diesen und den Sprechern aus den jeweiligen Teilmengen.« 3
Putnams These ist nicht nur im Hinblick auf Fälle, in denen sich zwei oder mehr Substanzen zwar oberflächlich ähneln, aber in ihrer Tiefenstruktur unterscheiden, relevant. Vielmehr bietet sie eine plausible allgemein gültige Erklärung dafür, wie die Bedeutung bestimmter Begriffe arbeitsteilig gebildet und erweitert wird. Am Anfang dieses Prozesses steht in der Regel die indexikalische Festlegung der Extension anhand direkt wahrnehmbarer Eigenschaften. Als »Tiger« werden etwa große, gestreifte Raubkatzen bezeichnet. Sobald die Extension von der Sprachgemeinschaft anhand bestimmter phänomenaler Merkmale festgelegt worden ist, kann jeder kompetente Sprecher den Begriff in der Regel korrekt verwenden, ohne wissen zu müssen, wie die Gegenstände, welche unter den Begriff fallen, in ihrem Inneren beschaffen sind. In der Folgezeit wird die 2 | H. Putnam: Die Bedeutung von »Bedeutung«, Frankfurt a.M., 3., ergänzte Aufl. 2004, S. 56. 3 | Ebd., S. 39.
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Beschaffenheit dieser Gegenstände dann von einzelnen Wissenschaften näher untersucht. Der wissenschaftliche Fortschritt führt dann dazu, dass die Intension des Begriffs durch Merkmale erweitert wird, die nicht unmittelbar wahrnehmbar sind. Diese Erweiterung der Intension lässt in der Regel die Extension unberührt. Beispielsweise hat sich die Extension des Begriffs »Mensch« durch die Entdeckung des doppelten Blutkreislaufs durch Harvey nicht verändert. Darüber hinaus gibt es auch nach dieser Entdeckung Menschen, die einerseits den Begriff »Mensch« korrekt anwenden können, die aber andererseits nicht wissen, dass Menschen einen doppelten Blutkreislauf besitzen. Diese Beispiele verdeutlichen, was Putnam unter dem Prinzip der sprachlichen Arbeitsteilung versteht. Er fasst diesen Grundsatz folgendermaßen zusammen: »Zum einen ist die Extension im allgemeinen sozial bestimmt, sprachliche Arbeit wird ebenso geteilt wie handfeste Arbeit; und zum anderen ist die Extension, partiell wenigstens, indexikalisch bestimmt. Die Extension unserer Ausdrücke hängt von der wirklichen Natur derjenigen Dinge ab, die als Paradigmen dienen, und diese wirkliche Natur ist dem Sprecher im allgemeinen nicht zur Gänze bekannt.« 4
Wie es scheint, lässt sich Putnams These von der sprachlichen Arbeitsteilung auch auf die Begriffe »Alter« und »Altern« anwenden. Es ist darauf hingewiesen worden, dass alle Wissenschaften, die sich mit dem Altern beschäftigen, bei der Auswahl ihrer Untersuchungsgegenstände den umgangssprachlich gebräuchlichen Begriff des Alterns zugrunde legen. Sie stützen sich demnach bei der Identifizierung alter Menschen oder anderer Lebewesen auf den vorwissenschaftlichen, indexikalisch durch phänomenale Merkmale bestimmten Begriff des Alterns. Zumindest im Hinblick auf die Biologie und auf Teile der Psychologie ist es plausibel anzunehmen, dass diese Disziplinen den vorwissenschaftlichen Be4 | Ebd., S. 62.
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griff des Alterns dadurch präzisieren, dass sie seiner Intension bestimmte Eigenschaften hinzufügen, die ohne geeignete Hilfsmittel und wissenschaftliche Methoden nicht festgestellt werden können. Beispielsweise erklärt die Theorie der antagonistischen Pleiotropie organismusinterne evolutionäre Mechanismen des Alterns auf der Grundlage genetischer Defekte. Dieser Fall lässt sich genauso deuten wie Putnams Beispiel des Wassers. Kompetente Sprecher, die keine Biologen sind, verwenden den Begriff des Alterns in der Regel korrekt, obwohl sie nicht wissen, wie das Altern auf der Ebene der Gene verursacht wird. Sie brauchen dies auch gar nicht zu wissen. Was durch die biologische Erforschung des Alterns erweitert wird, ist in erster Linie nicht die Extension des Begriffs, sondern seine Intension. Ähnliches lässt sich für die Bereiche der Psychologie des Alterns sagen, die sich mit subpersonalen Merkmalen oder mit der Korrelation zwischen suborganismischen und subpersonalen Eigenschaften beschäftigen. Die gewöhnliche Sprecherin braucht nicht zu wissen, wie und in welchem Maße das Kurzzeitgedächtnis im hohen Alter abnimmt, um den Begriff des Alterns korrekt verwenden zu können. Dies spricht allerdings nicht gegen die Relevanz der psychologischen Erforschung des Alterns, sondern ist ein weiterer Beleg für die Richtigkeit der putnamschen These. Im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Untersuchung ist nun folgende Feststellung von Bedeutung: Die umgangssprachlich etablierte Intension des Begriffs »Altern« wird von den verschiedenen Wissenschaften auf jeweils verschiedene Weise erweitert. Diejenigen Merkmale, welche von der Biologie hinzugefügt werden, finden sich nicht in der erweiterten soziologischen und psychologischen Intension wieder und umgekehrt. Beispielsweise ist die durchschnittliche Zunahme der Reaktionszeit eine intensionale Bestimmung des Begriffs »Altern«, die sich zwar in der Psychologie, jedoch nicht in der Biologie und der Soziologie findet. Somit kann festgestellt werden, dass die wissenschaftliche Erforschung des Alterns dazu führt, dass die einzelnen Disziplinen die Intension des Alternsbegriffs auf jeweils besondere Weise erweitern. Weil dabei die Extension des Begriffs nicht grundsätzlich verändert wird, folgt daraus, dass die ver-
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schiedenen Alternswissenschaften den Begriff des Alterns mit einer zumindest partiell übereinstimmenden Extension, aber weitgehend differierenden Intensionen verwenden. An dieser Stelle zeigt sich, dass die in Kapitel 1 referierte fregische Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung beziehungsweise zwischen Intension und Extension fruchtbar, ja sogar unverzichtbar ist, wenn man das Verhältnis zwischen den wissenschaftlichen Begriffen des Alterns möglichst genau bestimmen will. Die Extension dieser Begriffe stimmt weitgehend überein. Unter »Alter« wird der letzte mögliche Lebensabschnitt verstanden. Wie sich nun gezeigt hat, bestehen jedoch erhebliche Unterschiede zwischen den Intensionen, welche der Begriff des Alterns in den einzelnen Wissenschaften hat. Dieses differenzierte Resultat könnte ohne die terminologische Unterscheidung zwischen Intension und Extension gar nicht formuliert werden. So plausibel die Anwendung der putnamschen These von der sprachlichen Arbeitsteilung auf den Begriff des Alterns auch sein mag, so muss dennoch auf ihre Grenzen hingewiesen werden. Putnam hat diese These in erster Linie auf natürliche Arten bezogen. Natürliche Arten, wie etwa Wasser, Tiger, Zitronen oder Phosphor, weisen die Eigenarten auf, dass sie von Natur aus klar von jeweils allen anderen Arten abgegrenzt sind. Nur die Entitäten, welche die chemische Struktur H2O aufweisen, sind Wasser. Wenn etwas eine andere chemische Struktur hat, dann ist es eben kein Wasser. Es gibt keine fließenden Übergänge zwischen der natürlichen Art Wasser und anderen natürlichen Arten. Das Problem besteht nun darin, dass die Lebensphase des Alter(n)s keine natürliche Art in diesem starken Sinne ist. Wie bereits dargestellt wurde, ist der Begriff des Alterns in Bezug auf den Beginn dieser Lebensphase unterbestimmt, weil die Abnahme oder der Verlust bestimmter Fähigkeiten, die das Altern charakterisieren, kontinuierliche Prozesse ohne klar erkennbare Zäsuren sind. Daher besteht zwischen dem Alter und der vorhergehenden Lebensphase keine so klare Grenze wie zwischen Wasser und anderen natürlichen Arten. Diese partielle Unbestimmtheit des Begriffs »Alter(n)« schränkt die Anwendbarkeit der putnamschen These von der sprachlichen
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Arbeitsteilung auf den Alternsbegriff ein. Ob bestimmte intensionale Merkmale, die von einzelnen Wissenschaften auf empirische Weise ermittelt worden sind, tatsächlich auf alte Menschen oder andere Lebewesen oder Teile derselben zutreffen, kann in besonderen Fällen schwer entscheidbar sein, insbesondere dann, wenn man es mit Entitäten zu tun hat, die sich im Grenzbereich zwischen dem Alter und der vorhergehenden Lebensphase befinden. – Abgesehen von diesen Grenzfällen, bietet Putnams These jedoch eine plausible Erklärung für die Zusammenhänge, die zwischen dem umgangssprachlichen Begriff und den wissenschaftlichen Begriffen des Alterns sowie zwischen diesen bestehen. Allerdings muss dieser Befund mit einer wichtigen Einschränkung versehen werden. Das soeben formulierte Resultat trifft nur auf die deskriptiven Alternsbegriffe zu. Wie sich im Verlauf der Untersuchung gezeigt hat, finden sich jedoch in allen drei hier behandelten Disziplinen neben dem deskriptiven auch evaluative Begriffe des Alterns. Ein Beispiel dafür ist der geläufige Begriff des gelingenden Alterns. Da sich Putnams These auf natürliche Arten bezieht, d.h. auf Gegenstandsklassen, die durch bestimmte natürliche Merkmale konstituiert werden, lässt sie sich nicht oder nicht ohne Weiteres auf evaluative anwenden. Zur Erinnerung: Putnam geht von Gegenstandsklassen aus, die zunächst anhand phänomenaler Merkmale identifiziert werden. In der Folge würden die entsprechenden Begriffe durch Spezialisten in ihrer Bedeutung erweitert. Dabei fügen diejenigen, die für die Untersuchung des Gegenstandes zuständig sind, intensionale Bestimmungen hinzu, welche sich aus der nicht direkt wahrnehmbaren Tiefenstruktur der natürlichen Art ergeben. Beispielsweise sieht man Wasser nicht an, dass seine chemische Grundstruktur H2O ist. Dieses Modell lässt sich nicht auf den Begriff des Alterns übertragen, wie der folgende Versuch zeigt. Angenommen, dass der Lebensabschnitt des Alterns innerhalb der Sprachgemeinschaft anhand phänomenaler Merkmale bestimmt worden ist. Nun haben Wissenschaftler herausgefunden, dass das Altern über die wahrnehmbaren Eigenschaften hinaus in seiner Tiefenstruktur ein weiteres Charakteris-
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tikum aufweist, welches nur mittels hochmoderner Geräte nachgewiesen werden kann: Das Altern ist etwas intrinsisch Schlechtes und daher etwas, das verzögert oder verhindert werden soll. Es liegt auf der Hand, worin der Fehler in dieser Geschichte liegt. Schlechtsein für X und Gutsein für X sind keine direkt wahrnehmbaren Eigenschaften. Das Urteil, dass bestimmte wahrnehmbare Eigenschaften gut oder schlecht für eine gewisse Entität sind, setzt immer schon ein nicht-empirisches Werturteil voraus. Je nachdem, ob etwa soziale Gleichheit oder maximale Produktivität als gut für die Gesellschaft beurteilt wird, ist beispielsweise die Tatsache, dass in Nordkorea, abgesehen von einer vergleichsweise kleinen Elite, kaum soziale Unterschiede bestehen, entweder ein Beleg für die Schlechtigkeit oder für die Güte des sozialen und politischen Systems in diesem Staat. Wie der Abriss der Ideengeschichte in Kapitel 2 gezeigt hat, wird nun auch das Altern unterschiedlich beurteilt. Die Erklärung dafür, dass es konträre Bewertungen zulässt, liegt darin, dass die Maßstäbe für die Bewertung des Alterns selbst nicht der Erfahrung entnommen werden können. Wenn man nun verschiedene, nicht-empirische evaluative Maßstäbe auf ein und denselben Gegenstand bezieht, wird man zwangsläufig zu verschiedenen Beurteilungen dieses Gegenstandes gelangen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die evaluativen Begriffe des Alterns nicht mit Hilfe der putnamschen These von der semantischen Arbeitsteilung erklärt werden können. Wie gerade angedeutet wurde, stehen die evaluativen Begriffe des Alterns in einer philosophischen Tradition, die sich bis zu Platon zurückverfolgen lässt. Wenn man vom Ideal einer empirischen Wissenschaft ausgeht, dann sind werturteilsgeladene Begriffe in der Theoriebildung zu vermeiden, ja sie erscheinen geradezu unwissenschaftlich. Geht man hingegen im Anschluss an die antiken Philosophen von dem praktischen Bedürfnis des Menschen aus, sein Leben vernünftig zu gestalten, dann ist zumindest die Frage, ob das Altern ein Gut oder ein Übel ist und wie wir uns zu ihm verhalten sollen, legitim. Ob diese Frage auch eine eindeutige Antwort zulässt, die den Ansprüchen an rationale Begründbarkeit, welche
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ansonsten in den Wissenschaften gelten, genügt, das ist allerdings eine andere Frage. Abschließend soll auf ein Problem hingewiesen werden, das im Rahmen dieser Untersuchung zwar nicht gelöst werden kann, das sich jedoch augenscheinlich aus den hier durchgeführten Analysen ergibt: Sind die Merkmale des Alterns, die von den Wissenschaften auf empirischem Wege ermittelt werden, wesentliche, d.h. notwendige Eigenschaften des Phänomens Alterns, oder handelt es sich bei ihnen um kontingente bzw. akzidentelle Eigenschaften? Ist etwa das Nachlassen der Widerstandskraft gegen chronische Krankheiten, welches offensichtlich nur durch Erfahrung festgestellt werden kann, aus diesem Grunde kein Begriffsmerkmal des Alterns? Um diese und ähnliche Fragen zu beantworten, müsste eine Diskussion aufgearbeitet werden, die im Anschluss an Saul A. Kripkes bahnbrechende Überlegungen in Name und Notwendigkeit geführt wird. Eine der zentralen Fragen bei Kripke lautet, ob es notwendige, a posteriorische Wahrheiten gibt.5 Bezogen auf das Altern, lässt sich dieses Problem folgendermaßen reformulieren: Gibt es Eigenschaften des Alterns, die einerseits notwendige Merkmale sind und die andererseits nicht schon im geläufigen Begriff des Alterns enthalten sind, sondern durch Erfahrung entdeckt werden müssen? Mit dieser Frage ist eine Aufgabe benannt, die im Anschluss an die hier durchgeführte Untersuchung in Angriff zu nehmen wäre.
5 | Vgl. S. A. Kripke: Name und Notwendigkeit, Frankfurt a.M. 1981, S. 4548 u. S. 180-182.
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Alter(n)skulturen Shingo Shimada (Hg.) Altersdemenz und lokale Fürsorge Ein deutsch-japanischer Vergleich August 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3270-5
Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch (Hg.) Alte im Film und auf der Bühne Neue Altersbilder und Altersrollen in den darstellenden Künsten April 2016, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2936-1
Nils Dahl Kodokushi – Lokale Netzwerke gegen Japans einsame Tode April 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3307-8
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Henriette Herwig (Hg.) Merkwürdige Alte Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s 2014, 350 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2669-8
Andrea von Hülsen-Esch, Miriam Seidler, Christian Tagsold (Hg.) Methoden der Alter(n)sforschung Disziplinäre Positionen und transdisziplinäre Perspektiven 2013, 274 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2520-2
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