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German Pages 442 Year 2022
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 305
Die Hauptverhandlung als Forum der Wahrheit Eine Analyse mit Blick auf die Strafprozessreformen von Argentinien und Mexiko
Von Mariana Sacher
Duncker & Humblot · Berlin
MARIANA SACHER
Die Hauptverhandlung als Forum der Wahrheit
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg
Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg
und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 305
Die Hauptverhandlung als Forum der Wahrheit Eine Analyse mit Blick auf die Strafprozessreformen von Argentinien und Mexiko
Von
Mariana Sacher
Duncker & Humblot · Berlin
In die Reihe aufgenommen als Habilitationsschrift.
Die Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Wintersemester 2020/2021 als Habilitationsschrift angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-18438-5 (Print) ISBN 978-3-428-58438-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Für Stephan, Katharina und Julius
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2020/2021 von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Habilitationsschrift angenommen. Später erschienene Quellen konnten vereinzelt noch bis August 2021 berücksichtigt werden. Ganz besonders möchte ich meinem hochverehrten akademischen Lehrer Professor em. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann danken, der das Entstehen der Schrift über die Jahre hinweg in vielen ertragreichen Gesprächen mit Rat und Ermutigung begleitet und gefördert hat. Das Thema ist in vielfältiger Weise von seiner scharfsinnigen und kritischen Analyse der globalen Entwicklung des Strafprozessrechts und der Schleifung dessen Fundamente inspiriert, die er mit immensem Engagement und Begeisterung für die Materie angestellt und die international eine große Resonanz erfahren hat. In dieser Habilitationsschrift werden darauf aufbauend die Unzulänglichkeiten und die Fortschritte des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses abgewogen, um im Anschluss einen besonderen Blick auf die schrittweise Entwicklung der Hauptverhandlung im deutschen Strafverfahren auf der Suche nach der Wahrheit bis heute zu werfen. Als Prüfstein für die globale Entwicklung werden im letzten Teil der Arbeit aus dem Blickwinkel meiner akademischen Laufbahn in Lateinamerika und Deutschland die jüngeren lateinamerikanischen Strafprozessreformen – mit Einführung der Urteilsabsprachen in Richtung eines adversatorischen Strafverfahrens – in der heutigen strafprozessualen Debatte kritisch beleuchtet. Der intensive, fruchtbare und international gepflegte Austausch und Diskurs am Lehrstuhl von Professor Schünemann war für die damit verbundenen Einblicke in andere Rechtskreise ein echter Glücksfall. Meine langjährige Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Assistentin am Lehrstuhl war eine sehr lehrreiche und erfüllende Zeit. Die vielen Gespräche mit seinen akademischen Schülern und meinen ehemaligen Kollegen, Professor Dr. Roland Hefendehl, Professorin Dr. Tatjana Hörnle, M.A., Professor Dr. Peter Kasiske und Professor Dr. Luís Greco, LL.M., haben mich sehr geprägt und bestärkt, an meinen wissenschaftlichen Zielen festzuhalten. Professor Dr. Matthias Krüger danke ich für die rasche Erstellung seines gründlichen, umfangreichen Zweitvotums und für seine wertvollen Anregungen für die Drucklegung. Für seine Unterstützung insbesondere in der Abschlussphase und für viele wichtige Hinweise bin ich Professor em. Dr. Dr. h.c. Klaus Volk als Mitglied des betreuenden Fachmentorats, aber auch als steter Ratgeber, zu großem Dank verpflichtet. Sehr verbunden bin ich auch Professor em. Dr. Dres. h.c. Friedrich-
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Vorwort
Christian Schroeder und Professor Dr. Andreas Hoyer für die Aufnahme der Arbeit in diese renommierte Reihe. Für tiefschürfende Gespräche und die unverzichtbare Unterstützung bei der Materialsuche zu den Strafprozessrechtsentwicklungen in Lateinamerika, u. a. der uneingeschränkte Zugang zu den Bibliotheken in Buenos Aires, danke ich meinem besten Freund Professor Dr. Fernando Córdoba. Für die Hilfe bei der Recherche der mexikanischen Literatur möchte ich Professor Jesús Corrales Hernández herzlich danken. Professor Dr. Moisés Moreno Hernández bin ich für die Zeit in Mexiko und die Zurverfügungstellung von Literatur und Gesetzesentwürfen sehr verbunden. Professor Dres. Dr. h.c. Marcelo A. Sancinetti vermittelte mir in meiner Anfangszeit seine Begeisterung für die deutsche Strafrechtsdogmatik und weckte damit mein besonderes Interesse für die Strafrechtswissenschaften bereits früh. Ganz besonders verbunden bin ich für Anregungen und auch so manche tatkräftige Hilfestellungen Professorin Dr. Petra Wittig, Professorin Dr. Tatjana Hörnle, M.A., Professor Dr. Lorenz Schulz, Dr. Maximilian Heim und Moritz Lochmann. Eine wertvolle praktische Hilfe war die Recherchezeit in der Kanzlei von Dr. Kurt Bröckers. Neben ihm habe ich auch Petra Kristen und Dr. Andreas Wirth für die wunderbare Arbeitsatmosphäre herzlich zu danken. Mein inniger Dank gebührt meinem Mann Dr. Stephan Beukelmann, der das bewältigte Arbeitspensum mit konstanter Ermutigung, wertvoller Unterstützung im Familienleben und unerschütterlicher Geduld begleitete. Mit seinen Anmerkungen und im Schlusslektorat erwies er mir mit größtem Engagement und brillanter Art große Dienste. Gewidmet ist diese Arbeit ihm in liebevoller Dankbarkeit und unseren beiden Kindern Katharina und Julius; sie sind für mich Quelle der Inspiration und beständiger Rückhalt. München, im Januar 2022
Mariana Sacher
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Kapitel 1 Die mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung in der europäischen Rechtsgeschichte
27
A. Vom Partei- zum Inquisitionsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 I. II.
Die Herausbildung des Inquisitionsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Das magische Prozessverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
III. Die „Entzauberung der Welt“ im Prozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 IV. Die Entstehung des öffentlichen Strafsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1. Keine „lineare“ Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Steigerung von Herrschaft durch Zentralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 V.
Fortschritt und sein Preis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Umstellung des Beweisrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Das Beweisrecht des Inquisitionsprozesses als Fortschritt!? . . . . . . . . . . . . . . . 43 a) „Rationalisierung“ des Beweisrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 b) Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3. Preis der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 a) Die schwer zu füllende Lücke im Beweisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 b) Gesetzliche Beweisregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 c) Das Dilemma der bindenden Beweisregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 d) Die Aufwertung des Geständnisses zur regina probationum . . . . . . . . . . . . 49 aa) Die theologischen Wurzeln des Geständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 bb) Die zentrale Bedeutung des Geständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 cc) Geständniserzwingung durch Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 (1) Ursprung der Folter im Inquisitionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 (2) Eigenschaften des Ketzerverfahrens und Folter . . . . . . . . . . . . . . . . 55 (3) Logik der Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 (4) Gründe für den Foltergebrauch im Inquisitionsverfahren . . . . . . . . 58 (5) Abschaffung der Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
10
Inhaltsverzeichnis
B. Die Entstehung der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 I.
Das französische Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Quellen der Reformbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Prozessuale Strukturveränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3. „Système mixte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
II.
4. Ziel der materiellen Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Ablehnung des „accusatorischen“ Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
III. Die Rezeption des französischen Systems in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 C. Die Verteilung der Prozessrollen in der deutschen Reichsstrafprozessordnung von 1877 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
Kapitel 2 Wahrheit und Verfahren
76
A. Strafprozessmodelle und Wahrheitserforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 I.
Das kontinentaleuropäische Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1. Richterliche Aufklärung im Dienst der materiellen Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . 76 a) Das Festhalten am Untersuchungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 b) Förderung der materiellen Wahrheit durch die richterliche Aufklärungspflicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 c) Das Schuldprinzip als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 d) Wahrheit als Korrespondenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 e) Erkenntnistheoretische Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 f) Normative Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 g) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Sachaufklärung von Amts wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3. Umfang der Aufklärungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4. Tatrichterliche Beweiswürdigung als materiellrechtliches Erfordernis . . . . . . . 100 5. Der Schritt zur freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 6. Rezeption in Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
II.
Wahrheit im adversatorischen Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1. Methode der Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. Verhältnis zur Wahrheitsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3. Unterschiedliche Methoden der Wahrheitserforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
B. Annäherung beider Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 I.
Durch richterliche Pozessleitung im US-Beweisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Inhaltsverzeichnis II.
11
Durch Schwächung der Stellung des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 1. Ausnahmen für das Verbot vom Hörensagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2. Einschränkungen beim Beweisantragsrecht und bei der Beweisverwertung . . 111
C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Kapitel 3 Verfahrensrecht und materielles Recht
117
A. Der Bezug beider Strafverfahrensmodelle zum materiellen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . 117 B. Wechselwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 I. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 II.
Prozessrecht im Dienst des materiellen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
III. Moderate Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 IV. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 C. Innerprozessuale Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 I.
Verschiedene Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
II.
Diskurstheoretische Legitimation des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1. Frühe diskurstheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2. Konsens als diskursive Wahrheit im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3. Einwände gegen die diskurstheoretische Fundierung des Strafverfahrens und der Absprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) Zirkularität und Inhaltsleere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 b) Interessenorientiertes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 c) Herrschaftsfreiheit und Zwanglosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4. Revision der Diskurstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
III. Verselbständigtes Prozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 I. II.
Materiellrechtliche Orientierung des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Ablehnung einer rein innerprozessualen Orientierung des Strafverfahrens . . . . . 144
Kapitel 4 Straftheorien und Schuldprinzip als Ausgangspunkt der Wechselbeziehung
145
A. Straftheorien und Verfahrensstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 B. Absolute Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
12
Inhaltsverzeichnis
C. Relative Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 I.
Spezialprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
II.
Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 1. Positive Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2. Negative Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3. Androhungsgeneralprävention und Schuldprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
D. Folgerungen für das Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 I. Ziel der materiellen Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 II.
Materielle Wahrheit und Gesetzlichkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Kapitel 5 Begründungen in Lateinamerika für die Ausgestaltung des adversatorischen Strafprozesses
166
A. Der Unparteilichkeitsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 I. In den Zeiten vor der Etablierung des adversatorischen Systems . . . . . . . . . . . . . 166 II.
Als Begründung für die neue, adversatorische Ausgestaltung des Strafprozesses 167
B. Kritik der adversatorischen Strömung an der früheren Übernahme des europäischen reformierten Strafprozesses in Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 C. Wahrheitsgebot nur im Fall der Verurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 D. Parallele Ansichten in der deutschen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 I. II.
Der Richter als unbeteiligter Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Wahrheitsgebot nur im Fall der Verurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
III. Ablehnung von Ableitungen aus dem Schuldprinzip für das Strafverfahren . . . . 171 E. Erwiderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 I. II.
Gegen das Argument der fehlenden Unparteilichkeit des Richters . . . . . . . . . . . . 172 Allgemeines Wahrheitsgebot bzw. umfassende Klärung des Sachverhalts im Strafprozess auch als Ableitung aus dem Schuldprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
F. Weitere Begründungen in Lateinamerika für eine adversatorische Struktur: das ultimaratio-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
Inhaltsverzeichnis
13
Kapitel 6 Die strafprozessualen Wurzeln in Lateinamerika auf Grundlage des kontinentaleuropäischen Modells
177
A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 B. Das spanische Inquisitionsverfahren in den Kolonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 C. Der Reformursprung in Argentinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 I. II.
Ein Inquisitionsprozess bis 1992 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Die Entstehung des reformierten Inquisitionsverfahrens nach dem kontinentaleuropäischen Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 1. Das Strafprozessgesetz der Provinz Córdoba von 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 a) Bedeutung und Ursprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 b) Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 c) Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 d) Verbreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Musterstrafprozessgesetz für Iberoamerika von 1978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3. Musterstrafprozessgesetz für Iberoamerika von 1988 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 4. Zwei Entwürfe für das Bundesstrafprozessgesetz Argentiniens . . . . . . . . . . . . 191 a) Proyecto Maier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 aa) Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 bb) Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 cc) Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 (1) Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 (2) Vom Ministerio Público geführtes Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . 195 (3) Hauptverhandlung mit Amtsaufklärungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . 197 dd) Reform der Gerichtsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 ee) Verbreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 b) Proyecto Levene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 aa) Entstehung und Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 bb) Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 cc) Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 (1) Ermittlungsverfahren mit Untersuchungsrichter . . . . . . . . . . . . . . . 206 (2) Hauptverhandlung mit Amtsaufklärungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . 207 dd) Kritik am Proyecto Levene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 (1) Die Figur des Untersuchungsrichters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 (2) Der Schwerpunkt des Strafverfahrens im Ermittlungsverfahren . . . 210 (3) Die Spannung zwischen dem Untersuchungsrichter und der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 (4) Die Ernennung weiterer Bundesrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 (5) Die alten Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
14
Inhaltsverzeichnis 5. Neues Bundesstrafprozessgesetz in Argentinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 6. Einführung der Absprachen in Argentinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
Kapitel 7 Die Reformbewegung in Lateinamerika
216
A. Verbreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 B. Die Verwandlung des ursprünglichen Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 I. II.
Zwei Reformströmungen: Argentinien bzw. Costa Rica gegenüber Chile . . . . . . 217 Das chilenische adversatorische Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
C. Mexikanische Reformentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 I.
Verfassung von 1917 und Bundesstrafprozessgesetz von 1934 . . . . . . . . . . . . . . . 225 1. Mündliche Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 2. Die Rolle der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
II.
Reformen seit 1983, ohne Veränderung des Prozessmodells . . . . . . . . . . . . . . . . 227
III. Die Reformbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 IV. Die dezentrale Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 V.
Die Reformdiskussion seit dem Demokratisierungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
VI. Die Verfassungsreform von 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 VII. Die Reform der Strafprozessgesetze der Bundesstaaten und die Vereinheitlichung durch den Código von 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Kapitel 8 Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur in Lateinamerika am Beispiel Mexikos
236
A. Die Verteilung der Prozessrollen und das Beweisverfahren als Kernpunkt der Modelldichotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 I. Vergleichsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 II.
Rollenverständnis im kontinentaleuropäischen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 1. Beweiserhebung durch das Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 2. Mitwirkung der anderen Verfahrensbeteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 b) Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 aa) Einrichtung als objektive Untersuchungsbehörde . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 bb) Kennzeichnende Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 cc) Bedeutung ihrer Verfahrensrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
Inhaltsverzeichnis
15
dd) Der Ministerio Público in Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 (1) Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 (2) Ursprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 (3) Legalitätsprinzip und Objektivitätspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 (4) Rechtsstellung und Weisungsgebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 (a) Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 (b) Die intensive Debatte in Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 (c) Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 III. Rollenverständnis im adversatorischen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 1. Akkusatorisches Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 2. Wahrheitskonzept in der mexikanischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 3. Parteiführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 b) Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 aa) Ursprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 bb) Legalitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 cc) Objektivitätspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 dd) Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 ee) Die erwartete Waffengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 ff) Rechtsstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 gg) Die Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 c) Verletzter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 d) Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 e) Gerichtliche Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 aa) Im herkömmlichen adversatorischen System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 bb) Im lateinamerikanischen Raum, insbesonders in Mexiko . . . . . . . . . . . 275 4. „Teoría del caso“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 a) Die Darstellung der Sachverhaltsversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 b) Kritische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 5. Adversatorische Verfahrensstruktur in Mexiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 a) Adversatorische Elemente bereits im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . 290 b) Adversatorische Elemente im Zwischenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 aa) Offenlegung der Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 bb) Vereinbarungen über die Auswahl der Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . 292 cc) Parteienherrschaft bei der Auswahl der Beweismittel für die Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 c) Adversatorische Elemente in der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 aa) Unvoreingenommenheit des erkennenden Gerichts? . . . . . . . . . . . . . . . 293 bb) Rolle der Parteien in der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 cc) Reihenfolge der Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
16
Inhaltsverzeichnis d) Die praktische Umsetzung des gesetzlichen Beweisverfahrens . . . . . . . . . . 294 6. Beweisausschlussregeln und ihr Korrelat im kontinentaleuropäischen Modell 295
B. Die Absprachen im neuen Bundesstrafprozessgesetz Mexikos von 2014 . . . . . . . . . . . 297 I. II.
Der procedimiento abreviado in Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Die gesetzliche Regelung im mexikanischen CPPN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 1. Bezeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 2. Initiative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 3. Zeitpunkt und Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 4. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 a) Verkürzte Anklage, Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 aa) Angabe der Tat, rechtliche Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 bb) Staatsanwaltschaftliche Beweismittel (datos de prueba) . . . . . . . . . . . . 304 cc) Beantragung des Strafmaßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 b) Anerkenntniserklärung des Angeklagten über seine Beteiligung an der Begehung der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 aa) Zustimmung zu und Anerkennung von Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 bb) Richterliche Überprüfung und Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 cc) Kein Geständnis, weil dieses in Mexiko auch rechtliche Aspekte umfasst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 dd) Mehr plea als bargaining? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 5. Strafurteil im Anschluss an den procedimiento abreviado . . . . . . . . . . . . . . . . 312 a) Erforderlichkeit eines richterlichen Urteils, Entscheidungsorgan . . . . . . . . 312 b) Der für das Strafurteil erforderliche Nachweis der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 aa) „Datos de prueba“ (Beweismittel) vs. „Medios de convicción suficientes“ (ausreichende Überzeugungsmittel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 bb) Erste Ansicht: Procedimiento abreviado nur für Verurteilungen vorgesehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 cc) Zweite Ansicht: Freispruch auch beim abreviado möglich . . . . . . . . . . 315 (1) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 (2) Überprüfung nur rechtlicher Fragen beim Urteil des abreviado . . . 316 (3) Überprüfung auch von Tatsachen beim Urteil des abreviado . . . . . 316 (a) Gesetzgebungsdebatte und Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 (b) Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 (aa) Frühere Rechtsprechung mit einem Modell der „Sachverhaltsaufklärung“ beim abreviado . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 (bb) Neuere Rechtsprechung mit Anspruch nur auf den Vergleich mit der Aktenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
III. Ableitung aus dem Opportunitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 IV. Statistiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
Inhaltsverzeichnis V.
17
Der procedimiento abreviado im Rechtsvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 1. Ähnlichkeit zum deutschen Strafbefehlsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 2. Parallelen und Unterschiede zu der französischen comparution . . . . . . . . . . . . 326 3. Parallele und Unterschiede zum plea bargaining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 a) Die Hauptinspiration und verschiedene Vergleichsaspekte . . . . . . . . . . . . . 327 b) Verteilung der Prozessrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 c) Inhaltliche Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 aa) Gegenstand der guilty plea gegenüber dem Gegenstand der Anerkenntniserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 bb) Gegenstand des plea agreement gegenüber der Zustimmung beim abreviado . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 d) Richterliche Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 aa) Beim plea bargaining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 bb) Beim abreviado . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 aa) Verteilung der Prozessrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 bb) Kompatibilität des plea bargaining und des abreviado mit der Rechtsordnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 4. Parallelen und Unterschiede zur deutschen Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . 335 a) Verteilung der Prozessrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 aa) Abspracheinitiative und -führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 bb) Richterliche Kompetenz nach Scheitern der Absprache . . . . . . . . . . . . 339 b) Inhalt der Verständigung und Maßstäbe für die richterliche Beurteilung . . 340 aa) Paradoxon der Wahrheitssuche mit zusätzlichen Beweiserhebungen . . 340 bb) Ablehnung einer Konsensmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 cc) Zulässiger Gegenstand der Anerkenntniserklärung und der Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 dd) Die erforderliche Überzeugung des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 ee) Die richterliche Überprüfung der Anerkenntniserklärung und des Geständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
C. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 I. Die internationale Tendenz zum adversatorischen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . 351 II.
Typische Schwachpunkte und Vorzüge der Beweisverfahrensmodelle . . . . . . . . . 352 1. Unterschiedliche Beweisverfahrensstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 2. Das Defizit an Waffengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 3. Legalitätsprinzip und Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . 356 4. Weitere relevante Aspekte in der Dichotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
18
Inhaltsverzeichnis Kapitel 9 Zusammenfassung und Ausblick
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A. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Kapitel 1: Die zentrale Bedeutung des durch Folter abgenötigten Geständnisses im Inquisitionsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Kapitel 2: Wahrheit und Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 1. Das Schuldprinzip als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 2. Forderungen des materiellen Strafrechts an den Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . 362 3. Wahrheit als Korrespondenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 4. Das System der richterlichen Sachverhaltsaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 5. Das adversatorische System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 a) Fehlende Vollständigkeit der Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 b) Die unerreichbare „Waffengleichheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 6. Tatrichterliche Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Kapitel 3: Verfahrensrecht und materielles Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Kapitel 4: Straftheorien und Schuldprinzip als Ausgangspunkt der Wechselbeziehung 366 1. Androhungsgeneralprävention und Schuldprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 2. Strafprozessuale Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 3. Materielle Wahrheit und Gesetzlichkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Kapitel 5: Begründungen in Lateinamerika für die Ausgestaltung des adversatorischen Strafprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 1. Innerprozessuale Orientierung der Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 2. Erwiderung auf das Argument der fehlenden Unparteilichkeit des Richters 368 3. Erwiderung gegen ein Wahrheitsgebot nur bei Verurteilungen . . . . . . . . . . . . . 368 4. Erwiderung auf die Einbeziehung des ultima-ratio-Prinzips zur Bevorzugung des adversatorischen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Kapitel 6: Kontinentaleuropäische Wurzeln der lateinamerikanischen Reform . . . . . . 369 1. Bedeutung der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 2. Vom Inquisitionsprozess zunächst zur kontinentaleuropäischen Verfahrensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Kapitel 7: Das Aufkommen des adversatorischen Systems in Lateinamerika . . . . . . . 371 Kapitel 8: Kontinentaleuropäische vs. lateinamerikanische adversatorische Verfahrensstruktur am Beispiel Mexikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 1. Verteilung der Prozessrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 a) Vergleichsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 b) Rollenverständnis im kontinentaleuropäischen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . 371 aa) Prozessuale Rolle der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 bb) Bedeutung der Verteidigung als Gegengewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 c) Rollenverständnis im adversatorischen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 aa) Mexikanische adversatorische Verfahrensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
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bb) Einhaltung der Waffengleichheit und hohe Verantwortung der Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 (1) Machtposition der Strafverfolgungsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 (2) Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 (3) Ungleichgewicht durch den Verletzten als Prozessbeteiligter . . . . . 374 (4) Richterliche Aktenkenntnis und Zusatzbefugnisse . . . . . . . . . . . . . 374 (5) Erhöhte Verantwortung der Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 (6) Verletzung der Mitwirkungsfreiheit durch die theory of the case? 376 (7) Freie Beweiswürdigung anstatt Beweisausschlussregeln . . . . . . . . . 376 2. Abreviado und Urteilsabsprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 a) Rückschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 b) Verteilung der Prozessrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 c) Inkompatibilität der Urteilsabsprachen und des abreviado mit der bestehenden Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 B. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 C. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 I. Die wachsende Bedeutung der Ermittlungsphase im Strafprozess . . . . . . . . . . . . 381 II.
Der notwendige Blick auf das Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
Literaturverzeichnis (auszugsweise) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
Einleitung I. Als das kontinentaleuropäische Strafverfahrensrecht nach der französischen Revolution die bedeutendste Wende seiner Geschichte durch die Einführung einer mündlichen, unmittelbaren und öffentlichen Hauptverhandlung gegenüber dem rein schriftlichen Verfahren des alten Inquisitionsprozesses erfuhr und für Deutschland ein Jahrhundert später das Gesetzeswerkzeug durch die StPO von 1877 geschaffen wurde, beabsichtigte man eine grundlegende Veränderung bezüglich des für die Entscheidungsfindung maßgeblichen Beweismaterials. Durch diese Reformen sollten die schriftlichen, mittelbaren und nichtöffentlichen Verfahrensakten, die in einem nicht-kontradiktorischen Vorgang geschaffen wurden, nicht mehr die Grundlage für die richterliche Entscheidung bilden. Ziel war aber nicht eine vollständige Ersetzung der inquisitorisch gefärbten Ermittlungsphase, sondern vielmehr sollte die Ankoppelung einer dominierenden Hauptverhandlung der besseren und legitimen Annäherung an die Wahrheit durch eine umfassende und andersartige Beweisaufnahme dienen. Das erkennende Gericht sollte einen originären Zugang zu den Beweismitteln erhalten. Das Ziel der Wahrheitssuche im Prozess sollte durch die neuen Verfahrensinstrumente eine viel plausiblere Ausgangslage als zu Zeiten des Inquisitionsprozesses haben. II. Der Inquisitionsprozess ist eine historische Durchgangsstation hin zum Hauptverhandlungsmodell. Herkömmlicherweise sagt man bereits dem Inquisitionsprozess die Ausrichtung des Verfahrens auf die Ermittlung der (materiellen) Wahrheit nach, nachdem seit dem IV. Laterankonzil von 1215 durch die Umstellung des Beweisrechts die materielle Wahrheit zum Prozessziel zählte. Die Beantwortung der Frage nach der Eignung des Inquisitionsverfahrens zur Ermittlung der materiellen Wahrheit bedarf indes eines differenzierten Blicks. Zunächst ist von der Ablösung des magischen durch ein empirisches Prozessverständnis auszugehen: In diesem Sinne könnte man annehmen, dass die Ablösung des alten germanischen Verfahrens durch den Inquisitionsprozess ein Exempel für die „Entzauberung der Welt“ im Sinne Max Webers1 gewesen wäre, indem anstelle des Gottesurteils die Idee der materiellen Wahrheitsfindung getreten ist. Der erste Schritt in Richtung einer Rationalisierung des Beweisrechts erfolgte zunächst im Kirchenrecht und ging einher mit einer Umstellung des Beweisrechts durch die Ablösung der sog. „irrationalen“ Beweismittel durch die „rationalen“ Beweismittel im Jahr 1215 durch das IV. Lateranum. Offen bleibt, ob diese Klassifizierung in 1 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 593, 604 f., 612; ders., Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Teil, Kapitel V, § 7, S. 308; ders., Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, S. 433.
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„rational“ und „irrational“ die Vielschichtigkeit der Beweisproblematik ausreichend erfasst. Vor dem Hintergrund einer im Entstehen begriffenen zentral organisierten Staatlichkeit, zunächst im Kirchenrecht und später im weltlichen Recht, könnte der Inquisitionsprozess nach moderner Lesart als erforderlicher (Zwischen-)Schritt in der Entwicklung des Strafprozesses angesehen werden. Unter dieser Prämisse wären die von der Gegenmeinung geltend gemachten Unzulänglichkeiten des Inquisitionsprozesses bis hin zur Brandmarkung all dessen, was auch nur das Wort inquisitorisch in sich trägt, je nach Perspektive in Frage zu stellen. Vor allem die früheren Untersuchungen zur Geschichte des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses beschäftigen sich vielfach nicht wirklich damit, die damals neue Prozessform separat zu würdigen, sondern seine Entstehung wird meist mit der Praxis der Folter und der Ketzerverfolgung vermengt und gleichgesetzt. A posteriori, d. h. anachronistisch gesehen, fällt jedenfalls nach Auffassung beider Ansichten die Missbrauchsanfälligkeit der Herrschaft des Inquirenten ins Gewicht, sei es durch die mit der Schriftlichkeit einhergehende Heimlichkeit, das Zusammenfallen von Ermittlung und Entscheidung in der Person des Inquisitionsrichters oder die fehlende Subjektstellung des Beschuldigten, also all das, was zu Willkür und Uneinheitlichkeit führen kann. Als Stein des Anstoßes galt und gilt bis heute das Beweismittel der Folter. Sie ist für viele Beobachter ein inhärentes Element des Inquisitionsprozesses. Die heutige rechtshistorische Forschung kritisiert diese behauptete inhärente Verbindung von Prozessform und Folter mit der Folge, dass das Verfahren für manche in seiner Struktur, sozusagen „im Kern“, verdorben sei, so als wäre deren Einführung der Biss in den Apfel des Baums der Erkenntnis, mithin eine Art Erbsünde des Strafverfahrens. Diese jüngere Ansicht möchte den Missbrauch des Inquisitionsprozesses nicht mit dem Inquisitionsprozess als Strafverfahrenstyp in einen Topf werfen. Das wird als „Verdammung“ bezeichnet, die dem Inquisitionsprozess in seiner historischen Gestalt jedoch „in keiner Weise gerecht“ würde.2 Als Argument wird vor allem vorgebracht, dass die Folter als Ermittlungsmethode offenbar erst geraume Zeit nach der Einführung des Inquisitionsprozesses praktiziert wurde. Ein wesentlicher Aspekt in der Entwicklungslinie ist aus strafprozessualer Sicht der Umbruch von einem religiös-spiritualistischen zu einem realitätsbezogenen Weltverständnis, in dem die Rechtsgestaltung als „rational“ bezeichnet und die materielle Wahrheit als Ziel des Inquisitionsverfahrens angesehen wird. Die Umstellung des gemeinen Beweisrechts führte zu festen Beweisregeln (Beweis durch Geständnis oder zwei Zeugen), die wiederum eine Hierarchie der Beweise zuließen. Die Gretchenfrage dabei ist aber, inwiefern eine Verurteilung des Angeklagten auf 2 Sellert, Festschrift für Scupin, S. 181. Die Assoziierung der inquisitorischen Prozessform mit der Inquisition als summarisches Verfahren gegen Häretiker hat dazu geführt, dass in Lehrbüchern zum Prozessrecht der Grundsatz der Inquisition gerne durch den Grundsatz der Instruktion ersetzt wird, um den Begriff Inquisition vermeiden zu können.
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seinem Geständnis beruhte und welche Rolle die Folter zur Aussageerzwingung spielte. Wegen der vollkommenen Ungeeignetheit, durch Zwang zu einer wahren Aussage und zur materiellen Wahrheit zu kommen, ist die Beweiskraft, die Eignung zur Ermittlung der materiellen Wahrheit, aber auch die Rationalitätsqualifikation dieses Beweismittels von vornherein kontaminiert und damit zum Scheitern verurteilt. Unter diesem Blickwinkel ist das heute rechtshistorisch betonte Deutungsschema der Rationalisierung der Beweise beim Inquisitionsverfahren im Sinne einer realitätsbezogenen Erfassung der Welt, Verwissenschaftlichung des Rechts und Verfolgung der materiellen Wahrheitsfindung als Verfahrensziel anhand der Rolle der gesetzlichen Beweisregeln und des erzwungenen Geständnisses in Frage zu stellen. Die in jüngster Zeit durchgeführten rechtshistorischen Forschungen zum Inquisitionsprozess haben also ein differenziertes Bild seiner allmählichen geschichtlichen Entwicklung gezeichnet und – verglichen mit der radikalen Kritik Ende des 18. Jahrhunderts – ein insgesamt positiveres Urteil abgegeben. Hierauf soll im 1. Kapitel ein Blick geworfen werden. Dabei geht es nicht um eine eigene rechtsgeschichtliche Untersuchung, sondern nur um eine kurze Rekapitulation der Vergangenheit und der Entwicklung des Strafverfahrens auf dem europäischen Kontinent, die einerseits die Entstehung des Hauptverhandlungsmodells als einen zentralen Gegenstand dieser Arbeit verständlich machen soll, seine Daseinsgründe und Daseinsberechtigung, auch in der Bedeutung des kontinentaleuropäischen Weges im transatlantischen Diskurs; und andererseits einen Bezugspunkt für den anderen zentralen Gegenstand dieser Arbeit liefern soll, nämlich für die Hypothese, dass die Uhr für das Hauptverhandlungsmodell global abgelaufen ist und das Strafverfahren wieder in Richtung auf Eckpunkte und Machtverteilung im Inquisitionsprozess zurückgedreht wird, wobei das Unterwerfungsverfahren mit Strafmilderung (als Oberbegriff für amerikanisches plea bargaining und deutsche Verständigung) die Funktion der Folter übernimmt, nämlich für ein Geständnis und damit für ein gutes Gewissen des verurteilenden Richters, der Justiz insgesamt und letztlich auch der Gesellschaft zu sorgen. III. Um welche Form von Wahrheit es überhaupt durch die Beweiserhebungen der Hauptverhandlung gehen sollte, ist dabei eine entscheidende Frage, um die es im 2. Kapitel geht. Denn der Wahrheitsbegriff ist changierend und je nach Färbung kann beispielsweise schon die Übereinstimmung der Verfahrensbeteiligten über das, was war, als ausreichend gelten, wohingegen andere wiederum versuchen, jedes noch so kleine Detail eines historischen Sachverhalts zu ermitteln. Teilweise wird die Erforschung der Wahrheit nur für den Fall einer Verurteilung verlangt, anstatt sie wie herkömmlich auch hinsichtlich der Täterunschuld einzufordern. IV. Gewisse Schwächen der kontinentaleuropäischen Prozessstruktur bei der erstrebten Aufklärung des realen Sachverhalts zeigen sich in der justiziellen Wirklichkeit des deutschen Modells der richterlichen Aufklärungspflicht, derzufolge die gesetzlich erwartete Unvoreingenomenheit bei der von Amts wegen vorzuneh-
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menden Sachverhaltserforschung in der Hauptverhandlung in der Praxis zwangsläufig vernachlässigt wird. Die Projizierung der vom Strafverfolgungsapparat gesammelten und überwiegend belastenden Beweise auf das in der Hauptverhandlung immer vor Augen stehende Tatbild ab der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens und der damit einhergehenden prognostischen Bewertung des Sachverhalts als überwiegend wahrscheinlich ist logische Konsequenz der detaillierten Aktenkenntnis des Tatgerichts und der engen Interaktion zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht. Es ist diese inquisitorische Stellung des Richters im deutschen Modell der Hauptverhandlung, durch die die Verbindungslinie zum alten Inquisitionsprozess erhalten geblieben ist und zugleich der zentrale Unterschied zum Modell der angloamerikanischen Hauptverhandlung markiert wird. Die frühen Kritiker der Reichsstrafprozessordnung, besonders ausgeprägt in den von Franz Adickes 1906 gezeichneten „Grundlinien durchgreifender Justizreform“, die auf die (schon damals illusorische) Übernahme des gesamten englischen Justizmodells hinausliefen, haben dies beanstandet, der Gesetzgeber hat aber das Gegenteil getan: Vermöge der Abschaffung des Schwurgerichts durch die nach dem damaligen Reichsjustizminister Emminger benannte Notverordnung von 1924 ist der ursprüngliche „Doppelkompromiss“ – in Kapitalstrafsachen die englische Hauptverhandlung, auf der Amtsgerichtsebene und vor den großen Strafkammern das deutsche Kompromissmodell mit inquisitorischem Berufsrichter und Schöffen – auf dieses eine Modell reduziert worden, sodass sich der seitdem geführte Reformdiskurs zwischen den beiden Polen bewegt hat, entweder – so die in Justizkreisen erhobenen und im Gesetzgebungsverfahren immer wieder erfolgreichen Forderungen – die Rechte der Verteidigung beschnitten und dadurch die inquisitorische Stellung des Richters verstärkt oder – so die von der Anwaltschaft und überwiegend im wissenschaftlichen Schrifttum erhobenen Forderungen – nach Regeln gesucht wurde, die „inquisitorische Allmacht“ des Richters in der Hauptverhandlung mit Kautelen zu versehen. Während die deutsche Diskussion auf diese Weise zwischen der rechtshistorischen Rückschau und einer Einengung, fast sollte man sagen: Einpferchung durch die politisch erfolgreiche Interessenvertretung der Richterschaft stattfindet, findet in den USA eine vielleicht noch radikalere Einschränkung der Reformdiskussion durch die verfassungsrechtliche Garantie des Schwurgerichtsmodells statt. Um dieser doppelten Engführung der Reformdiskussionen zu entgehen, wird in der vorliegenden Arbeit die lateinamerikanische Strafverfahrensreform am Beispiel der hierfür wohl relevanten Länder Mexiko und Argentinien analysiert. Die Ablösung des alten Inquisitionsverfahrens kann hier gewissermassen in Echtzeit beobachtet werden. V. Wenn man also einen Blick auf die Abschaffung des ursprünglich aus Spanien übernommenen Inquisitionsverfahrens in Lateinamerika wirft, ist zunächst in der Strafprozesswissenschaft wie auch in der Gesetzgebung ein ausgeprägtes Festhalten am kontinentaleuropäischen Vorbild zu beobachten. Anfangs setzte sich das in den
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Siete Partidas („Sieben Rechtsbücher“) vorgesehene gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren in den spanischsprachigen Gebieten der „neuen Welt“ durch. Der entscheidende Impuls für die Einführung der mündlichen Hauptverhandlung kam aus der argentinischen Provinz Córdoba im Jahr 1939. Dass dessen Ausgangspunkt ursprünglich in Kontinentaleuropa lag, kann man heute angesichts des heute weithin etablierten „Adversarialmodells“ (adversarial system) und der Urteilsabsprachen kaum glauben. Im Rahmen der nachfolgenden Reformen entwickelte sich die adversatorische Strömung v. a. mit Impulsen aus Chile, die sich in Lateinamerika wie Schockwellen ausbreiteten. Der Status Quo der lateinamerikanischen Strafprozessgesetze nach den Grundsatzreformen der letzten 25 Jahren macht auf den ersten Blick den Eindruck, dass das Gesamtkonzept nunmehr aus dem angloamerikanischen Rechtskreis übernommen wurde, freilich ohne Übernahme des Schwurgerichts. Den Gipfel dessen bildet die letzte Gesamtreform in Mexiko mit der verbindlichen Einführung dieses Modells in 2016. Diese Vermutung erfordert eine exemplarische Erörterung punktueller Prozessaspekte wie die grundlegenden Prozessmaximen, Verteilung der Prozessrollen bei der Beweissammlung und -führung und nicht zuletzt der lateinamerikanischen Abspracheart des procedimiento abreviado. Der Blick auf diese lateinamerikanischen Strafprozessreformen ist deshalb für die heutige deutsche Reformdiskussion von großer Bedeutung, weil dabei ursprünglich kontinentaleuropäische Wurzeln und die Übernahme der Grundidee, dass eine Strafe nur auf die im Strafprozess nachgewiesene Täterschuld gestützt werden darf, zu erkennen sind. Mit dem Ziel der Erforschung der materiellen Wahrheit wurde die mündliche Hauptverhandlung wie in Kontinentaleuropa mit der Abschaffung des schriftlichen und geheimen Inquisitionsprozesses eingeführt, grundsätzlich mit dem Sinn, dass nur die Beweiserhebungen dieser Verfahrensphase als Urteilsgrundlage dienen sollten. VI. Der strafprozessuale Paradigmenwechsel in Lateinamerika mit der Abschaffung des alten schriftlichen Inquisitionsprozesses litt jedoch von Beginn an an einem tiefen Widerspruch, nachdem gleichzeitig für die faktische Abschaffung der krönenden Hauptverhandlung durch die schnelle Verfahrenserledigung in Form des juicio abreviado oder procedimiento abreviado, gesorgt wurde, was überall rein pragmatisch gerechtfertigt wurde und nur rudimentäre theoretische Grundlagen aufweist. Dadurch machte die anspruchsvolle Modernisierung im selben Atemzug eine Rolle rückwärts, indem das Verfahrensergebnis nicht von den Beweiserhebungen aus der neu errichteten mündlichen Hauptverhandlung, sondern von den bloßen Angaben aus dem schriftlichen Verfahren und vom Geständnis als die „Königin der Beweismittel“ wieder wie beim Inquisitionsprozess abhängig gemacht wurde. Paradoxerweise entstanden die Impulse für den abreviado in den 1990er Jahren just in der argentinischen Provinz, die das erste anti-inquisitorische und moderne Strafprozessgesetz mit der Einführung der mündlichen Hauptverhandlung bereits mehrere Jahrzehnte früher als der Rest Lateinamerikas, nämlich im Jahr 1939, geschaffen hat.
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VII. Heutzutage sind die Urteilsabsprachen trotz gewisser Spannungen mit den Grundlagen der jeweiligen Rechtsordnungen in aller Welt fest etabliert. Das gesetzgeberische und rechtswissenschaftliche Interesse konzentriert sich nun besonders auf Detailaspekte ihrer Regulierung, v. a. stellt sich die Frage nach Einschränkungen des Abspracheinhalts und nach dem Umfang der richterlichen Kontrolle. Je nach Absprachemodell wird eine Annahme eines pauschalen Schuldbekenntnisses des Angeklagten im Sinne einer guilty plea möglich sein, oder man fordert ein, dass die Einlassung des Angeklagten nur in der Anerkennung bestimmter Tatsachen bestehen kann. Verschiedene Regelungsvarianten bestehen ferner für die Bestimmung des Gegenstands der Einigung der Absprachebeteiligten. Dabei können mögliche Inhalte von der Vereinbarung ausgeschlossen werden, wie im Sinne eines fact bargaining und charge bargaining. Was die richterliche Kontrolle der verkürzten Verfahrenserledigung betrifft, sind die Anforderungen an ihre Intensität je nach Absprachemuster unterschiedlich. Die richterliche Überprüfung kann sich auf Mindestvoraussetzungen wie die Kongruenz der Einlassung mit der Anklage oder die Freiwilligkeit des Schuldbekenntnisses einschränken. Will man aber eine nähere Verifizierung der Tatsachen fordern, kann man sich entweder mit einem Abgleich mit der Aktenlage begnügen oder einen zusätzlichen richterlichen Aufklärungsaufwand verlangen. Für den letzten Fall kann versucht werden, Kriterien zu skizzieren oder man überlässt dem Gericht diese Einschätzung, so wie es bei der deutschen Verständigung nach den neuen Anforderungen geschieht. Die Analyse der in Lateinamerika in verschiedenen Varianten anzutreffenden Absprachemuster erlangt über die bloße Rechtsvergleichung hinaus eine herausragende Bedeutung für die deutsche Reformdiskussion, weil die leitende Position des von der Kenntnis der Ermittlungsakten geprägten deutschen Richters bei den Verhandlungsgesprächen in der Absprachenwelt einmalig ist und die deutsche gesetzliche Regelung deshalb nicht einmal an dieser Stelle durch eine Veränderung der Parteirollen für eine größere Neutralität des Richters gesorgt hat. VIII. Letzendlich stellt sich die Frage, ob die Entwicklung in Lateinamerika symptomatisch für den Niedergang des kontinentaleuropäischen Prozessmodells ist und die mündliche, unmittelbare und öffentliche Hauptverhandlung nur noch die Rolle eines Annexes hat, den man wie einen Blinddarm eines Tages ganz eliminieren kann. Es würde sich dann der Kreis schließen, und man fände sich beinahe wieder im alten Inquisitionsprozess. Damit aber die Suche nach der materiellen Wahrheit weiterhin das Ziel des Strafprozesses bleibt und die Verteidigung in ihren Rechten und Möglichkeiten nicht vollends in Schieflage gerät, müssten zumindest im inzwischen wieder dominierenden Ermittlungsverfahren neue Akzente gesetzt werden, um zumindest hier die Balance zu wahren.
Kapitel 1
Die mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung in der europäischen Rechtsgeschichte Eine Untersuchung mit einem rechtshistorischen Kapitel zu beginnen, liefert entweder nur Zierrat oder aber eine Orientierung oder gar jene Sicherheit in einer „verwirrenden Fülle der Erscheinungen der Gegenwart“, von der Eberhard Schmidt im Vorwort zur 1. Auflage seiner „Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege“ (1947) gesprochen hat. Dass seine Einführung seit seiner 3. Auflage (1965) ohne Nachfolge geblieben ist, hat Wolfgang Sellert in dem mit Hinrich Rüping herausgegebenen „Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege“ (1989) bedauert.1 Rüping hat mit seinem erstmals 1980 erschienen „Grundriss der Strafrechtsgeschichte“ einen wichtigen Ersatz beigesteuert. Für die mittelalterliche Strafrechtsgeschichte hat Günter Jerouschek, inzwischen als Mitautor für den „Grundriss“ mitverantwortlich, wichtige Forschungsergebnisse beigetragen, die aus dem großen DFG-geförderten Würzburger Forschungsschwerpunkt zur „Entstehung des Öffentlichen Strafrechts“ hervorgegangen sind,2 an dem er mitgewirkt hat. Das Vorhaben von Dilcher, Nehlsen u. a., die Ergebnisse des Schwerpunkts in einem Handbuch zusammenzufassen, wurde nicht
1 „Aus den modernen Lehrbüchern des Strafrechts ist die Strafrechtsgeschichte fast völlig verbannt worden. Sie fristet dort – meist nur noch als dürre Einleitungshistorie – ein kümmerliches Dasein. Damit ist das geltende Strafrecht um eine wesentliche Quelle ärmer geworden, zumal an den juristischen Fakultäten und Fachbereichen der deutschen Universitäten Vorlesungen zur Geschichte des Strafrechts oder der Strafrechtspflege kaum noch gehalten werden“, a. a. O., Band 1, S. 44. Dies gilt nicht nur für Lehrbücher, sondern auch für die immer zahlreicheren Kommentare und Handbücher zum Strafprozessrecht, aus denen die Rechtsgeschichte verbannt zu sein scheint. Eine Ausnahme ist Kudlich, „Einführung“, in: Knauer/ Kudlich/Schneider (Hrsg.), Münchner Kommentar zur Strafprozessordnung, 2014, der mit Recht auf den federführend von Dietmar Willoweit geleiteten DFG-geförderten Würzburger Forschungsschwerpunkt zur „Entstehung des Öffentlichen Strafrechts“ hinweist. In dem von ihm mitherausgegebenem, auf 9 Bände angelegten „Handbuch des Strafrechts“, hrsg. mit Eric Hilgendorf und Brian Valerius, gibt es im 2019 erschienenen 1. Band ausführliche Beiträge zur Strafrechtsgeschichte, S. 217 – 361. Der Beitrag von Georg Steinberg zur Geschichte des europäischen Strafrechts bis zum Reformationszeitalter fußt auf den genannten Arbeiten, siehe S. 217 ff. 2 Siehe die 6. Aufl. (2011), ausführlich Jerouschek, ZNR 32 (2010), 52 ff. Der Forschungsschwerpunkt wurde geleitet von Dietmar Willoweit (federführend) sowie Rolf Sprandel und Klaus Lüderssen; siehe Willoweit, in: ders. (Hrsg.), Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts, S. 1 ff., 3.
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Kap. 1: Die mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung
verwirklicht. Der Schwerpunkt hat immerhin eine Reihe von Tagungsbänden und Monographien nach sich gezogen.3
A. Vom Partei- zum Inquisitionsprozess I. Die Herausbildung des Inquisitionsprozesses Die Herausbildung des öffentlichen Strafrechts erfolgte nach Vorläufern im fränkischen Königsrecht der Kapitularien vornehmlich durch die Land- und Gottesfriedensbewegung4 und insbesondere durch das Kirchenrecht. 1075 hatte Gregor VII. in seinem „Dictatum Papae“ den Bischof von Rom als alleinigen und unbeschränkten Herrn der Kirche, der noch über dem Metropoliten von Byzanz stehen sollte, bestimmt - aus Sicht der kaiserlichen Herrschaft ein geradezu abenteuerlicher Schritt. Der Machtanspruch gipfelte im Verbot der Laieninvestitur.5 Der Papst sollte zudem das exklusive Recht haben, kaiserliche Würdezeichen zu tragen. Er sollte weiterhin über den Kaiser bestimmen, sofern er den gewählten Kaiser absetzen und die Untertanen eines ungerechten Herrschers vom Treueeid entbinden können sollte. Aber so abenteuerlich war das nicht. Die im 10. Jahrhundert einsetzende Reformbewegung von Cluny war machtvoll gewesen. Ihr war es um Reinigung der Kirche von weltlichen Einflüssen gegangen und sie hatte ab dem 11. Jahrhundert auch kirchenpolitisch schnell Fahrt aufgenommen.6 3
Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alt-Europas, hrsg. von Lüderssen, Schreiner, Sprandel und Willoweit im Böhlau Verlag. Siehe weiterhin die Reihe „Rothenburger Gespräche zur Strafrechtsgeschichte“: Jerouschek/Schild/Gropp (Hrsg.), Benedict Carpzov – Neue Perspektiven; Jerouschek/Rüping, Auss liebe der gerechtigkeit. 4 Sellert, in: Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 1, 91 ff. 5 Zum Investiturstreit siehe Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 264 ff.; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 181 ff.; Schieffer, in: Boehm, u. a. (Hrsg.), Historisches Jahrbuch, S. 87 ff.; ders., Bulletin of Medieval Canon Law, Vol 22 (1998), 19 ff.; ders., Papst Gregor VII: Kirchenreform und Investiturstreit; ders., in: Schroll u. a. (Hrsg.), Brief und Kommunikation im Wandel, S. 23 ff.; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, § 8 III; Meder, Rechtsgeschichte, S. 150; Prodi, Geschichte der Gerechtigkeit, S. 49; Schmoeckel, Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung, S. 135; Vesting, Staatstheorie, § 2 Rn. 57 ff., S. 33 ff.; Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 2/2, S. 90 und zur entsprechenden Streitliteratur S. 92. Berman, Recht und Revolution (aus dem Englischen übersetzt), betrachtet den Investiturstreit als „päpstliche Revolution“, und hebt ihn als die Wende, die die Welt veränderte, hervor und sieht ihn für die Rechtsentwicklung in Europa, bzw. für die Entstehung des kanonischen Rechts und damit des westlichen Rechts als ausschlaggebend, auch wenn er nicht der erste ist, der das so sieht; zu weiteren Autoren siehe Wesel, Zeit Online 36/1991, 1. Zu Berman siehe die Beiträge in der Zeitschrift Rechtsgeschichte – Legal History Rg 21 (1993), 156 ff.; Landau, University of Chicago Law Review 51 (1984), 937 ff.; Dreier, JZ 2002, 1 ff.; Vesting, Rechtsgeschichte – Legal History Rg 21 (2013), 176 ff. u. v. a. 6 Vgl. Achter, Geburt der Strafe, S. 112 ff.; Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 254 ff.; Sellert, in: Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 1, S. 91; Meder, Rechtsgeschichte, S. 150; Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 2/2, S. 88. Am
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Im damit vom Zaun gebrochenen Investiturstreit sollte schon zwei Jahre später Heinrich IV. seinen berühmt-berüchtigten Gang nach Canossa antreten.7 Mit dem – faktisch wohl nicht veröffentlichten – Dictatum Papae setzte Gregor VII. die für das Mittelalter charakteristische Dynamik der „zwei Schwerter“ frei (dem Papst die geistliche Gewalt, dem Kaiser die weltliche Gewalt), die zum Vorläufer der modernen Gewaltenteilung wurde.8 Der Machtanspruch führte zur Professionalisierung der Juristen, die ab dem 12. Jahrhundert an der neugegründeten Universität in Bologna ausgebildet wurden.9 Seither wurde der Konflikt der zwei Schwerter vielleicht nicht faktisch, aber auf dem Papier ausschließlich im Medium des Rechts ausgetragen. Dementsprechend verläuft die Karriere des Kirchenrechts. Das Decretum Gratiani (um 1140), das Hauptwerk des in Bologna lehrenden „Vaters der Kanonistik“ Gratian, ist der Ausgangspunkt der Kanonistik. Die Kanonisten kommentierten es zunächst in Form von Glossen, um es dann zum Ausgangspunkt für systematisch konzipierte „Summen“ zu machen.10 Das war das entscheidende Mobesten illustriert die Dynamik dieses Reinigungsprozesses seine Selbsterneuerung. Ein Jahrhundert später brachte das überreich gewordene Cluny gleichfalls in Burgund eine neuerliche Reinigungsbewegung hervor: die Zisterzienser. Unter der charismatischen Führung von Bernhard von Clairvaux erobern diese innerhalb von nur gut einem halben Jahrhundert die westliche Welt, indem sie die gesamte Arbeitswelt spiritualisieren und wie Apple in unserer Zeit geradezu plötzlich zum ersten Global Player werden. Sie liefern das erste und vermutlich beste Beispiel für die These Max Webers vom Ursprung des Kapitalismus aus dem Protestantismus. Bernhard war es dann, der auf Augenhöhe mit dem Papst die Kreuzzugsidee ihrem Höhepunkt und zugleich Abgrund zuführte. 7 Berüchtigt ist das Ereignis, weil es vom NS-Regime missbraucht wurde. Tatsächlich war es wohl keine Demütigung des Kaisers, weil der Papst nach christlichem Recht die Exkommunikation eines reuigen Kaisers zurücknehmen musste. 8 Vgl. Schmoeckel, Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung, S. 135; Meder, Rechtsgeschichte, S. 151 f.; Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 2/2, S. 86 f., 93; Prodi, Geschichte der Gerechtigkeit, S. 50. 9 Siehe Meder, Rechtsgeschichte, S. 21, 154 ff.; Fried, Entstehung des Juristenstandes, S. 100; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 34. Zum Universitätsleben im Mittelalter, zu den Studenten in Bologna und zu den Quästionen ab der Mitte des 13. Jahrhunderts siehe die umfangreiche Untersuchung zu zwei Sammelhandschriften von Quästionen, die für die Lösung von Rechts- oder Tatsachenfragen dienten, siehe von Bellomo, I fatti e il diritto, insbes. Kapitel 5 ff., der die kanonistischen Quästionen allerdings vernachlässigt. Zum Werk von Bellomos siehe Lepsius, Der Richter und die Zeugen; dies., Rechtsgeschichte, Rg 1 (2002), 258 ff. Ferner zur Professionalisierung der Juristen in Bologna Landau, in: Condorelli/Roumy/ Schmoeckel (Hrsg.), Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur, Band 1, S. 22; weiterhin die wichtige Untersuchung von Trusen, Anfänge des gelehrten Rechts; ders., in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 54. Siehe auch Schwinges (Hrsg.), Gelehrte im Reich, ZHF Beiheft 18, mit Nachweisen. 10 Grundlegend zur Bedeutung des gratianischen Dekrets Stephan Kuttner, beginnend 1937 mit seinerm „Repertorium der Kanonistik“; siehe weiterhin ders., The Jurist 1 (1941), 2 ff.; ders., Gratian and the Schools of Law, u. v. a. Siehe weiterhin die Arbeiten von Peter Landau, siehe ders., Ius Commune 11 (1984), 1 ff.; ders., TRE Bd. 14 (1985), 124 ff.; ders., Festschrift für Schmitz, S. 691 ff.; ders., Studia et Documenta historiae et Iuris 52 (1986), 218 ff.; ders., Officium und Libertas, S. 55 ff.; ders., in: Miethke/Schreiner (Hrsg.), Sozialer Wandel, S. 215 ff., u. v. a. Zu der zahlreichen Literatur darüber siehe Winroth, The Making of Gratian’s
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mentum in der Geschichte des kanonischen Rechts.11 Eine strafrechtliche Systematik war beim Dekretum Gratiani noch nicht zu finden, sondern eher die Erörterung von wissenschaftlichen und moraltheologischen Fragen.12 Zu den führenden Kanonisten ist Lotario di Segni zu zählen, der 1178 bis 1187 in Bologna die Rechte studiert und ein Jahrzehnt danach mit 37 Jahren am 8. Januar 1198 als Innozenz III. den Papstthron besteigt, auf dem er sich in seiner bis 1216 währenden Amtszeit als juristisch bedeutendster Papst erwies. Zu den zahlreichen, teilweise berüchtigten Beschlüssen (canones) des von ihm einberufenen IV. Laterankonzils gehört auch die Einführung des inquisitorischen Prozesses, den Innozenz bereits um 1200 konzipiert hatte.13 Wegen der zahlreichen anfechtbaren Beschlüsse (Ausrufung des 4. Kreuzzuges und privilegienmäßige Gleichstellung des Kreuzzugs gegen die albigensischen Häretiker, Einführung des radförmigen Vorläufers des Judensterns als Zeichen des Ausschlusses der Juden, Nichtanerkennung der Magna Charta14) haben Historiker vielfach davon abgesehen, die neue Prozessform (mitsamt der gleichfalls beschlossenen Pflicht zur Protokollierung aller gerichtlichen Verhandlungen15) separat zu würdigen,16 sondern vermengen sie mit dem Kampf gegen die Häretiker und der
Decretum, S. 5 ff. und passim und die Beiträge von Bellomo, Europäische Rechtseinheit, S. 68 ff.; Pennington, in: De León/Álvarez de las Asturias (Hrsg.), La cultura giuridicocanonica medioevale, S. 209 ff.; Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 276 ff. Für die Herausbildung der neuen Prozessform siehe insbesondere Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 45 ff., 54; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 30, 34, 40; siehe ferner Meder, Rechtsgeschichte, S. 154 f.; Schmoeckel, Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung, S. 142 ff. 11 Darauf bezogen neuerdings Duve, Legal History Rg 22 (2014), 23. 12 Vgl. Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe, S. 243 ff.; ferner Maihold, ZRG GA 128 (2011), 618 ff. 13 In der Dekretale „Qualiter et quando“ (1206, Corpus Iuris Canonici, Bd. 2, Lib. V., Tit. I, Cap. XVII) führte er für die noch ausschließlich für das kirchliche Disziplinarrecht geltende inquisitio aus, dass ein Verdacht, der bis dato mit dem Reinigungseid zum Erliegen kam, zur Ermittlung der Wahrheit führen konnte; Trusen, ZRG KA 74 (1988), 206 ff., 214. Ferner ders., in: Miethke/Schreiner (Hrsg.), Sozialer Wandel, S. 246 f.; Oehler, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, S. 853, 856, 860; Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 1, S. 110 mit Nachweisen; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 24; Niehaus, Verhör, S. 120; Dezza, Geschichte des Strafprozessrechts, S. 5 f. Zum geschichtlichen Rahmen des Laterankonzils Ohst, Pflichtbeichte, S. 41 ff. 14 Radbruch/Gwinner, Geschichte des Verbrechens, S. 33 ff.; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 42; Achter, Geburt der Strafe, S. 129 ff.; Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 2/2, S. 97 ff.; Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Rn. 751 ff.; ferner Schulz, Normiertes Misstrauen, S. 38, 41. Darüber hinaus wurde die regelmäßige Beichte im Canon 21 des IV. Laterankonzils vorgeschrieben. Der bußrechtliche-liturgische Kontext der Beichte hat eine wesentliche Bedeutung für die Entwicklung der prozessualen confessio des gemeinrechtlichen Strafprozesses, dazu eingehend Freiherr von Soden, Confessio zwischen Beichte und Geständnis, S. 19 und passim. 15 Vgl. Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 32. 16 In der gegenwärtigen Rechtsgeschichte besteht darüber wachsende Zustimmung, siehe etwa Kolmer, Ad capiendas vulpes, S. 112 ff.; Schulz, Normiertes Misstrauen, S. 40 f.
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erst später17 einsetzenden Praxis der Folter. Das Beweismittel der Folter wurde und wird also von vielen Beobachtern gerne mit dem Inquisitionsverfahren assoziiert. Selbst Hattenhauer stellt in seiner wichtigen „Europäischen Rechtsgeschichte“ zwar die Rationalisierung des 12. Jahrhunderts und die damit einhergehende, durch das Christentum beförderte „Entdeckung der Person“ heraus, führt die Entstehung des inquisitorischen Verfahrens jedoch beim Ketzerprozess aus.18 Dass beides in einer Foucault’schen Perspektive zusammengehört, versteht sich fast von selbst und wird in der Forschung vielfach vertreten.19 Überzeugender ist die quellenorientierte Untersuchung von Winfried Trusen, der die Entstehung des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses nicht in der Ketzerverfolgung (seit dem 13. Jahrhundert) sieht, sie auch nicht in Zusammenhang mit der Folter konzipiert und auch nicht als eine eigenständige Ausbildung in Deutschland betrachtet. Die Umwandlung ist auf Papst Innozenz III. mit seinem für den Ausbau der kirchlichen Zentralgewalt in Rom zentralen Ziel der Reform der Kirche zurückzuführen, zuerst im kirchlichen Disziplinarverfahren zur Absetzung von Bischöfen und Äbten, aber dann durch das IV. Laterankonzil mit gemeinrechtlicher Wirkung.20 Der Ansatz hat in der Forschung viel Zustimmung bekommen.21 Die 17 Entgegen der Behauptung von Eb. Schmidt, ZStW 60 (1941), 427; ders., Festschrift für H. Siber, S. 120 ff.; ders., Einführung, § 76, nach dem die Folter in Deutschland nicht rezipiert wurde, sondern „mit dem Inquisitionsprozeß zusammen in Deutschland selbst ohne Entlehnung und Nachahmung fremder Vorbilder in Gebrauch gekommen“ sei, ist eine Folterpraxis im 12. Jahrhundert in Wiener Neustadt nach Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 34 ff. durch keine Quellenstelle zu belegen. Vgl. ferner ders., in: Miethke/Schreiner (Hrsg.), Sozialer Wandel, S. 245 f.; Kleinheyer, Gedächtnisschrift für Conrad, S. 368, 383 f.; Kolmer, Ad capiendas vulpes, S. 209, Fn. 405 m. N.; Oehler, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, S. 847 f., 861. Die Anfänge der Folter wären somit auf die 20er Jahren des 14. Jahrhunderts zurückzuführen, Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 42, 57. Zur Debatte Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 1, S. 109, Fn. 166, S. 111, Fn. 186 mit Nachweisen; Jerouschek, ZStW 104 (1992), 349 f.; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 83. Heute Schulz, Normiertes Misstrauen, S. 38 f. („auf keinen historischen Punkt (zu) bringen“). 18 Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Rn. 696 ff., 756, siehe auch Rn. 740 ff., 744. 19 Beispielhaft: Peters, in: Mohnhaupt/Simon (Hrsg.), Vorträge zur Justizforschung, S. 29 und 34 f.; für die dem Labeling Approach verpflichtete Kritische Kriminologie siehe Hancke, KrimJ, 2. Beiheft, 1987, 58 ff., die immerhin das Prozessverfahren per inquisitionem als „Kern des päpstlichen Reformprogramms“ würdigt (a. a. O. S. 64). 20 Nach Trusen dachte man bei der Einführung nicht daran, die neue Prozessform für die Ketzerverfolgung zu gebrauchen; siehe ders., in: Segl (Hrsg.), Die Anfänge der Inquisition, S. 59; ders., ZRG KA 74 (1988), 211 ff., 230 und passim; ders., in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 114, 118; ders., in: Miethke/Schreiner (Hrsg.), Sozialer Wandel, S. 239 f., 245 f. Siehe dazu auch Kleinheyer, Gedächtnisschrift für Conrad, S. 368 f.; Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 439 f.; Kolmer, Ad capiendas vulpes, S. 113; Oehler, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, S. 848, 853 ff.; im Anschluss etwa Jerouschek, ZStW 104 (1992), 333 ff.; Niehaus, Verhör, 127. Nach Dezza, Accusa e inquisizione, S. 119, hatte Thomasius in seinem Werk „De origine processus inquisitorii“ die These vertreten, dass der Ursprung des Inquisitionsprozesses, der mit der Ausnahme Englands bereits im 13. Jahr-
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Formierung des inquisitorischen Prozessmodells lässt sich, lässt man die zahlreichen Aspekte der Herausbildung des öffentlichen Strafrechts Revue passieren, eben am besten anhand der Herausbildung des inquisitorischen Prozesses operationalisieren. Zu den Konzilsbeschlüssen von 1215 gehörten u. a. die Einführung dieses Prozessmodells und mit ihm im Beweisrecht die Abkehr von den „irrationalen“ bzw. „magischen“ Beweisen des altgermanischen Prozessrechts durch das Verbot der Teilnahme von Geistlichen an Gottesurteilen.22 Im weltlichen Recht wurde die neue Prozessform sodann unterschiedlich schnell aufgegriffen.23
II. Das magische Prozessverständnis Das Beweisverfahren des germanischen Prozessrechts des frühen Mittelalters, dessen Beweismittel des Reinigungseides und des Zweikampfs bzw. Gottesurteils24 in der Forschung „irrational“ genannt werden, ist im Nachhinein, d. h. anachronistisch gesehen, im Kern magischer Natur.25 Entsprechend zur fehlenden Trennung des Zivil- vom Strafrecht, iurisdictio civilis und iurisdictio criminalis,26 war der Prozess privatrechtlicher Natur, d. h. ein akhundert in ganz Europa Verbreitung gefunden hatte, im Kirchenrecht gesucht werden sollte und hatte dafür auf die Ketzerverfahren zu Beginn des 13. Jahrhunderts verwiesen. Ferner ist der Ursprung des Inquisitionsverfahrens nach Trusen nicht im römischen Recht zu suchen, siehe ZRG KA 74 (1988), 171. 21 Nach Ohst, Pflichtbeichte, S. 143 ff. mit Nachweisen, sei der Konsens, dass das Ketzerverfahren erst mit Gregor IX. aufgenommen wird, „lückenlos“. Siehe dazu auch Rüping/ Jerouschek, Grundriss, Rn. 16, 33; Lepsius, Von Zweifeln zur Überzeugung, S. 2; Schmoeckel, Humanität und Staatsraison, S. 245 f. u. a.; Dezza, Geschichte des Strafprozessrechts, S. 16 ff. Zur zahlreichen ausländischen Literatur siehe Dezza, Accusa e inquisizione, S. 10. Eingehend dazu infra, Kapitel 1 A. V. 3. d) cc). 22 Vgl. Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 1, S. 110 mit Nachweisen; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 24; Jerouschek, ZStW 104 (1992), 336; Trusen, in: Landau/ Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 54 ff.; ders., in: Miethke/Schreiner (Hrsg.), Sozialer Wandel, S. 238 f.; Dezza, Geschichte des Strafprozessrechts, S. 6; Niehaus, Verhör, S. 190. 23 Zu dieser Entwickung etwa Nehlsen-v. Stryk, ZRG GA 117 (2000), 6 f. 24 Siehe dazu Holzhauer, Festschrift für Schmidt-Wiegand, S. 263 ff.; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 23 ff. 25 Siehe Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 23; Jerouschek, ZStW 104 (1992), 330 ff.; Nehlsen-v. Stryk, ZRG GA 117 (2000), 1 ff. Zur subsidiären und seltenen Anwendung siehe Schulz, Normiertes Misstrauen, S. 42 f. m. N. 26 Achter, Über den Ursprung, S. 34; ders., Geburt der Strafe, insbes. S. 34, 110. Dem korrespondiert, dass Schadensersatz und Strafe nicht getrennt wurden; Sellert/Rüping, Studienund Quellenbuch zur Geschichte 1, S. 62 f. Nach Achter hat die Verselbständigung des Strafrechts in den südfranzösischen Gottesfrieden ihren Ursprung, siehe Über den Ursprung, S. 103 ff.; ders., Geburt der Strafe, S. 110. Vgl. ferner dazu Rüping, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 162; Sellert/Rüping, a. a. O., S. 49 mit Fn. 2, S. 51, 58 f., 99; Holzhauer, Beiträge zur Rechtsgeschichte, S. 112; Lepsius, Von Zweifeln zur
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kusatorischer Parteien-Rechtsgang27 zwischen zwei auszusöhnenden Parteien: dem Verletzten und dem Angeklagten. Was die Folge der Tat betrifft, sind Ansätze zu einer Strafe und eine Entwicklung dieses Begriffes in der germanischen Frühzeit nicht zu erkennen.28 Der Prozess bestand in einem öffentlichen und mündlichen Verfahren vor der Volksversammlung (Thing).29 Der Richter leitete die Verhandlung zwischen den Parteien. Für die Urteilsfindung war die Versammlung der rechtsfähigen Rechtsgenossen zuständig. Wurde der Beklagte verurteilt, traf ihn eine Privatstrafe: Sühnezahlung nach dem „Kompositionensystem“30 und ggf. ein Friedensgeld (fredus) für die Gemeinschaft. Misslang dem Kläger der Beweis, was offenbar nicht selten der Fall war,31 traf ihn nach dem Prinzip der prozessualen Talion die von ihm begehrte Strafe selbst. War jemand zahlungsunfähig, traf ihn die peinliche Strafe,32 was die These von Radbruch untermauert, dass das peinliche Strafrecht aus dem Knechtsstrafrecht hervorgeht.33 Nur der Verletzte und seine Sippe konnten das Verfahren in Gang setzen („wo kein Kläger, da kein Richter“34). Nur ihm, nicht dem Gericht, oblag die Ermittlung des Sachverhalts. Der Kläger hatte mit den „articuli“ einen Fragenkatalog vorzulegen, nach dem der Richter in einem abgeschlossenen, nicht-öffentlichen Raum die vom Kläger benannten Zeugen zu befragen hatte. Der Kläger konnte diese später ergänzen, indem er an die Belastungszeugen weitere Fragen richtete (interrogatoria). Überzeugung, S. 7 f.; Stübinger, in: Lüderssen (Hrsg.), Die Durchsetzung des öffentlichen Strafrechts, S. 199 f.; ders., Schuld, Strafrecht und Geschichte, S. 356; Landau, in: Condorelli/ Roumy/Schmoeckel (Hrsg.), Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur, Band 1, S. 22; zur Differenzierung der Verfahrensarten Schmoeckel, Humanität und Staatsraison, S. 198 f. mit Nachweisen. 27 So Geppert, Unmittelbarkeit, S. 15; Sellert, Festschrift für Scupin, S. 163 f.; Rüping/ Jerouschek, Grundriss, Rn. 21: „Anklageprozess“. 28 Entgegen anderer Ansicht Achter, Geburt der Strafe, S. 11 ff., 111, in Zusammenhang mit seiner Betrachtung des frühen germanischen Rechts, nachdem nicht das Motiv des Täters, aber auch nicht die Wunde des Verletzten, sondern der Angriff auf die Lebensordnung gebüßt wird. Zur Aufnahme des kirchlichen Rechts und Institutionen und damit der Gedanke der Buße in das weltliche Recht S. 90 ff., 112 ff. Achter geht von einer Säkularisierung des kirchlichen Rechts aus und nicht von einer umgekehrt gedachten kirchenrechtlichen Rezeption auf Seiten des weltlichen Rechts, dazu Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte, S. 333. 29 Vgl. zum Beispiel Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 19. 30 Eb. Schmidt, Einführung, § 7; Meder, Rechtsgeschichte, S. 138 ff.; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 8. 31 Lepsius, Von Zweifeln zur Überzeugung, S. 9. 32 Eb. Schmidt, Einführung, § 10. 33 Siehe Radbruch, Der Ursprung des Strafrechts, S. 368 ff. Für seine These bezieht sich Radbruch vor allem auf Ignaz Jastrow, mit dem er auf die „wichtige Rolle“ der Gottes- und Landfriedensbewegung als Katalysator der Verallgemeinerung hinweist, S. 374 ff. In der mit Gwinner verfassten Geschichte des Verbrechens relativiert er die Novellierungsthese: Radbruch/Gwinner, Geschichte des Verbrechens, S. 21 ff., auch 18, 28, 31 f. 34 Vgl. Zachariae, Handbuch 1, S. 124 mit Nachweisen; ferner Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S. 813.
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Die Beweisführung wird irrational, wenn die Zeugeneinvernahme zu keinem Beweis führt. Der Angeklagte konnte etwa mittels Reinigungseids schwören, dass er unschuldig war. Zugleich konnte er „Eideshelfer“ beibringen, die nicht Zeugen eigener Wahrnehmungen waren, sondern als Leumundszeugen seinen guten Ruf bezeugten und dafür die Reinheit des Eides beschworen.35 Das Verfahren war öffentlich und mündlich, weil es eine grundlegende Bedeutung für das Leben in der Gemeinschaft hatte. Nur so konnten die des Lesens und Schreibens unkundigen Menschen die rechtlichen Inhalte erfahren und sich am Rechtsleben beteiligen. Das Verfahren war demnach nicht deshalb öffentlich, weil die Gerichtsöffentlichkeit die Aufgabe hatte, das Gericht zu kontrollieren. Der Angeklagte konnte schließlich seine Unschuld durch ein Gottesurteil über eine von ihm abzulegende Prüfung beweisen. Half ihm Gott bei der Probe, so war seine Unschuld bewiesen. Gleiches galt für den Zweikampf, bei dem dem Stärkeren sein Recht attestiert wurde.36 So war das Verfahren nicht direkt auf die Ermittlung objektiver Tatsachen angelegt, sondern auf die Aussöhnung der Parteien nach der Feststellung des Willen Gottes bezüglich des Rechtsstreits. In diesem sakralen Rahmen waren die auszuführenden Verfahrensakte wohl „unmittelbar“ vor der Volksversammlung, Richter und „Urteiler“-Kollegium der Schöffen zu führen, allerdings nicht im heutigen Sinne einer „unmittelbaren Beweisführung“ zur unmittelbar-persönlichen Kenntnisnahme der Beweismittel durch die urteilenden Personen. Um die Theorien der „subjektiven Erfolgshaftung“ und insbesondere Heinrich Brunners Theorie der „objektiven Erfolgshaftung“,37 mit denen den Germanen jedes Schuldstrafrecht abgesprochen wurde, zu widerlegen, behauptete Erich Kaufmann wie vor ihm Binding und Köstlin die Schuldbezogenheit bereits des Rechts des frühen Mittelalters seit dem ausgehenden 5. Jahrhundert.38 Im materiellen Recht machte er dafür Elemente der subjektiven Tatseite fest, im Prozessrecht unterstellte er dem formstrengen Prozess den Schuldbezug. Zu seinen Gefolgsleuten gehörte auch Arthur Kaufmann.39 Demgegenüber lehnte sie Eb. Schmidt entschieden ab.40
35 Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 22; Schmoeckel, Humanität und Staatsraison, S. 233 mit Nachweisen. 36 Siehe Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 23 ff., auch über die Ablehnung der Gottesurteile durch das IV. Lateranum. 37 Brunner, in: ders., Gesammelte Aufsätze, S. 487 ff. Dazu Achter, Geburt der Strafe, S. 13: „Das erklärt gleichzeitig, warum dieses frühe germanische Recht kasuistisch ist. Denn da es auf den Erfolg ankommt, muß jeder Erfolg, der sich von einem anderen unterscheidet, gesondert berücksichtigt werden“. „Der Täter, das Individuum, spielt noch keine Rolle; daher gibt es auch keine Beurteilung des subjektiven Tatbestandes“. 38 E. Kaufmann, Die Erfolgshaftung, insbes. S. 82 ff.; ders., Aequitatis iudicium, S. 114 f. Dazu siehe Stübinger, in: Lüderssen (Hrsg.), Die Durchsetzung des öffentlichen Strafrechts, S. 200 ff.; ders., Schuld, Strafrecht und Geschichte, S. 346 ff. 39 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, S. 217 f.
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Richtig dürfte eine vermittelnde Ansicht sein, wonach es im fränkischen Recht nur teilweise um die Wahrheit als Ziel des Verfahrens ging und dies nicht dem germanischen Recht verdankte, sondern dem Einfluss römischen und vor allem kanonischen Rechts.41 Wenn man allerdings den Parteienprozess wegen seiner magischen Dimension als zynisches Modell vorstellt, geht dies an der Sache vorbei. „Vor dem Hintergrund eines magisch-sakralen Weltbildes verliert diese Auffassung [scil.: dass der Stärkere auch das Recht auf seiner Seite habe] jeden Zynismus (…).“42 Matthias Schmoeckel hält selbst die Terminologie von rationalen und irrationalen Beweismitteln, die hier neutral aus der Forschung übernommen wird,43 für verfehlt, weil sie eine Irrationalität suggeriere, die es nicht gegeben habe. Vielmehr habe das Recht der irrationalen Beweismittel funktional äquivalent durchaus zu vernünftigen Ergebnissen geführt, was in einer systemtheoretischen Perspektive auch nachvollziehbar wäre. Wie weit der systemtheoretische Zugang führt, ist allerdings zweifelhaft, nicht nur in der Rechtsgeschichte. In strafprozessualer Perspektive liefert dafür die führende Monographie zur Unschuldsvermutung von Stuckenberg ein Beispiel. Seine Definition der Unschuldsvermutung als Verbot, die Offenheit des Verfahrens zu desavouieren, führt zu dem ausdrücklichen Eingeständnis, dass diesem auch durch ein Gottesurteil genügt werden könnte.44 Demgegenüber könnte sich der Ansatz von Max Weber als ergiebiger erweisen, wonach es um einen Prozess der Rationalisierung geht, der zu einer „Entzauberung der Welt“ führt.
III. Die „Entzauberung der Welt“ im Prozessrecht Mit dem neben anderen Faktoren Erstarken zentraler Herrschaft im Strafprozess verlor das vormalige Parteiverfahren an Bedeutung und die Inquisition wurde als weltliches Verfahren ermöglicht. Mit ihr setzte im Sinne Webers ein Rationalisierungsprozess ein, in dem die magische Konzeption des Strafprozesses obsolet wird, zugunsten einer Feststellung von Tatsachen durch sog. „rationale“ Beweismittel, vor
40 Eb. Schmidt, Einführung, § 17. Dieser Einseitigkeit entspricht, dass Schmidt bis zuletzt in der 3. Auflage Stephan Kuttners grundlegende Monographie zur „Kanonistische Schuldlehre“ (1935) nicht zur Kenntnis genommen zu haben scheint. 41 Siehe Meinungsstand bei Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 1, S. 58 ff. 42 Schmoeckel, Ein sonderbares Wunderwerk Gottes, Ius Commune 26 (1999), 123 ff. 43 Dazu ausführlich, wenn auch kritisch Nehlsen-v. Stryk, ZRG GA 117 (2000), 31, 36, 38 und passim. 44 „Kraß: Mit einer Unschuldsvermutung läßt sich auch ein Verfahren sichern, das im Wege des Orakels oder des Gottesurteils über Erfolgs- oder Sippenhaft befindet.“ Stuckenberg, ZStW 111 (1999), 456.
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allem durch zur Wahrheit verpflichtete Zeugen.45 „Hier hat das Streben aller theokratischen Justiz nach materialer und absoluter, nicht nur formaler Wahrheit, im Gegensatz zu dem formalistischen und auf der Verhandlungsmaxime ruhender Beweisrecht des profanen Prozesses, besonders frühzeitig [die] rationale, aber freilich spezifisch materiale Methodik des Offizialverfahrens entwickelt. Eine theokratische Justiz kann die Wahrheitsermittlung nicht der Parteiwillkür überlassen, ebenso wie die Sühne geschehenen Unrechts. Sie verfährt ,von Amts wegen‘ (Offizialmaxime) und schafft sich ein Beweisverfahren, welches ihr die Gewähr optimaler Feststellung des wirklich Geschehenen zu bieten scheint: im Okzident den ,Inquisitionsprozeß‘, den dann die weltliche Strafjustiz übernahm“.46 Das neue Verfahren war ein Motor der Entzauberung und Säkularisierung des Rechts und war mit der Entstehung eines streng formal juristischen Denkens verknüpft.47 Weil das Verbrechen seit den Gottes- und Landfrieden nicht mehr eine private Angelegenheit zwischen zwei Parteien war, sondern die Rechtsordnung selbst verletzte, war seine Aufklärung Aufgabe der Gesamtheit. Der inquisitorische Prozess erlaubte es schließlich der zentralen Herrschaft, das Gebot der Verfolgung von Straftaten systematisch umzusetzen, da nun das Anklageerfordernis durch Private entfiel. Das Verfahren wurde durch die Kirche und durch Parteien, eingeleitet und der Richter hatte nun von Amts wegen vorzugehen.48 Damit schwand die Öffentlichkeit des Parteiverfahrens und mit ihr die Mündlichkeit zugunsten der Schriftlichkeit, die den rationalen Beweisgang dokumentierte und damit auch den Instanzenzug ermöglichte. Neben der Offizialmaxime wird als wesentliches Element des Inquisitionsprozesses die Instruktionsmaxime identifiziert, d. h. „die Pflicht der amtlichen Organe, sich selbst über die materiellen Tatsachen und über die objektive Wahrheit ins Bild zu setzen und zu instruieren.“49 Die „Inquisitio“ bzw. das Ermittlungsverfahren war das spezifische Charakteristikum des Inquisitionsverfahrens, ohne dass man sich mit dem Vortrag der Parteien im Strafprozess zufrieden stellen durfte. Im Vergleich zu den Zielen des altgermanischen Prozesses, d. h. die Überführung oder die Reinigung des Angeklagten, war der Inquisitionsprozess mit der richterlichen Tataufklärung 45 „Der ,Eideshelfer‘ des alten Prozesses schwört nicht, daß eine ,Tatsache‘ wahr (gewesen) sei, sondern er bekräftigt das ,Recht‘ seiner Partei durch Einsetzung seiner Person dem göttlichen Fluch gegenüber.“ Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Teil, Kapitel VII, § 5, S. 469. 46 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Teil, Kapitel VII, § 5, S. 481. 47 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Teil, Kapitel VII, § 5, S. 468, wobei der Begriff Säkularisierung u. a. die Klärung voraussetzt, was Religion ist, s. dazu Schulz, Normiertes Misstrauen, S. 121 ff. 48 Für alle Trusen, ZRG KA 74 (1988), 230. Spätestens mit der (obrigkeits-)gesetzlichen Regelung des Inquisitionsprozesses erfolgte die Umwandlung des vom Verhandlungsgrundsatz beherrschten Verfahrens hin zu einer Angelegenheit des Staates mit einer schriftlichen und geheimen Inquisitionsprozessform mit der Strafverfolgung als staatliche Aufgabe („Annehmen von Amts wegen“, Art. 6 – 10 der Constitutio Criminalis Carolina). 49 Eb. Schmidt, Einführung, § 70.
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verknüpft. Dabei hat allerdings, wie Trusen betont, der Kläger im Beweisprozess erhebliche Befugnisse.50 Neben dem Einschreiten des Inquirenten von Amts wegen galt es, die materielle Wahrheit zu ermitteln, was dem Zeugenbeweis prinzipiell besonderes Gewicht gab.51 Der Wahrheitsbezug, die sog. „Rationalisierung“ bei den Beweismitteln und die Umstellung des Beweisrechts ist ein zentrales Thema bei der Erörterung der Verweltlichung des Verfahrens, das eines gesonderten Abschnitts bedarf. Davor ist aber ein Blick auf die Entstehung des öffentlichen Strafrechts zu werfen, womit die Verfolgung des Zwecks der materiellen Wahrheitsfindung im Strafprozess in Verbindung steht.
IV. Die Entstehung des öffentlichen Strafsystems 1. Keine „lineare“ Entwicklung Das Strafrecht im Mittelalter entwickelt sich allmählich und eine Typisierung wird entsprechend dem Eigentümlichen der Epoche, als Verschmelzung von „Antikes und Christliches, Religion und Vernunft, Personengebundenes und Sachliches, Ständisches und Individualistisches“52 erfolgen. Entscheidend für die Politik des Mittelalters ist das enge Verhältnis von Politik und Religion bzw. Theologie, was die Aufzeichnung der Tendenzen und des Weges zum säkularisierten und rationalisierten Staat erschwert. Dass es im lateinischen Westen um ein von Rechtlichkeit geprägtes Verhältnis geht, zeigt der Vergleich mit der Ostkirche oder mit dem Islam. Dort fehlt es an einem Kampf der zwei Schwerter.53 Mit der wachsenden Rationalisierung der „Renaissance des 12. Jahrhunderts“, die auch das Rechtsdenken prägt,54 trat das private Anklageverfahren allmählich zurück. Das Strafrecht formierte sich als öffentliches Strafrecht. Das zunehmende Eingreifen der weltlichen wie kirchlichen Gerichtsbarkeit wird von manchen vordergründig einer erheblichen Zunahme der Kriminalität in den Städten geschuldet zugeschrieben. Diese emanzipierten sich zusehends von der Reichsgewalt („Stadtluft macht frei“). Die zunehmende Mobilität der Gesellschaft löste zwangsläufig enge soziale 50
Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 112 ff. Zum späteren gemeinen Beweisrecht vgl. z. B. Eb. Schmidt, Einführung, §§ 70, 108 ff., 111, 185; Peters, Strafprozeß, S. 62 (§ 11 II); Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 1, S. 110; Trusen, ZRG KA 74 (1988), 168, 229 und passim; Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft, S. 52; Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 17 f., 49 beide m. w. N. Differenzierend Lepsius, Der Richter und die Zeugen, S. 23 f. 52 Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 2/2, S. 2 f. 53 Weiterführend Vesting, Die Medien des Rechts: Buchdruck, § 2 II 3; ders., Rechtsgeschichte – Legal History Rg 21 (2013), 176; ders., Staatstheorie, § 2 Rn. 57 ff., S. 33 ff.; § 3 Rn. 121 ff., S. 67 ff. Dazu Berman, Recht und Revolution, S. 569, 847, ferner 147 f. 54 Siehe supra, Fn. 9. 51
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Bindungen auf.55 Für die Entwicklung des peinlichen Strafensystems wurde ferner die Hervorhebung der Interessen der Allgemeinheit und die damit verbundene Beseitigung der Unterscheidung in der Behandlung Freier und Unfreier verantwortlich gemacht.56 Offen ist aber, wie die erzielten Ergebnisse als Gegebenheit zu akzeptieren sind. Die moderne Forschung stellt aber heute in Frage, wie es plötzlich zu einer Entdeckung der „Interessen der Allgemeinheit“ und zu einem öffentlichen Strafsystem gekommen sei.57 Die früheren Erklärungsmodelle zum Beispiel von Eb. Schmidt und Radbruch setzten die Schwerpunkte vor allem auf die Zunahme der Kriminalität der „landschädlichen Leute“ in den größer werdenden Städten, die eine Gefahr für das Leben im Mittelalter darstellte, ferner auf die Anwendung der Blutgerichtsbarkeit auf Angehörige von höheren Schichten in der Ständeordnung und schließlich auf die Hervorhebung „altgermanischer Rechtsüberzeugungen“.58 Demgegenüber hält die moderne Forschung eine solche monokausale, meist dogmengeschichtliche Erklärung für die Ablösung des mittelalterlichen Kompositionensystems und die Entstehung des öffentlichen Strafrechts für unzulänglich. Das Strafrecht entwickelte sich also nicht nur aus der Land- und Stadtfriedenspolitik. Zu vermeiden ist hier eine „Enthistorisierung“ der Strafrechtsgeschichte, die ein Blick in die Strafrechtsgeschichte und die Wertesysteme grundsätzlich durch die strafrechtlichen Normen und Strafrechtswissenschaft ermöglicht und dabei historische, soziale und politische Wertvorstellungen in den Hintergrund stellt. Das schützt davor, die Herausbildung des öffentlichen Strafrechts und ein Vergeltungsstrafrecht zu verknüpfen. Eine zeitliche Fixierung einer „Entstehung“ des öffentlichen Strafrechts wird vermieden und anstatt dessen ein facettenreiches Begründungsmuster
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So Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 1, S. 112, auch 110; Meder, Rechtsgeschichte, S. 237; Eb. Schmidt, Einführung, §§ 70 f. Zur Kriminalität im Spätmittelalter in den Reichstädten Nürnberg, Konstanz und Augsburg und zum Umgang mit diesen Konflikten des städtischen Lebens, zugleich mit dem Hinweis auf einer Entstehung des öffentlichen Strafrechts vgl. die Monographien von Martin, Verbrechen und Strafe; Schuster, Eine Stadt vor Gericht; Schorer, Die Strafgerichtsbarkeit der Reichsstadt Augsburg; allerdings mangelt es bei diesen Untersuchungen an einem allgemeinen Erklärungsmodell, vgl. die Kritik von Härter, Rechtsgeschichte Rg 1 (2002), 170 ff. Demgegenüber bietet Beattie, Policing and punishment, eine facettenreiche Erklärung der Wandlung der Kriminalität, ihrer Strafverfolgung und Sanktionierung in London. Nach Beattie ist die Setzung von Grenzen an das strafrechtliche „Terror“ nicht unbedingt auf Gründe der Humanisierung oder Modernisierung, sondern auf zahlreiche politische und soziale Gründe zurückzuführen, vgl. Preface, S. 249 f., 467 f. und passim. 56 So zum Beispiel Eb. Schmidt, Einführung, § 43; Gernhuber, Landfriedensbewegung in Deutschland, S. 139 ff. m. w. N. 57 Vgl. Willoweit, in: ders. (Hrsg.), Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts, S. 3. 58 Zur Wandlung der Darstellungen über die Strafrechtsgeschichte vgl. Härter, Rechtsgeschichte Rg 1 (2002), 165; ferner Willoweit, in: ders. (Hrsg.), Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts, S. 3 mit Nachweisen.
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bevorzugt.59 Dass das Augenmerk auf vielfältige Hintergründe, den gesellschaftlichen und politischen Kontext bei der Erörterung historischer Fragestellungen im Gegenwartsdiskurs gerichtet wird, betrifft nicht nur den Strafrechtsbereich und auch nicht die nationalen Grenzen. Insbesondere muss man rein juristisch-normativen, formalistischen Erklärungen der Rechtsentwicklung mit Skepsis begegnen.60 Für die Strafrechtswissenschaft sind historische Erscheinungen wie das lange Zeit bestehende Nebeneinander von ausgleichsorientierten (im Sinne von Sühnevereinbarungen) und strafrechtlichen Instrumenten zur Konfliktlösung von Interesse.61 Der Einfluss auf das Strafrechtssystem von den neuen Tendenzen des gelehrten Rechtsdenkens seit dem 12. Jahrhundert werden bereits seit einiger Zeit hervorgehoben62 und es bestehen Untersuchungen zur Entstehung einer Strafrechtslehre als einheitliche Rechtsmaterie im Hoch- und Spätmittelalter,63 auch wenn weitere intensive Forschungen zum Zusammenhang zwischen gelehrtem Strafrecht und öffentlichem Charakter teilweise bemängelt werden.64 Umfassender sind auf jeden Fall die Untersuchungen zur Entwicklung des Verfahrensrechts.
59 Dazu Willoweit, in: ders. (Hrsg.), Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts, S. 3 ff., 227 ff.; Härter, Rechtsgeschichte Rg 1 (2002), 165, 172, 195 und passim. Allerdings werden radikale evolutionstheoretische Konzepte, auch als ergänzende Perspektive, in der deutschen Rechtsgeschichtswissenschaft abgelehnt. Zur Rechtsgeschichte als Evolution eines sozialen Systems in Anlehnung an der Systemtheorie Niklas Luhmann Fögen, Rg 1 (2002), S. 14 ff.; dies., Römische Rechtsgeschichten. Zu den Evolutionsmodellen für eine Entwicklungsgeschichte des Rechts und die Kritik dazu anschaulich Haferkamp, in: Siep (Hrsg.), Evolution und Kultur, S. 35 ff.; Amstutz, Rechtsgeschichte Rg 1 (2002), 26 ff. Allerdings deuteten die amerikanischen Rechtswissenschaftler des 19. Jahrhunderts die Rechtsgeschichte im Schema der Evolution des Rechts. Dieser Versuch stieß aber später auf breite Ablehnung, siehe Rabban, Law’s History, insbesondere S. 520 ff. 60 Bezüglich der geschichtlichen Entwicklung des englischen und amerikanischen Common Law seit dem Mittelalter neuerdings die umfangreiche Monographie von Rabban, Law’s History, insbesondere S. 520 ff. mit Kritik von Lepsius, Rechtsgeschichte Rg 21 (2013), 252, nach dem Rabban seine Ziele nicht erreicht, weil er sich nicht auf die Justiz, Institutionen und Interessen, sondern auf Autoren und ihre Sicht auf Dogmen und Institute bezieht. Die Amerikaner würden demnach nicht mehr „an eine akteurlose Rechtsentwicklung glauben, die Dogmen, Instituten oder Volksbräuchen nachgeht ohne die individuellen Interessen oder die institutionellen Settings zu thematisieren“, mit Nachweisen. 61 Bereits ältere Untersuchungen bestätigen das Bestehen von Sühneverträge, also Vereinbarungen zwischen dem Täter und das Opfer oder dessen Familie, im Spätmittelalter und noch im 16. Jahrhundert; vgl. Frauenstädt, Blutrache und Totschlagsühne, S. 105 ff.; His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Teil 1, S. 296 ff. Für die Entwicklung in Frankreich vgl. Cohen, in: Willoweit (Hrsg.), Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts, S. 42 ff. 62 Vgl. supra, Fn. 9. 63 Engelmann, Die Schuldlehre; Kuttner, Kanonistische Schuldlehre. 64 Vgl. Willoweit, in: ders. (Hrsg.), Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts, S. 4 f., relativierend auf S. 8 f.
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Die Öffentlichkeit des Strafrechts ist kein uniformer Prozess.65 Bei der Entstehung des öffentlichen Strafrechts, bei dem die Kirche bzw. der Staat ex officio die Verbrechensverfolgung übernahm, ist der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts nennenswert, auch wenn über eine systematische Kohärenz bei dieser Entwicklung nicht gesprochen werden kann, sondern sich eher eine allmähliche Wende mit Kasuistik und Widersprüchen ergibt. Der öffentliche Strafanspruch der Kirche und die Konzentration auf ein öffentliches Verbrechen tritt jedenfalls nach und nach in den Vordergrund bei der Entwicklung von Elementen eines weltlichen öffentlichen Strafrechts. Bei der Untersuchung der Entwicklung des Rechts ist also nicht von einem eindimensionalen, einäugigen Blick auf das positive Recht auszugehen, sondern diese Perspektive sollte um ein zweites Auge erweitert werden, um die sakral-ethischen Hintergründe mit einzubeziehen.66 Es besteht der Anspruch in der Rechtsgeschichtswissenschaft auf die Überwindung der Auffassung einer abendländischen Entwicklung des Rechts als linear in Richtung Säkularisierung und als Kampf des Staates gegen die Kirche.67 2. Steigerung von Herrschaft durch Zentralisierung Ein Konnex mit der Bestrebung nach einer materiellen Wahrheitsfindung im Strafprozess68 wurde bereits mit dem erwähnten öffentlichen Strafrecht hergestellt, das im inquisitorischen Strafprozess Geltung sucht. Wenn hier von „Verstaatlichung“ gesprochen wird, ist dies methodologisch ein Anachronismus. Das setzt nämlich voraus, dass man um 1200 n. Chr. bereits von Staatlichkeit sprechen kann. Das könnte man nur, wenn man in der Kirche mit Harold Berman das Leitbild der modernen Staatlichkeit erkennt.69 Das ist allerdings zweifelhaft. Nach der herrschenden 65
Auch von ausländischer Literatur, vgl. Rousseaux/Lévy, Le pénal dans tous ses Etats, S. 18 f. 66 So nach Prodi, Geschichte der Gerechtigkeit; Rezension von Lepsius, Rechtsgeschichte Rg 1 (2002), 227 ff.; ferner Prodi, Scienza & Politica 24 (2001), 15 ff. 67 So neuerdings von Prodi so zusammengefasst: „Si tratta di superare la visione di una storia dell’Occidente come processo lineare e continuo di secolarizzazione, a senso unico, come lotta dello Stato contro la Chiesa, della ragione contro la religione.“ „Occorre invece tentare di comprendere questa storia come un processo più complesso e in più direzioni: il dualismo, la divisione tra la sfera politica e quella religiosa, che è caratteristica della società europea, è frutto di una tensione, di una lotta continua per il monopolio del potere; questa tensione è sempre stata, però, congiunta ad un processo di osmosi, nel quale la tendenza della Chiesa a impadronirsi del potere politico e la tendenza della politica a sacralizzarsi costituiscono un continuum in cui nessuna delle due forze è riuscita a prevalere, ma nel quale ciascun protagonista ha assorbito almeno in parte i connotati dell’altro“, Quaderni di Sociologia, 55 (2011), 23 f. 68 Vgl. Meder, Rechtsgeschichte, S. 166 f.; aus der strafprozessualen Perspektive vgl. Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 79. Ignor betrachtet die sozusagen negative Erörterung von Eb. Schmidt über die inquisitorische Strafverfahrensform kritisch, vgl. S. 23 ff., 130, 191 f. 69 Berman, Recht und Revolution, S. 190 ff.; zu Berman siehe die Beiträge in der Zeitschrift Rechtsgeschichte – Legal History 21 (1993), 156 ff., kritisch zu Bermans Staatlichkeitsthese Landau, University of Chicago Law Review 51 (1984), 941. Vgl. ferner supra, Fn. 5.
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Auffassung, die vom Staatsverständnis Georg Jellineks geprägt ist, kann erst in der beginnenden Neuzeit von Staat gesprochen werden. Das hat den Nachteil, dass die griechische Welt der Stadtstaaten (poleis) und noch die römische Welt des imperium nicht Staat genannt werden darf. Um dieses begriffliche Gebrechen zu beheben, wurde vorgeschlagen, nur von Herrschaft und ihren Formen zu sprechen oder modern nur von Formen der Governance.70 Der in erster Linie terminologische Streit kann hier auf sich beruhen bleiben. Unstrittig ist nicht nur, dass sich die Kirche im Hochmittelalter als juristische Person etabliert hatte, sondern auch, dass sie wie keine andere Institution der Zeit die Öffentlichkeit zugleich erreichte wie herstellte. Man muss nur einmal, beispielsweise in Florenz oder Venedig, eine der riesigen Hallenkirchen der im 13. Jahrhundert neuen Stadtorden der Dominikaner oder Franziskaner besucht und sich vorgestellt haben, dass diese auch mit Gläubigen gefüllt waren, dann weiß man, was Öffentlichkeit war. Hier genügt es, von der Herausbildung des öffentlichen Strafrechts zu sprechen, das keine Staatlichkeit voraussetzt und möglicherweise konstitutiv für die Bildung der Staatlichkeit ist, sofern Staaten noch heute neben ihren fiskalischen Ansprüchen das Strafrecht gewissermaßen als ihr Allerheiligstes betrachten.
V. Fortschritt und sein Preis 1. Umstellung des Beweisrechts Für diese Untersuchung von Interesse ist die Umstellung des Beweisrechts, die zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert in ganz Europa, also auch in Deutschland, erfolgte. Der Reinigungseid des Angeklagten, der Zweikampf und das Gottesurteil des germanischen Akkusationsverfahrens wurden durch das Geständnis des Angeklagten und das Tatzeugnis im Rahmen eines gesteigerten öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ersetzt. Zwar liefen die herkömmliche Akkusations- und die Inquisitionsverfahrensform noch geraume Zeit parallel, aber der mittelalterliche Inquisitionsprozess mit dem Bedeutungswandel des Geständnisses bahnte sich seinen Weg. Die Anwendung der kanonistischen Beweislehre in der kirchlichen Gerichtsbarkeit und die Exekution der amtlichen Verbrechensverfolgung zu Beginn des 13. Jahrhunderts in den oberitalienischen Städten mögen zu dieser Umstellung des Beweisverfahrens beigetragen haben. Die Beschlüsse des IV. Laterankonzils 1215 berufen sich dabei als Quelle nicht auf römisches Recht; dessen unmittelbarer Einfluss wird überwiegend verneint.71 Der Inquisitionsprozess mit seiner entsprechend geprägten Beweiserhebung wurde unter Innozenz III. auch nicht vollkommen 70
Vgl. dazu Schuppert, zum Beispiel in: Staatswissenschaft, insbes. S. 55 ff., 107 ff., 165; ders., Staat als Prozess; ders., Alles Governance oder was?; ders., Governance und Rechtssetzung. 71 So Oehler, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, S. 854, 860.
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neu entwickelt. Trusen sieht hier eine bloße Korrektur bzw. Veränderung des Infamationsverfahrens, das im innenkirchlichen Bereich angewendet wurde. Es handelte sich dabei anfangs nicht um ein Straf-, sondern um ein Disziplinarverfahren gegen Kleriker. Als Papst Innozenz III. das IV. Laterankonzil verkündete, besaß er die größte Machtfülle, die das Papsttum jemals erreicht hatte. Für sein Ziel, die Kirche nach seinen Vorstellungen zu organisieren, bedurfte er eines geeigneten Verfahrens, um hohe Kleriker wegen deren Vergehen, vor allem wegen Simonie, verfolgen und bestrafen zu können.72 Das Verfahren per inquisitionem war also zunächst nur für Angehörige des geistlichen Standes für die im Amt begangenen Vergehen gedacht.73 Dass es zunächst um ein rein für den geistlichen Bereich vorgesehenes Verfahren ging, zeigen die möglichen Sanktionen für die Vergehen anlässlich von Amtshandlungen der Kleriker, die in der Regel die Amtsenthebung und den Entzug der Pfründe vorsahen74 Der Durchbruch für die Umstellung des Beweisrechts wurde durch die Rahmenbedingungen in Italien und in der Kirche begünstigt, nachdem die Teilnahme von Geistlichen an Gottesurteilen im Jahr 1215 durch das IV. Laterankonzil verboten wurde und diese dadurch in ihrer praktischen Durchführung unmöglich machte.75 Die Beschränkung der alten formalen Beweisformen bewirkten allmählich den Zusammenbruch des germanischen Verfahrens. Der Ausschluss des Gottesurteils durch das IV. Lateranum wurde in der Praxis naturgemäß nicht sofort umgesetzt. Vor allem der Zweikampf, der für seine Durchführung der Gegenwart eines Geistlichen nicht bedurfte, hielt sich aber noch länger.76 Nach und nach wurde ein funktioneller Ersatz für die Ordalien notwendig. Die neuen Formen des Prozesses setzten sich lokal in unterschiedlichem Umfang durch. Hier leistete der ausgebildete kanonische Prozess einen ausschlaggebenden Beitrag zur Beweisumstellung. Zugleich verstärkte sich die Stadtautorität in Italien.77 Allerdings hätte sich die neue Prozessgestaltung nicht in Europa durchsetzen können, wenn sie nicht den Ruf nach wirksamer amtlicher Verbrechensverfolgung und Tataufklärung im Strafinteresse der Obrigkeit erfüllt hätte.78 Aus dieser Perspektive heraus zeigt sich die Umstellung des Beweisrechts als Konsequenz der Ausbildung einer obrigkeitlichen Gerichtsgewalt, deren Erforschungen und Urteil sich der Beschuldigte unterzuord72
Oehler, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, S. 860; Kolmer, Ad capiendas vulpes, S. 114. 73 Siehe für alle Niehaus, Verhör, S. 118 m. N. 74 Trusen, ZRG KA 74 (1988), 210 f., 229. 75 Lieberwirth, Über die Folter, S. 67; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 84; Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 55; ders., in: Miethke/ Schreiner (Hrsg.), Sozialer Wandel, S. 235 ff.; Fraher, Festschrift für Stickler, S. 97 ff.; Müller, in: Schlosser/Sprandel/Willoweit (Hrsg.), Herrschaftliches Strafen, S. 403; Niehaus, Verhör, S. 190. 76 Dazu Schmoeckel, Humanität und Staatsraison, S. 281 ff. mit Nachweisen. 77 Etwa Oehler, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, S. 848, 860. 78 Dazu Kleinheyer, Gedächtnisschrift für Conrad, S. 368 f.
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nen hatte.79 Wie geeignet die Methoden bzw. das Beweisverfahren des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens waren, um die erstrebte Aufklärung des wahren Sachverhalts zu erreichen, ist im Folgenden zu erörtern. Es stellt sich die Frage, ob das Inquisitionsverfahren besser gewesen ist als sein Ruf, weil es ebenso wie der reformierte Strafprozess als Ziel die Ermittlung der materiellen Wahrheit hatte und die angebliche psychologische Überforderung des Richters durch die Trennung von ermittelndem Richter und der in den Fällen der Aktenversendung die endgültige Entscheidung fällende höhere Instanz quasi-rechtsstaatliche Errungenschaften aufwies, die nicht etwa durch die Institution der Folter von Anfang an kompromittiert gewesen wären. 2. Das Beweisrecht des Inquisitionsprozesses als Fortschritt!? a) „Rationalisierung“ des Beweisrechts Die rechtshistorische Forschung sieht teilweise einen Fortschritt, soweit die Ermittlung der materiellen Wahrheit zum Prozessziel erhoben wurde.80 Das Beweisrecht des Inquisitionsprozess habe einen Mehrwert erbracht, weil es der Überwindung des auf Glauben und Aberglauben gestützten und deshalb unsicheren Formalbeweises der Ordalien diente und zu einer realitätsbezogenen Erfassung der Welt im Beweisrecht führte.81 Die Ermittlung im Verfahren bezog sich auf tatsächliche Gegebenheiten, so wie beim Zeugenbeweis und bei den weiteren Beweismitteln.82 Man kann die Entstehung des Inquisitionsverfahrens verstehen als „die Konsequenz der Verwissenschaftlichung des Rechts, die zur Ablehnung irrationaler Beweismittel wie der Ordale und des Zweikampfs sowie zu einer Zurückdrängung des Reinigungseides führte.“83 Man spricht von einer Ersetzung der „irrationalen“ Erkenntnismittel, d. h. auf übernatürliche Mächte basierend, durch „rationale“ im Sinne von empirisch verifizierbare Mittel.84 Allerdings beschreibt die traditionelle Klassifizierung der Beweismittel in „rational“ und „irrational“ zwar die Umstellung des Beweisrechts, verbirgt aber zugleich die Vielschichtigkeit der Beweisproblematik.85 Eine überzeugende Alternative wird dabei nicht angeboten. Dass im Inquisitionsprozess nach der vollen Sachaufklärung gesucht wird, ist auf die Rezeption des kirchlichen Rechts im weltlichen Recht zurückzuführen. Nach den 79
In diesem Sinn Nehlsen-von Stryk, ZRG GA 117 (2000), 37. Trusen, ZRG KA 74 (1988), 168 unter vielen anderen. 81 Siehe für alle Nehlsen-v. Stryk, ZRG GA 117 (2000), 2 und passim; Trusen, ZRG KA 74 (1988), 168 ff., 229. 82 Siehe Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 1, S. 111. 83 Trusen, ZRG KA 74 (1988), 229. 84 Aus der jüngeren Literatur vgl. Lepsius, Von Zweifeln zur Überzeugung, S. 32. 85 Nehlsen-v. Stryk, ZRG GA 117 (2000), 38. 80
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kirchenrechtlichen Vorgaben musste die Entscheidung des Richters der ihm unmittelbar vorliegenden Beweisführung folgen. Das Kirchenrecht attestierte dem Richter das Recht und die Pflicht der vollen Sachaufklärung.86 Die disziplinarrechtliche inquisitio war gegen hohe Kleriker wegen Ämterkaufs und Bruch des Zölibates erfolgreich gewesen und diente als Leitbild für das gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren.87 Das behördliche Forschen mit „rationalen“ Erkenntnismitteln kennzeichnete beispielsweise auch den Prozess im spanischsprachigen Raum, der in dieser Arbeit eine besondere Berücksichtigung erfährt. Die Wurzeln dort sind auch im kanonischen Recht zu finden. Insbesondere in Spanien findet man daneben eine intensive Auseinandersetzung mit dem römischen Rechtsdenken vor,88 das sich später auf Lateinamerika übertrug. Weil das römische Verfahren von einer auf die Wirklichkeit bezogenen Wahrheit, einem „materiellen Beweisrecht“, und von dem Anspruch auf Wahrheitsfindung durch den Richter geprägt war, hatte der Reinigungseid als gerichtliches Beweismittel in diesem Konzept keinen Platz. Er wurde nur ggf. in den Anfängen der römischen Zeit als Notlösung bei Beweismittelmangel herangezogen.89 b) Schriftlichkeit Die Rationalität des Verfahrens wird auch durch die Schriftlichkeit des Verfahrens verbürgt, insofern die Schrift damals das moderne Medium des Rechts war. So wird mitunter die Schriftlichkeit als Teil des Fortschritts angesehen, auch wenn gerade sie später, vor allem wegen der mit ihr aufgrund der nicht mehr in der Öffentlichkeit stattfindenden Verfahren notgedrungen einhergehenden Heimlichkeit, bei den Anhängern der Reform zum Stein des Anstoßes wurde. Die Schriftlichkeit des Verfahrens findet Ausdruck in dem Satz: „Quod non est in actis, non est in mundo“.90 Die Beweisführung im Inquisitionsprozess wurde über die vom Gerichtsschreiber verfassten, schriftlichen Protokollen nachvollziehbar. Während in der altgermanischen Zeit das gesamte Verfahren an einem einzigen Gerichtstag durchgeführt wurde, wurde im Inquisitionsverfahren der Verfahrensstoff nach und nach zusammengetragen. Nicht alle urteilenden Richter waren bei allen Ermittlungsschritten anwesend, deshalb hatten sie keinen unmittelbaren Eindruck von der Beweisführung. In der Carolina heißt es zu dieser Entwicklung: „damit auf 86
Schmoeckel, Humanität und Staatsraison, S. 193 mit Nachweisen. S. Lepsius, Von Zweifeln zur Überzeugung, S. 10 mit Hinweisen darauf, warum das vorher nicht möglich war. 88 Vgl. Trusen, in: Miethke/Schreiner (Hrsg.), Sozialer Wandel, S. 241. 89 Vgl. dazu Esders, in: ders. (Hrsg.), Rechtsverständnis und Konfliktbewältigung, S. 65 f. m. w. N. 90 Siehe Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Rn. 756; ausführlich Vismann, Akten – Medientechnik und Recht, S. 89, sowie Vesting, Die Medien des Rechts: Schrift. 87
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solche förmliche gründliche Beschreibung stattlich und sicherlich geurteilt“ werden konnte (Art. 189).91 Das Urteil war also vom Urteilskollegium auf der alleinigen Grundlage des Akteninhalts zu fällen, den der Berichterstatter vor dem Urteil vortragen musste. Mit dieser Schriftlichkeit (und Heimlichkeit) wurden naturgemäß die Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Strafverfahrens verdrängt.92 3. Preis der Entwicklung a) Die schwer zu füllende Lücke im Beweisrecht Diese Entwicklung hatte aber ihren Preis. Der Beschuldigte hatte eine weit unterlegene Position gegenüber der Inquisition der Untersuchungsbehörden, die der großen Erwartungshaltung unterlagen, die gesteckten Ziele zu erreichen. Die rücksichtslose Verfolgung der Ziele zeigte sich im „regulären“ Inquisitionsprozess und insbesondere in der Sonderform des „summarischen-irregulären“ Verfahrens gegen Ketzer.93 Der Pferdefuß für das Beweisverfahren: Die schwer zu füllende Lücke im Beweisrecht bezüglich der förmlichen Voraussetzungen einer Verurteilung, die aus dem Ausschluss von Gottesurteilen und Zweikampf entstand.94 Die Geständniserzwingung war eine Konsequenz dieser Umstellung des Beweisrechts, wozu im germanischen Beweisgang noch die Rahmenbedingungen für ein durch Folter erfolgtes Schuldbekenntnis fehlten, nachdem der abzuhaltende Gerichtstag in der Öffentlichkeit und meistens unter freiem Himmel stattfand.95 Die dann geschaffenen gesetzlichen Beweisregeln spielten eine zentrale Rolle bei der Geständniserzwingung durch Folter: b) Gesetzliche Beweisregeln Zu Zeiten des alten germanischen Prozesses waren Beweisregeln nicht erkennbar, auch wenn der Zeugenbeweis wie dargestellt eine Rolle im Verfahren spielte.96 Der Einfluss der christlichen Kirche auf die Strafverfolgung trug dazu bei, dass sich das Beweisverfahren durch Beweisregeln formalisierte. Diesbezüglich war das kano91 „… damit auff solch formliche gründtliche beschreibung stattlich und sicherlich geurtheylt“. 92 Siehe Kleinheyer, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 12 f.; Reimann, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 210 mit den späteren Entwicklungen; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 41 f., 43, 50. 93 Dazu Kolmer, Ad capiendas vulpes, S. 213; Kleinheyer, Gedächtnisschrift für Conrad, S. 369. 94 Jerouschek, ZStW 104 (1992), 355 m. N.; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 84; Trusen, in: Miethke/Schreiner (Hrsg.), Sozialer Wandel, S. 242; Langbein, Torture and plea bargaining, S. 4. Ferner zum unvollständigen Beweis (probatio semiplena) Schmoeckel, Humanität und Staatsraison, S. 210 ff. m. N. 95 Siehe Kleinheyer, Gedächtnisschrift für Conrad, S. 369. 96 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 12.
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nische Prozessrecht vom römischen und oberitalienischen Recht inspiriert, das eigentlich keine feste Beweisregeln kannte, sondern nur unverbindliche Richtlinien für die Beweise und ihre Würdigung, so zum Beispiel über die Eignung als Zeuge, über die Zeugenvernehmung, über die Anregung zur Prüfung des Geständnisses und über den Urkundengebrauch. Aber grundsätzlich entschied der Richter in der römischen Kaiserzeit über den Beweis nach seiner inneren Überzeugung.97 Die kanonistische Beweislehre übernahm grundsätzlich die römischen Rechtsansichten, vor allem über den Zeugenbeweis, die noch nicht als eigentliche Beweislehre verstanden werden konnten. Sie kreierte ein festes Beweissystem mit Klassifizierungen von Zeugen und Abstufungen in der Beweiskraft der verschiedenen Beweismittel. Man ging davon aus, dass man durch bindende Beweisregeln die dominierende Position des Richters bei der Erforschung der Tat einschränken und seine eigene Bewertung der Beweise verhindern konnte.98 Die kanonistische Beweistheorie hatte also Einfluss auf die Einführung der gesetzlichen Beweistheorie in den Inquisitionsprozess. So genügten ein Indizienbeweis oder die freie Überzeugung des Gerichts für eine Verurteilung des Beschuldigten im gemeinen Beweisrecht nicht. Indizien waren nur die Voraussetzung für den Foltergebrauch.99 Vollbeweis (plena probatio) erbrachte nur das Geständnis des Beschuldigten oder das belastende Zeugnis zweier glaubwürdiger unmittelbarer Tatzeugen, die den Täter bei der Tat selbst gesehen haben mussten.100 Aus der kanonistischen Beweistheorie entwarf Schwarzenberg, der Verfasser der Constitutio Criminalis Carolina,101 Abwägungskriterien für den Richter für die Beurteilung der 97
Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 10, 300 f. Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 14, 300 f.; Küper, Richteridee, S. 127 m. N. 99 Dazu etwa Thomasius, Dissertatio, Teil I §§ 5 S. 135 ff.; Plöger, Mitwirkungspflichten, S. 101 ff. 100 Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 84; Jerouschek, GA 1992, 493, 498; Feuerbach, Geschworenengericht, S. 43 f.; ders., S. 132 ff. zur Unterscheidung des positiven und negativen Aspekts der gesetzlichen Beweistheorie. 101 Auch wenn die Constitutio Criminalis Carolina (CCC), die Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. von 1532, aufgrund einer salvatorischen Klausel nur eine Rechtsquelle neben anderen war (Rüping, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 161 f., 170; Kunze, in: a. a. O., S. 177 ff.), entwickelte sie sich in ihrer Anwendung zum ersten deutschen Strafgesetzbuch, in dem Prozess- und materielles Recht noch nicht getrennt waren (dazu Schoetensack, Der Strafprozess der Carolina; Schroeder (Hrsg.), Die Carolina; Beiträge des Sammelbandes Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption; Dezza, Geschichte des Strafprozessrechts, S. 45 ff.). Eigentlich wertete die Carolina die Akkusation als Regelfall (Art. 11 ff., 214) und die Inquisition (Art. 6 ff.) als irreguläre Ausnahme, aber die Praxis des 17. Jahrhunderts kehrte die Verhältnisse um, sodass die Inquisition der gängige Fall wurde (Rüping, a. a. O., S. 168 mit Nachweisen; zum Nebeneinander der verschiedenen Prozessformen in der Carolina vgl. Kleinheyer, Gedächtnisschrift für Conrad, S. 370). Wie bei der Constitutio Criminalis Bambergensis (CCB) von 1507 galt nicht der Parteiwille, sondern die richterliche Wahrheitserforschungspflicht (Art. 100 CCC; Art. 121 CCB), vgl. Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 1, S. 204 m. N.; Kunze, a. a. O., S. 197. Die Offizialität ging im Inquisitionsprozess der Carolina sehr weit: Der gegenüber dem Staat und gegenüber gesetzlichen Beweisregeln nicht unabhängige Richter war gleichzeitig als Verfol98
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Beweise und für den Ausschluss zweifelhafter Beweismittel.102 Aus den Vorschriften der Carolina, die als Leitlinien für die Beurteilung schwieriger Fallkonstellationen gedacht waren, entstand eine in den Kommentaren zur Carolina findende Auffassung, die die bindenden Beweisregeln zu einer umfassenden Beweistheorie weiterentwickelte.103 Mit dem Ziel, dem Inquirenten Schranken bei seinem Ermessen im Umgang mit den Beweisen zu setzen, um damit den Beschuldigten zu schützen, wurden für eine Verurteilung festgeschriebene Mindestbeweismittel geschaffen. Die Anwendung dieser Beweisgrundsätze mit Anspruch auf ein gelehrtes Beweisverfahren erforderten juristische Fähigkeiten des Richters bei der Beurteilung der Beweise. Das Thema beschäftigte später die aufklärerischen prozessualen Impulse, aber auch die Diskussionen bis ins 19. Jahrhundert, wobei die von Beccaria und Feuerbach gesetzten Gegenimpulse eine Überprüfung der gesetzlichen Regeln veranlassten.104 c) Das Dilemma der bindenden Beweisregeln Das Bemühen, die gefürchtete Unberechenbarkeit richterlicher Überzeugung und willkürliche Verurteilungen zu verhindern, wurde in der Rechtswirklichkeit dem Angeklagten letztlich zum Verhängnis und bedeutete oft sein Todesurteil. Ein solch wirksamer Schutz für den Beschuldigten konnte durch die gesetzlichen Beweistheorien nicht erreicht werden, sondern sie konnten umgekehrt zur Verurteilung Unschuldiger führen.105 Die Schwächen des Systems, die sich mitunter gegen den Beschuldigten auswirkten, lagen nicht nur in der strengen Bindung des Richters an gungsbeamter und Vorsitzender des Urteilskollegiums tätig. Nach der Beweisaufnahme reichte der Untersuchungsrichter die Akten zur Urteilsfindung bei dem Urteilkollegium ein, dem er angehörte, v. Hippel, Lehrbuch, S. 32. 102 So wie in den Arts. 22 und 67. Über die Beweisregeln in der Carolina Feuerbach, Geschworenengericht, S. 133; Plöger, Mitwirkungspflichten, S. 101; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 37 ff., 56 ff.; Kleinheyer, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 13; Küper, Festgabe für Peters, S. 23 ff.; Fezer, StV 1995, 95; Nobili, Die freie richterliche Überzeugungsbildung, S. 81 ff.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 45 Rn. 42; KK-Ott, § 261 Rn. 5; differenzierend Lepsius, Der Richter und die Zeugen, S. 24 f.; Schmoeckel, Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung, S. 100. Siehe ferner Rüping/ Jerouschek, Grundriss, Rn. 84, nach denen die Folter aus der Beweisformalisierung resultiert. 103 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 14 ff., 300 f. m. w. N.; Küper, Richteridee, 131. 104 Siehe Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, XVI („Über die Folter“), S. 81 ff., siehe auch XIII („Von den Zeugen“), XIV („Indizien, Formen der Gerichte“), S. 75 ff.; Feuerbach, Lehrbuch, § 588, S. 824; ders., Geschworenengericht, S. 133 ff. Dazu Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 49 f., 77; Küper, Richteridee, S. 135. 105 Vgl. Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, XVI („Über die Folter“), S. 81 ff.; Voltaire in seinem Dictionnaire Philosophique, Œuvres completes, Bd. 19, Question Torture, S. 222 f.; Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 20; Liepmann, ZStW 44 (1924), 656 f.; Nobili, Die freie richterliche Überzeugungsbildung, S. 99 ff. m. N.; Jerouschek, ZStW 104 (1992) 345; ders., Festschrift für Sellert, S. 370 f.; Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, S. 28 m. N.
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feste Beweisregeln, sondern auch in der kategorischen Verhinderung der freien Erforschung des wahren Tatgeschehens. Gegen das Erfordernis der Tatbeobachtung zweier zulässiger Zeugen sprach vor allem ein praktisches Hindernis: Es war sehr schwer zu erfüllen, weil Straftaten in der Regel nicht in der Anwesenheit Dritter begangen werden und deshalb, außer im Falle der Ergreifung auf frischer Tat, auch der unmittelbare Beweis durch zuverlässige Zeugen nur selten zur Verfügung gestanden haben dürfte.106 So bestand das Problem, dass die Zeugen die Tat womöglich nicht unmittelbar wahrgenommen haben, sondern nur mittelbar zur Aufklärung beitragen konnten, oder ihre Aussagen von vornherein nicht der Wahrheit entsprachen. Hinzukam, dass die Kriminalistik nicht besonders weit entwickelt war. Bereits zu Beginn der Entwicklung des Inquisitionsverfahrens waren die Anforderungen an die Zeugenfähigkeit sehr streng, sodass sog. Ungenossene nicht als Zeugen zugelassen wurden. So konnte zum Beispiel die Aussage eines Knechts nicht zur Überführung eines wohlangesehenen Bürgers verwendet werden. Dass die Anforderungen zu streng waren, zeigt die Suche nach Ausnahmen, wie beispielsweise bei leichteren Straftaten, wenn der Angeklagte bei Mangel an zwei Bürgern, die als Zeugen dienen konnten, durch das Zeugnis von Nichtbürgern oder Frauen überführt werden konnte.107 Daran litt an erster Stelle die Effizienz des Zeugenbeweises und verursachte in den meisten Fällen den Rückgriff auf das Geständnis des Beschuldigten – womöglich nach dessen Folter. 106 Prägnant Feuerbach, Lehrbuch, § 588, S. 824: „Da die Gesetze das Geständnis als das sicherste Beweismittel der Schuld betrachten, überdies die meisten Verbrechen im Geheimen beschlossen und ausgeführt werden, folglich die Mittel der Überführung, welche ausser dem Bewusstsein des Thäters selbst liegen, oft entweder gänzlich mangeln, oder durch ihre Unsicherheit die Unschuld gefährden: so wurde die Erlangung des Geständnisses eines Angeschuldigten zu einem Hauptzwecke unsres peinlichen Verfahrens erhoben.“ Ferner ders., Geschworenengericht, S. 133; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 84 ff.; Langbein, Torture and plea bargaining, S. 4 f.; ders., Torture and the Law of Proof, S. 7; Plöger, Mitwirkungspflichten, S. 207, auch 102, 110; Lesch, ZStW 111 (1999), 627; Jerouschek, Festschrift für Sellert, S. 370 f.; Nehlsen-von Stryk, ZRG GA 117 (2000), 22 ff., 31; Sickor, Das Geständnis, S. 111 f. u. a. 107 Nehlsen-von Stryk, ZRG GA 117 (2000), 22 ff., 31 m. N. Man muss hier thematisieren, dass es dadurch eine gewisse Flexibilität der strengen Beweisregeln gab und dass die Gewährung eines Ermessenspielraums an den Richter wiederholt Thema war. Auch wenn auf dem Papier eine „freie richterliche Beweiswürdigungsfreiheit“ nicht existierte, lässt sich eine Flexibilisierung des Beweisrechts erkennen: eine Anwendung von Ausnahmen und die Gewährung von mehr Ermessenspielraum an den gemeinrechtlichen Richter in Kombination mit der Bindung an formale Beweisregeln. Es bestand aber eine Zurückhaltung hinsichtlich der Gewährung einer größeren Entscheidungsmacht für den Richter. Als Spannungsverhältnis vgl. Schmoeckel, Humanität und Staatsraison, S. 189 ff. 194, 241, 267 ff., 280 ff., 294, 576 mit Nachweisen. Auf der Suche nach Nachweisen für freien richterlichen Ermessens ab dem frühen Mittelalter E. Kaufmann, Aequitatis iudicium, S. 95 ff. Vgl. ferner zur Prüfung der Glaubwürdigkeit des Geständnisses Schmoeckel, Humanität und Staatsraison, S. 204, 238 m. N.; bezüglich der Carolina Kleinheyer, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 20, 24.
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Dass aber die Zeugenaussagen im Gegensatz zum Geständnis zweitrangig waren, zeigt die Tatsache, dass das Geständnis selbst dann durch Folter erzwungen wurde, wenn zwei Augenzeugen zur Verfügung standen.108 d) Die Aufwertung des Geständnisses zur regina probationum aa) Die theologischen Wurzeln des Geständnisses Ein Eingeständnis der Schuld mündete bereits im römischen Prozess in eine Überführung, auch wenn es nicht als ein vorrangiges Beweismittel betrachtet wurde.109 In der Verfahrensform des archaischen Akkusationsprozesses hatte ein Schuldbekenntnis die Wirkung, dass die Tat als manifest beurteilt wurde.110 Allerdings war das Hauptbeweismittel der Reinigungseid. Demgegenüber reichte das Geständnis allein nicht zur Verurteilung aus und stand hierarchisch auf unterster Stufe. Das war der Grund, warum im germanischen Beweisgang kein (faktischer) Zwang der amtlichen Organe zur Erlangung eines belastenden Geständnisses bestand.111 Die verfahrensrechtliche Funktion des Geständnisses als ausschlaggebender Beurteilungsmaßstab und Grundlage für eine Verurteilung entwickelte sich erst im amtlich-inquisitorischen Prozess mit dem Einfluss des rationalen kanonischen Beweisverfahrens. Von ihren theologischen Wurzeln ist die bedeutende Rolle des Geständnisses im gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahren untrennbar. Auch wenn nicht nur das Christentum, sondern ebenso andere Religionen und Völker das Eingeständnis einer Verfehlung kannten, übte das Sakrament der Beichte nach christlichem Verständnis einen besonderen Einfluss auf die verfahrensbeherrschende Stellung des Geständnisses im mittelalterlichen Inquisitionsverfahren aus.112 Die confessio stand dabei im Mittelpunkt der mittelalterlichen Kirche, denn ohne sie war keine Reue möglich und ohne Reue nicht die Errettung von ewiger Verdammnis. Von Bedeutung für die Entwicklung des kirchenrechtlichen Sündenbekenntnisses war die
108 Holzhauer, Festschrift für E. Kaufmann, S. 184; Nehlsen-von Stryk, ZRG GA 117 (2000), 35, Fn. 116; Lesch, ZStW 111 (1999), 628; Sickor, Das Geständnis, S. 112 mit Fn. 378. 109 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 236, 300; Köstlin, Wendepunkt, S. 93; Schmoeckel, in: Condorelli (Hrsg.), „Panta rei“, S. 136 f. 110 Schmoeckel, in: Condorelli (Hrsg.), „Panta rei“, S. 139 m. N. 111 Zachariä, Handbuch I, S. 127 mit Fn. 9; Plöger, Mitwirkungspflichten, S. 12 f., 15 f., 20, 39. Zu den Besonderheiten des Prozesses gegen den Herrn für Taten des Knechts in der germanischen Zeit und den Foltergebrauch in diesem Über-/Unterordnungsverhältnis Lieberwirth, Über die Folter, S. 54 ff., 98, wobei sich der Autor auf S. 58 fragt, warum sich der Herr nicht durch Eid reinigen konnte. 112 Siehe dazu Jerouschek, in: Bachorski (Hrsg.), Ordnung und Lust, S. 285; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 78; Jerouschek, ZStW 104 (1992), 344; Reik, Geständniszwang, S. 160 ff.; Müller, in: Schlosser/Sprandel/Willoweit (Hrsg.), Herrschaftliches Strafen, S. 412 ff., insbes. 414; Sickor, Das Geständnis, S. 36 ff., 94 ff., 112.
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Einführung der jährlichen Beichtpflicht durch das 4. Laterankonzil.113 Dadurch erfuhr die Beichte sogar ein geradezu zwanghaftes Moment.114 Die Ablegung eines Sündenbekenntnisses innerhalb des kirchlichen Bußsakraments zielte auf die Besserung des Sünders ab.115 Auch wenn die Pflichtbeichte für die Christen zu Beginn des 13. Jahrhunderts institutionalisiert wurde, also etwa zu der Zeit als das auf ein Geständnis ausgerichtete Inquisitionsverfahren etabliert wurde, wird historisch gesehen eine Parallele zwischen beiden Instituten nicht ohne Differenzierungen angenommen. Einzelbestimmungen zur Pflichtbeichte gab es schon viel früher. Außerdem bestehen grundlegende Unterschiede in ihrer Logik: Insofern das gerichtliche Geständnis erzwungen werden konnte, war ein Geständnis nicht nur ein Beichtbekenntnis. Auch anders war das Machtverhältnis, innerhalb dessen das Geständnis stattfand. Man gestand, oder man wurde zum Geständnis gezwungen. Zugleich bezog es sich auf eine bestimmte Frage, die auf den Gegenstand der Anklage Bezug nahm. Der Verhörende kannte die Antwort, die er hören wollte, d. h. er schrieb vor, wie die Wahrheit auszusehen hatte.116 Der unheilvolle Durchbruch für die Dominanz des Geständnisses im kanonischen Recht erfolgte, indem man das von der Kirche ihm zugeschriebene Zeichen von Reue und Unterwerfung unter die Strafe und dem damit zum Ausdruck kommenden Gedanken der Besserung übernahm. Diese Suche nach dem Geständnis verstärkte sich mit der dem kanonischen Prozess zu Grunde liegende Inquisitionsmaxime,117 weil die amtliche Tätigkeit nicht auf formale Beweismittel wie früher den Reinigungseid ausgelegt war, sondern jetzt auf eine Sachverhaltsaufklärung anhand von Erkenntnismitteln, vor allem die Vernehmungen zurückgriff. Während Wissenszeugen mitunter schwer zu bekommen waren, erwies sich das immer mögliche Geständnis des Beschuldigten prozessual als das „bequemste“ Beweismittel.118 Die Grundsätze des mittelalterlichen kirchlichen Inquisitionsprozesses diffundierten so in die weltliche Gerichtsbarkeit. bb) Die zentrale Bedeutung des Geständnisses (1) Die alles entscheidende Stellung des Geständnisses ist also einerseits auf die zentrale Bedeutung der Beichte im mittelalterlichen Christentum, andererseits auch 113 Vgl. dazu etwa Jerouschek, ZStW 104 (1992), 344; Ohst, Pflichtbeichte; Niehaus, Verhör, S. 114 f. 114 Reik, Geständniszwang, S. 162. 115 Müller, in: Schlosser/Sprandel/Willoweit (Hrsg.), Herrschaftliches Strafen, S. 417. 116 Niehhaus, Verhör, S. 114 ff. m. N., gegen die von Foucault entworfene Genealogie des Geständnisses. 117 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, S. 236; Plöger, Mitwirkungspflichten, S. 74. 118 Plöger, Mitwirkungspflichten, S. 70; Liepmann, ZStW 44 (1924), 656 f.; siehe auch die Fundstellen supra, Fn. 106.
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auf die Eigentümlichkeiten der kanonistischen Beweislehre mit der Rationalisierung des Beweises und den gesetzlichen Beweisregeln zurückzuführen. Das gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren zielte mit allen Mitteln auf das Erlangen eines Geständnisses.119 Es wurde zur regina probationum im weltlichen Verfahren erhoben und erhielt damit eine ganz neue Bedeutung.120 Beweisrechtlich anerkannte man in der Regel nur bei abgelegten Geständnis den vollen Tat- und Schuldbeweis als geführt an.121 Selbst wenn es durch Gewaltanwendung abgelegt wurde, besaß es die höchste Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft, sofern das Geständnis nach Ablauf einer gewissen Frist (freiwillig) wiederholt wurde.122 Diese Richtung des Verfahrens und die Hauptaufgabe der richtenden Obrigkeit, ein Geständnis zu erlangen, war Gegenstand der Kritik in der Reformbewegung im 19. Jahrhundert.123 Die charakteristische Technik des Verfahrens per inquisitionem war das Verhör, sei es der Zeugen oder des Beschuldigten. Als Folge des Inquisitionsgedankens galt für alle Aussagepersonen die Pflicht zur wahren Aussage.124 Anders als beim früheren Anklageprozess kannte dieses Verfahren in seiner Form keinen „Gegner“, deshalb dachte man, auf der Wahrheitspflicht bestehen zu können. Dass die Erwartung an eine wahrheitsgemäße Aussage des Beschuldigten mit der Logik des in 119 Köstlin, Wendepunkt S. 93; Mittermaier, Mündlichkeit, S. 299 ff.; ders., Die Lehre vom Beweise, S. 35 f.; Kleinheyer, Gedächtnisschrift für Conrad, S. 370 ff.; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 84; Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 1, S. 111 ff., 208 ff.; Lesch, ZStW 111 (1999), 628. 120 Einhellige Meinung; relativiert von Müller, in: Schlosser/Sprandel/Willoweit (Hrsg.), Herrschaftliches Strafen, S. 411, 414 m. N., nach der auch Indizien für eine Verurteilung ausgereicht haben. 121 Plöger, Mitwirkungspflichten, S. 87. 122 Nachweise in Schmoeckel, Humanität und Staatsraison, S. 236, 239, 203 ff. Nach der Carolina dürfte das Geständnis wie früher per Zwang herbeigeführt werden, allerdings setzte die CCC einige Schranken gegen die (frühere) Willkür des Inquirenten. Insbesondere musste das Geständnis auf seine Richtigkeit hin von Amts wegen geprüft werden. Der Richter musste die vom Angeklagten angegebenen Tatsachen prüfen und dabei auf „den grundt der wahrheit kommen“ (Art. 56 CCC, ferner Art. 48, 54); siehe Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 1, S. 209 mit der Quelle; Kleinheyer, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 24; Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 67. Nach der Carolina entwickelte sich das Inquisitionsverfahren noch drei Jahrhunderte in der Praxis und in den Ländergesetzgebungen im so genannten gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahren weiter, bis das von der Aufklärung beeinflusste französische Strafverfahrensrecht zuerst als Partikularrecht in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts rezipiert wurde. In der Zwischenzeit, mit dem Heranwachsen der absoluten Staatsgewalt, schwächte das gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren die von der Carolina errichteten Kautelen erheblich ab. Das absolutistische Denken in der Strafrechtspflege führte zum Abbau noch bestehender Anklageelemente und zur Verschärfung des Beweissystems mit Missbräuchen aller Art, wie vor allem die Hexenprozesse zeigen. Im Gegensatz zur Regelung der Carolina musste die Richtigkeit des Geständnisses nämlich nun nicht von Amts wegen nachgeprüft werden, auch wenn es durch Zwang herbeigeführt wurde. Man begnügte sich mit einer „formellen Wahrheit“ im Strafprozess („confesus proiudicato habeto“). 123 Vgl. dazu Mittermaier, Mündlichkeit, S. 302. 124 Dazu Niehaus, Verhör, S. 131 ff.
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der Praxis gezwungenen Geständnis inkompatibel war, zeigt das strukturelle Problem eines so praktizierten Verfahrens. Spätestens mit der seit 1252 offiziell im Inquisitionsverfahren erlaubten Folter war die Gewalt das Mittel der Wahl zur Erlangung eines Geständnisses. Die Inquisition wollte stets die ganze Wahrheit: „die volle und reine Wahrheit“ (plenam et meram veritatem),125 konnte aber dieses Paradoxon nicht erklären. (2) Was die Phrase „regina probationum“, also Königin der Beweismittel, betrifft, ist ihre Angemessenheit für das Geständnis des mittelalterlichen Inquisitionsprozesses mehr als fraglich. Die Wertung als Beweismittel für den Nachweis des wahren Geschehensablaufs wird rechtshistorisch gesehen teilweise bestritten. Es sei bei der Amtsermittlung relevant gewesen, dass es abgelegt wurde, sodass damit die Möglichkeit des Entlastungsbeweises wegfiel und ein Urteil gefällt werden konnte. Das Geständnis wird demnach zunächst als für eine Verurteilung essentielle Prozesshandlung, als eine unabdingbare Voraussetzung für eine Verurteilung mit einer formal-prozessualen Funktion eingestuft.126 Als logische Konsequenz wird der Einsatz von Folter angesehen. Nicht die wahre Aussage des Beschuldigten, sondern die Erzwingung des formalen Geständnisses stand im Mittelpunkt.127 Diesen formalen Charakter scheint das Geständnis aber nicht nur in den Anfängen des Inquisitionsprozesses zu haben, sondern er ist womöglich eine fortwährende Konstante in der weiteren Entwicklung,128 wenngleich heutzutage nicht mehr die Folter das Mittel der Wahl ist, sondern u. a. die sog. Sanktionenschere. (3) Von Bedeutung für die Untersuchung ist das mitunter gerade zwanghafte Streben der Untersuchungsbehörde nach Erlangung eines Geständnisses. Dieser Druck auf den Untersuchenden, unbedingt eine selbstbelastende Aussage des Beschuldigten zu gewinnen, war für die Beibehaltung der Folter im Strafverfahren bis ins 18. Jahrhundert hinein mitverantwortlich.129 Allerdings ist die Vereinbarkeit der im Inquisitionsverfahren erstrebten Erforschung der materiellen Wahrheit mit einem erzwungenen Geständnis als Fixpunkt des Untersuchungsverfahrens mehr als zweifelhaft.130 Das Verfahren zielte nur noch auf das protokollierte Geständnis, ohne sich auf die eigentlich zu erforschende Straftat zu konzentrieren.131 125
Für alle Niehaus, Verhör, S. 134 m. N. Das ist die These von Kleinheyer, Gedächtnisschrift für Conrad, S. 377 ff.; dazu auch Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 81 ff.; Nehlsen-von Stryk, ZRG GA 117 (2000), 37. 127 Ausdrücklich Trusen, a. a. O., S. 81 und anschließend mit der Anmerkung: „So ganz stimmt das dann nicht mit der behaupteten Instruktionsmaxime!“ 128 Trusen, a. a. O., S. 81 ff. 129 Kleinheyer, Gedächtnisschrift für Conrad, S. 378; Köstlin, Wendepunkt, S. 94; Liepmann, ZStW 44 (1924), 656 f.; Langbein, Torture and plea bargaining, S. 4 f.; ders., Torture and the Law of Proof, S. 7 f.; Plöger, Mitwirkungspflichten, S. 109 f., u. a. 130 Siehe für alle Niehaus, Verhör, S. 200, 220. 131 Betont von Kleinheyer, Gedächtnisschrift für Conrad, S. 383; Trusen, in: Landau/ Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 80. 126
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cc) Geständniserzwingung durch Folter Mit der „Jagd“ nach dem Geständnis132 war dessen Erzwingung durch Folter die tragende Säule des Inquisitionsverfahrens.133 Gestand der Beschuldigte nicht freiwillig, wurde auf Zwang zurückgegriffen. Ziel war entweder ein scheinbar freiwilliges Geständnis oder eher ein unfreiwilliges.134 Wegen der barbarischen Strafen des Mittelalters und der frühen Neuzeit dürfte niemand freiwillig bereit gewesen sein, ein Geständnis abzulegen und die Konsequenzen daraus zu spüren bekommen. Die Phrase „schwarze Zwillingsbrüder“ erscheint da nicht fehl am Platz, wenn man sich auf die Folter im Mittelalter bezieht, die wie ein Schatten das Geständnis begleitete.135 Nicht ohne Berechtigung ist da die Ansicht, dass die gesetzliche Beweistheorie, weil sie ein Geständnis und zwei vollwertige Zeugen für eine Verurteilung verlangte, den Rückgriff auf Folter nicht nur ermöglichte, sondern sie auch erforderlich machte.136 (1) Ursprung der Folter im Inquisitionsverfahren Der Ursprung der Anwendung von Folter im Inquisitionsverfahren ist umstritten. Vor allem nicht ganz eindeutig geklärt ist die Frage, ob ihre Anwendung in ihren Anfängen der Geständniserlangung oder der Bestrafung diente. Im römischen Verfahrensrecht wird die Anwendung von Folter als prozessuales Hilfsmittel zur Geständniserzwingung (quaestio per tormenta) anerkannt, anfangs gegen Sklaven.137 Allerdings ist die These, dass die Folter vom Inquisitionsprozess unmittelbar aus dem römischen Recht übernommen wurde, heute nicht mehr vertretbar, zumal nicht klar ist, ob es um das ursprüngliche oder das im Hochmittelalter wiederentdeckte römische Recht geht.138 Eine Einflussnahme des römischen Rechts ist dabei 132
Köstlin, Wendepunkt, S. 94: „perfide Jagdwissenschaft“. Siehe statt aller Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 78 ff.; Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte l, S. 268 ff., auch 111; Langbein, Torture and plea bargaining, S. 4 f.; Plöger, Mitwirkungspflichten, S. 70, 80, 224 ff., 265 ff. m. N.; Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, § 3 III 2, S. 86. Anders der heutige Folterbegriff, der sich zunehmend von einer prozessualen Funktion löst, siehe Jerouschek/Kölbel, JZ 2003, 614 mit Nachweisen. 134 Niehhaus, Verhör, S. 116. 135 Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 76 f.: „Seit dem Mittelalter begleitet wie ein Schatten die Folter das Geständnis und hilft ihm weiter, wenn es versagt: schwarze Zwillingsbrüder. Die waffenloseste Zärtlichkeit wie die blutigsten Mächte sind auf das Bekennen angewiesen. Im Abendland ist der Mensch ein Geständnistier geworden.“ 136 Für alle Kleinheyer, Gedächtnisschrift für Conrad, S. 378. 137 Siehe dazu etwa Thomasius, Dissertatio, Teil I § 2 S. 125; Teil II § 7 S. 177; Lieberwirth, Über die Folter, S. 15 f., 21; Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 114. 138 Dazu Kleinheyer, Gedächtnisschrift für Conrad, S. 367; Oehler, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, S. 854, 861; Lieberwirth, Über die Folter, S. 85 ff. insbes. 88; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 80; Plöger, Mitwirkungspflichten, S. 71 m. N. Nach Trusen, ZRG KA 74 (1988), 230, hat diese Art der Geständniserzwingung ihre Grundlage im römischen Recht. 133
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aber selbstverständlich anzuerkennen,139 allerdings nur in Bezug auf die Folter, weil der Ursprung des Inquisitionsverfahrens im Übrigen dort nicht zu finden ist. Folter war auch im germanischen Akkusationsverfahren bekannt, zunächst nur im Rahmen der hausherrlichen Gewalt bzw. im Rahmen der Haftung des Herrn für den Unfreien.140 Auch die fränkische Strafverfolgungspraxis griff auf die Folter zur Erzwingung eines Geständnisses bei besonders schweren Verbrechen wie dem crimen laesae maiestatis und dem Hochverrat zurück.141 Allerdings dürfte es sich jeweils um eigenständige Entwicklungen handeln, da ein einheitliches römisches Vorbild historisch gesehen nicht anerkannt wird.142 In den Quellen des 11. und 12. Jahrhunderts wird die Folter nur sehr selten erwähnt, deshalb können hieraus keine Erkenntnisse über diese Zeit gewonnen werden. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts tauchte in den europäischen Quellen beinahe parallel der Gebrauch von Folter auf, jedoch mit höchst unterschiedlicher Art und Weise ihres Einsatzes. Die Ursache oder gar ein etwaiger gemeinsamer Ausgangspunkt dieses Gleichlaufs in den verschiedenen Rechtskreisen ist damit historisch nicht eindeutig nachvollziehbar.143 Die jeweils älteste Quelle aus dieser Zeit wird historisch als Beleg für die Anwendung von Folter und ihrer Zunahme angegeben: Der ursprüngliche kanonische Inquisitionsprozess von Innozenz III. von 1215 wurde als Disziplinärverfahren für die Bestrafung von Vergehen von Klerikern eingeführt und kannte keine Folter.144 Eine Erwähnung der Folter im Gesetzestext findet man in Verona im Jahr 1228, zuerst unabhängig vom kanonischen Inquisitionsprozess. 1231 folgt Sizilien und anschließend ganz Oberitalien. Für Frankreich gibt es Nachweise für Folter in der Gerichtsbarkeit Mitte des 13. Jahrhunderts. In Spanien enthielt der Fuero Juzgo von 1241 Texte über die Folter und Las Siete Partidas (Die „Sieben Rechtsbücher“) von 1265 widmeten ihr einen gesonderten Titel „De los tormentos“. Für Deutschland gibt es erst im 14. Jahrhundert entsprechende Quellen.145 In der Folge der strafprozessualen Entwicklung war die Folter mit dem Ziel der Aussageerzwingung schon so zur Selbstverständlichkeit geworden, dass es keiner weiteren Bestätigung bedurfte.146 139
Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 43 f. Lieberwirth, Über die Folter, S. 43 ff., 51 f., 58, 64 ff.; Jerouschek, Festschrift für Sellert, S. 371. 141 Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 80; Lieberwirth, Über die Folter, S. 32 ff. 142 Lieberwirth, a. a. O., S. 43; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 80. 143 Lieberwirth, a. a. O., S. 84 f. 144 Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 114. 145 Zur Entwicklung seit der Quelle von Verona vgl. Lieberwirth, Über die Folter, S. 75 ff. m. N.; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 81; Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 43 f.; Oehler, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, S. 848, 861 m. N.; Jerouschek, ZStW 104 (1992), 348; Schulz, Normiertes Misstrauen, S. 34 ff.; für Deutschland siehe die Nachweise supra, Fn. 17. 146 Lieberwirth, a. a. O., S. 81. 140
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Sie nahm ab diesem Zeitpunkt einen festen Platz im mittelalterlichen Inquisitionsprozesses ein, auch wenn sie ihn zunächst nicht kennzeichnete.147 (2) Eigenschaften des Ketzerverfahrens und Folter Versuche einer systematischen Verfolgung von Ketzern durch ein formalisiertes Verfahren sind schon vor 1215 zu finden. Allerdings bildete sich das Verfahren der Ketzerinquisition nach dem von Innozenz III. im Jahr 1215 eingeführten inquisitorischen Prozess heraus.148 Ein bereits im Jahr 1231 festzustellendes Charakteristikum der Ketzerinquisition war die Ernennung von ausschließlich zur Ketzerbekämpfung päpstlich beauftragter Inquisitoren, die das Verfahren von der Ermittlung bis zum Urteil selbständig durchführten. Die Inquisition wurde sodann u. a. aufgrund von Rechtsverstößen für drei Jahre, nämlich von 1238 bis 1241, suspendiert. Erst ab 1244 zeigt sich ein gleichbleibendes Verfahren der Ketzerinquisition mit einer festen Form.149 Das Ketzerverfahren (inquisitio haereticae pravitatis) bildete dabei eine besondere Konstellation, die sich von der üblichen rechtlichen Form des kanonischen Inquisitionsprozesses entfernte. Die Anwendung eines eigentlichen Inquisitionsprozesses in Verfahren gegen Ketzer vor Innozenz III. wird von der heutigen Forschung als nicht nachgewiesen angesehen.150 Bei der Sonderform des Ketzerprozesses handelte es sich vielmehr um ein selbständiges Verfahren, das sich teilweise nach dem summarischen Verfahren des crimen laesae maiestatis richtete. Inspiriert von den römischen Kaisergesetzen wurde die Idee des Majestätsverbrechens (crimen laesae maiestatis) auf die Häresie analog angewendet. So wurde die Häresie im Sinne eines crimen laesae maiestatis divinae angesehen und damit die römischrechtlichen Konsequenzen für Dissidenten angewendet, sowohl für den Einsatz der Folter, als auch für die Bestrafung.151 Gegenüber dem „regulären“ Inquisitionsprozess wurden Rechte der Verteidigung im „summarischen-irregulären“ Ketzerverfahren eingeschränkt und die Anforderungen an den Beweis erleichtert. Anders als die strengen Anforderungen an mögliche Zeugen im kanonischen Verfahren wurden im Häresieverfahren Zeugen jeder Art zugelassen.152 Eine Behandlung wie beim Verfahren per inquisitionem für die Kleriker erfuhr der der Ketzerei Verdächtige nicht. Kennzeichnend beim Ketzerverfahren war die Formlosigkeit des Verhörs.153
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Trusen, ZRG KA 74 (1988), 230 und weitere Nachweise supra, Fn. 20. Das Ketzerverfahren wurde erst mit Gregor IX. aufgenommen vgl. Nachweise supra, Fn. 21. 149 Dazu Kolmer, Ad capiendas vulpes, S. 114 ff.; 214 f.; 218; Niehaus, Verhör, S. 122. 150 Trusen, ZRG KA 74 (1988), 213. 151 Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 47 f., 74; ders., ZRG KA 74 (1988), 213; Jerouschek, ZStW 104 (1992), 348. 152 Vgl. dazu Trusen, ZRG KA 74 (1988), 213; Schulz, Normiertes Misstrauen, m. N. 153 Niehaus, Verhör, S. 123. 148
56
Kap. 1: Die mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung
Die Zulassung der Folter zur Aussageerzwingung bei Ketzern erfolgte erst durch die päpstliche Dekretale „Ad extirpanda“ vom 15. 5. 1252 von Innozenz IV. Die Anordnung richtete sich zunächst an die Kommunen von Norditalien und breitete sich dann in ganz Italien aus. Dabei wurde explizit darauf hingewiesen, dass die Folter bereits in der weltlichen Gerichtsbarkeit praktiziert würde.154 Ab wann genau die Praxis der Folter in Ketzerverfahren zunehmend in Gebrauch kam, ist eine umstrittene Frage, nachdem Passagen in den Chroniken und in den Protokollen der Inquisition vorhanden sind, die darauf bereits vor 1252 hinweisen. Allerdings geben die Fundstellen wenige Informationen über diese Praxis, möglicherweise weil sie nicht legal war. Wenn denn eine solche Praxis der weltlichen Beamten ansatzweise bestand, wurde sie jedenfalls durch die Dekretale legitimiert.155 In der Bulle von 1252 wurden die Maßnahmen zur Ketzerbekämpfung zusammengefasst, die nur für die weltliche Gewalt und nicht für klerikale Verfahren galten. Durch diese päpstliche Autorisation wurde also auf das weltliche Recht eingewirkt bzw. die weltlichen Behörden wurden befugt, im Verfahren gegen Ketzer Folter anzuwenden. So wurde diese Maßnahme als technisches Mittel beim Erkenntnisverfahren in das Inquisitionsverfahren implementiert.156 Dabei überließ die päpstliche Dekretale nur den weltlichen Beamten die Anwendung der Folter. Gemäß den früheren kirchlichen canones war Mitgliedern des Klerus Mitwirkung oder Beiwohnung an einem solchen Akt bei Strafe verboten.157 (3) Logik der Folter Während verschärfte Untersuchungshaft im Rahmen der Ketzerinquisition mit dem Ziel angewendet wurde, die hartnäckigen, sogar geständigen Ketzern zur Abschwörung zu bringen, wurde die eigentliche, gerichtlich angeordnete Folter zur Erzwingung von Aussagen angewendet. Mit der Folter wurde nach der Logik der 154 Siehe u. a. Lieberwirth, Über die Folter, S. 89 m. N., S. 83 f.: „Die Vertreter der Kirche waren Kinder ihrer Zeit … Es nimmt daher nicht Wunder, daß, als durch die Bulle ,Ad exstirpanda‘ Innocenz‘ IV. vom Jahre 1252 auch der Inquisition, dem kirchlichen Gericht zum Aufspüren und Verurteilen der Ketzer, die Folter zur Hand gegeben wurde, ausdrücklich auf das zu jener Zeit übliche weltliche Strafverfahren gegen Diebe und Räuber verwiesen wurde.“ „Es ist als sicher anzunehmen, dass die Folter in den geistlichen Gerichten zunächst noch nicht angewandt wurde, aber es ist ebenso sicher, dass die Kirche nichts Entscheidendes gegen den weltlichen Foltergebrauch unternommen hatte, ihn im Gegenteil duldete; denn sonst wären die zitierten Stellen nicht in die ofiziellen Sammlungen des kanonischen Rechtes aufgenommen worden“. Dazu auch Plöger, Mitwirkungspflichten, S. 74; Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 48 f., 57; Oehler, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, S. 861; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 82; Jerouschek, ZStW 104 (1992), 348 f. 155 Kolmer, Ad capiendas vulpes, S. 208 ff. m. N.; siehe dazu supra, Fn. 17. 156 Kolmer, Ad capiendas vulpes, S. 208. Ohne Folter ist die Entwicklung der Hexenprozesse in ihrem Umfang und ihren Auswüchsen undenkbar, so Lieberwirth, Über die Folter, S. 112. 157 Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 49 m. N.; Rüping/Jerouschek, Grundriss, Rn. 82; Kolmer, Ad capiendas vulpes, S. 208 m. N.
A. Vom Partei- zum Inquisitionsprozess
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Ketzerbekämpfung nicht bezweckt, auf die Willensentschließung Einfluss zu nehmen, sondern die Außerkraftsetzung des Willens des peinlich Verhörten, der die für den Inquisitor vermutete „Wahrheit“ zurückhielt. Der Ketzer wurde angesehen als jemand, der sich einer Beweisführung verschließt und ausgestattet ist mit dem Wesensmerkmal der Hartnäckigkeit, die pertinacia. Ziel der Folter war also, dass die „Wahrheit“ „aus dem Munde“ des Verdächtigen entweicht. Nicht zuletzt diente die Folter der Preisgabe von Mittätern bzw. Mitverschworenen.158 In den historischen Untersuchungen über die Tortur als Mittel der Aussageerzwingung wird zwischen dieser Technik in der Ketzerinquisition und im Offizialverfahren gegen die Außenseiter der Gesellschaft, vor allem gegen die sog. landschädlichen Leute, im 13. Jahrhundert unterschieden.159 Bei der Ketzerinquisition bezweckte man mit der Folter das konsequente Eingeständnis der Tat, dass der Angeklagte seinen unterstellten Irrtum, sprich seine Verfehlung, anerkannte und sich zur Umkehr entschloss. Sein Sündenbekenntnis, seine Reue und seine Unterwerfung unter die Kirche im Verfahren sollten zum Wohle des Angeklagten seine Seele durch Abschwörung retten. Der Begriff des „freien Willens“ muss dabei aus einem mittelalterlichen Verständnis heraus betrachtet werden.160 Wer kein Geständnis trotz bestehendem Verdacht ablegte, wurde als ein hartnäckiger Ketzer verurteilt. Anders war es beim Offizialverfahren, bei dem das Geständnis keine Vorteile für den Beklagten bot, sondern es nur wegen des physischen Zwangs abgelegt wurde. Aus der Perspektive der Behörden ginge es dabei nicht wie im Ketzerverfahren um die Wiederaufnahme in die Kirche, sondern um Ausstoßung.161 Diese historischen Einzelheiten über die Frage nach der Logik der Freiwilligkeit des Geständnisses und die Beweggründe des in beiden Fällen rechtslosen Beschuldigten erübrigen sich freilich, wenn man beide Konstellationen als eine bloße „Jagd“ nach einem Geständnis betrachtet. Zur Aussageerzwingung wurde von der Tortur zügel- und regellos Gebrauch gemacht.162 Ob sich der Beschuldigte in einem „Irrtum“ befand oder nicht, seine Aussagen bei einer solchen peinlichen Befragung waren sicherlich nicht freiwillig. Je nach Schmerzempfindlichkeit erfolgte früher oder später ein oft falsches Schuldbekenntnis des peinlich Verhörten.163 Auch wenn die Carolina später versuchte, diese Gefahr dadurch zu entschärfen, dass die Aussagen des Verdächtigen durch andere Informationsquellen überprüft 158
Niehaus, Verhör, S. 172 ff., 178, 209 ff., 223 f. Eine Verfahrenseinleitung von Amts wegen setzte sich zuerst im Verfahren gegen Landschädliche durch, s. Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 1, S. 108 m. w. N.; Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 57; Sickor, Das Geständnis, S. 108. 160 Müller, in: Schlosser/Sprandel/Willoweit (Hrsg.), Herrschaftliches Strafen, S. 415.; vgl. zur Abschwörung der Häresie auch Kolmer, Ad capiendas vulpes, S. 116. 161 Vgl. Niehaus, Verhör, S. 201. 162 Niehaus, Verhör, S. 199. 163 Thomasius, Dissertatio, Teil II §§ 1 – 2 S. 159. Dazu auch Niehaus, Verhör, 219; Schmoeckel, Humanität, S. 152 f. 159
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Kap. 1: Die mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung
werden mussten, galt dies aber nur für die Bestätigung der Schuldvermutung, aber nicht für deren Entkräftung.164 (4) Gründe für den Foltergebrauch im Inquisitionsverfahren Bei der Suche nach einer gemeinsamen Grundlage für das Aufkommen der Folter in den unterschiedlichen europäischen Rechtsordnungen des Mittelalters ist ein Zusammenspiel unterschiedlicher Ursachen vorzufinden. Ausgangspunkt war die Verbrechensverfolgung in den Händen der Obrigkeiten mit dem Ziel, den Beschuldigten zu überführen. Die mittelalterlichen Verhältnisse machten einen Rückgriff auf ein solches Mittel leicht. Ferner ist ein Grund für die Folter im Inquisitionsverfahren, dass sie bereits in früheren Verfahrensformen angewendet wurde. Ausschlaggebend ist: Eine Institution wie die Folter kann nicht nur aus der schlichten Übernahme früheren Rechts um ihrer selbst Willen resultiert haben, sondern sie entwickelte sich vor allem aus den Bedürfnissen der Praxis heraus:165 Waren die Anforderungen an die beiden Zeugen zu streng und dadurch der Beweis nicht führbar, griff man auf die Tortur zur Erzwingung des erforderlichen Geständnisses zu.166 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Feststellung, dass ab dem Moment, als die gesetzliche Beweistheorie im 18. Jahrhundert an Kraft verlor, sich automatisch die Anwendung der peinlichen Befragung reduzierte.167 So könnten die damaligen Bedürfnisse der Praxis wiederum der Erklärung dienen, warum ein Mechanismus im Verfahren wie die Folter, der so lange als rechtmäßig, erforderlich und akzeptabel angesehen wurde, nicht mehr so intensiv benötigt wurde. Wenn man dieser Perspektive folgt, ist die herkömmliche These zu relativieren, dass die Gründe für die Abschaffung der Folter auf die Aufklärungsbewegung zurückzuführen wären.168 Es ist nachvollziehbarer, dass die Folter in dieser Zeit nicht mehr „funktioniert“ hat, dass sie allmählich überflüssig wurde, nachdem die strengen Anforderungen der gesetzlichen Beweistheorie nicht mehr in dieser Form existierten. Die Auffassungen der Aufklärer wären erst unter diesen Umständen wahrgenommen.169 164 Vgl. Niehaus, Verhör, S. 213 f.; zur späteren Entwicklung, auch als Unschuldbeweis, siehe S. 214 f. Zu den unterschiedlichen Regelungen bezüglich der Wiederholung des Geständnisses und seltener zu einer (eher uneeigneten) Überprüfung auf seinen Wahrheitsgehalt Kleinheyer, Gedächtnisschrift für Conrad, S. 371 ff. 165 Lieberwirth, a. a. O., S. 88, 90, siehe auch 81 ff. Ferner Kleinheyer, Gedächtnisschrift für Conrad, S. 368. 166 Siehe Fundstellen supra, Fn. 129. 167 Langbein, Torture and the Law of Proof, S. 5 ff.; Niehaus, Verhör, S. 217. 168 Heute steht Schmoeckel, Humanität und Staatraison, S. 590 f. für diese Meinung. 169 Langbein, Torture and the Law of Proof, S. 10 f.; Niehaus, a. a. O. Kritisch bezüglich dieser These, weil sie sich ausschließlich auf Beweisen beruht, die nur in gedruckten Quellen enthalten sind: Samaha, The Journal of Interdisciplinary History Vol. 9, No. 4 (1979), S. 740 f.: „Es ist zu viel zu hoffen, dass sich das Gesetz nur deshalb ändert, weil die Anwälte erkennen, dass eine Praxis nicht so gut funktioniert wie die andere und deshalb geändert werden muss.“
A. Vom Partei- zum Inquisitionsprozess
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(5) Abschaffung der Folter Die Kritik an der Folter bestand schon vor der Aufklärung. Gegen die Folter als Mittel für das Erlangen eines Geständnisses wurde nicht nur das Argument der Verletzung der Menschenwürde vorgebracht, sondern darüber hinaus wurde ihre Untauglichkeit für die Erforschung der materiellen Wahrheit betont. Die Hauptgegner der Folter Thomasius und später Beccaria begründeten ihre Einwände nicht nur aus einer moralischen Perspektive heraus, sondern auch mit der Unzweckmäßigkeit. Während einige Schuldige den physischen Zwang wegen Unempfindlichkeit und Abhärtung gegenüber Schmerzen ertragen konnten, kein Geständnis ablegten und deshalb freigesprochen wurden, legten empfindliche Unschuldige zur Vermeidung von Gewaltanwendung ein falsches Geständnis ab oder beschuldigten sogar fälschlich Dritte. Eine Gewissheit über ein begangenes Verbrechen lieferte das abgepresste Geständnis also nicht. Der Richter konnte nach der Folter in seiner Überzeugung hinsichtlich des eingestandenen Verbrechens nicht sicherer sein als zuvor.170 Mit den ironischen Worten von Thomasius: „Wahrlich das beste Mittel, die Wahrheit zu erforschen!“.171 Er legt mit seinen Schriften den Finger in die Wunde, dass nämlich im Inquisitionsprozess die als Mittel der Aussageerzwingung angewendete Folter ein „trügerisches Mittel zur Erforschung der Wahrheit“ war.172 Ende des 18. Jahrhunderts zeigte sich dann eine den individuellen Beschuldigtenrechten wohlgesonnene Entwicklungslinie, die für einen Wendepunkt sorgte für den bestehenden gemeinen Inquisitionsprozesses, bei dem das Staatsinteresse an der Verbrechensverfolgung im Vordergrund stand.173 Anlass für die Abschaffung der Folter war die Thronbesteigung von Friedrich dem Großen in Preußen, der durch die Aufklärung stark beeinflusst war, aber auch durch 170
So Thomasius, Dissertatio, Teil II §§ 1 – 2 S. 159, § 3 S. 161, 163, siehe auch § 9 S. 181. Zur Unzweckmäßigkeit der Folter zur Ermittlung der materiellen Wahrheit ders., § 2 S. 159: „Einerseits ertragen nicht wenige, die zu recht eines Verbrechens beschuldigt sind, starken Herzens die Folterqual und werden, mögen sie noch so schuldig sein, nichtsdestoweniger kraft Gesetzes freigesprochen. Andererseits werden die unschuldigsten Menschen durch häufige Täuschungen und Ränke in schuftigster Weise außer Fassung gebracht und höchst unbillig auf Grund eines mit Gewalt erpreßten Geständnisses zum Tode verurteilt.“ Siehe ferner Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, XVI („Über die Folter“), S. 82 ff. Auch Voltaire in seinem Dictionnaire Philosophique, Œuvres completes, Band 19, Question Torture, S. 222: „Es ist ebenso absurd, Folter zu verüben, um Kenntnis von einem Verbrechen zu erlangen, wie es in der Vergangenheit absurd war, einen Zweikampf aufzuerlegen, um einen Schuldigen zu verurteilen: Denn oft war der Schuldige der Sieger, und oft wehrt sich der kräftige und eigensinnige Schuldige gegen die durch Folter gestellte Frage, während der schwache Unschuldige ihr erliegt.“ (Übersetzung der Verfasserin), ferner a. a. O., Torture S. 387 ff. Dazu auch Liepmann, ZStW 44 (1924), 656. Ferner siehe frühere Erörterungen in Trusen, in: Landau/Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, S. 61. Darüber hinaus vgl. zu den aufklärerischen Gegnern der Folter Lieberwirth, Über die Folter, S. 8 ff.; Plöger, Mitwirkungspflichten, S. 303 ff. 171 A. a. O., Teil II § 4 S. 167. 172 A. a. O., Teil II § 9, S. 181; auch Teil I § 1 S. 123, 125. 173 Dazu Plöger, Mitwirkungspflichten, S. 302 ff.
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Kap. 1: Die mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung
die Folterbedrohung seines Vaters beeinträchtigt war. Drei Tage nach seinem Regierungsantritt befahl der junge König durch Kabinettsorder vom 3. 7. 1740, die Tortur gänzlich abzuschaffen. Als Ausnahmen ließ er die Folter bei Majestätsverbrechen, Landesverrat und „großen“ Mordtaten zu. Im Jahr 1754 bestätigte er das allgemeine Folterverbot, nun aber ohne Ausnahme. Beweisrechtlich wurde aber keine echte Alternative zum Geständnis im Inquisitionsverfahren geschaffen. Für einen Schuldbeweis durften nun allerdings auch Indizien herangezogen werden. Dieser richtungsweisende Schritt hatte Einfluss auf andere europäische Staaten.174 Nachdem die Folter abgeschafft wurde, bestanden aber keine Kautelen zum Schutz vor Selbstbezichtigung. Der Beschuldigte war in der Praxis noch zur Aussage verpflichtet, was man durch die sog. Ungehorsams- und Lügenstrafen, die sogar gesetzlich im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland geregelt waren, erzwungen wurde. Eine echte Abkehr von der Praxis des Inquisitionsverfahrens, ein Geständnis auch durch Zwang zu erlangen und es auf die Position als regina probationum erhoben zu haben, war noch nicht in Sicht. Trotz der theoretischen Bemühungen zur damaligen Zeit, zwischen Folter als Ermittlungsmethode im Rahmen des Beweisverfahrens und Strafen wegen eines vergangenen Pflichtverstoßes des Inquisiten im Prozess zu unterscheiden, liefen beide Institute auf das angestrebte Tatbekenntnis durch Zwang hinaus. Aus Furcht vor der Vollstreckung der im Verlauf des Prozesses angedrohten Strafen blieb dem Beschuldigten nichts anders übrig, als die ihm vorgeworfene Straftat zu gestehen. So entwickelten sich die Ungehorsams- und Lügenstrafen zum Folterersatz zur Erpressung eines Geständnisses, nur mit einer wohlklingenderen Phrase. Deshalb war ein Rückgriff auf den Indizienbeweis nicht erforderlich.175
174
Siehe dazu etwa Lieberwirth, Über die Folter, S. 7 f.; Plöger, Mitwirkungspflichten, S. 31 ff. mit Aussagen von Friedrich der Größen auch über die Unzweckmäßigkeit der Folter, nachdem ein robuster Verbrecher trotz Folter die Tatbegehung leugne, „während ein Unschuldiger von schwächlichem Körper sie einräume“. Über die Eignung zur Wahrheitsfindung hatte Friedrich II. Bedenken, da er die Tortur „allemal als ein teils grausames, teils aber ungewisses Mittel“ ansah, „die Wahrheit der Sache herauszubringen“. Die Schriften von Beccaria waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht, die Dissertation von Thomasius schon. Immerhin pflegte Friedrich der Große einen engen schriftlichen Austausch mit Voltaire. Allgemein zur Aufhebung der Folter siehe etwa Schmoeckel, Humanität und Staatsraison, S. 19 ff., 237 ff., 439, 482 ff., 569 m. N. 175 Dazu Feuerbach, Lehrbuch, § 590, S. 826; Zachariae, Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, S. 108 ff.; „beschönigende Benennung“: ders., Handbuch I, S. 147; prägnant zu dieser Entwicklung ders., Handbuch 2, S. 256 f.: „Da mit der Aufhebung der Folter keineswegs ein Aufgeben der Haupttendenz des inquisitorischen Verfahrens verbunden war, ein Geständnis zu erlangen und den Angeschuldigten auch gegen seine Neigung und seinen Willen dazu zu drängen, da man dorthin an der Verpflichtung desselben zur Antwort, zur bestimmten und wahrheitsgemäßen Antwort festhielt, so war es natürlich, daß jedes, dieser Verpflichtung widersprechende, Verhalten des Angeschuldigten als ein ahndungswürdiges Vergehen desselben betrachtet und in der Praxis s. g. Ungehorsams- und Lügenstrafen für rechtlich zulässig erachtet wurden …“. Siehe auch Plöger, Mitwirkungspflichten, S. 314 ff., 319 ff. m. N., über Indizienbeweis S. 151.
B. Die Entstehung der Hauptverhandlung
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B. Die Entstehung der Hauptverhandlung I. Das französische Modell 1. Quellen der Reformbewegung Die Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts ist ein gesamteuropäisches Phänomen, erhält aber starke Impulse aus den Regionen, in denen der Handel blüht und die Industrialisierung entsteht, namentlich England und Schottland mit seiner Common Sense-Philosophie.176 Frankreichs Aufklärung ist davon beeinflusst, nährt sich aber auch aus eigenen Quellen. Frankreich wiederum beeinflusst Deutschland, wo ebenfalls eigene Wurzeln der Aufklärung existieren. Für die Rechts- und Staatsphilosophie, die seit Hobbes eine Einheit bilden, ist die Theorie des Gesellschaftsvertrags entscheidend. Dafür, dass Hobbes Konzeption mit dem Element der Gewaltenteilung angereichert wird, stehen Locke und Pufendorf. Weiterhin ist Rousseau einflussreich, allerdings liquidiert er in seiner Konzeption wie bereits Hobbes jede intermediäre Gewalt.177 Die damit verbundenen Einschränkungen der Staatsgewalt betrafen naturgemäß auch das Strafrecht als Arkanum der Staatsgewalt. Da die Trennung von materiellem und Prozessrecht erst im 19. Jahrhundert idealtypisch vollzogen wird, heißt Strafrecht auch und vor allem Strafprozessrecht. Mit der Revolution in Frankreich werden dort die größten Unzulänglichkeiten des Prozesses unter dem Ancien régime aus der Zeit der „Grande Ordonnance“ von 1670178 beseitigt. Das wird zum Vorbild für Deutschland. 2. Prozessuale Strukturveränderung Bereits mit dem Dekret der Nationalversammlung vom Oktober 1789 wurde in Frankreich die Folter abgeschafft. Weiterhin wurde die Verteidigung gestärkt, insbesondere durch die Einführung der öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung.179 Ausschlaggebend für die weiteren Reformen180 war die Abkehr vom vor176 Mit Recht beginnt Thomas Vestings „Staatstheorie“ (2018) historisch mit der schottischen Aufklärung, vgl. § 1, Rn. 17, S. 11, § 2, Rn. 50, S. 30, Rn. 72, S. 41 f., § 4, Rn. 207, 209 ff., 213, S. 114 ff., § 5, Rn. 233, S. 130. 177 Zum Überblick siehe Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 3/1, S. 265 ff. 178 Vgl. darüber z. B. Esmein, Histoire de la Procédure criminelle, S. 177 ff.; Daniels, Grundsätze, S. 7 f., § 15 ff.; Peters, Strafprozess, S. 67 (§ 11 IV). 179 Vgl. Esmein, Histoire de la Procédure criminelle, S. 410 ff. Die deutschen Ausdrücke sind auf Feuerbach in seinem Werk über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege (1821) zurückzuführen, vgl. dazu Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 53. 180 Über die Entwicklung des französischen Strafverfahrens vgl. ferner Esmein, Histoire de la Procédure criminelle, S. 399 ff. und in der älteren deutschen Literatur Daniels, Grundsätze, S. 7 ff., ab § 15 und insbes. nach der franz. Revolution ab § 18; Zachariae, Handbuch 1, S. 189 ff.; Geyer, Lehrbuch, S. 120 ff., 127 ff.; Glaser, Handbuch 1, S. 145 ff.; spätere deutsche
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Kap. 1: Die mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung
maligen übermächtigen Richter und dem schutzlosen Angeklagten. Mit der Hauptverhandlung kommt der vormalige schriftliche und geheime Prozess zum Ende, der jedenfalls in Frankreich vom absoluten Souverän systematisch missbraucht wurde. Der Richter wurde institutionell aus der engen Abhängigkeit von der Staatverwaltung befreit und beweisrechtlich wurden die gesetzlichen Beweisregeln durch die Einführung der intime conviction ersetzt.181 Kein Bürger durfte nunmehr seinem gesetzlichen Richter entzogen werden, und Ausnahmegerichte wurden verboten. Die damit verknüpfte Verselbständigung der Justiz im Gefüge der Gewaltenteilung gehört zu den bleibenden Errungenschaften des modernen Prozesses. Weiterhin wurde die Person des allzuständigen Inquisitionsrichters institutionell aufgespalten. Vom urteilenden Richter, der die Beweise unparteiisch würdigt, wurde der ermittelnde, untersuchende Richter (juge d’instruction), der das Beweismaterial ansammelt, getrennt. Ihm wurde die Staatsanwaltschaft zur Seite gestellt. Weiterhin wurde die Anklageform eingeführt.182 Die Staatsanwaltschaft war anders als in Deutschland keine Neuerfindung. Sie war bereits zur Zeit der Privatanklage vorhanden183 und bliebt im Inquisitionsprozess als „gens du roi“ bzw. „procureurs du roi“ erhalten, betraut mit der Wahrnehmung der Interessen des Monarchen.184 Das entsprach der in Frankreich relativ rein ausgebildeten Souveränität des Monarchen, der Bodins Lehre der (fast) unbeschränkten Gewalt des Souveräns korrespondierte.185 Auch wenn dieser procureur du roi nur das Verfahren für die spätere Anklage einleitete, hat man den französischen Inquisitionsprozess deshalb als Prozess „mit accusatorischen Formen“ bezeichnet.186 Auf jeden Fall kennzeichnete die hervorgehobene Figur der Staatsanwaltschaft den französischen Inquisitionsprozess, anders als im deutschen Prozess, in dem der Richter die für den Inquisitionsprozess typische Stellung inne hatte. Dies schützte den französischen Inquisitionsprozess aber nicht vor entsprechenden oder sogar größeren Auswüchsen. Denn eine Verteidigung war gegenüber einer sogar doppelt
Literatur: Peters, Strafprozess, S. 67 f. (§ 11 IV); Eb. Schmidt, Einführung, §§ 285 f.; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 41 ff. 181 Statt allen Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 2, S. 33; Schmoeckel, Humanität und Staatsraison, S. 544 ff. Zur heutigen Kritik der intime conviction siehe infra, Kapitel 2 A. I. 5. 182 Siehe Mittermaier, Gesetzgebung, S. 279; ders., Mündlichkeit, S. 285; Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 2, S. 26; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 42 m. w. N. 183 Glaser, Handbuch 1, S. 148. 184 Vgl. z. B. Geyer, Lehrbuch, S. 121 f.; Eb. Schmidt, Einführung, § 285; heute etwa Schulz, in: Durand/Mayali/Schioppa/Simon (Hrsg.), Staatsanwaltschaft, S. 312 mit Nachweisen. 185 Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 2/2, S. 225, 300. Bodins noch fehlbare Souveränität sollte dann von Rousseau überboten werden, bei dem der Souverän nicht einmal mehr gegen das natürliche Recht verstoßen kann. 186 Geyer, Lehrbuch, S. 122 f.
B. Die Entstehung der Hauptverhandlung
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vertretenen Anklage ausgeschlossen, und dem Angeklagten wurde ein Wahrheitseid abverlangt.187 Mit der Revolution wurde die Staatsanwaltschaft erheblich gestärkt, zumal der Generalprokurator den Untersuchungsrichter beaufsichtigte, der damit an Selbständigkeit verlor. Darin lag der entscheidende Unterschied zur späteren Voruntersuchung im deutschen Prozess, für den die höhere Gründlichkeit der Ermittlung und die starke Hand des Richters charakteristisch war,188 Ausdruck der in den deutschen Landen schwächer als in Frankreich ausgebildeten Souveränität des Monarchen. Vor dem Hintergrund der gesellschaftsvertraglich starken Stellung des Volkes wurden die Laien am Prozess beteiligt, was durch die Einführung des Schwurgerichts im Hauptverfahren verwirklicht wurde.189 Die Ohnmacht des Beschuldigten wurde schließlich durch neue Garantien für die Verteidigung beseitigt. 3. „Système mixte“ Vor diesem Hintergrund führte der napoleonische Code d’Instruction Criminelle (1808)190 ein „système mixte“ ein.191 Einem schriftlichen und (ziemlich) geheimen Vorverfahren ohne kontradiktorische Struktur („instruction préparatoire“, Art. 55 bis 136) folgte die mündliche, öffentliche und eben kontradiktorische Hauptverhandlung vor einem Geschworenengericht (cours d’assises). Die Mischung ist demnach eine der zeitlichen Abfolge und keine Verknüpfung von entgegengesetzten Konzepten.192 Das Vorverfahren war bewusst nach dem auch in Frankreich vorherrschenden „inquisitorischen Prinzip“ der „Grande Ordonnance“ von 1670 ein Geheimverfahren eines Untersuchungsrichters („juge d’instruction“) ohne substantielle Verteidigungsgarantien.193 Der Untersuchungsrichter wurde flankiert von der Staatsanwaltschaft, die die ersten Ermittlungsaufgaben übernahm, etwa im Fall von Flagranz-Delikten oder in den diesen gleichgestellten Fällen (Stadium des „poursuite“, Art. 35 ff.).194 Die Voruntersuchung kam entweder auf Initiative der Staats187 Siehe dazu Glaser, Handbuch 1, S. 148 f. mit weiteren Beispielen; ferner Geyer, Lehrbuch, S. 124 ff. 188 Vgl. Glaser, Handbuch 1, S. 169; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 42; über die beaufsichtigende Stellung Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte 2, S. 27; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 56; über den Verlust an Selbständigkeit der Richter vgl. Geyer, Lehrbuch, S. 127. 189 Dazu z. B. Daniels, Grundsätze, S. 8, § 19; Geyer, Lehrbuch, S. 128 f.; Eb. Schmidt, Einführung, § 285. 190 Code d’Instruction Criminelle, Übersetzung von v. Daniels, 1812. 191 Vgl. dazu Esmein, Histoire de la Procédure criminelle, S. 532 ff., 539 ff.: „système de conciliation“. 192 So z. B. Glaser, Handbuch 1, S. 214. 193 So Geppert, Unmittelbarkeit, S. 46; Esmein, Histoire de la Procédure criminelle, S. 532: Ganz wie die Ordonnance von 1670, s. auch S. 527, 539. Ferner Glaser, Handbuch 1, S. 149. 194 Vgl. Esmein, Histoire de la Procédure criminelle, S. 531.
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Kap. 1: Die mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung
anwaltschaft (bei deren Kenntnis von einer Straftat, Art. 47) oder auf Antrag des Verletzten (Strafanzeige, Art. 63 f.) in Gang. Damit konnte der Untersuchungsrichter nur auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft (Art. 61) oder des Verletzten seine Tätigkeit anfangen.195 Sowohl der Untersuchungsrichter als auch die Staatsanwaltschaft hatten Ermittlungsaufgaben im napoleonischen Code d’Instruction Criminelle, die vor allem in den Art. 47, 59 – 62 geregelt waren. Die Vernehmungen der Angeklagten und Zeugen erfolgten allerdings nur vor dem Untersuchungsrichter und allein in Gegenwart des Gerichtsschreibers, ohne Anwesenheit der Staatsanwaltschaft (Art. 73), Flagranzdelikte ausgenommen (Art. 33).196 Die Bedeutung des Code d’Instruction Criminelle von 1808 betrifft nicht nur die Entstehung der mündlichen Hauptverhandlung und des kontinentaleuropäischen „gemischten Strafprozesssystems“ bzw. des sog. reformierten Inquisitionsverfahrens mit einer schriftlichen und einer mündlichen Phase, sondern auch die Figur des Untersuchungsrichters, die im deutschen Partikularrecht übernommen wurde und bis 1974 fortbestehen sollte.197 Sein Einfluss erfasste sogar noch die fundamentale Quellen der südamerikanischen Strafprozessreform in Gestalt des argentinischen Código von Córdoba von 1939, der dort als erster den Inquisitionsprozess abschaffte, dabei für das Ermittlungsverfahren den Untersuchungsrichter beibehielt und für die Hauptverhandlung dem erkennenden Richter mit der Beweisführung beauftragte.198 Auch der Código Levene als Bundesstrafprozessgesetz Argentiniens ist danach konzipiert. In Frankreich übernahm die Staatsanwaltschaft erst später die Aufgabe, das schriftliche Vorverfahren durchzuführen, nicht nur für die Ausnahmekonstellationen, sondern für den Regelfall, bis der „Code de Procédure Pénale“ von 1959 endgültig die Leitung des Vorverfahrens durch sie normierte („enquête préliminaire“).199 Der gerichtlichen Voruntersuchung folgte ein gleichfalls geheimes und schriftliches Zwischen- oder Übergangsverfahren. Mit ihm wurde nach der Bewertung der aus der Akte resultierenden bisherigen Beweisergebnisse das Verfahren in den Anklagestand versetzt. Diese Phase wird von einigen als eine selbständige Zwischenphase angesehen.200 Vorzugswürdig ist es allerdings, sie noch zum Vorverfahren zu zählen. Anders als in der Praxis der Strafrechtspflege davor ging es im Vorverfahren nicht darum, vorrangig belastendes Beweismaterial zu finden, sondern um die Klärung, ob der für die Anklageerhebung nötige hinreichende Tatverdacht 195 Vgl. dazu Daniels, Grundsätze, S. 88, § 115 – 117, ferner S. 142, § 256; Glaser, Handbuch 1, S. 150. 196 Dazu vgl. Daniels, Grundsätze, S. 98, § 150, S. 105, § 163. 197 Reformiert durch BGBl. I, S. 3393, 3533. 198 Vgl. infra, Kapitel 6 C. II. 1. und über diesen Einfluss Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 7 II, S. 416 und § 5 H 3 VI, S. 464. 199 Vgl. dazu Geppert, Unmittelbarkeit, S. 50 mit Fn. 117 m. w. N. 200 Vgl. z. B. Geppert, Unmittelbarkeit, S. 43, 45, 51 mit Fn. 119.
B. Die Entstehung der Hauptverhandlung
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besteht. Beispielsweise hatte der Untersuchungsrichter sowohl Belastungs- als auch Entlastungszeugen zu laden. Deshalb erhob man gegen die Beibehaltung des „inquisitorischen Prinzips“ für diese Verfahrensphase keine Bedenken.201 Im Mittelpunkt der Kritik standen demgegenüber die Geheimhaltung des Verfahrens durch Vernehmungen in Abwesenheit des Beschuldigten und die Erhebung der Anklage auf der einzigen Grundlage der Voruntersuchungsakte.202 Die wichtigste Entwicklung auch für die deutsche Rezeption bestand in der zweiten Phase des öffentlichen, unmittelbaren und mündlichen Hauptverfahrens („instruction définitive“) mit der Hauptverhandlung („audience“)203: „On passe de l’obscurité au plein jour“.204 Eine unmittelbar-persönliche Kenntnisnahme bzw. Inaugenscheinnahme der Beweismittel durch das Gericht sollte die optimale Wahrheitsfindung garantieren. Erst jetzt durfte der Verteidiger tätig werden. War sein Handlungsspielraum auch beschränkt, lag darin doch ein wesentlicher Fortschritt gegenüber dem alten Prozess.205 Im Ergebnis ist in Frankreich damit ein Mittelweg eingeschlagen worden. Die Verfasser des Code d’Instruction Criminelle von 1808 sprachen sich gegen die Übernahme des englischen „accusatorischen“ Systems aus. Die Revolution wollte nun den in der „Grande Ordonnance“ geregelten Inquisitionsprozess nicht radikal verändern. Das „système mixte“206 ist abschließend so zu charakterisieren: a) Das Vorverfahren blieb schriftlich und geheim und ließ die Mitwirkung der Verfahrensbeteiligten nicht zu. Demgegenüber setzte man für die Hauptverhandlung das englische Recht um. Damit behielt die Schriftlichkeit eine wichtige Rolle. Während sich das englische Strafverfahren von Anfang bis Ende nach dem Prinzip der Privatklage richtete, blieb das Vorverfahren des französischen Prozesses inquisitorisch.207 b) Bezüglich des staatlichen Einschreitens im Prozess war der Staat im französischen Modell durch die amtliche Sammlung und schriftliche Sicherung des Beweismaterials der unbestrittene Herr der Beweisaufnahme.208 Diese Position 201
Eb. Schmidt, Einführung, § 288. Vgl. z. B. Geppert, Unmittelbarkeit, S. 50 ff. 203 Vgl. Art. 310 ff., dazu u. a. Esmein, Histoire de la Procédure criminelle, S. 539; Daniels, Grundsätze, S. 97, § 147, S. 175, § 320 ff. 204 Esmein, Histoire de la Procédure criminelle, S. 539. 205 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 56. 206 Vgl. Geppert, Unmittelbarkeit, S. 43 f., 52. Zum Vergleich der französischen und englischen Rechtssysteme damaliger Zeit siehe Stephen, History, S. 504 ff.; Esmein, Histoire de la Procédure criminelle, S. 418. 207 Ausdrücklich Feuerbach, Mündlichkeit, Bd. 2, S. 338, ansonsten vgl. supra, Fn. 193. 208 Art. 310 ff., 266 ff.; Glaser, Handbuch 1, S. 149, 151; Eb. Schmidt, Einführung, § 285. Die Fragen in den Vernehmungen wurden vom Vorsitzenden gestellt. Die Prozessbeteiligten durften Fragen nur mit der Erlaubnis des Vorsitzenden bzw. durch ihn stellen, siehe Art. 319 und dazu Daniels, Grundsätze, S. 181, § 335 f. 202
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behält er im Übrigen noch bis heute im sog. kontinentaleuropäischen Modell bei, sei es durch den Richter oder die Staatsanwaltschaft. Auch wenn damit ein Kennzeichen des historischen Inquisitionsprozesses fortexistiert, bedeuten die Kautelen des neuen Strafprozessrechts (Mündlichkeit, Öffentlichkeit, Unabhängigkeit des Richters und Stellung des Angeklagten als Prozessbeteiligter) doch einen substantiellen Fortschritt gegenüber dem alten Prozess.
4. Ziel der materiellen Wahrheit Neben der neuen Weichenstellung in der Struktur der Strafrechtspflege blieb es bei der Ermittlung der Wahrheit als Ziel des Verfahrens. Im kanonisch-italienischen Recht war ein historisch gegebener Sachverhalt vom Richter aufzuklären, um eine Buße209 als Strafübel zu verhängen. Nach der Rezeption dieses Prozesses in Deutschland durch die Bambergiensis und Carolina war das Verbrechen eine Verletzung der Rechtsordnung.210 Mit der Aufklärung wurde diese Verletzung auf einen empirisch wahrnehmbaren Sozialschaden bezogen, was Beccaria mit der Formulierung zum Ausdruck brachte, dass die Strafe „nach dem der Gesellschaft zugefügten Schaden“ zu bemessen sei. Das ist der Ausgangspunkt für die spätere Auffassung des Strafrechts als ultima ratio zum Rechtsgüterschutz. Ungeachtet des neuen Bezugspunktes bleibt es aber beim Festhalten an der Ermittlung der materiellen Wahrheit.211
II. Ablehnung des „accusatorischen“ Systems 1. Das englische Strafverfahren wurde in der Reformbewegung „accusatorisch“212 genannt, mit dem Hinweis auf den Einfluss der Parteien auf die Beweisaufnahme im Vorverfahren und in der Hauptverhandlung. Der Richter war trotz seiner Aktenkenntnis nur für die Prüfung der Zulässigkeit von Beweismitteln zuständig.213 Das bringt zum Ausdruck, dass der englische Prozess ein Parteiprozess zwischen Ankläger und Beschuldigtem war. Dem ist bis heute so. Die Beweisaufnahme oblag und obliegt hier den Parteien. Der Ankläger sammelte sein Beweismaterial und legte es dem Richter – zumeist in öffentlicher Verhandlung vor, sei es im summarischen
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Dazu Ohst, Pflichtbeichte, S. 50 ff. mit Nachweisen. Vgl. dazu z. B. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 40, 51. 211 Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, VIII („Einteilung der Verbrechen“), S. 65. Vgl. dazu Schünemann, Festschrift für Roxin I, S. 27. 212 Vgl. darüber z. B. Glaser, Handbuch 1, S. 187, 214 f. 213 Siehe Mittermaier, Engl. Strafverfahren, S. 313, 421; dazu Geppert, Unmittelbarkeit, S. 27 ff., 30. 210
B. Die Entstehung der Hauptverhandlung
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Verfahren214 ohne Jury oder im ordentlichen Verfahren des „indictement“.215 Eine Vernehmung des Angeklagten war nicht vorgesehen,216 er (bzw. sein Verteidiger) durfte ebenso Entlastungsbeweise vorlegen. Im summarischen Verfahren wurden die Beweisergebnisse protokolliert und vor dem Urteil dem Beschuldigten vorgelesen. Die für das Vorverfahren vorgesehene Sammlung des Beweismaterials im ordentlichen Verfahren des „indictement“ diente dazu, den Angeklagten über die Beweissituation in Kenntnis zu setzen, nicht unmittelbar seiner Verwertung in der Hauptverhandlung. Das Vorverfahren endete mit der Entscheidung „discharged“ oder mit der gerichtlichen Übergabe der Protokolle an die Anklage-Jury („grand jury“).217 Diese entscheidet wiederum über eine Verweisung an das erkennende Gericht der Hauptverhandlung („petty jury“). Zwei weitere Verfahrensarten des ordentlichen Verfahrens bestehen (1) in der schriftlichen Anklageerhebung ohne Voruntersuchung (durch „information“) gegenüber der „petty jury“ ohne Beweisführung der Parteien und (2) in der ausschließlich von Amts wegen zu tätigenden Beweisaufnahme bei Todesfällen mit zweifelhaften Todesursachen.218 2. Der gute Ruf des englischen Strafverfahrens verdankte sich, der englischen Regierungspraxis entsprechend, seiner Absage an den gewissermaßen absolutistischen Richter. War die Strafrechtspflege auch nicht frei von Willkür, die Subjektstellung des Beschuldigten war erkennbar in den Maximen der adversatorischen Anklage und der mündlichen Hauptverhandlung vor einer Jury.219 Eben der Anklagegrundsatz, die öffentliche Hauptverhandlung und das Geschworenengericht waren denn auch die Errungenschaften der Reform in Frankreich und nachfolgend in Deutschland und vor allem die Abschaffung der Folter. Hinzu kam aber, als Fortführung der inquisitorischen Struktur, die genannte Aufspaltung des Inquisitionsrichters in den erkennenden Richter und den Untersuchungsrichter, dem in Frankreich durch den Staatsanwalt assistiert wurde.220
III. Die Rezeption des französischen Systems in Deutschland In der deutschen Diskussion bestand Einigkeit darin, dass sich der alte Inquisitionsprozess überlebt hatte. Das betraf nicht nur seinen absolutistischen Charakter und das Beweisrecht, sondern seine praktischen Unzulänglichkeiten, insbesondere 214 Siehe Mittermaier, Engl. Strafverfahren, S. 90 ff.; Glaser, Handbuch 1, S. 137 ff.; Geyer, Lehrbuch, S. 111 f., Geppert, Unmittelbarkeit, S. 27; auch Herrmann, Reform, S. 315 f. 215 Siehe Mittermaier, Engl. Strafverfahren, S. 64 ff. 216 Vgl. Geyer, Lehrbuch, S. 117; Herrmann, Reform, S. 419 ff. 217 Vgl. Herrmann, Reform, S. 313 ff. 218 Mittermaier, Engl. Strafverfahren, S. 96 ff., 130 ff.; Zachariae, Handbuch 1, S. 162 f. 219 Vgl. Stephen, History, S. 319 ff., 425 ff.; ferner Geppert, Unmittelbarkeit, S. 25. 220 Für Differenzierungen bei der damaligen Folter vgl. Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, § 3 III 2, S. 85 ff.
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Kap. 1: Die mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung
seine Langwierigkeit.221 Das kommt noch in der Einführung der Staatsanwaltschaft in Preußen im Jahre 1848 zum Ausdruck, die von der Regierung vornehmlich deshalb vorangetrieben wurde, weil man der Justiz die effektive Verbrechensbekämpfung nicht mehr zutraute.222 Strittig war hingegen die Frage, ob man der französischen Reform folgen sollte. Dieser Streit wurde namentlich von Feuerbach und Mittermaier zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausgetragen.223 Beide befürworteten die Einführung eines mündlichen Verfahrens224 nach dem englischen Vorbild. Während Feuerbach die „dreyfache Person“ des Inquisitionsrichters noch verteidigte und damit die Einführung der Staatsanwaltschaft ablehnte, votierte Mittermaier für letztere. In der Ablehnung des französischen Modells des Geschworenengerichts war man sich in Deutschland hingegen einig, sofern die französische intime conviction das subjektive Fürwahrhalten die Wahrheit ersetze und damit dem Irrtum freie Bahn geschaffen werde.225 Für die deutsche Tradition war es nicht vermittelbar, dass es einem Gericht verboten war, Urteile zu begründen, wie dies in Frankreich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein der Fall war. Weil der Code d’Instruction Criminelle von 1808 während der Herrschaft Napoleons in den linksrheinischen Gebieten Rheinpreußens, Rheinbayerns und Rheinhessens eingeführt wurde und in diesen Gebieten bis 1849 fortgalt, gab er dadurch Deutschland wichtige Impulse für eine grundlegende Abschaffung des alten Inquisitionsverfahrens und war Vorbild für die Reformen und letztendlich für die spätere Entstehung der Reichsstrafprozessordnung (RStPO) von 1877.226 Die französische strafprozessuale Gesetzgebung als rezipiertes Partikularrecht beeinflusste die späteren Reformen in den weiteren deutschen Einzelstaaten, die wiederum neue 221 Detailliert zur Diskussion siehe Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 147 – 174, zur Langwierigkeit S. 160 ff. 222 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 9 Rn. 1; Schulz, in: Durand/Mayali/Schioppa/Simon (Hrsg.), Staatsanwaltschaft, S. 311 ff. mit Nachweisen. 223 Feuerbach, Mündlichkeit, Bd. 1, S. 301; Bd. 2, S. 260 ff.; Mittermaier, Mündlichkeit, S. 41 ff., 196 ff., insbes. 212 ff., 245 ff.; ders., Engl. Strafverfahren. Vgl. zur Kritik der damaligen Zeit auch Glaser, Handbuch 1, S. 172 ff.; Planck, Systematische Darstellung, S. 157, 341 ff.; Zachariae, Handbuch 1, S. 46, Handbuch 2, S. 203 f. und darüber Herrmann, Reform, S. 52 ff. m. w. N. Über die Gründe für die Rezeption des französischen Modells ausführlich Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft, S. 132 ff., 172 ff., 202 ff. 224 Vgl. Feuerbach, Mündlichkeit, Bd. 1, S. 295 ff.; Mittermaier, Mündlichkeit, S. 22, 110, 245 ff. und passim. 225 Vor allem Feuerbach, Geschworenengericht, S. 135 ff.; Mittermaier, Mündlichkeit, 367 ff. Dazu infra, Kapitel 2 A. I. 5. 226 Vgl. Glaser, Handbuch 1, S. 162 ff., 168 mit Nachweisen über die Reformbewegung in Fn. 4; Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S. 822; v. Hippel, Lehrbuch, S. 43 f.; Eb. Schmidt, Einführung, §§ 284, 286; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 44 f.; siehe für heute Haas, Strafbegriff, S. 129 ff.; Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, § 3 III 1, S. 84; Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft, S. 132 ff., 172 ff., 202 ff.; ferner über die Einzelheiten der Rezeption Koch, ZIS 2009, 545 ff.
B. Die Entstehung der Hauptverhandlung
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Strafprozessordnungen mit den liberalen Grundsätze erließen.227 Was den Grundsatz mündlicher Hauptverhandlung betrifft, enthielten die Partikulargesetze allgemeine Bestimmungen darüber.228 Von großer Bedeutung für das Strafverfahren waren ferner die im Jahr 1848 in der Frankfurter Paulskirche beschlossenen „Grundrechte des Deutschen Volkes“ der Nationalversammlung. Dadurch wurden die Mündlichkeit und die Öffentlichkeit des Verfahrens, das Anklageprinzip und die Schwurgerichte proklamiert und in die Reichsverfassung von 1849 eingeführt.229 Der sog. „reformierte“ deutsche Strafprozess als Partikularrecht ist nur vordergründig das Ergebnis der französischen Herrschaft in den linksrheinischen Gebieten. In der Hauptsache folgt er der langjährigen Kritik des alten Inquisitionsprozesses. Die politische Entwicklung bot den erforderlichen Anlass zur Durchsetzung der damaligen unzufriedenen Stimmungslage bezüglich des Strafprozessmodells (vor allem nach den Ereignissen der Demagogenverfolgung),230 beeinflusst wiederum durch die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution und entsprechend durch die strafprozessuale deutsche Literatur, auch wenn diese das englische Modell teilweise bevorzugte.231 In Anlehnung an das französische „système mixte“ behielt man das Untersuchungsprinzip als Grundmaxime des Strafprozesses bei.232 Unabhängig von den Aktivitäten der Prozessbeteiligten blieb das Gericht der Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet.233 Trotz aller Argumente für den englischen Prozess wurde dieser als dem „deutschen Wesen“ fremd abgelehnt.234 Im Hinblick auf Art und Umfang der Sachverhaltskenntnis votierte man bei den Verhandlungen zur Prozessreform in den deutschen Partikularstaaten ganz überwiegend für eine dominierende Rolle des erkennenden Richters, der für seinen Untersuchungsauftrag über die Anträge der Prozessbeteiligten hinausgehen konnte.235 Die Staatsanwaltschaft wurde erst zur Mitte des Jahrhunderts eingeführt, zuerst in Baden und dann 1848 vor allem in Preußen. Die Einleitung des Hauptverfahrens 227
Siehe zu den einzelnen Strafprozessordnungen Planck, Systematische Darstellung. Vgl. ausführlich Geppert, Unmittelbarkeit, S. 85 ff. 229 Siehe RGBl. 1848, 49; ferner Mittermaier, Mündlichkeit, S. 281 ff.; Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S. 822; v. Hippel, Lehrbuch, S. 44; Eb. Schmidt, Einführung, § 292; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 83; Achenbach, Festschrift Oberlandesgericht Oldenburg, S. 180 f., 183. 230 Betont u. a. von Eb. Schmidt, Einführung, §§ 284, 290; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 51. 231 Zur Uneinigkeit vgl. Zachariae, Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, S. 7 ff. Für die Frage, warum ein kontradiktorischer Parteiprozess beim reformierten Strafverfahren nicht passend gewesen wäre, vgl. heute vor allem Haas, Strafbegriff, S. 341 f. 232 Vgl. Eb. Schmidt, Einführung, §§ 284 ff., 287 ff. Zu den Gründen für die Rezeption des französischen Modells Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft, S. 132 ff., 172 ff., 202 ff.; ferner über die Einzelheiten der Rezeption Koch, ZIS 2009, 545 ff. 233 Ausdrücklich Koch, ZIS 2009, 543 m. w. N. 234 Siehe Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft, S. 206 m. w. N.; Gössel, Festschrift für Meyer-Goßner, S. 199 ff.; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 61. 235 Vgl. darüber Haas, Strafbegriff, S. 129 ff., 133 ff. mit Nachweisen. 228
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Kap. 1: Die mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung
wurde durch den Anklagegrundsatz - nach der damaligen Terminologie236 die „Anklageform“, nicht das „Anklageprinzip“ - ersetzt, die richterliche Verantwortung für die Beweiserhebung dafür beibehalten.
C. Die Verteilung der Prozessrollen in der deutschen Reichsstrafprozessordnung von 1877 Die Reichsgründung ab 1870/71 führte zur Rechtsvereinheitlichung auch im Strafprozessrecht. Bereits davor ersuchte der Norddeutsche Reichstag auf Antrag der nationalliberalen Abgeordneten Wagner und Planck den damaligen Bundeskanzler Bismarck durch Beschluss vom 18. April 1868 um die Vorbereitung und Vorlage der Entwürfe gemeinsamen Strafrechts, Strafprozesses sowie der dadurch bedingten Vorschriften der Gerichtsorganisation.237 Bismarck beauftragte den preußischen Justizminister Leonhardt mit der Ausarbeitung der Entwürfe, der dies wiederum auf den Juristen Friedberg übertrug. Fast gleichzeitig mit dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuches wurde der erste Entwurf einer Strafprozessordnung (sog. Entwurf I) im Januar 1873 veröffentlicht.238 Grundsätzlich folgte dieser Entwurf dem in den Partikularstaaten rezipierten linksrheinisch-französischen Strafprozess. Zu den Neuerungen239 zählte – neben der Einführung der Geschworenengerichte als einer Mischform von Schöffengerichten und Jurygericht – eine grundsätzlich parteiöffentliche Phase des Vorverfahrens. Staatsanwaltschaft, Beschuldigter und Verteidigung durften bei der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen sowie Einnahme des Augenscheins anwesend sein (§ 154 Abs. 1). Gem. § 156 konnte der Beschuldigten von der Teilnahme ausgeschlossen werden, wenn zu besorgen stand, dass die zu vernehmenden Personen durch seine Gegenwart in einer der Ermittlung der Wahrheit nachteiligen Weise beeinflusst werden könnten; der Beschuldigte musste aber im Anschluss über den Inhalt der Aussagen in Kenntnis gesetzt werden (§ 156 Abs. 2). Die Vernehmung des Beschuldigten selbst erfolgte gem. § 153 Abs. 2 StPO wiederum in Abwesenheit von Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Nach den Materialien entspreche es jedoch nicht dem „Wesen der Sache …, in der Voruntersuchung alle überhaupt zugänglichen Beweisquellen vollständig zu erschließen und auf diese Weise den Schwerpunkt des Verfahrens in die Voruntersuchung zu verlegen, die Hauptverhandlung dagegen zu einer bloßen Schlussverhandlung her236 Dazu Zachariae, Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, S. 31 ff.; heute Haas, Strafbegriff, S. 140 und passim. 237 Zu dieser und der folgenden geschichtlichen Entwicklung siehe Glaser, Handbuch 1, S. 188 ff.; v. Hippel, Lehrbuch, S. 45 ff.; Eb. Schmidt, Einführung, §§ 297 ff.; Schubert/Regge (Hrsg.), Strafprozessordnung von 1877, S. 1 ff., 47 f. 238 GA 21 (1873), S. 5 ff.; abgedruckt auch in Schubert/Regge (Hrsg.), Strafprozessordnung von 1877, S. 113 ff. 239 Die Neuerungen stehen ausdrücklich in den Motiven zum Entwurf I, S. 6.
C. Die Prozessrollen in der deutschen Reichsstrafprozessordnung von 1877
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abzudrücken“240. Zu bevorzugen wäre ein Mittelweg zwischen dem geheimen und inquisitorischen Vorverfahren französischen Vorbilds und dem öffentlichen und kontradiktorischen Vorverfahren englischer Art.241 Dieser Mittelweg wurde in den Teilen der Literatur kritisiert, die sich für stärkere Mitwirkungsbefugnisse des Beschuldigten nach englischer Art ausgesprochen hatte.242 Das parteiöffentliche Vorverfahren wurde später beim Entwurf III eingeschränkt. Der Entwurf I wurde dem Bundesrat vorgelegt und wiederum von einer von ihm eingesetzte Kommission von elf Mitgliedern ab März 1873 beraten. Sie nahm kleine, nicht grundlegende Änderungen vor. Dem folgte im Juli 1873 der zweite Entwurf. Beide Entwürfe stießen auf heftige Kritik, sofern zum Teil auf das Geschworenengericht verzichtet und dafür das Schöffengericht eigeführt wurde. Deshalb verwies der Bundesrat den Entwurf II an eine weitere Kommission zur Prüfung. Sie legte Mai 1874 einen dritten Entwurf vor, in dem dem Geschworenengericht wieder größere Bedeutung eingeräumt und das Schöffengericht auf das Amtsgericht beschränkt wurde.243 Er wurde am 29. Oktober 1874 dem Reichstag vorgelegt, mit der Folge intensiver Beratungen von April 1875 bis November 1876. Nach einer weiteren Diskussion im Plenum wurde die Strafprozessordnung am 1. Februar 1877 verkündet, nachdem bereits kurz davor am 27. Januar 1877 das Gerichtsverfassungsgesetzt verkündet worden war. Beide Gesetze traten zum 1. Oktober 1879 in Kraft.244 Die mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung war bereits in der Partikulargesetzgebung unantastbar gewesen.245 Schon bei den Beratungen zum ersten Entwurf standen die Prinzipien der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung außer Frage. Sie lassen sich den Vorschriften zur Hauptverhandlung (z. B. das Verbot der Verlesung früherer Protokolle, in § 204 Entwurf I, § 209 Entwurf II und § 212 Entwurf III – heute der 250 StPO) und den Motiven zu einzelnen Vorschriften entnehmen.
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Motive, in: Hahn, Materialien, Bd. 3, Abt. 1, S. 158. Vgl. dazu Herrmann, Reform, S. 65 ff.; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 101 f. 241 Motive, in: Hahn, Materialien, Bd. 3, Abt. 1, S. 159. 242 Zur damaligen Kritik der Literatur siehe Geppert, Unmittelbarkeit, S. 102 m. w. N. 243 Vgl. Änderungsbeschluss Nr. 33 in Schubert/Regee, Strafprozessordnung von 1877, S. 432. 244 Vgl. zu den Entwürfen: GA 22 (1874), S. 326 ff. (Entwurf III); v. Hippel, Lehrbuch, S. 47 ff.; Eb. Schmidt, Einführung, § 299; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 101 ff.; Schubert/Regee, Strafprozessordnung von 1877, S. 149 ff. (Protokolle der Kommission), 293 ff. (Enwurf II); 364 ff.; 667 ff. (StPO vom 1. Februar 1877). 245 Vgl. supra, Fn. 228.
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Kap. 1: Die mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung
D. Ergebnis I. Die von der heutigen Rechtsgeschichte hervorgehobenen Fortschritte des Inquisitionsverfahrens gegenüber dem altgermanischen Recht, unter anderem im Sinne der Rationalisierung des Beweisverfahrens, relativieren sich durch die inhärente Untauglichkeit des Verfahrens zur Erforschung der erwünschten materiellen Wahrheit, was auf die verfahrensbeherrschende Stellung des durch Folter abgenötigten Geständnisses zurückzuführen ist. Die Gründe für die verurteilende Wirkung des Geständnisses sind vielfältig. Ausgangspunkt war die kirchenrechtlich faktische Abschaffung des Gottesurteils durch das Verbot der Teilnahme von Klerikern im Jahr 1215 durch das IV. Laterankonzil vom Papst Innozenz III. mit der Konsequenz eines Bedeutungsverlustes auch im weltlichen Recht. Durch den zusätzlich allmählichen Wegfall des Zweikampfs entstand im Beweisrecht eine Lücke, die durch die sog. „rationalen“ Beweismitteln des kanonischen Rechts bzw. nun des inquisitorischen Prozessmodells ausgefüllt wurde: Das Geständnis und der Zeugenbeweis. Die theologischen Gründe, die überhaupt zum gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess geführt haben, sind für die „Jagd nach dem Geständnis“ ganz zentral. Die neue Dominanz des Geständnisses ist auf die aus dem kanonischen Recht übernommene Schwerpunktsetzung des Inquisitionsverfahrens auf die Rationalität der Beweismittel sowie auf die kirchliche Beicht- und Bußdisziplin als Einbekenntnis der Sünden und Zeichen von Reue und Unterwerfung unter die Strafe zurückzuführen. Hauptsächlich spielten die von den gesetzlichen Beweisregeln eingeführten Einschränkungen eine wesentliche Rolle für die große Bedeutung des Geständnisses im Inquisitionsverfahren. Weil Zeugen nicht immer zur Verfügung standen und ein freiwilliges Geständnis schon allein wegen der barbarischen Strafen des Mittelalters und der frühen Neuzeit unrealistisch war, wurde die Forderung nach einem vollen Beweis jedenfalls in den meisten Fällen nur durch das durch Folter erzwungene Tatgeständnis erfüllt. Die Offenlegung der Wahrheit durch die Folter war dabei gar nicht das vordergründige Ziel, sondern die Erzwingung des formalen Geständnisses. Die gesetzlichen Beweisregeln als Verfahrensleitung, die vor allem durch die Anforderung von Beweismittel nicht magischer Natur als Garantie für den Beschuldigten fungieren sollten, verwandelten sich also in einem Mechanismus zu seinem Nachteil. Eine durch Zwang bewirkte Selbstbeschuldigung kann keinen Anspruch auf Wahrheit erheben und als Urteilsgrundlage dienen, weil sie zu unwahren Aussagen führen kann. Zur Erforschung der Wahrheit war die peinliche Befragung ein wenig geeignetes Mittel. Der Rückblick in die Prozessgeschichte ist von Bedeutung, um den Vergleich mit den heutigen Tendenzen im Strafprozess ziehen zu können. Inwiefern sich heute auch eine „Jagd nach dem Geständnis“ in der globalen Entwicklung des Strafverfahrens etabliert, bedarf der Erörterung. Die alte Rolle der Folter wird heute durch die Praxis
D. Ergebnis
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der Urteilsabsprachen mit der vielfach anzutreffenden Abnötigung eines der Anklage folgenden Geständnisses übernommen.246 II. Die Französische Revolution steht für die Einführung der Hauptverhandlung und die Aufspaltung der Person des Richters in zwei Personen durch die Einführung der Staatsanwaltschaft, die ein halbes Jahrhundert später in Deutschland nachgeholt wurde. Wie später im reformierten Verfahren in Deutschland wurde für das Hauptverfahren, dem Schwerpunkt des Verfahrens,247 die Schriftlichkeit aufgegeben. So sieht der napoleonische Code d’Instruction Criminelle von 1808 ein „système mixte“ mit einer schriftlichen Ermittlungsphase wie im Inquisitionsverfahren und einer Hauptverhandlungsphase vor, in dem hier im Unterschied zum englischen Juryverfahren die Beweisaufnahme in richterlichen Händen belassen wurde. Damit erwuchs das erkennende Gericht zur Herrin des Beweisgangs und damit der Beweismittel. Allerdings blieb die heimliche Voruntersuchung erhalten, sodass insofern von einer „Ergänzung“248 der Wahrheitsfindung durch die umfassende richterliche Beweisaufnahme gesprochen werden kann. III. Die Reform des Strafprozesses im 19. Jahrhundert bestand also in der Hauptsache in der Einführung der Hauptverhandlung, aber auch in einer Art Garantieerklärung der Subjektstellung des Beschuldigten und seiner Rechte beim Verhör, im Verbot von der Ausübung physischen bzw. psychischen Zwangs, zugleich in der Betrachtung der Vernehmung nicht als auf ein Geständnis abzielend bzw. die Beachtung anderer Alternativen im Beweisverfahren. Das gegenwärtige Verfahren folgt den Prinzipien,249 die dem Inquisitionsprozess bereits zu Beginn seine Struktur gegeben haben: die Einleitung und Durchführung des Verfahrens ex officio (von Amts wegen) und seine Ausrichtung an der materiellen Wahrheit, wofür die Eignung des alten Inquisitionsprozess aufgrund der strengen gesetzlichen Beweisregeln und des konsequenten Rückgriffs auf Folter wie oben angeführt fraglich ist. Der Begriff „inquisitorisch“ lässt sich demnach theoretisch, als Idealtyp im Sinne Max Webers, 246 Dazu siehe auch die Zusammenfassung (Kapitel 9). Schon früh bezüglich des amerikanischen plea bargaining Langbein, Torture and plea bargaining, S. 3, 8 ff., 12 ff. Auch zum Vergleich der Absprachen mit der Folter Dencker/Hamm, Der Vergleich im Strafprozeß, S. 83; Schünemann, NJW 1989, 1901 f.; ders., Festschrift für Baumann, S. 373; Weigend, JZ 1990, 778; Ferrajoli, Diritto e ragione, Parte Cuarta, X.45.5; Stübinger, JZ 2008, 800; LR/Stuckenberg, § 257c Rn. 18; Sickor, Das Geständnis, S. 423 ff.; Greco, Strafprozesstheorie, S. 282, u. a. Wieviel an dieser These dran ist, zeigt ja der Entwurf des zunächst gescheiterten VerSanG, nach dem der Verband mit einem Geständnis in Vorleistung treten muss, um in den Genuss einer (teilweisen) Absolution zu kommen – ohne dass der Unternehmensverteidiger am Prozess des Geständnisses beteiligt werden darf. Zum Entwurf vgl. Heim, in: Ruhmannseder/Lehner/ Beukelmann (Hrsg.), Compliance aktuell, 10105 Rn. 1 ff. 247 „Herzstück des Verfahrens“ LR/Kühne, Einl. G Rn. 40. 248 Als Ergänzung betont von Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 19. Glaser, Handbuch 1, S. 182, verglich es mit dem Aufsetzen eines neuen Stockwerkes einem alten Gebäude. 249 Vgl. Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 17 f., 29, 49 m. w. N.; Sellert, Feschrift für Scupin, S. 181; auch bereits Eb. Schmidt, Einführung, § 70. Nur rechtsgeschichtlich heute z. B. Meder, Rechtsgeschichte, S. 166 f.
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Kap. 1: Die mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung
oder historisch als Bezeichnung für eine bestimmte Ausprägung des Idealtyps verwenden.250 Die strukturbildenden Prinzipien sind zweierlei,251 wenn man die Aufnahme und den Gang der Untersuchung nicht unterscheidet, oder dreierlei, sofern man an dieser Unterscheidung festhält. Dann ergibt sich folgende Dreigliederung: 1. Offizialprinzip: die Ingangsetzung des Strafverfahrens nicht durch eine Privatperson, sondern von Amts wegen; 2. Untersuchungsprinzip: die Beweiserhebung und -sammlung von Amts wegen; 3. Prinzip der materiellen Wahrheit, im 12. und 13. Jahrhundert wie in der scholastischen Philosophie als Korrespondenz von Innen und Außen, als Übereinstimmung von Vorstellung und Wirklichkeit (adaequatio intellectus et rei) verstanden. Idealtypisch müsste der Strafprozess dementsprechend für eine gerichtliche Feststellung der wahren Schuld oder Unschuld des Angeklagten durch eine umfassende Erforschung des realen Sachverhalts ausgestaltet sein, ohne dass der Richter sich für seine Entscheidung mit dem prozessualen Verhalten der Parteien begnügen dürfte. IV. Das heutige Konzept des Untersuchungsgrundsatzes bzw. die Erforschung der materiellen Wahrheit unter der Verantwortung des Richters wurde von der Rezeption des französischen Verfahrensmodells als reformiertes Partikularrecht und auch im Gesetzgebungsverfahren der RStPO übernommen.252 In den Motiven findet sich kein Zweifel daran, „daß es sich im Strafverfahren weder auf Seiten des Staates, noch auf Seiten des Angeklagten um verzichtbare Parteirechte, vielmehr um die Ermittlung materieller Wahrheit handelt, daß deshalb auch noch gegenwärtig das inquisitorische Prinzip im Hauptverfahren zur Geltung kommen muß, insofern es nämlich die Pflicht des Gerichts ist, den in der Hauptverhandlung neu hervortretenden Belastungs- und Entlastungsbeweisen ohne und sogar gegen den Antrag der Parteien selbständig nachzugehen. Die Thätigkeit des erkennenden Gerichts beschränkt sich mithin nicht wie im Civilprozeß auf die Prüfung der von den Parteien angetretenen Beweise, sondern besteht zugleich in der selbständigen Herbeischaffung noch fehlender Entlastungs- und Belastungsbeweise von Amts wegen (…)“253. 250 Über die Unterschiede zwischen einem historischen und einem theoretischen Inquisitionsprozess vgl. Ferrajoli, Diritto e ragione, Parte Terza, IX.39.2. 251 So von Zachariae, Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, S. 33. 252 „Aus dem Prinzip des Anklageprozesses folgt nicht, daß, wie im Civilprozeß, so auch im Strafprozeß die Thätigkeit des Richters nach jeder Richtung hin durch die Anträge des Anklägers und des Beschuldigten bedingt werden muß. Vielmehr ergibt sich aus der Natur der Strafsache als einer Sache des öffentlichen Rechts, daß der Richter ebenso berechtigt als verpflichtet sein muß, die Wahrheit nöthingenfalls auch durch andere Mittel als durch die von dem Kläger oder von dem Beschuldigten an die Hand gegebenen, zu erforschen, sowie daß er bei der rechtlichen Beurteilung der That und bei der Abmessung der Strafe nicht an die Anträge des Klägers gebunden sein darf.“ Motive, in: Hahn, Materialien, Bd. 3, Abt. 1, S. 146 f.; darüber Haas, Strafbegriff, S. 140, auch wenn kritisch, vgl. S. 167 ff. 253 Motive, in: Hahn, Materialien, Bd. 3, Abt. 1, S. 152.
D. Ergebnis
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Die ursprünglichen Fassungen der deutschen Reichsstrafprozessordnung enthielten in § 244 (bis 1924: § 243 RStPO) nicht die Wahrheitserforschungspflicht des Gerichts in der Hauptverhandlung. Das Reichsgericht entwickelte auf der Grundlage dieser Vorschrift in Verbindung mit § 155 Abs. 2 StPO (bzw. mit dem früheren § 153 Abs. 2 StPO), der die gerichtliche Untersuchungspflicht mit Antragsunabhängigkeit regelte und den es für den Kernpunkt des gesamten Strafverfahrens hielt, Leitlinien für die Beweisaufnahme und letztendlich eine jahrzehntelange Rechtsprechung zur Amtsaufklärungspflicht,254 die erst durch das Gesetz vom 28. Juni 1935255 in den Gesetzestext aufgenommen wurde.
254 Vgl. dazu Rieß, Festschrift Reichsjustizamt, S. 373 ff., 423; Engels, Die Aufklärungspflicht, S. 165; Hagemann, Entstehung, Entwicklung und Bedeutung, S. 144; Foth, Festschrift für Widmaier, S. 224 ff.; Alsberg/Güntge, Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 1 ff.; SKStPO-Frister, § 244 Rn. 1 ff.; LR/Becker, § 244 Entstehungsgeschichte. 255 RGBl. I 1935, S. 844 ff.
Kapitel 2
Wahrheit und Verfahren A. Strafprozessmodelle und Wahrheitserforschung I. Das kontinentaleuropäische Modell 1. Richterliche Aufklärung im Dienst der materiellen Wahrheit a) Das Festhalten am Untersuchungsgrundsatz aa) Die nachfolgende Analyse führt in systematischer Absicht über den rechtshistorischen Überblick hinaus. Der historische Ausgangspunkt liegt in der inquisitorischen Struktur des Verfahrens, mit der Methode der amtlichen Beweiserhebung. An ihr hat der deutsche Gesetzgeber lange Zeit nicht grundlegend gerüttelt. Das änderte sich aber nach und nach unter dem euphemistischen Topos „Effektivität der Strafverfolgung“ und kumulierte in der Novelle zur „Verständigung“, namentlich § 257c Abs. 1 S. 2 StPO. Dessen Verweis auf § 244 Abs. 2 StPO, mit dem Gericht an sich auferlegt wird, die Wahrheit zu erforschen, mag da ein letztes Aufbäumen sein. Das Gericht ist innerhalb der durch die Anklage gezogenen Grenzen zur selbstständigen Untersuchung berechtigt und verpflichtet (§ 155 Abs. 2). Der Hauptverhandlung obliegt nach weiterhin herrschender Auffassung die umfassende Rekonstruktion des wahren Sachverhalts, d. h. der materiellen Wahrheit.1 Dafür gibt es unterschiedliche Bezeichnungen: Instruktionsmaxime, richterliche Aufklärungspflicht, Amtsermittlungsgrundsatz, Untersuchungsgrundsatz, Ermittlungsgrundsatz, Inquisitionsprinzip. Um nicht ohne Not an die historische Gestalt des Inquisitions1 RG Rspr. 6, 453, 454; BVerfG NStZ 1987, 419 und insbesondere die Entscheidung zum Verständigungsgesetz vom 19. März 2013 (2 BvR 2628/10), BVerfGE 133, 168. Für die Literatur aus dem 18. Jahrhundert vgl. Haas, Strafbegriff, S. 112 f., Fn. 203 f. Statt vieler Peters, Strafprozeß, § 3, S. 15; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 15 Rn. 3 ff.; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 18 Rn. 15; Wessels, JuS 1969, 1. Prozessordnungsübergreifend kann man § 138 ZPO Abs. 1 in den Blick nehmen, wonach die Parteien „ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben“ haben. Erstaunlicherweise taucht damit „Wahrheit“ in den Vorschriften über bürgerliche Rechtsstreitigkeiten auf, nicht aber im Strafverfahrensrecht – ausser bezüglich der Belehrung der „Zeugen zur Wahrheit“ (§ 57 StPO). Dies wurde bereits bei der Beratung der Reichsstrafprozeßordnung in dem Sinne festgestellt, dass der „Satz, daß der Strafprozeß die Herstellung der materiellen Wahrheit als oberstes Ziel sich zu setzen habe, […] nirgends ausdrücklich ausgesprochen“ ist, das Strafverfahren davon „aber als oberstes Axiom“ beherrscht wird, s. bei Hahn, Materialien, Bd. 3, Abt. 1, S. 497 ff., 500.
A. Strafprozessmodelle und Wahrheitserforschung
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prozesses vor der Reform zu erinnern, spricht man für die Beweiserhebung zumeist von Instruktionsmaxime. Sie gilt im gesamten Verfahren. Das Gericht, das die Beweisaufnahme und Beweissammlung im Hauptverfahren verantwortet, kann dafür anders als im akkusatorischen Verfahren über die Beweisanträge der Prozessbeteiligten hinausgehen. Insbesondere ist es nicht an Tatsachenbehauptungen bei einem Geständnis gebunden, sondern hat dieses vielmehr zu überprüfen. Dies gilt selbst bei einer Verständigung nach § 257c ff.2 bb) Dies wird teilweise mit Hinweis auf den Wortlaut („für die Entscheidung von Bedeutung“) von § 244 Abs. 2 StPO zurückgewiesen. Eine teleologische Auslegung ergebe, dass die Instruktionsmaxime historisch zu relativieren sei.3 Für dieses Verständnis von „Bedeutung“ wird namentlich auf einen konsenstheoretischen Begriff der Wahrheit rekurriert. Weil nach diesem Begriff, auf den im Folgenden noch systematisch einzugehen sein wird, der Konsens nicht nur ein Indiz der Wahrheit ist, sondern das Kriterium der Wahrheit,4 liege die Zuständigkeit für den Beweis und mithin für die Wahrheit bei allen Prozessbeteiligten. In der Folge soll den Prozessbeteiligten die, wenn auch begrenzte, Befugnis zukommen, den Umfang der Beweisaufnahme zu bestimmen. Damit wäre dem Bedürfnis nach einer konsensualen Verfahrenserledigung eleganterweise bereits bei § 244 Abs. 2 StPO als dem dogmatischen Tür- und Angelpunkt der Verständigung Rechnung getragen.5 cc) Mit diesem Einwand sind zentrale Punkte aufgerufen, die im Folgenden ausgeführt werden: der Begriff und die prozessuale Funktion der Wahrheit sowie die dogmatische Überlegung, ob die Wahrheitserforschung ein rein innerprozessualer Vorgang bei wechselnden Verdachts- bzw. Wahrheitslagen betrifft oder ob auf einem materiellen Zusammenhang zu insistieren ist. Da die dogmatische Überlegung nicht ohne den wissenschafts- und rechtstheoretischen Zusammenhang entschieden werden kann, wird hier letzterer zuerst ausgeführt.
2 BVerfG vom 19. 03. 2018 Rn. 84 („Vor dem Hintergrund des Regelungsziels, die Grundsätze der Amtsaufklärungspflicht des Gerichts und der richterlichen Überzeugungsbildung unangetastet zu lassen, kann § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO zudem nur so verstanden werden, dass das verständigungsbasierte Geständnis zwingend auf seine Richtigkeit zu überprüfen ist.“). 3 Jahn, ZStW 118 (2006), 453. 4 Vgl. bereits die frühe, wenngleich wohlwollende Kritik bei Kaufmann, ARSP 72 (1986), 440, der demgegenüber eine Konvergenztheorie der Wahrheit vertrat. Die Wahrheit entstehe zwar im Diskurs, aber nicht ausschließlich durch den Diskurs. 5 Vgl. Jahn, ZStW 118 (2006), 427 ff., 445 ff., insbes. 453, 457 ff., 461; siehe bereits und ausführlicher zur Diskurstheorie ders., GA 2004, 272 ff. Jahn kann nicht entgegengehalten werden, dass er die Entwicklung bei Habermas nicht kennen würde. Zu Recht weist er darauf hin, dass beim späten Habermas die Sonderfallthese gewissermaßen auf den Sonderfall des Anwendungsdiskurses beschränkt wird. Anders als Jahn, der rechtstheoretisch argumentiert, hat Ignor die Dispositionsbefugnis der Prozessbeteiligten historisch begründet; siehe ders., Geschichte des Strafprozesses S. 281 ff.
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Kap. 2: Wahrheit und Verfahren
Davor bleibt festzustellen, dass die dem zitierten Einwand zugrunde liegende Auslegung nicht zu überzeugen vermag. Gegen sie spricht der Umstand, dass man im reformierten Verfahren nicht zufällig am Untersuchungsgrundsatz festgehalten hat. Dieses Festhalten ist auch keine typisch deutsche Entwicklung.6 Der Kritik ist nur insofern zuzustimmen, als der späte Inquisitionsprozess vor der Reform weithin von einer absoluten Straftheorie bestimmt war. Wenn dieser Hinweis tatsächlich stichhaltig sein sollte, müsste aber zusätzlich dargetan werden, dass der Zusammenhang von Prozessmodell und absoluter Straftheorie zwingend ist. Dies nachzuweisen, dürfte kaum gelingen, wie alleine der Umstand eines Wandels der Straftheorien beim gleichzeitigen Festhalten am Inquisitionsprozess über viele Jahrhunderte zeigt.7 Schon die Einführung des Inquisitionsprozesses im Kirchenrecht hat nicht erkennen lassen, dass sie an eine bestimmte Straftheorie gebunden war. Deshalb kann auch der in Kapitel 1 ausgeführte Umstand, dass das inquisitorische Prozessmodell im Umfeld einer absolutistischen Herrschaft und eben auch absoluter Straftheorien missbrauchsanfällig ist, für einen Nachweis nicht genügen. dd) Weiterhin betont der zitierte Einwand die sog. Waffengleichheit, die naheliegenderweise im Zentrum des adversatorischen Parteiverfahren steht.8 Wenn sie im deutschen Recht nicht ausdrücklich genannt wird, lässt sich daraus wenig folgern.9 Aber genau besehen, eröffnet die richterzentrierte Sachaufklärung für den Beschuldigten sogar eine stärkere Position als im adversatorischen Prozess, in dem die Waffengleichheit nur abwehrrechtlich verstanden wird. Dies setzt allerdings die optimale Kontradiktion und Mitwirkung des Angeklagten bei der Ermittlung der Wahrheit als Bestandteil des Verfahrens voraus. Bei näherem Hinsehen gibt es nämlich auch in einem angloamerikanischen Parteiprozess keine tatsächliche Gleichheit der Prozessbeteiligten, sondern nur unterschiedliche Prozessrollen, deren ebenfalls unterschiedliches Gewicht sub specie Waffengleichheit auszubalancieren ist.10 Auch im angloamerikanischen Prozess ist eine Gleichrangigkeit der Verfahrensbeteiligten kaum möglich. Sie scheitert praktisch daran, dass beide Seiten nicht über dieselben technischen und rechtlichen prozessualen Möglichkeiten verfügen.11 6
Siehe supra, Kapitel 1 B. Vgl. infra, Kapitel 4 A. mit Nachweisen. 8 Kelker, ZStW 118 (2006), 411. 9 In diesem Sinne Bohnert, Die Abschlußentscheidung des Staatsanwalts, S. 420 ff.; LR/ Kühne, Einl. I Rn. 119; Haas, Strafbegriff, S. 342, 357. Über die Meinungsunterschiede bezüglich der sog. Waffengleichheit LR/Kühne, Einl. I Rn. 103, 107, 117 ff., 120 mit Nachweisen. Sandermann, „Waffengleichheit“, S. 4 f., 142 ff. äußert sich entschieden zugunsten der Waffengleichheit im deutschen Strafprozessrecht. De lege lata besteht der Grundsatz der Waffengleichheit nicht, vgl. Jahn, ZStW 127 (2015), 560, 577. 10 Vgl. dazu infra, Kapitel 8 C. II. 2.; Kapitel 8 A. III. 3. b) ee). Für das deutsche Strafprozessrecht bezüglich der sog. Waffengleichheit: Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, Einl. Rn. 88; Rieß, Festschrift für Schäfer, S. 175; Bohnert, Die Abschlußentscheidung des Staatsanwalts, S. 421 f.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 11 Rn. 7. 11 Betont von Rieß, Festschrift für Schäfer, S. 174 f.; Schünemann, GA 2008, 314 ff.; ders., GA 2018, 188, auch 187; Weigend, ZStW 104 (1992) 502: „in dem unüberwindlichen 7
A. Strafprozessmodelle und Wahrheitserforschung
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Von optimaler Kontradiktion und Mitwirkung zu sprechen, heißt allerdings, eine starke Strafverfolgungsmacht bei Wahrung der richterlichen Aufklärung mit einem Ausbau der Verteidigungsrechte zu kompensieren.12 Diese Kompensation ist einem Wechsel zum adversatorischen Modell vorzuziehen, in dem der Verteidigung eine erhöhte Verantwortung aufgebürdet wird. b) Förderung der materiellen Wahrheit durch die richterliche Aufklärungspflicht? Die materielle Wahrheit ist nicht identisch mit dem Untersuchungsgrundsatz.13 Dem Grundsatz nach ist sie Verfahrensziel. Welche Methode der Beweisaufnahme und - sammlung auszuwählen ist, hängt an deren Eignung zur Wahrheitsfindung. An diese Eignung knüpft die Diskussion an. Während eine Seite das kontinentaleuropäische Verfahrensmodell als besonders prädestiniert für die materielle Wahrheitsfindung beurteilt,14 wird die Auseinandersetzung der Parteien im adversatorischen Strafprozesssystem von der anderen Seite als wahrheitsfördernd betrachtet.15 Als gemeinsamer Ausgangspunkt lässt sich festhalten, dass rechtsvergleichend sowohl kontinentaleuropäisch wie angloamerikanisch das Ziel der Wahrheit nicht bestritten wird.16 Zutreffend wird in der lateinamerikanischen Diskussion darauf hingewiesen, dass der Wahrheitsbegriff nicht mit einem spezifischen Verfahrensmodell einhergeht.17 Dabei ist allerdings zu beachten, dass eine unterschiedliche Machtgefälle zwischen dem Staat und jedem seiner Bürger“; ders., ZStW 113 (2001), 304; ders., Festschrift für Rissing-van Saan, S. 763. Besonders akzentuiert für die vor dem Internationalen Gerichtshof zu verhandelnden Fälle Kirsch, StV 2003, 638. Vgl. auch die Debatte über die fehlende Waffengleichheit bei Fällen vor den Internationalen Strafgerichtshöfe in Ambos, in: Eser/Rabenstein (Hrsg.), Strafjustiz, S. 43, 60 f. 12 Das wurde bereits bei der Einführung des Inquisitionsmodells gesehen. 13 Bereits in den Zeiten vor der RStPO darauf hingewiesen z. B. von Zachariae, Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, S. 41; Plank, Systematische Darstellung, § 60, S. 153. Für heute vgl. nur LR/Kühne, Einl. H Rn. 27. 14 Abgesehen von der regen Diskussion vor der deutschen Gesetzgebung mit der Hervorhebung von Vorteilen und Nachteilen der Modelle vgl. dazu beispielsweise Mittermaier, Gesetzgebung, § 7, S. 78 ff., heute Darstellung von Haas, Strafbegriff, S. 107 ff., 118 ff., 145 ff., 156 ff.; vgl. aus der heutigen umfangreichen Literatur nachdrücklich Schünemann, GA 1978, 161 ff.; ders., Festschrift für Fezer, S. 555 ff., 559, 562, unter anderen Beiträgen diesbezüglich; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 15 Rn. 6; Eser, Festschrift für Tiedemann, S. 1464; Maier, Festschrift für Roxin I, S. 1225 ff. Dazu auch LR/Kühne, Einl. H Rn. 27. 15 Ausdrücklich Herrmann, Reform, S. 167 ff. m. w. N. Vgl. Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 61. Dazu auch Weigend, Festschrift für Rissing-van Saan, S. 755 ff. Weitere Nachweise der englischsprachigen Literatur bei Hörnle, ZStW 117 (2005) 833, Fn. 179. Für die angloamerikanische Literatur vgl. zum Beispiel Van Kessel, 67 Notre Dame L. Rev. 403 (1993), S. 454: „we proclaim that our adversary system is the best means for arriving at the truth“. Vgl. ferner zum Wahrheitsbegriff des angloamerikanischen Systems infra, A. II. 2. 16 In der deutschen Literatur zum Beispiel: Weigend, ZStW 113 (2001), 271 f.; Greco, Strafprozesstheorie, S. 183; Billis, Die Rolle des Richters, S. 96 f.; Stuckenberg, in: Schroeder/ Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 46; ders., GA 2016, 701, u. v. a. 17 Vgl. zum Beispiel Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. 32.
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Kap. 2: Wahrheit und Verfahren
Definition von Wahrheit die Auswahl von Methoden beeinflusst. Bildhaft gesprochen, ist die Auswahl der Methode „bekanntlich nach Zeit und Rechtsordnung variabel, ob Orakelbefragung, Gottesurteil, Folter, Geständnis, Geschworenenbank, Kreuzverhör oder gerichtliche Inquisition“18. Nach den Befürwortern des adversatorischen Modells werden die „wahren“ Tatsachen nach den gegensätzlichen Beweisquellen auch in diesem Modell überprüft. Von Zeugen würde erwartet, dass sie über historische Fakten berichten, ebenso wie es um Wissen in Bezug auf vergangene Tatsachen im Verfahren gehen würde.19 Nicht verkannt wird dabei, dass Wirklichkeitsverzerrungen bei der parteilich geführten Beweissammlung und Beweispräsentation erfolgen können.20 Zugleich ist eine „absolute“ Feststellung von Tatsachen nach beiden Modellen nicht zu erreichen. Entscheidend ist jedoch, dass eine amtliche Aufklärungspflicht die umfassende Sachaufklärung bei Ausschöpfung aller bekannten, erkennbaren und erreichbaren Beweismittel verlangt.21 c) Das Schuldprinzip als Ausgangspunkt In Deutschland gilt die Erforschung der materiellen Wahrheit als das auch verfassungsrechtlich beherrschende Prinzip des Strafverfahrens.22 Dieser Grundsatz wird mit dem Rechtsstaatsprinzip23 und mit dem in Art. 1 GG verankerten (materiellen) Schuldprinzip24 begründet. Nach dem BVerfG ist dem Strafprozess von Verfassungs wegen die Aufgabe gestellt, „das aus der Würde des Menschen als eigenverantwortlich handelnder Person abgeleitete Prinzip, daß keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf“ (vgl. BVerfGE 20, 323 (331)), zu sichern und entsprechende verfahrensrechtliche Vorkehrungen bereitzustellen. Als zentrales Anliegen des Strafprozesses erweist sich daher die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann.“25 Glei18
So formuliert das Problem Stuckenberg, GA 2016, 701. So zum Beispiel Billis, Die Rolle des Richters, S. 97. 20 Billis, Die Rolle des Richters, S. 98; Herrmann, Reform, S. 115, 129 f.; Haas, in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Das strafprozessuale Vorverfahren in Zentralasien, S. 26. 21 Vgl. dazu infra, A. I. 3. 22 LR/Kühne, Einl. H Rn. 23; in diesem Sinne auch LR/Becker, § 244 Rn. 39. 23 BVerfGE 33, 367, 383; 34, 238, 248; 36, 174, 186; 38, 105, 116; 44, 353, 374; 7, 239, 248 u. a.; LR/Kühne, Einl. H Rn. 23 m. w. N.; LR/Becker, § 244 Rn. 39; KMR/Eschelbach/KettStraub, StPO, Einl. Rn. 19 u. a. 24 BVerfGE 57, 250, 275 und ständige Rechtsprechung; Nachweise bei LR/Stuckenberg, § 257c Rn. 6; für das Schrifttum Zachariae, Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, S. 26 f.; Neumann, Festschrift für Arthur Kaufmann; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 2; Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, S. 25; LR/Kühne, Einl. H Rn. 23; KMR/Eschelbach/Kett-Straub, StPO, Einl. Rn. 20; Schünemann, Festschrift für Fezer, S. 555; ders., Festschrift für Wolter, S. 114 f.; KK-Fischer, Einleitung Rn. 3; KK-Krehl, § 244 Rn. 28, beide m. N.; Frisch, NStZ 2013, 250; Radtke, GA 2012, 188 f.; Börner, Legitimation durch Strafverfahren, S. 98 f. Ablehnend Stuckenberg, GA 2016, 689 ff. m. N. 25 BVerfGE 57, 250 (275). 19
A. Strafprozessmodelle und Wahrheitserforschung
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chermaßen steht die Ermittlung nicht zur Disposition des Beschuldigten.26 Das findet sich neuerlich bekräftigt in der Leitentscheidung des BVerfG vom 19. 03. 2013. Abgesehen von der paternalistischen Annahme, dass der Beschuldigte nicht über den Anspruch der Wahrheit disponieren kann, gewährleistet das Schuldprinzip den Schutz des Beschuldigten. Der fehlenden Disposition auf Seiten des Beschuldigten liegt ein korrespondenztheoretischer Begriff der Wahrheit zugrunde.27 Demzufolge hat das erkennende Gericht die Erkenntnis von einem subjektunabhängigen, realen Geschehen bei der Tatsachenermittlung zu gewinnen, die mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Wahrheit ist hier Wirklichkeitserkenntnis.28 Das bedeutet nicht, dass das Verfahren Aufklärungsarbeit wie in einem geschichtswissenschaftlichen Forschungsprojekt betreibt.29 Vielmehr hat das erkennende Gericht „im Rahmen des Möglichen und Zulässigen die Aufgabe der Stoffsammlung in optimaler Weise zu erfüllen“.30 Das entspricht dem Gebot der „bestmöglichen Wahrheitserforschung“.31 d) Wahrheit als Korrespondenz aa) Nach der traditionellen Korrespondenztheorie bezieht sich Wahrheit auf einen existierenden Sachverhalt, der unabhängig vom Strafprozess und Gegenstand des Erkenntnisses im Beweisverfahren ist. Weiterhin folgt die überwiegende Meinung in der deutschen Prozessdogmatik dieser Korrespondenztheorie.32 Zumeist bezieht man sich dabei auf ihre ontologische Fassung, wonach Wahrheit die adaequatio ad rem33
26
So ausgedrückt von KMR/Eschelbach/Kett-Straub, StPO, Einl. Rn. 20. Siehe BVerfGE 133, 168. 28 Vgl. statt vieler LR/Kühne, Einl. H Rn. 24 f. 29 Vgl. Spendel, JuS (1964), 466; Müller-Dietz, ZevEthik 15 (1971), 264, 268; Krauß, in: Jäger (Hrsg.), Kriminologie im Strafprozeß, S. 67; dazu später Volk, Festschrift für Salger, S. 412 f.; Hassemer, Festschrift für Volk, S. 214 ff.; ausführlich darüber Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 526 ff. Kritisch gegenüber der Erforschung einer umfassenden historischen Wahrheit im Völkerstrafrecht Pastor, Festschrift für Volk, S. 541 ff. 30 KK-Krehl, § 244 Rn. 28. 31 Zuletzt BVerfGE 133, 168 (201 Rn. 59; 225 Rn. 102; 226 Rn. 104); dazu Jahn, GA 2014, 588 ff.; Greco, GA 2016, 11. 32 Vgl. zum Beispiel Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, S. 5; Müller-Dietz, ZevEthik 15 (1971), 257; Adomeit, JuS 1972, 628 ff.; Hilgendorf, GA 1993, 549 f.; Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, S. 42 ff., 284; Neumann, Wahrheit im Recht, S. 14 ff.; Schünemann, Festschrift für Fezer, S. 558 f.; ders., Festschrift für Wolter, S. 1107 ff., 1115; Duttge, ZStW 115 (2003), 544 ff.; ders., Festschrift für Böttcher, S. 59; Murmann, GA 2004, 65 ff.; ders., Festschrift für Roxin II, S. 1385, 1389 f.; Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 511. Zur Erkenntnis, dass der deutsche Strafprozess auf einer korrespondenztheoretischen Auffassung beruht: Volk, Wahrheit und materielles Recht, S. 7 f.; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 61, 66.; ders., ZStW 120 (2008), 334 ff. 33 Vgl. zu diesen Varianten zum Beispiel Rescher, Die Kriterien der Wahrheit, S. 367 und passim; Sellars, Wahrheit und „Korrespondenz“, S. 300. Zu den aristotelischen Ursprüngen dieser Theorie vgl. Puntel, Wahrheitstheorien, S. 26. 27
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Kap. 2: Wahrheit und Verfahren
oder im Rückgriff auf Thomas von Aquin die adaequatio intellectus rei34 ist. Darüber hinaus findet man ein variationsreiches35 „Bündel von Ideen“.36 Bei allen Korrespondenztheoretikern ist Wahrheit zuallererst das Ergebnis eines Verhältnisses, der Übereinstimmung zwischen Erkenntnis und Gegenstand oder Aussagen und Tatsachen. Korrespondenz heißt auch Adäquatheit oder Entsprechung, bisweilen auch Abbild.37 Im Strafprozessrecht steht allerdings die Frage im Hintergrund, ob man die Korrespondenztheorie in Verbindung mit einem ontologischen Realismus mit der Annahme von dem menschlichen Bewusstsein entzogenen Phänomenen bzw. einer vorgegebenen Wirklichkeit setzt, oder ob die von ihr begriffene Wahrheit Erkenntnis voraussetzt und sie damit nicht von einer erkenntnisunabhängigen Welt ausgeht.38 Im Unterschied zu konstruktivistischen Theorien ist für jede Korrespondenztheorie entscheidend, dass für das erkennende Subjekt der Anspruch auf Objektivität erhoben wird.39 Auch wenn es für die Wissenschaftstheorie kein Argument von starkem Gewicht ist, spricht für die Korrespondenztheorie, dass ihr der Common Sense, d. h. die Alltagstheorien folgen. bb) Ein korrespondenztheoretisches Verständnis von Wahrheit stand auch am Beginn des lateinamerikanischen Prozessrechts, wie sich anhand von Las Siete Partidas (Die „Sieben Rechtsbücher“) von 1265 zeigen lässt und im Einklang mit der römisch-kanonischen Tradition steht.40 Die auf dem Kontinent in der Vergangenheit führende argentinische Strafprozessliteratur hielt lange Zeit in diesem Sinn an der Idee der materiellen Wahrheit fest,41 nicht nur beeinflusst von der deutschen, sondern 34 Thomas von Aquin, Von der Wahrheit – De veritate, S. 8 (Quaest. I, Art. 1), S. 14 (Quaest. I, Art. 2). 35 Vgl. dazu zum Beispiel die Übersicht von Gloy, Wahrheitstheorien, S. 92 ff.; Puntel, Wahrheitstheorien, S. 29 ff. 36 Sellars, Wahrheit und „Korrespondenz“, S. 300. 37 Siehe Gloy, Wahrheitstheorien, S. 95; Puntel, Wahrheitstheorien, S. 29 ff. 38 Dazu vgl. Kirkham, Theories of thruth, 4.6 mit Nachweisen von Korrespondenztheoretiker, die von einer Erkenntnisabhängigkeit für den Wahrheitsbegriff ausgehen und damit sich von einem Realismus oder von einer Ontologie entfernen. Ferner kurz dazu Gloy, Wahrheitstheorien, S. 94, 96. 39 Dazu Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 462, 465 ff.; Heinrich, Wahrheit, S. 81; ferner aus der Beschreibung mehrerer Varianten Gloy, Wahrheitstheorien, S. 92 ff. Im Strafprozessrecht nimmt Ferrajoli darauf Bezug, für den das Konzept von Tarski auf keinen Fall einer metaphysischen Idee einer ontologischen Korrespondenz zwischen Sprache und Wirklichkeit, auch nicht einer absoluten oder objektiven Wirklichkeit im Sinne eines „naiven Realismus“ entspricht, Vorwort in Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. III. 40 Vgl. dazu infra, Kapitel 6 B. 41 Vgl. Vélez Mariconde/Soler, Proyecto de código de procedimiento penal, Exposición de Motivos, S. C f.; Vélez Mariconde, Derecho procesal penal II, S. 185, Fn. 17; Clariá Olmedo, Derecho Procesal Penal I, Nr. 174, S. 222; Nr. 178, S. 225; Nr. 179, S. 229; Nr. 184, S. 232; 236; Maier, Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 107, Fn. 55; ferner ders. zum Beispiel in: Entre la inquisición y la composición, Revista No hay derecho, Nr. 6 1992, Dossier S. 28;
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auch von der spanischen und italienischen Dogmatik.42 Zugleich folgen sowohl der Código von der Provinz Córdoba von 1939,43 als erstes modernisiertes Strafprozessgesetz nach der inquisitorischen Zeit, als auch der Entwurf Maier von 1986 für das von der deutschen StPO inspirierte44 Bundesstrafprozessgesetz und in der Hauptsache das heutige Bundesstrafprozessgesetz nach dem Entwurf Levene45 diesem Ausgangspunkt. Demgegenüber folgt in der neuen argentinischen Strafprozessliteratur Guzmán im Anschluss an Ferrajoli einer semantischen Korrespondenztheorie der Wahrheit im Anschluss an Tarski und kombiniert diese mit einer Theorie der Kohärenz.46 Im Hinblick auf die Methode plädiert er zwar für eine Beweisführung durch die Prozessbeteiligten bzw. Parteien, folgt aber nur in diesem Punkt darin dem angloamerikanischen adversatorischen Verfahren.47 In der neueren lateinamerikanischen Diskussion votiert man zugunsten eines adversatorischen Modells für eine Abschwächung des Wahrheitsgebots.48 cc) Tarski hat die Korrespondenztheorie sprachanalytisch zu präzisieren versucht. Seiner semantischen Konzeption49 zufolge geht es um die Äquivalenz zwischen den Namen einer Aussage und der Aussage selbst, wobei auf den Gebrauch der Umgangsprache abgestellt wird. „Die Aussage ,Schnee ist weiß‘ ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist“.50 Es geht hier lediglich um die Beziehung zwischen sprachlichen Ausdrücken und den dadurch bezeichneten Objekten. Mit anderen Worten: Relevant ist eben nicht, was „wahr“ ist. Entscheidend ist die exakte Definition eines (zunächst) im Weg der Konvention Festgesetzten.51 Dabei bleibt der Bezug zu einer ontologischen Betrachtungsweise neutral.52 Tarski formuliert sein ders., in: Jueces para la democracia, Nr. 16 – 17, 1992, S. 153; ders., Derecho Procesal Penal I, § 8 D, S. 841 ff., 852 ff.; in deutscher Sprache ders., Festschrift für Roxin I, S. 1225 ff.; ders., Festschrift für Tiedemann, S. 1223 ff., 1230, 1235, 1239. 42 So in der jüngeren Zeit von Ferrajoli, Diritto e ragione, Parte Prima, I.3.; ders., in: ¿Más Derecho?, año II, Nr. 2, Punkt 2.1; Taruffo, La prova dei fatti, S. 152 ff., 287. 43 Vélez Mariconde/Soler, Proyecto de código de procedimiento penal, Exposición de Motivos, S. C f. Vgl. auch weitere Werke von Vélez Mariconde, z. B. in: Revista de Derecho Procesal IX, Nr. 3, 4 (1951), S. 334, 337 f., 343 f., 349, 351. 44 Art. 250, 147. 45 Levene (h.), Proyecto de Código Procesal Penal, S. 15, 27; Dictamen de la Comisión del Senado, in: Chichizola (Hrsg.), Código, S. 66. 46 Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. 63 ff. 47 A. a. O., S. 181 ff. 48 Vgl. dazu infra, A. II. 2. 49 Tarski, Die semantische Konzeption der Wahrheit, S. 146. 50 Tarski, a. a. O., S. 143. 51 Darüber berichtet Tugendhat, Tarskis semantische Definition der Wahrheit, S. 191 f. 52 So bezieht sich Tarski, Die semantische Konzeption der Wahrheit, S. 169, auf die erkenntnistheoretischen Einwände gegen seine semantische Theorie: „Es ist geltend gemacht worden, daß die Logik – angesichts der Tatsache, daß eine Aussage wie ,Schnee ist weiß‘ semantisch als wahr verstanden wird, wenn Schnee tatsächlich weiß ist (kursiv in der Kritik) – sich auf den Standpunkt eines ganz unkritischen Realismus stellt.“ Tarski erwidert auf den
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Kap. 2: Wahrheit und Verfahren
Ziel wie folgt: „Jedenfalls werde ich mich bei der Konstruktion keines semantischen Begriffes bedienen, wenn es mir nicht vorher gelingt, ihn auf andere Begriffe zurückzuführen“.53 Die Widerspruchsfreiheit der Definition ist allerdings mit dem hohen Preis der Tautologie erkauft.54 Demnach ist Wahrheit nur ein „Sprachspiel“ (Wittgenstein) im täglichen Umgang mit ihr.55 In der Tat liefert Tarski kein Wahrheitskriterium für einen bestimmten Satz.56 „So folgt aus der Definition für ,wahr‘ z. B.: Der Satz ,Der Schnee ist weiß‘ ist dann und nur dann wahr, wenn der Schnee weiß ist“. Dabei fehlt es daran, die „Überprüfungsbedingungen anzugeben, von denen abhängt, ob es berechtigt ist, die Bezeichnung ,ist wahr‘ auf eine bestimmte Proposition anzuwenden“; „diese wahre Feststellung liefert keinen kriterienbezogenen Mechanismus, der bei der Entscheidung helfen könnte, was man als wahr ansehen soll und was nicht, und sie beansprucht das auch gar nicht“.57 Nach Nicolas Rescher versteht die Korrespondenztheorie unter einer ,wahren Proposition‘ eine ,genaue Kopie‘ eines Textes: „Wir haben das Original (die ,Tatsachen, um die es geht‘) und vergleichen es mit der Kopie (der Proposition), um festzustellen, ob sie miteinander korrespondieren oder nicht“.58 Im Ergebnis liefert Tarskis Theorie kein Kriterium für die im Strafverfahren erforderliche Wahrheit: Es gelingt ihr nicht, den Sinn der Tatsachenermittlung im Beweisverfahren zu erläutern. Tarski wurde teilweise über die Rezeption von Ferrajoli für das lateinamerikanische Strafprozessrecht in Betracht gezogen.59 Mangels eines Kriteriums für die Bestimmung des wahren Sachverhalts weist auch Ferrajoli auf die erwähnte Unzulänglichkeit hin. Er beseitigt sie durch den Rückgriff auf die Grundsätze der Kohärenztheorie. Ferner wurde auch Anschluss an die Korrespondenztheorie von Tarski im Bereich der Rechtsphilosophie in Lateinamerika gesucht, wie von den einflussreichen argentinischen Autoren Alchourrón und Bulygin.60 Einwand damit, dass das Wort „tatsächlich“ nicht in der Originalfassung vorkomme und mißverständlich sei, weil es nicht den Inhalt betreffe. „In dieser Form können wir die semantische Konzeption der Wahrheit annehmen, ohne eine erkenntnistheoretische Ansicht, die wir gehabt haben mögen, aufzugeben. Wir können naive Realisten bleiben, kritische Realisten, Idealisten, Empiristen oder Metaphysiker – was immer wir vorher gewesen sein mögen. Die semantische Konzeption ist hinsichtlich all dieser Standpunkte völlig neutral.“ Zu diesen Erklärungen von Tarski interpretiert Kirkham, dass er sich damit von der in der damaligen Zeit als negativ betrachteten Bezeichnung „naiven Realismus“ entfernen wollte, allerdings seine Theorie ontologisch sei, vgl. Kirkham, Theories of thruth, 6.5. 53 Tarski, in: Berka/Kreiser (Hrsg.), Logik-Texte, S. 448. Heinrich, Wahrheit, S. 81, hebt seine zirkelfreie Rückführung der Wahrheit auf nicht-semantische Begriffe hervor. 54 Vgl. dazu Gloy, Wahrheitstheorien, S. 156 u. v. a. 55 Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache, S. 59 ff., 65. 56 Kritisch darüber zum Beispiel Carnap, Wahrheit und Bewährung, S. 90; ferner Puntel, Wahrheitstheorien, S. 3 f. u. v. a. 57 So unter anderen Rescher, Die Kriterien der Wahrheit, S. 337, 343. 58 Rescher, a. a. O., S. 344. 59 Ferrajoli, Diritto e ragione, Parte Prima, I.3.; ders., in: ¿Más Derecho?, año II, Nr. 2, Punkt 2.1.; dazu auch Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. 54. 60 Alchourrón/Boulygin, in: Análisis lógico y Derecho, S. 305 f., 310.
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dd) Anders als die Korrespondenztheorie stellt die Kohärenztheorie auf die Übereinstimmung von Aussagen ab und liefert damit ein Wahrheitskriterium. Sie wurde in den frühen dreißiger Jahren in der Wiener Schule des logischen Positivismus vertreten. Jede Aussage kann mit jeder anderen kombiniert oder verglichen werden, aber Aussagen werden niemals mit einer ,Realität‘ oder ,Tatsachen‘ verglichen. Die Kohärenz ist eine „Frage der Beziehungen einer Proposition zu anderen Propositionen – nicht ihrer ,Kohärenz‘ mit der Realität oder mit den angesprochenen Tatsachen –“.61 Die Kohärenztheorie stellt auf die Überprüfung von Aussagen ab. Den im Einzelnen unterschiedlichen Varianten der Theorie ist gemein, dass das Verhältnis zu den ,Tatsachen‘ eliminiert werden soll, indem nur eine bestimmte Klasse von atomaren Aussagen (im Sinne des frühen Wittgenstein) als wahr angenommen werden dürfen,62 d. h. irreduzible „Protokollsätze“, die als Ausdruck unmittelbarer Erfahrung – als Empfindung im Sinne von Ernst Mach63 – verstanden wurden.64 Dass damit wiederum eine metaphysische Entität zum Ausgangspunkt wurde, war dem Wiener Kreis vermutlich nicht bewusst. ee) Der philosophischen Diskussion entzieht sich gemeinhin der Umstand, dass der juristischen, insbesondere strafprozessualen Erkenntnis Besonderheiten des Verfahrens eigen sind, die sich philosophisch kaum erschließen.65 Die strafprozessuale Ermittlung des Sachverhalts betrifft nicht einfach die Wahrheit. Vielmehr geht es um Wahrheit, vermittelt durch die rechtlichen Interessen der Prozessbeteiligten und nicht zuletzt der Allgemeinheit, sofern Wahrheit in einem öffentlichen Verfahren ermittelt wird.66 Zugleich bestehen Anforderungen des materiellen Rechts an den nachzuweisenden Sachverhalt, die noch auszuführen sind. Sie entziehen sich in der Tendenz der philosophischen Diskussion. Wenn manche den Tatsachenbezug für den Strafprozess klein reden, übersehen sie zumeist, dass dem Schuldprinzip folgend die Feststellung der Tatbegehung und Tatschuld alternativlos ist. Das Strafverfahren ist kein Fall der „reinen Verfahrensgerechtigkeit“, nach der legitimerweise eine Verurteilung ausgewürfelt werden könnte. Es widerstrebt auch unserer rechtsstaatlichen 61
So Rescher, Die Kriterien der Wahrheit, S. 371; vgl. zur Ablehnung des Vergleiches mit der Tatsache oder mit der Wirklichkeit Carnap, zum Beispiel Wahrheit und Bewährung, S. 94. 62 So anschaulich Hempel, Zur Wahrheitstheorie des logischen Positivismus, S. 96 ff.; Rescher, Die Kriterien der Wahrheit, S. 363 ff. 63 Dem philosophischen Paten des Wiener Kreises, siehe ders., Beiträge zur Analyse der Empfindungen; ders., Die Analyse der Empfindungen, insbes. S. 270 f. 64 Carnap, Wahrheit und Bewährung; siehe dazu Hempel, Zur Wahrheitstheorie des logischen Positivismus, S. 100; Rescher, Die Kriterien der Wahrheit, S. 363. 65 Zu den Ausnahmen zählt Hans-Georg Gadamer, der seine Theorie der Hermeneutik gerade auf das juristische Verstehen bezieht, Gesammelte Werke, Hermeneutik I und II. 66 Ähnliche Argumentation in einem anderen Zusammenhang Weigend, ZStW 113 (2001), 276, 304; Neumann, Wahrheit im Recht, S. 63; Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 184, 188; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 13; Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 506; Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 43, 47, 51 f.; ders., GA 2016, 696. Im Kapitel 1 wurde gezeigt, wie und warum es zur Öffentlichkeit des Strafrechts gekommen ist, siehe oben Kapitel 1 A. IV.
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Intuition, den faktisch durchaus möglichen Spielraum einer Freiheitsstrafe zwischen fünf und fünfzehn Jahren normativ zu adeln. ff) Von dieser historisch gewachsenen Intuition zu sprechen, setzt voraus, dem Common Sense und damit den für das Recht unabdingbaren Alltagstheorien Gehör zu verschaffen. Das adaequatio-Verständnis der Wahrheit beherrscht eben den Common Sense.67 Die Alltagstheorien und mit ihnen die „sozial ,vorgeformte‘ Wirklichkeit“ sind jedenfalls heranzuziehen, wenn es darum geht, die Korrespondenztheorie für das Strafverfahren auszubuchstabieren.68 So hält Ulfrid Neumann69 die Alltagsorientierung in Verbindung mit der Korrespondenztheorie für „überzeugend und vollkommen ausreichend“.70 Es gehe um die alltägliche Vorstellung von Wahrheit, so wie sie „unser alltägliches Verhalten, unsere Einschätzung der Lage, unsere Verhaltenserwartungen und Reaktionen“ bedingt.71 Wenn die Korrespondenztheorie eine Übereinstimmung zwischen der Aussage und der Wirklichkeit verlangt, „nimmt sie auf eine konstruierte Wirklichkeit Bezug“72. Sie „entspricht exakt der in der Umgangssprache erfolgenden gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“73. Alle Rechtsordnungen hingen „einem alltagstheoretischen Verständnis in Form einer schlichten Korrespondenztheorie“ an, „die sich in der sozialen Praxis auch nicht ablösen lassen wird.“74 Die Unterscheidung zwischen Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung ist dem Common Sense geläufig. Eine Subsumtion gelinge, wenn der Sachverhalt „im umgangssprachlichen Bedeutungskern der im Untersatz wie im Obersatz identischen Termini liegt“.75 Nach unseren Alltagstheorien nimmt das 67
Es kann hier dahin gestellt bleiben, ob es den modernen philosophischen Wahrheitstheorien zugrundeliegt, wie dies verschiedentlich behauptet wird; siehe Gloy, Wahrheitstheorien, S. 93. 68 Vgl. Engisch, Weltbild des Juristen, S. 10 ff., 28 f.; ders., Wahrheit und Richtigkeit, S. 5 f.; Weigend, Deliktsopfer, S. 182, Fn. 33; Damasˇka, 49 Hastings L.J., 295 ff.; Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, S. 42 f.; Neumann, Wahrheit im Recht, S. 14; Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 184 f.; Rieß, JR 2006, 273; Schünemann, Festschrift für Fezer, S. 559; Jung, JZ 2009, 1130; Greco, Strafprozesstheorie, S. 173 f.; Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 43; ders., GA 2016, 700 f.; darauf nimmt Bezug auch Volk, Wahrheit und materielles Recht, S. 7. 69 Er hat mit der kleinen Monographie zur „Wahrheit im Recht“ der jüngsten Diskussion einen wichtigen Impuls gegeben; siehe Siedenburg, Die kommunikative Kraft, S. 99 – 128 m. w. N. 70 Neumann, Wahrheit im Recht, S. 14. 71 Volk, Wahrheit und materielles Recht, S. 7, obwohl es „diverse Wahrheiten“ gebe, vgl. ders., Festschrift für Salger, S. 415, 417. 72 Volk, Festschrift für Salger, S. 415. 73 Schünemann, Festschrift für Fezer, S. 559; ferner ders., in: ders. (Hrsg.), Grundfragen, S. 163 ff.; ders., in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik, S. 151 ff.; ders., Festschrift für Lampe, S. 547 ff. 74 Stuckenberg, GA 2016, 700 f. 75 Schünemann, Festschrift für Streng, S. 758.
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Erkennen Bezug auf den sozialen Kontext. Eben das ist für die Wahrheit im Strafverfahren bedeutsam. Dieser Ausgangspunkt lässt noch offen, ob sich der Bezug zu einer gegebenen objektiven Welt konstruktivistisch negieren lässt.76 Während Neumann die „problematische Figur“ der einzig richtigen Entscheidung als Fiktion begreift, die ein Rechtssystem braucht, wenn es z. B. den Instanzenzug gewährleisten will, beharren andere auf einem Fluchtpunkt der Wahrheit in re.77 e) Erkenntnistheoretische Einwände Gegen die Korrespondenztheorie wurden erkenntnistheoretische wie auch normative Erwägungen vorgebracht. Der in der Philosophie seit der Antike geläufige erkenntnistheoretische Skeptizismus hat eine lange Tradition und tritt in der gegenwärtigen deutschen Diskussion vornehmlich in zwei Theorielagern auf: aa) In der im Strafrecht mehrfach rezipierten Diskurstheorie78 wird zwar der skeptizistischen Tradition Rechnung getragen, zugleich aber auch einem für das Strafverfahren nicht unwichtigen universalistischen Fluchtpunkt. Es wird so in Frage gestellt, „warum die Aufklärungspflicht von Verfassungs wegen mit dem Wahrheitsbegriff der Korrespondenztheorie (,materielle Wahrheit‘) gleichgesetzt werden muss.“79 bb) Die Systemtheorie80 relativiert den überkommenen Wahrheitsanspruch noch weiter. Das ist in erster Linie ihrer soziologischen Ausrichtung geschuldet. So steht hier unabhängig von jeglichem Wahrheitsanspruch die Akzeptanz eines Urteils beim
76 Oder ob die Realität konstruiert wird, so zum Beispiel nach Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 77 So Schulz, ZIS 2007, 353, mit dem Bild des blassen ewigen Lichts in einer Kirche, 356. 78 Vertreter der Diskurstheorie im Rahmen des Strafverfahrens sind Lüderssen, StV 1990, 418; Grasnick, JZ 1991, 292 (anders heute: GA 2000, 153, 157); Tscherwinka, Absprachen im Strafprozeß, S. 46 f.; Kempf, in: Schriftenreihe der AG Strafrecht des DAV 4 1988, S. 25 ff.; Marsch, ZRP 2007, 222; Jahn, GA 2004, 281 f., 285 f.; ders., NJ 2005, 110; ders., ZStW 118 (2006), 454 f.; ders., 67. DJT, S. 23 f.; ders., NJW 2009, 2630 f.; ders., in: Goldenstein (Hrsg.), Mehr Gerechtigkeit, S. 117 ff.; ders., Festschrift für Kirchhof, S. 1391 ff., insbes. Rn. 7 f., 18 f.; Kudlich, 68. DJT, S. 56 ff. Klaus Günther, der wichtigste Vertreter einer Diskurstheorie in der Nachfolge von Habermas, hat sich anders als sein strafrechtlicher Lehrer Lüderssen im Unterschied von Jahn, der die Verständigung im Sinne von Lüderssen im Grundsatz gutheißt, nie für die Absprachenpraxis ausgesprochen. Das dürfte darauf zurückgehen, dass für seinen kommunikativen Begriff des Schuldprinzips die Öffentlichkeit des Verfahrens zentral ist und diese in der Absprachenpraxis gerade vermieden wird. 79 So neuerdings Jahn, NStZ 2014, 170. 80 Begründet auf der Theorie von Luhmann, Legitimation durch Verfahren, mit der Fragestellung auf S. 22; vgl. Krauß, in: Jäger (Hrsg.), Kriminologie im Strafprozeß, S. 75 ff.; heute Theile, Wirtschaftskriminalität und Strafverfahren, S. 267 f.; ders., NStZ 2012, 667 ff.; Lesch, Strafprozessrecht, Kapitel 1, Rn. 4, Kapitel 2, Rn. 72, 248; ausgehend aus der Systemtheorie aber mit Vorbehalten Börner, Legitimation durch Strafverfahren, S. 63 f., 96 f.
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Betroffenen im Mittelpunkt,81 mithin auch bestimmte soziale Wirkungen des Verfahrens. Allerdings gehe es nicht um die persönlichen Motive des Betroffenen, sondern um die Maßstäbe sozialer Anerkennung.82 Der Systemtheorie geht es nicht um eine subjektsorientierte Rechtfertigung des Verfahrens.83 Gerechtigkeit erschöpft sich in „Konsistenzpflege“.84 Sie liefert keine normativen Begründungen für die Ausgestaltung des Strafverfahrens,85 d. h. für eine Verfahrensstruktur, welche die Wahrheitserforschung optimiert. Es ist gewiss verkürzt, die Systemtheorie ausschließlich mit ihrem Begründer, Niklas Luhmann, in eins zu setzen, da unter ihren Vertretern eigenständige Akzente gesetzt werden, sei es etwa von Karl-Heinz Ladeur, Gunther Teubner oder Thomas Vesting.86 Vertretbar ist der Rekurs auf Luhmann allerdings, sofern weder bei Luhmann noch bei diesen Autoren das Strafrecht eine tragende Rolle spielt. Im Strafrecht hat Günther Jakobs die Systemtheorie aufgegriffen. Während sein Lehrbuch noch der frühen Systemtheorie Luhmann folgt, hat er sich erst spät mit der späteren, autopoetischen Systemtheorie auseinandergesetzt. Diese Auseinandersetzung mündete in einen Vortrag anlässlich der Strafrechtslehrertagung in Rostock im Jahr 1995,87 in dem er zwischen instrumentaler und personaler Kommunikation unterschied. Weil diese Unterscheidung Luhmanns Theorie fremd blieb, fehlt hierzu auch eine Stellungnahme Luhmanns. Es überrascht denn auch nicht, dass die Rezeption Luhmanns durch Jakobs bei diesem in einem gewissen Hegelianismus mündete.88 Sieht man von dem Sonderweg von Jakobs ab, zeigt die Rezeption Luhmanns im Strafrecht, dass mit ihm normativ kaum etwas zu gewinnen ist. Entgegen der Erwartung, dass das Primat der Kommunikation bei Luhmann das Schweigen, d. h. den
81 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 13, 19 ff. Allgemein über die Ungeeignetheit der soziologischen Systemtheorie für die Lösung rechtlicher Fragen vgl. Sacher, ZStW 118 (2006), 574 ff. 82 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 34 f. 83 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 37. Dazu richtigerweise Neumann, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 81.; ders., ZStW 101 (1989), 72 f.; Börner, Legitimation durch Strafverfahren, S. 47 und passim, mit Bezug auf Wechselwirkungen zwischen beiden Ebenen, S. 56. 84 Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts; ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 18 f., 78, 178, 214 ff., 225, 275 f. u. a.; in diesem Sinne auch Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 135, 148 ff. 85 Neumann, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 80 f. 86 Für Vesting siehe ders., Rechtstheorie, passim; zuletzt auch ders., Staatstheorie, 2018, mit der Diagnose, dass der Staat nunmehr ein „Netzwerkstaat“ sei; siehe dort auch die Darstellung der Konzeption von Ladeur, auf den sich Vesting für seine These konstitutiv bezieht. 87 Jakobs, ZStW 107 (1995), 843 ff. 88 Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 175; Schünemann, Festschrift für Roxin I, S. 1 ff.
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Grundsatz nemo tenetur abwertet,89 sieht man bei Theile, dass unabhängig von systemtheoretischen Voraussetzungen normative Wertungen erfolgen können.90 cc) Jenseits solcher Großtheorien hat eine kleine Abhandlung von Detlev Krauß zur Wahrheit im Strafverfahren die Diskussion befördert.91 Wenn Krauß die Wahrheit im Strafverfahren relativiert, beruht dies im Ergebnis auf der starken Bedeutung des materiellen Rechts für den Strafprozess. So fungiert das materielle Strafrecht als „das dem Verfahren eingegebene Programm“ und insbesondere als „Vergleichsmaßstab der Wahrheit“.92 Das materiellrechtliche Programm erzwingt „eine bestimmte Auswahl und Wertung der Fakten“.93 Das wird in der Diskussion auch kaum bestritten,94 ist damit doch nur gemeint, dass die Erforschung des realen Geschehens im Strafverfahren von Vorgaben des materiellen Strafrechts lebt, sodass nur ein Wirklichkeitsausschnitt im Sinne der Wahrheit im Strafprozess ermittelt wird. Aus diesem Ausgangspunkt kann man aber nicht unmittelbar konstruktivistische Folgerungen bezüglich der Wahrheit im Strafverfahren ziehen, weil die am materiellen Strafrecht orientierte Vorauswahl eines Wahrheitsausschnittes den Anspruch auf materielle Wahrheit im Sinne der Ermittlung eines realen Tatgeschehens nicht tangiert.95 Krauß behauptet also nur, dass die Wahrheit „nicht im Sinne einer umfassenden Aufklärung des realen“ Tatgeschehen konzipiert ist, sondern diese „lediglich ein durch die Strafrechtsdogmatik vorstrukturiertes ausschnittsweises Erkenntnisinteresse zum Gegenstand“ hat.96 dd) Andere haben die Wahrheit im Strafverfahren mit dem Hinweis auf den Bestand „diverser Wahrheiten“ je nach der Betrachtungsperspektive in Frage ge-
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So Lesch, ZStW 111 (1999), 638. Theile, etwa in: Wirtschaftskriminalität und Strafverfahren, S. 317 ff. Wie Stuckenberg, der Jakobs systemtheoretisch für die Unschuldsvermutung ausbuchstabiert, geht es Theile um einen fairen Konsens. Das maßgebliche Fairnesskriterium ist dabei die Unparteilichkeit der Entscheidung (S. 321 ff.), die sich vor allem durch gleichberechtigte und effektive Partizipation aller Beteiligten gewährleisten lasse, siehe S. 323 ff. Das „reflexive strafprozessuale Programm“ führt im Ergebnis zu einer Zurückdrängung des Legalitätsprinzips: „verzichtbar“, S. 330. 91 Krauß, in: Jäger (Hrsg.), Kriminologie im Strafprozeß. 92 A. a. O., S. 78. 93 Müller-Dietz, ZevEthik 15 (1971), 270, dazu Krauß, a. a. O., S. 83; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 194. Dass das von materielle Recht zugeschnittene Programm auf Schuldspruch und Vergeltung ursprüglich von Krauß, a. a. O., S. 83 vorgesehen war, wurde nur teilweise vertreten, vgl. Müller-Dietz, a. a. O., S. 270; Neumann, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 79. 94 „Daß … der Strafprozeß aus vielen Gründen alles andere ist als ein historisches Forschungsvorhaben, wissen wir längst“, Volk, Festschrift für Salger, S. 412 f. 95 In diesem Sinne Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 177. 96 Rieß, Festschrift für Schäfer, S. 170, Fn. 66 mit Bezug auf Krauß, vgl. auch S. 169. 90
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stellt.97 Demnach sei Wahrheit eine Konstruktion, die im Verfahren „zustande gebracht“ wird und „in seiner Qualität von der Qualität des Prozedierens abhängt“.98 Aber es wird dabei nicht alles als Wahrheit angenommen: „Absprachen machen nichts wahr. Wer erklärt, er wolle sich nicht (länger) streiten, hat damit nichts darüber gesagt, was denn war und was wahr ist.“99 ee) Fraglich geblieben ist, ob mehr als eine asymptotische Annäherung an die Wirklichkeit möglich ist. Dieser Zweifel ist allerdings vor allem Überlegungen der Praktikabilität geschuldet: Man brauche eine Entlastung der Justiz im Wege von Verfahrensabsprachen,100 die von Kritikern „deal“ genannt werden und die der Gesetzgeber in § 257c StPO nunmehr „Verständigung“ nennt. Die Unzulänglichkeiten der menschlichen Erkenntnis werden auch in Bezug auf die richterliche Tätigkeit im Rahmen der freien Überzeugungsbildung und das Erfordernis der Gewissheit betrachtet.101 Im Ergebnis ist die Diskussion über Wahrheit im Strafverfahren weiterhin unübersichtlich,102 zumal sie mit verfahrensstrukturellen Weichenstellungen verknüpft ist. ff) Neben der ausgeführten epistemischen Skepsis gibt es verfassungsrechtliche, d. h. normative Einwände. Es geht um die Ableitung des Wahrheitsanspruchs aus dem Schuldprinzip. Mit dem Schuldprinzip sei nur dann eine Schuldfeststellung möglich, wenn nachgewiesen wäre, dass jemand tatsächlich schuldig ist, eine Auffassung, die dem Common Sense entspricht. Die Wahrheitserforschung im Strafprozess wird nach dieser Auffassung nur als Voraussetzung für eine Verurteilung als erforderlich angesehen, weil die Unschuld nicht nachgewiesen werden müsse.103 Diesem Ansatz entspricht eine parallele Tendenz in Lateinamerika, nach der das Wahrheitsgebot nur als Voraussetzung für eine Verurteilung angesehen wird. 97 Vgl. Volk, Festschrift für Salger, S. 413, 415 ff. In dieser Richtung auch Krauß, in: Jäger (Hrsg.), Kriminologie im Strafprozeß, S. 75 ff.; Gössel, Ermittlungs oder Herstellung von Wahrheit, S. 9 ff.; Grasnick, Festschrift für Meyer-Goßner, S. 208 f., 216 u. a. 98 Volk, a. a. O., S. 417. 99 Volk, Festschrift für Salger, S. 419; ders., Die Wahrheit vor Gericht, S. 335. 100 So dezidiert in LR/Kühne, Einl. H Rn. 23 f., Einl. B Rn. 32, 37 ff. Dass es um eine Annäherung geht, wurde immer wieder in der Literatur betont, vgl. Stuckenberg, GA 2016, 700, ferner infra, Fn. 132. 101 Zuletzt Börner, Legitimation durch Strafverfahren, S. 102 f. mit Nachweisen. 102 Neben der in den vorherigen Fußnoten zitierten Literatur vgl. aus der schier unendlichen Diskussion: Krauß, in: Jäger (Hrsg.), Kriminologie im Strafprozeß, S. 65 ff., 75; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 193 ff.; ders., Wahrheit und materielles Recht; Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 17 f.; Neumann, Festschrift für Arthur Kaufmann S. 74 f.; ders., Wahrheit im Recht; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 10 Rn. 5, § 15; Weigend, Deliktsopfer, S. 177 ff.; Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren; Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 391 ff.; LR/ Kühne, Einl. H Rn. 23 ff., 30; Weßlau, Festschrift für Schünemann, S. 997 ff.; Greco, Strafprozesstheorie, S. 168 ff.; Radtke/Hohmann, Strafprozessordnung, Einl. Rn. 8 Fn. 26; Radtke, Festschrift für Schreiber, S. 375, 378 f.; Duttge, ZStW 115 (2003), 544 ff., unter vielen anderen. 103 Stuckenberg, GA 2016, 697 ff.; ders., Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, S. 476 ff., 510 ff.; ders., in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 44, 50 f.
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Damit wird zugleich verknüpft, dass das kontinentaleuropäische Prozessmodell ausgedient hätte: Der Richter müsse nicht die Wahrheit des Sachverhaltes eruieren, sondern diese ergebe sich adversatorisch aus dem Konflikt der Beteiligten, die im adversatorischen Modell Parteien sind. Weil diese Perspektive aktuelles Interesse, besonders in der lateinamerikanischen Debatte besitzt, wird sie gesondert im Kapitel 5 nach der Darstellung der aus diesen Erkenntnissen abgeleiteten Konsequenzen für die Ausgestaltung des Strafverfahrens ausgeführt. f) Normative Einwände Daneben wird auf normative Grenzen der richterlichen Wahrheitserforschung, d. h. die rechtsstaatlichen Anforderungen an das Verfahren zur Gewährung der Beschuldigtenrechte und die Beweisverwertungsverbote hingewiesen. Bei den Beschuldigtenrechten geht es zum Beispiel um das Schweigerecht, die informationelle Selbstbestimmung und den Schutz der Persönlichkeit oder um Beschlagnahmeverbote. Es ist ein unumstößlicher und unbestrittener Grundsatz im Strafprozessrecht, dass die Wahrheit „nicht um jeden Preis“ erforscht werden darf.104 Auch im spanischen Strafprozess gilt dieser Grundsatz „No se puede obtener la verdad real a cualquier precio. No todo es lícito en el descubrimiento de la verdad“105. Dieser Grundsatz wurde auch in den Strafprozess Lateinamerikas übertragen.106 Dabei handelt es sich um Einschränkungen bei der Wahrheitsermittlung aufgrund bestimmter Erwägungen bei der Beweiserhebung und -verwertung. Hier soll das Verhältnis zwischen Wahrheit und diesen Kautelen nicht verfolgt werden.107 Festzuhalten bleibt, dass über diesen Ausgangspunkt eine Relativierung der Wahrheit für den Strafprozess durch die sog. Theorie der prozessualen bzw. forensischen Wahrheit vorgenommen wird, die den Schwerpunkt bei der Wahrheitsfrage in der Differenzierung zwischen der Wahrheitssuche in der Wissenschaft und im Strafprozess setzt: „Sehenden Auges hat der Richter einen Fall herzustellen, der die relevanten Informationen nur zu einem Teil enthält, weil der andere Tabu ist“.108 Ferner wird über eine „forensisch-rechtsstaatliche Wahrheit“ gesprochen, die die Beschuldigtenrechte in den Vordergrund der Wahrheitsdefinition stellt: „Ein unter Verletzung der Sub104
BGHSt 14, 358, 365. Vgl. das Urteil vom spanischen Tribunal Supremo ATS 3773/1992 vom 18. 06. 1992 in dem die materielle oder historische Wahrheit anerkannt wird und zugleich die Einschränkungen erkannt werden. 106 Vgl. für Mexiko Dagdug Kalife, Manual de Derecho procesal penal, Kapitel VIII.5.1., S. 51; im Sinne dieser Grenzen auch Moreno Hernández, La relación entre el Derecho Penal y el Derecho Procesal Penal, S. 328 f. 107 „Allgemein akzeptiert“ nach Weigend, Deliktsopfer, S. 179; „Einbußen bei der Wahrheitsermittlung sind unvermeidbar“ nach Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 194. 108 Vgl. Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 153; ferner ders., KritV 1990, 261 f.; ders., Festschrift für Volk, S. 214 ff.; in diese Richtung Paulus, Festschrift für Spendel, 697; Lesch, Strafprozessrecht, Kapitel 2, Rn. 72; Kühne, GA 2008, 361 ff.; zuletzt Börner, Legitimation durch Strafverfahren, S. 102 m. w. N., 114 ff. 105
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jektivität eines Verfahrensbeteiligten zustande gekommener Sachverhalt kann […] nicht das Prädikat ,wahr‘ beanspruchen.“109 Dagegen ist einzuwenden, dass es sich bei den strafprozessualen Restriktionen nur um „Restriktionen bei der Wahl der Mittel, nicht aber um eine Veränderung der Zielbestimmung“ handelt.110 Sie stellen normativen Grenzen der Sachverhaltsaufklärung im Strafprozess dar, die nur auf die Lückenhaftigkeit der Wahrheitsermittlung im Beweisverfahren hinweisen, wodurch aber nicht verändert wird, dass es um die Feststellung des Wahren als Ziel des Verfahrens geht.111 Solche Restriktionen begrenzen die Sachverhaltsaufklärung nicht etwa in Form einer Art Schranke oder gar Hindernis, sondern „begründen die richterliche Tätigkeit als Rechts-Erkenntnis“112. Fraglich ist, inwiefern das Spannungsverhältnis von Wahrheitsermittlung und Beschuldigtenrechten bzw. Beweisverboten Zeichen einer überlegenen und absolut selbständigen Position des Strafverfahrensrechts gegenüber dem materiellen Strafrecht ist. Löst man den Konflikt rein prozessual durch eine verfahrensimmanente, selbstreflexive Deutung der Beschuldigtenrechte, mangelt es an einer Berücksichtigung des rechtlichen Rahmens von Normen des materiellen Rechts. Im Grunde beeinträchtigen die prozessualen Maßnahmen außerprozessuale Interessen des Beschuldigten. In dieser Beziehung liefern die verfahrensexternen Maßstäbe des materiellen Rechts dem Strafprozess die rechtlichen Wertungen, die für die Erfassung und Ausgestaltung der Beschuldigtenrechte notwendig sind.113 Somit verdienen Beachtung „nicht nur die Spielregeln des prozeßinternen Raums, sondern auch die Regeln zum Schutz außerprozessualer Rechte und Interessen, die von prozessualen Maßnahmen tangiert werden“114. Auf dieser materiellrechtlichen Grundlage sind die Beschuldigtenrechte nicht primär zur Festlegung einer Prozessposition in der Auseinandersetzung wie im anglo-amerikanischen Parteiverfahren statuiert. Die Justizförmigkeit115 des Strafverfahrens soll in einem von der materiellen Wahrheit geprägten Strafverfahren als eine Voraussetzung zur Durchsetzung des materiellen Strafrechts angesehen werden. 109
Schilling, Illegale Beweise, S. 129, ferner 116 ff., 236. Neumann, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 74 f. 111 Vgl. dazu Rieß, JR 2006, 273. 112 So Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 507. 113 Vgl. zu diesem Thema Neumann, ZStW 101 (1989), 52 ff., 60 f.; Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 147 ff.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 5, § 24 Rn. 13, 19; Volk, Festschrift für Salger, S. 217; Repzka, Zur Fairneß im deutschen Strafverfahren, S. 302 f., 314; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 64 f., 273; Murmann, GA 2004, 79 f.; Schilling, Illegale Beweise; Arzt, Festschrift für Eser, S. 691 ff., 692; Weichbrodt, Konsensprinzip, S. 36 f., LR/Kühne, Einl. H Rn. 31; Einl. B Rn. 33 ff.; KMR/Eschelbach/KettStraub, StPO, Einl. Rn. 22, alle m. w. N. und unter vielen anderen. 114 Neumann, ZStW 101 (1989), 52 ff., 62. 115 Vgl. dazu beispielsweise Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 2; Rieß, StraFo 2000, 366 f. 110
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Im Gegensatz dazu wird mit der Betonung des „Eigenwerts eines rechtsstaatlichen, justizförmigen Verfahrens“ oft „die Autonomie des materiellen Strafrechts gegenüber dem Verfahrensrecht relativiert.“116 Es wird sogar vertreten, dass man auf die Justizförmigkeit ganz verzichten könne: „In Wahrheit handelt es sich bei Verboten wie dem der Mißhandlung des Beschuldigten nicht um Ableitungen aus einem eigenständigen Prozeßziel der Justizförmigkeit des Verfahrens, sondern um Normen, die dem Schutz außerprozessualer Interessen und Rechte des Beschuldigten dienen.“117
Zugleich stehen die verfassungsrechtlichen Grundsätze wie die Menschenwürde und das Verhältnismäßigkeitsprinzip dem Beschuldigten zur Seite und fordern als vorgelagerter Maßstab die Einhaltung eines verfahrenstranszendenten Werts im Strafprozess.118 So bestehen die Verfahrensregeln nicht einfach „um ihrer selbst willen“, sondern im Rahmen und auf Basis der Grundrechte, ausgehend von der vom Schuldprinzip vorgegebenen Richtung für die Ziele und Struktur des Strafverfahrens bis hin zu Einschränkungen wie der Würde des Menschen. Die entsprechenden Abwägungen bei den Einzelproblemen bezüglich der Beschuldigtenrechte und Beweisverbote müssen also in diesem prozessexternen vielschichtigen Zusammenhang getroffen werden.119 Diese strafprozessualen Kautelen zur Einhaltung der Rechtsposition des Beschuldigten und die Beweisverbote sind rechtsstaatlich notwendige Einschränkungen, welche die Idee der materiellen Wahrheit nicht entwerten, sondern alleine die Methoden ihrer Erforschung bestimmen. Auch wenn es ein Spannnungsverhältnis geben mag,120 wird damit der Geltungsanspruch der materiellen Wahrheitserforschung nicht dementiert. g) Ergebnis aa) Der Schuldgrundsatz bildet den Ausgangspunkt dafür, dass die Erforschung der materiellen Wahrheit verfassungsrechtlich angezeigt ist. Die Frage nach den erkenntnistheoretischen Grenzen im kontinentaleuropäischen System wird gemeinhin damit beantwortet, dass es im Strafprozess nicht um die Suche nach einer umfassenden historischen Wahrheit geht, sondern dass sich die Relevanzen aus den
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Rieß, Festschrift für Schäfer, S. 171. Neumann, ZStW 101 (1989), S. 61. 118 Vgl. zum Beispiel den Überblick von LR/Gössel, Einl. L Rn. 13. 119 In diesem Sinne Neumann, ZStW 101 (1989), 62; ders., Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 76 f.; Rieß, Festschrift für Schäfer, S. 171 f.; Murmann, GA 2004, 79 f.; Weichbrodt, Konsensprinzip, S. 37; Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 194. 120 Verneinend und darüber Murmann, GA 2004, 65 ff., 79 f. 117
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materiellrechtlichen Straftatbeständen ergeben.121 Unter dieser Prämisse wird das Strafprozessrecht für seine Orientierung und Ausgestaltung nicht ausweichen können. Die Forderung nach materieller Wahrheit ist also im Strafprozess richtigerweise aus rechtlichen Gründen zu erheben. Sie muss damit nicht mit einem philosophischen, um seiner selbst willen entworfenen Wahrheitsbegriff, der das menschliche Erkenntnisvermögen allgemein und die Übereinstimmung von Erkenntnis und Wirklichkeit in Frage stellt, übereinstimmen. Die philosophischen Bedenken können in ihrer Reinform nichts daran ändern, dass das materielle Strafrecht die Richtung des Strafverfahrens vorgibt. Eine Rechtfertigung und Ausgestaltung des Strafverfahrens, die das Verfahrensergebnis von der intersubjektiven Verständigung der Prozessbeteiligten abhängig macht, lässt die vollständige Sachverhaltserforschung und auch die Interessen der Allgemeinheit am Verfahrensergebnis außer Acht.122 Weil es bei einem von materiellem Recht und daher vom Schuldprinzip bedingten Strafverfahrensmodell um einen realen Sachverhalt geht, ist die philosophische Frage nach der Wahrheit für den Strafprozess prädisponiert. Im Verfahren geht es um die Feststellung der realen Tatbegehung im Sinne der Tatbestandsmerkmale und um die Schuld. Nur der wahre Schuldige darf dabei verurteilt werden. Damit ist es dem Strafverfahren aufgegeben, möglichst nahe an eine objektive Wirklichkeit heranzukommen. Dass es um die Feststellung eines wirklichen und nicht zum Beispiel durch Kommunikation konstruierten Sachverhalts in der kontinentaleuropäischen Hauptverhandlung geht, zeigt bereits die Ausgestaltung des Beweisrechts in den Strafprozessgesetzen in Form von detaillierten Beweisregeln, über deren Ausschluss keine Vereinbarungen getroffen werden können.123 Nach dem Grundsatz der materiellen Wahrheit müssen die relevanten Tatsachen real und möglichst präzise erforscht werden, aber er bestimmt wiederum nicht die Relevanzen. Dieser Grundsatz beantwortet nicht die Frage, welche Tatumstände für den Strafprozess in Frage kommen. Das wird vom materiellen Strafrecht festgelegt.124 Demnach ist Aufgabe des materiellen Strafrechts und der dort niedergelegten Straftatbestände, diejenigen relevanten Realitätsaspekte herauszuheben, die im Prozess nachgewiesen werden sollten: Eine Verurteilung kann im Strafprozess nur erfolgen, wenn die tatbestandmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Tat nachgewiesen wird. Das Schuldprinzip erfordert die umfassende Sachverhaltsäufklärung und damit die Erforschung der materiellen Wahrheit. 121
Im common law und auch im adversatorischen Strafprozessgedanke in Lateinamerika wird das auch nicht bestritten, aber die Betonung bei den vielfältigen Aspekten der Wahrheitssuche liegt anders, vgl. darüber infra, Kapitel 5 ff. m. w. N. 122 Bezüglich der Anwendung der Diskurstheorie auf das Strafprozessrecht vgl. ferner die Ausführungen infra, Kapitel 3 C. II. 123 Vgl. die umfangreichen Texte dazu, zum Beispiel für das deutsche Beweisrecht Eisenberg, Beweisrecht der StPO; dazu Rieß, JR 2006, 273. 124 Zur langen Zeit im deutschen Recht bewährtes enges Verhältnis des Strafprozesses mit dem materiellen Strafrecht vgl. infra, Kapitel 3 B. II. mit Nachweisen.
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bb) Demgegenüber liefert eine Erklärung des Strafprozesses über verfahrensspezifische vorteilhafte Aspekte keine Letztbegründung für seine materiellrechtliche Richtigkeit und ist zugleich für sich alleine nicht ausschlaggebend für die Bestimmung der Verfahrensstruktur. Dass die Sachverhaltsermittlung die Basis für ein materiell richtiges bzw. gerechtes Urteil ist, wurde immer wieder in den strafprozessualen Abhandlungen des kontinentaleuropäischen Strafprozesskreises betont.125 Im angloamerikanischen Strafprozessverständnis steht sie nicht im Vordergrund der Erörterungen, auch wenn sie nicht per se bestritten wird.126 Das führt zu einer anderen Perspektive auf die Zusammenhänge, die die Anforderungen an eine materielle Gerechtigkeit des Urteils und die Unzulänglichkeiten einer reinen Verfahrensgerechtigkeit im Blick hat. Ein Strafurteil dürfte zum Beispiel nicht eine Abstimmung bestimmter Bürger oder ein Kartenspiel als Grundlage haben. Das Strafverfahrensrecht steht im Konflikt zwischen einer materiell verstandenen Gerechtigkeit und einer rein prozessualen Gerechtigkeit.127 Auch wenn die Verfahrensnormen Bestandteil der gerechten Entscheidung sind,128 würde es den inhaltlichen Anforderungen an die Gerechtigkeit eines Strafurteils zuwiderlaufen, wenn eine materiell verstandene Gerechtigkeit des Ergebnisses außer Acht gelassen würde bzw. wenn es ausschließlich auf der Verfahrensgerechtigkeit, d. h. auf der Einhaltung bestimmter ausgesuchter Verfahrensregeln, beruhen würde. Im Ergebnis sind aber eingehendere Unterscheidungen in der Perspektive der Gerechtigkeit im Rechtsstaat zu entwickeln, auf die wiederum die richtige Rechtsanwendung zurückgreift. Die Klassifikation von verschiedenen Formen prozeduraler Gerechtigkeit von Rawls führt hier weiter.129 Danach ist das Strafverfahren auf keinen Fall zur „definitorischen Verfahrensgerechtigkeit“ mit Gerechtigkeitsbegründungsfunktion zu zählen. Bei dieser reinen Form prozeduraler Gerechtigkeit gibt es keine verfahrensunabhängigen Kriterien, mit denen ein Ergebnis als gerecht begründet werden könnte. Diese Form wird durch das Tennisspielbeispiel einleuchtend: Die einzige Möglichkeit zu begründen, warum eine Tennispielerin besser als die andere ist, ist die Durchführung des Spiels. Das Ergebnis wird also mit in125
Über die frühere Diskussion über den Zusammenhang mit der Gerechtigkeit vgl. MüllerDietz, ZevEthik 15 (1971), 260 f., ferner 258 f.: zwischen formallogischer und materialer Richtigkeit differenzierend; später Neumann, ZStW 101 (1989), 52 ff., 69 f.; Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 175 ff. u. a. 126 Statt aller Herrmann, Reform, S. 152 ff. 127 So zum Beispiel Arthur Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 27 ff. Für den Strafprozess zuletzt Börner, Legitimation durch Strafverfahren, S. 27. Gegen diese Vereinfachung der Differenzierungen und dabei gegen die Vernachlässigung verschiedener Standpunkte in der politischen Philosophie Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 135. Möglicherweise aber reichen diese Differenzierungen für den Bereich des Strafprozesses bereits aus. 128 Vgl. Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 195; Börner, Legitimation durch Strafverfahren, S. 29. 129 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, § 14, S. 105 ff. und dazu näher infra, Kapitel 3 C. II. 3. a) mit Fn. 88.
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haltsunabhängigen Kriterien begründet. Werden die Spielregeln eingehalten, ist das Ergebnis immer gerecht. Demgegenüber sind die Kriterien und Erwartungen beim Strafverfahren bereits vom materiellen Strafrecht vorgegeben. Die Ergebnisgerechtigkeit wird durch ein Kriterium gemessen, das außerhalb des Verfahrens liegt bzw. die oben erwähnte Tatbegehung und Tatschuld mit Wirklichkeitsbezug. Deshalb gehört der Strafprozess zur Form der „dienenden Verfahrensgerechtigkeit“ im Sinne von Rawls, auch wenn diese Formulierung im Strafprozessbereich Reminiszenzen an alte Phrasen aufweist.130 Es hat also Gerechtigkeitserzeugungs- und nicht Gerechtigkeitsbegründungsfunktion. Zugleich „fördert“ das Strafverfahren die Ergebnisgerechtigkeit, es macht ein gerechtes Ergebnis wahrscheinlicher, aber die bloße Einhaltung der Verfahrensregeln bewirkt nicht immer ein akzeptables Ergebnis. Das Verfahrensmodell soll so gestaltet sein, dass nur der tatsächlich Schuldige verurteilt wird („Verfahrensbegründung“). Aber auch wenn der Richter kein eigenes Interesse am Verfahrensergebnis hat („Anwendungsbedingung“) und die Verfahrensnormen einhält („Regeleinhaltung“), kann es zu einem ungerechten Ergebnis kommen. Rechtsvergleichende Arbeiten in den USA knüpfen an Rawls an. Dabei wird vor einer „definitorischen Verfahrensgerechtigkeit“ im Strafprozess gewarnt. So bleibt für Damasˇka die Frage von Schuld und Unschuld bei einem „Extremfall eines Prozesses, der allein auf Konfliktlösung angelegt ist“ ungelöst im Raum stehen, sodass dabei „nicht einmal ein vom Einzelfall unabhängiges, materielles Entscheidungskriterium vorgegeben zu sein“ braucht. Anschließend äußert er seine Bedenken zum US-amerikanischen Strafprozess, der weniger auf materielle Wahrheitsfindung ausgerichtet und in dem die angestrebte Gerechtigkeit eher prozessual als materiell wäre.131 cc) Angesichts der Schwierigkeiten, den historischen Sachverhalt herauszufinden, wird die Forderung des materiellen Strafrechts an den Strafprozess sogar dahingehend verstärkt, dass dieser seine Struktur so gut wie möglich an einer Annäherung an die materielle Wahrheit ausrichten und entsprechend optimieren muss.132 Aus dem breiten Angebot der Wahrheitsdiskussion scheint sich am besten für diese normativen Erfordernisse des Wahrheitsbegriffs die Theorie zu eignen, die auf eine Korrespondenztheorie im Sinne der Übereinstimmung der gedanklichen Vorstellung mit der Wirklichkeit zielt. Sie bietet die passende philosophische Grundlage für diese speziellen rechtlichen Anforderungen. Es geht dabei um das Streben nach der Tatsachenfeststellung, also der Tat und ggf. der Schuld. Zur Bestimmung der Korrespondenztheorie und zu ihrer Anpassung an das Strafverfahren, das ein gesell130 Zur Wechselwirkung zwischen Prozessrecht und materiellem Strafrecht vgl. infra, Kapitel 3. 131 Damasˇka, ZStW 90 (1978), 829, 842 f. u. a. 132 Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Gedanken vgl. Neumann, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 79 f.; ders., ZStW 101 (1989), 52 f., 64; Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 15 ff.; Rieß, JR 2006, 273; Schünemann, Festschrift für Fezer, S. 559, 564; ferner ders., StraFo 2010, 91; ders., GA 2018, 183; Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 177.
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schaftlicher Vorgang ist, ist eine Alltagstheorie am geeignesten für den Bereich des Rechts, weil sie die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit berücksichtigt. dd) Nicht zu verkennen sind ferner die vielfältigen Aspekte, die eine Rolle im Rahmen der Wahrheitssuche im Strafprozess spielen. Wahrheit im Strafprozess hat ein bestimmtes Publikum als Adressaten, was wiederum bestimmte Erwartungen an den Wahrheitsgehalt eines Strafurteils entstehen lässt. Die Rede im Strafprozess kann nicht von einem universellen Wahrheitsanspruch, auch nicht von Kohärenz, aber noch weniger von bloßem Konsens unter Verfahrensbeteiligten sein, weil die real Betroffenen, die Allgemeinheit und überhaupt der Umgang mit realen sozialen Institutionen den Realitätsbezug und das Alltagsverständnis in Zusammenhang mit der Zurechnung der schuldhaften Begehung einer Tat, den Schuldnachweis und eine strafrechtliche Verurteilung verlangen. Ohne den Bezug zur Wirklichkeit bei der Sachverhaltsaufklärung ist die gesellschaftliche Akzeptanz der richterlichen Entscheidungen und des gesamten Strafsystems jedenfalls im deutschen Prozess nicht denkbar.133 2. Sachaufklärung von Amts wegen Eine rechtsvergleichende Betrachtung der Strafprozesssysteme wird zeigen, dass in Lateinamerika das Verständnis des Strafverfahrens als „Lösung des Konflikts“ durch die Kontradiktion der Parteien aus der Sicht der neuen adversatorischen Reformströmungen vorherrscht. Bezüglich des alten durch Las Siete Partidas (Die „Sieben Rechtsbücher“) von 1265 aus Spanien übernommenen Inquisitionsverfahrens herrscht in der lateinamerikanischen Diskussion die Ablehnung des allgemein als inquisitorisch gekennzeichneten richterzentrierten Beweisverfahrens vor.134 Die genauen Differenzierungen und das Bestreben um eine Ausbalancierung dieser Verfahrensform nach dem europäischen reformierten Strafverfahren stehen dagegen in der Regel nicht im Vordergrund, obwohl die früheren argentinischen Abhandlungen die verschiedenen kontinentaleuropäischen Rechssysteme eingehend behandelt haben.135 Auf diese grundsätzlichen strukturellen Verfeinerungen des heutigen deutschen richterzentrierten Beweisverfahrens soll deshalb hier zunächst eingegangen werden. Mit dem Ziel der umfassenden Wahrheitserforschung muss das Gericht von Amts wegen die zur Aufklärung erforderlichen Beweise erheben, um alle entscheidungsrelevanten Tatsachen festzustellen (§ 244 Abs. 2 StPO). Die Prozessbeteiligten können Beweisanträge stellen, aber auch gestellte Anträge zurücknehmen oder von vornherein auf Beweiserhebungen verzichten, ohne dass ihr Verhalten die eigene Pflicht des Gerichts zur Sachaufklärung verändert. Das Gericht ist also an die Anträge der Prozessbeteiligten, aber auch an die Ermittlungsergebnisse der Staatsan133 134 135
Vgl. supra, Fn. 66. Nachweise dazu infra, A. II. 3. Vgl. dazu infra, Kapitel 6 und 7.
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waltschaft nicht gebunden. Der Vorsitzende hat die Prozessleitungsbefugnis inne (§ 238 Abs. 1 StPO) und so die führende Position bei der Wahrheitserforschung, da er über die Beweiserhebungen und deren Reihenfolge sowie über den gesamten Verlauf der Hauptverhandlung entscheidet. Die Verfahrensbeteiligten können zwar gemäß § 238 Abs. 2 StPO eine Anordnung des Vorsitzenden als unzulässig beanstanden. Dann entscheidet aber das Gericht, mithin beim Einzelrichter der Vorsitzende selbst. In der Konsequenz bedeutet das, dass über die Federführung des Gerichts Staatsanwaltschaft und Verteidigung nicht disponieren können.136 Der Grundsatz der Ermittlung von Amts wegen verpflichtet, aus Sicht des Gerichts alle zur Aufklärung relevante Tatsachen zu eruieren, um daraus ein der materiellen Wahrheit entsprechendes Urteil zu gewinnen. Das schließt nicht aus, dass Staatsanwaltschaft und Verteidigung eigene Ermittlungen verfolgen und Beweisanträge stellen, die den Denkhorizont des Gerichts erweitern können und so insgesamt zur Sachverhaltsaufklärung und damit zur Wahrheitsfindung beitragen.137 Das Beweisantragsrecht der Verteidigung ist nicht weniger umfassend als im adversatorischen System.138 3. Umfang der Aufklärungspflicht a) Entscheidend für die kontinentaleuropäische Hauptverhandlung ist die Pflicht zu einer vollständigen Beweiserhebung.139 Das Gericht muss alle bekannten, erkennbaren und erreichbaren Beweismittel ausschöpfen.140 Charakteristisch ist weiterhin eben die Eigenleistung des Tatrichters zur Schaffung einer solch vollständigen Beweisaufnahme. Das zeigt sich im deutschen Recht in der gerichtlichen Leitung der Verhandlung, z. B. bei der Befragung von Zeugen und Sachverständigen. Diese hat er unvoreingenommen zu befragen. Sachverständige müssen von ihm zudem objektiv, das Gutachtensergebnis nicht vorgebend geleitet werden (§ 78 StPO).141 Ferner muss er den Prozessbeteiligten das Recht auf unmittelbare Befragung nach § 240 Abs. 2 StPO gewähren. Die Verletzung dieses Fragerechts durch dessen unberechtigte Einschränkung impliziert nach verbreiteter Auffassung zugleich eine Verletzung der Aufklärungspflicht.142 136 Vgl. dazu Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, § 244 Rn. 11, § 238, Rn. 1 ff.; LR/Becker, § 244 Rn. 50 m. w. N.; LR/Kühne, Einl. I Rn. 30; MüKoStPO/Kudlich, Einl. Rn. 139 f.; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 2 IV, Rn. 51, § 20 II, Rn. 624; SK-StPOFrister, § 244 Rn. 10 ff. 137 Vgl. LR/Kühne, Einl. I Rn. 35. 138 Vgl. infra, B. II. 2. 139 Betont von LR/Kühne, Einl. G Rn. 16; Schünemann, StraFo 2010, 91 f. 140 SK-StPO-Frister, § 244 Rn. 12; MüKoStPO/Kudlich, Einl. Rn. 139. 141 Für den Staatsanwalt gilt Nr. 70 RiStBV. 142 Siehe SK-StPO-Frister, § 244 Rn. 15; vgl. dazu auch LR/Becker, § 244 Rn. 64 m. w. N.; Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, § 240 Rn. 4 ff.
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b) Die Frage ist jedoch, wie weit das Gericht bei der Suche nach der materiellen Wahrheit gehen muss. So hat die Rechtsprechung früher das erkennende Gericht den Umfang der Beweisaufnahme danach entscheiden lassen, inwiefern ihm die bisher erhobenen Beweise eine gesicherte Überzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Beweistatsache gegeben haben. Damals trennte die Rechtsprechung also nicht zwischen der Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsphase, sodass der Richter den Umfang der Beweiserhebung und die Möglichkeit der Heranziehung weiterer Beweismittel bzw. der weiteren Ausschöpfung eines bereits genutzten Beweismittels je nach seiner Würdigung der bis dahin durchgeführten Beweise festlegte.143 Demgegenüber muss das Gericht aus heutiger Sicht grundsätzlich alle erkennbaren und erreichbaren Erkenntnisquellen ausschöpfen, also seine Aufklärungspflicht vollständig erfüllen, ehe es die Beweise frei würdigt (§ 261 StPO). D. h., dass die Beweiserhebung bzw. die Aufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO von der freien Überzeugungsbildung des § 261 StPO zu trennen und zuerst und abschließend durchzuführen ist.144 Doch bleibt zu fragen, ob sich das Gericht mit jedem Beweismittel befassen muss, auch wenn die Beweiserhebung nur eine entfernte Möglichkeit einer Änderung der bisherigen Vorstellung von dem zu beurteilenden Sachverhalt bietet.145 Nach der vorzugswürdigen Ansicht kann hier die bestehende Beweislage gewürdigt werden. Sind die bereits erhobenen Beweise nämlich zuverlässig, muss nicht noch ein weiteres Beweismittel herangezogen werden, bei dem sich nur eine entfernte Möglichkeit zur Änderung des bisher erreichten Beweisergebnisses abzeichnet.146 Bei einer nach wie vor ungesicherten Beweislage besteht hingegen erforderlichenfalls ein Anspruch auf eine bis ins letzte durchgreifende Ausschöpfung aller Beweismittel.147 Für diese Unterscheidung und entsprechende Beurteilung je nach Validität des gesammelten Materials ist also eine Würdigung der vorhandenen Beweise zulässig.148 Die richterliche Aufklärungspflicht erstreckt sich im Ergebnis demnach grundsätzlich auf jedes erkennbare Beweismittel, bei dem nach der konkreten Sachlage die sinnvolle Möglichkeit besteht, dass es zu einer Änderung des Beweisergebnisses führen kann.149 Die Suche nach der materiellen Wahrheit wird allerdings im Anschluss an die Beweisaufnahme durch § 261 StPO eingeschränkt, soweit das Gericht in der Bildung 143
Vgl. LR/Becker, § 244 Rn. 46; SK-StPO-Frister, § 244 Rn. 2 ff., beide mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 144 Vgl. LR/Becker, § 244 Rn. 46 m. w. N. 145 Bejahend in BGHSt 23 176, 188; 30 131, 143; NStZ 1983 376, 377; 1985 325, 326; 1990 384; 1991 399. Offengelassen in BGH NStZ 1994 247, 248 m. Anm. Widmaier = StV 1994 169 m. Anm. Strate JR 1994 288 m. Anm. Wohlers. 146 Vgl. BGH St 30 131 141; 36, 159, 164 f.; 45 188, 197. 147 BGH StV 96, 249; NStZ-RR 96, 299; 03, 205. Ferner Widmaier, NStZ 1994, 249 f.; ders., NStZ 1994, 416. 148 Dazu LR/Becker, § 244 Rn. 49; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, § 244 Rn. 12, beide m. w. N. 149 Vgl. z. B. BGH NStZ 2005 44.
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seiner Überzeugung (und damit der Begründung des Urteils) nur vernünftige Zweifel auszuräumen hat, eine objektive Gewissheit also nicht erreicht werden muss150 – im Einklang mit dem oben erzielten Ergebnissen zur alltagstheoretischen Handhabung der Korrespondenztheorie. c) Im Parteienverfahren besteht demgegenüber kein Anspruch auf Vollständigkeit des Beweises. Die Jury im Common Law oder der Berufsrichter im lateinamerikanischen System entscheidet also auf einer Beweisgrundlage, die von den Prozessparteien nach deren Interessen präsentiert wurde. Zugleich wird sich die Beweisbasis je nach der Geschicklichkeit der Parteien beim „Inszenieren“ der einzelnen Beweise unterschiedlich gestalten. Deshalb setzen die Beweismittel im adversatorischen System eine gewisse Qualität voraus. Das geht aus den Regeln des Ausschlusses von Beweismitteln hervor. Beispiel dafür sind die Pflicht zur Vorlage von Originaldokumenten und -aufzeichnungen oder das Verbot eines Zeugnisses vom Hörensagen (hearsay-evidence).151 4. Tatrichterliche Beweiswürdigung als materiellrechtliches Erfordernis Die bisherigen Ausführungen lassen sich wie folgt resümieren. Im heutigen deutschen Strafprozessrecht steht im Einklang mit der zentralen Rolle des Tatrichters die Sachverhaltsaufklärung im Vordergrund. Der Richter ist dabei nicht an feste Beweisregeln gebunden.152 Er bestimmt die Art und den Umfang der Beweisaufnahme und entscheidet über ihr Ergebnis nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung (§ 261 StPO).153 Typisch ist dabei einerseits die Vollständigkeit der Beweiswürdigung bzw. die lückenlose Berücksichtigung aller Beweistatsachen, die dem Urteil zu Grunde gelegt werden, also die Verwertung aller Beweismittel, die in die Hauptverhandlung eingeführt wurden,154 andererseits die Pflicht, allen irgendwie erfolgsversprechenden Beweismöglichkeiten nachzugehen. Die Unterschiede des kontinentaleuropäischen Systems der freien Überzeugungsbildung zu dem dem adversatorischen Verfahren des Common Law immanenten Beweisrecht (law of evidence) sind leicht greifbar. Das Common Law hat andere historische Wurzeln als die kontinentaleuropäische Beweislehre und entspricht nicht genau den entsprechenden Differenzierungen. Ausschlaggebend für das angelsächsische System ist eine bestimmte Logik des Ausschlusses und der Erheblichkeit der Beweise, die u. a. ihre Relevanz und Qualität
150
Vgl. LR/Sander, § 261, Rn. 7 f. Vgl. dazu zum Beispiel Eser, Festschrift für Miyazawa, S. 564 f. 152 Vgl. z. B. KK-Ott, § 261 Rn. 2, 5, 49 m. w. N.; LR/Sander, § 261, Rn. 2, 4, 41; hervorgehoben von Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 204. 153 Zur geschichtlichen Entwicklung des § 261 StPO vgl. Herdegen, NStZ 1987, 194 f.; Jerouschek, GA 1992, 493 ff.; Fezer, StV 1995, 95 ff.; Küper, Festgabe für Peters, S. 23 ff. 154 Vgl. Fezer, StV 1995, 97; KK-Ott, § 261 Rn. 7, 16, 56 ff. m. w. N. 151
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betrifft.155 Eine Vertiefung dieser Gegenüberstellung mit der Bewertung des Beweises im angloamerikanischen Rechtskreis ist hier nicht erforderlich. Dies ist so, weil die in dieser Arbeit betrachteten lateinamerikanischen Strafprozesse, obwohl sie eine adversatorische Form haben, in diesem Punkt meistens den kontinentalen Grundsatz übernahmen. Interessant sind hier die englischen Einflüsse auf das heutige System der freien Beweiswürdigung und wiederum ihre Übernahme im mexikanischen adversatorischen System. Der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung ist historisch gesehen nicht selbstverständlich. Er wurde während der Zeit des alten Inquisitionsprozess zurückgedrängt, obwohl der Tatrichter eine eindeutig beherrschende Position mit dem grundlegenden Ziel der materiellen Wahrheitsfindung im Strafverfahren besaß.156 Das Strafurteil des Inquisitionsverfahrens beruhte auf den Aussagen von zwei Zeugen oder auf einem Geständnis nach der gesetzlichen Beweistheorie. Diese Beschränkungen haben sich ebenso wie die der peinlichen Befragung zur Erreichung der materiellen Wahrheit für die Wahrheitserforschung als hinderlich bzw. bei der Folter als untauglich erwiesen. Den Tatricher bei der Beurteilung der inhaltlichen Richtigkeit, Zuverlässigkeit und Gewichtung der Beweismittel an einen allgemeingültigen Maßstab bzw. gesetzliche Beweisregeln zu binden, schränkt die Vielfalt bei der Betrachtung der Tatfrage mit allen Besonderheiten des Einzelfalles ein.157 Überdies würde eine rein prozesstechnische Entscheidung über den Sachverhalt, die durch Beweisregeln festgelegt wird, das Ziel der materiellen Wahrheitsfindung verfehlen. Sie scheiterte daran, dass die Überzeugung über die Richtigkeit der Verfahrensgestaltung die Gerechtigkeit über die Beweiswürdigung im Einzelfall noch nicht garantieren kann.158 5. Der Schritt zur freien Beweiswürdigung Die gesetzlichen Beweisregeln wurden durch die freie Beweiswürdigung abgelöst, theoretisch fundiert im italienischen und englischen Schrifttum.159 Die Prin155 Womit die Grundlage der Überzeugungsbildung gefiltert und dadurch der Ermessensspielraum der Jury bei ihrer Entscheidung eingeschränkt wird; dazu Nobili, Die freie richterliche Überzeugungsbildung, S. 9 ff., 152, 224. 156 Allerdings erkennt man schon früh Vorläufer der freien Überzeugungsbildung, vgl. Schmoeckel, Humanität und Staatsraison, S. 189 ff. 194, 267 ff., 280 ff. mit Nachweisen; Nobili, Die freie richterliche Überzeugungsbildung, S. 91 ff., 78 ff. 157 Die Bindung an das materielle Recht erfordert die Feststellung des wahren Sachverhalts und der Tatschuld und damit auch eine Beweiswürdigung im Strafprozess, die an den realen Fall angepasst sein sollte und nicht nur als Ergebnis eines abstrakten Kalküls fungiert. 158 So ausgedrückt von Volk, Wahrheit und materielles Recht, S. 12, damals in Bezug auf die Beweisregeln und auf das Erfordernis richterlicher Überzeugung. 159 Der Gedanke Beccarias ist dabei von Bedeutung, Über Verbrechen und Strafen, XIII („Von den Zeugen“), XIV („Indizien, Formen der Gerichte“), S. 75 ff. Vgl. dazu und mit weiteren Nachweisen Nobili, Die freie richterliche Überzeugungsbildung, S. 70 f., 77, 99 ff.
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zipien der Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und inneren Überzeugungsbildung wurden als miteinander verknüpft angesehen. Das alte, als unvereinbar mit dem neuen System geltende Beweissystem musste deshalb aufgegeben werden. Für den angelsächsichen Prozess ist offengeblieben, welchen Einfluss die Jury auf das Beweissystem entfaltet hat. Es ist zweifelhaft, ob es überhaupt eine Verknüpfung zwischen beiden Elementen gab. Die Techniken des law of evidence werden also nicht als eine unabdingbare Konsequenz des Jury-Systems angesehen.160 Im kontinentalen Strafprozess wurde die freie Beweiswürdigung als „Nebenprodukt“ des Systems der Geschworenengerichte entwickelt161 und kurze Zeit später in ein Verfahrensmodell mit Berufsrichtern verpflanzt. Es handelte sich folglich um eine Übertragung aus dem streng akkusatorischen Prozessmodell in das neue gemischte System.162 Die Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts bemühten sich demnach, den Richter von den Fesseln fester Beweisregeln zu befreien. Einige der Regeln sind im Zivilprozess verblieben. Aus dem Strafprozess wurden sie i. W. entfernt.163 In Deutschland wurde das legale Beweissystem in Frage gestellt, aber das Prinzip der freien Beweiswürdigung setzte sich erst mit dem Schwurgerichtsgedanken im reformierten Strafprozess durch. So wurden die gesetzlichen Beweisregeln durch das preußische Gesetz vom 17. Juli 1846 abgeschafft. Anschließend wurde der Grundsatz der freien Beweiswürdigung von mehreren partikularen Strafprozessgesetzen übernommen und später in § 261 der Reichsstrafprozessordnung aufgenommen.164 Seitdem lässt sich der internationale Einfluss der freien Beweiswürdigung nach deutschem Strafprozessrecht gut beobachten.165 Die „reglas de la sana crítica“, die sowohl in Spanien,166 als auch für die Reformgesetzgebung in Lateinamerika maßgeblich waren, folgen der deutschen Handhabung der freien Beweiswürdigung.167 Demgegenüber lieferte das französische Konzept der „intime conviction“168 160
Nobili, Die freie richterliche Überzeugungsbildung, S. 74 f., 77, 11. Vgl. Küper, Festgabe für Peters, S. 26 m. w. N.; Mittermaier, Gesetzgebung, § 35, S. 475 ff.; Nobili, Die freie richterliche Überzeugungsbildung, S. 17, 77. Vgl. zum Streit, ob die freie richterliche Beweiswürdigung schon vorher entwickelt wurde, Schmoeckel, Humanität und Staatsraison, S. 286 mit Nachweisen. Es kann auch andersrum betrachtet werden: Das System der Geschworenengerichte als Folge des Prinzips der freien Beweiswürdigung. In diese Richtung geht Krüger, der in seiner Habilitationsschrift feststellt, dass die Einführung der freien Beweiswürdigung und die von Laienrichtern in der Strafrechtspflege eng miteinander verwoben sind. Das soll nicht zufällig historisch, sondern inhaltlich in der Sache selbst geschehen sein, siehe Krüger, Unmittelbarkeit und materielles Recht, S. 264 ff., 279 ff. 162 Nobili, Die freie richterliche Überzeugungsbildung, S. 17. 163 Ausdrücklich Nieva Fenoll, La valoración de la prueba, S. 62 m. w. N. 164 Über die Entstehungsgeschichte vgl. Küper, Festgabe für Peters, S. 23 ff., 32. 165 Nieva Fenoll, La valoración de la prueba, S. 63. 166 Vgl. Arts. 741, auch zum Beispiel 717 LECrim, dazu vgl. beispielsweise Ostos, La prueba en el proceso penal acusatorio, S. 15 ff. 167 Vgl. z. B. Taruffo, Algunos comentarios, Discusiones, Nr. 3, 2003, S. 81 ff. 168 Aus dem Gesetz von 16.–21. September 1791 in den Art. 342 des Code d’Instruction Criminelle von 1808 übertragen. 161
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keine objektiven, rationalen Kriterien, sondern nur subjektive und psychologische, auch emotionale Anhaltspunkte.169 Die französische Vorstellung der „intime conviction“ ging von einer absoluten Unüberprüfbarkeit des Wahrspruches der Geschworenen, während in Deutschland von Anfang an die freie Beweiswürdigung nicht als subjektive Willkür, sondern als rationale Würdigung der erhobenen Beweise verstanden wurde.170 Die richterliche Beweiswürdigung beruht auf einer objektivrationalen Basis bzw. auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage und auf Regeln der Logik im Sinne einer klaren und folgerichtigen Beweisführung und wissenschaftlichen Erkenntnissen bzw. Erfahrungssätzen entsprechend dem deutschem Recht. Hinzu kommt die „persönliche Gewissheit“ des Tatrichters von der objektiven Wahrheit als individueller Bestandteil der Bewertung, der allerdings auf einer objektiven Grundlage bzw. auf realen Anknüpfungspunkten beruhen muss.171 Zusätzlich zur „objektiven Grundlage“ muss deshalb die Verantwortung für die Entscheidungsgrundlage wie für das Ergebnis auch vom Tatrichter subjektiv übernommen werden. Ob er sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen konnte, wird also nur nach seiner Überzeugung geprüft.172 6. Rezeption in Lateinamerika Nach diesem Überblick über die Entwicklung der heutigen richterlichen Überzeugungsbildung ist die lateinamerikanische Auswahl des Systems der freien Überzeugungsbildung von Interesse, insbesonders in den neuen akkusatorischen Strafprozesssystemen wie in Mexiko. Das System der gesetzlichen Beweisregeln wird in der Reformdebatte als zum alten Inquisitionsprozess gehörend angesehen und als solches abgelehnt.173 Im neuen adversatorischen Strafverfahren gilt nicht das Bewertungssystem des common law, sondern das kontinentaleuropäische Prinzip der freien Beweiswürdigung, womit sich die strafprozessualen Abhandlungen seit langer Zeit beschäftigen. Aus der mexikanischen Bundesverfassung nach der Reform von 2008 ergibt sich, dass sich der Verfassungsgeber gegen die Formalisierung der Beweise in allen Strafverfahrensphasen entschieden hat, abgesehen von einigen Ausnahmen.174 Das Prinzip der freien Beweiswürdigung ist in Art. 20, Apartado A, fracción VIII verankert: „El juez sólo condenará cuando exista convicción de la 169
Vgl. dazu z. B. Fezer, StV 1995, 95; Küper, Festgabe für Peters, S. 27 ff. Siehe dazu supra, Kapitel 1 B. III. 171 Vgl. dazu Fezer, StV 1995, 96 f., 99; KK-Ott, § 261 Rn. 5 ff., 49 ff.; LR/Sander, § 261 Rn. 7 ff., 42 ff.; Krüger, Unmittelbarkeit und materielles Recht, S. 279 ff., alle m. w. N. aus der Rechtsprechung. Über den Einfluss von Savigny auf die heutige gesetzliche Bestimmung der freien Beweiswürdigung vgl. Herdegen, NStZ 1987, 194 f. 172 Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, § 261 Rn. 2 f. m. w. N. 173 Vgl. zum Beispiel Díaz de León, Tratado sobre las pruebas penales, Band II, S. 431. 174 Carbonell/Caballero González, Código Nacional con jurisprudencia, S. 320 f., zu Décima Época, Tribunales Colegiados de Circuito, Gaceta del Semanario Judicial de la Federación, Buch 11, Oktober 2014, Bd. III, S. 2377. 170
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culpabilidad del procesado“.175 Das neue Bundesstrafprozessgesetz Mexikos sieht auch in seinem Art. 402 das Prinzip der freien Beweiswürdigung vor.176 Problematisch könnte für die mexikanische adversatorische Prozessstruktur sein, ob die Verfahrensbalance ohne die Qualitätsprüfung der zulässigen Beweismittel aufrechterhalten bleiben kann. Dafür ist auf die nähere Auseinandersetzung mit den Beweisausschlussregeln als Ausgleichsmechanismus im Parteisystem gegenüber der andersartigen Balance im kontinentaleuropäischen System im Kapitel 8 A. III. 6. hinzuweisen.
II. Wahrheit im adversatorischen Modell 1. Methode der Rechtsvergleichung Versteht man die Rechtsvergleichung nicht als schlichte Gegenüberstellung von Rechtsfiguren, sondern angemessen als strukturfunktionale Analyse rechtlicher Institutionen, dann bedarf es der grundlegenden Einbeziehung von Verfahrensprinzipien, um sachgerecht über das Für und Wider des inquisitorischen Prozessmodells befinden zu können. Ein rein funktionaler Ansatz zeigt sich allerdings für eine rechtsvergleichende Untersuchung als unzulänglich, weil die historischen und kulturellen Wurzeln der Rechtsordnungen ein tieferes Verständnis der Gemeinsamkeiten und Unterschiede ermöglichen. Auch in der Rechtsvergleichung im Strafprozessrecht sollen deshalb die historischen Grundlagen und das kulturelle Umfeld und der Wirkungsbereich zusätzlich in Betracht gezogen werden.177 Die auch in der zeitgenössischen lateinamerikanischen Diskussion befindliche Forderung, das inquisitorische Modell zugunsten eines adversatorischen aufzugeben, ist zu kurzsichtig. Die neuen Reformströmungen in Lateinamerika vernachlässigen oft den Bezug zu den historischen und kulturellen Hintergründen der in Frage kommenden Strafprozesssysteme. Ferner vermisst man eine Differenzierung 175 Dazu vgl. Suprema Corte de Justicia de la Nación, La Prueba en el sistema acusatorio en México (prueba ilícita, eficacia y valoración), 2015, S. 100 ff. 176 Art. 402 CPPN Mexiko: „Convicción del Tribunal de enjuiciamiento. El Tribunal de enjuiciamiento apreciará la prueba según su libre convicción extraída de la totalidad del debate, de manera libre y lógica; sólo serán valorables y sometidos a la crítica racional, los medios de prueba obtenidos lícitamente e incorporados al debate conforme a las disposiciones de este Código.“ 177 Zu den theoretischen Grundlagen der Rechtsvergleichung siehe Beck/Burchard/FatehMoghadam (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als Problem und Lösung. Für eine kulturbezogene Analyse, die das Recht betrachtet als „eine spezifische Art kultureller Kommunikation“ siehe Beck, a. a. O., S. 87 ff. Vgl. auch Hörnle, ZStW 117 (2005), 805 ff. Für einen operativen Funktionalismus systemtheoretischer Provenienz siehe Fateh-Moghadam, Operativer Funktionalismus in der Strafrechtsvergleichung, S. 43 ff. Vermittelnd Perron und Weigend ebenda, S. 121 ff., 131 f. Auch für den Strafprozess soll gelten, dass ein über den beiden zu vergleichenden Rechtssystemen stehendes geschlossenes Wertesystem, an dem man beide messen könnte, nicht ohne Weiteres zu finden ist, siehe Beck, a. a. O., S. 76.
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zwischen dem aus der spanischen Inquisition von den lateinamerikanischen Ländern übernommenen alten Verfahren und den neuen kontinentaleuropäischen Formen wie das System des reformierten Strafprozesses des 19. Jahrhunderts. Der Blickwinkel ist von der Kritik am alten Inquisitionsverfahren geprägt, öfters ohne die Vorteile des heutigen kontinentaleuropäischen Strafverfahrens abzuwägen. Man muss vielmehr die Komplexität der Überlegungen zum gegenwärtigen kontinental-europäischen Strafverfahren berücksichtigen, die vielfach die Diskussion zum reformierten Strafprozess wiederaufnehmen. 2. Verhältnis zur Wahrheitsermittlung Das kontinentale Modell der umfassenden Sachverhaltsaufklärung mittels aller zulässigen Erkenntnismittel mit dem Ziel der Erforschung der materiellen Wahrheit – bei Wahrung empirischer und normativer Grenzen –, unterscheidet sich substantiell vom adversatorischen System, in dem das Beweisverfahren grundsätzlich auf die Feststellung der Sachverhaltshypothesen der Parteien mit der von ihnen bestimmten Beweisaufnahme eingeschränkt wird. In der deutschen Diskussion besteht keine Einigkeit darüber, welches Wahrheitskonzept im Hintergrund des angloamerikanischen Strafverfahrens steht,178 d. h. ob es auf eine dem deutschen Strafverfahrensrecht vergleichbare Wahrheit zielt,179 ob es in einer Diskurstheorie der Wahrheit fundiert ist,180 oder ob es ohne solche Hintergründe einfach auf Verhandlung und Konsens beruht. Dabei spricht man zugleich über eine „formelle“, „formalisierte“ oder „diskursbezogene“ Wahrheit.181 Die neuen adversatorischen Strömungen in Lateinamerika fundieren den Wahrheitsbegriff teilweise in der Korrespondenztheorie182 und begründen die Eignung der adversatorischen Methode der Beweissammlung und -erhebung auf das Kontra178 Eingehend Van Kessel, 67 Notre Dame L. Rev. 403 (1993), S. 448 ff. über die „SportGame Theory“; Duff/Farmer/Marshall/Tadros, The Trial on Trial, Vol. 1; Damasˇka, 49 Hastings L.J., 289 ff.; ders., Evidence Law Adrift, S. 74 ff.; ders., StV 1988, 401; LaFave/Israel/ King/Kerr, Criminal Procedure, § 1.8. (a) und (b) kombiniert ein discovery of the „truth“ mit dem adversary process (in der 4. Aufl. 1.4. (a) und (b)); vgl. ferner Weigend, Festschrift für Rissing-van Saan, S. 755 ff.; Langer, in: American Journal of Comparative Law, Vol. 53, insbes. S. 840 (2005); zuletzt Anders, ZStW 129 (2017), 105, vgl. ferner folgende Fußnoten. 179 Herrmann, Reform, S. 154, 158, 167 f.; zweifelnd und illustrativ bereits Goodpaster, The Journal of Criminal Law and Criminology 78 (1987), S. 121 ff. 180 Bezogen auf das angloamerikanische System Lüderssen, StV 1990, 416; Trüg, ZStW 120 (2008), 331 ff., 347; ders./Kerner, Festschrift für Böttcher, S. 191 ff., 195 ff. Über diese Themen bereits Volk, Wahrheit und materielles Recht, S. 15; ders., Festschrift für Salger, S. 416; heute Weßlau, Festschrift für Schünemann, S. 995 ff. 181 Für „formelle“ Wahrheit siehe Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, S. 17, 150 f., 214; für „diskursbezogene“ Wahrheit siehe Trüg/Kerner, Festschrift für Böttcher, S. 191 ff., 197 und für „formalisierte“ Wahrheitsfindung, Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 67 ff. mit Fn. 174, 479 ff.; ders., ZStW 120 (2008), 331, 346; ders./Kerner, a. a. O., S. 197; dazu Weßlau, Festschrift für Schünemann, S. 997. 182 So zum Beispiel Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. 63 ff.
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diktionsprinzip und auf den Grundsatz der Unparteilichkeit des Richters (imparcialidad). Nach dieser Ansicht verletzt die aktive Beteiligung des Richters in der Hauptverhandlung (und im Ermittlungsverfahren) das Prinzip der Unbefangenheit bzw. Unparteilichkeit des Richters.183 In einigen lateinamerikanischen Strafprozessbestimmungen ist das Prinzip der materiellen Wahrheit verankert, z. B. in der novellierten Verfassung Mexikos und im neuen Bundesstrafprozessgesetz (CPPN).184 Die neue Reformbewegung konzentriert sich aber auf die sog. teoría del caso, die die Techniken des Prozessstreits oder Prozessführung in den Vordergrund der Strafprozessthemen stellt.185 Dagegen wird eingewendet, dass die Fundamente des materiellen Strafrechts, die im Hintergrund des Strafprozesses und seiner Legitimierung und Ausgestaltung stehen, von den Reformimpulsen vollständig außer Acht gelassen wurden.186 3. Unterschiedliche Methoden der Wahrheitserforschung Obwohl die Unterscheidung der Wahrheitsbegriffe der beiden Modelle nicht nur an den Methoden der Beweisrelevanz und -sammlung festzumachen ist, ist die jeweils zu Grunde liegende Vorgehensweise im Prozess Beleg dafür, inwiefern sich das Verfahren auf ein unabhängiges, vom Prozess externes Geschehen und nach verfahrensunabhängigen Entscheidungsmaßstäben wie im sog. kontinentaleuropäischen Verfahrenssystem richtet und inwiefern es den Bezug zum realen Tatgeschehen durch prozessuale Konfrontationen der Parteien und Zugeständnisse nach dem Grundsatz der Parteiautonomie (party autonomy187) verlieren lässt. Die Form des Verfahrens entscheidet darüber, ob es um die Erforschung der gesamten realen Tatumstände der Entscheidung geht oder nur um eine Wahrheit, die zur Disposition der Prozessbeteiligten steht.188 Anders als die noch auszuführende Unterscheidung in prozessexterne und -interne Schwerpunktsetzung beider Modelle gilt die klassische Gegenüberstellung anderen Gesichtspunkten. Die Frage nach den Merkmalen der zwei Strafverfahrensmodelle, die sich als Vorzüge oder als Nachteile für die Eignung zur Wahr183 In dieser Kombination Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. 167 ff.; ferner in diese Richtung Ferrajoli, Diritto e ragione, Parte Prima, I.4., insbes. 3.; ders., Vorwort in Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. VIII f. Vgl. dazu infra, Kapitel 5. 184 Vgl. dazu infra, Kapitel 8 A. III. 2. 185 Vgl. dazu infra, Kapitel 8 A. III. 4. 186 Vgl. im Rahmen der mexikanischen Reform, die die letzte lateinamerikanische Modernisierung des Strafprozesses ist, Moreno Hernández, La relación entre el Derecho Penal y el Derecho Procesal Penal insbes. S. 355. 187 So zum Beispiel Dennis, The law of evidence, Kapitel 1 C (1.15), S. 14 ff., Kapitel 13 B (13.3.), S. 522. 188 Zum letzten Aspekt Volk, Wahrheit und materielles Recht, S. 17: „prinzipiell unabhängig vom Verhandlungsgeschick der jeweils Beteiligten“; im Anschluss Weigend, Deliktsopfer, S. 178. Für die Problematik beim deutschen Verwaltungsprozess vgl. Haas, Strafbegriff, S. 365 ff.
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heitserforschung erweisen, beschäftigt weiterhin die Diskussion in Kontinentaleuropa und begleitet auch die aktuelle Reform in Lateinamerika. Dabei geht es nicht um eine Glaubensfrage.189 Es geht um den Status der Argumente im jeweiligen kulturellen Zusammenhang.190 Die Ressentiments sind mit Händen zu greifen. Zum Beispiel wird die inquisitorische Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung im Common Law191 wie auch von den Reformimpulsgebern in Lateinamerika meistens negativ beurteilt: „Es un engendro que empuja necesariamente a que el juez trabaje como fiscal“ („Eine Missbildung, die dazu führt, dass der Richter als Staatsanwalt agiert.“).192 Am adversatorischen System wird oft der Charakter des Wettkampfs kritisiert, in dem es den Parteien um den Sieg und nicht um die Wahrheit gehe.193 Die Erforschung der Wahrheit ist alleine den Parteien aufgegeben.194 Für die Abwägung einzelner Vorzüge und Mängel ist auf die Rechtsvergleichung mit den lateinamerikanischen Strafprozessen in Kapitel 8 zu verweisen. Die Haupteinwände sollen hier zusammenfassend festgehalten werden. Gegen das kontinentale Modell der Amtsaufklärungspflicht wird vor allem die richterliche Beeinflussung durch die Anklagehypothese eingewendet, was u. a. durch die Kenntnis der Ermittlungsakte ermöglicht wird.195 Auch das Misstrauen gegenüber der Richterschaft kommt als Einwand vor, vor allem und von Interesse im hier vorgenommenen Rechtsvergleich gegenüber dem noch inquisitorisch strukturierten Beweisverfahren des argentinischen Bundesstrafprozessgesetzes, das eine Ausnahme im lateinamerikanischen
189 So die neue Literatur darüber, Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 49. 190 So zum Beispiel Hörnle, ZStW 117 (2005), 801 ff. 191 Aus der amerikanischen Sicht berichtet Langer, in: Harvard International Law Journal, Vol. 45, No. 1, 2004, Punkt III, S. 19, Fn. 68. 192 So ausgedrückt vom Hauptimpulsgeber der lateinamerikanischen Reformen Binder, Derecho Procesal Penal I, S. 104. 193 Aus dem eigenen Lager Langbein, The Origins, S. 331 ff.; sehr kritisch zuletzt Greco, Strafprozesstheorie, S. 248 ff. 194 Gegen das rein adversatorische Modell und für eine Mischung aus gerichtlichem Instruktionsermessen und parteilicher Beweisvorführung Anders, ZStW 129 (2017), 106 und passim. 195 Vgl. dazu infra, Kapitel 8 A. II. 2. c). Statt vieler bereits Zachariae, Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, S. 242 f.; Schünemann weist seit vielen Jahren auf den sog. Inertia- oder Perseveranzeffekt (Trägheitseffekt oder Mechanismus der Selbstbestätigung von Hypothesen) und Schulterschlusseffekt hin, vgl. ders., in: Kerner/Kury/Sessar (Hrsg.), Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung, S. 1109 ff.; ders., in: Kaiser/Kury/ Albrecht (Hrsg.), Kriminologische Forschung, Band 35/I, S. 265 ff.; ders., in: Bierbrauer/ Gottwald/Birnbreier-Stahlberger (Hrsg.), Verfahrensgerechtigkeit, S. 215 ff.; ders., StV 2000, 159 ff.; ders., Festschrift für Kühne, S. 362 f.; ders., Festschrift für Streng, S. 762 f. (IV 5 d); ders., Festschrift für Weßlau, S. 358 f.; ders., GA 2018, 189; daran anschließend Anders, ZStW 129 (2017), 92 f. Zur lateinamerikanischen Kritik vgl. zum Beispiel Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. 190 ff.; Ferrajoli, Diritto e ragione, Parte Prima, I.4.; ders., Vorwort in Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. VIII f.
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Kap. 2: Wahrheit und Verfahren
Strafprozessrecht ist.196 Darüber hinaus gibt es prozessuale Besonderheiten, die den Einfluss des Ermittlungsverfahrens auf das Verfahrensergebnis wesentlich erhöhen197 und die nicht unbedingt im Zusammenhang mit der richterlichen Führung der Beweisaufnahme stehen, zumal sie eine geringere Bedeutung der Hauptverhandlung implizieren. Auf jeden Fall sind sie kein notwendiger Bestandteil des Modells der Amtsaufklärungspflicht, nicht für dieses kennzeichnend und sollten auch durch punktuelle Veränderungen beseitigt werden. Es geht beispielsweise um die neuerliche Vernehmung von Vernehmungspersonen aus dem Ermittlungsverfahren.198 Auch gibt es das Thema der sog. „Transmissionsriemen“.199 Eine Schwäche des adversatorischen Systems ist die faktisch bestehende Waffenungleichheit. Die damit einhergehende Übernahme einer besonderen Verantwortung der Strafverteidigung zeigt das Beispiel der mexikanischen Reform (Kapitel 8). Zugleich sind Wahrheitsdesiderate durch die fehlende Vollständigkeit der Beweisaufnahme nicht zu verkennen. So können zum Beispiel bestimmte Zeugen nicht geladen werden oder der Bezug auf die Schuldunfähigkeit von beiden Seiten aus strategischen Gründen vermieden werden. Die Vollständigkeit leidet auch unter den Beweisvereinbarungen der Parteien. Diese Lückenhaftigkeit würde eine neutrale Instanz vermeiden können. Damit wäre nicht nur der Beschuldigte vor nachteiligen Sachverhaltsverzerrungen geschützt, sondern auch das Interesse an einer erschöpfenden Beweisaufnahme. Auch die Erwartungen der Allgemeinheit, d. h. die Ausschöpfung der Beweisalternativen mit dem Ziel der Annäherung auf den realen Sachverhalt, wären gewährleistet. Zwar ist der leitende Berufsrichter im anglo-amerikanischen System nicht ein passiver Schiedsrichter, sondern kann durchaus korrigierend in den von den Parteien geführten Beweisgang eingreifen. Allerdings wird dies im Common Law, anders als in den Mischstrukturen modernerer Strafprozesse, nicht immer praktiziert. Eine aktive Einwirkung wird in Hinsicht auf seine Prozessrolle kritisch gesehen.200 In der Sache ist es auch nur eine Korrektur, das Beweisverfahren bleibt in den Bahnen der bereits von den Parteien vorgetragenen Sachverhaltsversionen und den dafür vorgebrachten Beweisen.201 Nicht zuletzt entscheidet im angloamerikanischen System 196 Vgl. dazu infra, Kapitel 6 C. II. 4. b) dd). Siehe Stuckenberg für die Abwägung der Argumente pro und contra: „Wer Amtsträger grundsätzlich misstraut“ in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 49. 197 Dies wird im Schrifttum wiederholt betont, z. B. von Wolter, Aspekte einer Strafprozeßreform, S. 35; Schünemann, ZStW 114 (2002), 22; Satzger, 65. DJT, C 11 ff., C 36. 198 Vgl. dazu Weigend, Festschrift für Eisenberg, S. 664; BGH NStZ 2014, 596; Meyer, StV 2015, 319 ff.; Eisenberg, NStZ 1988, 488; Fezer, JZ 1990, 876. 199 Vgl. dazu Weigend, Festschrift für Eisenberg, S. 664; Fezer, Gedächtnisschrift für Schröder, S. 413; Schreiber, Festschrift für Baumann, S. 385 f.; Weigend, StraFo 2013, 47, u. a. 200 Dazu infra, Kapitel 8 A. III. 3. e) aa) mit Nachweisen; ferner zu diesem Thema infra, Kapitel 8 C. II. 2. 201 Eser, Festschrift für Tiedemann, S. 1464 f., 1459 f.; ders., in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 18; Damasˇka, in: Law, Probability and Risk (2003), 2, 120.
A. Strafprozessmodelle und Wahrheitserforschung
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die Jury über die Schuldfrage, ohne am Beweisgang aktiv beteiligt zu sein.202 Anders verhält es sich in den Mischformen in einigen lateinamerikanischen Strafprozessgesetzen, denenzufolge das erkennende Gericht im Beweisverfahren zum Schluss ergänzend mitwirken kann und selbst das Urteil fällt.203 Der im Parteisystem im Grundsatz passive Richter greift mithin nur punktuell in den Beweisgang ein. Er hat eine Beobachterposition gegenüber den von den Parteien einseitig und nach ihren Interessen vorgetragenen Tatversionen und den von ihnen vorgebrachten Belastungs- oder Entlastungsbeweisen, ohne sich von Anfang an ein vollständiges Bild des wahren Sachverhalts als Herr der Tatsachenerforschungen machen zu können, sondern allenfalls auf eventuelle Korrektur- oder Ergänzungsbefugnisse zum Abschluss des Beweisverfahrens beschränkt. Er nimmt also auf eine von taktischen und strategischen Überlegungen geprägte Beweisaufnahme Rückgriff. Damit sind ihm der Inhalt und die Zielrichtung der Erforschung bereits vorgegeben und strukturiert, je nachdem welche Tatsachen und Beweismittel die Parteien gemäß ihren eigenen Interessen präsentieren und beispielsweise welche Fragen sie den Zeugen stellen und abhängig von deren eigener Geschicklichkeit. Nach diesem festgelegten Beweisverlauf muss ein anderes, bis dato tatenlos zusehendes Organ, sei es die Jury oder in Lateinamerika das erkennende Gericht, entscheiden. Es besteht beim Urteil so eine Bindung an die Geschehensversionen der Parteien und auf die von ihnen inszenierten Beweiserhebungen bis zum Abschluss des Beweisverfahrens, sodass die Entscheidungsgrundlage aufgrund des einseitig präsentierten Rahmens beschränkt ist. Eine solche parteiliche Eigengestaltung der Beurteilungsbasis und fehlende Einbindung des Entscheidungsorgans besteht beim kontinentaleuropäischen System der Vollständigkeit der Sachverhaltsaufklärung in Gesamtverantwortung des Gerichts mit der Heranziehung aller relevanten be- und entlastenden Beweismittel nicht. So muss der Richter im deutschen Strafprozess auch solche Tatsachen überprüfen, die vom Angeklagten nicht bestritten werden.204 Andererseits besteht ein adversatorisches Element in Form des Beweisantragsrechts, das sich allerdings nicht gegen das Prinzip der materiellen Wahrheitsfindung, sondern zu seinen Gunsten auswirkt.205 Weiterhin ist das Fragerecht der Anklage und der Verteidigung stark ausgeprägt, in beiden Fälle im Dienst der Wahrheitserforschung (§ 240 Abs. 2 StPO) stehend.
202 Zu diesem und zu weiteren Argumente gegen die Tauglichkeit des adversatorisches Modells für die materielle Wahrheitsfindung vgl. Schünemann, Festschrift für Fezer, S. 562 ff.; ders., StraFo 2010. Demgegenüber betont Anders, ZStW 129 (2017), 105 f. ein ergänzendes Fragerecht der Geschworenen. 203 Dazu infra, Kapitel 8 A. III. 3. e) bb) mit Nachweisen. 204 LR/Kühne, Einl. I Rn. 32. 205 Vgl. dazu infra, B. II. 2.
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Kap. 2: Wahrheit und Verfahren
B. Annäherung beider Modelle Könnte es nun sein, dass die neueren Entwicklungen des kontinentaleuropäischen Modells die Unterschiede in der Verfahrensstruktur nivellieren? Oder dass auf der anderen Seite Entwicklungen im Beweisrecht des Common Law zu einer Annäherung an den inquisitorischen Prozess führen?
I. Durch richterliche Pozessleitung im US-Beweisrecht So lässt sich in der amerikanischen Praxis eine Tendenz zur Stärkung des Gerichts bei der Prozessleitung und der Berufung auf die materielle Wahrheit beobachten.206 Demnach wäre das Gericht mehr als ein „Schiedsrichter“, es wäre vielmehr eine Art „Manager“ der Beweisaufnahme.207 Einige vom Gericht übernommene Aufgaben, die hier zu analysieren sind, verbürgen jedoch noch keine tatsächliche Verfahrensherrschaft. Das gilt etwa für die Kontrolle der Auswahl der Geschworenen, für deren richterliche Instruktion (instructions to the jury), für die Abänderung der Anklage oder für die Sanktionierung der Nichtoffenlegung von Beweismaterial.
II. Durch Schwächung der Stellung des Angeklagten Manche Beobachter würdigen die Einschränkung der Verfahrensrechte des Beschuldigten im Beweisgang,208 verknüpft mit dem größeren Gewicht belastender Umstände, als Ausdruck einer „inquisitorischen“ Tendenz. 1. Ausnahmen für das Verbot vom Hörensagen So wird das Verbot des Beweises vom Hörensagen (hearsay) (FRE 802), ein Charakteristikum des anglo-amerikanischen Beweisrechts, zunehmend durchbrochen. Das betrifft u. a. Informationen von verdeckten Ermittlern oder von V-Leuten.209 Fraglich ist aber, inwiefern diese für den Beschuldigten belastenden Veränderungen tatsächlich die Struktur des amerikanischen Strafverfahrens verändern.210 Für eine Antwort ist zu berücksichtigen, dass die Verwendung eines Beweises vom Hörensagen nicht unbedingt als ein kennzeichnendes Element oder Begleitphänomen einer heutigen „inquisitorisch“ bzw. an der Amtsermittlungspflicht ausge206 So Trüg, Lösungskonvergenzen, zusammengefasst auf S. 381 ff., 471 f., 474 ff., 483 ff. Vgl. ferner Harding, in: Eser/Rabenstein (Hrsg.), Strafjustiz, S. 10. 207 Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 381 ff. 208 Trüg, Lösungskonvergenzen, z. B. S. 358 f., 382 f., vgl. auch 345, 348. 209 Vgl. dazu Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 344 ff., 347 f. mit Nachweisen. 210 Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 345, 349, 358 ff.
B. Annäherung beider Modelle
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richteten Verfahrensstruktur angesehen werden kann, weil der Beweis vom Hörensagen im inquisitorischen Modell im Grundsatz unzulässig ist.211 Auch geht es nach dem inquisitorischen Modell nicht um die Überführung des Beschuldigten durch die Hervorhebung belastender Elemente, sondern um die Erforschung der materiellen Wahrheit, sei es zum Nutzen oder zum Nachteil des Beschuldigten.212 Dieses Modell ist offen für Restriktionen, die dem Schutz des Beschuldigten dienen. Gerade weil beim Beweis vom Hörensagen Zweifel an der Zuverlässigkeit bestehen, wird er nicht ohne weiteres verwendet. 2. Einschränkungen beim Beweisantragsrecht und bei der Beweisverwertung a) Im US-Beweisrecht lässt sich eine Tendenz dazu, ein materiell richtiges bzw. gerechtes Ergebnis zu finden, besonders deutlich bei den allmählich entwickelten Einschränkungen des Beweisantragsrechts und in den Beweisverwertungsverboten beobachten.213 Mit der Einschränkung des Beweisantragsrechts wird aber ein Kernelement des Parteiverfahrens tangiert, nachdem es die wesentliche Möglichkeit der Beweiserhebung bildet. Angesichts des passiven Verhaltens des Gerichts und der Geschworenen, die keine Pflicht zur Beweiserhebung von Amts wegen besitzen, muss ein Modell des Parteiverfahrens bei der Erhebung der Beweise von der Führung der Parteien und deren Beweisanträge geprägt sein. Konkret geht es um die Erweiterung des Spielraums des Gerichts, Beweisanträge abzulehnen (FRE 403), insbesondere durch den Einwand der Ineffizienz.214 b) aa) Auch im inquisitorischen Modell gestalten die Verfahrensbeteiligten mit Beweisanträgen die Sachaufklärung vor Gericht. Diese besondere Einflussmöglichkeit der Verteidigung würde aber ins Leere laufen, wenn der Richter die Beweisanträge schrankenlos ablehnen dürfte. Das Gericht kann solche Anträge also nicht grundsätzlich zurückweisen. Die RStPO von 1877 enthielt deshalb keine Regelung für Ablehnungsgründe (§ 243 Abs. 2 a. F.).215 Erst das Reichgericht differenzierte die Ablehnung durch Formulierung von Ablehnungsgründen aus und schränkte damit das Ermessen ein, das der Gesetzgeber dem Gericht ursprünglich
211
Die Verwertbarkeit dieses Beweises ist in Deutschland eine Frage der Aufklärungspflicht und damit nicht per se zulässig, vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, § 250, Rn. 4 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. Kritisch u. a. Grünwald, JZ 1966, 489 ff.; ders., Das Beweisrecht der Strafprozeßordnung, S. 119 f.; Mehle, Festschrift für Grünwald, 358; Schünemann, Festschrift für Meyer-Goßner, 400. 212 Siehe § 261 Abs. 2 StPO für das Ermittlungsverfahren. 213 Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 367 ff., 472 ff., 483 ff. 214 Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 368 ff., 483. 215 Zur Entstehungsgeschichte der Normen über den Umfang der Beweisaufnahme Alsberg/ Güntge, Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 1 ff.; Foth, Festschrift für Widmaier, S. 224 ff.; Schatz, Das Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung, S. 57 ff.; Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, Rn. 7 f. mit Nachweisen; Anders, ZStW 129 (2017), 87 ff.
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Kap. 2: Wahrheit und Verfahren
zugestanden hatte.216 Auf diese Weise wurde das bestehende Beweisantragsrecht verstärkt. Im Übrigen wird dem Angeklagten die Teilnahme am Verfahren nicht in erhöhtem Maße eingeschränkt. Der Beurteilungsspielraum für die Ablehnung von Beweisanträgen durch das Gericht ist normiert und durch die Rechtsprechung ausdifferentiert. In §§ 244 Abs. 3 bis 5, 245 StPO werden enumerativ die Ablehnungsgründe aufgezählt. Allerdings muss konzediert werden, dass dieser Beurteilungsspielraum mehr und mehr erweitert und damit das Beweisantragsrecht weiter eingeschränkt wird. bb) Die Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2) und das Beweisantragsrecht (§ 244 Abs. 3 bis 5 StPO) auszutarieren heißt, ein gewisses prozessuales Gleichgewicht herzustellen. Dabei ist belangvoll, ob das Beweisantragsrecht nach der Inkongruenzlehre217 die Aufklärungspflicht mit einem „mehr“ erweitert oder nach der „Identitätslehre“ nur konkretisiert.218 Wichtig ist dies weniger für die Verfahrensgestaltung als für die Reichweite des Verbots der Beweisantizipation. So sieht die Identitätslehre in der Aufzählung von Gründen für die Ablehnung von Beweisanträgen eine Ausformulierung der Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit, an die das Gericht auch hinsichtlich des Umfangs der Amtsaufklärungspflicht gebunden ist.219 Für die Inkongruenzlehre hingegen nimmt der Tatrichter bei der Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nur die Beweiswürdigung vorweg, die es für die Prüfung braucht, ob die weitere Beweiserhebung Einfluss auf die richterlichen Überzeugung hätte, die auf dem bisherigen Beweisergebnis basiert. Demgegenüber handelt es sich um eine unzulässige Beweisantizipation außer in den gesetzlich beschriebenen Fällen, wenn man eine Beweisprognose bei der Entscheidung über einen Beweisantrag stellt. Demnach muss das Gericht, auch wenn aus seiner Sicht eine negative Prognose vorliegt, dem Antrag stattgeben.220 216 Vgl. Alsberg/Güntge, Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 7 ff.; Foth, Festschrift für Widmaier, S. 223 ff., 228 ff.; Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, Rn. 8 ff. mit Nachweisen. Über die Geschichte des Beweisantragsrechts vgl. Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 26 ff.; Anders, ZStW 129 (2017), 87 ff. 217 J. Schulz, NStZ 1991, 449; Frister, ZStW 105 (1993), 340 ff., u. v. a. Weitere Nachweise in Gössel, Kolloquium für Gollwitzer, S. 49, Fn. 13. Dies schlägt sich in der Frage nach der historischen Genese des Beweisantragsrechts nieder. Überwiegend ist man der Ansicht, dass es nicht aus dem Amtsaufklärungsprinzip entwickelt wurde; anders Gössel, a. a. O., S. 49 f. 218 Wessels, JuS 1969, 3 f.; Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 27; Engels, GA 1981, 22; Gössel, 60. DJT, C 66; ders., Kolloquium für Gollwitzer, S. 47 ff., 61 ff. (auch wenn entgegen der Bezeichnung als „Identitätslehre“); Grünwald, 50. DJT, C 71, u. a. Vgl. weitere Nachweise in LR/Becker, § 244 Rn. 58, Fn. 277; Alsberg/Dallmeyer, Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 51. 219 SK-StPO-Frister, § 244 Rn. 18. 220 Vgl. Julius, NStZ 1986, 63; Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, § 244 Rn. 12a, 86; LR/Becker, § 244 Rn. 58; Alsberg/Dallmeyer, Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 57, jeweils mit Nachweisen.
B. Annäherung beider Modelle
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Wenn es Sonderfälle gibt, bei denen die Aufklärungspflicht weiter als das Beweisantragsrecht geht,221 spricht dies noch nicht für die Identitätslehre, sondern eher für eine eigenständige Behandlung dieser Fälle sowohl bei der Amtsaufklärungspflicht als auch beim Beweisantragsrecht. Für die Inkongruenzlehre spricht insbesondere der unterschiedliche Begründungsbedarf für das Aufgreifen oder für die Ablehnung eines Antrags.222 Ferner unterliegt die Verletzung eines Beweisantragsrechts einer intensiveren Kontrolle als Verstöße gegen das Aufklärungsgebot.223 Dem Antragsrecht kommt so eine selbständige Bedeutung neben der Amtsaufklärungspflicht zu. Es ist ein ureigenes Recht der Prozessbeteiligten, gerade der Verteidigung. Dem folgt die Rechtsprechung des Reichsgerichts224 und die nachfolgende Gesetzgebung. In diesem Sinne ist für eine Ansicht bereits die Frage unergiebig, ob das Beweisantragsrecht „weiter gehe“ als die Amtsaufklärungspflicht oder ob es nur die Aufklärungspflicht konkretisiert und mit ihm eine Einheit bildet. Im Verhältnis zwischen Amtsaufklärungspflicht und Beweisantragsrecht ginge es anders als beim materiellen Recht nicht um die Reichweite von Normen, sondern um das Verhältnis von „Gewichten und Gegengewichten“, „um die Verteilung und Verschränkung von Macht“.225 Diese Perspektive hebt die besondere Bedeutung des Beweisantragsrechts und die Autonomie des Beweisantragstellers im System der Amtsaufklärungspflicht hervor, die durch die Frage nach der Reichweite des Beweisantizipationsverbots immer wieder vernachlässigt wurde.226 Von Bedeutung ist nach dieser Ansicht nicht, wie das Gericht die Erfolgsaussichten des beantragten Beweises beurteilt, sondern wem die Prognosekompetenz zugewiesen ist. Ist ein Beweisantrag gestellt, kommt die Möglichkeitsbeurteilung des Gerichts grundsätzlich nicht in Betracht, ausgenommen natürlich in den Fällen, in denen gesetzliche Ablehnungsgründe in Frage kommen.227 Die Diskussion im Einzelnen über die Zulässigkeit der Vorwegnahme der Beweiswürdigung im Rahmen der Amtsaufklärungspflicht bzw. über die Unzulässigkeit von Beweisantizipationen beim Beweisantragsrecht hat also zwar im Beweisrecht eine wesentliche Bedeutung, ist aber für die Problematik der Verfahrensform auf der Suche nach Wahrheit zweitrangig. Von Interesse sind hier nicht die vom 221
Z. B. die Ablehnung eines Antrags wegen Prozessverschleppung. Besonders betont von Börner, Legitimation durch Strafverfahren, S. 486. 223 KK-Krehl, § 244 Rn. 66. 224 Es beurteilte die Ablehnung bestimmter Beweisanträge als unzulässige Beschränkung der Verteidigung. Vgl. z. B. Foth, Festschrift für Widmaier, S. 223 ff., 228 ff. mit Nachweisen. 225 J. Schulz, StV 1991, 354 ff., 361. 226 So überzeugend Weßlau, Festschrift für Fezer, S. 289 ff., S. 302. 227 Vgl. J. Schulz, StV 1991, 361; Frister, ZStW 105 (1993), 351; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 256 ff.; Weßlau, Festschrift für Fezer, S. 289 ff., S. 296 f., wobei sie auf S. 301 m. w. N. darauf hinweist, dass einige Autoren die Trennung zu der Inkongruenzlehre nicht scharf ziehen. 222
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Kap. 2: Wahrheit und Verfahren
Tatgericht anzuwendenden Regeln für die Ablehnung oder Zulassung von Beweisanträgen, sondern vielmehr die Eröffnung der Möglichkeit zur Einflussnahme für die Verteidigung im vom Tatgericht geführten Beweisverfahren. c) Wie dieser Einfluss der Verteidigung auf das Beweisverfahren im deutschen System der Amtsaufklärungspflicht eingegliedert ist, wird unterschiedlich gesehen. Daran schließt die Frage an, ob dieser Einfluss ein „Element des Parteienprozesses“228 bzw. ein „Fremdkörper“229 im inquisitorischen Modell ist. Dafür spricht, dass nur die Ablehnungsgründe in §§ 244 Abs. 3 und 4, 245 Absatz 2 S. 2 und 3 StPO gesetzlich geregelt sind, nicht aber das Beweisantragsrecht selbst. Ausgangspunkt für eine Antwort sind die epistemischen Grenzen der tatrichterlichen Erkenntnismöglichkeiten. Angesichts der Begrenztheit spricht vieles dafür, die Aufklärung des Sachverhalts nicht in die alleinige Zuständigkeit des Gerichts zu stellen.230 Auch dieser Aspekt spricht für die Inkongruenztheorie.231 d) Das Beweisantragsrecht gewährleistet ein gewisses Gleichgewicht im Prozess. Es dient insbesondere dazu, das Tatgericht vor einer zu frühen Hypothesenbildung zu schützen.232 So kann der Antragssteller durch seine eigene Perspektive und seine Möglichkeiten prozessualer Handlungen als Kontrolle für das tatrichterliche Beweiskonzept und -verfahren fungieren. Auch in der Inkongruenzlehre wird das Modell der richterlichen Aufklärungspflicht nicht angetastet. Der Beweisgang verbleibt in den Händen des Tatgerichts. Es wird durch das Beweisantragsrecht nicht zum adversatorischen mit seiner Beweisregie bei den Parteien.233 Das „gewisse“ Gleichgewicht spiegelt sich darin, dass die Verteidigung im deutschen Prozess trotz der inquisitorischen Struktur des Prozesses und jüngeren Einschränkungen des Antragsrechts relativ große Einflussmöglichkeiten hat. Damit findet sich in der deutschen StPO eine befriedigende Balance zwischen der Konzentration der Aufklärungsarbeit in der Figur des Richters und der Erweiterungsmöglichkeit der Verteidigung. Einzuräumen ist, dass anders als im amerikanischen Parteiprozess die Verteidigung die beantragten Beweise nicht selbst erheben darf. Der Beweisantrag führt zu keiner autonomen Gestaltung des Verfahrens, sondern 228
Vgl. nur Fezer, StV 1995, 263 ff., 268 m. w. N. Vgl. vor allem Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, Rn. 1, sogar dort als „Verhandlungselement“ bezeichnet. Thematisiert, aber nicht bejaht, auch in Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 45 Rn. 5; Alsberg/Dallmeyer, Der Beweisantrag im Strafprozess, Rn. 50; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 206. 230 Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, Rn. 31. 231 Entgegen der Meinung z. B. von Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 26, 43 f. 232 Vgl. Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, Rn. 32: „Wahrnehmungsfixierungen des Gerichts aufzubrechen“; Weßlau, Festschrift für Fezer, S. 304: „vorschnellen oder falschen Festlegungen im Prozess der Wahrheitsfindung abhalten.“ 233 Die beantragte Beweiserhebung wird nicht deswegen durchgeführt, weil die Prozessbeteiligten dies wollen, sondern nur, wenn das Gericht dies für berechtigt hält, so Fezer, StV 1995, 268 m. w. N. 229
C. Ergebnis
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wirkt auf dieses nur ein.234 Anders als im adversatorischen Prozess muss sie die entlastenden Beweismittel gegenüber der Staatsanwaltschaft nicht offenlegen und erhält zugleich über das Akteneinsichtsrecht Einblick über die staatsanwaltschaftliche Ermittlung (§ 147 StPO).235
C. Ergebnis I. Die Beweiserhebung ist an der bestmöglichen, optimalen Annäherung an die materielle Wahrheit auszurichten. Historisch wurde die mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung eben dafür vorgesehen. Wenn nunmehr das Ermittlungsverfahren zunehmend zum Schwerpunkt des Verfahrens wird, sind die für das Hauptverfahren erkämpften Rechte der Verteidigung funktional äquivalent auch darauf zu erstrecken. Durch die neuen Reformströmungen in Lateinamerika, die daraus folgende Etablierung eines adversatorischen Systems und die teilweise Ersetzung der Hauptverhandlung durch Urteilsabsprachen, wird die kommunikative Interaktion und Kontradiktion der Prozessbeteiligten im einzelnen Verfahren besonders virulent. Die prozessuale Auseinandersetzung erfährt alleinige Bedeutung für eine strafrechtliche Entscheidung v. a. durch die Hervorhebung der Techniken des Prozessstreits oder Prozessführung („prosecution case“ und „defensive case“, die sog. „teoría del caso“), die jeglichen Bezug zum materiellen Strafrecht auf die Seite schiebt. Bei dieser ausgeprägten Entfernung der strafprozessualen Maßstäbe von den materiellrechtlichen Hintergründen des Strafrechts erweist sich die Frage der Vorzüge und Nachteile der adversatorischen oder richterzentrierten Hauptverhandlung als nachrangig. II. 1. Einige Befürworter der adversatorischen Verfahrensform erheben den Anspruch auf Wahrheit mit verschiedenen Begründungen236 und betonen, dass die Auswahl des Verfahrensmodells unabhängig von der Wahrheitsfrage ist, weil beide Modelle einen Anspruch auf Wahrheit enthalten.237 Teilweise wird vorgebracht, dass im Parteisystem auch die „wahren“ Tatsachen durch die Kontradiktion überprüft werden. Von den Zeugen würde ein Bericht über historische Fakten erwartet. Letztendlich gehe es im adversatorischen System auch um die Verurteilung des wirklich Schuldigen.238 Die Verzerrungen der Wirklichkeit durch die Auseinander234
Vgl. KMR/Paulus, StPO, § 244 Rn. 382; ter Veen, Beweisumfang und Verfahrensökonomie, S. 44, Fn. 58. 235 Schünemann, Festschrift für Fezer, S. 555; ders., StraFo 2010, 90, 92; Roxin/ders., Strafverfahrensrecht, § 11 Rn. 7; ders., Die Europäisierung der Strafrechtspflege, S. 66, wo er deshalb auch den deutschen Verteidiger als den „heimlichen Herren der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung“ charakterisiert; ders., GA 2018, 188 f. 236 Dabei geht es nur teilweise um die auf der Diskurstheorie gestützten Begründungen. 237 Für Lateinamerika Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. 32; ferner Billis, Die Rolle des Richters, S. 96 f., u. v. a. 238 So zum Beispiel Billis, Die Rolle des Richters, S. 97 f.
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Kap. 2: Wahrheit und Verfahren
setzungen der Parteien und ihre Vereinbarungen über den Beweis werden dabei nicht verkannt.239 Einzuräumen ist dabei, dass die Kontradiktion zur Wahrheitsermittlung Wesentliches beiträgt.240 Allerdings garantiert die Kontradiktion alleine noch keinen ausgewogenen Mechanismus der Ermittlung des wahren Sachverhalts, zumal eine Waffengleichheit nicht besteht. 2. Möglichen Verzerrungen der Sachverhaltserforschung durch die Auseinandersetzungen und internen Vereinbarungen der Parteien kann durch die Etablierung einer neutralen Instanz begegnet werden. Deren Existenz (richterliche Amtsaufklärung und Objektivität der Staatsanwaltschaft) für die Klärung der entscheidungsrelevanten Fragen im Beweisverfahren bringt aber das Risiko mit sich, dass tendenziell der Anklagehypothese gefolgt wird. Andererseits führt die Pflicht zur umfassenden Sachaufklärung im inquisitorischen Modell zur Ausschöpfung aller bekannten, erkennbaren und erreichbaren Beweismittel, was eine insgesamt realistische Annäherung in der Aufklärung des wahren Sachverhalts ermöglicht. Das Erfordernis der Vollständigkeit der Beweisaufnahme ist also ein weiteres Argument im kontinentaleuropäischen Beweisverfahren für eine weitere Annäherung an die wahre Tatsachenlage als im Parteiverfahren, bei dem Einschränkungen des Beweisstoffes möglich sind. Eine nähere Beschäftigung damit erlaubt die Erörterung des neuen mexikanischen Strafprozessrechts im Vergleich mit kontinentaleuropäischen Verfahrensstrukturen in Kapitel 8.
239
Billis, Die Rolle des Richters, S. 98; Herrmann, Reform, S. 115, 129 f.; Haas, in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Das strafprozessuale Vorverfahren in Zentralasien, S. 26. 240 Für Greco, Strafprozesstheorie, S. 248, ist es ein Gebrechen des adversatorischen Modells, dass „Wahrheit von keinem der einzigen Prozessbeteiligten, erst recht nicht von den Parteien angestrebt werden“ muss. Seine Frage ist, warum „ein Erfolg, der von keinem angestrebt wird, sondern von einzelnen Beteiligten sogar nachdrücklich bekämpft wird, trotzdem beiläufig erreicht werden sollte“. Andererseits begleitete der Gedanke der Kontradiktion die Entwicklungsphase der Hauptverhandlung nach der französischen Revolution auch im kontinental-europäischen System.
Kapitel 3
Verfahrensrecht und materielles Recht A. Der Bezug beider Strafverfahrensmodelle zum materiellen Strafrecht Nachdem die jüngste Entwicklung des kontinentaleuropäischen und nun auch des lateinamerikanischen Strafverfahrens zu teils dramatischen Einbußen bei der umfassenden Sachverhaltserforschung in einer unmittelbaren und mündlichen Hauptverhandlung zugunsten der Absprachen, gestützt auf Protokolle und sonstige Ermittlungsergebnisse aus der schriftlichen Ermittlungsakte, führt und zugleich der lateinamerikanische Strafprozess jetzt in den meisten Ländern eine adversatorische Form erhält, stellt sich heute mehr denn je nicht nur die Frage nach konkreten Verfahrensarten, sondern vor allem nach den normativen Grundsätzen, aus denen eine bestimmte Verfahrensstruktur abzuleiten und zu begründen ist. Das inquisitorische und das adversatorische Prozessmodell unterscheiden sich auch in ihrem Bezug zum materiellen Recht. Im adversatorischen, anglo-amerikanischen Modell wird der Gegenstand des Prozesses verfahrensorientiert bestimmt. Das Prozessrechtsverhältnis folgt aus dem Parteivortrag, den geltend gemachten Rechten und Gegenrechten, die sich auch auf Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe beziehen, weshalb der Unterschied zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung vornehmlich prozessualer Natur ist, anders als im deutschen Recht. Mithin wird das Rechtsverhältnis im Prozess nicht durch das begangene Delikt bestimmt wie im kontinentaleuropäischen Modell der Inquisition.1 Dies führt zu einer Entscheidung, die in erster Linie vom prozessualen Einzelfall geprägt ist, nicht von dem einzelfallunabhängigen allgemeinen Kriterium der Wahrheit auf der Ebene des wirklichen Sachverhalts. Die relative Selbständigkeit des Verfahrensrechts lässt das materielle Recht in den Hintergrund treten,2 auch wenn der Bezug zu ihm ausdrücklich erkannt bleibt: „it must be made subsidiary to the substantive law as a means of making that law effective in action“3.
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Betont von Weßlau, Festschrift für Schünemann, S. 1006. Anders, Beweiserhebungskontrollen des Tatgerichts, S. 182 f. Vgl. ferner Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 68 ff. 3 LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, § 1.8. (a); Hampton, Criminal Procedure, S. 1. 2
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Kap. 3: Verfahrensrecht und materielles Recht
Demgegenüber wird im deutschen Verfahrensrecht vom Schrifttum ein enger Bezug zum materiellen Strafrecht gesehen. Er gilt nicht nur der Ermittlung eines verfahrensunabhängigen Tatgeschehens, sondern auch der Orientierung, Vorgehensweise und Zielrichtung des Strafprozesses. Die Pflicht zur Wahrheitsermittlung ist materiellrechtlich begründet, bezogen auf die Tatbestände und ihren Rechtsfolgen, die wiederum dem Schuldprinzip folgen.4 Dem Prozess ist es aufgegeben, die Begehung eines Delikts und die individuelle Verantwortung des Täters nachzuwiesen. Mit anderen Worten: Der Gegenstand der Beweisaufnahme ist die prozessexterne Verwirklichung eines Straftatbestandes. Wie ausgeführt ist das Schuldprinzip nicht eine Konstante, die dem römischen Recht zu verdanken ist. Zwar ist seine Rezeption im Mittelalter konstitutiv, in der Kanonistik wird es aber entscheidend angereichert mit der Folge des Wahrheitsbezugs und dem Auftrag einer amtlichen, systematischen Strafverfolgung (crimina ne remaneant impunita).5 Die Schuld war in einem förmlichen Verfahren nachzuweisen, das eine Bestrafung Unschuldiger zu verhindern hatte. Der geforderte Schuldausgleich hatte sein prozessuales Pendant in einer wachsenden Bedeutung der Unschuldsvermutung, die im Verlauf der Kanonistik zu einer regula naturalis aufstieg.6 Auch wenn es dem adversatorischen Modell um Wahrheit geht,7 zieht das Modell andere Folgen nach sich, was eben der Bezug zur Schuld demonstriert: „Je weiter sich die Form des Strafverfahrens vom reinen Typ der inquisitorischen Untersuchung durch den Richter entfernt, desto weniger hat das erwünschte Ergebnis mit der richterlichen Entscheidung der Schuldfrage zu tun.“ „Der amerikanische Prozeß zielt nun weit weniger darauf ab, die materielle Wahrheit zu ermitteln und sie richtig unter gesetzliche Vorschriften zu subsumieren als dies in den kontinentaleuropäischen Verfahrensordnungen der Fall ist; mit anderen Worten, die angestrebte Gerechtigkeit ist eher prozessual als materiell.“8 In diesem Sinne bezieht sich Damasˇka etwas kritisch auf die entgegengesetzte Denkrichtung in Amerika im Sinne einer Diskurstheorie der Wahrheit, die teilweise aus Europa übernommen ist und die sich gegen ein „Insistieren auf Beweissicherheit, 4
So nach der herrschenden Ansicht, vgl. supra, Kapitel 2, Fn. 24. Vgl. Kapitel 1 A. V. 6 Schulz, ZRG GA 119 (2002), 210. 7 Vgl. Nachweise supra, Kapitel 2, Fn. 16. 8 Damasˇka, ZStW 90 (1978), 829, 842 f. Dem entsprechen die strafrechtsgeschichtlichen Studien von Damasˇka. Beim kanonischen Recht verweis er auf die Starrheit der Beweisregeln: „The only really inflexible provision of Roman-canon proof was the prohibition of resting factual findings on a single witness’s testimony.“ Damasˇka, Evidence Law Adrift, S. 20, Fn. 30; siehe ferner ders., The Death of Legal Torture, S. 865 ff., 871 f. Auch er folgt Kuttner darin, dass Abälard als Begründer des modernen Individualismus zu den Protagonisten des Schuldprinzips gehört, Damasˇka, 2000. Auch hebt er in seiner Rezension von Berman hervor, dass der Investiturstreit zwischen Papst und Kaiser eine als juristisch-politische Vor- oder Begleitform der in der Scholastik generell forcierten Rationalisierung ist; Damasˇka, How Did It All Begin?, S. 1807 ff. 5
A. Der Bezug beider Strafverfahrensmodelle zum materiellen Strafrecht
119
Genauigkeit und Suche nach der Wahrheit einer antiquierten Erkenntnistheorie“ – ein „,metaphysisches‘ Trachten nach der Wahrheit“ – richte und die glaube, „daß es unsere Welt doch in größerem Maße außerhalb von uns gibt als etwas, über dessen Vorhandensein wir Vereinbarungen treffen.“9 Auch gegenüber der Modernisierung des Strafprozesses in Lateinamerika, genauer gesagt bezüglich der neuen Reformströmung, wird die Kritik erhoben, sie stelle eine Hervorhebung nicht nur des Konsensgedankens, sondern auch der Techniken des Prozessstreits oder Prozessführung und dabei die Vernachlässigung der materiellrechtlichen Fundamente des Strafrechts dar, die bis zur Aufgabe des Rechtsgüterschutzes führe.10 Das deutsche Strafprozessrecht fußt also auf grundlegenden Prinzipien, die dem adversatorischen Prozess teils diametral gegenüberstehen. Gleiches gilt für den Beweiswert von Geständnissen. Dem Amtsermittlungsgrundsatz entspricht es, dass auch die Wahrheit von Geständnissen zu überprüfen ist. Dies gilt (zwangsläufig) auch für das verständigungsorientierte Verfahren nach §§ 257c ff. StPO. Eine Überprüfung durch den schlichten Aktenabgleich genügt dafür nicht.11 Dass solche Kautelen praktisch unterlaufen werden können,12 ändert nichts am Modell selbst. So hält das BVerfG fest, dass mit der Novelle zur Verständigung kein „konsensuales Verfahrensmodell“ statuiert wurde.13 Zugleich verpflichtete es den Gesetzgeber auf 9
Damasˇka, StV 1998, 401. Moreno Hernández, La relación entre el Derecho Penal y el Derecho Procesal Penal, S. 324, 327, 352 f., 355 und passim, der anders als viele Reformimpulsgeber vom deutschen Recht beeinflusst ist: „el proceso penal no surge como un fin en sí mismo, sino para los fines del derecho penal material“ (S. 353); „Con la tendencia anterior, se da la sensación de que el nuevo sistema procesal penal se diseña al revés de lo que debiera ser. Pareciera, además, que ahora se atenderá más a las exigencias procesales que a las necesidades sustantivas, pues a estas de alguna manera se las ve como si se tratara de estorbos; y, de seguir esta idea, podría correrse el riesgo de que no solo el derecho penal material sino también los principios que lo sustentan dejarían de tener importancia en el proceso penal“ (S. 355); „Si se entiende que el sistema procesal penal no es más que un instrumento para hacer realidad los objetivos del derecho penal sustantivo, es evidente que el nuevo sistema procesal penal no puede dejar a un lado al derecho penal material, pues de otra manera aquél no tendría mayor razón de ser, por muy acusatorio que sea“ (S. 335); „la adopción del nuevo sistema procesal acusatorio y oral está provocando ciertos malentendidos sobre los alcances de su función, como se puede observar de la actitud asumida por algunos impulsores de la reforma procesal penal tanto en México como en gran parte de la región latinoamericana. Ciertamente, ante las grandes expectativas que el nuevo sistema procesal penal ha despertado, y ante la creencia equivocada de que el proceso penal constituye un fin en sí mismo, o la gran ingenuidad de que ahora toda la atención debe centrarse únicamente en él, se observa de pronto un cierto desapego, o incluso un cierto desprecio, por las demás cosas que también son esenciales al sistema de justicia penal“ (S. 324); ders., in: Moreno Hernández/ Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 103. 11 BVerfGE 133, 168 (Rn. 71), damit BGHSt 50, 40 (49) zurückweisend. 12 Beispielsweise damit, dass der ermittelnde Polizist als Zeuge geladen wird und in der Vernehmung den wesentlichen Inhalt der Akte mündlich wiederholt. 13 BVerfGE 133, 160 (Rn. 65 ff.); dazu Fezer, HRRS 2013, 119; Stuckenberg, ZIS 2013, 216 ff.; Weigend, StV 2013, 424 f.; Greco, GA 2016, 11. 10
120
Kap. 3: Verfahrensrecht und materielles Recht
den „fundamentalen und verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz der Wahrheitsermittlung sowie der Findung einer gerechten, schuldangemessenen Strafe“14. Demgegenüber bedarf es im angloamerikanischen Prozess nicht der Überprüfung der Wahrheit eines Schuldanerkenntnisses des Angeklagten (guilty plea).15 Zwar fordern die Federal Rules of Criminal Procedure eine Überprüfung,16 allerdings verweisen die Gerichte diesbezüglich in der Regel einfach auf die Vereinbarung der Parteien.17 Klaus Volk meint, man würde in Amerika bei der Rede von Wahrheit „den Kopf schütteln, weil es, wie gesagt, überhaupt nicht um Wahrheit geht. Es ist der Beschuldigte, der sich für schuldig erklärt und damit über sein Schicksal selbst entscheidet, in eigener Verantwortung.“18 Das Schuldanerkenntnis sei eine Verfügung über den Prozessgegenstand, kein Beitrag zur Beweislage.19 Im Übrigen erfordert das angloamerikanische adversatorische Modell keine Abweichung von seinen Grundsätzen für die Annahme von strafprozessualen Verständigungen, während der Vereinbarkeit solcher Erledigungsformen nicht ohne weiteres in einem auf der richterlichen Aufklärungspflicht aufgebauten deutschen Strafprozess zuzustimmen ist und sie eine schwer zu lösende Spannung verursacht.20 Das guilty plea oder im regulären Verfahren die Festlegung des Prozessthemas durch die Parteien bestätigen, dass im anglo-amerikanischen Prozess der enge Bezug zum materiellen Recht fehlt.21
14
BVerfGE 133, 160 (Rn. 67). Vgl. LR/Kühne, Einl. I Rn. 32; Schünemann, Festschrift für Fezer, S. 565 ff.; Weßlau, Festschrift für Schünemann, S. 1001 m. w. N.; Bovino, La persecución penal pública en el derecho anglosajón, S. 67; Langer, in: Harvard International Law Journal, Vol. 45, No. 1, 2004, Punkt VI f., S. 35 ff. Anders betrachtet von Herrmann, in: Jung (Hrsg.), Der Strafprozeß im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, S. 145, 149, 162; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 168 ff. 16 Fed. R. Crim. P. 11-Pleas, (b) (3) „Determining the Factual Basis for a Plea. Before entering judgment on a guilty plea, the court must determine that there is a factual basis for the plea“. 17 Siehe Langer, a. a. O., S. 36, Fn. 171: „Courts usually defer to agreements reached by the parties“; demgegenüber im Modell der Amtsaufklärungspflicht „the ,real‘ truth has to be determined by the prosecutor“, S. 37, „the Absprachen have the potential to introduce a conception of truth closer to that of the adversarial system“, S. 45 Fn. 213, vgl. ferner S. 43. 18 Volk, Die Wahrheit vor Gericht, S. 336. 19 Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 47, allerdings aus einer anderen Perspektive. 20 Aus der Rechtsvergleichung besonders betont von Damasˇka, StV 1988, 401 f.; Weigend, JZ 1990, 777 m. w. N.; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 115 f., 482 f., unabhängig von der zahlreichen kritischen Literatur bezüglich der deutschen Absprachen. 21 Nur bezüglich des deutschen Strafverfahrens Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 68. 15
B. Wechselwirkung
121
B. Wechselwirkung I. Bedeutung Die Frage nach dem strukturbildenden Potential des materiellen Rechts für das Strafverfahren22 ist für die Reform in Lateinamerika von besonderem Interesse, da die Ausrichtung des Verfahrens dort zumeist nur innerprozessual begründet wird.
II. Prozessrecht im Dienst des materiellen Rechts Das Gebot der umfassenden Sachverhaltsklärung harmonierte im deutschen Strafprozessrecht lange Zeit mit der Auffassung, dass das Strafverfahren dem materiellen Recht „dient“.23 So sprach man von der „Erkenntnis der dienenden Funktion der Prozeßgesetze zur Verwirklichung des materiellen Rechts“24. Die Konzeption eines „dienenden“ Prozesses ist schon deshalb gefährlich, weil es ein „Verhältnis der Über-Unter-Ordnung“ voraussetzt „und glauben machen will, 22 Von dieser punktuellen Fragestellung sind weitere, teilweise vielleicht breitere Aspekte des Verhältnisses zwischen materiellem und formellem Strafrecht auszuschließen: Einerseits die Ziele des Strafverfahrens, unter denen die Durchsetzung des materiellen Strafrechts in Frage käme, andererseits die Rechtfertigung des Strafprozesses als solches. Diese Themen setzen auch die Auseinandersetzung mit solchen Strafverfahren voraus, die nicht unbedingt zu einer Verurteilung kommen. In diesem Fall benötigt man eine Beschäftigung mit der umfangreichen Diskussion über weitere Verfahrensziele und der Rechtfertigung des Verfahrens. Der Bezug zum materiellen Recht genügt nicht, um das Verfahren zu legitimieren. Dafür steht die Möglichkeit eines Freispruchs, noch mehr aber die Möglichkeit, das Verfahren ohne abschließende Klärung des Verdachts einzustellen. Vgl. dazu Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 15 f., 22; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 13; Freund, GA 1995, 12; ders., in: Wolter/ders. (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß, S. 58; Greco, Strafprozesstheorie, S. 239 ff., 315 f.; ferner Deiters, Legalitätsprinzip und Normgeltung, S. 59, 63. Dagegen Weigend, Deliktsopfer, S. 191 f. mit Nachweisen; anders bezüglich des Gedankens, mit der Verwirklichung der Strafzwecken zu beginnen, bevor die Strafwürdigkeit des Beschuldigten überhaupt festgestellt ist: ders., ZStW 104 (1992) 502; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 2 Rn. 9 f.; Krüger, Unmittelbarkeit und materielles Recht, S. 46 f., 52. 23 Vgl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Rn. 24. Nachweise der älteren Literatur bei Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 192, Fn. 113; Rieß, Festschrift für Schäfer, S. 168 und Weigend, Deliktsopfer, S. 191, Fn. 62. In der früheren Auflage noch KK-Pfeiffer, Einleitung Rn. 1 f., darüber heute Krüger, Unmittelbarkeit und materielles Recht, S. 40 ff.; siehe auch Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 63. Die Kommentare behandeln kaum noch dieses Thema, vgl. MüKoStPO/Kudlich, Einl. Rn. 6; ders., Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot, S. 206: Strafprozess eigenständig, „hat aber gleichwohl instrumentalen Charakter“; ferner LR/ Kühne, Einl. B Rn. 7 ff. Heute noch KMR/Eschelbach/Kett-Straub, StPO, Einl. Rn. 9: „Das Strafverfahrensrecht ist formelles Recht, welches zuvörderst der Realisierung der Anwendung des materiellen Rechts im Rahmen eines jedenfalls zuletzt gerichtlich durchgeführten Verfahrens, samt seines behördlich geleiteten Vorverfahrens, dient“. „Es besteht nicht um seiner selbst willen, sondern nur als Mittel zum ferneren Zweck der Anwendung des materiellen Strafrechts.“ 24 Käßer, Wahrheitserforschung im Strafprozeß, S. 3 m. w. N.
122
Kap. 3: Verfahrensrecht und materielles Recht
alle ,sachlichen‘ Kriterien seien in einem in sich geschlossenen Komplex (,materielles Recht‘) vereinigt, während der Prozeß die ,weniger wichtige‘ Normierung des formalen Ablaufs ihrer bloßen ,Geltendmachung‘ vornehme.“25 Demgegenüber ist eine „Emanzipationsbewegung des Strafprozesses gegenüber dem materiellen Strafrecht“ zu beobachten.26 Von Abhängigkeit wird immer weniger gesprochen. Nicht nur wurde die immer selbständigere Bedeutung des Verfahrens akzeptiert. Man erkannte sogar eine wachsende Einflussnahme auf das materielle Strafrecht und akzeptierte dies. Dabei wurde gegenläufig auch das Konzept einer strafrechtsgestaltenden Kraft des Prozessrechts entwickelt. Es lieferte Ansatzpunkte für die gravierende Bedeutung des Strafverfahrens.27 Auch wenn die starke Abhängigkeit später abgemildert wurde, gab diese Konzeption die Richtung vor, um die zunehmende Selbständigkeit des Verfahrens weiterhin materiellrechtlich einzuhegen.28 Die Diskussion konzentrierte sich deshalb darauf, die Relevanz des Prozesses bzw. seine Eigenständigkeit herauszustellen und seine Rückwirkung auf das materielle Recht zu analysieren. Als vorzugswürdig erwies sich eine Konzeption, wonach ein Ergänzungsverhältnis besteht. „Der Prozeß bringt teils eigene Gesichtspunkte zur Lösung eines Konflikts ins Spiel, teils setzen sich in ihm die dogmatischen und kriminalpolitischen Intentionen des materiellen Rechts fort.“29 Ende der 1970er Jahre setzte sich die Erkenntnis eines Wechselverhältnisses zwischen formellen und materiellen Strafrecht durch.30 Dieses ist allerdings komplex. Teilweise wurde die Realisierung der Vorgaben des materiellen Rechts als „Primärziel“ des Prozessrechts angesehen.31 Diese Ansicht kann hier vernachlässigt werden, weil sie mit der Legitimation des Prozessrechts zu tun hat, nicht mit seiner konkreten Ausgestaltung. Bei aller Ablehnung einer nur dienenden Funktion bleibt die bedeutende Rolle des materiellen Strafrechts für das Verfahren festzuhalten. Die Wechselwirkung liefert 25
Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 193. Neumann, ZStW 101 (1989), 56. 27 Peters, Die strafrechtsgestaltende Kraft, insbes. S. 10 ff.; ferner Lüderssen, ZStW 85 (1973), 288 ff. Vgl. dazu Müller-Dietz, Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionensystems, S. 81 f.; Schaper, Studien, S. 136 f., u. a. 28 Auf das Verhältnis zwischen materiellem Recht und Strafprozess wurde Bezug genommen, um den Wahrheitsbegriff für den Strafprozess einzuschränken, so nachdrücklich von Krauß, in: Jäger (Hrsg.), Kriminologie im Strafprozeß, S. 78, 83. 29 Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 193. 30 Vgl. dazu vor allem Naucke, Grundlinien einer rechtsstaatlich-praktischen allgemeinen Straftatlehre, S. 23 ff.; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 173, 186 ff.; ders., Wahrheit und materielles Recht, S. 9 f., 18, 25 ff.; ders., ZStW 97 (1985), 906 f.; Müller-Dietz, Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionensystems, S. 81 f.; ders., ZStW 93 (1981), 1189 f.; Krauß, ZStW 85 (1973), 359; ferner Neumann, ZStW 101 (1989), 52 ff.; Hassemer, KritV 1990, 261 f.; heute betont von LR/Kühne, Einl. B Rn. 7 ff. 31 Statt vieler Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Rn. 24 f.; weitere Nachweise der früheren Literatur bei Rieß, JR 2006, 270. Heute zum Beispiel Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), 727. 26
B. Wechselwirkung
123
jedenfalls für das kontinentaleuropäische Verfahren die Voraussetzung dafür, dass das Strafprozessrecht dem materiellen Strafrecht seine Existenz schuldet und ihm folglich die Rekonstruktion des historischen Sachverhalts im Gefüge der Merkmale eines Straftatbestands obliegt.
III. Moderate Sichtweise 1. Heute ist nicht mehr die Rede von einer dienenden Funktion des Strafverfahrens, womit seine Degradierung vermieden wird. Die heute überwiegende, gemäßigte Ansicht geht also von der Prämisse aus, dass „heute jedenfalls als übergreifendes Ziel des Strafprozesses nicht mehr die Aufgabe angesehen“ wird, „er habe in einer dienenden Funktion das materielle Strafrecht zu verwirklichen“32. Sie sieht die im Verfahren zu erforschende Wahrheit auf die vom materiellen Strafrecht ausgewählten Tatsachen beschränkt, entnimmt aber daraus ferner kein Votum für ein konstruktivistisches bzw. „funktionales“ Verständnis von Wahrheit. Bei diesen gemäßigten Auffassungen wird also das Verhältnis des Strafprozessrechts zum materiellen Strafrecht hervorgehoben. Das betrifft die inzwischen klassisch gewordene Idee, dass nur der innerhalb des normativen Programms relevante Sachverhaltsausschnitt im Sinne Wahrheit im Strafprozess ermittelt werden sollte bzw. dass eine umfassende Erforschung des realen Geschehens durch die Vorgaben des materiellen Strafrechts eingeschränkt ist.33 So ist das Strafverfahren „an die Tatbestandsgrenzen des materiellen Strafrechts sowie an dessen Anwendungsregeln – etwa über Rechtfertigungsgründe oder Schuldausschließung – gebunden.“34 „Das Strafprozessrecht konstituiert das materielle Recht dahingehend, als dort die Regeln aufgestellt werden, nach denen … festgestellt wird, ob ein Verdächtiger sich strafbar gemacht hat“ und wird teilweise als „Prozessrecht des Strafrechts“ bezeichnet.35 „Das Strafprozeßrecht steht in enger Beziehung zum Strafrecht“, es „dient der zuverlässigen Feststellung von Straftaten und ihren Tätern“ und u. a. „der Konkretisierung der abstrakten Strafdrohungen“.36 Man spricht ferner von der „Durchsetzungsfunktion des Strafverfahrens“37. Neben der Ablehnung einer Unter- oder Nachordnung des Strafprozesses im Verhältnis zum Strafrecht werden diese teilweise als Subsysteme des umfassenderen Systems des gesamten Strafrechts begriffen, das an der Strafrechtsverwirklichung orientiert und am legitimierenden
32
Rieß, JR 2006, 270. Zu diesem Aspekt Krauß, in: Jäger (Hrsg.), Kriminologie im Strafprozeß, S. 78, 83, auch wenn er dies im Rahmen der Systemtheorie behauptet, vgl. darüber eingehend supra, Kapitel 2 A. I. 1. e); ferner Müller-Dietz, ZevEthik 15 (1971), 270. 34 KK-Fischer, Einleitung Rn. 3. 35 MüKoStPO/Kudlich, Einl. Rn. 2. 36 Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 2 Rn. 6, 11. 37 Weigend, Deliktsopfer, S. 193, auch 191 ff. 33
124
Kap. 3: Verfahrensrecht und materielles Recht
Zweckgedanken ausgerichtet sein sollte.38 Nach der moderaten Ansicht erschöpft sich weiterhin der Prozess nicht in der Verwirklichung des materiellen Strafrechts. Gleichzeitig müsse man ihn nicht „gänzlich vom materiellen Strafrecht emanzipieren“. Vielmehr bestehe eine „Gleichwertigkeit“ zwischen materiellem und Prozessrecht.39 Neue Monographien, die sich ausschließlich mit verfahrensbezogenen Fragen beschäftigen, betonen, dass das Verfahren das materielle Strafrecht nicht entbehrlich mache. Es „dient seiner Anwendung, und damit setzt das materielle Strafrecht den möglichen Ergebnissen eines Strafprozesses Grenzen“. Ferner sei der Zweck des Strafprozessrechts „nicht außer Beziehung zu dem Zweck der im Urteil ausgesprochenen Strafe“.40 2. Die (umgekehrten) Einflüsse des Prozessrechts auf das materielle Strafrecht werden auf verschiedenen Ebenen beobachtet. Einerseits wird bereits für die Gesetzgebung gefordert, in der Tatbestanddefinition die (begrenzten) Möglichkeiten des Beweisrechts zu berücksichtigen.41 Diese Anforderung zielt auf den legislatorischen Rechtssetzungsmoment und verändert damit die hier relevante, bereits gekennzeichnete grundlegende Position des gegossenen materiellen Strafrechts als vorgegebene Richtschnur für das Strafprozessrecht durch die Definierung des Strafbaren und damit des Beweisgegenstandes nicht. Das materielle Strafrecht bleibt hier immerhin in seiner gestaltenden Funktion gewahrt, auch wenn strafprozessuale Erwägungen in den Beschreibungen und Wertungen des Allgemeinen und Besonderen Teils im legislatorischen Verfahren und sogar bei der gerichtlichen Auslegung unter Umständen herangezogen werden. Ansonsten betrifft das Thema der wechselseitigen Abhängigkeiten bzw. gegenseitigen Beeinflussung beider Disziplinen vielfältige Aspekte, die hier den Rahmen sprengen würden.42
IV. Bewertung Das Verhältnis des Prozessrechts zum materiellen Recht betrifft nicht nur die Einschränkung der Sachverhaltserforschung und der Wahrheitssuche auf einen von den Strafnormen vorbestimmten Wirklichkeitsausschnitt. Es betrifft auch die Orientierung, Vorgehensweise und Ausgestaltung des Prozesses. Ausgangspunkt dafür
38
Freund, in: Wolter/ders. (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß, S. 46, 56. Krüger, Unmittelbarkeit und materielles Recht, S. 43, 48. 40 Börner, Legitimation durch Strafverfahren, S. 53, 29. 41 Vgl. zum Beispiel Lüderssen, ZStW 85 (1973), 288 ff.; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 187 ff. m. w. N. 42 Vgl. einige Kollisionen und Vorschläge für Vorrangregeln z. B. bei Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 187 ff.; Neumann, ZStW 101 (1989), 52 ff., S. 54 ff.; für die neuere Zeit Paulus, Festschrift Würzburger Juristenfakultät, S. 685 ff.; Geppert, Gedächtnisschrift für Schlüchter, S. 45 ff.; Salditt, Gedächtnisschrift für Schlüchter, S. 65 ff.; Sieber, Festschrift für Roxin I, S. 1113 ff. 39
C. Innerprozessuale Orientierung
125
muss die Rechtsgüterschutzfunktion des Strafrechts sein43 sowie sein generalpräventiver Zweck.44 Demgegenüber ziehen Anhänger absoluter Straftheorien spezifische Schlüsse für das Strafverfahren.45 Einig ist man sich darin, dass das Strafverfahren nach dem materiellrechtlichen Schuldprinzip und dem daraus folgendem Grundsatz der materiellen Wahrheit zu gestalten ist.46 Im Ergebnis besteht eine moderate Wechselwirkung von zwei autonomen Rechtsmaterien.47 Was die rein innerprozessuale Orientierung und sogar Legitimierung des Strafverfahrens betrifft, leidet sie an dem fehlenden verfahrensexternen Rahmen für die Entscheidung für eine bestimmte Prozessstruktur. Ein hauptsächlich auf der Basis von Kontradiktion und Verständigung der Beteiligten gestaltetes Beweisverfahren gewährt den Prozessbeteiligten eine zu große Definitionsmacht, deren Geeignetheit für eine Verurteilung und Bestrafung zweifelhaft ist. Insofern ist die neue lateinamerikanische Reform bei der Etablierung des neuen, sog. Acusatorio-Strafprozesssystems kritisch anzusehen. Durch die einseitige Akzentuierung der Kontradiktion und Verständigung der Beteiligten wird der Prozess als Zweck an sich begriffen und den materiellrechtlichen Bezug des Strafverfahrens vernachlässigt.48
C. Innerprozessuale Orientierung I. Verschiedene Varianten Neben dieser Hauptströmung zeigten sich auch Tendenzen in der Strafprozessgeschichte, die entgegen einer dienenden Funktion, aber auch der Konzeption einer Wechselwirkung dem Strafprozess eine starke Autonomie zubilligt und seine Orientierung und auch seine Legitimation rein prozedural auf der Folie prozeduraler Theorien bzw. aus sich selbst heraus begründet.49 Für die innerprozessuale Orientierung gibt es eine Reihe von rechtstheoretischen oder kriminologischen Varianten der Begründung. Kriminologisch bzw. kriminalsoziologisch ist auf Theorien US-amerikanischen Ursprungs zu verweisen. In dieser 43
MüKoStPO/Kudlich, Einl. Rn. 1 f.; Schünemann, Festschrift für Fezer, S. 558 f. Schünemann, Festschrift für Fezer, S. 558 f. Auch Volk bezog sich in: Wahrheit und materielles Recht, S. 17 f. auf das generalpräventive Interesse für den Wahrheitsbegriff. Aktuell betont Börner, Legitimation durch Strafverfahren, S. 98 f. die Verbindung der Suche nach materieller Wahrheit und der Diskussion um die Strafzwecke. 45 Dazu vgl. infra, Kapitel 4, Fn. 20 und 41. 46 Vgl. supra, Kapitel 2, Fn. 24. 47 Vgl. MüKoStPO/Kudlich, Einl. Rn. 6. 48 Siehe Nachweise supra, Fn. 10. 49 Dieser Gedankengang überakzentuiert die Rolle des Verfahrens, siehe dazu Murmann, GA 2004, 67; kritisch allgemein gegen diese Richtung Arzt, Festschrift für Eser, S. 692 ff., u. a. 44
126
Kap. 3: Verfahrensrecht und materielles Recht
Tradition einer schwachen Rolle der Dogmatik steht traditionell die Diskrepanz zwischen law in the books und law in action im Fokus der Rechtssoziologie. In der Kriminologie hat dies zum Labeling Ansatz geführt, der gleichfalls das Gestaltungspotential des materiellen Rechts bestreitet. Auch die Tradition der Systemtheorie, die mit Talcott Parsons in den USA ihren Ausgang nimmt und mit Luhmann in Deutschland zum Durchbruch gelangt, dementiert in der Tendenz jenes Gestaltungspotential und rückt die Rechtsprechung zu Lasten der Gesetzgebung ins Zentrum. Eben den Gerichten kommt die Funktion zu, den Code des Rechtssystems – rechtmäßig/rechtswidrig – verbindlich zu handhaben. Alternativ dazu wird die Wahrheit des Verfahrens systemtheoretisch als „Konstrukt“ angesehen, das „erst innerhalb des Strafverfahrens entsteht, indem mit unterschiedlichen Interessen über divergierende Wahrheitsbilder verhandelt wird“50. Hier sollen diese bekannten Theorienlager nicht weiter verfolgt werden,51 sondern eine vermutlich spezifisch deutsche Tradition. Die Geschichte der Diskurstheorie und ihrer Rezeption im Recht gibt Aufschluss über verschiedene Möglichkeiten, das Verhältnis von materiellem und Prozessrecht zu bestimmen und zu begründen.
II. Diskurstheoretische Legitimation des Strafverfahrens 1. Frühe diskurstheoretische Ansätze a) Unter den prozeduralen Theorien liegt es nahe, zuerst auf die Diskurstheorie einzugehen, weil sie im hiesigen Zusammenhang ambitionierter als andere ist, sofern sie den Wahrheitsbezug nicht dementiert. Die Anwendung diskurstheoretischer Ansätze auf den Strafprozess setzte früh in den 70er Jahren ein, allerdings unter anderen Blickwinkel als heute. Noch gab es die Praxis der Absprachen nicht,52 damit auch die der heutigen Verständigung korrespondierende Vorstellung einer zielgerichteten Unterwerfung unter den Anklagevorwurf im Rahmen einer Absprache.53 Vielmehr zog man die Diskurstheorie heran, um den allgemeinen Verlauf des Prozesses philosophisch zu konzipieren.
50
Theile, NStZ 2012, 667; vgl. ferner zum sytemtheoretischen Wahrheitsbegriff supra, Kapitel 2, Fn. 80. 51 Ferner wird von einigen deutschen Autoren bei der Behandlung der Wechselwirkung eine gewisse Dominanz des Prozessrechts hervorgehoben, nach dem Motto „Erst durch Verfahrensrecht beginnt das materielle Recht real zu existieren“, LR/Kühne, Einl. B Rn. 9. 52 Diese Praxis gerät erstmals 1982 in den Fokus der Wissenschaft, siehe insbesondere der Beitrag von H.-J. Weider unter dem Pseudonym Detlev Deal, StV 1982, 545. 53 In diesem Zusammenhang findet man erstaunlicherweise sehr früh einen Vorläufer von informellen Absprachen. Die Verhandlungsmasse war allerdings wohl noch sehr beschränkt, da sie sich vor allem auf die Eingrenzung des Prozessstoffs und auf die Erforderlichkeit von Zeugen bezog, vgl. Winter/Schumann, JbRSozRth 3 (1972), S. 529, 536 Fn. 33, 545 f.
C. Innerprozessuale Orientierung
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Im Gefolge der Studentenunruhen wurde das Verfahren vor allem in der Tradition der dem Labeling-Ansatz verpflichteten Kritischen Kriminologie54 analysiert. Das Agieren des Richters war plötzlich „stille Gewalt“,55 das Strafverfahren ein Herrschaftsverhältnis. Die Kommunikation vor Gericht galt als „verzerrt“. Das betraf nicht nur die „Definitionsmacht“ des Gerichts, sondern auch der Staatsanwaltschaft beim Erheben der Anklage. Die Ermittlungstätigkeit wurde als Einsatz von „Zwangsmittel“ beanstandet, die später „Grundrechtseingriffe“ heißen sollten. Gleichzeitig wurde die Asymmetrie des Verfahrens kritisiert, auch mit Blick auf knappe Ressourcen und die defizitäre Sprachkompetenz bei Angeklagten. Besondere Bedeutung erlangte die Richtersoziologie, die in den USA immer schon vor dem Hintergrund des Rechtsrealismus eine überragende Rolle gespielt hatte und deren Einsichten nun rezipiert wurden. Die inquisitorisch starke Rolle des Richters wurde naheliegenderweise ein Stein des Anstosses.56 Neben der Strategie der Gegenmacht durch später sog. Linksanwälte57 wurde zur Beseitigung der Asymmetrie auch die Kooperation der Verfahrensbeteiligten vorgeschlagen, d. h. die gemeinsame Rekonstruktion des wahren Sachverhalts zwischen den Verfahrensbeteiligten. Als Muster eines neuen Strafprozesses sollte eine nicht gewaltsam verstellte Kommunikation, eine ungezwungene Sprechgemeinschaft analog zum Diskursmodell von Habermas eingeführt werden.58 Anders als später hatte dieser anfangs, in den siebziger Jahren, scharf zwischen juristischer Argumentation als strategisch verstandene Interaktion und der kooperativen Wahrheitssuche im Diskurs unterschieden.59 Dass die soziologische Kritik der „jungen Wilden“ in der deutschen Kriminologie pauschalisierte, überrascht kaum, erweist sich doch die soziologische Beobachterperspektive ohne Integration der Binnenperspektive der Akteure am Ende zwangsläufig als defizitär. Insbesondere kamen dabei die dogmatischen Grundsätze des formellen und materiellen Strafrechts zu kurz. In der Kritischen Kriminologie bahnte sich erst Anfang der 90er Jahre ein Umdenken an, als einige ihrer Vertreter nach den neonazistischen Angriffen auf Asylanten in Rostock Liechenhagen das Nichteinschreiten der Ordnungskräfte kritisierten. Theoretisch ging dann von Sebastian 54
Keckeisen, Die gesellschaftliche Definition abweichenden Verhaltens, u. a. So der Titel der einflussreichen Untersuchung von Lautmann, Justiz – Die stille Gewalt (1972). 56 So nach Rottleuthner, KJ 1971, 60, 83 ff.; s. auch Mikinovic/Stangl, Strafprozeß und Herrschaft, S. 27 ff.; Wassermann, in: ders. (Hrsg.), Menschen vor Gericht, S. 14, 26 ff.; Boy/ Lautmann in: Wassermann (Hrsg.), Menschen vor Gericht, S. 41, 46 ff. 57 So der Titel von Brunn/Kirn, Rechtsanwälte, Linksanwälte: 1971 bis 1981 (2004). 58 Rottleuthner, KJ 1971, 60, 82, 87; s. auch Mikinovic/Stangl, Strafprozeß und Herrschaft, S. 27; Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, S. 144 ff.; ders., in: ders. (Hrsg.), Menschen vor Gericht, S. 32. Kritisch Schreiber, ZStW 88 (1976), 117, 141 ff.; eine veränderte Version in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 71, 79 ff. 59 Die kriminalsoziologische Rede von der Gegenmacht aufgreifend, bezeichnete der den Diskurs als „Gegeninstitution schlechthin“, Habermas, in: ders./Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, S. 201. Die vorliegende Rekonstruktion der Entwicklung bei Habermas folgt der Analyse bei Neumann, Rechtstheorie 27 (1996), 415 ff. 55
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Scheerer und Henner Hess eine Neubesinnung auf den Teilnehmerhorizont aus.60 Entscheidend in ihrer „neuen“ Kriminalitätstheorie ist, dass ein Täter nicht einfach nur handelt. Vielmehr ist er ein „enorm wichtiger“ „Konstrukteur und Zuschreiber“, dessen Einfluss ätiologisch beschrieben werden kann.61 Das handelnde Subjekt wurde so, handlungstheoretisch fundiert, zur Analyse-Einheit der „Sinnprovinz“ Kriminalität. b) Bei Habermas setzte unter dem Einfluss von Alexys „Theorie der juristischen Argumentation“ (1978) eine Revision seiner anfänglichen Konzeption ein. Alexy hatte auf der Folie des juristischen Diskurses als Sonderfall des praktischen Diskurses das Gerichtsverfahren als rationalen Diskurs rekonstruiert.62 Habermas führte in der Folge für das gerichtliche Argumentieren aus, dass dieses Merkmale aufweist, „die nur nach dem Modell der moralischen Argumentation, überhaupt der Diskussion über die Richtigkeit normativer Aussagen erfaßt werden können“. Daraus folgt die Forderung, den Prozess als „grundlegende Organisationsform der kooperativen Wahrheitssuche“ zu konzipieren.63 Als folge er einem dialektischen Dreischritt, betrachtete Habermas schließlich auch diese Konzeption als überholt. In der Folge seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1983) legte er schließlich das Augenmerk auf die Institutionalisierung von Kommunikation. Gerade der forensische Rahmen eröffne den Raum „für das freie Prozessieren von Gründen in Anwendungsdiskursen“64, womit er die von seinem Schüler Klaus Günther vorgeschlagene Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen aufgriff.65 Die Pointe dieser Unterscheidung ist, dass der Wahrheitsanspruch in Gestalt der Figur der einzig richtigen Entscheidung auf den Anwendungsdiskurs beschränkt wird. Im Begründungsdiskurs werden Normen, z. B. Straftatbestände, gerechtfertigt. Im Anwendungsdiskurs geht es um ihre „Situationsangemessenheit“, insbesondere bei unbestimmten Normen und bei Normkollisionen.66 Diese Angemessenheit setzt Vollständigkeit der Situationsdeutung voraus. Die kohärente Interpretation einer gültigen Norm, die aus dem Anwendungsdiskurs folgt, verändert zwar die „Be-
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Hess/Scheerer, KrimJ 29 (1997), 83 ff. Hess/Scheerer, KJ 31 (1998), 60 ff. in einer Replik auf Lüderssen, KJ 30 (1997), 442 ff. Nicht unerwartet mochten sich andere Vertreter der Kritischen Kriminologie nicht anschließen; siehe Stehr, KrimJ 29 (1997), 53 mit dem Vorwurf des atiologischen Rückfalls. 62 Das ist die einflussreiche sog. Sonderfallthese, Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 32, 263 ff., 426 ff. 63 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, S. 62. 64 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 289. 65 Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Zur Diskussion dieser These siehe Alexy, in: Ratio Juris 12 (1999), 374 – 385 und die Replik von Günther, in: Ratio Juris 6 (1993), 143 ff. Von philosophischer Seite siehe auch Kettner, Jahrbuch für Recht und Ethik 1 (1993), S. 365 ff.; dort auch Günther, S. 379 f. Dass diese Unterscheidung auch materiellrechtlich fruchtbar gemacht werden kann, zeigt der Versuch Ulfrid Neumanns, damit die Lehre der negativen Tatbestandsmerkmale argumentationslogisch zu rekonstruieren; ders., Festschrift für Zoll, S. 417 ff. 66 Vgl. dazu Habermas, Faktizität und Geltung, S. 285. 61
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deutung“ der Norm, begründet aber keine neue Norm67 – womit Günther die Pointe des Konstruktivismus vermeidet, der beispielsweise der Systemtheorie Luhmanns zugrunde liegt. 2. Konsens als diskursive Wahrheit im Strafverfahren Auf die späte Theorie von Habermas greift Matthias Jahn zurück, um die Absprachen im Strafverfahren in einer diskurstheoretischen Konzeption der Wahrheit im Strafprozess zu fundieren. Jahns Rekonstruktion folgt zugleich dem konsenstheoretischen Verständnis der Absprachen seines Lehrers Klaus Lüderssen.68 Die Pointe bei Jahn ist, dass Wahrheit der Konsens selbst ist.69 „Was gewesen sein soll“ wird von den Prozessbeteiligten (durch eine geständige Einlassung) verhandelt.70 Damit folgt er dem konsenstheoretischen Wahrheitsbegriff, den der frühe Habermas vertreten hat und den Habermas 1998 aufgegeben hat.71 Bei Jahn geht es um eine rein prozedurale Wahrheit, für deren Ermittlung die Hauptverhandlung und die Absprachekommunikation sowohl in der Erörterung der Tatsachen, als auch in den vorläufigen rechtlichen Bewertungen im Verlauf der Beweisaufnahme als rationaler Diskurs begriffen werden.72 Im Vergleich zu anderen diskurstheoretischen Rekonstruktionen des Strafprozesses73 findet Jahn den diskurstheoretischen Wahrheitsbegriff de lege lata in § 244 Abs. 2 StPO verankert.74 Sein Ansatz geht viel weiter als eine etwaige Annäherung an die materielle Wahrheit durch die Kommunikation der Prozessbeteiligten über den Beweis. Der Konsens soll nicht eine materielle Wahrheit suchen, soll nicht ein Vehikel sein, um Wahrheit zu erzeugen, sondern eben die Wahrheit selbst sein.75 Das führt bei Jahn auch zu einer Disponibilität des Verfahrensgegenstands für die Verfahrensbeteiligten. Gegen diese Betrachtung des Strafverfahrens als rationalen Diskurs – und gegen die diskurstheoretische Legitimation der Absprachen – lassen sich sowohl Argu67
Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 255 ff. Lüderssen, in: ders./Sack (Hrsg.) Seminar: Abweichendes Verhalten, S. 17 f.; ders., Abschaffen des Strafens?, S. 337 f. u. v. a. 69 Jahn, GA 2004, 279. 70 Jahn, ZStW 118 (2006), 455. 71 Siehe infra, Fn. 112. 72 Jahn, GA 2004, 281 f., 285 f.; ders., NJ 2005, 110; ders., ZStW 118 (2006), 454 f.; ders., 67. DJT, S. 23 f.; ders., NJW 2009, 2630 f.; ders., in: Goldenstein (Hrsg.), Mehr Gerechtigkeit, S. 117 ff.; ders., Festschrift für Kirschhof, S. 1391 ff., insbes. Rn. 7 f., 18 f.; in Anschluss Kudlich, 68. DJT, S. 56 ff. 73 Lüderssen, StV 1990, 418; Grasnick, JZ 1991, 285 ff., 292 (anders heute: GA 2000, 153, 157); Tscherwinka, Absprachen im Strafprozeß, S. 46 f. (Konsens und materielle Wahrheit sollen keine Gegensätze sein, sondern dadurch die Wahrheitsfindung ermöglicht werden); Kempf, in: Schriftenreihe der AG Strafrecht des DAV 4 1988, S. 25 ff.; Marsch, ZRP 2007, 222; Theile, Wirtschaftskriminalität und Strafverfahren, 326 ff.; ders., NStZ 2012, 670, u. a. 74 Jahn, ZStW 118 (2006), 427, 444, 457 ff. 75 Jahn, GA 2004, 279. 68
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mente gegen die allgemeine Diskurstheorie als auch Argumente gegen die diskurstheoretische Rekonstruktion des Strafverfahrens und der Absprachen ins Feld führen.76 3. Einwände gegen die diskurstheoretische Fundierung des Strafverfahrens und der Absprachen a) Zirkularität und Inhaltsleere Durch die von der Diskurstheorie für ihre Richtigkeit aufgebotene Begründungstätigkeit leidet sie zunächst an einem infiniten Regress, der sich aus der Forderung nach einer weiteren Begründung jeder Aussage durch weitere Aussagen ergibt. Weiterhin spricht gegen sie die logische Zirkularität, sofern man auf Aussagen zurückgreift, die schon vorher als begründungsbedürftig anzusehen waren. Argumentativ gerät man damit in eine Sackgasse. Ob man sich daraus tatsächlich herausmanövrieren kann, ist fraglich. Der Versuch erinnert an Münchhausen, der sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen konnte.77 Die Diskurstheoretiker versuchen dies etwa durch den Rückgriff auf Selbst- oder Letztbegründungen. Aussichtsreicher scheint die These zu sein, dass Letztbegründungen entbehrlich sind.78 Sie steht in der für Habermas prägenden Tradition des philosophischen Pragmatis-
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Die Hauptargumente gegen die Sonderfallthese wurden grundsätzlich in den 80er Jahren ausgeführt, vgl. Arthur Kaufmann, ARSP 72 (1986), 436 ff.; ders., Festschrift für Kielwein, S. 18 ff.; ders., Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 9; ders., Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 16 ff.; ders. (heute ders./von der Pfordten), in: Hassemer/Neumann/Saliger (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie, B 2.4.3., S. 128 ff.; Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 84 f. und passim; ders., Rechtstheorie 27 (1996), 415, 417 ff.; knapp ders., ZStW 101 (1989), 52, 69 f.; ders., in: Hassemer/Neumann/Saliger (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie, C 9.5.4., S. 314; Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 130 ff.; Volk, Wahrheit und materielles Recht, S. 15 f.; ders., Festschrift für Salger, S. 411, 419. Ansonsten vgl. Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, S. 144 ff.; Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 575 ff.; Duttge, ZStW 115 (2003), 539, 552 ff.; Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 175, 182 ff., 191; Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, S. 91 f.; Radtke, Festschrift für Schreiber, S. 375, 385; Lien, GA 2006, 129, 139 ff.; Hilgendorf, GA 1993, 547, 554 f.; Kühne, Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem, S. 191 ff., 201; Eicker, Prozeduralisierung, S. 134 ff.; Prelle, KritV 2011, 331 ff. u. a. 77 Zum sog. „Münchhausen-Trilemma“ siehe Albert, Traktat, S. 13 ff.; auch Popper, Logik der Forschung, S. 60. Zu diesem Einwand Arthur Kaufmann, ARSP 72 (1986), 436; ders., Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 21, u. v. a. Erwiderung von Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 223 f.; auch Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 261 ff. 78 Vgl. zur Letztbegründung Apel, zuerst in: Transformation der Philosophie, S. 405 ff.; explizit keine Begründung bei Habermas, Festschrift für Schulz, S. 211, 257; ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, S. 106 ff.; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, S. 195; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 221 ff., 225 ff., 233. Vgl. auch darüber Albert, Traktat, S. 257 ff.
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mus, der von Charles Peirce begründet wurde.79 In dieser Tradition wird der klassische Begründungsanspruch sozusagen tiefer gehängt und stattdessen der Prozess der Forschung, die Folie für den Diskurs, ins Zentrum gerückt. Diese Prozessualisierung erfasst auch das korrespondenztheoretische Verständnis von Wahrheit, das wie in der Konvergenztheorie der Wahrheit mit einem Zeitfaktor versehen wird:80 Wahrheit ist die Entsprechung der Wirklichkeit mit der „final opinion“ am Ende des Forschungsprozesses. Nach Puntel ist „ein wesentliches Ingrediens“ dieses Wahrheitsbegriffs der antizipatorische Charakter der Wahrheit „im Sinne eines schon in der gegenwärtigen Situation anvisierbaren eschatologischen Konsenses aller Forscher“81. Wenn man am Methodendualismus mit seiner scharfen Dichotomie zwischen Sollen und Sein festhält, wird man dem den nicht ausgewiesenen Übergang vom Sein auf das Sollen vorhalten. Noch mehr, für den Universalismus der Diskurstheorie von Habermas scheint das auch umgekehrt zu gelten.82 Wer einen naturalistischen Fehlschluss im Sinne der Ableitung des Sollens aus dem Sein vermeiden möchte, darf dem umgekehrten Fehlschluss, das Sein aus dem Sollen abzuleiten, nicht unterliegen. In der Hauptsache kann aber die Theorie nicht dartun, wie der Diskurs als sprachliche Interaktion Wahrheit bzw. Richtigkeit generiert. Konkret: Inwiefern soll die sprachliche Interaktion der Prozessbeteiligten über Fakten und Recht eine Relevanz für das Urteil im Bereich des Strafrechts haben? Zwar mag Jahn darin Recht zu geben sein, dass man hier den Rekurs auf die Philosophiegeschichte nicht braucht.83 Unbestreitbar ist gleichwohl, dass die Frage von Letztbegründungen und die Suche nach einem substantiell richtigen Ergebnis für ein Strafrecht unverzichtbar ist, das jedenfalls dem Diskurs der deutschen Strafrechtswissenschaft nach auf 79
Siehe Kasiske, Pragmatismus; ausführlicher zu Peirce Schulz, Philosophie von Charles Peirce. Zu den einflussreichsten Aufsätzen von Peirce zählt „The Fixation of Belief“, einer der sechs Aufsätzen in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Popular Science Monthly 12 (November 1877), 1 ff., mit denen er den amerikanischen Pragmatismus begründet hat. Darin wendet er sich vor allem gegen René Descartes und seine von Peirce so genannte AprioriMethode; siehe ders., Writings of Charles Sanders Peirce, Vol. 3, S. 259. 80 Bei Arthur Kaufmann, ARSP 72 (1986), 440 ff. wird allerdings noch neben dem Prozeßelement das Seinselement betont. Erst nach der zeitgleich einsetzenden Rezeption von Peirce, Rechtstheorie 17 (1986) 257 ff. mit der Folge der Ablösung der „Substanzonotologie“ durch eine „Relationenontologie“ nähert sich Kaufmann dem dynamischeren Verständnis des Seins bei Peirce an; siehe von der Pfordten, Festschrift für Neumann, S. 310 ff. zur ursprünglichen ontologischen Denkens von Kaufmann in Anlehnung an Aristoteles und Thomas v. Aquin; S. 312 zur Wandlung zu einer Ontologie der Relationen des Rechts (Entsprechung von Sein und Sollen) im Aufsatz „Die ontologische Struktur des Rechts“ (1965), die im Aufsatz „Vorüberlegung zu einer juristischen Logik und Ontologie der Relationen“ (1986) ausgearbeitet wurde; S. 313 und 317 zur Rezeption von Peirce im Beitrag von 1986; S. 315 zum fast völligen Verschwinden der Ontologie in der Rechtsphilosophie Kaufmanns (1997), auch durch den angelsächsischen Trend beeinflusst. 81 Puntel, in: Krings/Baumgartner/Wild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe 3, S. 1660 f.; ferner ders., Wahrheitstheorien, S. 142. 82 Bezüglich des Strafprozessrechts Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 578. 83 Der Einwand wird aus diesem Grund relativiert, vgl. Jahn, GA 2004, 278.
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rechts- und verfassungstheoretische Begründungen nicht zu verzichten gewillt ist.84 Innerprozessual zirkuläre Denkmuster würden die Begründungsquelle des materiellen Rechts zum Versiegen bringen. Der Strafprozess kann sich weder selbst begründen noch aus sich heraus Richtigkeit generieren. Das könnte er nur, wenn man ihn als Fall der reinen Gerechtigkeit begreifen könnte, bei der sich das Ergebnis auswürfeln lässt. Auch wenn die Prozeduralität der diskurstheoretischen Auffassung des Strafprozessrechts dies nie wollen könnte, bleibt es beim Einwand, dass diese in ihrer frühen Form auf inhaltliche, gehaltvolle Maßstäbe der Gerechtigkeit verzichtet oder diese zumindest nicht ausweist.85 Die Unverzichtbarkeit des materiellen Bezugs ist allerdings nicht daran geknüpft, dass der Prozess dem materiellen Recht „dient“.86 Die Einleitung eines Verfahrens ist ohne den Verdacht einer schuldhaften Tat weder sinnvoll noch entspricht sie dem geltenden Verfahrensrecht. Auch wenn das Verfahren seinen Ausgang bei einem Tatverdacht nimmt (§ 152 Abs. 2 StPO), erschöpft es sich nicht in wechselnden Verdachtslagen, sondern es enthält Maßgaben für den Umgang mit spezifischen Verdachtslagen, wie dem dringenden Verdacht als Voraussetzung der Untersuchungshaft (§ 112 StPO). Das materielle Strafrecht als verfahrensexterner Rahmen bestimmt das Strafverfahren, sofern der auslösende Tatverdacht sich durch tatsächliche Anhaltspunkte als eine „verfolgbare Tat“ erweist (§ 152 Abs. 2 StPO). Die Richtigkeit oder Gerechtigkeit des Urteils lässt sich nicht alleine durch die Wahrung der Verfahrenskautelen ausweisen. Um eine Anleihe in der Wahrheitstheorie zu nehmen: Wahrheit ist mehr als ihre Rechtfertigung. Das dementiert nicht die hohe Bedeutung der „Rechtfertigung“, d. h. jener Kautelen. So beeinflusst zum Beispiel das Strafverfahrensrecht das materielle Strafrecht und die Entscheidungsfindung, insbesondere durch Beweisregeln wie die Beweisverwertungsverbote und Beschuldigtenrechte, die eine grenzenlose Ausforschung des Sachverhaltes einschränken.87
84 Das hat Schünemann für das materielle Strafrecht immer wieder betont, z. B. in Festschrift für Lampe, S. 541 ff., auch Sacher, ZStW 118 (2006), 578 ff., 590 ff., 595 ff. 85 Für den Rechtsbereich Arthur Kaufmann, Festschrift für Kielwein, S. 18 f.; ders., Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 9; ders., Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 17 ff., zutreffend S. 18: kein „Prioritätskriterium“; von der Pfordten, in: Schulz (Hrsg.), Verantwortung zwischen materialer und prozeduraler Zurechnung, S. 17 ff.; ders., in: NidaRümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik, S. 202, 256; Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, S. 94 f. u. a.; Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 584; Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, S. 78 ff. 86 Wieder passend entgegen rein prozeduralen Thesen könnte der früher verwandte Begriff der „existentiellen Abhängigkeit“ sein, Nachweise bei Neumann, ZStW 101 (1989), 52 f. 87 Dazu bereits Volk, Prozeßvoraussetzungen, insbes. S. 189 ff., 193; ders., Wahrheit und materielles Recht, S. 9 f.; ders., Festschrift für Dahs, S. 500 ff.; Neumann, ZStW 101 (1989), 52 ff., 54 ff., 72 (auf keinen Fall nur dienende Funktion); differenzierend Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 130, Fn. 412.
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Dem unverzichtbaren Bezug zum materiellen Recht entspricht der Umstand, dass es im Strafverfahren keine definitorische Verfahrensgerechtigkeit geben kann.88 Die Richtigkeit bzw. Gerechtigkeit von Urteilen bestimmt sich (auch) nach außerprozessualen Kriterien, weil das Verfahren nur den beweistechnisch-prozessualen Aspekt der Frage zu klären vermag, warum jemand verurteilt wird. Um mit Rawls zu sprechen: Das Strafverfahren besitzt eine Gerechtigkeitserzeugungs-, nicht aber eine Gerechtigkeitsbegründungsfunktion. Diese letztere kommt dem materiellen Recht zu, das damit den Rahmen der Gerechtigkeit liefert. Es soll die Tatbegehung im Sinne der Tatbestandsmerkmale und die Schuld festgestellt werden, und nur der wahre Schuldige dieser Tat verurteilt werden. Deshalb wird sich das Strafverfahren danach richten, möglichst nahe an eine objektive Wirklichkeit heranzukommen, also sich der sog. materiellen Wahrheit anzunähern. Materiellrechtlich gesehen, hat eine Verständigung von Bürger und Staat über das Vorliegen einer Straftat keine Relevanz. Solche Verhandlungen über das Delikt und die Bestrafung widersprechen dem Sinn der Straftatbestände, weil letztere einen Wert nicht etwa der Privatautonomie des Beschuldigten, sondern der tatsächlichen Begehung und Bestrafung nur des Schuldigen beimessen.89 Das materielle Strafrecht fordert für seine Realisierung vom Strafprozess also eine Erforschung des Sachverhalts und Feststellung der Schuld - natürlich mit den vorhandenen Einschränkungen der strafprozessualen Regeln. b) Interessenorientiertes Handeln Es versteht sich gewissermaßen von selbst, dass zumindest der Beschuldigte als Prozessbeteiligter nicht kommunikativ, sondern strategisch handelt.90 Deshalb wird ihm auch das Recht aus dem Grundsatz nemo tenetur zugesprochen. Schon für die Staatsanwaltschaft gilt das nur eingeschränkt. Sie darf zwar eine Anklage auch dann vertreten, wenn die persönliche Überzeugung von der Schuld des Beschuldigten 88 Nach der allgemeinen Klassifikation von Rawls wird diese auf das Strafverfahren angewendet, vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, § 14, S. 105 ff., vgl. dazu auch Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 124 ff.; Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 69 f. Auch wenn es im Strafprozess um Wahrheit geht, geht es auch um die Verfahrensgerechtigkeit. Hier wird die Verfahrensgerechtigkeit als die Förderung von Ergebnisgerechtigkeit durch Verfahren angesehen. Wenn die „Verfahrensgerechtigkeit“ auch als „prozedurale Gerechtigkeit“ bezeichnet wird, darf sie nicht mit den „Prozeduralen Theorien der Gerechtigkeit“ verwechselt werden, denn diese letzteren wollen nicht nur die Herstellung von Gerechtigkeit im oder durch Verfahren, sondern fordern dafür auch eine prozedurale Begründung der Gerechtigkeit; siehe hierzu Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 132, Fn. 417 und S. 134; Jansen, Die Struktur der Gerechtigkeit, S. 56, Fn. 58; Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 59. 89 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 15 Rn. 6; Schünemann, in: ders. (Hrsg.), Risse im Fundament, S. 93, 98; ders., GA 2018, 185 f. 90 Zu der Unterscheidung zwischen strategischem und kommunikativen Handeln Habermas am besten in: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, S. 127, 385 ff.; Bd. II, S. 193 f.; ders., Faktizität und Geltung, S. 43 f., 50.
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fehlt, aber sie ist bereits an Standards der Professionalität gebunden und gilt als befangen, wenn sie diesen Standards nicht gerecht wird. Für das Gericht gilt dies noch mehr. Lässt sich ein interessenorientiertes Handeln mit der Diskurstheorie kombinieren? Der politisch-philosophische Ausgangspunkt der Theorie des kommunikativen Handelns liegt nämlich in der Überwindung des Konzepts individueller Nutzenmaximierung des hobbesianischen und später utilitaristischen Verhaltensmusters und Sozialordnung91 zugunsten eines verständigungsorientierten Handlungs- und Gesellschaftsmodells.92 Die Idee der sozialen Ordnung auf der Grundlage teleologischen oder zweckrationalen Handelns wird von Habermas als defizitäre strategische Kommunikation und negativ zum Beispiel als das „Zusammentreffen der egozentrischen Perspektiven selbstinteressiert handelnder Individuen“ beschrieben.93 Aus dem „kontingenten Aufeinandertreffen verschiedener erwarteter Interessenlagen und Erfolgskalküle“ entsteht für Habermas keine Sozialordnung.94 Deshalb ist seine Ersetzung des Modells eines teleologischen oder zweckrationalen Handelns durch das kommunikative, verständigungsorientierte Handeln95 nicht einfach abzuweisen. Wenn die Richtigkeit der Entscheidungen an ein diskursives Verfahren geknüpft werden und dagegen die Vorteilsüberlegungen keine Verallgemeinbarkeit und damit kein Richtigkeitsanspruch erheben können, ist jedoch schwer verständlich, wie der Strafprozess und die Urteilsabsprachen mit der stark interessenorientierten Interaktion der Beteiligten die Bedingungen des Diskurses erfüllen sollen.96 Hinzu kommt, dass bei den Absprachen das Interesse der Justiz einer Minimierung des Ressourcen- und Zeitaufwands gilt. Die Schwierigkeiten, den gerichtlichen Prozess als Diskurs anzusehen, harren allerdings noch der Lösung.97 Das zeigt das Beispiel von Lüderssen, der mit seiner konsensualen Adelung der Verständigung auch unter Strafverteidigern isoliert geblieben ist. 91
Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd II, S. 314 ff.; ders., Faktizität und Geltung, S. 43, 118 ff., 408 ff. Vgl. z. B. die Klassifizierung der Grundpositionen von Alexy in der politischen Philosophie in ARSP 51 (1993), 11 ff., 28; ders., Recht, Vernunft, Diskurs, S. 142 ff.; im Anschluss Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 81 ff. und passim m. w. N. 92 So die Entwicklung seiner Theorie in Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, S. 320 ff., 330 im Anschluss an seine Ausführungen über Hobbes und den Utilitarismus. 93 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 420. 94 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 91. 95 Vgl. zum Beispiel supra, Fn. 92 und Habermas, Faktizität und Geltung, S. 17 ff. und passim. 96 So allgemein über das Gerichtsverfahren in seiner 1. Phase in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, S. 142, 200 f. 97 Habermas behandelt knapp die Einzelheiten des Strafprozesses aus seiner Sicht auf S. 288 – 291 von Faktizität und Geltung (Fn. 25, 3. Phase) und beruft sich dabei auf die rechtlichen Hinweise von Günther. Allgemein über das Gerichtsverfahren in Habermas, Faktizität und Geltung, S. 242 ff., 272 ff.
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Für eine Lösung kommt in Betracht, dass man den Begriff des Diskurses bei der gerichtlichen Interaktion so erweitert, dass die subjektive Vorteilsorientierung der Parteien ausgeklammert wird. Die Parteien agieren zwar im Eigeninteresse, bestätigen damit, als wäre eine „unsichtbare Hand“ im Spiel, aber die Rationalität des Diskurses. In diesem Sinn reicht es für diesen Diskurs aus, dass die Parteien beanspruchen, im Rahmen der geltenden Rechtsordnung vernünftig zu argumentieren bzw. zu begründen. Damit müssten sie ihre Argumente in eine Gestalt kleiden, „dass sie unter idealen Bedingungen Zustimmung finden würden“.98 Aber bei dieser Modifikation der Diskurstheorie gilt der Einwand des Fehlens der für den Diskurs erforderlichen Unparteilichkeit und Offenheit.99 Auch bleibt der Einwand bestehen, dass die Grenzen zwischen strategischem und kommunikativem Handeln verwischt werden.100 Der Lösungsvorschlag wird noch dadurch raffiniert, dass man, um den Einwand des diskursfremden strategischen Handelns der Prozessbeteiligten im Strafprozess auszuräumen, die Wahrung der Unparteilichkeit (bzw. des nicht strategischen Handelns) dem Richter überträgt.101 Bei dieser Konzentration des Diskurses auf die Person des Richters handelt es sich aber um eine nur monologische, nicht diskursive Anwendung des Rechts.102 Allerdings ließe sich dem mit Habermas entgegnen, das man nur die Figur des Richters als ein „gemeinsames Unternehmen“ konzipieren müsse, „das von der öffentlichen Kommunikation der Staatsbürger getragen wird“. Oder in einer mehr professionellen Variante der Konzeption verstanden: den Richter als „Teil der Interpretationsgemeinschaft von juristischen Experten“ begreifen, der seine „Interpretationen von den in der Profession anerkannten Standards der Auslegungspraxis leiten lassen“ müsste.103 So ließe sich wohl die Verständigung zwischen dem Angeklagten und dem Richter (bzw. Staatsanwalt) konkret auf einen Diskurs der wahlberechtigten Staatsbürgern zurückführen, was zwar als eine sehr entfernte, externe Betrachtung der Sozialordnung noch gut angehen könnte, aber aus der Binnenperspektive des Rechtssystems und erst recht nicht für den Anwendungsdiskurs noch keine hinlängliche Erklärung bzw. maßgebliche Sachkriterien für die Entscheidung liefert. 98 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 271, vgl. auch 270, 351, 434; auch in diesem Sinne ders., Recht, Vernunft, Diskurs, S. 143; wie auch ders., ARSP 51 (1993), 26. Habermas schließt sich in seiner 2. Phase der Sonderfallthese von Alexy an. 99 Neumann, Rechtstheorie 27 (1996), 415, 418 f.; ders., Juristische Argumentationslehre, S. 84. Für weitere Kritik der Sonderfallthese aufgrund der strategischen Interaktion vor Gericht vgl. u. a. Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, S. 145; Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 579 f. 100 Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 85, mit der Erwiderung von Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 434 f. 101 So schließlich Habermas, Faktizität und Geltung, S. 283 mit Verweis auf Alexy. 102 Vgl. in der Strafrechtswissenschaft Neumann, Rechtstheorie 27 (1996), 415, 417 f. m. w. N.; Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, S. 146 f. 103 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 274 f.
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Kap. 3: Verfahrensrecht und materielles Recht
Die Verständigungsorientierung der Interaktionsteilnehmer als charakteristisches Merkmal des Anspruchs auf Wahrhaftigkeit und Richtigkeit ist bereits in Gerichtsverfahren im Zivil- und Verwaltungsrecht nicht vorhanden, so fehlt es noch mehr im Strafprozess, in dem der Angeklagte nicht die Wahrheit sagen muss und in dem er nicht genötigt werden darf, sein Handeln auf einen Konsens im erwähnten Sinne auszurichten. Damit entfällt die Verständigungsorientierung und mit ihr das Element der Wahrhaftigkeit.104 c) Herrschaftsfreiheit und Zwanglosigkeit Der argumentativ erzielte Konsens im Rahmen der Diskurstheorie müsste die Bedingungen der Herrschaftsfreiheit und Zwanglosigkeit erfüllen. Die in der Diskurstheorie einzig legitime Kraft ist diejenige des besseren Arguments.105 Bereits beim Vorliegen einer unterschiedlichen Verhandlungsmacht der Interaktionsteilnehmer fehlt es am Horizont einer nur auf Gründen beruhenden Übereinstimmung. Hier erweist sich der diskurstheoretische Begriff der Übereinstimmung als anspruchsvoller als die Bedingungen eines Vertrages.106 Der Strafprozess und die Absprachen sind aus mehreren Gründen nicht herrschafts- und zwangsfrei. Erstens geht es um den Zwang zur Teilnahme an der Interaktion bereits in der Grundposition des Angeklagten, gegen dessen Willen ein Strafverfahren eingeleitet und durchgeführt und sogar ggf. Untersuchungshaft angeordnet wird. Dieser Ausgangspunkt würde sich auch nicht ändern, wenn das Verfahren mit der Dispositionsmaxime angereichert werden würde. Der Strafprozess stellt ein mit spezifischen Kautelen ausgestattetes hoheitliches bzw. staatliches Verfahren dar, dem die Verwirklichung des staatlichen „Strafanspruchs“ im Sinne einer hoheitlichen Befugnis zu Bestrafung aufgegeben ist.107 Zweitens besteht ein deutliches Ungleichgewicht zwischen der Macht der Strafverfolgungsbehörden und der Verteidigung. Dies ist nicht der Instruktionsmaxime geschuldet, wie Jahn annimmt. Sie schlägt sich sogar nieder in dem auch an die Staatsanwaltschaft gerichteten Auftrag, be- und zugleich entlastende Umstände zu ermitteln. Dass dies ein reichlich utopischer Auftrag ist, weiß jeder Praktiker.108 Wichtiger ist aber die operative Seite der Ressourcen. Abgesehen von den vor allem 104
Zur Unvereinbarkeit der Lüge im Strafprozess mit der Diskurstheorie bereits Arthur Kaufmann, Festschrift für Kielwein, S. 23; Volk, Wahrheit und materielles Recht, S. 16; Saliger, in: Depenheuer (Hrsg.), Recht und Lüge, 111 f.; Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten, S. 25 f.; Lien, GA 2006, 142, 145; Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 581 ff. Über die Lüge bzw. Täuschung vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 234, 236. 105 Habermas, Festschrift für Schulz, S. 211, 240; ferner Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 412. 106 Aus der philosophischen, nicht strafrechtlichen Perspektive Tschentscher, Rechtstheorie 33 (2002), 43 ff., 53, 57. 107 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 12; § 12 Rn. 7, § 17 Rn. 7. 108 Siehe nur Volk, Die Wahrheit vor Gericht, S. 151 f.; weitere Nachweise infra, Kapitel 8 A. II. 2. b) cc).
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im Wirtschaftsstrafrecht geläufigen Verfahren, in denen die Verteidigung zumeist von Unternehmen „durchfinanziert“ wird, sind die Strafverfolgungsbehörden in der technischen und personellen Ausstattung der dem Beschuldigten weit überlegen. Dies gilt vor allem angesichts der Zunahme der heimlichen staatlichen Eingriffsmaßnahmen.109 Bei den nunmehr euphemistisch „Verständigung“ genannten Absprachen, riskiert die Verteidigung eine härtere Bestrafung des Beschuldigten, wenn sie sich einer Absprache verweigert.110 Die Verständigungsnovelle hat dieses Risiko spürbar gesteigert. Darüber hinaus führen die Vorauswahl des Beweisthemas vor dem Hintergrund des materiellen Rechts und die Anklage, die begrenzte Zeit der richterlichen Entscheidungsfindung und generell die institutionelle Sprechsituation zu einer von Abhängigkeit bestimmten Kommunikation.111 4. Revision der Diskurstheorie Die bisherigen Ausführungen haben bestätigt, dass eine diskurstheoretische Rekonstruktion des Prozesses dann defizitär ist, wenn sie der Konsenstheorie der Wahrheit folgt. Wissenschaftstheoretisch hat der späte Habermas diese Theorie aufgegeben.112 Diese Revision hat er für den Bereich deskriptiver Aussagen vorge109
Dazu weiterführend Schünemann, GA 2008, 314 ff. Auch wenn Jahn die Drohung mit der Sanktionenschere durch Einschränkungen bei den Absprachen vermeiden möchte, vgl. ZStW 118 (2006), 427, 460 cc), bleibt noch der 1. und 2. genannte Zwang bestehen. 111 Siehe Habermas, in: ders./Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, S. 142, 200 f.; Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 133 ff.; Arthur Kaufmann, Festschrift für Kielwein, S. 22 f.; ders., ARSP 72 (1986), 425, 437. 112 Habermas, Einleitung: Realismus nach der sprachpragmatischen Wende, S. 15 f., ders., Wahrheit und Rechtfertigung, S. 230 ff., insbes. VI. S. 256 ff. Hier verabschiedet er sich von seinem früheren, in seinem Aufsatz „Wahrheitstheorien“ vertretenen epistemischen Wahrheitsbegriff als Rechtfertigbarkeit unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation. Nach den Worten von Habermas: „Sobald der Wahrheitsbegriff zugunsten einer kontextabhängigen epistemischen Geltung für uns eliminiert ist …“ (Wahrheit und Rechtfertigung, S. 268). Er unterscheidet „zwischen der Wahrheit einer Aussage und ihrer rationalen Behauptbarkeit (selbst unter annähernd idealen Bedingungen) schärfer als bisher“ und unterzieht „die epistemische Fassung des Wahrheitsbegriffs einer längst fälligen Revision“ (Einleitung, Realismus nach der sprachpragmatischen Wende, S. 15 f.). Rückblickend sieht er, „daß sich der Diskursbegriff der Wahrheit einer Überverallgemeinerung des speziellen Falls der Geltung moralischer Urteile und Normen verdankt. Ein konstruktivistisches Verständnis des moralischen Sollens verlangt zwar ein epistemisches Verständnis von normativer Richtigkeit. Aber an diesem Sinn von rationaler Akzeptabilität unter annähernd idealen Bedingungen darf der Begriff der Aussagenwahrheit nicht assimiliert werden, wenn wir realistischen Intuitionen gerecht werden wollen.“ (Einleitung, Realismus nach der sprachpragmatischen Wende, S. 15 f.). Habermas distanziert sich damit von einer Wahrheitstheorie, in der „das Wahrsein in irgendeiner Weise von unserem Fürwahrhalten abhängig ist“ (Künne, in: Martens/Schnädelbach (Hrsg.), Philosophie I, S. 122). Bei der Revision des Wahrheitsbegriffs in „Wahrheit und Rechtfertigung“ geht Habermas auf die Argumente seiner Kritiker ein (ausdrücklich auf S. 256) 110
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Kap. 3: Verfahrensrecht und materielles Recht
nommen, d. h. für Aussagen über eine objektive Welt. Offen geblieben ist, ob sie sich auch auf normative Aussagen erstrecken kann und soll. Soweit das Beweisverfahren empirisch zugänglichen Tatsachen gilt, ist bereits die erwähnte Revision immerhin relevant. Kein tragfähiges Argument für eine Übertragung auf normative Aussagen ist, dass sich Habermas im Anschluss an die erwähnte Revision entgegen dem internationalrechtlichen Procedere für die humanitäre Intervention im Kosovo ausgesprochen hat, die dann dem damaligen Außenminister Joseph Fischer als Steilvorlage für den Einsatz der NATO gegen die serbische Aggression gedient hat.113 Gewagt ist jedenfalls die gegenteilige Annahme von Günter Ellscheid, dass Habermas die Konsenstheorie hinsichtlich der Erkenntnis richtiger moralischer Normen und Urteile „in verschärfter Form“ vertrete.114 Ellscheid sieht das in folgenden Passagen: „Diese ontologische Deutung impliziert, daß sich ein noch so sorgfältig herbeigeführter Konsens über eine noch so begründete Aussage im Lichte neuer Evidenzen als falsch herausstellen kann.“115 „Ein unter idealen Bedingungen diskursiv erzieltes Einverständnis über Normen oder Handlungen hat mehr als nur autorisierende Kraft, es verbürgt die Richtigkeit moralischer Urteile. Ideal gerechtfertigte Behauptbarkeit ist das, was wir mit moralischer Geltung meinen; sie bedeutet nicht nur, daß das Für und Wider in Ansehung eines kontroversen Geltungsanspruchs erschöpft ist, sondern sie selbst erschöpft den Sinn von normativer Richtigkeit als Anerkennungswürdigkeit.“116 Noch instruktiver ist die Erläuterung, die Habermas in der Einleitung zu „Wahrheit und Rechtfertigung“ gibt: „Nun läßt der revidierte Wahrheitsbegriff zwar und kombiniert nun einen nicht-epistemischen Wahrheitsbegriff mit einer dezentrierende Ausdehnung der Rechtfertigungsgemeinschaft. „Was wir für wahr halten, muß sich mit überzeugenden Gründen nicht nur in einem anderen Kontext, sondern in allen möglichen Kontexten, als jederzeit gegen jedermann verteidigen lassen“ (S. 259, ferner 262, 264). „Eine konsequent epistemische Lesart der diskurstheoretischen Erklärung scheitert schon daran, daß nicht alle Prozeßeigenschaften ,Anschluß an menschliche Fähigkeiten‘ behalten. Von den Argumentationsvoraussetzungen der allgemeinen Inklusion, der gleichberechtigten Teilnahme, der Repressionsfreiheit und Verständigungsorientierung können wir uns in der Gegenwart immerhin eine idealerweise annähernde Erfüllung vorstellen. Das gilt nicht vom Vorgriff auf die Zukunft, auf eine künftige Bewährung.“ (S. 259) Seine Entfernung des unbedingten Fürwahrhaltens und damit des epistemischen Wahrheitsbegriffs verdeutlicht er schließlich folgendermassen: „Es besteht die praktische Notwendigkeit, sich intuitiv auf unbedingt Für-wahrGehaltenes zu verlassen. Dieser Modus des unbedingten Für-wahr-Haltens spiegelt sich auf der diskursiven Ebene in den Konnotationen von Wahrheitsansprüchen, die über den jeweils bestehenden Kontext der Rechtfertigung hinausweisen und zur Unterstellung idealer Rechtfertigungsbedingungen – mit der Folge einer Dezentrierung der Rechtfertigungsgemeinschaft – nötigen“. (S. 264) Zu der Einordnung seiner Wahrheitstheorie als „nicht-epistemisch“ nach der Revidierung siehe ferner Greve, KZfSS (2001) 53, 167. 113 Habermas, Bestialität und Humanität – Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral, Die Zeit Nr. 18, 1999 (Zeit Online 29. 4. 1999). 114 Ellscheid, in: Hassemer/Neumann/Saliger (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie, C 3.2.3., S. 157. 115 Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit, S. 296. 116 Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit, S. 297.
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die rationalisierende Kraft einer öffentlichen und inklusiven, gewaltlosen und dezentrierten Form der Argumentation unter Gleichberechtigten intakt, aber er bezieht das Resultat einer gelungenen Rechtfertigung auf etwas in der objektiven Welt. Ein solcher rechtfertigungstranszendenter Bezugspunkt fehlt der Richtigkeit von moralischen Urteilen und Normen. Der Begriff der ,normativen Richtigkeit‘ geht in rationaler Behauptbarkeit unter idealen Bedingungen auf; ihm fehlt die ontologische Konnotation des Bezugs zu Gegenständen, von denen wir Tatsachen behaupten“.117 Man geht nicht fehl, wenn man diese Stellungnahme auf der Folie der Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsdiskurs reformuliert. Dann gilt sie dem Begründungs-, nicht dem Anwendungsdiskurs. Ausgangspunkt für die Revision der Konsenstheorie der Wahrheit war die Auseinandersetzung von Habermas mit dem deflationären Pragmatismus von Richard Rorty, der Wahrheit an Solidarität geknüpft und damit einen Kontextualismus den Weg bereitet hat, den er im Bewusstsein der Überlegenheit der westlichen Tradition in den USA der Zeit vor der Präsidentschaft von Trump meinte vertreten zu können. Wahrheit erschöpft sich nach Rorty in der Bewertung von Überzeugungen als „gerechtfertigt“ oder „begründet“, wobei das Kriterium der Rechtfertigung die Nützlichkeit für das Erreichen bestimmter Zwecke und das Lösen konkreter Probleme ist. Rorty hat in diesem Sinn auch den Pragmatismus von Peirce verstanden und gehörte zu jenem konstruktivistischen Lager der Neopragmatisten, die jede Möglichkeit eines Universalismus ablehnen. Immer schon dem normativ anspruchsvollen Pragmatismus von Charles Peirce verpflichtet,118 sah sich Habermas genötigt, dem Konstruktivismus der Konsenstheorie eine Absage zu erteilen.119 Der Strafprozess ist kein Begründungs-, sondern ein Anwendungsdiskurs, jedenfalls dann, wenn man am konstitutiven Bezug zum materiellen Recht festhält. Demnach eignet sich gerade die Revision des Wahrheitsbegriffs beim späten Habermas dafür, am inquisitorischen Modell festzuhalten. Die Analogie zur Wahrheit in Tatsachenfragen führt auch bei normativen Tatbestandsmerkmalen, auf die sich nach der herrschenden Meinung im Schrifttum der Tatumstandsirrtum nach § 16 StGB bezieht, dazu, dort Objektivität einzufordern. In komplexen Rechtslagen wie im Wirtschaftsstrafrecht ist der Irrtum über die Rechtslage entscheidend dafür, ob es beim individuellen Normadressaten eine belastende Rückwirkung gibt. Nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG darf dies bei überraschenden Entscheidungen der Rechtsprechung nicht der Fall sein, weil diese dem Gesetzgeber quasi arbeits117
Habermas, Einleitung: Realismus nach der sprachpragmatischen Wende, S. 56. Peirce und mit ihm später Hilary Putnam halten an einer stärkeren Bedeutung von „wahr“ fest im Sinne von „wahr in einer Idealsituation“, während Dewey und Rorty „wahr“ als „ausgewiesene Behauptbarkeit“ verstehen; vgl. Kasiske, Pragmatismus, darin zu Peirce S. 24 ff., zu dessen Konvergenztheorie der Wahrheit S. 31, zum Begriff der Wahrheit bei Dewey und Rorty siehe insbes. S. 69. 119 Dem folgt auch die von Habermas besorgte Studienausgabe seiner Werke, die in Bd. 2 (Rationalitäts- und Sprachtheorie) eben den frühen Aufsatz „Wahrheitstheorien“ und den genannten „Wahrheit und Rechtfertigung“ versammelt. 118
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Kap. 3: Verfahrensrecht und materielles Recht
teilig in der Normpräzisierung zuarbeitet. Bei den normativen Tatbestandsmerkmalen neigt die Rechtsprechung dazu, den Irrtum über ihr Vorliegen zum Nachteil des individuellen Normadressaten als Subsumtionsirrtum, d. h. als Verbotsirrtum gem. § 17 StGB zu behandeln. Das ist besonders erheblich im Steuerstrafrecht, da hier grundsätzlich alle Bürger von der Frage betroffen sind. Hier hat der für diese Materie zuständige 1. Strafsenat des BGH, nachdem er der genannten Neigung fast erlegen wäre, zuletzt im Weg eines Obiter Dictum klargestellt, dass er der Steueranspruchstheorie folgt, wonach ein Irrtum über diesen Anspruch kein Rechtsirrtum nach § 17 StGB, sondern ein Tatbestandsirrtum nach § 16 StGB ist. Zugleich hat er eingeräumt, dass er die fehlerhafte Verortung des Irrtums über das Merkmal „Arbeitgeber“ bei § 266a StGB zurückzunehmen gewillt ist.120 Die gewisse Offenheit dieser Merkmale, die zumeist auf akzessorische Rechtsmaterien verweisen, führt im Strafverfahren in der Tendenz zu einem semantischen Kampf darüber, was Schuld praktisch heißt, mit gravierenden Folgen für den Beweisgang bzw. den Umfang der richterlichen Aufklärungspflicht, die bei § 17 StGB gegen Null geht. Ob die genannte Revision der Wahrheitstheorie bei Habermas auf diese Merkmale zu erstrecken ist, folgt eben ihrer Verortung bei §§ 16, 17 StGB, die wiederum der Einschätzung ihres tatsächlichen Gehalts folgt. Wissenschaftstheoretisch lassen sich diese Merkmale sachadäquat im Sinne von John Searle als institutionelle Tatsachen qualifizieren. So kommt, um ein Beispiel von Searle aufzugreifen, bei Geld einem spezifisch gefärbten Papierstreifen ein Status zu, der die Erfüllung der Funktion von Geld ermöglicht. Die kollektive Intentionalität, auf die eine soziale Tatsache als kollektiver intentionaler Tatsache zurückgreift, ist unhintergehbar. Wer immer sich an kooperativem Verhalten beteiligt, importiert eine Wir-Intention („wir akzeptieren“): Wir akzeptieren, daß X (spezifisch gefärbte Papierstreifen) als Y (Geld) im Kontext K (Deutschland) gilt. Sofern wir dazu Sprache benötigen, schadet dies nicht, da der Umkehrschluss (dass institutionelle Tatsachen ausschließlich sprachlich sind) nicht zutrifft. Würde man vom Bezugspunkt natürlich gegebener Tatsachen absehen, begäbe man sich in den infiniten Regress der Regelverwendung. Dem sucht Searle damit mit der Annahme eines „Hintergrunds“ von Fertigkeiten und Kenntnissen zu entkommen. Demnach ist die geläufige Zurückweisung der Diskurstheorie nur noch mit Einschränkungen gerechtfertigt, allerdings ist abzuwarten, wie sich die erwähnte Revision auf die Statik der Diskurstheorie insgesamt auswirkt. Hier wird man damit rechnen können, dass einige Vertreter davon ausgehen, dass sich mit dem Argument von Ellscheid doch nichts geändert habe. Andere dürften eine substantielle Anreicherung vornehmen, die sich entweder im Begriff des Verfahrens niederschlagen wird oder in einer Korrekturmöglichkeit bei Verfahren, die man zynisch nennen könnte, beispielsweise wie im genannten Kosovo-Beispiel eine macchiavellistische Blockade des Sicherheitsrates der UN.
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BGHSt NStZ 2019, 146.
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III. Verselbständigtes Prozessrecht In der Diskussion über das Verhältnis von Prozessrecht und materiellem Recht wird von manchen die Autonomie des Verfahrens behauptet. Sie kontrastieren die ältere Lehre von der dienenden Funktion des Prozesses aufs Schärfste.121 Man hat dafür von „Einheitstendenzen“122 gesprochen, mit denen das Prozessrecht verselbständigt wird. Nach dieser Prozessorientierung konnte nur das Verfahren „darüber Auskunft geben, ob der konkrete Rechtssatz – das ,materielle Recht‘ – gerecht“ wäre.123 Interpretiert man diese Ausführungen als ein Modell zur Bestimmung der Normen erst durch ihre Konkretisierung im Verfahren und im Rahmen der prozessualen Beteiligung der Parteien und der richterlichen Entscheidung, ohne den ursprünglichen Bezug aus einem „objektiven“ Recht und auch ohne die Methode der Rechtsanwendung anzuerkennen, hat man mit einem rein prozessorientierten Strafrechtsverständnis zu tun. Die Richtigkeit einer Entscheidung lässt sich hier nicht mehr an verfahrensexternen Vergleichsmaßstäben messen.124 Rein prozessbezogen war auch die sog. „prozessuale Rechtsbetrachtungsweise“.125 Dabei wurde das Verhältnis von Prozessrecht und materiellem Recht nicht mehr durch eine definitorische Prozessherrschaft wie bei den „Einheitstendenzen“ bestimmt, sondern genau umgekehrt durch eine strikte Trennung und Eigenständigkeit beider Rechtsnormen („Trennungstendenzen“126). Während für die „Einheitstendenzen“ die abstrakte materielle Rechtsordnung erst durch den Prozess konkretisiert wurde, verleugnete die Trennungsvariante die Bedeutung des materiellen Rechts nicht, billigte ihm aber keine verbindliche Funktion für den Richter zu.127 Beide erklärten das Strafverfahren und das richterliche Urteil aus sich heraus – nicht aus einem prozessexternen Bezugsrahmen. So lag die Betonung von Goldschmidt im Rahmen seiner prozessualen Betrachtung auf der absoluten Selbstän-
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Vgl. dazu Henckel, Prozessrecht, S. 48 ff.; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 174 ff.; Marxen, Straftatsystem und Strafprozeß, S. 345; Schaper, Studien, S. 115 ff.; Neumann, ZStW 101 (1989), 52 ff., 56; Weigend, Deliktsopfer, S. 197 ff.; Kudlich, Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot, S. 204; Murmann, GA 2004, S. 66 f., u. a. 122 Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 175 ff. ordnet die Ansicht von Pawlowski unter dieser Kategorie ein, vgl. Pawlowski, ZZP 80 (1967), 345 ff. 123 Pawlowski, ZZP 80 (1967), 369. 124 Vgl. hierüber Henckel, Prozessrecht, S. 52 ff.; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 175 f.; Schaper, Studien, S. 116 f., 125 ff.; vgl. ferner Kudlich, Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot, S. 204. Gegenüber Pawlowski erkannte die Kreationstheorie von Sauer das materielle Recht, aber er sah es nur als den „äußeren Rahmen, innerhalb dessen sich das lebende (d. h. das im Prozeß gestaltete) Recht entwickelt“, Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, S. 18 f., vgl. dazu Henckel, Prozessrecht, S. 50 ff.; Schaper, Studien, S. 127 ff. 125 Von Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, S. 150 ff., im Anschluss Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen, S. 57 ff. und Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Rn. 35 ff. 126 Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 177 ff. Vgl. dazu auch Henckel, Prozessrecht, S. 48 ff. 127 Vgl. dazu Schaper, Studien, S. 130 ff.
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Kap. 3: Verfahrensrecht und materielles Recht
digkeit des Verfahrens gegenüber dem materiellen Recht.128 Der Prozess richtete sich hier ausschließlich darauf, Rechtskraft zu generieren.129 Diese Rechtskraft war – naturgemäß – nicht die „Kraft objektiven Rechts“, sondern die „Gerichtskraft“,130 die sich in jedem einzelnen Prozess ereignet.131 Goldschmidt wendete sich gegen die Idee der engen Verbindung jedes Urteils mit einem „vorprozessualen materiellen Rechtszustand“. Erst das richterliche Urteil würde die rechtlichen Beziehungen schaffen.132 Dabei wäre der Richter „die Macht, die nicht dem Recht, sondern der das Recht unterworfen ist“. Der Richter stünde „über dem Recht und also außerhalb desselben“.133 Die „maßgebenden Wertkategorien“ wären „durchweg rein prozeßrechtlicher Herkunft“,134 und nicht etwa aus dem materiellen Recht hergeleitet. Nach Goldschmidt war der Prozess „dynamisch“ als Rechtslage zu erfassen im Gegensatz zur „statischen“ Betrachtungsweise des materiellen Rechts.135 Der Begriff der Rechtslage wäre spezifisch prozessual136 und bezöge sich auf die „rechtlich begründete Aussicht auf ein günstiges oder ungünstiges richterliches Urteil“ und damit auf die „gerichtliche Geltung des geltend gemachten Anspruches als rechtlich begründet oder unbegründet (Gerichtskraft, Rechtskraft)“.137 Nicht nur Goldschmidts Betonung der Unsicherheit der prozessualen Rechtslage138 und seine Konzeption der prozessualen Geltendmachung von Ansprüchen stießen auf Kritik. Darüber hinaus wurde die Unterscheidung in „dynamisch“ und „statisch“ als zu unergiebig kritisiert.139 Hinzu kam vor allem, dass der Inhalt prozessualer Wertungen nicht mehr zur Disposition stände, es mithin – wie im Labeling Ansatz – kein Fehlurteil geben könnte.140 Leicht nachvollziehbar ist Goldschmidts Konzeption, wenn man bedenkt, dass es ihm offenbar um die Vereinheitlichung des Straf- und Zivilprozesses ging.141 Das erklärt deren frühere starke Einheitlichkeit und strikte Trennung zum materiellen 128
Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, S. 150. Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, S. 151, 503. 130 Goldschmidt, a. a. O., S. 164, 211 ff. 131 Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, auf S. 150, 188, 211, 246, 255 bezog er sich auf einen „empirischen“ gegenüber eines „metaphysischen Prozeßbegriffs“. Vgl. dazu Weigend, Deliktsopfer, S. 199; Henckel, Prozessrecht, S. 50. 132 Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, S. 255. 133 Goldschmidt, a. a. O., S. 246. 134 Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Rn. 230; Henckel, Prozessrecht, S. 49 unten, für eine Betonung der materiellrechtlichen Grundlagen des Prozesses vgl. insbes. S. 64. 135 Goldschmidt, a. a. O., S. 227 ff.; Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen, S. 57 ff. 136 Goldschmidt, a. a. O., S. 254. 137 Goldschmidt, a. a. O., S. 255. 138 Goldschmidt, a. a. O., S. 255. 139 Vgl. z. B. Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 180 ff. 140 Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen, S. 11 f.; Henckel, Prozessrecht, S. 49 f. Vgl. Goldschmidt, a. a. O., S. 255, 290 f. Darüber auch Weigend, Deliktsopfer, S. 198 m. w. N. 141 Henckel, Prozessrecht, S. 49. 129
D. Ergebnis
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Recht in spanischsprachigen Ländern, die sich von Goldschmidt stark beeinflussen ließen. Die Einzelheiten dieser These und der Kritikpunkte, die damals ins Feld geführt wurden, können heute vernachlässigt werden.142 Relevant bleibt ihre Bedeutung für die Diskussion der „innerprozessualen“143 These. Bei einer verfahrensbezogenen Legitimierung des Strafprozesses fehlt die Anbindung an das materielle Recht. Das findet nicht nur Ausdruck im Mangel an Begründung für eine materiellrechtliche Richtigkeit, sondern auch im Fehlen eines Maßstabs für die Auswahl einer bestimmten Prozessstruktur. Im Ergebnis wird hier der Prozess zum Selbstzweck.144
D. Ergebnis I. Materiellrechtliche Orientierung des Strafverfahrens Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass das materielle Strafrecht als verfahrensexterner Rahmen die Ausrichtung des Verfahrens beeinflusst. Ausgehend vom Schuldprinzip richtet es das Verfahren auf die Ermittlung der Wahrheit aus. Das materielle Strafrecht liefert den Maßstab für die Selektion des strafrechtlich relevanten Sachverhaltes aus einem komplexen Gesamtgeschehen und konturiert so den Beweisgegenstand. Weiterhin fordert es eine effektive Sachverhaltsaufklärung (prozessuales Schuldprinzip). Gleichzeitig schränken rechtsstaatliche Kautelen die Sachverhaltserforschung ein.145 Warum der Strafprozess die materielle Wahrheit suchen soll, ist also auf Gründe zurückzuführen, die sich im materiellrechtlichen Strafrecht befinden, die richtungsweisenden Begründungsmaßstäbe sind damit außerprozessual bzw. dem Verfahrensrecht vorgelagert. Im Strafverfahren soll die Tatbegehung im Sinne der Tatbestandsmerkmale und die Schuld nachgewiesen werden. Es geht um den Vorwurf einer realen Tat an einen realen Beschuldigten, deshalb sollte sich das Verfahren darauf richten, möglichst nahe an eine objektive Wirklichkeit heranzukommen. Dies entspricht dem Interesse der Allgemeinheit bzw. Rechtsgemeinschaft. Die staatliche Ausübung von Gewalt bedarf der Rechtfertigung und für diese ist der Bezug zum materiellen Recht unverzichtbar, mithin auch der Bezug zu den Grundlagen einschließlich der Dogmatik des Allgemeinen Teils, d. h. auch der Straftheorien, als Ausgangspunkt der Ermittlung der materiellen Wahrheit. 142 Vgl. bereits z. B. Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, S. 23 ff.; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 177 ff.; Weigend, Deliktsopfer, S. 197 ff. 143 So Henckel, Prozessrecht, S. 48; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 179, 182. 144 Sax, ZZP 67 (1954), 27; Henckel, Prozessrecht, S. 48 f.; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 179; Schaper, Studien, S. 131 („nicht nur Selbstzweck, sondern zwecklos“); Beys, Festschrift für Henckel, S. 4; Murmann, GA 2004, 65 ff., 70. 145 Bezüglich der rechtsstaatlichen Erwägungen in diesem Zusammenhang zum Beispiel Rieß, Festschrift für Schäfer, S. 183.
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II. Ablehnung einer rein innerprozessualen Orientierung des Strafverfahrens Philosophische Ansätze eines Wahrheitsbegriffs betreffen im Strafprozess die Feststellung eines Sachverhalts, die nicht um jeden Preis erfolgt. Dem Strafprozess geht es nicht um Aufklärung „an sich“, sondern um die vom materiellen Strafrecht erforderte Klärung des Tatverdachts im Sinne der materiellen Wahrheit. Bei der Beantwortung der Frage, ob der Sachverhalt im Strafverfahren verhandelt oder erforscht werden soll, dürfen deshalb nicht nur philosophische Überlegungen eine Rolle spielen. Hinzukommen prozesstechnische und dogmatische Erwägungen, die auf die strafrechtlichen Grundsätze und Ziele abstellen. Richtig ist, dass man durch die Teilnahme an der Diskussion bereits deren Regeln anerkannt hat. Die Argumentation ist aber der (wissenschaftlichen) externen Beobachtung geschuldet und nicht der Binnenperspektive der Prozessbeteiligten. Eine rechtstheoretisch fundierte Legitimation der Absprachen steht weiterhin aus. Die Wissenschaft folgt wie Hegels Eule der Minerva der Praxis. Zugleich hat sie den Auftrag, der Praxis einen Korridor vorzugeben, die es dieser ermöglicht, den dogmatisch zwingenden Vorgaben zu genügen. Zu diesen gehört jedenfalls der Auftrag der Ermittlung der materiellen Wahrheit. Dieser Auftrag lässt sich mit der Wahrheitstheorie des späten Habermas angemessen rekonstruieren.
Kapitel 4
Straftheorien und Schuldprinzip als Ausgangspunkt der Wechselbeziehung A. Straftheorien und Verfahrensstruktur Das Verfahren braucht den Bezug zum materiellen Recht. Dieses ist jedoch nicht Anfang und Ende, da es seinerseits auf einem Fundament ruht,1 das je nach Begründung unterschiedliche Wurzeln hat. Eine dem liberalen Verfassungsstaat entsprechende Legitimation des Strafrechts beruht auf zweckrationalen Erwägungen. Der Gedanke des (subsidiären) Rechtsgüterschutzes erklärt am besten die staatliche Intervention durch Strafrecht, liefert also die bestmögliche Begründung für das Strafrechtssystem bzw. für die staatlichen Befugnis zu strafen (ius puniendi).2 Zugleich liefert es den Maßstab für die gesetzgeberische Kriminalisierung und für die Auslegung von Tatbeständen durch Staatsanwaltschaft und Gericht. Für die Rechtfertigung einer konkreten Strafe braucht es zusätzlich straftheoretische Erwägungen.3 Die Bedeutung der Straftheorie für die Gestaltung des Verfahrens ist Gegenstand einer langen Diskussion.4 Dabei geht es hier nicht um die Legitimation des Ver1 Das wurde immer wieder in der deutschen Strafprozesswissenschaft betont. Zusammengefasst bei Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 201 f.; ders., Wahrheit und materielles Recht, S. 11, 16, 18 und passim. 2 Vgl. für die h. M.: Roxin/Greco, StrafR AT I, § 2 Rn. 1; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, § 1 Rn. 9 ff.; SK-StGB-Jäger, Vor § 1 Rn. 2 f.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 1 III 1; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht AT, § 2 Rn. 7, § 3 Rn. 10; Schünemann, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, S. 133 ff.; Roxin, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, S. 135 ff.; Frisch, Tatbestandmäßiges Verhalten und Zurechnung, S. 77 ff., 139 ff.; Freund, in: Wolter/ders. (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß, S. 43; Hefendehl, GA 2007, 1 ff., u. v. a. Zu diesem Zusammenhang vgl. Schünemann, Festschrift für Fezer, 558 f. 3 Zur Differenzierung zwischen der Aufgabe des Strafrechts und der Zweck der Strafe, vgl. zum Beispiel Roxin/Greco, StrafR AT I, § 3 Rn. 1; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht AT, § 2 Rn. 20. 4 Vgl. zum Beispiel Zachariae, Handbuch 1, S. 38 f.; Müller-Dietz, ZevEthik 15 (1971), 265 ff., allerdings zurückhaltend; Krauß, in: Müller-Dietz (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 153 ff., 167 ff.; ders., in: Jäger (Hrsg.), Kriminologie im Strafprozeß, S. 77 ff.; Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 41 f.; Volk, Wahrheit und materielles Recht, S. 18; Zipf, Kriminalpolitik, S. 144; Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 291 f.; Zimmermann, Freiheit und Gebundenheit der Staatsanwaltschaft, S. 51 ff.; Neumann, Festschrift für Arthur Kauf-
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Kap. 4: Straftheorien und Schuldprinzip
fahrens, sondern um seine Gestalt bzw. Struktur.5 Die Legitimation des Strafverfahrens ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Im Übrigen kann die von den Straftheorien beanspruchte Rechtfertigung der Übelzufügung keine ausschließliche Legitimation für die Eingriffe zur Sachverhaltsaufklärung im Strafprozess liefern, weil dieser wie oben dargestellt bei andauernder Unschuldsvermutung in einer Einstellung oder in einem Freispruch münden kann. Der Bezug auf die in den Straftheorien thematisierten Präventionsaspekte und auf die Tatschuld ist nicht nur im europäischen, sondern auch im angloamerikanischen Strafrecht präsent, weshalb die hiesige Auseinandersetzung mit früheren Debatten über das Verhältnis von Straftheorien und Strafverfahren unentbehrlich erscheint. In der europäischen strafprozessualen Geschichte existiert eine lange und umfassende Erörterung dieses Zusammenhanges für die Begründung der Strafverfahrensstruktur und Vorgehensweise im Strafprozess, die deshalb eine besondere Relevanz in der rechtsvergleichenden Betrachtung besitzt, soweit er in der lateinamerikanischen Reformdiskussion unterbelichtet ist. Während die adversatorische Verfahrensform zu einer innerprozessualen Fundierung der Struktur des Strafverfahrens tendiert, entspricht es der Tradition des kontinentaleuropäischen Strafprozessrechts, sich ausdrücklich auf Letztbegründungen für die Verfahrensgestaltung bzw. für die Suche nach materieller Wahrheit zu beziehen, die im materiellen Recht angesiedelt sind. Gleichzeitig darf die Bedeutung der Straftheorie für die Verfahrensstruktur nicht überbewertet werden,6 sofern die Straftheorie nur ein Faktor neben anderen ist. Auch wenn generell inhaltliche Maßgaben aus dem Zweck und der Funktion der Strafe zu gewinnen sind, beeinflusst die Straftheorie das formelle Strafrecht nicht alleine und auch nicht durch eine direkte Herleitung, sondern gegebenenfalls durch die Kombination verschiedener Aspekte, und je nachdem, welche der widerstreitenden Straftheorien man letztendlich bevorzugt. Darüber hinaus liefert die Straftheorie keine Vorgaben für das Verfahren im Einzelfall bzw. ihre Vorgaben finden keinen unmittelbaren Niederschlag im konkreten Prozess. Das Strafverfahren ist dogmatisch gesehen weder „general- noch mann, S. 76 m. w. N.; Rönnau, Die Absprache im Strafprozeß, S. 61 ff.; Freund, in: Wolter/ders. (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß, S. 43 ff.; ders., GA 2005, 333; Müssig, GA 1999, 121 ff.; Schünemann, Festschrift für Fezer, S. 558 f.; Schmitz-Remberg, Verständigung und positive Generalprävention; Börner, Legitimation durch Strafverfahren, S. 98 f. 5 Vgl. zum Beispiel Krack, Rehabilitierung, S. 38 f.; zu diesem Thema Greco, Strafprozesstheorie, S. 160. Für die Struktur bzw. Ausgestaltung des Strafverfahrens ist der Bezug auf die Letztbegründungen des Strafrechts durchaus sinnvoll. Vgl. dazu Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 15 f., 22; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 13; Freund, GA 1995, 12; ders., in: Wolter/ders. (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß, S. 58; Greco, Strafprozesstheorie, S. 315 f.; ferner Deiters, Legalitätsprinzip und Normgeltung, S. 59, 63. Dagegen Weigend, Deliktsopfer, S. 191 f. mit Nachweisen; anders bezüglich des Gedankens, mit der Verwirklichung der Strafzwecken zu beginnen, bevor die Strafwürdigkeit des Beschuldigten überhaupt festgestellt ist: ders., ZStW 104 (1992) 502; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 2 Rn. 9 f.; Krüger, Unmittelbarkeit und materielles Recht, S. 46 f., 52. 6 In diesem Sinne Volk, Wahrheit und materielles Recht, S. 18.
A. Straftheorien und Verfahrensstruktur
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spezialpräventiv“. Dem Prozess ist es nicht aufgegeben, in seiner Durchführung den Angeklagten zu resozialisieren oder der Rechtsgemeinschaft eine Botschaft zu geben, die darüber hinausgeht, dass ein (rechtsstaatliches) Verfahren durchgeführt wird. Solche Aufgaben obliegen nicht dem Verfahren, sondern seinem Ergebnis, d. h. im Fall der Verurteilung dem Strafmaß. Selbst die einzelne Strafe lässt sich nicht mit rein funktionalen Gedanken gegenüber dem Betroffenen rechtfertigen.7 Kriminologisch gesehen, ist das Verfahren oftmals bereits Strafe (was dogmatisch nicht sein darf). Mit dem neuen Einziehungsrecht wird dies noch zunehmen, sofern das Betreiben der Einziehung vermutlich in den Pensenschlüssel aufgenommen wird und damit zum regulären Programm der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit gehören wird. Auch wenn zu befürchten ist, dass sich aufgrund der normativen Kraft des Faktischen dies in der Dogmatik des Strafprozesses niederschlägt, ist dies gegenwärtig noch nicht der Fall. Deshalb kann hier von der Kriminologie auf die Dogmatik übergegangen werden. Dafür kann an die oben ausgeführte Konzeption von Krauß angeknüpft werden.8 Als ein Anhänger der Vergeltungstheorie9 geht er davon aus, dass zwischen Straftheorie und Verfahren ein enger Konnex besteht, um daraus Folgerungen abzuleiten. So würde man seiner Ansicht nach bei der Generalprävention zu dem (unerwünschten) Ergebnis kommen, dass der Normadressat sich hüten sollte, „jemals in Verdacht zu geraten“.10 Weil dies im sozialen Miteinander abträglich sei, lehnt er die Generalprävention für den Prozess als Straftheorie ab. Dabei übersieht er die Zwischenstufe des materiellen Strafrechts, obwohl er doch die Bedeutung des materiellen Strafrechts für den Strafprozess betont. Demnach ist nicht das Strafverfahren, sondern allenfalls das materielle Strafrecht an der Generalprävention ausgerichtet. Mithin gibt es keine unmittelbar generalpräventive Aufgabe des Prozesses.11 Ohne Reflexion auf die genannten kriminologischen Beobachtungen, bezogen einige Vertreter der Spezialprävention, die in den 70er Jahre anders als heute zur herrschenden Meinung gehörten, die Aufgabe der Spezialprävention nicht erst auf die Strafe selbst, sondern bereits auf das Verfahren davor.12 Die Spezialprävention würde nicht nur davon abhängen, „dass das Urteil der materiellen Rechtsordnung entspricht“. Daneben wäre eine „Akzeptanz der Verfahrensordnung und des kon7 Hinzukommt, dass das Strafmaß im Schuldstrafrecht nicht einer funktionalen Willkür anheimgestellt sein darf; siehe infra, Fn. 66. 8 Krauß, in: Jäger (Hrsg.), Kriminologie im Strafprozeß, S. 65 ff. 9 Krauß, a. a. O., S. 80. 10 Krauß, a. a. O., S. 79 f. Gegen eine abschreckende Wirkung nicht erst der Strafe, sondern schon des Strafverfahrens und mit weiteren Beispielen Rieß, JR 2006, S. 275. 11 In dieser Richtung auch kritisch Weigend, Deliktsopfer, S. 181, Fn. 26 in dem Sinne, dass der Zweck des Strafverfahrens nicht unmittelbar in Schuldausgleich, Generalprävention oder Resozialisierung liegen kann; ferner ders., ZStW 104 (1992) 502. 12 In den 70er und 80er Jahren wurde das thematisiert, vgl. Baumann, NJW 1982, 1563 ff.; Lenckner, JuS 1983, 341 f.; Schreiber, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, S. 83 ff.; Wolter, GA 1985, 52.
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Kap. 4: Straftheorien und Schuldprinzip
kreten Strafprozesses“ erforderlich.13 So könnten Absprachen spezialpräventive Wirkungen für den betroffenen Beschuldigten haben – negativer Art für die Resozialisierung wegen der prozessualen Drucksituation, in der ein Beschuldiger sich befindet.14 Ferner würde ein „Schaulaufen“ im Verfahren den Angeklagten stigmatisieren.15
B. Absolute Straftheorien Die bis in die 1960er Jahre hinein starke Vergeltungstheorie muss konsequenterweise zu einer Form des Strafverfahrens führen, die den Sachverhalt umfassend als vergangenes Geschehen ermitteln soll und sich damit an der materiellen Wahrheit orientiert. Wenn der Schuldausgleich, der Gerechtigkeitsgedanke bzw. eine „Wiederherstellung des Rechts“16 diese Straftheorie prägt bzw. wenn vor der Auflösung der Gesellschaft auch noch der letzte im Gefängnis befindliche Mörder bestraft werden soll,17 dann bleibt keine andere Alternative für die Gestaltung des Strafprozesses als auf eine umfassende Erforschung der wirklich begangenen Straftat gerichtet zu sein. Die Gerechtigkeit wird hier gewahrt durch die Bestrafung des wahren Schuldigen, unabhängig von gesellschaftlichen Belangen.18 Demnach ist der Anknüpfungspunkt für die Strafverhängung die Feststellung des verwirklichten Tatunrechts und der entsprechenden Tatschuld im Sinne eines materiellen Schuldbegriffes. Allerdings bleibt die Ausstrahlung der Straftheorie zu beachten. Bei der Ermittlung der Wahrheit gilt es nämlich die Frage der Maßstäbe der Gerechtigkeit der Entscheidung zu beachten – „und damit letztlich eine Frage der Strafzwecklehren, deren Fortschreiten freilich nur mit zeitlicher Verzögerung auf das Strafverfahren durchschlägt.“19 So führen die Anhänger der absoluten Straftheorie das Erfordernis der materiellen Wahrheit im Strafprozess in der Regel auf die Begründung der Strafe zurück.20
13
Krack, NStZ 2002, 123. Vgl. dazu Rönnau, Die Absprache im Strafprozeß, S. 65. 15 Die Verfahren gegen Wulff und Edathy haben das gezeigt. 16 So nach Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 99 und 101. 17 Im Inselbeispiel Kants, Die Metaphysik der Sitten, Band VI, Erster Teil : Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Allg. Anm. E zu den §§ 43 – 49, S. 333, Zeile 17 – 25 (= AA VI, 333, 17 – 25). Unterschiedliche Auslegungen der Gedanken Kants in anderen Abschnitten kommen zu abweichenden Ergebnissen, vgl. z. B. Byrd/Hruschka, JZ 2007, 957, 961. 18 Deshalb spricht man hier auch vom „Strafgrund“ und nicht von „Strafzwecken“. Hier muss dahingestellt bleiben, ob dies der Strafphilosophie von Kant wirklich entspricht. Dem Text in der „Rechtslehre“ nach war sein Hauptmotiv, der Willkür des Gnadenrechts zu begegnen. 19 Neumann, Festschrift für Arthur Kaufmann, m. w. N. 20 Vgl. die Autoren infra, Fn. 41; ferner Zimmermann, Freiheit und Gebundenheit der Staatsanwaltschaft, S. 51 ff. 14
B. Absolute Straftheorien
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Die absolute Straftheorie des deutschen Idealismus wird nicht nur mit dem Erfordernis der materiellen Wahrheit in Verbindung gebracht, sondern auch mit der Etablierung der Instruktionsmaxime und mit der Ablehnung eines Parteiprozesses. Wenn es um die Bestrafung des wahren Schuldigen geht und deshalb der Sachverhalt vollständig und in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ermittelt werden soll, eignet sich das neutrale Gericht am besten dafür, diese Aufgabe zu übernehmen.21 So findet man bei den Befürwortern der Untersuchungsmaxime im Rahmen des reformierten Strafverfahrens eine Ableitung dieser Verfahrensausgestaltung aus der absoluten Strafgerechtigkeit. Hauptsächlich Abegg begründete das mit der Inquisitionsmaxime und mit dem Ziel der materiellen Wahrheit ausgestaltete Strafverfahren auf den absoluten Gedanken der Gerechtigkeit: „Man fordert Gerechtigkeit … und spricht nicht von Praeventions-, Abschreckungs- … und ähnlichen Anstalten“22. Diese materiellrechtliche Grundlage verbindet er mit dem prozessualen Ziel der Suche der materiellen Wahrheit und dem richterlichen Untersuchungsverfahren.23 Als Beispiel der Reformliteratur mit einer Ableitung der Verfahrensstruktur aus der absoluten Straftheorie gelten ferner die Gedanken Sundelins mit seiner auf materiellrechtlichen Vergeltungserwägungen gegründeten Ablehnung des Parteiprozesses und Zurückweisung der Relevanz der Waffengleichheit für den Strafprozess zugunsten einer richterlichen Untersuchung von Amts wegen.24 Die Verbindung des Untersuchungsgrundsatzes mit einer absoluten Strafauffassung ist in der Reformliteratur geläufig. In den Motiven lässt sich allerdings dieser Zusammenhang kaum finden. Anderes gilt für das Schrifttum nach Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung.25
21
Haas hebt die Verwurzelung der geltenden Verfahrensform des Untersuchungsgrundsatzes in der Vergeltungstheorie hervor. 22 Abegg, Lehrbuch, § 207. 23 Vgl. ferner a. a. O., § 4, § 6, S. 10, § 7, S. 10 f.; § 68, S. 96, § 74. Darüber Haas, Strafbegriff, S. 221 ff., 224 ff., vgl. auch zu früheren Zeiten S. 171 ff. 24 Sundelin, Die Staats-Anwaltschaft in Deutschland, S. 14 f., 24, 37, 74, 81 „Der Staat muß strafen, weil nur seine Strafgewalt die sittliche Schuld sühnend aufhebt. Und ,Verwirklichung des Rechts, Wiederherstellung aus der sittlichen Schuld‘ sind die Strafzwecke, in den alle anderen gipfeln. Es fragt sich nun, ob aus denselben Gründen der Staat auch das Verbrechen verfolgen muß? … Der Richter sucht als Organ des Staats nur Wahrheit und Gerechtigkeit vermittelt der Untersuchung und Spruchfällung; das taugliche Organ, am Fähigsten zu zweckmäßiger Beurteilung, ob der Richter anzugehen sei, wird ein Beamter sein, der ebenfalls nur Wahrheit und Gerechtigkeit sucht, von Amtswegen, um des Rechts und des Staats willen.“ (S. 24 f.); „Die Strafe dient ganz ebenso, ist ganz ebenso unentbehrlich zur ,Verwirklichung des Rechts um seiner selbst willen‘ als Jene und Jene kann ihr nicht vollständig dienen, wenn Diese nicht garantiert ist. Der reinen, seinem Ziele gemäßen, Charakter einer allseitigen unbefangenen Rechtsprechung, den man durch ein unabhängiges Staatsrichteramt sichern will, muß man auch der Strafverfolgung – weil auch sie Strafverfahren ist – durch ein unabhängiges Staatsorgan, einen Rechtsdiener, sichern.“ (S. 81). 25 Zu den Einzelheiten vgl Haas, Strafbegriff, S. 230 ff.; zu der absoluten Strafauffassung des Abgeordneten Struckmann als theoretischer Hintergrund in den Materialien zur Strafprozeßordnung vgl. Eser, ZStW 104 (1992), 367.
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Kap. 4: Straftheorien und Schuldprinzip
Während dies hier nicht zu vertiefen ist, verdient die Betonung der Unvereinbarkeit der absoluten Straftheorien mit dem Parteiprozess in der Diskussion zur Reform des Verfahrens Aufmerksamkeit. Dafür spricht die intensive Beschäftigung der deutschen Strafprozesswissenschaft mit den materiellrechtlichen Hintergründen des Strafprozesses, wovon rechtsvergleichend bei den blitzlichtartigen Reformströmungen in Lateinamerika mit der Entscheidung für ein adversatorischen System nicht die Rede sein kann. Die Diskordanz der konstatierten Unstimmigkeit einer absolut verstandenen Strafe mit dem adversatorischen Verfahren zeigt sich in der von den absoluten Straftheorien geforderten umfassenden Ermittlung des Sachverhalts. Diese Vollständigkeit der Beweisausführung und Übereinstimmung der Erkenntnis mit der Wirklichkeit ist in der adversatorischen Verfahrensgestaltung aufgrund der durch die Parteikontradiktion erfolgten Gestaltung der Beweiserhebungen nicht gewährleistet. Aus der Perspektive der absoluten Straftheorien ist aber jede pragmatische und zukunftsorientierte Erwägung im Strafverfahren ebenso bedenklich wie eine Aufweichung der Aufklärungspflicht.26 Die vergeltungsorientierte Gestaltung des Prozesses zwingt dazu, Verfügungen der Prozessparteien über den Sachverhalt, die Tatschuld und insgesamt über den Ausgang des Strafprozesses von vornherein auszuschließen. Sogar Vereinbarungen der Prozessbeteiligten über unbestreitbare Sachverhaltselemente bzw. übereinstimmende Zugeständnisse hinsichtlich eines Geschehens in einem adversatorisch geführten Beweisverfahren (agreed evidence im amerikanischen System oder acuerdos probatorios, Art. 345 mexikanisches CPPN) seien nicht hinnehmbar.27 Aufschlussreich ist die Strafprozessgeschichte. Vor Einführung des inquisitorischen Verfahrens waren in der Kanonistik resozialisierende Theorien herrschend. In der Frühscholastik herrscht straftheoretisch die positive Spezialprävention vor, für die göttliche Vergebung genügt die vollkommene Reue (contritio). Die Absolution nach der Beichte geht noch von Gott aus („Deus te absolvit“).28 Dies entspricht 26 So die Anhänger der absoluten Straftheorie, zum Beispiel Murmann, GA 2004, 80 ff. Vgl. ferner zu diesem Zusammenhang Dencker/Hamm, Der Vergleich im Strafprozeß, S. 56; Rönnau, Die Absprache im Strafprozeß, S. 62 m. w. N. 27 Zweifelhaft ist das Verhältnis zwischen der amerikanischen vergeltenden Straftheorie (vgl. dazu Duff, Punishment, Communication, and Community; ders., Answering für Crime; NK-StGB-Hassemer/Neumann; Vor § 1 Rn. 276) und dem adversatorischen Strafprozess, vor allem wegen des plea bargainings. 28 Abälard lehnte die Vergeltung bereits wegen der Schwäche menschlichen Erkennens ab und vertrat eine generalpräventive Einstellung: „ut magis publica praeveniamus dampna quam singularia corrigamus“, in: Scito te ipsum, lib.: 1, cap.: 27, pag.: 27, linea: 715; Übersetzung ins Deutsch, Ethica, These 9a („Vermeidung öffentlichen Schadens“ und „gute Verwaltung“ als Ziele der irdischen Rechtsprechung): „wodurch wir eher öffentlichem Schaden zuvorkommen als abgesonderte Vergehen korrigieren“, siehe ausführlicher die These 9a auf S. 409. Demgegenüber betont man in der frühen Kanonistik den Medizinalcharakter der Strafe (amor correctionis). Das ändert sich erst mit Innozenz III, siehe Mortanges, ZRG KA 109 (1992), 140 f.; Brundage, Medieval canon law, S. 151 f.
B. Absolute Straftheorien
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durchaus einer Kirchenpolitik, die abfällige Gläubige in die Kirche zurückführen möchte. Das änderte sich unter Innozenz III., der bereits das Scheitern der sanften Missionierung der Dominikaner bei den Katharern beobachtete und den Kreuzzug gegen die Albigenser vor Augen hatte. Wenngleich das neue Verfahren historisch durch die Inquisition als summarisches Vorgehen gegen die Häresie belastet ist, ist dies kein Grund, es auch dogmatisch zurückzuweisen. Wechselt man davon zur Perspektive der strafrechtlichen Aufklärung, d. h. zu einem säkularisierten, modernen Verfassungsstaat mit Volkssouveranität und Gewissensfreiheit, dann genügt die Vergeltung bzw. der Schuldausgleich nicht, um die staatliche Strafe zu rechtfertigen. Als der härteste staatliche Eingriff in die Grundrechte des Einzelnen kann die Strafe nicht nur etwa der Idee der Gerechtigkeit aus philosophischen Reflexionen bzw. anderen Überzeugungen heraus oder einer „Wiederherstellung des Rechts“ dienen. Ferner ist der Zusammenhang zwischen der anschließenden und rückblickenden Übelzufügung und einer metaphysischen Gerechtigkeitskonzeption oder einer Wiederherstellung des gestörten Rechts nicht geklärt, wie auch das Ergebnis einer „Negation der Negation des Rechts“ oder des Ausgleichs eines Übels durch eine neue Übelzufügung nicht per se einleuchtet.29 Staatliches Strafen darf also nicht Selbstzweck im Sinne einer Schuldvergeltung sein, sondern soll mit externen, verfassungslegitimen Zwecken, gerechtfertigt werden. Sie bedarf eines gesellschaftlichen Nutzens.30 Dem entspricht die spätere Definition der Strafe als ultima ratio des Rechtsgüterschutzes.31 Zwar dient der Präventionszweck der Legitimation der staatlichen Strafbefugnis, liefert aber keine Rechtfertigung für die konkrete Strafverhängung an dem betroffenen Verurteilten. Diesbezüglich bietet das Schuldvergeltungsmodell wohl eine Legitimation der Strafe gegenüber dem konkret Betroffenen, weil es sich in seinen Begründungen auf seine Tatschuld konzentriert.32 Es schafft aber nur einen Teil der erforderlichen Legitimation, und zwar bezüglich des Verurteilten, aber nicht hinsichtlich der staatlichen Zwangseingriffe.33
29 In diesem Sinne Roxin/Greco, StrafR AT I, § 3 Rn. 8; Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 8 III 4; Freund, in: Wolter/ders. (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß, S. 43 f., 74 f.; Schünemann, Festschrift für Lüderssen, S. 327 ff., 331 mit dem Hegel-Zitat, u. a. 30 Vgl. vor allem Roxin, JuS 1966, 378; ders., ZStW 96 (1984), 645; ders./Greco, StrafR AT I, § 3 Rn. 8, 51; Schünemann, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen, S. 158; ders., Festschrift für Lüderssen, S. 330; ders., in: ders./von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, S. 115; von Hirsch, in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts, S. 59 f.; Freund, in: Wolter/ders. (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß, S. 43, 74 f.; Weigend, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum?, S. 31 f. 31 Nachweise dazu supra, Kapitel 1, Fn. 211. 32 Vgl. statt aller Roxin/Greco, StrafR AT I, § 3 Rn. 7, 32. 33 Eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Legitimation, so Schünemann, in: ders./von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, S. 115; ders., Festschrift für Lüderssen, S. 330.
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Kap. 4: Straftheorien und Schuldprinzip
Einem geläufigen Deutungsmuster nach führt der Wechsel in der Straftheorie von den absoluten zu den relativen Straftheorien im Zuge der Reform der späten 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu einer Zurückdrängung der materiellen Wahrheit im Strafprozessrecht.34 Der „Abschied von Kant und Hegel“35 erfolgte erst sehr allmählich mit seinen Anfängen bereits in der Staatslehre des Naturrechts und der Aufklärung. In Deutschland hatte der Gedanke der Prävention durch Feuerbach und später durch den spezialpräventiven Ansatz durch v. Liszt an Bedeutung gewonnen.36 Anders als der von der Vergeltungstheorie geprägten Entwurf 1962 ist der Alternativ-Entwurf von 1966 spezialpräventiv inspiriert.37 Allerdings hat die Spezialprävention nach ihrem Erfolg in den 60er und 70er Jahre inzwischen an Resonanz eingebüßt.38 Das wirkte sich allerdings nicht auf die Struktur des Prozesses, insbesondere der Ausrichtung an der (materiellen) Wahrheit aus. Der Bezug auf das Schuldprinzip als Prinzip der Rechtfertigung wie der Limitation staatlichen Strafens blieb erhalten.39 Dass man in der Straftheorie zunehmend eine Vereinigungstheorie vertrat,40 blieb dafür folgenlos. Parallel dazu lässt sich eine Rückkehr zu den absoluten Theorien mit der von ihr folgerichtigen Verankerung der materiellen Wahrheit im Strafprozess verzeichnen.41 34 Wolter, GA 1989, 400 f.; Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, S. 255 ff.; Wolfslast, NStZ 1990, 416; thematisiert, auch wenn nicht bejaht, von Neumann, ZStW 101 (1989), S. 52 f. Rieß, Festschrift für Schäfer, S. 181; Weigend, ZStW 104 (1992), 501 f.; Weßlau, Konsensprinzip, S. 106 ff. Vgl. ferner allgemein über das Verhältnis zwischen Straftheorien und der Ausgestaltung des Strafverfahrens supra, Fn. 4. 35 So kündigte es Klug in seinem Aufsatztitel, in: Baumann (Hrsg.), Programm für ein neues Strafgesetzbuch, S. 36 ff. 36 Zu dieser Entwicklung vgl. die Beiträge im Sammelband Koch/Löhnig (Hrsg.), Die Schule Franz von Liszts; Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 8 IV 1 ff.; Roxin/Greco, StrafR AT I, § 3 Rn. 11 ff. 37 Baumann, Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches. Vgl. dazu Roxin, ZStW 81 (1969), 613 ff. Vgl. ferner beispielsweise die Darstellung bei Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 11 IV 2 b; Roxin/Greco, StrafR AT I, § 4 Rn. 17 ff. 38 Man kann heute die Generalprävention als Kern der Straftheorien ansehen, so Schünemann, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen, S. 168 ff.; ders., in: Eser/Cornils (Hrsg.), Neuere Tendenzen, S. 219; ders., 58. DJT, B 61; ders., in: ders./von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, S. 117 ff.; Roxin, Festschrift für Müller-Dietz, S. 705, 715; ders./Greco, StrafR AT I, § 3 Rn. 18. 39 Dazu infra, C. II. 3. 40 Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 8 V; Roxin/Greco, StrafR AT I, § 3 Rn. 37 ff., 51 ff. 41 Vgl. früher E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), 786 ff., 826; Köhler, Der Begriff der Strafe, S. 50 ff.; ders., Strafrecht AT, S. 48 ff.; Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre J. G. Fichtes, S. 108 ff.; ders., Festschrift für Eser, S. 207 ff.; Kahlo, Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs, S. 167 ff., 296 ff.; Klesczewski, Die Rolle der Strafe, S. 274 ff. Heute zum Beispiel Murmann, GA 2004, S. 70 f.; Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre; Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 298 ff., 308 f.; Androulakis, Festschrift für Hassemer, S. 271. Auch Jakobs seit: Norm, Person, Gesellschaft, S. 105 ff.; ders., in: Verantwortung in Recht und Moral, ARSP-Beiheft Nr. 74, 2000, S. 59. Überblick bei Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, S. 45 ff.; NK-StGB-Hassemer/Neumann,
C. Relative Straftheorien
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C. Relative Straftheorien Der erwähnte Aufstieg der Präventionstheorie, zunächst der Spezial- und dann der Generalprävention, schlug sich zwar nicht unmittelbar in der Struktur des Verfahrens nieder. Allerdings ist zu beobachten, dass auf der Folie der Präventionstheorie das Erfordernis einer umfassenden Feststellung des Sachverhalts relativiert wird. Weil es sich bei präventiven Strafzwecken nämlich nicht wie bei der absoluten Strafauffassung um eine retrospektive, sondern um eine prospektive und nützlichkeitsorientierte Sicht handelt, ist das Erfordernis einer umfassenden Feststellung des Sachverhalts im Sinne des Nachweises eines vergangenen Geschehnisses (und dies nicht nur aktengebunden, sondern durch die zusätzliche Beweisführung in einer mündlichen und unmittelbaren Hauptverhandlung) prinzipiell nicht aus konsequentialistischen Gründen für die Legitimation der Entscheidung erforderlich. Dieses Erfordernis einer umfassenden Feststellung des Sachverhalts kann deshalb nicht mehr straftheoretisch abgeleitet werden. Es bedarf der Begründung aus dem Schuldprinzip.
I. Spezialprävention 1. Wenn heute die spezialpräventiven Gründe der Strafe eine Hauptrolle bei der Ausgestaltung des Strafprozesses spielen würden, müsste man im Strafverfahren zukunftsorientiert die Tätergefährlichkeit und ihre Beeinflussbarkeit in den Vordergrund rücken – und entsprechend ermitteln. Aber die Spezialprävention macht an einem späten Moment fest,42 um als Legitimationsgrund der angedrohten Strafe zu dienen, d. h. wenn der Täter die in der Verbotsnorm beschriebene Tat bereits begangen hat. Sie konzentriert sich nicht vergangenheitsorientiert auf die Tatschuld und die bereits eingetretene Rechtsgutsverletzung, sondern auf eine künftige Tätergefährlichkeit und auf die Resozialisierung bzw. Unschädlichmachung des Täters. Die begangene Tat steht also nicht im Vordergrund einer spezialpräventivorientierten Sicht. 2. Die Begründung der Strafe mit der Resozialisierung des Täters ist allerdings gerade für den Strafvollzug43 voraussetzungsreich:
Vor § 1 Rn. 107, 273; Weigend, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum?, S. 31 ff., 39, beschäftigt sich mit den möglichen Gründen dieser Renaissance. 42 Vgl. Schünemann, in: ders./von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, S. 116. Zur Unterscheidung zwischen der positiven und der negativen Spezialprävention siehe etwa Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, § 1 Rn. 23. 43 Vgl. für alle Müller-Dietz, Strafzweck und Vollzugsziel; Roxin/Greco, StrafR AT I, § 3 Rn. 42 f.
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Kap. 4: Straftheorien und Schuldprinzip
Einerseits bestehen deutliche Unsicherheiten in der Prognose der Gefährlichkeit.44 Ob sich die Rückfallwahrscheinlichkeit überhaupt messen lässt, ist zweifelhaft.45 Dass Strafe resozialisiert, ist empirisch fraglich geblieben.46 Ebenso fraglich ist eine „pädagogische“ Besserung des Bestraften.47 Die Spezialprävention bleibt ferner die Erklärung dafür schuldig, warum die Behandlung des Täters durch Zwang und nicht durch andere Maßnahmen erfolgen soll.48 Warum wartet man für die Einwirkung auf den Bürger auf die Begehung einer Straftat, wenn es aus spezialpräventiver Sicht nur um seine kriminalitätsgefährdenden Eigenschaften geht?49 Die selective incapacitation eines Täters aus einem spezielpräventiven Motiv wurde vor allem in den 80er Jahren in den USA diskutiert. Es handelt sich dabei aber wieder um die – an sich unsichere – Prognose einer künftigen Gefahr, die mit dem Tatschuldprinzip und mit einem vergangenen Normbruch nicht vereinbar ist. Deshalb kommt dieser Aspekt der Spezialprävention für die Rechtfertigung einer Strafe nicht in Frage, sondern allenfalls für Fragen nach Maßregeln der Besserung und Sicherung. Die Spezialprävention kann so im Ergebnis nur eine Teilbegründung für die Legitimation der Strafe liefern.50 3. Die Einzelheiten der Strafzumessung sind ohne wirklichen Belang für die Struktur des Verfahrens. Sollten täterbezogene Faktoren eine etwaige Relevanz bei der Strafzumessung haben, würden sie jedenfalls nicht die Kernfrage im Strafprozess formen und damit das strafprozessuale Ziel der Suche nach der materiellen Wahrheit bzw. nach der tatbestandsrelevanten Wirklichkeit nicht verändern. Ein relevanter täterbezogener Aspekt könnte allenfalls die Vermeidung unerwünschter entsoziali-
44 Vgl. dazu Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 163 m. w. N.; dies., JZ 1999, 1080 ff., 1088; Theune, StV 1985, 162 ff., 205 ff.; Frisch, ZStW 99 (1987), 349, 365; MüllerDietz, Festschrift für Spendel, S. 413 ff., 426. 45 Vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 201 f. m. w. N. 46 Vgl. Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung, S. 21; Schünemann, in: ders. (Hrsg.), Grundfragen, S. 172; ders., in: Eser/Cornils (Hrsg.), Neuere Tendenzen, S. 215, 232; ders., in: Frisch u. a. (Hrsg.), Tatproportionalität, S. 189 f.; P.-A. Albrecht, ZStW 97 (1985), 831 ff.; Stein, NStZ 2000, 395. 47 Vgl. u. v. a. Roxin/Greco, StrafR AT I, § 3 Rn. 17; Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 8 V 5; Greco, Straftheorie, S. 442 ff.; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, Rn. 863. 48 Stratenwerth, Festschrift für Bockelmann, S. 912 f.; vgl. auch P.-A. Albrecht, ZStW 97 (1985), 857. 49 U. v. a. vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 8 IV 5 (S. 75); Roxin/Greco, StrafR AT I, § 3 Rn. 16. 50 Bei der richterlichen Strafverhängung sollten das Tatunrecht und die Schuld ausschlaggebend für die Entscheidung sein. Die h. M. bevorzugt die Möglichkeit, spezialpräventive Aspekte bei der Strafverhängung im Urteil zu erwägen, vgl. dazu MüKoStGB/Radtke, Vor §§ 38 ff. Rn. 64 f.
C. Relative Straftheorien
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sierender Folgen der Strafe,51 aber auf keinen Fall das mehr oder minder kooperative Verhalten des Angeklagten im Strafprozess sein. Das Verhalten bzw. die Kompromissbereitschaft und Zusammenarbeit des Angeklagten mit dem Gericht darf für die Entscheidung über die Strafbarkeit keine Bedeutung haben. Als Objekt staatlichen Zwanges52 stehen dem Angeklagten die Beschuldigtenrechte zu, von denen er, ohne negative Folgen fürchten zu müssen, Gebrauch machen kann. Die strafprozessualen Ermittlungen und das Urteil müssen retrospektiv die eingetretene Rechtsgutsverletzung mit der darauf lastenden Tatschuld und nicht das Prozessverhalten des Betroffenen zum primären Gegenstand haben. Hier zeigt es sich deutlich, wie die Vorgaben des materiellen Rechts die Gestalt des Verfahrens bestimmen.
II. Generalprävention Anders als der Ausgleichsgedanke der absoluten Straftheorien, der keine Ausnahme bei der Suche nach einer materiellen Wahrheit im Strafprozess erlaubt und damit ein optimales Beweisverfahren ohne Kompromisse gebietet, kann ein bestimmter Inhalt und eine entsprechende Struktur des Strafverfahrens nicht unmittelbar dem – nützlichkeitsorientierten – Strafzweck entnommen werden. Vor allem in den späten 1980er und in den 90er Jahren wurde behauptet, dass Vereinbarungen der Prozessbeteiligten generalpräventiven Zwecken dienen, weil sie eine erhöhte Effektivität des Staates bei der Reaktion auf Strafrechtsverstöße demonstrieren könnten.53 Das – eher quantitative – Ergebnis eines Sanktionierungsoutputs könnte sich nach dieser Ansicht sowohl im Sinne der negativen, als auch der positiven Generalprävention auswirken. Diese Behauptung ist wichtig für die neuen lateinamerikanischen Reformströmungen, sofern der Übergang vom alten, schriftlichen Inquisitionsprozess zum modernisierten Verfahren von Erörterungen über Sanktionsquoten und über die Effektivität der Rechtspflege begleitet wird. Eine gesonderte Auseinandersetzung mit der Struktur des Strafverfahrens und den Straftheorien bzw. mit einer materiellrechtlichen Fundierung lässt diese Reformrichtung allerdings vermissen. 51 Vgl. dazu z. B. Roxin, Festschrift für Bruns, 184; Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 82 IV 5 b); Schünemann, in: Eser/Cornils (Hrsg.), Neuere Tendenzen, S. 217, 232; Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 336 ff.; Greco, Lebendiges und Totes, S. 447 f., alle m. w. N. 52 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 18 Rn. 1. 53 Vgl. Widmaier, StV 1986, 359; Hanack, StV 1987, 502; Nestler, DRiZ 1988, 296; Dencker/Hamm, Der Vergleich im Strafprozeß, S. 56 f., 75 mit Fn. 103, kritisch auf S. 88 f. In dieser Richtung, ohne sich auf die Straftheorien zu beziehen, Schumann, Der Handel mit der Gerechtigkeit, S. 106. Kritisch bezüglich dieser Art von generalpräventiven Zielsetzungen Weigend, JZ 1990, 775, 780 f.; Rönnau, Die Absprache im Strafprozeß, S. 62 f.; siehe auch Damasˇka, StV 1988, 400; Frisch, ZStW 99 (1987), 780 ff. Das Argument geht weiter als die Erwägungen von den Autoren supra, Fn. 34, die sich nur auf eine Relativierung der materiellen Wahrheit beziehen.
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Kap. 4: Straftheorien und Schuldprinzip
Rechtsvergleichend behauptete Damasˇka die Unvereinbarkeit des plea bargaining mit den Grundsätzen der relativen Straftheorien. Für ihn erfordeten es sowohl die General- als auch die Spezialprävention, Faktoren zu berücksichtigen, „die mit den Faktoren, die eine Rolle beim Zustandekommen des deals spielen, unvereinbar sind“. Dabei berief er sich auf „Konzessionen, die eine Reduktion der Anklagevorwürfe beinhalten (Zugeständnisse, die den Prozessgegenstand einengen)“.54 Gegen die These der Vereinbarkeit der konsensualen Erledigung mit dem generalpräventiven Strafverständnis lässt sich auch für die kontinentaleuropäischen Absprachen einwenden, dass die mit Strafnormen bezweckte Motivation der positiven Generalprävention eher zu einem Verlust der Bestätigung des Rechts und bei der negativen Generalprävention der Abschreckungswirkung führe, wenn die Bevölkerung den Strafprozess nicht als Rekonstruktion der Ereignisse und des begangenen Normbruchs, sondern als willkürliche Aushandlung zwischen den Prozessbeteiligten wahrnehmen würde. Es ist unbestreitbar, dass der Eindruck, dass anderweitige Interessen der Prozessbeteiligten und die staatliche Zweckmäßigkeit bei der Rekonstruktion der Geschehnisse und in der Anwendung des materiellen Strafrechts eine Rolle spielen, vermieden werden muss. Zumal es nicht die Anzahl der erledigten Prozesse ist, die zur Normtreue bzw. Abschreckung der Bevölkerung überhaupt beitragen könnte, sondern bestenfalls wiederum die korrekte Anwendung des materiellen Strafrechts auf den aufgeklärten Fall.55 Demnach wird von den Vertretern der Generalprävention die Unverzichtbarkeit des Bemühens um eine „möglichst realitätsgetreue Rekonstruktion des verdachtsund am Ende auch sanktionsbegründenden Geschehens“ betont.56 Auch aus „dem generalpräventiven Modell des Strafrechts fließende Gerechtigkeitsanforderungen“ ergebe sich die Forderung nach materieller Wahrheitsfindung.57 Aus einer anderen Perspektive ist für die Wirkung auf die Rechtsgemeinschaft zu berücksichtigten, „dass auch bei der Allgemeinheit ein berechtigtes Interesse an wahren Urteilen als Basis einer glaubhaften Bekräftigung der strafrechtlichen Normen besteht“.58 So wird mit der gerechten und präventiv wirksamen „Reaktion der Rechtsgemeinschaft auf die Tat“ das „Streben nach der ,ganzen‘ historischen Wahrheit“ in Verbindung gebracht.59 Wie dies im Einzelnen geschieht, wird im Folgenden präzisiert.
54 55
S. 33. 56 57 58 59
Damasˇka, StV 88, 400. In dieser Richtung Schünemann, 58. DJT, B 61; ders., Vom Tempel zum Marktplatz, So Duttge, ZStW 115 (2003), 546. Schünemann, ZStW 114 (2002), 59; auch ders., Festschrift für Fezer, 558 f. Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 184, ferner 187. Weigend, ZStW 113 (2001), 277, ferner 304.
C. Relative Straftheorien
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1. Positive Generalprävention Stellt man bei der Generalprävention auf ihre einsichtsvermittelnde Funktion bzw. ihren Überzeugungseffekt, und zwar auf das Vertrauen des Bürgers in die „Bestandsund Durchsetzungskraft der Rechtsordnung“ bzw. auf die „Einübung in Normtreue“ durch die Strafandrohung und -zufügung ab,60 muss das Ziel der materiellen Wahrheit im Strafprozess im Vordergrund stehen. Deutliche Einschränkungen der vollständigen Sachverhaltserforschung gefährden die Schuldfeststellung und das generelle Normvertrauen. Der Aufbau der Rechtstreue in der Bevölkerung setzt die Einsicht der Bürger in die Gerechtigkeit der Strafverhängung voraus, was bei einer schlicht ausgehandelten Entscheidung nicht gewährleistet werden. Der gewünschte Normtreueeffekt soll nicht durch die bloße Abwicklung gerichtlicher Untersuchungen in Form eines „Notartermins“, sondern durch die korrekte Anwendung des materiellen Rechts bewirkt werden. Der hier bejahte Zusammenhang zwischen der Theorie der positiven Generalprävention und der materiellen Wahrheit im Strafprozess folgt dem Umstand, dass auch für diese Theorie wie bei der Vergeltungstheorie das Gerechtigkeitsprinzip das gerechte Strafmaß als essentiell für die Rechtstreue der Bevölkerung zu qualifizieren ist. Die positive Generalprävention birgt das Gerechtigkeitsprinzip, das eigentlich typisch für den Vergeltungsgedanken ist, also oft in sich: Rechtstreue kann bei der Bevölkerung ggf. nur erhalten bzw. gestärkt werden, wenn das Strafmaß für den Täter als gerecht empfunden wird.61 Es handelt sich um eine „heteronome Bestimmung des Sicherungszwecks“, „Setzung und Erhaltung von Gemeinschaftsnormen sind – nach Subjekt, Inhalt, Mitteln der Setzung – eine im Grunde heteronome Veranstaltung“.62 Für das Strafverfahren ergibt sich dementsprechend folgende Konsequenz: Da das Vergeltungsverständnis auf eine materielle Wahrheit im Strafverfahren angewiesen ist, müsste derselbe Zusammenhang entsprechend für die positive Generalprävention gelten. Wenn sich allerdings eine Theorie der Generalprävention in staatlichen Nützlichkeitserwägungen erschöpft, zeigt sie ihre besondere Schwachstelle: Sie darf dann ihren wahren Zweck nicht offenlegen, nämlich dass es bei der Bestrafung eigentlich 60 Ohne auf die Einzelheiten der verschiedenen Varianten bzw. einzelnen Formulierungen dabei einzugehen. Vgl. z. B. Roxin/Greco, StrafR AT I, § 3 Rn. 26 f. m. w. N.; Jakobs, Schuld und Prävention, S. 10 f., 32 f.; ders., ZStW 101 (1989), 517; ders., Strafrecht AT, I/15. Auszuschließen sind solche straftheoretischen Ansätze, die nicht mehr zweckrational sind und deshalb zu den absoluten Theorien gehören, wie der Bezug auf die Stabilisierung der Normgeltung in der späteren Auffassung von Jakobs, vgl. u. a. ZStW 107 (1995), 844; ders., Norm, Person, Gesellschaft, S. 29 ff., 70, 105 ff. Vgl. dazu Schünemann, Festschrift für Roxin I, S. 14; Sacher, ZStW 118 (2006), 574 f. 61 Kritisch darüber Köhler, Über den Zusammenhang, S. 29 ff., 32; Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 153; Herzog, Prävention des Unrechts, S. 49 f., 52, 139 f.; NK-StGB-Hassemer/Neumann, Vor § 1, Rn. 273, 288; Schünemann, in: ders./von Hirsch/ Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, S. 111; Hörnle/v. Hirsch, GA 1995, 263 f. 62 Köhler, Über den Zusammenhang, S. 29, 32.
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Kap. 4: Straftheorien und Schuldprinzip
nicht um den Täter und die Tat, sondern um die Rechtstreue der Allgemeinheit geht.63 Der Standpunkt für die Funktion der Strafe ist rechtssoziologisch, also extern, und nicht normativ.64 Es handelt sich sogar um eine Wirkung, die erst nach der Verhängung der Strafe erwartet bzw. beabsichtigt wird.65Es würde der von Kant erhobene Vorwurf zutreffen, dass die Strafe das Rechtssubjekt des Täters für die Verwirklichung generalpräventiver Ziele instrumentalisiert.66 Der Einwand wiegt bei der positiven Generalprävention noch schwerer als bei der negativen Generalprävention, in der die Abschreckung potentieller Täter als Strafzweck offen ausgewiesen wird. Anders verhält es sich im Hinblick auf Alternativen zum Strafen, beispielsweise der Diversion und Mediation im Sinne der Wiedergutmachung und des Täter-OpferAusgleichs.67 Hier geht es um die Frage, ob die Grundsätze der positiven Generalprävention zu einem Verzicht auf die Bestrafung des Täters führen können, wenn die Bevölkerung andere Alternativen zur Regelung des Rechtsbruches akzeptiert. Das ist durchaus möglich. Damit könnte auch eine Begründungslücke dieser Strafzwecklehre geschlossen werden, sofern diese nicht zu erklären vermag, warum man dem Rechtsbrecher ein Übel mit dem Ziel der Erhaltung und Stärkung der Rechtstreue der Rechtsgemeinschaft zufügen muss und dafür nicht auf andere Maßnahmen zurückgreift.68 Die Komplexität des Zusammenhanges zwischen der Theorie der positiven Generalprävention und einem entsprechenden Strafprozess ergibt sich v. a. aus der Komplexität der Wirkung. So steht bei der von ihr vorausgesetzten Einflussnahme 63 Kritisch gegenüber den Theorien der Generalprävention zum Beispiel: Neumann/ Schroth, Neuere Theorien, S. 122 f.; Neumann, in: Schünemann/von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, S. 147 ff., 147 f.; Köhler, Über den Zusammenhang, S. 43 ff.; bezüglich der positiven Generalprävention zum Beispiel E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), 803 f. Aus einer rechtssoziologischen Perspektive: Bock, ZStW 103 (1991), 652 f., ferner 649 ff. Darüber hinaus kritisch Frister, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements“, S. 81 f.; Hörnle/von Hirsch, GA 1995, 261 ff., 268 f.; Weigend, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum?, S. 33. 64 Vgl. Neumann, in: Schünemann/von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, S. 147 ff., 149. 65 Vgl. dazu Hörnle, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum?, S. 22 f., mit einem weiteren Bedenken dazu auf S. 23. 66 Allgemein über den Einwand der Instrumentalisierung Kant, Die Metaphysik der Sitten, Band VI, Erster Teil : Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Allg. Anm. E zu den §§ 43 – 49, S. 331, Zeile 20 – 31 (= AAVI, 331, 20 – 31). Neben den Autoren supra, Fn. 63 vgl. auch beispielsweise Köhler, Über den Zusammenhang, S. 40, 48 f.; ders., Strafrecht AT, S. 42 f., 44 ff.; Neumann/Schroth, Neuere Theorien, S. 38 f.; NK-StGB-Hassemer/Neumann, § Vor 1 Rn. 282; allgemein die weiteren Vertreter der absoluten Straftheorie, vgl. supra, Fn. 41 zitierten Autoren. Aber auch darüber Roxin/Greco, StrafR AT I, § 3 Rn. 32; LK/Weigend, Einl. Rn. 57, 62 ff.; Duff, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Recht und Moral, S. 237, u. v. a. 67 Roxin, Festschrift für Müller-Dietz, S. 701 ff., 709; MüKoStGB/Radtke, Vor §§ 38 ff. Rn. 36. 68 Vgl. Hörnle/von Hirsch, GA 1995, 266; Weigend, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum?, S. 35.
C. Relative Straftheorien
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der Strafnormen auf die Einstellung der Bürger – zumindest bei ihrer sog. sozialpsychologischen Variante – nicht eine direkte Abschreckung des Normadressaten, sondern ein vielschichtiger, komplexer Normbefolgungsmechanismus durch Erhaltung und Stärkung von Rechtstreue im Vordergrund. Allerdings verbleibt die Schwierigkeit des empirischen Nachweises.69 Unabhängig von der Schwierigkeit der Herstellung eines Zusammenhangs zwischen dieser Strafauffassung und dem Strafprozess sind die Einwände gegen diese Straftheorie also stärker als die gegen die negative Generalprävention und nicht leicht zu entgegnen. 2. Negative Generalprävention Es sei daran erinnert, dass das Argument des notwendigen Schuldausgleichs alleine im vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geprägten Verfassungsstaat die Strafe nicht legitimieren kann.70 Die Strafe bedarf als gravierender Grundrechtseingriff einer funktionalen Sichtweise für den Schutz „berechtigter Interessen“ und „Güter“ „der Allgemeinheit“, wie es die Lehre der subsidiären Rechtsgüterschutzaufgabe des Strafrechts am besten zum Ausdruck bringt. Diese präventiven Aufgaben erfüllt das Strafrecht im Sinne der negativen Generalprävention einerseits bereits und v. a. durch das Verbieten bestimmter Verhaltensweisen mittels Strafnormen, andererseits durch die tatsächliche Sanktionierung von Normverstößen. Durch diese Einwirkung auf die Allgemeinheit und insbesondere auf den potentiellen Täter beugt man künftigen Straftaten vor und sichert damit den Rechtsgüterschutz. Der vorgesehene Motivationsmechanismus durch eine rationale Abwägung des Normadressaten setzt dabei dessen Selbstbestimmung und Rationalität voraus. Die negative Generalprävention ist allerdings mit der Frage konfrontiert, ob der empirische Nachweis über die Wirksamkeit bzw. Geeignetheit von Strafdrohungen bzw. Strafverhängungen für die Deliktsvorbeugung eine relevante Rolle für die Befürwortung der Straftheorie spielt. Die Meinungen gehen hier weit auseinander. Teilweise wird das Fehlen eines solchen empirischen Befundes bemängelt. Seltener wird vertreten, dass die Abschreckungswirkung der Strafnormen empirisch sogar widerlegt wäre. Demgegenüber wird von anderen betont, dass die Effektivität der 69 Vgl. allgemein zu den ungesicherten empirischen Erkenntnissen die Ergebnisse von Schumann, Positive Generalprävention, S. 35 ff., 49 ff.; dazu Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 59 ff. Vgl. ferner Dölling, ZStW 102 (1990), 3, 8 f., 18; NK-StGB-Hassemer/Neumann; § Vor 1 Rn. 296; Weigend, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum?, S. 33; MüKoStGB/Radtke, Vor §§ 38 ff. Rn. 37, 39; NK-StGB-Villmow, §§ Vor 38 ff. Rn. 77 ff., 83 m. w. N. 70 Siehe supra, B. Zwar ist die von den absoluten Straftheorien vergangenheitsbezogene Hervorhebung der Tatschuld der Kernpunkt für die Rechtfertigung der tatsächlichen Strafverhängung gegenüber dem Verurteilten, aber begründet noch nicht die Strafnormen, das Strafverfolgungssystem und die staatliche Strafbefugnis. Weil die Strafe ein gravierender Eingriff in elementare Rechte des Bürgers darstellt, kann sie nicht auf einer kreisförmigen zweckfreien Begründung bzw. auf der Einbeziehung einer metaphysischen Gerechtigkeitsidee beruhen.
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Strafandrohungen zur Verbrechensverhütung nachgewiesen ist.71 Der Einwand der fehlenden empirischen Befunde betrifft indes die anderen relativen Straftheorien – die positive Generalprävention und die Spezialprävention – noch stärker als die negative Generalprävention. Letztere profitiert davon, dass zumindest eine gewisse Steuerungswirkung der strafrechtlichen Normen, der Strafverfolgung und der Sanktionierung auf die Bürger aus empirischer Sicht schwer zu leugnen ist. Eine rein empirische Betrachtungsweise vermag allerdings nicht zu klären, in welchem Ausmaß der empirische Nachweis für die Verhaltenssteuerung vorliegen muss. Das zeigt neuerlich, dass ein normativer Rahmen unverzichtbar ist. Strafrecht als subsidiärer Rechtsgüterschutz besagt, dass die Strafe nur mit einem normativen Rückblick auf den generalpräventiven Mechanismus der Strafnormen und der Sanktionierung gerechtfertigt werden kann. Einen empirischen Nachweis über den genauen Verlauf und Umfang bzw. die Vollständigkeit dieser Wirkung auf die Bürger bzw. potentiellen Täter zu liefern, ist unter der normativen, vom Rechtsgutsgedanken geleiteten Perspektive nicht erforderlich. Durch eine konsequente Strafverfolgung und Sanktionierung entsteht ein signifikantes Risiko, bei Rechtsgutsverletzungen bestraft zu werden. Auf die Existenz des allgemeinen Sanktionierungsrisikos bezieht sich die Institution der Strafe im Sinne der negativen Generalprävention, ohne dass ein Abklären der einzelnen Interaktionen zwischen den Strafnormen und den konkret agierenden Normadressaten für die allgemeine Rechtfertigung des Strafverfolgungssystems und des staatlichen Strafbefugnisses notwendig wäre. Daher ist der warnende Ansatz der negativen Generalprävention – wie auch der einsichtsbeeinflussende Grundsatz der positiven Generalprävention – mit der Dunkelziffer gut kompatibel, während die Vergeltungstheorie mit ihrem Anspruch auf einem vollständigen Schuldausgleich die fehlende Reaktion des Staates bei nicht entdeckten bzw. verfolgten Straftaten nicht erklären kann.72 Gegen die negative Generalprävention und ihr Abstellen auf eine Kosten-NutzenKalkulation wird ferner eingewendet, dass aus rein androhungsgeneralpräventiver Sicht eine niedrige Strafe ausreichen müsste, wenn ein Mord für eine geringe Geldsumme begangen worden wäre, auch wenn der Sozialschaden sehr groß wäre. Demgegenüber benötige man eine hohe Strafe, um die Begehung einer üblen Nachrede z. B. zur Steigerung der eigenen Karriere zu verhindern. Damit würde sich die Strafandrohung zu sehr auf die Vorteile der Tat konzentrieren, um den Normadressaten von der Straftat abzuhalten. Ihre Sozialschädlichkeit würde so vernach-
71 Überblick über den Meinungsstand bei Hart-Hönig, Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung, S. 47 f.; Greco, Straftheorie, S. 363 f.; gegen die empirische Nachweisbarkeit Überblick bei NK-StGB-Hassemer/Neumann; § Vor 1 Rn. 283; MüKoStGB/Radtke, Vor §§ 38 ff. Rn. 38; NK-StGB-Villmow, §§ Vor 38 ff., Rn. 77 ff., alle mit weiteren Nachweisen. 72 In diesem Sinne Schünemann, in: Eser/Cornils (Hrsg.), Neuere Tendenzen, S. 223, 229 f.; ders., Nulla poena sine lege?, S. 12: „unmittelbar einleuchtenden Plausibilität“; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 49 ff.; Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 110 ff.; Greco, Straftheorie, S. 363 ff., 373 f.
C. Relative Straftheorien
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lässigt.73 Gegen diesen Einwand des möglichen Missverhältnisses zwischen dem erwarteten Vorteil der Tatbegehung und dem Sozialschaden spricht, dass der vom Strafrechtssystem vorgesehene Motivationsmechanismus durch Strafandrohung auf eine allgemeine Wirkung (vor allem durch die konsequente, sich anschließende Strafverfolgung) abzielt und nicht vordergründig auf die einzelnen individuellen und situationsbedingten Motive der Normadressaten abstellt.74 Die persönlichen Motive für einen Normbruch können unterschiedlicher Art sein, genauso aber wie sich die Motive für Rechtstreue nicht unbedingt auf Strafrechtsnormen stützen müssen. Wie bei allen relativen Strafauffassungen wird ferner der Einwand der Instrumentalisierung auch gegenüber der negativen Generalprävention erhoben. Wie oben angeführt, geht es bei der positiven Generalprävention um ihre unmittelbare Wirkung, d. h. die Normbindung anderer, die erst nach der Verhängung der Strafe erwartet wird. Damit treten die Effekte zu einem späteren Zeitpunkt ein und der positivgeneralpräventive Zweck wirkt sich nicht auf den betroffenen Verurteilten aus. Was die negative Generalprävention anbelangt, erwartet sie zumindest auf den ersten Blick ihren Niederschlag vor der Deliktsbegehung durch die direkte Einflussnahme auf den rational abwägenden „potentiellen Täter“. Damit wäre der Vorwurf der Instrumentalisierung kaum nennenswert. Allerdings geht es bei der Androhungsgeneralprävention am Ende doch um spätere Effekte, weil sie nicht nur auf die Motivationsnorm, sondern auch auf die tatsächliche Verhängung von Strafen angewiesen ist.75 Dieser Impuls gegen den Nützlichkeitsgedanken im Rahmen der Straftheorien ist aber abzulehnen, weil die präventivorientierten Strafauffassungen in der Regel die Begründungsvarianten dadurch kombinieren, dass sie die konkret verhängte Strafe mit der Schuld des Verurteilten begründen.76 Der Täter wird wegen seiner schuldhaft begangenen tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Tat und nicht aufgrund staatlicher Zwecke oder sozialer Vorteile bestraft. Im Ergebnis erweist sich die Gegenüberstellung von „absoluten“ und „relativen“ Straftheorien als nicht hinreichend komplex, um die Vielfalt der Aspekte bei der Erfüllung der staatlichen Rechtsgüterschutzfunktion von der Androhung bis zur Strafvollstreckung zu erfassen.77 Weiterführend ist es, zwischen der Zulässigkeit der staatlichen Strafe für Präventionszwecke und ihrer Legitimierung gegenüber dem 73 Jakobs, Strafrecht AT, I/29 f.; ders., Norm, Person, Gesellschaft, S. 106; Lesch, JA 1994, 510 ff., 517; Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, S. 28. 74 Vgl. Schünemann, in: Eser/Cornils (Hrsg.), Neuere Tendenzen, S. 209, 223, 229 f.; Hörnle, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum?, S. 11 ff., 20; Greco, Straftheorie, S. 390. 75 Damit stößt sie genauso auf das Bedenken der Instrumentalisierung des Betroffenen für die Erreichung ihrer generalpräventiven Zwecke; siehe Pawlik, Festschrift für Rudolphi, S. 213 ff., 218; Hörnle, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum?, S. 22 f. 76 Vgl. Nachweisen bei nächstem Abschnitt. 77 Besonders betont von von Hirsch, in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), Kritik und Rechtfertigung, S. 58, 79; Hörnle, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum?, S. 28, S. 30 („komplexe Modelle“); Weigend, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum?, S. 31, u. v. a.
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Kap. 4: Straftheorien und Schuldprinzip
Betroffenen zu unterscheiden.78 Der Rechtsanwender, d. h. der Richter beim Urteil und der Rechtsdogmatiker bei einer Falllösung, darf nicht die Prävention als Argumentation für die Verurteilung heranziehen, aber sich auch nicht auf eine abstrakte Rechtsgeltung oder auf die Stabilisierung des Systems und die Wahrung der gesellschaftlichen Identität berufen. Oder noch abstrakter: dass die Strafe die Negation der Tat sei, oder dass sie Zielerreichung selbst sei, oder letztendlich dass das Recht das Recht sei. Dass dies abstrakt wichtig ist, soll nicht bestritten werden. Aber solche Aussagen müssen ihre Richtigkeit für die konkrete Lösung eines Konflikts in einem bestimmten Rechtssystem dartun. Im Ergebnis berücksichtigt am besten die Androhungsgeneralprävention mit dem von ihr vorausgesetzten Schuldprinzip79 die für die Legitimation relevanten Gesichtspunkte. 3. Androhungsgeneralprävention und Schuldprinzip Die für den Rechtsgüterschutz herangezogene Androhungsgeneralprävention ermöglicht eine teleologische, auf die gesellschaftlichen Folgen bedachte Rechtfertigung des staatlichen Rückgriffs auf das Strafrechtssystem und die Strafe. Andererseits ergibt sich eine Verbindung dieser Präventionszwecke mit dem Schuldprinzip aus dem Steuerungsmechanismus der Strafnormen mit ihrer Motivationswirkung, d. h. die Strafandrohung setzt die Schuld des Betroffenen voraus. Das Postulat im Strafrecht, dass bei Begehung der Tat eine Strafe droht, d. h. der Zusammenhang zwischen Normbruch und Strafe ergibt nur Sinn, wenn man von einer autonomen Entscheidung des Normadressaten und damit von einer individuellen Vermeidbarkeit und einem schuldhaften Handeln ausgehen kann. Der Schuldvorwurf beruht damit darauf, sich nicht an die Verhaltensnorm gehalten, sondern die im Tatbestand beschriebene Straftat schuldhaft begangen zu haben. Auf diese Weise wird die Entscheidung für den Betroffenen nachvollziehbar, weil die Tat für ihn vermeidbar war. Hier wird von einem materiellen Schuldbegriff und nicht von einer funktional zugeschriebenen Schuld ausgegangen. Das Strafurteil bezieht sich ausschließlich retrospektiv auf die begangene Straftat, ohne sich auf selbständige staatliche Zwecksetzungen oder soziale Vorteile zu berufen. Die Präventionszwecke selbst stehen nur im Hintergrund in Verbindung mit der Bedingung zur Legitimation der Strafverhängung gegenüber dem Verurteilten.
78
Vgl. Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 12, 327 ff.; Bock, ZStW 103 (1991), 636 ff., 649 ff.; ders., JuS 1994, 89 ff., 96 ff.; Stübinger, KritJ 26 (1993), S. 33 ff., 42 f.; Frister, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements“, S. 97 f.; Hörnle/von Hirsch, GA 1995, S. 261 ff., 268 f.; Schünemann, in: ders./von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, S. 109, 111, 113 ff.; Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 117 f.; Sacher, ZStW 118 (2006), 597 f. 79 Nach einheitlicher Meinung legitimiert die Schuld die Strafe und begrenzt sie, vgl. statt aller Roxin/Greco, StrafR AT I, § 3 Rn. 51 ff.; Schünemann, zum Beispiel in: ders. (Hrsg.), Grundfragen, S. 170 f., 175 ff.
D. Folgerungen für das Strafverfahren
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Andererseits bedeutet die straflegitimierende Funktion der Schuld nicht, dass sie bereits für die Strafbarkeit ausreicht, wie es von den absoluten Straftheorien vertreten wird. Sie ist nur ein Legitimations- und Begrenzungsprinzip der Strafe und damit eine notwendige Voraussetzung neben dem „präventiven Strafbedürfnis“.80
D. Folgerungen für das Strafverfahren I. Ziel der materiellen Wahrheit Dogmatisch spielt die Straftheorie in der Legitimation des Verfahrens keine Rolle, sofern der Angeklagte vor der Schuldfeststellung vom Grundsatz der Unschuldsvermutung profitiert, d. h. als unschuldig gilt.81 Andererseits sind aus dem materiellen Strafrecht und seinen Fundamenten das prozessuale Ziel der materiellen Wahrheit und die Maßstäbe für die Ausgestaltung des Strafverfahrens für die Erreichung dieses Zieles zu entnehmen. Die enge Verbindung zwischen dem strafrechtlichen Tatbestand (im materiellen Recht) und dem Schuldprinzip gibt der Aufklärungsarbeit im Prozess eine Richtung vor. Im Einklang mit dem Tatschuldprinzip ist die Feststellung des „wirklichen“ Sachverhalts prozessuale Bedingung für die Legitimation der Strafe. Die Strafandrohung setzt eine „tatsächlich“ so begangene Straftat82 und ihre Vermeidbarkeit im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit nach einem alltagstheoretischen Verständnis83 voraus. Eine Sachverhaltsaufklärung ist dafür unverzichtbar. Eine Verurteilung erfordert den Nachweis von Tatunrecht und -schuld. Bloß präventive staatliche Zwecke können die Strafe für den Betroffenen nicht begründen und deshalb dient das Strafverfahren auch nicht unmittelbar dazu, die konkret aus dem Fall resultierenden präventiven Aspekte festzustellen. Eine unmittelbare Ableitung des strafprozessualen Grundsatzes der Erforschung der materiellen Wahrheit erfolgt aus der Perspektive der Androhungsgeneralprävention im Zusammenhang mit dem Schuldprinzip. In diesem Zusammenhang überzeugt es im Einklang mit der h. M., das Gebot der materiellen Wahrheit aus dem Schuldprinzip abzuleiten.84 Als notwendige Bedingung der Strafbarkeit schützt das Schuldprinzip die Rechte des Beschuldigten, sodass ihm für eine Verurteilung die Begehung einer schuldhaften Tat nachgewiesen werden muss. Nur wenn dies der Fall 80
So die h. M., vgl. Roxin/Greco, StrafR AT I, § 3 Rn. 51 ff., § 19, Rn. 7, 9. Vgl. Nachweise supra, Fn. 5. 82 Der Ausdruck ist auch aus der Sicht einer absoluten Straftheorie adäquat, so wie von Murmann verwendet, vgl. Murmann, GA 2004, 72; aber sicherlich für die Gegner einer Korrespondenztheorie der Wahrheit sehr kritisch. Im Strafprozessrecht betont sich mit so einer Bezeichnung die „Aufklärung der äußeren Umstände eines abgrenzbaren, historischen Lebenssachverhaltes“ (so ausgedruckt von Rieß, Festschrift für Schäfer, S. 179). 83 Vgl. die Nachweise supra, Kapitel 2, Fn. 68. 84 Vgl. supra, Kapitel 2, Fn. 24. 81
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Kap. 4: Straftheorien und Schuldprinzip
ist, kann eine Verurteilung als gerecht gelten. Das Prinzip der materiellen Wahrheit im Strafverfahren erweist sich so als das prozessuale Pendant des materiellrechtlichen Schuldprinzips.85
II. Materielle Wahrheit und Gesetzlichkeitsprinzip Der Inhalt des materiellen Strafrechts prägt das Strafprozessrecht und wirkt sich unmittelbar auf seine Methode und Struktur aus. Es legt das strafbare Verhalten gesetzlich fest und sorgt damit für eine wiederum begründete Auswahl und Typisierung bestimmter Anknüpfungsmomente aus dem gesamten Spektrum des Geschehens. In diesem Prozess der Obersatzbildung bei der Strafnormsetzung werden die Elemente fixiert, die eine strafrechtliche Relevanz aufweisen. Von Bedeutung ist damit ein hinreichend bestimmt beschriebenes Verhalten, das wiederum beim Prozess der Normanwendung „wirklich“ – tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft – begangen worden sein muss.86 In der materiellen Ausprägung der Strafnormsetzung bieten die Anforderungen des Rechtsgüterschutzprinzips die Legitimation für die einzelnen Straftatbestände und beschränken sie idealerweise auf schwerwiegende Eingriffe in den Schutzbereich.87 Unter dem formalen Aspekt der Festlegung des strafbaren Verhaltens interessiert unmittelbar für den Strafprozess der in der Verfassung verankerte nullum crimen-Grundatz mit seinen vier Ausprägungen, insbesondere das Gebot der Gesetzesbestimmtheit. Die gesetzlich präzise Fixierung des Strafbaren vor der Tatbegehung ist einerseits Voraussetzung für die Androhungsgeneralprävention, weil man mit ihr die erwartete Motivationswirkung zu rechtstreuem Verhalten des Normadressaten erreicht.88 Andererseits steht sie in einem engen Verhältnis mit dem Schuldprinzip, weil sie ein tatbestandsbezogenes Unrechtsbewusstsein zur Tatzeit ermöglicht. In diesem Sinne prägt das Gesetzlichkeitsprinzip im Sinne der Festlegung der Straftat das Schuldprinzip aus.89
85 In diese Richtung begründen es die Vertreter der Vergeltungstheorie, aktuell zum Beispiel Murmann, Festschrift für Roxin II, S. 1385, 1389 f. Ansonsten Schünemann, Festschrift für Fezer, S. 558 f.; ders., Festschrift für Wolter, S. 1115. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hält an die Ermittlung der materiellen Wahrheit und an die Feststellung der Schuld nominell fest, NJW 2016, 1149, 1153. Dazu und zur heutigen „Krise verfahrensbezogener Objektivität“ Anders, ZStW 129 (2017), 84 f. 86 Vgl supra, Fn. 82. 87 Über das Rechtsgüterschutzprinzip als Letztbegründung des Strafrechtssystems und damit prägend bezüglich des Strafprozesses vgl. supra, A. 88 So wie von Feuerbach konzipiert und heute vertreten, vgl. dazu Roxin/Greco, StrafR AT I, mit Nachweis, § 5 Rn. 22, Rn. 67. Zum Gebot der Gesetzesbestimmtheit Satzger, in: ders./ Schluckebier/Widmaier, StGB, § 1 Rn. 19 ff. 89 Nur in diesem Sinne anders als die überwiegende Ansicht. Zu dieser siehe z. B. LK/ Dannecker/Schuhr, § 1 Rn. 61 f.; Roxin/Greco, StrafR AT I, § 5 Rn. 25 m. w. N. Auch betont
D. Folgerungen für das Strafverfahren
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Es wendet sich nicht nur an den Gesetzgeber, sondern auch an den Rechtsanwender.90 Dies betrifft nicht alleine die gerichtliche Auslegung von Tatbeständen, sondern auch den Nachweis der Tat im Prozess. Denn die vom Gesetzlichkeitsprinzip aufgestellte Grenze für die staatliche Strafgewalt ergibt nur Sinn, wenn sich die Gesetzesanwendung auf einen konkret verwirklichten Sachverhalt bezieht. Die Subsumtion setzt dementsprechend nicht einen verhandelten bzw. kommunizierten Untersatz, sondern einen historisch realen Lebenssachverhalt voraus. So findet die Gesetzesbestimmtheit ihr strafprozessuales Korrelat in der materiellen Wahrheit und rundet damit die für das Unrechtsbewusstsein bzw. den Schuldvorwurf erforderliche Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit der Tatbestandsverwirklichung und letzendlich auch die Berechenbarkeit der staatlichen Reaktion für den Straftäter ab.
III. Ergebnis Das materielle Strafrecht schränkt so das Programm im Strafprozess sichtlich ein: Es legt fest, was aufgeklärt werden soll und setzt diese Aufklärung nicht ins Belieben der Prozessbeteiligten. Die Defizite menschlicher Erkenntnis sind, soweit unvermeidbar, hinzunehmen. Eine spezifische Methode der Sachverhaltserforschung gibt das materielle Strafrecht nicht vor.91 Allerdings setzt es Leitlinien für die Struktur des Strafverfahrens, gewissermaßen für das Drehbuch des Verfahrens. Der Fluchtpunkt des Drehbuchs ist der Nachweis einer tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Tat. Die gebotene umfassende Aufklärung des Sachverhalts erschöpft sich nicht im Nachweis der individuellen Vermeidbarkeit im Sinne der materiellrechtlichen Schuld mit der Erfüllung der Unrechts- und Schuldvoraussetzungen unter Berücksichtigung der Strafrechtsdogmatik des Allgemeinen Teils und der Einzelheiten des Besonderen Teils. Auch das Vorliegen etwaige objektiver Strafbarkeitsbedingungen (auch wenn umstritten), Strafbarkeitsausschließungs-, -aufhebungs- und -einschränkungsgründe unter Beachtung von Konkurrenzprobleme muss nachgewiesen werden.92 Auch bei Würdigung der Straftheorien erweist sich die Ableitung des Gebots der materiellen Wahrheit aus dem Schuldprinzip als zutreffend.
von Vertreter der absoluten Straftheorie, vgl. z. B. Köhler, Strafrecht AT, S. 77, weil sie die materielle Wahrheit ebenso aus dem Schuldprinzip ableiten. 90 Vgl. für alle Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 15, S. 128. 91 So Murmann, Festschrift für Roxin II, S. 1385, 1389; Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 46. 92 Vgl. dazu Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 13; sowie über die prozessuale Schuld Vertreter der absoluten Straftheorie wie Naucke, Strafrecht, § 7 Rn. 46 ff.; ders., Grundlinien einer rechtsstaatlich-praktischen allgemeinen Straftatlehre, S. 24 f.
Kapitel 5
Begründungen in Lateinamerika für die Ausgestaltung des adversatorischen Strafprozesses A. Der Unparteilichkeitsgedanke I. In den Zeiten vor der Etablierung des adversatorischen Systems Das Prinzip der Unbefangenheit oder Unparteilichkeit des Richters wurde nicht nur im Rahmen der neuen Reformen und Tendenzen zu einem adversatorischen Verfahren aufgegriffen, sondern es handelte sich um ein immer wieder hervorgehobenes Thema in der argentinischen, aber auch in der spanischen Literatur bezüglich des Untersuchungsrichters und auch hinsichtlich einer vom erkennenden Richter inquisitorisch durchgeführten Hauptverhandlung.1 Im Vordergrund des strafprozessualen Interesses war die Dezentralisierung der Prozessrollen, v. a. durch die Kontradiktion und die „imparcialidad“ des Richters (Unbefangenheit oder Unparteilichkeit).2 So wird die imparcialidad als die Situation der Objektivität des Richters bezüglich des zu beurteilenden Falles definiert.3 Die Erforderlichkeit der Unbefangenheit oder Unparteilichkeit des Richters wurde bereits bei der Debatte um die Abschaffung des Untersuchungsrichters für das Ermittlungsverfahren betont, der immer noch für die argentinische Bundesstrafprozessordnung aktuell ist (der neue Código Procesal Penal Federal ist nur noch in zwei Provinzen verbindlich eingeführt). Die Idee der Unparteilichkeit des Gerichts der Hauptverhandlung wurde auch im Zusammenhang mit den ersten Reformimpulsen hervorgehoben, als man sich gegen eine Kenntnis der Ermittlungsakte durch das erkennende Gericht einsetzte.4 Das Thema hatte eine Zeit lang nur für das Ermittlungsverfahren Relevanz, da für die Hauptverhandlung vorgesehen war, dass die Staatsanwaltschaft und Verteidigung Beweisvorschläge unterbreiten und der erkennende Richter sich insgesamt um die 1 Vgl. zum Beispiel bereits Clariá Olmedo, Derecho Procesal Penal I, Nr. 89, 90, 90bis, S. 115 ff.; Maier, Derecho Procesal Penal I, § 7 B 1, S. 739 f., 742; Bertolino, El debido proceso penal; Bovino, Ingeniería de la verdad, in: Problemas, S. 230, 214 ff., 222; ders., Proceso penal y derechos humanos, in: Problemas, S. 16 ff.; ders., Imparcialidad de los jueces, in: Problemas, S. 49 ff.; D’Albora, Una solución práctica, S. 33 ff.; Superti, Quien investiga no debe juzgar, S. 44 ff.; Montero Aroca, Sobre la imparcialidad del juez, u. v. a. 2 Clariá Olmedo, Derecho Procesal Penal II, Nr. 463, 466, S. 176 ff. 3 Maier, Derecho Procesal Penal I, § 7 B 3, S. 752, § 7 B 1, S. 740. 4 Vgl. Maier zum Beispiel in: Democracia y administración de justicia penal en Iberoamérica, S. 157.
A. Der Unparteilichkeitsgedanke
167
Beweiserhebungen kümmern musste. Diese Struktur der richterlichen Aufklärungspflicht in der Hauptverhandlung war zuerst indiskutabel, ohne dass eine adversatorische Verfahrensform damals überhaupt in Frage kam. Zugleich wurde die aktive Betätigung des erkennenden Richters in der Hauptverhandlung zunächst nicht als Verletzung des Prinzips der Unbefangenheit oder Unparteilichkeit angesehen. Art und Umfang der aktiven Erforschungsaufgaben des Richters waren allerdings schon damals ein wichtiges Thema bei den Erörterungen über die Hauptverhandlung.5
II. Als Begründung für die neue, adversatorische Ausgestaltung des Strafprozesses In den aktuellen lateinamerikanischen Abhandlungen findet man die Gründe für den Vorzug der adversatorischen Verfahrensform als Methode der Wahrheitsfindung in den Prinzipien der „imparcialidad“ des Richters (Unbefangenheit oder Unparteilichkeit) und im Grundsatz der Kontradiktion.6 Es handelt sich bei den neuen Reformströmungen im Ergebnis auch um innerprozessuale Erklärungen für die Auswahl der Verfahrensform, weil sie sich auf das Zusammenspiel der Verfahrensrollen und der Verfahrensregeln schlechterdings konzentrieren, ohne auf materiellrechtliche Hintergründe Bezug zu nehmen. Die Unbefangenheit oder Unparteilichkeit des erkennenden Richters als unbeteiligter Dritter wäre demnach durch die Kontradiktion zwischen den zwei Prozessparteien gewährleistet. Sie wäre erst gesichert, wenn der Richter Abstand von den zwei Parteien (Staatsanwaltschaft und Verteidigung) halten würde, und dies würde am besten durch eine kontradiktorische Beweisaufnahme erfolgen, bei der die Parteien die Beweisführung übernehmen. Mit dieser Argumentation wird das adversatorische System als Methode der Wahrheitsermittlung im Beweisverfahren vorgezogen und diese Präferenz wird direkt aus dem Prinzip der richterlichen Unbefangenheit abgeleitet. Nach dieser Ansicht ist die für die Urteilsfindung erforderliche Objektivität in der Beurteilung beeinträchtigt, wenn der Richter beim Nachweis der Anklagehypothese und damit mit der Beweissammlung und -präsentation involviert ist. Es wird auch eine aktive Beteiligung des Richters bezüglich klärender oder ergänzender Maßnahmen in der Hauptverhandlung abgelehnt.7 Die Befugnisse des erkennenden Richters im noch heute geltenden argentinischen Bundesstrafprozessgesetz, das nicht adversatorisch ist, werden dabei als überbor5 Vgl. zum Beispiel Bertolino, El debido proceso penal, S. 140 ff.; dazu Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. 177 f. 6 Aus der argentinischen Literatur vgl. etwa Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. 167 ff., 172; Binder, in: Proyecto de Código Procesal Penal de la Nación, S. 9 f., S. 28 f.; ders., Ideas y materiales, S. 135, 160; Bovino, Ingeniería de la verdad, in: Problemas, S. 230, 214 ff., 222. Für Costa Rica: Tijerino Pacheco, La nueva justicia penal en América Latina, u. v. a. 7 Zur Mitwirkung des Richters an den Beweiserhebungen der Hauptverhandlung in Lateinamerika vgl. im Einzelnen infra, Kapitel 8 A. III. 3. e) bb) mit Nachweisen.
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Kap. 5: Ausgestaltung des adversatorischen Strafprozesses
dend bezeichnet, weil er über die zu erhebenden und nicht zu erhebenden Beweise und über die Reihenfolge deren Präsentation entscheidet und für die Fragestellungen an den Zeugen zuständig ist.8 Dabei spricht man darüber, dass die Aktivität des erkennenden Richters die Debatte „erstickt“ und die Kontradiktion der Parteien verhindert.9 Zum Erfordernis einer ausgeprägten Unparteilichkeit des erkennenden Richters werden ferner psychologische Argumente in dem Sinne beigefügt, dass der Richter bei der amtlichen Sachverhaltsaufklärung der Anklagehypothese zu folgen neigt10 und deshalb seine passive Verfahrensrolle bevorzugt werden sollte. Das Kontradiktionsprinzip erhält in diesem Konzept relevante Konturen. Es wird nicht nur als ein Recht der Verteidigung betrachtet, sich mit der Anklagehypothese, den Beweisen und den Argumentationen auseinanderzusetzen. Der Grundsatz würde nicht nur als Garantie für den Beschuldigten und als Grenze der Wahrheitsermittlung, sondern als maßgebliche Methode der Wahrheitsermittlung und Struktur des Strafverfahrens festgelegt.11 Durch die „contraposición de fuerzas“ würde das adversatorische System einen wichtigen Pluspunkt erhalten.12 8 Binder als der Impulsgeber der Reformen in Lateinamerika bezieht sich auf die „excesivas facultades requirentes otorgadas a los jueces del tribunal oral, quienes a la luz de la regulación vigente pueden: preguntar supliendo la actividad de las partes, decidir qué pruebas se producen, cuáles no y el orden en que se producen (Art. 356, 388, 389 y 357) y, llegado el caso, ampliar investigaciones asumiendo para ello un rol prácticamente idéntico al de los jueces de instrucción, dejando de lado cualquier posibilidad de hacer efectiva la garantía de imparcialidad“, in: Proyecto de Código Procesal Penal de la Nación, S. 28 f.; auch in diesem Sinne ders., Ideas y materiales, S. 136 f. 9 Binder, Derecho Procesal Penal I, S. 103: „la dinámica del sistema adversarial acompaña y orienta esa contraposición y busca que ella exista y se manifieste, no que sea ahogada. Muchos jueces no entienden esto y pretenden evitar o ahogar el debate y la contradicción entre las partes.“ 10 Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. 190 ff.; Ferrajoli, Diritto e ragione, Parte Prima, I.4., insbes. 3.; ders., Vorwort in Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. VIII f. Diese Argumentation mit verschiedenen Varianten besteht auch im deutschen Strafverfahrensrecht, allerdings nicht unbedingt zu Bevorzugung eines adversatorischen Systems und vor allem kritisch bezüglich der richterlichen Kenntnis der Ermittlungsakte, vgl. Nachweise supra, Kapitel 2, Fn. 195. 11 Die adversatorische Verfahrensform in Lateinamerika beruht teilweise nicht nur auf angloamerikanischen Gedanken, sondern auch auf die spanische und italienische Literatur. Auf italienische zum Beispiel Guzmán, La verdad en el proceso penal, vor allem S. 3, 137, 149 ff., auch zum Beispiel Fn. 389, 393, 396, der diese grundlegende Funktion des Kontradiktionsprinzips aus den Schriften Ferrajolis übernimmt. Binder beruht auch teilweise auf die Schriften Ferrajolis, zum Beispiel bei seiner Kritik auf die Übernahme der Beweise aus dem Ermittlungsverfahren in der Hauptverhandlung, vgl. Ideas y materiales, S. 129, ferner zum adversatorischen System S. 134. 12 So Binder, Derecho Procesal Penal I, S. 103 f.: „El sistema adversarial busca formalizar e institucionalizar la contraposición de fuerzas y, en tanto lo hace, adquiere su mayor ,virtud‘.“ „Obviamente en el sistema inquisitorial la contradicción … no es vista como algo central, sino hasta cierto punto extraño al sistema, hasta ,molesto‘. Por el contrario, el sistema ,adversarial‘ es justamente aquel en que se parte de la constatación de esos intereses contrapuestos y deja que ellos fluyan de manera institucionalizada, reglada, para pacificarlos.“
C. Wahrheitsgebot nur im Fall der Verurteilung
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B. Kritik der adversatorischen Strömung an der früheren Übernahme des europäischen reformierten Strafprozesses in Lateinamerika Die neuen Reformströmungen greifen in kritischer Absicht die historische Genese der lateinamerikanischen Übernahme des europäischen reformierten Strafverfahrens (bei Abschaffung des alten Inquisitionsprozesses) seit dem Strafprozessgesetz von der argentinischen Provinz Córdoba von 1939 auf. In der neueren lateinamerikanischen Literatur wird eine kritische Betrachtung des napoleonischen Code d’Instruction Criminelle von 1808 angestellt, der als ursprüngliche Quelle der ersten Modernisierungen in Argentinien diente. Gegenstand der Beanstandung ist die Tatsache, dass der mündliche englische Strafprozess nach der französischen Revolution nicht übernommen wurde: Vielmehr wäre ein Kompromiss zwischen dem alten Inquisitionsprozess in Form des Ermittlungsverfahrens und der Hauptverhandlungsphase gefunden worden, der nicht von den Parteien, sondern vom Gericht beherrscht gewesen wäre. Dem wurde die Parteilichkeit des Gerichts vorgehalten.13 Die strafprozessuale Konsequenz der französischen Revolution, ein akkusatorisches Verfahren zu etablieren, wird damit für richtig gehalten, während die spätere napoleonische Variante, das zweiphasige System, wegen der Schriftlichkeit und Heimlichkeit des Ermittlungsverfahrens kritisch gesehen wird.14
C. Wahrheitsgebot nur im Fall der Verurteilung Die Grundlage für diese Argumentation ist die Kritik an dem kontinentaleuropäischen Prozess der Wahrheitssuche. Die Kritik an der amtlichen Sachverhaltsaufklärung geht teilweise so weit, dass man die Erforschung der Wahrheit nur als Voraussetzung für eine Verurteilung als erforderlich ansieht. Damit wird die Idee akzentuiert, dass „die Unschuld nicht nachgewiesen werden soll“ („La inocencia no debe ser probada“). Für die Urteilsfindung sei es demnach nicht notwendig, dass der Richter zur Wahrheit des Sachverhaltes gelangt. Weniger noch soll er die Wahrheit suchen, wenn die Aktivität der Parteien unzulänglich oder fehlerhaft sei. Bestünden Zweifel über die Anklagehypothese und würde der Richter Beweiserhebungen von Amts wegen aus diesem Grund aktiv durchführen, würde dieser zu Lasten des Angeklagten etwas tun, das eigentlich der Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft unterfällt. Sollten also die Beweiserhebungen der Parteien nicht zum wahren 13 Die Unparteilichkeit des Richters beim „gemischten System“ der richterlichen Aufklärungspflicht in der Hauptverhandlung wird immer wieder in der lateinamerikanischen Literatur betont. Vgl. ferner zu dieser geschichtlich begründeten Argumentation zum Beispiel beim costa-ricanischen Reformimpulsgeber Tijerino Pacheco, La nueva justicia penal en América Latina. 14 Siehe statt aller den costa-ricanischen Reformimpulsgeber Tijerino Pacheco, Mediatización de la oralidad, S. 183 u. a.
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Kap. 5: Ausgestaltung des adversatorischen Strafprozesses
Sachverhalt führen, müsste der Richter auf die Unschuldsvermutung und auf das in dubio pro reo-Prinzip als ausschlaggebende Elemente für die Urteilsbegründung zurückgreifen.15 Nach dieser Ansicht wäre der Schuldnachweis eine Angelegenheit der Anklage. Die Unschuld müsste nicht nachgewiesen werden. Nach dieser Auffassung wäre die richterliche Aufklärung des vollständigen Sachverhalts in der Hauptverhandlung nach der Beweiserhebung der Parteien überflüssig, da der Richter über die zwei genannten Prinzipien für die Entscheidung verfüge.
D. Parallele Ansichten in der deutschen Literatur I. Der Richter als unbeteiligter Dritte Zum Gedanken der lateinamerikanischen Reformliteratur über die Unparteilichkeit des erkennenden Richters als Begründung für die Bevorzugung des adversatorischen Systems finden sich Parallelen in der deutschen Literatur, die eine Unvereinbarkeit des Untersuchungsgrundsatzes mit der Stellung des Richters als unbeteiligter Dritter im Sinne des Art. 92 GG sehen.16
II. Wahrheitsgebot nur im Fall der Verurteilung Die Argumentation dieses lateinamerikanischen Gedankens entspricht der Ansicht im deutschen Strafprozessrecht, derzufolge die Suche nach der materiellen Wahrheit nur für den Fall der Verurteilung zu erfolgen hat. Es gehe demnach „nur um den Nachweis der Schuld, nicht der Unschuld“.17 „Stellt sich heraus, dass die Voraussetzungen für eine Verurteilung nicht erwiesen werden, wird die Wahrheitssuche abgebrochen. Nach üblicher Rechtslage wird freigesprochen, wer erwiesen unschuldig ist oder – häufiger – wer nicht erwiesen schuldig ist: in dubio pro reo“.18 Diese Perspektive resultiert aus der Hervorhebung des Gedankens, dass die Wahrheitssuche asymmetrisch sei, was im Hintergrund der angloamerikanischen 15
Vgl. zum Beispiel Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. 183; dazu zustimmend Ferrajoli im Vorwort in Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. VII; Bovino, Ingeniería de la verdad, in: Problemas, S. 230, 214 ff., 222; der Gedanke beruht auch auf Taruffo, La prova dei fatti, S. 227 f., 268, der ins Spanisch von Jordi Ferrer Beltrán (La prueba de los hechos, Madrid, 2000) übersetzt wurde und von der lateinamerikanischen Literatur öfters übernommen wird, vgl. zum Beispiel Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. 178 ff. 16 Haas, Strafbegriff, S. 354 u. a. 17 Stuckenberg, GA 2016, 700; ders., Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, S. 476 ff., 510 ff. 18 Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 44, 50.
D. Parallele Ansichten in der deutschen Literatur
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Einstellung zum Gebot der Ermittlung der Wahrheit steht. So betont Damasˇka diese Asymmetrie im Rahmen der Anforderungen an die Wahrheit: „While convictions are expected to accurately determine the factual predicates of criminal liability, acquittals are not meant to do the same for the factual predicates of innocence. If we wanted to increase the truth-value of acquittals, we would have to adopt a third type of verdict – a type capable of expressing a range of belief-states between the conviction that the accused is guilty an the finding that he is innocent“.19 Mit dem dritten Typ von Strafurteil bezieht er sich auf den kontinentalen ancien régime.
III. Ablehnung von Ableitungen aus dem Schuldprinzip für das Strafverfahren Für das Wahrheitsgebot als Voraussetzung für eine Verurteilung kritisiert Stuckenberg die Ableitung der materiellen Wahrheit aus dem Schuldprinzip, mithin den Bezug des Prozesses zum materiellen Recht. Das Gebot, Feststellungen zu treffen und die Ausgestaltung des Strafverfahrens, würden nicht aus dem Schuldprinzip folgen. „Erst recht folgt aus materiellen Erfordernissen nichts für die Ausgestaltung des Verfahrens, etwa für Beschuldigtenrechte.“ „Die materielle Norm selbst enthält keine Vorgaben dafür, wie die Feststellung ihrer Anwendungsbedingungen erfolgt. Folglich wird die Ausgestaltung eines gerichtlichen Nachweises nicht von der materiellen Norm determiniert.“ Dabei werden die Grundrechte im Verfahren zur Gewährleistung der Zuverlässigkeit der Tatsachenfeststellungen herangezogen.20 Damit beruft er sich auch auf die Argumentation des BVerfG in der Entscheidung vom 19. 3. 2013, wonach das Schuldprinzip nicht nur individualschützender Natur sei, sondern es auch um die Pflicht des Staates zur Erforschung der materiellen Wahrheit gehe:21 „Das im Grundgesetz verankerte Schuldprinzip und die mit ihm verbundene Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit sowie der Grundsatz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens, die Unschuldsvermutung und die Neutralitätspflicht des Gerichts schließen es jedoch aus, die Handhabung der Wahrheitserforschung, die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafzumessung in der Hauptverhandlung, die letztlich mit einem Urteil zur Schuldfrage abschließen soll, zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts zu stellen. Dem Gericht muss es untersagt bleiben, im Wege vertragsähnlicher Vereinbarungen mit den Verfahrensbeteiligten über die Pflicht zur Erforschung der materiellen
19 Damasˇka, 49 Hastings L.J., 305, wobei er dort nicht ausdrücklich das Wahrheitsgebot nur für Verurteilungen eingeschränkt sieht und sich ansonsten auf die Richtigkeit und Genauigkeit bei der Erreichung des fact-finding bezieht („insisting on the attainment of fact-finding accuracy“), S. 306. 20 Stuckenberg, GA 2016, 697, 699. 21 Stuckenberg, GA 2016, 696.
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Kap. 5: Ausgestaltung des adversatorischen Strafprozesses
Wahrheit zu verfügen und sich von dem Gebot schuldangemessenen Strafens zu lösen.“22 So macht Stuckenberg vielmehr die Anforderungen an den Beweis einer Straftat von den Rationalitätskriterien, technischen und finanziellen staatlichen Möglichkeiten der jeweiligen Zeit bzw. in Zusammenhang mit der Abwägung mit anderen Staatsaufgaben abhängig.23 Sie würden sich auch nach dem Stellenwert des Verfahrens im jeweiligen gesellschaftlichen, etwa religiösen Weltbild richten. Damit scheint seine Erklärung des Gebots der Wahrheitserforschung nicht nur auf rein prozesstechnische Maßstäbe zurückzugreifen, sondern auch externe Bezüge wie staatliche Interessen und gesellschaftliche Erwartungen miteinzubeziehen. Klar ist seine Ablehnung der Maßstäbe des materiellen Strafrechts für die Wahrheitsaufklärungspflicht, sowie für die Ausgestaltung des Strafverfahrens und die Bestimmung der Beweisanforderungen.
E. Erwiderung I. Gegen das Argument der fehlenden Unparteilichkeit des Richters Auf den ersten Blick scheint die Einstellung der lateinamerikanischen Literatur verteidigungsfreundlich zu sein, das kontinentaleuropäische System mit dem Einwand der Parteilichkeit des Richters abzulehnen, die Unparteilichkeit beim adversatorischen Modell hervorzuheben und dabei die Parteienherrschaft über das Beweisverfahren zu bevorzugen. Gegen die Bevorzugung des adversatorischen Systems aufgrund der vorgebrachten Parteilichkeit des erkennenden Richters mit Amtsaufklärungspflicht sind aber zwei Argumente in Betracht zu ziehen. Die richterliche Tätigkeit im Rahmen der richterlichen Amtsaufklärungspflicht ist nicht als eine parteiische Aufgabe nur zugunsten des Strafverfolgungsinteressen gedacht, sondern sie soll sich mit dem Ziel der materiellen Wahrheitsfindung auch auf den Schutz des Unschuldigen richten.24 Andererseits kann eine adversatorische Rollenverteilung im Strafprozess zur Schwächung der Verteidigung führen v. a. wenn man die Defizite bei der „Waffengleichheit“ berücksichtigt, die als Grundidee des Parteisystems dient.25 Dazu ergibt sich ein Parodoxon im System Mexikos: Wenn man dem Richter nicht zutraut, objektiv zu ermitteln (weil man ihm vorwirft, die Anklagehypothese zu folgen), dann kann man auch der Staatsanwaltschaft eine objektive Sachverhaltserforschung nicht zutrauen. Damit könnte man nur die Extremvariante des adver22
BVerfGE 133, 168, 227. Stuckenberg, GA 2016, 697. 24 Betont zum Beispiel von Neumann, ZIS 2008, 192. 25 Vgl. dazu supra, Kapitel 2 A. I. 1. a) dd); infra, Kapitel 8 A. III. 3. b) ee), ferner infra, Kapitel 8 C. II. 2. 23
E. Erwiderung
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satorischen Systems annehmen, bei der die Anklage nur einseitig ermittelt, so wie die Richtung des angloamerikanischen Strafverfahrens. Bei diesem Verfahrensmodell ist jede Partei ausschließlich auf ihre eigene Leistung angewiesen. Damit hängen die Möglichkeiten des Angeklagten für die Hervorhebung der entlastenden Aspekte von den technischen und inhaltlichen Fähigkeiten seines Anwalts ab, die in der Regel den polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Verfolgungs- und Ermittlungsmöglichkeiten unterlegen sind. Der Zusammenhang dieser Aspekte zeigt sich näher bei der Betrachtung eines adversatorischen Modells wie im neuen Strafprozesssystem Mexikos.
II. Allgemeines Wahrheitsgebot bzw. umfassende Klärung des Sachverhalts im Strafprozess auch als Ableitung aus dem Schuldprinzip Nach der Wahrheit im Strafprozess nur in belastender Absicht zu suchen, d. h. für eine Verurteilung, ist eine Sicht auf den Strafprozess, die einige Punkte im Hintergrund der Rechtfertigung von richterlichen Entscheidungen außer Acht läßt. Aufgrund des Gewaltmonopols erwarten die Bürger, dass die Wahrheit im Strafprozess ermittelt wird und dass Strafurteile, sei es bei Verurteilung oder Freispruch, einen Wahrheitsanspruch erheben. Den Angeklagten nur freizusprechen, weil die Staatsanwaltschaft nicht in der Lage ist, den Sachverhalt zu ermitteln, entspricht nicht den Erwartungen der Allgemeinheit und würde die Glaubwürdigkeit des Strafsystems in Frage stellen. Die Gerechtigkeit des Ergebnisses eines Strafverfahrens ist nicht nur gegenüber der Staatsanwaltschaft und dem Angeklagten zu begründen. Es besteht ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit, dass ein Urteil auf einer wahren Grundlage basiert.26 Die generalpräventive Wirkung des Strafrechts würde sonst bedenklich geschmälert.27 Die erforderliche Akzeptanz des Urteils durch die Öffentlichkeit wird nun von Stuckenberg nicht dementiert. Vielmehr bekräftigt er sie.28 Das Gebot der Wahrheitserforschung im Strafprozess, das Erfordernis der geeigneten Ausgestaltung des Beweisverfahrens eingeschlossen, ist der Tradition des kontinentaleuropäischen Strafverfahrens geschuldet. Strafprozessexterne Wertmaßstäbe stellen hier an das Strafverfahren, seiner Vorgehensweise und der Methode 26 Ähnliche Argumentation in einem anderen Zusammenhang Weigend, ZStW 113 (2001), 276, 304; Neumann, Wahrheit im Recht, S. 63; Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 184, 188; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 13; Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 506. Zur Legitimierung des Strafverfahrens gegenüber dem Unschuldigen und Ablehnung der Instrumentalisierung, was nicht dasselbe ist wie die Gründe für die Ausgestaltung des Strafverfahrens wie hier ist, aber in der Argumentation Schnittpunkte hat, vgl. Greco, Strafprozesstheorie, S. 312. 27 Bezüglich der Absprachen, aber hier auch anwendbar: Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 191. 28 Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 43, 47, 51 f.; ders., GA 2016, 696, 699.
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Kap. 5: Ausgestaltung des adversatorischen Strafprozesses
des Tatnachweises spezifische Anforderungen. Mit dem innerprozessualen Argument der Parteilichkeit bzw. Befangenheit des mit der vollständigen Aufklärung beauftragten erkennenden Richters und den von der lateinamerikanischen Literatur daraus gezogenen Konsequenzen, sich nur auf wahre Verurteilungen zu konzentrieren, vernachlässigt man indes den materiellrechtlichen Bezug des Prozesses.
F. Weitere Begründungen in Lateinamerika für eine adversatorische Struktur: das ultima-ratio-Prinzip Die neuen adversatorischen Strömungen in der lateinamerikanischen Reform werden von zahlreichen Abhandlungen seines bedeutendsten Impulsgebers begleitet. So leitet Binder aus der Idee der friedenstiftenden Funktion des Prozesses und der Konfliktlösung durch das Strafverfahren ab, dass ein Parteisystem durch die Kontradiktion diese Ziele besser erreichen könne. Das Strafverfahren sei ein Mechanismus, einen intersubjektiven Konflikt aufzulösen.29 Diese Bestimmung der Funktion des Strafprozesses wird wiederum aus dem Gedanken der Strafgewalt als ultima-ratio-Prinzip abgeleitet, wodurch sich Binder von den traditionellen Zwecken des Strafprozesses entfernen möchte, „der nun nicht nur als ein Erkenntnisprozess betrachtet wird (auch wenn man es nicht vermeiden kann, sofern es um eine Verurteilung geht), sondern auch als ein Aussöhnungsverfahren, bei dem die Türen zu der Wiedergutmachung als wirkliche Lösung des Konfliktes geöffnet werden.“30 Aufgabe des Verfahrens sei es, nicht nur zu einer adäquaten Erkenntnis zu gelangen, sondern auch Bestrafung in Zusammenhang mit dem ultima-ratio-Prinzip zu vermeiden bzw. diese zu minimieren.31 Mit dieser Begründung wird allerdings trotz des 29
Binder, Derecho Procesal Penal II, S. 549: „el proceso es … un mecanismo para resolver un conflicto intersubjetivo, es decir, se reconoce la base social, de su carácter eminentemente conflictivo y necesitado de respuesta. En nuestra terminología, el proceso es uno de los tantos instrumentos que utiliza el Estado y la sociedad para la gestión de la conflictividad.“; ders., Derecho Procesal Penal I, S. 273: „el delito es un conflicto entre partes, grupos, sectores; conflicto que reclama una intervención del Estado para evitar que la violencia y el abuso de poder se extiendan“; ferner ders., Ideas y materiales, S. 177. 30 Binder, Ideas y materiales, S. 130: „Se debe construir un proceso penal fuertemente orientado hacia la solución del conflicto. Ello es un imperativo que surge del principio del poder penal como ultima ratio y modifica los fines tradicionales del proceso penal, que no puede ser pensado únicamente como un proceso de cognición (aunque en tanto impone una condena no puede dejar de serlo), sino como un método de pacificación, abriendo sus puertas a la reparación integral como verdadera ,solución del conflicto‘“, über die friedensstiftende Funktion vgl. ferner S. 114. 31 Binder, Ideas y materiales, S. 115 f., 138: „Si el poder penal debe ser utilizado como último recurso, entonces será misión del proceso penal no sólo generar las condiciones cognitivas (en cuanto valor ,de verdad‘) que habilitan una sentencia y resguardar los límites y garantías (finalidad tradicional), sino que también será su misión evitar el castigo en tanto sea evitable o minimizarlo en tanto sea posible (finalidad reductora, pacificadora o conciliatoria del proceso penal).“
F. Weitere Begründungen in Lateinamerika für eine adversatorische Struktur
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humanitären Mantels einer Selektivität des Strafprozesses das Wort geredet. Es werden die Schadenswiedergutmachung, die Abkürzung des Verfahrens (procedimiento abreviado) und Opportunitätskriterien bevorzugt.32 Dabei verblasst der Impuls bei Binder, die unmittelbare, mündliche und öffentliche Hauptverhandlung zu stärken. In diesem Zusammenhang wird eine starke Beteiligung des Opfers als Partei im Strafprozess vorgeschlagen und dabei das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft als „inquisitorisch“ bezeichnet. Zugleich wird von ihm das System acusatorio formal (mit der Staatsanwaltschaft nur als Anklageorgan, aber nicht als Partei) als Erbe des napoleonischen Codes kritisiert. Das wird für die Anforderungen des Akkusationsprinzips als unzureichend betrachtet.33 Die Ersetzung der Rolle des Opfers durch staatliche Organe wird von ihm als eine unglückliche politische Maßnahme eines inquisitorisch orientierten Strafprozesses bezeichnet. Stattdessen bevorzugt er eine aktive Mitwirkung der realen Protagonisten, die eine adversariale Struktur anbietet.34 Die von Binder aus dem ultima-ratio-Prinzip abgeleitete adversatorische Struktur des Strafverfahrens, das auf eine Konfliktlösung und auf die Vermeidung bzw. Minimierung einer Bestrafung orientiert werden sollte, kann man berechtigerweise als eine rein prozessual begründete Maßstabsetzung für die Gerechtigkeit der richterlichen Entscheidung einstufen. Die materielle Frage nach der Schuld wird durch den im adversatorischen Prozess erreichten Konsens der Beteiligten ersetzt, wobei nun der Wettkampf aus einer für den Angeklagten eher entlastenden Perspektive zu lösen versucht wird. Die Rechtfertigung des Strafurteils beruht damit auf der Beachtung verfahrenstechnischer Maßstäbe. Auch die Auswahl der Verfahrensform beruht grundsätzlich auf innerprozessualen Faktoren. So wird das Parteisystem bevorzugt, weil das Strafsystem auf die Lösung des Konflikts zwischen zwei Betroffenen gerichtet sei. Grobe Einschränkungen der Wahrheitssuche werden in Richtung Vermeidung bzw. Minimierung einer Bestrafung in diesem Konzept angenommen und eine genaue Sachverhaltserforschung spielt eine Rolle nur im Fall einer Verurteilung. Mit seinem Bezug auf das ultima-ratio-Prinzip, das von ihm als Einschränkung für das Strafverfahren interpretiert wird, entfernt sich Binder vom herkömmlichen Verständnis des Prinzips als materiellrechtliches Kriterium für die Ausgestaltung, Auslegung und Anwendung des materiellen Strafrechts. Selbst wenn man Rechtsgüter im Einzelnen dementieren sollte, ändert sich an der Idee der ultima-ratioFunktion des Strafrechts bzw. des Subsidiaritätsprinzips nichts. Sie findet ihre Anwendung prinzipiell bei der Entscheidung des Gesetzgebers, der den Inhalt und Umfang der Strafrechtsnormen gestaltet bzw. die strafwürdigen Verhaltensweisen 32 33 34
Zum Beispiel in: Ideas y materiales, S. 139; ders., Política criminal, S. 152, 228 f. Binder, Ideas y materiales, S. 130. Binder, Ideas y materiales, S. 137.
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Kap. 5: Ausgestaltung des adversatorischen Strafprozesses
durch das materielle Strafrecht festlegt.35 Dabei geht es um Beschränkungen des Einsatzes des Strafrechts auf unerträgliche Verhaltensweisen bzw. auf besonders gravierende Eingriffe für den Bürger. Die erforderliche Zurückhaltung beim staatlichen Einschreiten bezieht sich auf das Mittel des Strafrechts. Kürzungen des Strafbaren erst im Strafverfahren können ggf. nur ausnahmsweise bei weniger gravierenden Rechtsgüterbeeinträchtigungen erfolgen36 und diese Entscheidung wird nicht den Betroffenen, sondern den staatlichen Organen im Verfahren überlassen. Schließlich ist gegenüber der von ihm aus der Idee der Konfliktschlichtung abgeleiteten starken Beteiligung des Opfers als Partei einzuwenden, dass diese Maßnahme die bereits bestehenden realen Defizite der Waffengleichheit, die als Grundgedanke des Parteiprozesses dient, durch die Stärkung der Anklageseite gravierend verstärkt.37
35 Über das ultima-ratio-Prinzip vgl. zum Beispiel NK-StGB-Hassemer/Neumann, Vor § 1 Rn. 72; Roxin/Greco, StrafR AT I, § 2 Rn. 97 ff.; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht AT, § 2 Rn. 18; gegen die Ableitung von Binder auch Schünemann, Festschrift für Fezer, S. 561 f. 36 So zum Beispiel Roxin/Greco, StrafR AT I, § 2 Rn. 100. 37 Zu den Vorbehalten der sog. Waffengleichheit vgl. die Verweise supra, Fn. 25. Kritisch ist die starke Beteiligung des Opfers beim neuen Bundsstrafprozessgesetz Argentiniens (Código Procesal Penal Federal, Ley 27.063 von 4. 12. 2014, geändert durch Ley 27.482 von 6. 12. 2018, bis jetzt nur in zwei Provinzen verbindlich eingeführt).
Kapitel 6
Die strafprozessualen Wurzeln in Lateinamerika auf Grundlage des kontinentaleuropäischen Modells A. Einleitung Die Hinwendung der lateinamerikanischen Diskussion zum US-amerikanischen Modell einer adversatorischen Fassade ist vor der Realität des plea bargaining umso überraschender, als die lateinamerikanische Verfahrensreform zunächst sehr starke kontinentaleuropäische Wurzeln besaß. Bevor die Tendenzen zur Herabstufung bzw. faktischen Abschaffung der (inquisitorischen) Hauptverhandlung in Lateinamerika in den letzten gut zwei Jahrzehnten ihre Kraft entfalteten, fand in Argentinien eine intensive Beschäftigung des Schrifttums und der Gesetzgebung mit der Einführung der mündlichen, unmittelbaren und öffentlichen Hauptverhandlung als Entscheidungszentrum des Verfahrens und ihrer Eignung für die Erforschung der materiellen Wahrheit im Rahmen eines Systems der richterzentrierten Sachaufklärung statt. Wenn man auf den Ursprung des Strafverfahrens in Lateinamerika zurückblickt, sind kontinentaleuropäische Ursprünge und die Übernahme der Grundidee zu erkennen, dass die Verhängung einer Strafe nur in Folge der im Strafprozess nachgewiesenen Täterschuld passieren kann. Dieses ursprünglich durch spanische Einflüsse eingeführte Konzept eines Strafverfahrens mit staatlichem Strafverfolgungsanspruch war inquisitorisch. Die Abschaffung des Inquisitionsprozesses begann in der argentinischen Provinz Córdoba im Jahr 1939. Dort herrschte eine vertiefte Kenntnis über die modernen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen und dadurch entwickelte sich ein Strafprozesssystem, das auf dem Grundsatz der Ermittlung der materiellen Wahrheit beruhte und mit diesem Schwerpunkt Grundlage des ersten Reformimpulses in Lateinamerika war.1
1
Unter den zahlreichen früheren Schriften, die einen allgemeinen Überblick über die Strafprozessreform in Lateinamerika geben, natürlich mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen vgl. Ambos, ZStW 110 (1998), 225 ff., erweiterte Fassung in: Ahrens/Nolte (Hrsg.), Rechtsreformen und Demokratieentwicklung in Lateinamerika, S. 175 ff.; Schöne, in: Ahrens/ Nolte (Hrsg.), a. a. O., S. 301 ff.; Maier/Ambos/Woischnik (coord.), Las Reformas Procesales en América Latina; Ambos/Woischnik, ZStW 113 (2001), 334 ff.; Binder/Obando, De las repúblicas aéreas; Riego, Informe comparativo (CEJA); Rico, Justicia penal y transición democrática; Langer, Revolución en el proceso penal latinoamericano, u. a.
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Kap. 6: Die strafprozessualen Wurzeln in Lateinamerika
B. Das spanische Inquisitionsverfahren in den Kolonien Mit der Eroberung der bereits entdeckten amerikanischen Gebiete, der sog. Indias, durch die kastilische Krone wurde das Recht des Königreichs Spaniens Anfang des 16. Jahrhunderts auf die neuen Kolonien übertragen. Die Eroberungen Süd- und Mittelamerikas durch die Spanier gingen mit einer Zerstörung der dortigen Kulturen und auch im Falle Argentiniens sogar mit der Ermordung von Teilen der Bevölkerung einher. Die bestehenden indianischen Rechtsbräuche wurden nur rudimentär in das nunmehr geltende Recht übernommen. Sie waren ohnehin mit dem neuen, den Inquisitionsprozess charakterisierenden Konzept der Verstaatlichung der Strafverfolgung unvereinbar.2 Durch die Kodifikation Recopilación de Indias von 1680 wurde geregelt, in welchem Verhältnis die verschiedenen Gesetze zueinander standen und in welcher Reihenfolge diese zur Anwendung kamen. Einerseits existierte das sog. indianische Recht, die „Leyes de Indias“, eine eher kasuistische und dezentralisierte große Gesetzessammlung. Anders als ihre Bezeichnung vermuten lässt, war dieses Recht nicht von den Ureinwohnern, sondern vom sog. Heimatland Spanien bzw. von der Krone und ihren Regierungsabgeordneten speziell für die neuen Territorien konzipiert worden.3 Zur Verfügung stand ferner die kastilische Gesetzgebung bzw. der Ordenamiento de Alcalá (1348), dann die Leyes de Toro (1505) und die Fueros. Subsidiär bzw. für den Fall von Regelungslücken war ein Rückgriff auf den Libro de las Leyes, bekannt als Las Partidas oder Las Siete Partidas (Die „Sieben Rechtsbücher“) vorgesehen. Die Partidas wurden von Alfonso X „El sabio“ im Jahr 1265 verfasst und erlangten erst ab dem Jahr 1348 Geltung. In der Praxis setzte sich das in den Partidas vorgesehene gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren in den spanischsprachigen Gebieten der „neuen Welt“ durch. Das in den Fueros geregelte privatakkusatorische Strafverfahren fand keine Anwendung. Im Übrigen waren die entsprechenden neuen Gerichte direkt dem spanischen König untergeordnet, der nach Las Partidas „an stelle von Gott für die Justiz“ zuständig war.4 Die Herrschaft der spanischen Krone über die eroberten Regionen wurde moralisch und rechtlich mithilfe der Grundsätze des Christentums gerechtfertigt.5 Die Kirche sicherte dadurch ihren starken Einfluss bei der Ausgestaltung und Anwendung der Gesetze. Die Verbindung zwischen Staat und Kirche war demzufolge besonders eng und die Grundsätze des kanonischen Rechts erlangten ein besonderes Gewicht. Auf diese Weise kam das spanische inquisitorische Strafverfahren in den Kolonien zum Einsatz, und zwar mit einer ähnlichen Struktur und vergleichbaren Ei2
Unter der zahlreichen Literatur vgl. Tomas y Valiente, Manual de Historia del Derecho Español, S. 333. 3 Dazu Tomas y Valiente, Manual de Historia del Derecho Español, S. 325 ff., 337 ff. 4 Partida II, Título I: Que fabla, Ley I, S. 3; ferner Partida I, Título I: Que fabla, insbes. Ley XVI; Partida II, Título I: Que fabla, Ley I, S. 3. 5 Tomas y Valiente, Manual de Historia del Derecho Español, S. 325 ff.
B. Das spanische Inquisitionsverfahren in den Kolonien
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genschaften wie der sog. inquisitorische Prozess in Europa. Das Verfahren fand schriftlich und geheim statt, wurde in der Ermittlungsphase und im Hauptverfahren von demselben Richter geführt, der über eine starke Machtstellung verfügte und eine Verurteilung ohne Geltung der Unschuldsvermutung anstrebte. Wie im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess wurde gefoltert6 und der Beschuldigte besaß im Übrigen eine schwache Stellung als Objekt des gegen ihn eingeleiteten schriftlichen Strafverfahrens. Auch wenn ein Hauptverfahren in einigen Ländern vorgesehen war, war es unbedeutend, weil schriftlich, nicht unmittelbar, nicht konzentriert und ohne Verteidigungsmöglichkeiten.7 In Lateinamerika kam also bis Mitte der 90er Jahren des letzten Jahrhunderts – in einigen Ländern dabei sogar noch länger – ein altes Inquisitionsverfahren zur Anwendung. Im Einklang mit der römisch-kanonischen Tradition strebte man in Lateinamerika wie im kontinentaleuropäischen Rechtskreis nach einer wirklichkeitsbezogenen Wahrheit. So stand in den Partidas, dass die Beweisaufnahme das Ziel hätte, eine „zweifelhafte Tatsache“ zu erforschen.8 Die Einlassung des Angeklagten und die Aussagen der Zeugen ersetzten die Methoden des privaten Akkusationsverfahrens9 und waren auf die Suche nach der historischen Wahrheit ausgerichtet, auch wenn Folter angewendet wurde und dadurch die Annäherung an diese Wahrheit von vornherein prädestiniert war für Verzerrungen. Die Bewertung der Beweise richtete sich nach festen Beweisregeln. Nachdem die früheren Strafprozesssyteme des römischen und germanischen Rechts dem Richter eine freie Beweiswürdigung ermöglichten, bezweckten die Partidas und auch die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 – die zwei zu dieser Zeit bedeutendsten Kodifikationen – die uferlose Weite des richterlichen Ermessens durch vorgegebene Beweisregeln einzuschränken.10 Die Partidas bestimmten die Anzahl an Zeugen, die für eine Verurteilung vernommen werden mussten,11 sie schlossen jedoch eine freie Beweiswürdigung in vielen Punkten nicht aus. In der Praxis wurden mehrheitlich nur die gesetzlich normierten Beweisregeln angewendet, ohne dass die persönliche Überzeugung des Richters eine Relevanz für das Urteil erlangte.12 Als die lateinamerikanischen Länder zwischen den Jahren 1810 und 1830 von Spanien unabhängig wurden, keimte die Frage nach einer neuen – auch strafpro6
Sie war in den Partidas vorgesehen, Partida VII, Título XXX: De los tormentos, Leyes I ff. Vgl. auch Clariá Olmedo, Derecho Procesal Penal I, Nr. 101, S. 126; Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 D 8, S. 333 und zur Abschaffung § 6 G 3, S. 675 ff. 7 Clariá Olmedo, Derecho Procesal Penal I, Nr. 101, S. 126. 8 Partida III, Título XIV: De las pruebas e de las sospechas que los omes aduzen sobre las cosas negadas e dubdosas, Ley I. Auch wenn es an dieser Stelle um den Zivilprozess geht, ist das der Grundgedanke im Prozess der damaligen Zeit. 9 Vgl. Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 D 4 a, S. 301. 10 Vgl supra, Kapitel 1 A. V. 3. b) und Kapitel 2 A. I. 4. mit Nachweisen. 11 Partida III, Título XVI: De los testigos, Ley XXXII, dazu Nieva Fenoll, La valoración de la prueba, S. 57 ff. 12 Vgl. Nieva Fenoll, La valoración de la prueba, S. 59, 88 f. mit Nachweisen.
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Kap. 6: Die strafprozessualen Wurzeln in Lateinamerika
zessualen – Gesetzgebung auf. Als bekanntes Strafverfahrensmodell stand einerseits das bereits praktizierte spanische inquisitorische Verfahren zur Verfügung. Andererseits spürte Europa die Ideen der Aufklärung, und im Strafprozessrecht entwickelten sich nach der französischen Revolution neue Konzepte, was zur Umwandlung des inquisitorischen Modells der Ordonnance criminelle von 1670 in das „gemischte“ Strafprozessmodell des Code d’instruction criminelle von Napoleon von 1808 führte. Das neue französische Verfahrensmodell verbreitete sich innerhalb Europas, so z. B. nach Österreich mit der Strafprozessordnung von 1873, nach Spanien mit der Ley de enjuiciamiento criminal von 1882, nach Norwegen mit der Strafprozessordnung von 1887 und nach Italien mit dem Codice von 1913. In Deutschland wurde es, wie bereits oben im Kapitel 1 angeführt, als „reformierter deutscher Strafprozess“ zuerst als Partikularrecht rezipiert und bereits im Jahr 1877 in die Strafprozessordnung eingeführt. Das neue gemischte Modell enthielt nach wie vor eine Ermittlungsphase in ihrer schriftlichen und geheimen Form mit den sehr eingeschränkten Beschuldigtenrechten,13 gleichzeitig wurde jedoch eine mündliche, unmittelbare und öffentliche Hauptverhandlungsphase eingeführt und die Subjektstellung des Beschuldigten anerkannt. Diese Reformströmung war in Lateinamerika bekannt, und es wurden einige kleine Änderungen und Vorschläge in diese Richtung gemacht.14 Was das Verfassungsrecht betrifft, wurden die spanischen Kolonien von den Grundgesetzen der britischen Kolonien in Nordamerika nach ihrer Unabhängigkeit Ende des 18. Jahrhunderts beeinflusst. Vor diesem Hintergrund wurden in den spanischen Kolonien nach deren jeweiliger Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert auch liberale Bundesverfassungen erlassen.15 In diesem Rahmen entstand zum Beispiel die liberale argentinische Bundesverfassung von 1853. Die Modernisierung des Strafprozessrechts geschah aber nicht mit derselben Entschlossenheit wie die des Verfassungsrechts. Unter den Reformvorhaben für eine Abschaffung des Inquisitionsverfahrens kann man den Entwurf für ein Bundesstrafprozessgesetz und einen Entwurf für die Etablierung eines Geschworenengerichts für Bundessachen im Jahr 1873 für Argentinien nennen (die sog. Entwürfe „González/de la Plaza“), die auf der Grundlage des amerikanischen adversatorischen Strafprozesssytems verfasst wurden.16 Die dort vorgesehene grundlegende Veränderung des Strafverfahrens schien aber zu radikal für die dortige Rechtstradition zu sein und die zwei Entwürfe wurden vom Parlament nicht behandelt. Die frisch unabhängigen lateinamerikanischen Länder nutzten die Gunst der Stunde nicht, um das inquisitorische Strafverfahren abzuschaffen und ein moder13
Vgl. Rieß, Festschrift Reichsjustizamt, S. 373 ff.; ders., ZIS 2009, 474. Vgl. dazu für Argentinien Vélez Mariconde, Derecho procesal penal I, S. 174 ff.; Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 1 bis 4, S. 391 ff. 15 Vgl. dazu Struensee/Maier, in: Maier/Ambos/Woischnik (Hrsg.), Las Reformas Procesales Penales en América Latina, S. 22. 16 Vgl. Vélez Mariconde, Derecho procesal penal I, S. 193 f., ferner Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 4 III, S. 403 ff. 14
B. Das spanische Inquisitionsverfahren in den Kolonien
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nisiertes Prozessmodell nach der neuen kontinental-europäischen Art zu etablieren, sondern blieben beim Muster des spanischen alten inquisitorischen Verfahrens.17 So erließen Argentinien im Jahr 1888 („Código Obarrio“), Peru im Jahr 1862, Guatemala in den Jahre 1877 und 1898, Paraguay im Jahr 1890 und Chile im Jahr 1906 neue Bundesstrafprozessgesetze.18 Der Strafprozess bestand aus der geheimen und schriftlichen Ermittlungsphase (sumario oder instrucción) sowie aus der schriftlichen Hauptverfahrensphase (plenario oder juicio), obwohl diese oft nur als mündlicher Verfahrensteil in den Gesetzen vorgesehen war. Den Schwerpunkt des Gesamtverfahrens bildete die Ermittlungsakte, die der Untersuchungsrichter (juez de instrucción) und die Polizei erstellten. Dort wurden die prozessualen Akte und Beweise dokumentiert, die der Richter beim Urteil bewertete. Wie beim europäischen inquisitorischen Verfahren wurden dem Beschuldigten kaum Rechte gewährt. Beim Hauptverfahren war die Stellung des Beschuldigten besser, da je nach Rechtsordnung ein Recht auf Akteneinsicht, ein Beweisantragsrecht bzw. eine staatsanwaltschaftliche Anklage vorgesehen waren.19 Auch wenn eine mündliche Hauptverhandlung in einigen Ländern Bestandteil des Verfahrens war, handelte es sich bei dem erkennenden oft um denselben Richter wie im Ermittlungsverfahren. Aus diesem Grund wurde die nochmalige Durchführung der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung für entbehrlich gehalten.20 Die Mehrheit der lateinamerikanischen Länder behielt ihre ursprünglichen Strafprozessgesetze aus dem 19. Jahrhundert bis in die 90er Jahren des 20. Jahrhunderts bei, so beispielsweise Paraguay, Nicaragua und Honduras. In einigen Ländern erfolgten Reformen in Richtung einer Modernisierung, allerdings waren sie nicht erfolgreich. So wurden ganz neue Strafprozessgesetze in Kolumbien und Costa Rica 1938 und 1941 erlassen, die allerdings die alten, inquisitorischen Strukturen nicht veränderten. Peru und Venezuela erließen ferner neue Strafprozessgesetze mit 17
Vgl. z. B. Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 1 bis 4, S. 391 ff.; Duce, El Ministerio Público en la reforma, S. 67. Teilweise wird es als Grund der Beibehaltung des spanischen inquisitorischen Strafprozessmodells bezüglich Argentinien angegeben, dass die neue Regierung mit der Sicherung der erreichten Unabhängigkeit zu beschäftigt war und dass die Juristen nach dem alten Modell bereits ausgebildet waren und damit an dessen Anwendung gewöhnt waren (so Woischnik, S. 29 für Argentinien, mit Nachweisen der argentinischen Literatur). Die „Situation der politischen Instabilität“ sollte auch eine wesentliche Rolle bei der Verspätung im Kodifikationsprozess gespielt haben, so Duce/Riego, Proceso Penal, Fn. 23. Ferner wird angegeben, dass die Eliten in Lateinamerika die Bevölkerung als unvorbereitet für ein Strafverfahren mit mündlicher Hauptverhandlung gehalten hätten (so Langer, Revolución, S. 14 für Lateinamerika insgesamt, mit Nachweisen). Die Kodifikation des Strafprozesses in Vergleich zu weiteren Rechtsgebieten wie das Zivil- und Handelsrecht fand an sich spät in Lateinamerika statt, vgl. dazu Duce/Riego, Proceso penal, Kap. I. 18 Vgl. dazu Langer, Revolución en el proceso penal latinoamericano, S. 16 mit Nachweis. 19 Siehe Struensee/Maier, in: Maier/Ambos/Woischnik (Hrsg.), Las Reformas Procesales Penales en América Latina, S. 18 ff.; Langer, Revolución en el proceso penal latinoamericano, S. 14 ff.; vgl. ferner für Argentinien anschließend den Código Obarrio. 20 Vgl. Clariá Olmedo, Derecho Procesal Penal I, Nr. 104, S. 130; Ambos/Woischnik, ZStW 113 (2001), 351.
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Kap. 6: Die strafprozessualen Wurzeln in Lateinamerika
Ansätzen für die Etablierung einer mündlichen Hauptverhandlung in den Jahren 1940 und 1962, die aber in der Praxis nicht zustande kamen. Im Übrigen fanden die Beispiele von Brasilien (1941) und Panama (1986) keine Verbreitung.21 Vorreiter des Wandels war das Strafprozessgesetzbuch der argentinischen Provinz Córdoba, welches bereits aus dem Jahr 1939 stammte. In der Provinz Córdoba sowie später im gesamten restlichen Land entwickelten sich sowohl in der Wissenschaft als auch in der Gesetzgebung die ersten Reformimpulse, weshalb es sinnvoll erscheint, zunächst einen Überblick über diese Vorgänge zu verschaffen.
C. Der Reformursprung in Argentinien I. Ein Inquisitionsprozess bis 1992 Mit der Erstellung eines Entwurfs eines neuen argentinischen Bundesstrafprozessgesetzes für Bundessachen wurde Manuel Obarrio am 6. 3. 1882 beauftragt.22 Auch wenn ein großer Teil der Strafprozesse unter dem Einflussbereich dieses Bundesgesetzes durchgeführt werden sollte, handelt es sich dabei nicht um ein einheitliches Verfahren für das ganze Land. In Argentinien liegt die Gesetzgebungskompetenz für die Strafprozessgesetze grundsätzlich bei den Provinzen, und es gibt demzufolge ein eigenes Strafprozessgesetz für jede Provinz. Nach Art. 121 der argentinischen Verfassung (Constitución Nacional, CN) steht den Provinzen alle Staatsgewalt zu, die nicht ausdrücklich dem Bund durch die Verfassung zugewiesen wurde. In Art. 75 Nr. 12 weist die Verfassung dem Bund den Erlass des materiellen Strafrechts, aber nicht des Strafprozessrechts zu. Nur für Bundessachen (federal) und je nach Begehungsort ist der Bund für das Strafprozessrecht zuständig. Was in der Bundeskompetenz liegt, findet man heutzutage im Art. 33 des CPPN aus dem Jahr 1992 geregelt. Genauso wie in vielen anderen Ländern Lateinamerikas23 nutzte auch Obarrio diesen Reformauftrag nicht, um das inquisitorische Modell abzuschaffen und ein modernisiertes Strafverfahren einzuführen, sondern blieb beim inquisitorischen Prozess. Er hätte sich den Reformen der europäischen Strafprozessordnungen anschließen und damit einen großen Schritt in die modernisierende Richtung machen können, z. B., indem er sich von der neuen spanischen Strafprozessordnung bzw. der Ley de enjuiciamiento criminal vom 14. 9. 1882 hätte beeinflussen lassen, die ein neues „gemischtes“ kontinentaleuropäisches Strafverfahren in Abkehr vom inqui21 Dazu Langer, Revolución en el proceso penal latinoamericano, S. 19; Duce/Riego, Proceso Penal, Kap. II, I 3. 22 Zu diesem Strafprozessgesetz vgl. am besten die Motiven von Obarrio, in: Código de Procedimientos en materia penal, S. 9 ff.; ferner Vélez Mariconde, Derecho procesal penal I, S. 194 ff.; Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 5, S. 405 ff.; Levene (h.), Revista La Ley 1987-A, S. 1009 ff. 23 Vgl. auch das Beispiel Chile infra, Kapitel 7 B. II.
C. Der Reformursprung in Argentinien
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sitorischen Modell vorsah. Stattdessen nahm er sich das alte spanische inquisitorische Modell zum Vorbild, das zuletzt in der spanischen Compilación von 1879 geregelt war.24 Obarrio präsentierte den fertigen Entwurf am 15. 7. 1882 bereits einige Monate nach Erhalt des Auftrages. Dieser Entwurf eines argentinischen Bundesstrafprozessgesetzes wurde im Gesetzgebungsverfahren mit anderen verglichen25 und schließlich mit einigen Änderungen als Código de procedimientos en materia penal („CPCrim. Nacional“) am 4. 10. 1888 als Gesetz 2372 verabschiedet und am 17. 10. 1888 verkündet. Das Gesetz trat am 1. 1. 1889 in Kraft. Bis vor knapp drei Jahrzehnten, nämlich bis zum 4. 9. 1992, war das Strafverfahren für die Bundesjustiz damit rein inquisitorischer Natur. Mit Recht sah sich der CPP von 1889 der Kritik des argentinischen Strafprozessrechtlers Vélez Mariconde ausgesetzt, dass er „bereits bei seinem Erlass alt und abgelaufen“ sei („nació viejo y caduco“).26 Für das Bundesrecht lagen das Ermittlungsverfahren (sumario o instrucción), aber auch das Hauptverfahren (plenario) und das Urteil in den Händen eines einzigen Richters (Art. 195),27 der fast uneingeschränkte Befugnisse besaß.28 Beide Verfahrensphasen waren von Schriftlichkeit gekennzeichnet, was dazu führte, dass viele gerichtliche Aufgaben an die Justizangestellten bzw. an die Polizei delegiert wurden. Das Ministerio Público hatte nur eine untergeordente Rolle inne, insbesondere, da das Ermittlungsverfahren vom Richter geführt wurde. Zugleich konnte das Ermittlungsverfahren vom Richter von Amts wegen per inquisitionem (Art. 155 Abs. 1, Nr. 1), ohne die Initiative des Ministerio Público, eingeleitet werden. Dessen Aufgabe reduzierte sich also praktisch auf die Erhebung der Anklage. Was die Relevanz des Vorverfahrens im gesamten Strafverfahren betrifft, entsprach der Código Obarrio dem üblichen Charakter eines Inquisitionsprozesses. So war das Ermittlungsverfahren für die Schuld- oder Unschuldsbestimmung ausschlaggebend. Die vom Richter durchgeführten Beweiserhebungen in dieser Verfahrensphase besaßen einen endgültigen Charakter, weil sie die Grundlage für die spätere Verurteilung oder
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Vgl. dazu Vélez Mariconde, Derecho procesal penal I, S. 196, 151 ff.; Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 5 II, S. 406 f. 25 Vgl. dazu Vélez Mariconde, Derecho procesal penal I, S. 195 mit Fn. 70. 26 Vélez Mariconde, Derecho procesal penal I, S. 197; auch Vélez Mariconde/Soler, Proyecto de código de procedimiento penal, Exposición de Motivos, S. IX. 27 Für die Angelegenheiten der Hauptstadt Buenos Aires sah Obarrio einen Untersuchungsrichter und getrennt davon einen Richter für den plenario und Urteil vor. Auch wenn er diese Trennung der Funktionen sinnvoller fand, entschied er sich aus Kostengründen für die Übernahme aller Aufgaben von einem Richter für die Bundessachen, vgl. dazu Obarrio, in: Código de Procedimientos en materia penal, a. a. O., S. 15. 28 Für die Beschreibung dieses Código vgl. neben den Fundstellen supra, Fn. 22, auch z. B. Vélez Mariconde/Soler, Proyecto de código de procedimiento penal, Exposición de Motivos, S. X ff.; Maier, Revista de Estudios Procesales, Nr. 9, 1971, S. 78 f.; ders., Derecho Procesal Penal I, § 5 G 5 III, S. 408 ff.; Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 39 ff.; Guariglia/Bertoni, in: Maier/Ambos/Woischnik, Las Reformas Procesales Penales en América Latina, S. 50 ff.
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Kap. 6: Die strafprozessualen Wurzeln in Lateinamerika
einen Freispruch darstellten.29 Die Folter als Mittel zum Erlangen eines Geständnisses war untersagt (Art. 316, Abs. 1, Nr. 3). Allerdings diente die Einlassung des Angeklagten nicht dessen Entlastung, sondern lediglich dem Sammeln belastender Informationen. Deshalb pflegte man sogar, die Belehrung erst nach dem Abschluss der Vernehmung durchzuführen. Der Beschuldigte wurde nur scheinbar als Subjekt des Strafverfahrens behandelt, weil er kaum Mitwirkungsrechte besaß und die Ermittlungsakte für ihn geheim war (Art. 180). Diese Situation war für ihn umso gravierender, weil die Beweise des Vorverfahrens, bei deren Erhebung der Verteidiger nicht mitwirken durfte, das Urteil im Ergebnis begründeten. Die Hauptkritik am Código Obarrio bezog sich deshalb nicht unmittelbar auf die fehlende Mündlichkeit des Verfahrens, sondern insbesondere auf die Hervorhebung des Ermittlungsverfahrens als entscheidende Verfahrensphase mit der Einbeziehung der gesamten prozessualen Aktivität ohne Kontradiktion, anstatt richtigerweise als Vorbereitungsphase und zur Verdachtsklärung zu fungieren. In diesem Rahmen besaß die Hauptphase des plenario kaum Relevanz und war nur auf die Plädoyers der Staatsanwaltschaft und Verteidigung reduziert.30 Sie bestand nur in einer bloßen Diskussion über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten lediglich auf der Grundlage der Ermittlungsakte. Darüber hinaus bestand noch das System der gesetzlichen Beweisregeln (z. B. Art. 306), nicht der freien Beweiswürdigung. Weitere Unzulänglichkeiten ergaben sich im Verlauf des Vorverfahrens, indem ein Kontaktverbot für den Angeklagten von langer Dauer verhängt wurde, welches auch Gespräche mit dem Strafverteidiger ausschloss (Art. 256 f.). Besonders belastend für den Angeklagten war ferner die lange Untersuchungshaft, die im Regelfall, auch bei Kleinkriminalität, angeordnet wurde (Art. 366). Im Laufe des 20. Jahrhunderts brachten die lateinamerikanischen Länder, die das inquisitorische Modell weitergeführt hatten, nach und nach wesentliche Änderungen auf den Weg. In Argentinien wurden mehrere liberale, strafprozessuale Regelungen in den Jahren 1811, 1812, 1819, 1826 und v. a. durch die Verfassung von 1953 eingeführt. Der argentinische Gesetzgeber behielt allerdings im Bundesstrafverfahren das inquisitorische Modell des Código Obarrio für über ein Jahrhundert bei, nämlich bis zur Reform von 1992, mit der es dann abgeschafft wurde. Zwischen den im Gesetzgebungsprozess zur Auswahl stehenden Entwürfen von Levene und von Maier entschied sich der Bundesgesetzgeber für den erstgenannten. Die Standpunkte des auf älteren strafprozessualen Strukturen basierenden Proyecto Levene wurden von den akademischen Stimmen in Buenos Aires dahingehend kritisiert, dass die dort vertretenen Ansichten zum Strafverfahren rückschrittlich waren, während sich der Strafprozess in Europa schon weiterentwickelt habe. Der Proyecto Levene beruhte nämlich auf dem alten Código der Provinz Córdoba von 1939, der zwar Vorreiter im Sinne der Einführung einer mündlichen, unmittelbaren und öffentlichen Hauptver29
Aus den zahlreichen späteren kritischen Schriften vgl. zum Beispiel Maier, Revista de Estudios Procesales, Nr. 9, 1971, S. 78 f. 30 Unter den kritischen Stimmen vgl. Vélez Mariconde, Revista de Derecho Procesal IX, Nr. 3, 4 (1951), S. 330 f., später Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 5 III, S. 410.
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handlung und der Abschaffung des alten Inquisitionsprozesses war, aber noch eine ältere Verfahrenskonzeption enthielt. Denn Grundlage war der italienische Codice von 1913, auch wenn die spanische, französische und deutsche Gesetzgebung mit eingeflossen waren. Deshalb sprach man davon, dass der sog. Código Levene auch „viejo y caduco“ entstand.31 Bevor hier auf die Einzelheiten der zwei Entwürfe eingegangen wird, sind wesentliche Vorgänge zu schildern, die sich bis zu diesem Zeitpunkt entwickelten.
II. Die Entstehung des reformierten Inquisitionsverfahrens nach dem kontinentaleuropäischen Modell 1. Das Strafprozessgesetz der Provinz Córdoba von 1939 a) Bedeutung und Ursprung Der Impuls für die große Wende in Lateinamerika ist auf das Strafprozessgesetz der argentinischen Provinz Córdoba32 von 1939 zurückzuführen, wodurch der alte Inquisitionsprozess zum ersten Mal in Lateinamerika abgeschafft und eine mündliche, unmittelbare und öffentliche Hauptverhandlung eingeführt wurde. Weil die restlichen spanischsprachigen Länder Lateinamerikas noch den alten Inquisitionsprozess der früheren Kolonialzeiten führten und die neue Hauptverhandlungsphase des cordobesischen Strafprozessgesetzes später in den sog. „códigos modernos“33 übernommen wurde, ist seine Bedeutung für die Reformbewegung in Lateinamerika mit dem des französischen Code d’instruction criminelle von 1808 für die europäische Strafprozessreform vergleichbar.34 Grundlagen für das cordobesische Gesetz (CPP Córdoba) war das italienische Strafprozessgesetz von 1913,35 die spanische reformierte Ley de Enjuiciamiento 31
Pastor, Código Levene: ¿nacerá viejo y caduco?, Dossier S. 22 ff. Zur Gesetzgebungskompetenz für die Strafprozessgesetze siehe supra, Punkt I. 33 So üblicherweise bezeichnet, vgl. z. B. Maier, in: Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 103 mit Fn. 23; ders., Derecho Procesal Penal I, § 5 G 7, Überschrift, S. 415. 34 Zum CPP Córdoba vgl. am besten Vélez Mariconde/Soler, Proyecto de código de procedimiento penal, S. I ff. mit Exposición de Motivos auf S. IX ff.; Vélez Mariconde, Derecho procesal penal I, S. 200 ff.; Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 7, S. 415 ff.; ders., Festschrift für Gössel, S 701 f., unter zahlreichen Werken über die Reform. 35 Der Verfasser selbst, Vélez Mariconde, bestreitet die verbreitete Meinung, dass das italienische Strafprozessgesetz von 1930 – der sog. Código Rocco, dessen politische Einstellung von der damaligen Regierung abwich – zusätzlich als Quelle für die Struktur und technische Ausgestaltung des CPP Córdoba von 1939 diente, vgl. Vélez Mariconde, Revista de Derecho Procesal IX, Nr. 3, 4 (1951), S. 328, Fn. 21, auch S. 358. Anders aber Vélez Mariconde, Estudio de Derecho Procesal Penal I, S. 343. Zum Beispiel Finzi sieht den Código Rocco als Quelle des CPP Córdoba 1939, vgl. Código de Procedimiento Penal de la Provincia de Córdoba, Prefacio, S. XIII. Auch so Maier, zum Beispiel in: Jueces para la democracia, Nr. 16 – 17, 1992, S. 151, Fn. 19. 32
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Kap. 6: Die strafprozessualen Wurzeln in Lateinamerika
Criminal von 1882, die deutsche Strafprozessordnung von 1877, der französische Code d’instruction criminelle von 1808 und kleine Beiträge aus argentinischen Quellen, die allesamt im Código selbst zitiert werden.36 Der CPP Córdoba vereint in sich die modernsten Quellen der damaligen Zeit aus der kontinentaleuropäischen Reformgesetzgebung des 19. Jahrhunderts. Nicht enthalten waren demgegenüber angloamerikanische Einflüsse, wie sie bei späteren Reformströmungen in anderen lateinamerikanischen Rechtsordnungen zu erkennen sind. Aufgrund der Bündelung der Vorteile der kontinentaleuropäischen Strukturen wurde der CCP Córdoba als das beste Strafprozessgesetz des lateinamerikanischen Kontinents angesehen.37 Auch wenn immer wieder Veränderungen und Korrekturen des ursprünglichen Konzepts in weiteren lateinamerikanischen Strafprozessgesetzen vorgenommen wurden, genoss der CPP Córdoba stets höchste Anerkennung.38 b) Entstehung Der CCP Córdoba wurde von Rechtsgelehrten entwickelt, nachdem die Regierung von Córdoba die Universität der Provinz mit dem Entwurf des Strafprozessgesetzes beauftragt hatte. Für diesen Zweck wurde am 19. 1. 1937 eine Kommission bestehend aus Alfredo Vélez Mariconde und Sebastián Soler durch Verordnung (decreto 37.072) gebildet, die mit dem kontinentaleuropäischen Strafprozess gut vertraut waren. Einen kleineren Beitrag, der vornehmlich zivilrechtlich geprägt war, leistete Ricardo Núnez. Der Entwurf wurde einige Monate später, nämlich am 27. 11. 1937 fertiggestellt. Beim Parlament der Provinz wurde eine eigene Kommission für dessen ausführliche Erörterung gebildet. Der Código de procedimiento penal para la provincia de Córdoba wurde schließlich am 22. 8. 1939 erlassen, am 28. 8. 1939 als Gesetz Nr. 3831 verkündet und trat schließlich am 28. 2. 1940 in Kraft. So entstand ein Strafprozessgesetz, das in Fußnoten auf seine Quellen verwies. c) Konzept Dem CPP Córdoba von 1939 lag die klassische Struktur des „systeme mixte“ bzw. des reformierten Inquisitionsverfahrens des damaligen kontinentaleuropäischen Systems zugrunde. Die Ermittlungsaufgaben wurden von denen des erkennenden Gerichts getrennt, und anders als im Inquisitionsprozess bestand das Verfahren nunmehr aus zwei Phasen: Das schriftliche, teilweise geheime Ermittlungsverfahren lag in den Händen eines Untersuchungsrichters (instrucción judicial, Art. 179 ff., 36 Vgl. am besten Código de Procedimiento Penal de la Provincia de Córdoba. Vgl. ferner Maier, Proyecto de Código Procesal Penal 1986, S. 656; ders., Derecho Procesal Penal I, § 5 G 7 II, S. 416 f. 37 Vgl. Código Procesal Penal modelo para Iberoamérica, S. 7; ferner Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 7 III, S. 417. 38 Ausdrücklich Maier zum Beispiel in: La reforma del procedimiento penal en Costa Rica, S. 103 f.
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203 ff., 206 Abs. 1) und hatte eine vorbereitende Funktion. Auf eine richterliche Führung der Voruntersuchung legten die Schöpfer dieses richtungsweisenden Strafprozessgesetzbuches besonderen Wert. Das Konzept eines staatsanwaltschaftlich geführten Vorverfahrens kam demgegenüber in der damaligen Zeit nur für Fälle der Kleinkriminalität und einfach gelagerte Sachverhalte in Frage. Von der richterlichen Beweisführung erwartete man sich schlichtweg eine höhere Objektivität als bei der Ausübung dieser Aufgabe vom Ministerio Público, da man vermutete, dass dieser aufgrund seiner Anklageposition nicht unbedingt unparteiisch auftreten würde. Außerdem galt es als Argument gegen ein staatsanwaltschaftlich geführtes Ermittlungsverfahren, dass sonst eine Vermischung der Anklagefunktion mit den Aufklärungsaufgaben nicht leicht zu verhindern wäre.39 Der Ministerio Público führte die Ermittlungen wie gesagt nur in weniger gewichtigen Fällen (Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren) und bei einfach gelagerter Sachverhaltsermittlung. Es handelte sich um das Verfahren der instrucción sumaria bzw. der citación directa (Art. 197, 311 ff., 203). Diese Ausnahme verblieb später im Código Modelo von 1975 sowie im Código Levene und gewährte dem Ministerio Público eine entsprechende Funktion in einfacher gelagerten Fällen. Durch die Überlassung dieses kleinen Teils der Ermittlungsaufgaben an die Staatsanwaltschaft sollten die Aufgaben des Untersuchungsrichters aber nicht obsolet werden. Dennoch wurde diese Aufgabenzuweisung an die Staatsanwaltschaft bisweilen dahingehend interpretiert, dass es sich dann um einen Prozess ohne die Phase des Ermittlungsverfahrens handeln würde, da man die Richterermittlungen und die ihr zugedachte Objektivität nicht durch eine andere Prozessfigur für ersetzbar hielt.40 Bei der neu etablierten mündlichen, unmittelbaren und öffentlichen Hauptverhandlung (Art. 392) galt die Amtsaufklärungspflicht des Vorsitzenden des mit drei Richter besetzten erkennenden Gerichts. Eine konkrete Norm zur Erläuterung der Aufklärungspflicht war nicht vorhanden, kodifiziert waren lediglich Vorschriften zur Regelung der Leitung des Hauptverfahrens (Arts. 382 ff., 383 Abs. 1, 403, 410, 415). Die Beweisführung lag danach in den Händen des Gerichts; diesbezüglich folgte das 39
Vélez Mariconde, Revista de Derecho Procesal IX, Nr. 3, 4 (1951), S. 357 ff.; AlcaláZamora y Castillo/Levene (h.), Derecho Procesal Penal, S. 346, Fn. 84, S. 359 f.; Gelsi Bidart, Indicación sobre ministerio público, S. 336 ff, 344 f. 40 Vgl. Vélez Mariconde/Soler, Proyecto de código de procedimiento penal, Exposición de Motivos, S. LXXXVI; Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal I, S. 412 ff.; Clariá Olmedo, Derecho Procesal Penal II, Nr. 327, S. 25 f. Die in Córdoba, Buenos Aires-La Plata und Salta veranstaltete Strafprozesskongresse von 1939, 1942 und 1948 diskutierten intensiv den führenden Einsatz des Ministerio Público im Ermittlungsverfahren mit skeptischen Meinungen demgegenüber. Vgl. dazu Vélez Mariconde, Revista de Derecho Procesal IX, Nr. 3, 4 (1951), S. 358, mit Annahme der instrucción sumaria, aber nur für die Kleinkriminalität, S. 360 f., ferner 357. Maier erkannte diese Verfahrensform der instrucción sumaria später selbstverständlich als Ermittlungsverfahren, da er für diese Phase auf die Führung des Ministerio Público bestand, vgl. kritisch ausführlich in Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 105 mit einer ausführlichen Erklärung dieser Verfahrensformen des CPP Córdoba und weiterer Provinzen auf S. 108 ff., 132; ders., Revista de Estudios Procesales, Nr. 9, 1971, S. 79 mit Fn. 9; ders., La reforma del procedimiento penal en Costa Rica, S. 107.
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cordobesische Strafprozessgesetzbuch also dem Konzept der richterlichen Sachverhaltsaufklärung der ihm zugrundeliegenden Quellen. Dem entsprechenden Gesetzestext ist zu entnehmen, dass der Beweisumfang (Art. 384) und die Reihenfolge (Art. 410, 412) der Beweiserhebungen der Entscheidung des Gerichts anheimgegeben war.41 Vor der Durchführung der Hauptverhandlung schlugen die Verteidigung und die Anklage die Ermittlungsmaßnahmen vor (Art. 383), hatten aber kein formales Beweisantragsrecht in dieser Verfahrensphase und demzufolge insgesamt eine eher passive Verfahrensrolle. Bei fehlender Zweckmäßigkeit oder gar unterstellter Überflüssigkeit konnten die vorgeschlagenen Beweiserhebungen vom Gericht abgelehnt werden (Art. 384). Die Zeugenbefragungen wurden zunächst vom Gericht geführt, anschließend von den restlichen Prozessbeteiligten (Art. 406, 411, 418). Somit wurde die mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung in Lateinamerika zum ersten Mal vom cordobesischen Strafprozessgesetzbuch in den Verfahrensvordergrund gestellt. Nur wenige Länder Lateinamerikas, die aufgrund abweichender Einflüsse eine alternative Hauptverhandlungsform vorsahen (bspw. Kuba, Brasilien und Mexiko), wichen später von dieser Form ab. Die Ermittlung der materiellen Wahrheit war als Ziel des Verfahrens in mehreren der cordobesischen Vorschriften genannt (z. B. Art. 198 Nr. 3, 207). Ein Umstand, der sich auch in der Gesetzesbegründung ausführlich widerspiegelte.42 Das Ermittlungsverfahren wurde als vorbereitende Phase betrachtet und sogar für verzichtbar erachtet.43 Allerdings manifestierte sich das Prinzip der Unmittelbarkeit damals noch nicht in seiner ganzen Ausprägung, weil die nach wie vor mögliche Protokollverlesung nur sehr wenigen Einschränkungen unterlag (vgl. Art. 383, Abs. 1, 420, 406 Abs. 2)44 und die Ermittlungen aus dem Vorverfahren somit ohne Kontradiktion als Urteilsgrundlage verwendet werden durften. Ferner wurden Verteidigungsrechte bereits ab Verfahrensbeginn in Anerkennung der Subjektstellung des Beschuldigten im Strafverfahren zum ersten Mal in Lateinamerika zugebilligt.45 Außerdem installierte der CPP Córdoba, wie bereits vorangegangene argentinische Entwürfe und Gesetze,46 die freie Beweiswürdigung (Art. 426) und verzichtete auf die früher verwendeten gesetzlichen Beweisregeln. 41
Allgemein darüber Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 8 c) a), S. 434. Vélez Mariconde/Soler, Proyecto de código de procedimiento penal, Exposición de Motivos, S. C f. Vgl. auch weitere Werke von Vélez Mariconde, z. B. in: Revista de Derecho Procesal IX, Nr. 3, 4 (1951), S. 334, 337 f., 343 f., 349, 351 und passim in Verbindung mit einer ausführlichen Behandlung des Verteidigungsrechts des Angeklagten. 43 Vélez Mariconde/Soler, Proyecto de código de procedimiento penal, Exposición de Motivos, S. LXVIII, LXXXVI. 44 Vgl. dazu Vélez Mariconde/Soler, Proyecto de código de procedimiento penal, Exposición de Motivos, S. XCVII f. 45 Vgl. die ausführliche Begründung für dieses Recht z. B. Vélez Mariconde, Revista de Derecho Procesal IX, Nr. 3, 4 (1951), S. 347 ff. 46 Vgl. dazu Vélez Mariconde/Soler, Proyecto de código de procedimiento penal, Exposición de Motivos, S. CVII. 42
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d) Verbreitung Der CPP Córdoba diente später als Grundlage für das Musterstrafprozessgesetz für Iberoamerika von 1978 und 1988, was zu seiner mittelbaren Verbreitung in den Ländern Iberoamerikas führte.47 Auch das frühere Strafprozessgesetzbuch von Costa Rica aus dem Jahre 1973,48 die die Quelle für andere zentralamerikanische Strafprozessgesetze war, wurde nach dem Muster des Strafprozessgesetzbuchs von Córdoba verfasst, d. h. als „sistema mixto moderno“ mit der Einteilung des Strafverfahrens in zwei Phasen. Das costa-ricanische schriftliche Ermittlungsverfahren lag grundsätzlich in den Händen des Untersuchungsrichters (Art. 186, 196). Bei Delikten mit einer Freiheitsstrafe von weniger als 3 Jahren ermittelte der Ministerio Público (sog. „citación directa“, Art. 401 ff.). Für die Beweiserhebungen in der mündlichen Hauptverhandlung war das Gericht zuständig, allerdings nach den Beweisvorschlägen der Prozessbeteiligten („ofrecimiento de prueba“, Arts. 349, 351 bis 353). Weil die Universität Córdoba mit den Universitäten des Nordwestens Argentiniens und der Region Cuyo in Verbindung stand, war der CPP Córdoba auch Muster für die Strafprozessgesetze der Provinzen Santiago del Estero (1941), San Luis (teilweise, 1947), La Rioja (1950), Jujuy (1950), Mendoza (1950), Catamarca (1959), San Juan (1961) und Salta (1961). Die Gesetze von Mendoza und San Juan wurden auch von Vélez Mariconde verfasst. Später kamen noch die Provinzen La Pampa (1964), Entre Ríos (1969), Corrientes (1971) und Chaco (1971) hinzu.49 Der Código von Córdoba von 1939 wurde in Córdoba selbst im Jahre 1969 durch einen neuen Código ersetzt, der wiederum von Vélez Mariconde entworfen wurde und 1971 in Kraft trat. Anschließend wurde die Reformbewegung durch die Militärregierungen der 1960er und 70er Jahren niedergeschlagen, was dazu führte, dass die Modernisierung nicht das Bundesstrafprozessgesetz und die restlichen Provinzen erreichen konnte. Erst nach der Wiedereinsetzung einer demokratischen Regierung im Jahre 1983 arbeitete man wieder an der Abschaffung des Inquisitionsprozesses in den übrigen Gebieten, sodass nun nahezu alle Provinzen ihre Strafprozessgesetze nach und nach 47 Instituto Iberoamericano de Derecho Procesal (Hrsg.), Código Procesal Penal modelo para Iberoamérica. 48 Ley Nr. 5377 vom 19. 10. 1973, in Kraft getreten erst am 1. 7. 1975. Vgl darüber Maier, La reforma del procedimiento penal en Costa Rica, S. 103 ff.; ders., in: Jueces para la democracia, Nr. 16 – 17, 1992, S. 152, Fn. 19, 161; Castillo Barrantes mit der Mitwirkung von Dobles Ovares, Ensayos sobre la nueva legislación procesal penal; Houed Vega, El proceso penal en Costa Rica. Im Jahr 1996 wurde ein neues Strafprozessgesetz verabschiedet (Ley Nr. 7594), das das Muster des Proyecto Maier folgte (vgl. Maier, Derecho Procesal Penal), vgl. dazu infra, C. II. 4. a) ee). 49 Vgl. dazu Vélez Mariconde, Derecho procesal penal I, S. 202 ff.; Maier, Derecho Procesal penal I, § 5 G 7 IV, S. 421 f., auch § 5 G 5 IV, S. 412; ders., in: Jueces para la democracia, Nr. 16 – 17, 1992, S. 162; Levene (h.), Revista La Ley 1987-A, S. 1009 ff.; ders., Revista La Ley 1985-C, S. 963 ff.; ders., Revista La Ley 1988-B, S. 1159 ff.
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nach dem cordobesischen Muster verabschiedeten: Formosa (1987), Neuquén (1987), Río Negro (1987), Chubut (1988), Misiones (1989) und Tierra del Fuego e Islas del Atlántico Sud (1994). Schließlich wurde auch für den Bund ein Strafprozessgesetz im Jahre 1992 nach dem Modell von Córdoba von 1939 erlassen, das üblicherweise als „Código Levene“ bezeichnet wird.50 In den Provinzen Santa Fe und Tucumán gab es zunächst keine Reformen. Erst als sich Tucumán 1991 dem Proyecto Maier anschloss, war Córdoba im Jahre 1992 erneut Basis der Novellierung. Auf der Fünften Iberoamerikanischen Konferenz von 1970 in Kolumbien („Jornadas Iberoamericanas de Derecho Procesal“) wurden die Fundamente für eine einheitliche strafprozessuale Gesetzgebung für Lateinamerika auf Basis des cordobesischen Strafprozessgesetzes von 1939 gelegt.51 Auf dieser Konferenz wurden grundlegende Prinzipien für das Musterstrafprozessgesetz festgehalten, wie beispielsweise die erforderliche Balance zwischen dem Interesse der Gemeinschaft an der Wahrheitsermittlung und Gerechtigkeit und den Beschuldigtenrechten. Zugleich sprach man Ermittlungsergebnissen einen endgültigen Beweiswert ab – mit Ausnahme von solchen Gegebenheiten, die in der Hauptverhandlung nicht mehr reproduziert werden können. Damit wurde implizit die Hauptverhandlung als der alleinige Maßstab für die Urteilsfindung konstituiert,52 was mit dem deutschen Verständnis von „aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung“ vergleichbar ist und die Abkehr vom inquisitorischen, schriftlichen Strafprozess bedeutete. 2. Musterstrafprozessgesetz für Iberoamerika von 1978 Im Anschluss an die Jornadas wurde das Strafprozessgesetz von Costa Rica im Jahre 1973 nach dem Vorbild des CPP Córdoba von 1939 erlassen. Nach und nach folgten zentralamerikanische Länder dem Modell von Costa Rica.53 Das erste Musterstrafprozessgesetz für Iberoamerika wurde nach dem Tod von Vélez Mariconde im Jahre 1975 letztendlich von Clariá Olmedo entworfen und auf den Sechsten Jornadas von 1978 in Venezuela vorgestellt. Das Mustergesetz beruhte auf der Neufassung des Strafprozessgesetzes von Córdoba aus dem Jahre 1969 und auf dem Entwurf eines argentinischen Bundesstrafprozessgesetzes von 1970, das ebenfalls von Clariá Olmedo verfasst wurde und deshalb dem cordobesischen Modell sehr ähnelte: Das Ermittlungsverfahren lag auch hier in den Händen des Untersuchungsrichters, nur in einfacher gelagerten Fällen oder bei einfacher Sachverhaltsermittlung war die Staatsanwaltschaft zuständig. Zur Ermittlung der materiellen Wahrheit dienten die Methode der richterlichen Aufklärungspflicht (investigación judicial autónoma) und die freie richterliche Beweiswürdigung, was in 50
Näheres infra, Proyecto Levene. Von den dafür ernannten argentinischen Professoren Vélez Mariconde und Clariá Olmedo, vgl dazu Clariá Olmedo, Bases completas, S. 47. 52 Vgl. dazu Clariá Olmedo, a. a. O. 53 Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 7 IV, S. 424. 51
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Lateinamerika dem Grundsatz der „sana crítica“ entspricht. Ein an gesetzliche Beweisregeln gebundenes Modell, wie es etwa noch beim ursprünglichen Inquisitionssystem in Europa und in Lateinamerika mit dem Ausgangspunkt in Las Partidas, aber auch in späteren Gesetzen und der Jurisprudenz galt,54 wurde ausdrücklich abgelehnt.55 3. Musterstrafprozessgesetz für Iberoamerika von 1988 Im Rahmen der oben bereits erwähnten Sechsten Jornadas von 1978, auf denen das Musterstrafprozessgesetz von Clariá Olmedo vorgestellt wurde, wurde eine Evaluierungskommission ins Leben gerufen.56 Von besonderer Bedeutung war der von Maier ausgearbeitete einleitende Teil über die geltenden strafprozessualen Prinzipien, der bereits auf den Siebten Jornadas von 1981 in Guatemala vorgestellt wurde. Diese Kommission entwarf ein Musterstrafprozessgesetz für Iberoamerika nach dem Vorbild des Proyecto Maier von 1986 für das Bundesstrafprozessgesetz Argentiniens. Das so entstandene Musterstrafprozessgesetz für Iberoamerika wurde später auf den Elften Jornadas von 1988 in Brasilien vorgestellt und am 25. 5. 1988 veröffentlicht.57 4. Zwei Entwürfe für das Bundesstrafprozessgesetz Argentiniens Nach der langen Militärdiktatur in Argentinien von 1976 bis 1983 und der Wiederherstellung der Demokratie war die Zeit gekommen, den alten Inquisitionsprozess hinter sich zu lassen und ihn durch einen rechtsstaatlichen, modernen Strafprozess mit einer mündlichen, öffentlichen und unmittelbaren Hauptverhandlung zu ersetzen. Die meisten Provinzen hatten bereits ein reformiertes Strafverfahren, andere schufen es in einem Aufwasch mit der Etablierung einer demokratischen Regierung. Diese Provinzen folgten meist dem Muster des CPP Córdoba von 1939, der die Mindestanforderungen für die Rechtsstaatlichkeit des Strafprozesses aufstellte. Nur die zentral gelegenen Regionen zeigten sich skeptisch gegenüber einer Modernisierung. Bisweilen hatten sie aber auch höhere Ansprüche an eine Reform und konnten sich mit dem vom cordobesischen Gesetz gebotenen Konzept nicht anfreunden, weil es nach ihrer Auffassung nicht den neuen internationalen Standards entsprach. Konkret ging es dabei um Neuregelungen für die bevölkerungsreichen Provinzen Buenos Aires und Santa Fe, aber auch um das Bundes54
Vgl. dazu näher supra, bei Fn. 10 f. Vgl. zum Entwurf Clariá Olmedo, Bases completas, S. 49 f., 53, 61. 56 Jorge A. Clariá Olmedo, Julio B. Maier und Alberto M. Binder. 57 Julio B. J. Maier, Jaime Bernal Cuéllar, Fernando de la Rúa y Ada Pellegrini Grinover (Instituto Iberoamericano de Derecho Procesal, 1989), veröffentlicht in: Maier, Derecho Procesal Penal I; Instituto Iberoamericano de Derecho Procesal (Hrsg.), Código Procesal Penal modelo para Iberoamérica. 55
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strafprozessgesetz,58 das sowohl für Bundesangelegenheiten (federal) als auch für in der Hauptstadt Buenos Aires begangene Delikte seit dem Jahre 1889 galt (Código Procesal Penal de la Nación, CPPN). Nicht nur quantitativ war die Kriminalität in der Hauptstadt Buenos Aires stets größer als in den restlichen Provinzen, sondern auch in ihrer Komplexität. Aufgrund der dortigen Ansiedlung von Banken und Unternehmen bestand sie größtenteils aus Wirtschaftsdelikten; ferner war in dieser Region bereits damals die organisierte Kriminalität stark ausgeprägt,59 ein Umstand, der bis heute fortbesteht. Aus historischer Sicht wird in derartigen Regionen die starke Machtkonzentration des Richtertums für die Verzögerung der Abschaffung des Inquisitionsprozesses verantwortlich gemacht. Neben dieser eher konservativen Einstellung gab es aber auch Ansätze von Akademikern, beispielsweise aus den Reihen der Universität von Buenos Aires, die aufgrund der strafprozessualen Entwicklungen auf dem europäischen Kontinent die Etablierung zeitgemäßer Strukturen forderten, nachdem das Vorbild des CPP Córdoba von 1939 bzw. des sog. Código Vélez Mariconde nicht mehr auf dem neuesten internationalen Stand war. Im Vordergrund der für den Bund vorgesehenen Reform stand die Verabschiedung des alten Inquisitionsprozesses, die Anerkennung der Subjektstellung des Beschuldigten mit der entsprechenden Gewährung von Verteidigungsrechten, die Einführung des mündlichen, unmittelbaren und öffentlichen Strafverfahrens sowie die Trennung zwischen dem Ermittlungsorgan im Vorverfahren (Ministerio Público oder Untersuchungsrichter) und dem erkennenden bzw. urteilenden Gericht. Die Figur der Staatsanwaltschaft bekam eine starke Relevanz in der Debatte, v. a. bezüglich ihrer Rolle als Herrin des Ermittlungsverfahrens oder nur als Anklagebehörde mit Mitwirkungsrechten bei der Sachverhaltsaufklärung. Die mehr oder weniger aktive Rolle des Ministerio Público betraf auch die Phase der Hauptverhandlung, die neu strukturiert werden musste. Im Gesetzgebungsverfahren standen zwei Entwürfe zur Auswahl, die dem CPP Córdoba folgend eine mündliche Hauptverhandlung vorsahen. Der Vorschlag des sog. Proyecto Maier,60 die Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens zu statuieren, wurde von der Mehrheit im Bundesparlament abgelehnt, die im Wesentlichen mit Mitgliedern der Partei Justicialista besetzt war. Vorgezogen wurde eine Beweisführung in den Händen des Untersuchungsrichters nach dem Proyecto Levene. Allerdings wurde das Konzept des Entwurfs Maier für die späteren lateinamerikanischen Strafprozessreformen ausschlaggebend. Die folgende Gegenüberstellung der beiden Entwürfe und die Erörterung der geschichtlichen Hintergründe bei der Gesetzgebung tragen dazu bei, die Entstehung der modernen Reformimpulse in Lateinamerika nachvollziehen zu können.
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Vgl. zur Bundeskompetenz supra, C. I. Vgl. dazu zum Beispiel Cortese, Reflexiones de un parlamentario, S. 183 f. 60 Da noch einige Juristen in der Verfassung envolviert waren, lehnte Maier diese Kennzeichnung ab, vgl. Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 8 b) 2, S. 428. 59
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a) Proyecto Maier aa) Entstehung Nach der Abschaffung des Inquisitionsmodells durch die Einführung der mündlichen und unmittelbaren Hauptverhandlung mit dem CPP Córdoba von 1939 stellte der „Proyecto 1986“61 („Proyecto Maier“) einen weiteren Entwicklungsschritt im Strafprozessrecht dar. Er wurde auf der Grundlage des CPP Córdoba nach dem sog. „sistema mixto“ bzw. dem „reformierten Strafverfahren“ verfasst,62 nun aber mit Erneuerungen im Hinblick auf den zwischenzeitlich erreichten strafprozessualen Standard in Kontinentaleuropa, v. a. auch dank des Einflusses der deutschen Strafprozessordnung.63 Die bereits vom CPP Córdoba geschaffenen Strukturen, wie beispielsweise die Subjektstellung des Beschuldigten und die mündliche, unmittelbare und öffentliche Hauptverhandlung mit einem vom Ermittlungsorgan differenzierten erkennenden Gericht wurden im Proyecto Maier weiter ausgebaut. Anders als der CPP Córdoba begründete er für das Vorverfahren nicht mehr die Zuständigkeit des Untersuchungsrichters, sondern die der Staatsanwaltschaft unter der Kontrolle eines Ermittlungsrichters, ganz nach dem Vorbild des auch in dieser Zeit so neu definierten deutschen Strafverfahrens. Wie oben bereits erwähnt, sollte der neue Entwurf des argentinischen Bundesstrafprozessgesetzes das bestehende Recht grundlegend reformieren. Während die meisten Provinzen bereits die mündliche Hauptverhandlung nach dem Muster des CPP Córdoba von 1939 besaßen, befand sich der CPP Nación noch im Zustand einer alten inquisitorischen Struktur. Die Bundesverfassung von 1953 sah die Etablierung eines Geschworenengerichts vor (Art. 24, ferner 67 Abs. 11, 102) und ging damit implizit von einer Durchführung der Beweisaufnahme im Rahmen einer mündlichen, unmittelbaren und öffentlichen Hauptverhandlung aus. Der Gesetzgeber sollte zunächst diese Vorgabe umsetzen. Zugleich war eine grundlegende Veränderung des Strafprozesssystems nach der langen und für das Land in wirtschafts- und menschenrechtlicher Hinsicht desaströsen Militärherrschaft unerlässlich. Bei den freien Präsidentschaftswahlen vom 30. Oktober 1983 siegte Raúl Alfonsín von der Partei Unión Cívica Radical (UCR). Die demokratische Regierung stellte die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit in den Vordergrund und nahm sich vor, die strafprozessuale Reform zustande zu bringen. Beschäftigt mit diesem Projekt waren die Secretaría de Justicia de la Nación (Justizministerium) und der Consejo para la Consolidación de la Democracia (Rat für die Konsolidierung der Demokratie). Der Rat beauftragte 61
So von Maier bezeichnet, vgl. Derecho Procesal Penal I, § 5 G 8 b, S. 427 f. Maier, Proyecto de Código Procesal Penal 1986, S. 668 f. 63 Maier, Proyecto de Código Procesal Penal 1986, S. 656; ders., Derecho Procesal Penal II, § 11 A 3 b, S. 380. Andererseits betonte dieser Autor die Besonderheiten der indianischen Kultur, die ursprüglich ein milderes Strafprozesssystem besaß, vgl. Struensee/Maier, in: Maier/ Ambos/Woischnik (Hrsg.), Las Reformas Procesales Penales en América Latina, S. 19 f. und die Notwendigkeit, sie bei der Übernahme eines fremden Strafprozesses nicht auf der Seite zu lassen, vgl. ders., in: Jueces para la democracia, Nr. 16 – 17, 1992, S. 159. 62
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wiederum Julio Maier, einen Schüler von Vélez Mariconde, kurzfristig mit der Erstellung des Entwurfs eines Código Procesal Penal für die Nación.64 Zu diesem Zweck wurde eine Kommission gegründet.65 Anfang Juni 1986 war bereits der erste Vorentwurf fertig und wurde der Kommission und weiteren unabhängigen Fachleuten sowie einigen vom Consejo para la Consolidación de la Democracia ausgesuchten Institutionen und Personen vorgelegt, die in einigen Punkten Kommentare und Kritik lieferten. Diese Rückmeldungen wurden sodann von den Autoren berücksichtigt, ehe Ende Oktober 1986 die endgültige Fassung vorgelegt wurde.66 bb) Gesetzgebungsverfahren Der Proyecto Maier wurde Anfang Dezember 1986 von der Secretaría de Justicia und dem Consejo para la Consolidación de la Democracia dem Bundespräsidenten zur Vorlage an das Parlament übergeben. Eine strafrechtliche Kommission (Comisión de Asuntos Penales) der Abgeordnetenkammer des Bundesparlaments (Cámara de diputados de la Nación) wurde beauftragt, den Entwurf verschiedenen Stellen und Juristen zur Beurteilung vorzustellen. Der Entwurf wurde schließlich von der Kommission im Jahre 1988 mit einigen Änderungen befürwortet. Da die Partei Justicialista bei der Bundeswahl am 14. Mai 1989 die Mehrheit erlangte, kam es zu einem Regierungswechsel. Aufgrund der Ankündigung der neuen Regierung, in der kommenden Legislaturperiode einen neuen Entwurf eines Straprozessgesetzes zu erarbeiten, kam es zu keiner parlamentarischen Abstimmung über den Proyecto Maier.67 Als Grund für die Ablehnung des Proyecto Maier im Parlament wird einerseits angegeben, dass man eine starke Position des Ministerio Público vermeiden wollte, um eine politische Abhängigkeit des Strafverfahrens durch das Weisungsrecht des Justizministers auszuschließen.68 Allerdings verwandelte sich der Ministerio Público 64 Vgl. die Ausführungen zur Entstehung und Motiven in: Proyecto de Código Procesal Penal 1986, S. 645 ff. 65 Für die Umsetzung waren maßgeblich Maier und daneben die Professoren José I. Cafferata Nores und Miguel Ángel Almeyra Nazar zuständig. Die Kommission bestand außerdem aus den Senatoren Fernando de la Rúa und Celestino Marini und den Abgeordneten Néstor Perl und Oscar L. Fappiano. Gustavo Cosacov wurde mit einer empirischen Untersuchung über den praktischen Ablauf, also den rechtstatsächlichen status quo des damaligen hauptsächlich schriftlichen Strafprozesses des CCP Nación (Bundesstrafprozessgesetz) im Vergleich mit dem Ablauf des moderneren CPP Córdoba beauftragt. Vgl. darüber Maier, Anteproyecto de Ley Orgánica – Exposición de Motivos, Doctrina Penal/Cuadernos, Año 11, Nr. 41 bis 44, 1988, S. 337. 66 Vgl. Proyecto de Código Procesal Penal 1986, S. 647. 67 Vgl. über das Gesetzgebungsverfahren am besten Cortese, Reflexiones de un parlamentario, S. 171 ff. 68 Vgl. dazu Levene (h.), ZStW 84 (1972), 494 f. Vgl. ferner gegen die Figur des Ministerio Público als Herrin des Ermittlungsverfahrens Hortel, in: Levene (h.) (Hrsg.), Estudios sobre el Proyecto 1986, S. 81 ff.; Casanovas, in: Levene (h.) (Hrsg.), Estudios sobre el Proyecto 1986, S. 29 ff.; Levene (h.), Revista La Ley 1988-D, S. 824 ff.; Caputo Tártara, Algunas reflexiones
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bereits im Jahre 1998 in ein unabhängiges Organ, sodass diese Bedenken in der damaligen Diskussion obsolet wurden. Zum anderen wird die Ablehnung des Proyecto Maier damit erklärt, dass die starke Judikative durch das Konzept von Maier an Macht verloren hätte und deshalb Widerstand leistete.69 Und nicht zuletzt wird die Ablehnung auf den schnöden Umstand zurückgeführt, dass er von einer antiperonistischen Partei verfasst wurde.70 cc) Konzept (1) Prinzipien Der Entwurf hat einen allgemeinen Teil mit Erörterung der strafprozessualen Prinzipien,71 welche weder der CPP Córdoba noch die deutsche StPO vorsahen. Basis dieser Prinzipien waren die Grundsätze der Verfassung und der internationalen Menschenrechtskonventionen.72 Der Proyecto Maier beschäftigte sich dabei, inspiriert von diesen Menschenrechtskonventionen, besonders intensiv mit der Rechtsstellung des Beschuldigten. Dieser Punkt verbreitete sich später aus dem Projekt in ganz Lateinamerika. (2) Vom Ministerio Público geführtes Ermittlungsverfahren (a) In der späteren Reformdiskussion wurde die angedachte Einführung des Ministerio Público als Herr des Ermittlungsverfahrens (Art. 68, 229, 232, 250, 261 des Entwurfs) und die konsequente Abschaffung des Untersuchungsrichters betont.73 Der Ministerio Público erhielt zum ersten Mal eine gesetzliche Regelung für den (Proyecto „Maier“), S. 1151 ff. Vgl. ferner den Informe del Ministro de Justicia Arslanian ante el Senado de la Nación, in: Chichizola (Hrsg.), Código Procesal Penal de la Nación, S. 77. 69 Diese Bedenken begleiteten auch die Debatte in anderen lateinamerikanischen Ländern, vgl. Bofill Genzsch, Gedächtnisschrift für Zipf, S. 446. 70 Vgl. dazu Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 74, Fn. 230. 71 Vgl. dazu auch Maier, Proyecto de Código Procesal Penal 1986, S. 655; auch lobend Schöne, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 801. 72 Vgl. z. B. Maier, Derecho Procesal Penal argentino, 1 a Fundamentos, Exposición de motivos, S. 293. Levene kritisiert dem Projekt von 1986, dass er sich sogar in den Formulierungen vom Código „Velez Mariconde“ von Córdoba von 1939 entfernt und eine neue Terminologie entwickelt, vgl. Levene (h.), Revista La Ley 1988-D, S. 824 ff. 73 Unmittelbar vor und nach dem Gesetzesverfahren zum Beispiel Maier, Proyecto de Código Procesal Penal 1986, S. 660 f.; ders., Anteproyecto de Ley Orgánica para la Justicia Penal y el Ministerio Público – Exposición de Motivos, S. 343; ders., Derecho Procesal Penal II, § 11 A 3 a, S. 362 ff.; Cafferata Nores, La investigación fiscal preparatoria, S. 675 ff.; Binder, Introducción, S. 218 f.; Rusconi, División de poderes en el proceso penal, S. 104 ff.; Guariglia, La investigación preliminar, S. 205 ff.; Pérez Barberá, Investigación fiscal preparatoria, S. 624 ff.; Macías, La instrucción por el ministerio público, S. 315 ff.; Bovino, in: Maier (Hrsg.), El nuevo CPP Nación, II ff., S. 172 ff.; ferner Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 134 ff.; vgl. weitere Nachweise in Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 8 b) II, S. 430, Fn. 239. Die aktive Rolle des Ministerio Público wurde von ganz Lateinamerika als Schwerpunkt der Reform gesetzt.
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Bundesstaat. Dabei wurde großer Wert auf die Trennung zwischen den Verfolgungsund Ermittlungsaufgaben auf der einen Seite und der Urteilsfällung auf der anderen Seite gelegt.74 Bereits in viel früheren Schriften positionierte sich Maier entschieden für die Zuständigkeit des Ministerio Público für Ermittlungsaufgaben im Vorverfahren und gegen die lange Tradition der Figur des Untersuchungsrichters.75 Vorbild dieses Modells für diese Tätigkeitszuschreibung und den Aufbau eben dieser Figur76 war nicht das angloamerikanische System, sondern die deutsche StPO.77 Der Entwurf konzipierte den Ministerio Público nicht als Partei, die sich mit der Verteidigung im Ermittlungsverfahren über das Beweismaterial auseinandersetzt, sondern betonte seine Objektivitätspflicht im Rahmen des Legalitätsprinzips und das Ziel des Strafprozesses als die Ermittlung der materiellen Wahrheit. Von sich aus müsse er „mit dem Zweck, die Wahrheit zu finden“ („en procura de la verdad“, Art. 250, ferner 147), mit einem „objektiven Kriterium“ auch entlastende Umstände „zugunsten des Beschuldigten“ ermitteln und berücksichtigen (vgl. Art. 232 Abs. 2, 69 des Entwurfs und Art. 108 Abs. 2 des Vorentwurfs für die Gerichtsorganisation78).79 Außerdem wurde das Vorverfahren nicht wie im US-amerikanischen Modell aus dem Strafprozess ausgeklammert, sondern nach europäischer Art als dem formalisierten Strafverfahren zugehörig konzipiert. Dabei wurde auch nach dieser Auffassung der Fiscal an die Stelle des Untersuchungsrichters gesetzt. Ferner wurde die interne Organisation des Ministerio Público und das innerbehördliche Weisungsrecht nach deutschem Muster hierarchisch festgelegt mit besonderen Vorsichtsmaßnahmen zur Einschränkung einer externen Einflussnahme durch das Justizministerium. Dieser Aufbau unterschied sich durchaus von den althergekommenen dezentralisierten Strukturen des amerikanischen Systems, bei dem die Weisungsbefugnis und die bundesweite Vereinheitlichung bei der Strafverfolgung traditionell nicht im Vordergrund stehen. Dort gibt es vielmehr ein Anklageermessen, auch wenn sich heutzutage auch dort die Tendenz zu einer stärkeren Vereinheitlichung bei der Strafverfolgung abzeichnet.80 (b) Zu dem in Lateinamerika viel diskutierten Thema der Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft bezog der Entwurf keine eindeutige Position. Die entworfene Struktur bot aber eine gute Grundlage für eine spätere Autonomie, da er das Ver74
Vgl. Maier, Proyecto de Código Procesal Penal 1986, S. 660 f. Vgl. Maier, in: Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 106 f. mit der Ausführung eines Teils der damaligen Diskussion in Fn. 48. 76 Für die Einzelheiten vgl. infra, Kapitel 8 A. II. 2. b) dd) (2). 77 Der Einfluss des deutschen Strafprozessrechts zeigt der Rechtsvergleich von Maier, La Ordenanza Procesal Penal Alemana, Bd. I (1978) und II (1982). Vgl. ferner Maier, in: Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 107 f.; ders., Proyecto de Código Procesal Penal 1986, S. 669, u. a. Schriften; Schöne, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 797. 78 Vorentwurf eines Gesetzes zur Organisation der Strafjustiz und des Ministerio Público: Anteproyecto de Ley Orgánica, Doctrina Penal/Cuadernos, Año 11, Nr. 41 bis 44, 1988. 79 Vgl. ferner über die Objektivitätspflicht des Ministerio Público Maier, vor allem bereits in: Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 106 f. mit Fußnote 55. 80 Vgl. dazu infra, Kapitel 8 A. II. 2. b) dd) (4) (b). 75
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hältnis des Ministerio Público zur Exekutive und zur Judikative in diese Richtung regelte.81 Die Reform des Art. 120 der Verfassung, wodurch der Ministerio Público ein unabhängiges Organ mit funktioneller Autonomie und finanzieller Selbständigkeit wurde, wurde aber erst acht Jahre später vollzogen. (c) Das Strafprozesssystem des Entwurfs Maier beruht ferner auf dem Legalitätsprinzip, wonach die Staatsanwaltschaft zur Sachverhaltserforschung und gegebenenfalls zur Klageerhebung verpflichtet ist. Der Grundsatz ist Art. 71 des argentinischen Strafgesetzbuches zu entnehmen. Aus den europäischen Quellen wurde aber nicht nur das Konzept der Verfolgungspflicht der Staatsanwaltschaft gegen jeden Verdächtigen, sondern auch ihre Einschränkungen durch den Opportunitätsgedanken übernommen. So wurden die Ausnahmen vom Legalitätsprinzip durch eine abschließende Regelung eingefügt, die vom deutschen Recht inspiriert war. Allerdings wurde von den Konstellationen der §§ 153 ff. StPO nur die Einstellungsmöglichkeit des § 153b StPO übernommen (Art. 230 Proyecto Maier mit Zitat des § 153b StPO). Einstellungen aus Opportunitätsgründen konnte hauptsächlich das Gericht vornehmen, der Ministerio Público besaß hier ein nur geringes Betätigungsfeld, sodass vor diesem Hintergrund keine Übermacht der Staatsanwaltschaft zu befürchten war. Im Übrigen wurde ein Verständnis der Opportunität als ein breites Ermessen bei der Entscheidung über Verfolgung und Nichtverfolgung (auf Spanisch oportunidad libre), wie es im angloamerikanischen System gilt, abgelehnt.82 Der durch die Opportunitätskriterien geöffnete Verfolgungsspielraum wurde im Rahmen eines Ausnahmenkatalogs eingeschränkt. Die von Maier betonte Bindung des Systems an seine kontinentalen Wurzeln diente ferner einem formellen Verständnis des Akkusationsprinzips in Verbindung mit dem Offizial- und Legalitätsprinzip als bloße Ingangsetzung des Verfahrens. Ein materielles Akkusationsprinzip mit Dispositionsbefugnissen der Staatsanwaltschaft wie im angloamerikanischen Parteisystem wurde abgelehnt. Die Argumentation richtete sich darauf, dass das reformierte Inquisitionsverfahren bzw. der „sistema mixto“ der Staatsanwalschaft eine nicht so entscheidende Position gewährt, dass ihr Antrag auf Freispruch bei Abschluss der Hauptverhandlung für das Gericht verbindlich sein sollte. Vielmehr liege die Entscheidung über die Verletzung von Normen ausschließlich beim erkennenden Gericht. (3) Hauptverhandlung mit Amtsaufklärungspflicht Für die Phase der Hauptverhandlung schloss sich der Proyecto Maier dem Muster vom CPP Córdoba von 1939 hinsichtlich der Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und 81
Vgl. Anteproyecto de Ley Orgánica, Doctrina Penal/Cuadernos, Año 11, Nr. 41 bis 44, 1988, Art. 119; ferner Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 8 b, S. 429. 82 Vgl. Maier, Derecho Procesal Penal I, § 8 C 3, S. 836 f.; ders., Proyecto de Código Procesal Penal 1986, Exposición de Motivos, S. 669, 657. Vgl. ferner: Guariglia, Facultades discrecionales del ministerio público, S. 83 ff. Zur Debatte zum Opportunitätsprinzip mit Nachweisen vgl. ferner infra, Kapitel 8 A. III. 3. b) bb).
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Öffentlichkeit der Hauptverhandlung an (Art. 291 ff. und 299 Abs. 1). Wie dort (vgl. Art. 383 CPP Córdoba 1939) war für die Beweisaufnahme vorgesehen, dass Staatsanwaltschaft und Strafverteidigung ihre jeweiligen Beweisvorschläge vor Durchführung der Hauptverhandlung präsentieren (Art. 283 des Entwurfs). Der Vorsitzende hatte die Leitung der Hauptverhandlung inne (Art. 302 mit Fußnotenzitat des CPP Córdoba und des § 238 StPO, u. a.). Das erkennende Gericht hatte die Aufgabe, die Beweisangebote entweder anzunehmen oder abzulehnen bzw. von Amts wegen Beweise zu erheben (Art. 288 f., 317, 302). Mit der vorgesehenen Mitwirkung der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung bei der Beweisaufnahme durch ihre Beweisvorschläge wollte man dem erkennenden Richter nicht die alleinige Entscheidung über die Beweiserhebungen in Ausübung seiner Amtsaufklärungspflicht überlassen. Durch die Mitwirkung aller Prozessbeteiligten war im Entwurf nach dem Vorbild vom CPP Córdoba von 1939 beabsichtigt, eine Unparteilichkeit bzw. Unvoreingenommenheit des erkennenden Gerichts zu fördern.83 Bezweckt war ferner die Einschränkung einer Übertragung von Ermittlungsergebnissen in die Hauptverhandlung, die in der Regel über die gerichtlichen Kenntnisse der Ermittlungsakte erfolgt. Trotz der vorgesehenen Mitwirkungsmöglichkeit der Verfahrensbeteiligten bei der Auswahl der zu erhebenden Beweise handelte es sich nicht um einen sog. Parteiprozess, sondern vielmehr um einen „Akkusationsprozess mit inquisitorischer Hauptverhandlung“, so wie er der Bezeichnung für das deutsche Strafverfahren nach dem reformierten Strafprozess des 19. Jahrhunderts entspricht.84 Auch wenn der Terminus „inquisitorisch“ im Proyecto Maier entschieden abgelehnt wurde, ist der Entwurf nach deutschem Vorbild verfasst und diese Bezeichnung folglich nicht ganz unpassend. Im Proyecto Maier war beabsichtigt, eine Übertragung der Informationen aus der Ermittlungsakte in die Hauptverhandlung möglichst einzuschränken. Zu Zeiten des CPP Córdoba von 1939 stand dieses Ansinnen noch nicht im Vordergrund, ebenso wenig beim Proyecto Levene von 1975 für das Bundesstrafprozessgesetz, der das cordobesische Konzept übernahm. Im Proyecto Maier hingegen bestanden dagegen Bedenken: Zunächst deshalb, weil bei beiden Vorgängern die Verlesung von Ermittlungsprotokollen in der Hauptverhandlung uneingeschränkt möglich war, ohne dass die direkte Verwendung von Elementen aus dem schriftlichen und geheimen Ermittlungsverfahren als Urteilsgrundlage verhindert werden konnte. Zweitens förderte das ursprüngliche cordobesische System die mächtige argentinische Richterschaft, indem das erkennende Gericht auf das vom Untersuchungsrichter zur Akte 83
Vgl. Maier, in: Jueces para la democracia, Nr. 16 – 17, 1992, S. 157; ders., Derecho Procesal Penal II, § 11 A 3 b III, S. 383 f. Dabei handelt es sich nicht genau um die von Köhler in den 70er Jahren in seinem Werk Inquisitionsprinzip sog. „autonome Beweisführung“, bei der die Staatsanwaltschaft, der Angeklagter und die Verteidigung Beweismittel in der Hauptverhandlung ohne vorherigen förmlichen Beweisantrag präsentieren, und die nun durch den Beitrag von Anders, ZStW 129 (2017), 90 ff., aus der Köhler-Schule, wieder aktuell geworden ist. 84 So z. B. genannt von Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 6. In diesem Sinne vgl. auch etwa Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 11, 1; § 18, 1, 15, 18.
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gereichte Material ohne große Überprüfung vertrauen und für das Urteil verwenden konnte. Dieses besondere Vertrauen war angeblich aufgrund der hohen Reputation gerechtfertigt, die die Richterschaft in Argentinien besaß. Der Proyecto Maier wollte der Kommunikationskette zwischen Ermittlungsverfahren und Hauptverhandlung eine Grenze setzen, indem die Ermittlungsaufgaben an eine neue, noch unvereingenommene „Figur“ des Ministerio Público übergeben wurden.85 Dieses Ziel sollte ferner durch die möglichen Beweisvorschläge der Prozessbeteiligten in der Hauptverhandlung gefördert werden. Darüber hinaus wurde im Proyecto Maier der Grundsatz hervorgehoben, dass die gerichtliche Überzeugung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfen ist. Das erkennende Gericht musste den Verfahrensstoff „nach einer freien Beweiswürdigung, entnommen aus der Gesamtheit der Debatte“ würdigen (Art. 321 Abs. 1 mit Zitat des § 261 StPO unter anderen Quellen). Somit durfte beim Urteil nur verwertet werden, was zum Gegenstand der öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung gehörte. Der Verlesung von Ermittlungsprotokollen wurden aber noch zu wenige Grenzen gesetzt, vgl. Art. 300 Abs. 1 Nr. 2, 283 Abs. 1, 288 Abs. 1 Nr. 1, zu den Akten Art. 114 und 254 des Proyecto Maier. Im Übrigen bezog sich der Entwurf für die Verlesung u. a. wiederum auf die §§ 251 ff. StPO als Quelle.86 Für die Befragungen der Zeugen und Sachverständigen entwickelte der Proyecto Maier ein anderes System als der CPP Córdoba von 1939. Vorgesehen war zu Beginn eine gerichtliche Befragung in Form eines Berichts (relato). Anschließend war der Prozessbeteiligte an der Reihe, der den zu Vernehmenden vorgeschlagen hatte und erst im Anschluss die weiteren Prozessbeteiligten. Und zuletzt besaß das Gericht ein Fragerecht (Art. 314). Dabei war nicht beabsichtigt, direkt die Methode der cross examination aus dem angloamerikanischen System zu übernehmen, sondern es sollte nur eine Annäherung erreicht werden.87 Diese Reihenfolge und Art der Befragung wurde später in vielen lateinamerikanischen Strafprozesssystemen etabliert, beginnend in den CPP Guatemala und Costa Rica. Im Übrigen behielt das erkennende Gericht im Proyecto Maier die Herrschaft über die Beweisführung und überließ die Entscheidung über den Inhalt der Beweisaufnahme nicht der Bewertung der Prozessbeteiligten. Die Reformen in Lateinamerika sowie im speziellen in Argentinien stützten sich also entscheidend auf die kontinentaleuropäischen Quellen. Dabei soll nicht außer Betracht bleiben, dass das Strafverfahrensrecht nach der damaligen argentinischen strafprozessualen Literatur einen dem materiellen Strafrecht dienenden Charakter besitzt. Bezüglich des Wahrheitsbegriffs richtete man sich nach der Korrespondenztheorie der Wahrheit, als Zweck des Strafverfahrens wurde die Erforschung des 85
Diese Ideen befinden sich zersplittert zum Beispiel in: Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 8 c), S. 434 über die Hauptverhandlung (a) und das Ermittlungsverfahren (b) im Código Levene; § 5 G 9, S. 439 über das Ermittlungsverfahren (b) im Código Córdoba 1991. 86 Vgl. den Verweis im Art. 300 Proyecto Maier. 87 Maier, Proyecto de Código Procesal Penal 1986, Exposición de Motivos, S. 663.
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historischen, realen Sachverhalts angesehen und man wendete sich gegen einen Parteiprozess, weil der „materielle Verfahrensinhalt nicht den Parteien zur Verfügung“ stehen sollte.88 Ein von Opportunität regiertes Strafprozesssystem wurde abgelehnt.89 Die Dispositionsmaxime und die verfahrenserledigenden Absprachen wurden im Rahmen des Proyecto Maier prinzipiell abgelehnt. Es wurde nur ein procedimiento monitorio (Arts. 371 ff.) als abgekürztes Verfahren für die Kleinkriminalität bzw. bei einer Straferwartung unter einem Jahr in den Entwurf aufgenommen. Diese Art der Verfahrenserledigung entsprach dem Strafbefehlsverfahren des deutschen Strafprozesses. Vorausgesetzt war die Vereinbarung zwischen dem Ministerio Público und dem Angeklagten über die Abkürzung des Verfahrens, das eigentlich als Ausnahme gedacht war. Leider wurde es in der argentinischen Gesetzgebung zum Regelverfahren und ist heute auch für Fälle schwerer Kriminalität vorgesehen. Der Prozentsatz der Verurteilungen über diese Verfahrensform liegt nun bei über 50 %.90 Es wurden also abkürzende Verfahrensarten in den CPP Nación und in Provinzen eingefügt, was weder in den Zeiten des Proyecto Maier noch des Código Procesal Penal Modelo para Iberoamérica in Betracht gezogen wurde. Der letztgenannte sah einen juicio abreviado nur für solche Fälle vor, bei denen die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe unter zwei Jahre für ausreichend hielt (Art. 371). dd) Reform der Gerichtsorganisation In den Motiven des Proyecto Maier wurde empfohlen, eine neue Gerichtsorganisation zu etablieren.91 Unter Beteiligung vieler wurde anschließend der Vorentwurf für ein Gesetz zur Organisation der Bundesstrafjustiz und der Staatsanwaltschaft verfasst (Anteproyecto de Ley Orgánica para la Justicia Penal y el Ministerio
88 Bereits Maier, in: Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 107, Fn. 55; ferner zum Beispiel in: Entre la inquisición y la composición, Dossier S. 28. Für eine richtige Anwendung des Konzepts der historischen Wahrheit mit Ablehnung der Grundsätze des alten Inquisitionsprozesses; ders., in: Jueces para la democracia, Nr. 16 – 17, 1992, S. 153; ders., Derecho Procesal Penal I, § 8 D, S. 841 ff., 852 ff.; in deutscher Sprache ders., Festschrift für Tiedemann, S. 1223 ff., 1230, 1235, 1239. 89 Maier, Derecho Procesal Penal I, § 8 C 3, S. 836 f.; bereits ders., in: Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 131. Die Ablehnung eines von Opportunität regierten Strafprozesssystems wird dort gesondert ausgeführt und auf die kontinentaleuropäischen Wurzeln des lateinamerikanischen Strafprozesssystems hingewiesen. 90 Vgl. die Kritik von Maier bezüglich des in den CPP Córdoba von 1991 eingefügten procedimiento abreviado, Derecho Procesal Penal, § 5 G 9 d, S. 440 f.; ders., Festschrift für Gössel, S. 703, vgl. ferner ders., Entre la inquisición y la composición, Dossier S. 28. Für Bagatelldelikte annehmbar vgl. ders., in: Jueces para la democracia, Nr. 16 – 17, 1992, S. 153 f. Für die argentinische Literatur bezüglich des procedimiento abreviado vgl. infra, Kapitel 8 B. I. 91 Maier, Proyecto de Código Procesal Penal 1986, a. a. O., S. 670. Mit der Planung dieses Vorhabens beauftragten der Consejo para la Consolidación de la Democracia und das Justizministerium (Secretaría de Justicia de la Nación) Julio Maier und Alberto Binder.
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Público92). Es handelte sich um eine Neuorganisation der Justiz in einheitlicher und allgemeiner Form, aber auch die Figuren des Ministerio Público (Art. 85 ff. des Vorentwurfs) und des Verteidigerdienstes (Servicio Oficial de Defensa, Art. 142 ff. des Vorentwurfs) wurden neu konzipiert. Ziel des umfassenden Entwurfs war die Schaffung einer selbstständigen und einheitlichen Staatsanwaltschaft, die bis dahin in der allgemeinen Gerichtsorganisation durch alte Bundesgesetze, nämlich Nr. 27 aus dem Jahre 1862 und Nr. 4055 aus dem Jahre 1902, geregelt war. Der Vorentwurf schlug auch die Mitwirkung von Laien vor, die im bestehenden Strafprozess nicht vorgesehen war. Weil das argentinische Grundgesetz von 1853 ein Geschworenengericht fordert (Art. 24, heute noch die Art. 75 Abs. 12, 118), setzte der Entwurf diese Forderung um und sah für den Regelfall ein Schöffengericht und für bestimmte Verbrechen (Hochverrat und Straftaten im Amt) ein Geschworenengericht vor.93 Allerdings wurde in Argentinien ein Laiengericht außer in der Provinz Córdoba für Straftaten im Amt nicht realisiert. Neben der Mitwirkung von Laien sah der Entwurf eine neue Art von Richterauswahlverfahren vor. Ursprünglich wurden die Richter nach dem nordamerikanischen System ohne weiteres direkt von der Exekutive vorgeschlagen und vom Bundesrat (2. Kammer des Bundesparlaments) bestätigt. Die Ernennungen erfolgten aber in der argentinischen Praxis meistens nicht aufgrund der fachlichen Qualifikation, sondern mit Rücksicht auf politische Beziehungen und die jeweilige politische Einstellung, was sich sowohl in der Militärzeit als auch danach einbürgerte.94 Gegen diese Vorgehensweise kreierte der Proyecto Maier einen Richterrat (Consejo de la Magistratura), der – dem italienischen und spanischen Modell folgend – als verfassungsrechtliches öffentliches Organ zum einen für die Auswahl, zum anderen aber auch für die Entlassung und Dienstaufsicht über die Richter des gewöhnlichen Spruchkörpers fungierte. Durch die vielfältige Besetzung des Richterrats und durch die Methode des Wettbewerbs versuchte man, die frühere Praxis zu vermeiden und die richterliche Unabhängigkeit zu garantieren.95 Der Entwurf Maiers zur Neuordnung der Gerichtsorganisation konnte sich durch eine Reform der Bundesverfassung und den Erlass der entsprechenden Gesetze später auch in den Provinzen durchsetzen. Der Weg bis zur Neuorganisation der Justiz war aber nicht leicht. Anlass für die Annahme der Erneuerungen des Entwurfs war ein politischer Kompromiss: Da die argentinische Verfassung von 1853 keine Wiederwahl des Bundespräsidenten erlaubte, strebte der peronistische Präsident 92 Anteproyecto de Ley Orgánica, Doctrina Penal/Cuadernos, Año 11, Nr. 41 bis 44, 1988. Vgl. dazu a. a. O., Presentación und Exposición de Motivos, S. 337 ff.; Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 8 b) II, S. 428. 93 Vgl. Anteproyecto de Ley Orgánica – Exposición de Motivos, Doctrina Penal/Cuadernos, Año 11, Nr. 41 bis 44, 1988, S. 346 f. 94 Vgl. Maier, Festschrift für Gössel, S. 704 f., 707 f. 95 Vgl. Anteproyecto de Ley Orgánica – Exposición de Motivos, Doctrina Penal/Cuadernos, Año 11, Nr. 41 bis 44, 1988, S. 347.
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Carlos Menem am Ende seiner Amtszeit eine Verfassungsreform an, die nach der Militärdiktatur erforderlich geworden war und die noch aus der Amtszeit von Raúl Alfonsín herrührenden institutionellen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten beseitigen sollte. Der ursprüngliche Entwurf der Unión Cívica Radical (UCR) und anderer Parteien sollte grundsätzliche Fragen neu ordnen, wie beispielsweise die Autonomie der Stadt Buenos Aires, die Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten von 6 auf 4 Jahre, die Ernennung eines Kabinettschefs, den Verfassungsrang der internationalen Menschenrechtsvereinbarungen und weitere Aspekte, die die Machtbefugnisse des Präsidenten einschränken sollten, nicht zuletzt die Unabhängigkeit des Ministerio Público und die im Proyecto Maier angedachte Veränderung der Gerichtsorganisation mit der Schaffung des Consejo de la Magistratura. Im sog. Pacto de Olivos wurden die Reformen beschlossen und man erreichte Einigkeit zwischen den Parteien. Die Verfassungsreform fand am 22. 8. 1994 statt. Sie führte in Art. 114 den Consejo de la Magistratura und in Art. 120 den Ministerio Público als unabhängiges Organ ein, dessen Organisation wiederum durch das Gesetz 24.946 vom 11. 3. 1998 geregelt wurde. ee) Verbreitung Auch wenn der Proyecto Maier im Gesetzgebungsverfahren für das argentinische Bundesstrafprozessgesetz nicht angenommen wurde, erlangte er in der lateinamerikanischen Reformdebatte und in der Gesetzgebung der Nachbarländer große Bedeutung. Unmittelbar nach seiner Fertigstellung wurde der Proyecto Maier einer akademischen Diskussion auf einem dafür organisierten internationalen Symposium in Buenos Aires unterzogen.96 In der Gesetzgebung verbreiteten sich seine Grundsätze durch den CPP Modelo para Iberoamérica.97 Der CPP von Costa Rica von 1973, der ursprünglich dem CPP von Córdoba von 1939 nachgebildet war, wurde auf Grundlage des Proyecto Maier im Jahre 1996 geändert (Ley Nr. 7594)98 und brachte folgende strukturellen Veränderungen: Zunächst wurde das Ermittlungsverfahren in die Hände eines objektiven Ministerio Público gelegt, der auch entlastende Umstände ermitteln sollte (Art. 62 f., 277, 290). Hinsichtlich der Auswahl der zu erhebenden Beweise in der Hauptverhandlung war 96 Vgl. den Sammelband Consejo para la consolidación de la democracia (Hrsg.), Hacia una nueva justicia penal; auch unmittelbar in Deutschland Schöne, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 796; Eser, auch in Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 723 ff. 97 Maier wurde von Guatemala beauftragt, nach der Wiedereinführung der Demokratie 1986 Empfehlungen für das dortige Strafsystem abzugeben. Entsprechend wurde in Guatemala ein Bundesstrafprozessgesetz ganz nach dem Muster seines Entwurfs und des CPP Modelo para Iberoamérica von ihm und Binder entworfen, das am 28. 9. 1992 erlassen wurde und am 1. 7. 1994 in Kraft trat. Zu dieser Entwicklung vgl. Pastor, Código Levene: ¿nacerá viejo y caduco?, Dossier S. 22 ff. Ferner Maier, in: Jueces para la democracia, Nr. 16 – 17, 1992, S. 162; Goransky, Homenaje a Maier, S. 977 ff., 993; Langer, Revolución en el proceso penal latinoamericano, S. 28 ff.; Tijerino Pacheco, Mediatización de la oralidad, S. 175 ff., 183. 98 Vgl. dazu Levene (h.), Revista La Ley 1981-A, S. 786 ff.
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zwar ein Vorschlagsrecht der Prozessbeteiligten vorgesehen („ofrecimiento de prueba“), grundsätzlich galt allerdings die Amtsaufklärungspflicht des erkennenden Richters (Art. 320). Auch hier war für den Anfang der Befragungen in der Hauptverhandlung die Form des Berichts (relato) vorgesehen (Art. 352), im Anschluss folgten nach dem Muster des Proyecto Maier zuerst die Fragen der Prozessbeteiligten und erst danach diejenigen des Gerichts.99 Zugleich wurde der procedimiento abreviado eingefügt (Art. 373 ff.). Anders als der Proyecto Maier sah ihn nun der CPP Costa Rica nicht nur für Fälle der Kleinkriminalität, sondern für alle Delikte vor.100 Der Código von Costa Rica entwickelte sich in seiner Struktur als Muster für die weiteren lateinamerikanischen Länder. Allerdings kamen von den Impulsgebern des chilenischen Modells kritische Stimmen, die zum Beispiel bemängelten, dass das costa-ricanische Ermittlungsverfahren schriftlich, langsam und damit inquisitorisch sei, anstatt dass es ausschließlich durch mündliche Verhandlungen zwischen den Parteien vor dem Ermittlungsrichter durchgeführt wurde.101 Der Strafprozess von Costa Rica beruhte aber aufgrund seiner argentinischen Wurzeln auf einer kontinentaleuropäischen Tradition und damit schon im Grundprinzip nicht auf einer adversatorischen Parteiauseinandersetzung. Allerdings erlebte Costa Rica ab 2007 eine Umwandlung des ursprünglichen Konzepts hin zu einem adversatorischen System, was eine aufwendige Umschulung von Richtern und Staatsanwälten erforderlich machte.102 Davon einmal abgesehen war der Proyecto Maier von 1986 Impulsgeber für die Abschaffung des Inquisitionsprozesses in Argentinien, auch wenn die meisten Provinzen zuerst den CPP Córdoba von 1939 ihren Reformen zugrunde legten. Auf Basis des Proyecto Maier entstand sodann die Novellierung des Strafprozessgesetzbuches der Provinz Córdoba (Ley Nr. 8123), beinhaltete aber einige wesentliche Abweichungen:103 Der neue CPP Córdoba, nach seinem Impulsgeber auch „Código Cafferata“ genannt, wurde am 5. 12. 1991 erlassen, am 16. 1. 1992 veröffentlicht und trat am 16. 1. 1995 in Kraft. Allerdings traten noch nicht sämtliche Vorschriften in Kraft, da ein Antrag der Exekutive vor dem Obersten Gerichtshofs von Córdoba 99
Vgl. supra, C. II. 4. a) cc) (3), Art. 314 des Proyecto Maier. Vgl. Llobet, in: Maier/Bovino (Hrsg.), El procedimiento abreviado, S. 433 ff. 101 Vgl. Riego, Informe comparativo (CEJA), S. 67; ferner CEJA, Informe Seguimiento Reforma Procesal Penal Costa Rica, S. 1 ff., 5; vgl. ferner über die zwei Modelle infra, Kapitel 7 B. I. 102 Nach der Entscheidung der Corte Suprema de Justicia von Costa Rica Nr. 2007 – 03019 vom 7. 3. 2007 wurden die Circulares 72 – 07 und 17/2007 erlassen, denenzufolge die Richter und Staatsanwälte das Ermittlungsverfahren fast ausschließlich durch mündliche Verhandlungen mit mündlichen Entscheidungen durchführen müssen, sodass alle Beschlüsse mündlich und unmittelbar in den Sitzungen erlassen werden, vgl. die Unterstützung bei diesem Prozess durch die chilenische Institution CEJA, Informe Seguimiento Reforma Procesal Penal Costa Rica, S. 1 ff., 8 f. 103 Vgl. für Córdoba Cafferata Nores, Introducción al nuevo CPP de la Provincia de Córdoba, S. 15 ff.; Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 9, S. 436 ff.; ders., in: Jueces para la democracia, Nr. 16 – 17, 1992, S. 152, Fn. 19. 100
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(Tribunal Superior de Justicia) eingereicht worden war. Kritisiert wurde, dass es an persönlichen und sachlichen Mitteln mangele.104 Das neue cordobesische Gesetz übernahm die Verteilung der Prozessrollen aus dem Entwurf Maiers und machte den Ministerio Público zum Herrn des Ermittlungsverfahrens (Art. 71, 301). Übernommen wurde auch die Regelung zu den Vorschlägen des Ministerio Público und der Verteidigung für die Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung (Art. 362 bis 365, 400). Die Befragungen in der Haupverhandlung wurden diesen beiden Prozessbeteiligten überlassen und dem Gericht wurde lediglich die Befugnis zur abschließenden Fragestellung eingeräumt (Art. 393, 396). Obwohl der CPP Córdoba 1991 grundsätzlich auf der Basis des CPP Córdoba 1939 und des Proyecto Maier verfasst wurde, wurden auch neue Elemente aufgenommen, die dem traditionellen kontinentaleuropäischen Verfahren nicht entsprachen: Eingefügt wurde nämlich der procedimiento abreviado, ohne aber seine Anwendung auf Delikte mit einer niedrigen Strafdrohung zu beschränken (Art. 415), sowie die exclusiones probatorias, also die Beweisausschlussregeln (Art. 194 ff.). Der procedimiento abreviado in Córdoba wurde dementsprechend hauptsächlich während der Hauptverhandlung genutzt und wurde im Jahr 2001 in 60 % der Fälle angewendet.105 Im Anschluss an die Reform des CPP Córdoba und nach seinem Muster wurde noch im selben Jahr, also 1991, ein CPP für die argentinische Provinz Tucumán erlassen, der dort im Unterschied zum CPP Córdoba bereits von Beginn an vollständig in Kraft trat (Ley Nr. 6203, erlassen am 1. 8. 1991). Die strukturell relevanten Vorschriften sind die Art. 71, 75, 304 für die Herrschaft des Ministerio Público im Ermittlungsverfahren; die Art. 366 f. für die Beweisvorschläge der Prozessbeteiligten in der Hauptverhandlung, der Art. 399 für die Befragungen der Prozessbeteiligten und der Art. 447 für den procedimiento abreviado. Sodann folgte auch die Provinz Buenos Aires unmittelbar dem Vorbild von Córdoba und Tucumán, indem sie ihr altes Strafprozessgesetzbuch von 1915 mit Gesetz Nr. 11.922 vom 11. 12. 1996 ersetzte. Für das Ermittlungsverfahren wurde auch dort die führende Rolle des Ministerio Público vorgesehen (Arts. 56, 267) und auch für die Hauptverhandlung nahm man auf die Regelungen der Vorbilder Bezug (Art. 357, Art. 360, 364, Art. 395 ff.). Die damaligen Fassungen der jeweiligen Gesetze für die erwähnten Provinzen erfuhren später wiederum Änderungen, die aber in der gegenständlichen Darstellung der Verbreitung des Proyecto Maier nicht relevant sind und deshalb nicht weiter vertieft werden sollen. Auch der CPP Nación von 1991 erfuhr später Veränderungen, die auf den Proyecto Maier zurückzuführen waren. Diese Punkte wurden später von einigen argentinischen Provinzen übernommen.106 Ferner wurde auch der CPP der südlichen Provinz Chubut von Maier verfasst, allerdings beginnt dort der Strafprozess nach
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Kritisch Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 9, S. 437, Fn. 254. Vgl. Riego, Informe comparativo (CEJA), S. 60 ff. Vgl. dazu auch infra, C. II. 4. b) dd) (1), a. E.
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diesem Konzept mit der Anklage der Staatsanwaltschaft, ohne dass ein Ermittlungsverfahren vorgesehen ist.107 b) Proyecto Levene aa) Entstehung und Gesetzgebungsverfahren Bereits in den 1960er Jahren verfasste Ricardo Levene den Entwurf für den Código der argentinischen Provinz La Pampa auf der Grundlage des CPP Córdoba von 1939 mit einigen kleinen Änderungen, die aber das wesentliche Konzept nicht veränderten. Der Entwurf wurde als CPP La Pampa am 23. 11. 1964 verabschiedet (Ley Nr. 332). Auf dieser Basis entwarf eine von Levene geleitete Kommission wiederum einen Entwurf für das argentinische Bundesstrafgesetz im Jahr 1975, der am 13. 9. 1975 dem Bundesparlament vorgelegt wurde. Der Militärputsch vom 24. 3. 1976 verhinderte das Gesetzgebungsverfahren und damit die Verabschiedung des Entwurfs.108 Am Ende der langen Militärdiktatur gewann Raúl Alfonsín die demokratische Wahl, dessen Präsidentschaft bis 1989 dauerte. Mit der Wiederherstellung der Demokratie sollte auch ein neues Bundesstrafprozessgesetz erlassen werden. Das Justizministerium (Secretaría de Justicia), das in enger Verbindung mit der Universität Buenos Aires stand, legte im Jahre 1987 dem Parlament den Proyecto Maier vor. Nach der Amtzeit von Alfonsín und unter der anschließenden Regierung von Menem von der Partei Justicialista bzw. Peronista wurde Levene am 25. 4. 1990 zum Präsidenten des argentinischen Bundesverfassungsgerichts ernannt. Unmittelbar im Anschluss wurde sein Gesetzesentwurf mit kleinen Veränderungen am 19. 5. 1990 dem Bundesrat bzw. der 2. Kammer des Bundesparlaments (Senado de la Nación) vorgelegt.109 Die Vertreter der Partei UCR äußerten Bedenken gegenüber diesem Entwurf und bevorzugten den Proyecto Maier, genauso wie einige peronistische Parlamentsmitglieder. Schließlich wurde aber der Proyecto Levene mit einigen Änderungen, die vom peronistischen Justizminister Arslanian und von der Partei selbst vorgenommen wurden, von beiden Kammern des Bundesparlaments mit der peronistischen Mehrheit angenommen,110 am 21. 8. 1991 als Gesetz Nr. 23.984 erlassen, am 4. 9. 1991 verkündet und trat am 5. 9. 1992 in Kraft. 107
Dafür auch Bovino, Simplificación del procedimiento, S. 527 ff. Vgl. Levene (h.), Proyecto de Código Procesal Penal, S. 162; Dictamen de la Comisión del Senado, in: Chichizola (Hrsg.), Código Procesal Penal de la Nación, S. 61. Der Entwurf Levene wurde dem Bundesparlament von der damaligen Präsidentin María Estela Martínez de Perón aus der Partei Justicialista vorgelegt. 109 Von den Abgeordneten Martiarena und Benítez, vgl. Levene (h.), Proyecto de Código Procesal Penal; auch Anales de la Legislación Argentina 1992, S. 2904 – 2949; ferner Dictamen de la Comisión del Senado, a. a. O., S. 61. 110 Vgl. Dictamen de la Comisión del Senado, S. 54 ff. und de la Comisión de Diputados mit der Mehrheit S. 67 ff., in: Chichizola (Hrsg.), Código Procesal Penal de la Nación; Cortese, Reflexiones de un parlamentario, S. 171 ff. 108
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bb) Bedeutung Der Proyecto Levene ist für die späteren lateinamerikanischen Entwicklungen deshalb so von Bedeutung, weil er eine Richtung für das Strafverfahrensrecht vorgab, von der sich die reformerische Strömung der argentinischen Provinzen sowie eine gewichtige Ansicht im Schrifttum gerade entfernen wollten. Das aber führte zu einflussreichen Impulsen in den restlichen Ländern Lateinamerikas. Im Folgenden werden nun die Elemente des ursprünglichen Proyecto Levene dargestellt, soweit sie für die Abhandlung relevant sind. cc) Konzept (1) Ermittlungsverfahren mit Untersuchungsrichter Im CPPN nach dem Proyecto Levene111 ist die Beweisführung im Ermittlungsverfahren Aufgabe des Untersuchungsrichters (Art. 26 und 194112). Der Ministerio Público hat prinzipiell nur die Verfahrenseinleitung inne und vertritt die Anklage.113 In einigen besonderen Fällen kann er aber einige Beweiserhebungen im Ermittlungsverfahren selbst vornehmen (Art. 198). Grundsätzlich besteht auch die Möglichkeit, dass der Ministerio Público die Ermittlungen selbstständig führt. Denn das Justizministerium hat eine Änderung des Proyecto Levene vorgeschlagen, die vom CPP Córdoba übernommen wurde (Art. 196). Danach verfügt der Untersuchungsrichter über die Befugnis, dem Ministerio Público die eigenständigen Ermittlungen („la dirección de la investigación“) zu übertragen. Diese Funktionsübertragung kann vom Untersuchungsrichter allerdings zu jeder Zeit wieder rückgängig gemacht werden (Art. 214 f.).114 Daneben übernimmt der Ministerio Público auch im Fall der instrucción sumaria (oder sog. citación directa) die Ermittlungen. Es handelt sich um Fälle, in denen der Täter auf frischer Tat gefasst wurde, die Anordnung von Untersuchungshaft nicht in Frage kommt und der Angeklagte nicht beantragt, vom Untersuchungsrichter vernommen zu werden (Art. 353 ff., eingefügt durch Ley Nr. 24.826 vom 19. 6. 1997). 111 Hier zitiert nach den Anales de la Legislación Argentina 1992, S. 2904 – 2949; für die Motiven und Begründung vgl. Levene (h.), Proyecto de Código Procesal Penal; dazu Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 8 c), S. 434 ff.; Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 73 ff., 81 ff.; Guariglia/Bertoni, in: Maier/Ambos/Woischnik, Las Reformas Procesales Penales en América Latina, S. 63 ff.; Cortese, Reflexiones de un parlamentario, S. 171 ff., unter zahlreicher Literatur. 112 Anales de la Legislación Argentina 1992, S. 2904 – 2949. 113 Vgl. dazu Levene (h.), Proyecto de Código Procesal Penal, S. 7, 11. 114 Neben der zahlreichen Literatur, die darauf Bezug nimmt, vgl. Dictamen de la Comisión de Diputados, in: Chichizola (Hrsg.), Código Procesal Penal de la Nación, S. 68 f., vgl. ferner dort den Informe del Ministro de Justicia Arslanian ante el Senado de la Nación, S. 77, gegen einen generellen Einsatz des Ministerio Público als Herr des Ermittlungsverfahrens für alle Fälle. Bei den Motiven des ursprünglichen Entwurfs wurde die Ablehnung einer solchen Ermittlungsmöglichkeit für den Ministerio Público gesondert begründet vgl. dazu Levene (h.), Proyecto de Código Procesal Penal, S. 7, 25.
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(2) Hauptverhandlung mit Amtsaufklärungspflicht Wie es bei jeder Strafprozessreform im Laufe des 20. Jahrhunderts üblich war, wurde auch beim Proyecto Levene eine mündliche, unmittelbare und öffentliche Hauptverhandlung in das argentinische Bundesstrafprozessgesetz eingefügt (ursprünglich Art. 337).115 Diese im Jahre 1992 festgelegte Struktur des Código Nación ist bis heute geltendes Recht.116 Seitdem sind auch für Bundessachen die Ermittlungsaufgaben von den Aufgaben des erkennenden Gerichts getrennt. Etwas anderes gilt nur für Fälle der Kleinkriminalität (delitos correccionales).117 In der Hauptverhandlung ist die Beweisführung nach dem Muster des CPP Córdoba von 1939 Aufgabe des erkennenden Gerichts, konkret ist der Vorsitzende für Beweiserhebungen verantwortlich (Art. 382 Abs. 1, 375, 356, 357, 388).118 Wie auch im Proyecto Maier wurde als Ziel des Strafprozesses die Erforschung der materiellen Wahrheit festgelegt.119 Hinsichtlich der Auswahl der Beweiserhebungen enthält der Proyecto Levene nach dem Muster des CPP Córdoba von 1939 (ebenso wie viele nachfolgende lateinamerikanische Strafprozessgesetze) eine Klausel, nach welcher die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung ihre jeweiligen Beweise im Vorfeld der Hauptverhandlung anbieten können (Art. 354 Abs. 4, 355, ofrecimiento de prueba). Ein formales Beweisantragsrecht mit geregelten Ablehnungsgründen besteht aber nicht. Der Vorsitzende des Gerichts ist aber nicht verpflichtet, die vorgeschlagenen Beweiserhebungen der Prozessbeteiligten anzunehmen, kann sie aber nur ablehnen, wenn er sie für ungeeignet oder überflüssig hält. Liegen keine Vorschläge der Prozessbeteiligten vor, regelt der Código Levene, dass der Vorsitzende geeignete Beweiserhebungen anordnet, „die bereits im Ermittlungsverfahren durchgeführt sind“ (Art. 356 Abs. 2120). Diese gesetzliche Vorgabe ist bedenklich, weil somit nur die nicht kontradiktorisch gesammelten Informationen aus der vom Untersuchungsrichter geführten Ermittlungsakte Prozessstoff werden und folglich eine vollständige und kontradiktorische Sachverhaltserforschung im Rahmen der richterlichen Amtsaufklärung in der Hauptverhandlung unterbleibt. Die eigentlich bezweckte Ermittlung der materiellen Wahrheit ist damit ggf. bedroht. Besonders problematisch für die Verwirklichung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Hauptverhandlung ist ferner die nahezu uneingeschränkte Zulässigkeit der Verlesung von Ermittlungsprotokollen (Art. 355 Abs. 2, 378, Abs. 2, 391 f.).121 Die 115
Levene (h.), Proyecto de Código Procesal Penal, S. 26. Zum neuen Código Procesal Penal Federal, der bis jetzt nur in den Provinzen Salta und Jujuy verbindlich eingeführt wurde, siehe infra, Punkt 5. 117 Vgl. die Motive in Levene (h.), Proyecto de Código Procesal Penal, S. 5. 118 Vgl. die Motive in Levene (h.), Proyecto de Código Procesal Penal, S. 27. 119 Levene (h.), Proyecto de Código Procesal Penal, S. 15, 27; Dictamen de la Comisión del Senado, in: Chichizola (Hrsg.), Código Procesal Penal de la Nación, S. 66. 120 Art. 356 Abs. 2 CPPN: „El tribunal podrá rechazar, por auto, la prueba ofrecida que evidentemente sea impertinente o superabundante. Si nadie ofreciere prueba, el presidente dispondrá la recepción de aquella pertinente y útil que se hubiere producido en la instrucción“. 121 Vgl. die Motive in: Levene (h.), Proyecto de Código Procesal Penal, S. 28. 116
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vorgebrachte Kritik hat zwar auch diesen Aspekt gesehen, konzentrierte sich aber hauptsächlich auf die Ablehnung der Figur des Untersuchungsrichters.122 Ein weiterer Kritikpunkt am Código Levene betraf die darin vorgesehene Anwendung der Untersuchungshaft als Regel statt Ausnahme und insgesamt die niedrigen Voraussetzungen für Eingriffe in die Beschuldigtenrechte.123 Eine positive und notwendige Entwicklung im Vergleich zum früheren Código Obarrio war demgegenüber der Abschied vom System der gesetzlichen Beweisregeln und ihre Ersetzung durch die freie Beweiswürdigung.124 Der Código Levene erfuhr in der Folge eine ausschlaggebende Wende, nämlich durch die Einführung des procedimiento abreviado für Delikte mit Freiheitsstrafen unter 6 Jahren (Art. 431 bis),125 wodurch sein ursprüngliches Konzept der Erforschung der materiellen Wahrheit nahezu aufgegeben wurde. dd) Kritik am Proyecto Levene (1) Die Figur des Untersuchungsrichters Vor allem durch Wissenschaftler der Universität von Buenos Aires war die Figur des Untersuchungsrichters im Ermittlungsverfahren Kritik ausgesetzt, als der Código Levene im Gesetzgebungsverfahren angenommen wurde. Die Beanstandungen bezogen sich in erster Linie auf ein besonderes Phänomen der Region Buenos Aires. Denn vor allem für die Hauptstadt wurde auf das Bestehen einer dominierenden Richterschaft hingewiesen. Angesicht dieser strukturellen Ausgangslage wurde am Código Levene kritisiert, dass durch ihn die richterlichen Kompetenzen gerade nicht eingeschränkt werden, sondern geradezu im Gegenteil Strukturen zur weiteren Stärkung der Richterrolle im Ermittlungsverfahren geschaffen werden. Konkret bemängelt wurde auch die Konzentration von drei Aufgabenbereichen in der Person des Untersuchungsrichters, nämlich einerseits die Entscheidungsgewalt über die Erforderlichkeit prozessualer Maßnahmen, zugleich die implizite Bestätigung, dass eben die Maßnahme rechtmäßig wäre und nicht zuletzt die Wahrheitsermittlung.126 122
Vgl. dazu folgenden Abschnitt. Vgl. Guariglia, ¿De qué reforma me hablan?, Dossier S. 22 ff.; ders./Bertoni, in: Maier/ Ambos/Woischnik, Las Reformas Procesales Penales en América Latina, S. 60; Cortese, Reflexiones de un parlamentario, S. 187 ff. 124 Vgl. dazu die Motive in: Levene (h.), Proyecto de Código Procesal Penal, S. 28. 125 Vgl. dazu infra, C. II 5. 126 Kritik von Maier, bereits in: Proyecto de Código Procesal Penal 1986, S. 660 f.; ders., Anteproyecto de Ley Orgánica – Exposición de Motivos, Doctrina Penal/Cuadernos, Año 11, Nr. 41 bis 44, 1988, S. 343; ders., in: Jueces para la democracia, Nr. 16 – 17, 1992, S. 155 f.; ders., Derecho Procesal Penal II, § 11 A 3 a, S. 362 ff.; Binder, Introducción, S. 217 f.; noch heute die Literatur, vgl. zum Beispiel Otranto, Signos que evidencian la necesidad de una reforma procesal, S. 928 ff. Für weitere Kritikpunkte aus der Universität von Buenos Aires vgl. Pastor, Código Levene: ¿nacerá viejo y caduco?, Dossier S. 22 ff.; Guariglia, ¿De qué reforma me hablan?, Dossier S. 22 ff. Bovino sieht die Züge des Código Levene als sehr inquisitorisch an und seine Kritik geht etwas weiter als die damaligen Auffassungen, weil er von einer Kon123
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Die Argumente gegen eine richterliche Konzentration von Befugnissen und für eine Trennung der Prozessrollen entwickelten sich im Proyecto Maier. Basierend auf der Idee der Gewaltenteilung wurde ein Konzept der gegenseitigen Kontrolle der Staatsorgane im Strafprozess erarbeitet, wonach die Justizorgane nicht nur der Eigenkontrolle unterliegen dürften („paradigma de no autocontrol“).127 Darüber hinaus wurde eine Stärkung der Subjektstellung des Beschuldigten vorgeschlagen, die im Proyecto Levene vernachlässigt wurde.128 Mit dieser Begründung hielten die Kritiker ein von der Staatsanwaltschaft geführtes Ermittlungsverfahren unter der Kontrolle eines Ermittlungsrichters für eine bessere Verteilung der Prozessrollen als die im Proyecto Levene vorgesehene konzentrierte Übernahme aller Funktionen in der Person eines Untersuchungsrichters. Im Übrigen konnte man die heute im Schrifttum aufgeführten Schwächen der Figur des Ermittlungsrichters aus deutscher Sicht, vor allem bezüglich der geringen Kontrolleffizienz,129 in der damaligen Zeit der argentinischen Reformen noch nicht ahnen. Auch die erneute Stärkung der Richtermacht durch die Einführung der strafprozessualen Absprachen im Jahre 1997 (der juicio abreviado, Art. 431 bis des Bundesstrafprozessgesetzes) wurde damals noch nicht von der argentinischen Kritik gesehen. Aufgrund der vorgenannten Argumente gegen die Figur des Untersuchungsrichters kann die Forderung der Kritiker nach einem Ermittlungsverfahren unter der Beweisführung des Ministerio Público gut nachvollzogen werden.130 Eben diese Diskussion und die geäußerte Kritik an der Figur des Untersuchungsrichters beherrschte lange Zeit die strafprozessualen Auseinandersetzungen in Argentinien,131 die angesichts der unveränderten Lage des Código Nación noch heute geführt werden. Das Konzept Levenes für den Código Nación mit der Figur eines Untersuchungsrichters hatte aber auch Befürworter, die dem Untersuchungsrichter als unvoreingenommene Prozessfigur vertrauten und den Gewaltenteilungsgrundsatz senstheorie der Wahrheit ausgeht und beim Código Levene bereits das in ihm verankerte Prinzip der historischen Wahrheit kritisiert, vgl. Bovino, ¡hurra! Por fin ninguno es inocente, Dossier S. 22 ff. Heute Benabentos, Teoría general del proceso, S. 202. Die deutschprachige Kritik von Kühn, Die Entwicklung des Ministerio Público Fiscal, S. 284 ff. an die Hauptverhandlung des Código Levene konzentriert sich leider fast nur auf das Modell der richterlichen Aufklärungspflicht aus der Perspektive eines Vertreters einer adversatorischen Hauptverhandlung. Dabei plädiert er dafür, dass der argentinische Ministerio Público als Partei auftreten sollte, a. a. O., S. 288. Anders die knappe Kritik von Woischnik, Untersuchungsrichter, bezüglich der Hauptverhandlung, vgl. S. 109 ff. und bezüglich des Vorverfahrens S. 134 ff. 127 Rusconi, División de poderes en el proceso penal, S. 104 ff. 128 Vgl. zum Beispiel Guariglia, ¿De qué reforma me hablan?, Dossier S. 22 ff. 129 Vgl. zum Beispiel Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 29 Rn. 25, § 9, Rn. 26; Paeffgen, Festschrift für Roxin I, S. 1308. 130 Zumal der Ministerio Público als neues Organ kein enges Verhältnis zum Tatgericht erweisen könnte und damit diese Aufteilung der Rechtspflegeaufgaben zur tatsächlichen Begrenzung der richterlichen Machtausübung in der Lage wäre. 131 Kritisch bezüglich der Figur des Untersuchungsrichters Maier, Derecho Procesal Penal II, § 11 A 3 a, S. 362 ff.; weitere zahlreiche Nachweise supra, Fn. 73.
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dahingehend interpretierten, dass die Ermittlungen gerade zur richterlichen Zuständigkeit gehörten.132 Während bezüglich des Código Nación noch über die Figur des Untersuchungsrichters diskutiert wurde, hatten die argentinischen Provinzen bereits für seine Abschaffung gesorgt und die Ermittlungsaufgaben im Vorverfahren an den Ministerio Público übergeben. Die Gesetzgeber aus den Provinzen waren bereits von der Grundidee des Proyecto Maier und des Código Modelo para Iberoamérica überzeugt und befürworteten deshalb das Konzept des staatsanwaltschaftlich geführten Ermittlungsverfahrens. Vorreiter dafür waren die Provinzen Tucumán und Córdoba im Jahre 1991 (auch mit der ersten Einführung eines Schöffengerichts) und Buenos Aires im Jahre 1996.133 (2) Der Schwerpunkt des Strafverfahrens im Ermittlungsverfahren Im Zusammenhang mit der Richtermacht entwickelte sich ein besonderes Phänomen in der strafprozessualen Praxis nach der Verabschiedung des Código Levene: Der Schwerpunkt des Strafprozesses verlagerte sich wider Erwarten nämlich nicht in die neue mündliche und unmittelbare Hauptverhandlung, sondern blieb im schriftlichen und geheimen Vorverfahren.134 Dieses Vorgehen entsprach nicht den hohen Erwartungen an das neue Paradigma der Abschaffung des schriftlichen Inquisitionsverfahrens. Man könnte durchaus meinen, dass die Gründe für diese Schwerpunktsetzung in der Einführung der Urteilsabsprachen in Form des juicio abreviado zu sehen sind, weil das Ermittlungsverfahren bei dieser Art der Verfahrenserledigung in der Regel in den Vordergrund tritt. Der abreviado war aber zur Zeit der Reform noch gar nicht im Einsatz. Der Grund, dass das Ermittlungsverfahren unmittelbar ab Inkrafttreten des Código Levene in den Vordergrund trat, ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass das Beweismaterial aus der Ermittlungsakte im Urteil verwertet wurde, ohne dass es in der Hauptverhandlung präsentiert und zur Debatte gestellt wurde, also ohne Kontradiktion und jegliche Kontrolle der Verteidigung, oftmals sogar ohne Verlesung.135 Zugleich trug der oben erwähnte Art. 356 Abs. 2 für den Fall von fehlenden Vorschlägen der Prozessbeteiligten dazu bei, das Beweismaterial 132
Gegen die Figur des Ministerio Público als Herrin des Ermittlungsverfahrens zahlreiche Nachweise supra, Fn. 68. 133 Vgl. dazu infra, C. II. 4. a) ee); Maier, Derecho Procesal Penal II, § 11 A 3 a I, S. 366 f.; ferner Pastor, Código Levene: ¿nacerá viejo y caduco?, Dossier S. 22 ff. 134 Kritisch darüber zum Beispiel Cerletti/Folgueiro, Ministerio público en el nuevo Código, S. 145; Vázquez Rossi, Derecho Procesal Penal II, S. 241; Maier, Derecho Procesal Penal II, § 11 A 3 a I (S. 367); Cafferata Nores, Introducción al nuevo CPP de la Provincia de Córdoba, S. 72 (bezüglich des CPP Córdoba von 1939); Bovino, Problemas del Derecho Procesal Penal contemporáneo, S. 6; Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 6 f., 135 f. vgl. auch folgende Fußnote. 135 Kritisch Maier, Derecho Procesal Penal II, § 11 A 3 a I, S. 367; Binder, Introducción, S. 217; gegen eine Wiederholung des Ermittlungsverfahrens durch Verlesung (Art. 391 CPPN) vgl. ders., Proyecto de Código Procesal Penal de la Nación, S. 9 f., 28. Ferner Bruzzone, Sobre la garantía del juez imparcial, S. 5.
C. Der Reformursprung in Argentinien
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direkt aus dem Vorverfahren zu verwerten. Somit kann man von einem grundsätzlichen Scheitern der Etablierung der mündlichen Hauptverhandlung für den Código Levene sprechen. Foglich war die damals intensiv diskutierte Frage nach den Vorund Nachteilen des Einsatzes eines Untersuchungsrichters oder der Staatsanwaltschaft für die Beweisführung und -sammlung im Ermittlungsverfahren nicht das eigentliche Hauptproblem. Eine Ersetzung des Untersuchungsrichters durch einen neu zu konzipierenden Ministerio Público war aus der Perspektive der Kritiker wichtig, um den damals in der Prozesswirklichkeit vorhandenen engen Schulterschluss zwischen dem erkennenden Gericht und dem Untersuchungsrichter bzw. das blinde Vertrauen in seine schriftlichen (und bei der Akte befindlichen) Aufzeichnungen zu vermeiden.136 Eigentlich sollte die Hauptverhandlung in jedem modernen Strafprozessgesetz nach der Abschaffung des Inquisitionsprozesses im Vordergrund stehen und als einzige Grundlage für das Urteil dienen, während das Ermittlungsverfahren als bloße Vorbereitungsphase und zur Verdachtsklärung fungieren sollte. Diesbezüglich enthält der CPPN keine allgemeinen Grundsätze. Geregelt ist lediglich, dass die Verlesung auf klar bestimme Fällen beschränkt ist (Art. 391) und dass das Ermittlungsverfahren maximal 4 Monaten dauern soll, wobei die Möglichkeit der Verlängerung besteht (Art. 207).137 Im Übrigen gibt es problematische Vorschriften wie die des Art. 388 CPPN, der die Konstellation behandelt, wenn neue Beweismittel im Laufe der Hauptverhandlung bekannt werden. In diesem Fall „könnte das Gericht ihre Erhebung auch von Amts wegen anordnen“138. Weil sich Art. 388 auf neue Beweismittel bezieht, ließe sich die Regelung auch dahingehend interpretieren, dass die Hauptverhandlung nur der Kontrolle und Bestätigung der „alten“ Beweise aus dem Ermittlungsverfahren dienen soll. Insgesamt war das Verfahren nach dem CPP Levene auf die Beweise des Ermittlungsverfahrens fokussiert und die diesbezügliche Kritik damals wie heute absolut berechtigt. (3) Die Spannung zwischen dem Untersuchungsrichter und der Staatsanwaltschaft Das Spannungsverhältnis zwischen den starken Befugnissen des Untersuchungsrichters und der im Vergleich weniger gewichtigen Rolle des Anklägers beim Código Levene offenbart die langjährige Grundsatzdebatte zu Art. 348 Abs. 2 CPPN. Es ging dabei um die Fallkonstellation, dass der Fiscal die Verfahrenseinstellung beantragt, der Untersuchungsrichter aber die Eröffnung des Hauptverfahrens für notwendig erachtet. Der Código Levene gab in diesem Fall dem Untersuchungsrichter die Befugnis, das Berufungsgericht zur Lösung dieses Konflikts anzurufen. 136
Vgl. Maier, Derecho Procesal Penal II, § 11 A 3 a I, S. 367. Vgl. darüber Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 159 f. 138 Art. 388 CPPN: „Si en el curso del debate se tuviera conocimiento de nuevos medios de prueba manifiestamente útiles, o se hicieran indispensables otros ya conocidos, el tribunal podrá ordenar, aún de oficio, la recepción de ellos“. Vgl. ferner die Motive in Levene (h.), Proyecto de Código Procesal Penal, S. 27. 137
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Kap. 6: Die strafprozessualen Wurzeln in Lateinamerika
Entschied dieses, dass das Verfahren eröffnet werden muss, ersetzte es den zuständigen Staatsanwalt durch einen anderen und wies den nun zuständigen Staatsanwalt zur Anklageerhebung an.139 Weil das Gericht nicht nur für eine punktuelle Zustimmung (ähnlich wie heute in Deutschland) zuständig war, sondern die Auffassung der Anklagebehörde ersetzen durfte, wurde darin eine Verletzung des Anklagemonopols gesehen. Im Jahre 1994 wurde die Staatsanwaltschaft dann als unabhängiges Organ mit der Anklagefunktion verfassungsrechtlich in Art. 120 anerkannt. Man hatte erkannt, dass das Verfahren des Art. 348 Abs. 2 eine Verletzung der Unabhängigkeit der Anklagefunktion darstellte und entsprechend reagiert. Der Entwurf Levenes hatte kein Zwischenverfahren mit einer eigenständigen Kontrollfunktion wie der Entwurf Maiers nach dem Modell der deutschen StPO vorgesehen. Für die Überprüfung der staatsanwaltschaftlichen Abschlussverfügung am Ende der Ermittlungen übernahm der CPPN von Levene die Regelung aus dem Código Obarrio von 1889, allerdings mit einer Veränderung. Die Kontrollinstanz beim Código Obarrio war der Staatsanwalt am Berufungsgericht, dem der Untersuchungsrichter die Akte zur Entscheidung vorlegte. War dieser Staatsanwalt derselben Ansicht wie der Untersuchungsrichter, also auch für eine Eröffnung des Hauptverfahrens, wurde der ursprüngliche Staatsanwalt, der abweichender Meinung war, durch einen Nachfolger ersetzt. Bei diesem Lösungsweg, den auch der Proyecto Maier in Art. 252 Abs. 3 vorsah, blieb die Entscheidung über die Anklageerhebung in den Händen der Staatsanwaltschaft. Anders als die Bestimmungen des CPP Obarrio und des Proyecto Maier legte der Código Levene die Entscheidung über die Anklageerhebung in die Hände der Judikative, wie es auch in anderen Ländern Europas der Fall ist.140 Allerdings behielt er die Regelung bei, dass ein Staatsanwalt ersetzt werden konnte, was zu Kritik in der Literatur führte. Zugleich bestand ein struktureller Unterschied zu den Modellen, in denen die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren führt, wie beispielsweise im Entwurf Maiers oder in der deutschen StPO, auch wenn auch dort eine richterliche Kontrolle des staatsanwaltlichen Einstellungswunsches vorgesehen ist.141 Weil der Untersuchungsrichter selbst im Código Levene der Herr der Ermittlungen ist und zugleich die Kontrolle über den Einstellungsantrag ausübt, wird er zur Ablehnung der Einstellung tendieren, wenn er viel Mühen in ein langes Ermittlungsverfahren investiert hat. 139
Zur Diskussion über den Art. 348 CPPN vgl. Bovino, El control del pedido de desestimación del fiscal; Gil Lavedra, Legalidad vs. Acusatorio, S. 829 ff. mit Rechtsprechungsnachweise zugunsten des Arts. 348 Abs. 2; Palacio, Acerca de la declarada inconstitucionalidad del art. 348, S. 910 ff.; Rusconi/Goransky, Nuevamente sobre el art. 348 del CPP Nación, S. 245 ff.; Suriz, Algunos problemas en torno del art. 348, S. 263 ff.; Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 157 ff.; Maier, Derecho Procesal Penal II, § 11 A 2 b VIII, § 11 A 3 a II; Kühn, Die Entwicklung des Ministerio Público Fiscal, S. 247 ff., unter vielen anderen. 140 Levene (h.), Proyecto de Código Procesal Penal, S. 24 f. Anders die Lösung im Entwurf Maier, die in die Richtung des Código Obarrio geht, vgl. Art. 252 Abs. 3. 141 Proyecto Maier, Art. 230, 251 f.; § 153a StPO.
C. Der Reformursprung in Argentinien
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Die umstrittene Lage führte letztlich dazu, dass Art. 348 Abs. 2 CPPN durch die Entscheidung „Quiroga“ im Jahr 2004 für verfassungswidrig erklärt wurde. Der Corte Suprema stützte seine ausführliche – und vier sehr lange Sondervoten enthaltende – Begründung auf die Verletzung des Anklagegrundsatzes und die Gefährdung der Unabhängigkeit des Ministerio Público, aber auch auf einen Verstoß gegen die richterliche Unparteilichkeit des für das Ermittlungsverfahren zuständigen Berufungsgerichts. Die Trennung zwischen der Ausübung der Anklagefunktion durch den Ministerio Público und der richterlichen Urteilsaufgabe sei in Art. 120 der argentinischen Verfassung vorgesehen. Das Gericht führte weiter aus, dass Art. 348 Abs. 2 CPPN beide Funktionen dem Berufungsgericht überträgt und damit mit der gebotenen Trennung nicht in Einklang zu bringen ist. Die Ausübung der Anklagefunktion könne zwar kontrolliert, nicht aber gänzlich ersetzt werden.142 Problematisch ist aber, dass die Lösung derjenigen Fallkonstellation, in der die Auffassung des Richters mit der Entscheidung des Staatsanwalts nicht übereinstimmt, auch nach dem Urteil des Corte Suprema nicht geklärt war und die bestehende Praxis des alten Código Obarrio hinsichtlich der Intervention des Staatsanwalts am Berufungsgericht bestehen blieb. (4) Die Ernennung weiterer Bundesrichter Ferner vermissten die Kritiker beim Proyecto Levene eine einheitliche und allgemeine Reform der Gerichtsorganisation, so wie sie der Proyecto Maier entworfen hatte. Stattdessen wurden in der Zeit der Mehrheit der Partei Justicialista viele Bundesrichter ernannt, um dem personellen Aufwand, den die neue Einteilung in zwei Prozessphasen erforderte, gerecht werden zu können. Diese Änderung der Gerichtsorganisation erfolgte durch Gesetz Nr. 24.050 vom 7. 1. 1992.143 (5) Die alten Strukturen Aus rechtsvergleichender Sicht wurde beim Proyecto Levene allgemein beanstandet, dass die Änderungen nicht den modernen Standard in Europa berücksichtigten, insbesondere die unmittelbar vor Erlass des Código Nación erfolgten Reformen der deutschen StPO in 1974/1975, die Strafprozessänderungen in Portugal in den Jahren 1987/1988 sowie die Änderungen in Italien in den Jahren 1988/1989. Der früher von Vélez Mariconde für den Código Obarrio geäußerte Satz kam nochmals zur Anwendung: Der CPPN entstand – noch einmal – alt und verfallen („nació – otra vez – viejo y caduco“).144 Für die Beantwortung der Frage, ob die Übernahme aller europäischen Neuerungen ratsam gewesen wäre, war die Zeit noch zu früh in der Entwicklung der lateinamerikanischen Reformen. Neben der Einschaltung des 142
Corte Suprema de Justicia de la Nación, Q.162.XXXVIII Quiroga, Edgardo Oscar s/ causa Nr. 4302, Urteil v. 23. 12. 2004, in: Secretaría de jurisprudencia del tribunal (Hrsg.), Fallos de la Corte Suprema de Justicia de la Nación, Band 327 – 4 (2004), S. 5863 – 5959. 143 Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 G 8 c), S. 434, 436. 144 Pastor, Código Levene: ¿nacerá viejo y caduco?, Dossier S. 22 ff.
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Kap. 6: Die strafprozessualen Wurzeln in Lateinamerika
Ministerio Público als Herr des Ermittlungsverfahrens und der Vermeidung der Übernahme von Ergebnissen aus dem Ermittlungsverfahren für die Urteilsgrundlage erwarteten einige Kritiker des Proyecto Levene weitere, darüber hinausgehende Erneuerungen, nämlich selektive Kriterien im Strafprozess, die Mitwirkung von Laien, eine bessere Behandlung der Probleme der Untersuchungshaft und die Stärkung der Opferrolle. Zwar war bereits die Rede von der Übernahme eines abgekürzten Verfahrens (procedimiento abreviado), dieses Thema weckte aber noch nicht das allgemeine Interesse und bezog sich nur auf Fälle der Kleinkriminalität. Im Vordergrund stand hingegen primär die tatsächliche Durchführung eines mündlichen und unmittelbaren Hauptverfahrens und dadurch die lang erwartete Abschaffung des alten, durchgehend schriftlichen Verfahrens. 5. Neues Bundesstrafprozessgesetz in Argentinien Der Código Nación in der Fassung Levenes ist trotz einiger Änderungsversuche noch heute geltendes Recht. Im Jahr 2014 wurde ein neues Bundesstrafprozessgesetz (Código Procesal Penal Federal) in Argentinien erlassen (Ley 27.063 von 4. 12. 2014, geändert durch Ley 27.482 von 6. 12. 2018, dazu Decreto 118/2019 vom 8. 2. 2019).145 Er wurde aber bis jetzt nur in den Provinzen Salta und Jujuy verbindlich eingeführt („implementación“, ab Juni 2019). 6. Einführung der Absprachen in Argentinien Der Proyecto Maier und der Código Procesal Penal Modelo para Iberoamérica begrenzten die Anwendung eines abgekürzten Verfahrens auf Fälle der Kleinkriminalität. Demgegenüber entwickelte sich eine von Cafferata Nores angetriebene Tendenz zur Einführung verkürzter Verfahrenserledigungen ohne Einschränkung auf bestimmte Delikte im Rahmen der Novellierung des CPP Córdoba im Jahre 1991. So wurde der juicio abreviado für alle Delikte in dem von Cafferata Nores verfassten Código eingeführt (Art. 415).146 Beim CPP der Provinz Buenos Aires wurde der abreviado für Delikte mit einer Freiheitstrafe von bis zu 8 Jahren eingeführt (Art. 395), sodass die Anwendung der Absprachen nach diesen zwei Strafprozessgesetzen verbreitet war. Das Bundesstrafprozessgesetz in der Fassung von Levene folgte anschließend dem Vorstoß dieser beiden Provinzen, mit der Folge, dass die suspensión del juicio a prueba im Jahre 1994 (Ley 24.316, Arts. 76 bis bis 76 quater des Strafgesetzbuches), der juicio abreviado (abgekürztes Verfahren, Ley 24.825, 145 servicios.infoleg.gob.ar/infolegInternet/verNorma.do?id=239340. Siehe kritisch dazu Pastor, Lineamientos del nuevo Código. 146 Cafferata Nores beschäftigte sich in seinen Werken mit der Befürwortung und Rechtfertigung dieser verkürzten Form der Verfahrenserledigung, vgl. ders., Cuestiones actuales sobre el proceso penal, Kapitel XI: „Juicio penal abreviado“; ders., Juicio Abreviado, S. 88 ff.; ders., Introducción al nuevo Código Procesal Penal de la Provincia de Córdoba, S. 88; ders., El principio de oportunidad en el derecho argentino, S. 3 ff., 17 f.
C. Der Reformursprung in Argentinien
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Art. 431 bis) und die instrucción sumaria (Ley 24.826, Art. 353 bis) im Jahre 1997 nachträglich eingefügt wurden. Der juicio abreviado war sodann im Bundesstrafprozessgesetz für Delikte mit einer Freiheitstrafe von bis zu 6 Jahren vorgesehen. Dadurch wurde die etwas veraltete Struktur des Código Levene, die den Schwerpunkt im schriftlichen Ermittlungsverfahren setzte, durch den juicio abreviado ergänzt, sodass damit die ursprünglich vorgesehene mündliche Hauptverhandlung komplett an Bedeutung verlor. Nachdem der mexikanische procedimiento abreviado im neuen CPPN von 2014 die jüngste Fassung zur Regelung der verkürzten Verfahrensformen in Lateinamerika darstellt, ist es angezeigt, auf diese Ausgestaltung des abreviado im Einzelnen einzugehen. Dazu ist auf die rechtsvergleichenden Erörterungen in Kapitel 8 B. zu verweisen.
Kapitel 7
Die Reformbewegung in Lateinamerika A. Verbreitung Die grundlegenden Reformen des Strafprozesses in Lateinamerika zur Abschaffung des schriftlichen Inquisitionsverfahrens fanden über einen längeren Zeitraum statt. Zunächst führte Argentinien für den Bund (1991 mit dem Código Levene), für die Provinz Tucumán (1991), für die Provinz Córdoba (1991), für die Provinz Buenos Aires (1996) und später auch in den anderen argentinischen Provinzen, ein erneuertes Strafverfahrenssystem ein. Aus Argentinien verbreiteten sich die Strafprozessreformen in Richtung Guatemala (1992), Costa Rica (1996) und El Salvador (1997). Anschließend dehnte sich der Wandel nach Paraguay (1998), Bolivien, Venezuela und Honduras (1999), Chile und Ecuador (2000), Nicaragua (2001), Dominikanische Republik (2002), Kolumbien und Peru (2004) aus. In Mexiko wurde der Strafprozess erst in den Bundessstaaten Nuevo León (2004), Chihuahua und in Oaxaca, später dann auch in weiteren Bundesstaaten reformiert (2006). Schließlich führten auch Panama (2008, in Kraft getreten 2011) und die restlichen Bundesstaaten Mexikos die Reform ein, bis 2014 die Vereinheitlichung in einem Bundesstrafprozessgesetz erfolgte, das 2016 in Kraft trat. Einige andere lateinamerikanische Länder waren hingegen nicht Teil dieser Reformbewegung, weil sie das inquisitorische Strafprozesssystem teilweise schon früher abgeschafft hatten und sich nach den neuen Entwicklungen aus dem europäischen Raum richteten. So übernahm Kuba die spanische Strafprozessgesetzgebung von 1882 aufgrund der spanischen Herrschaft bis Ende des 19. Jahrhunderts und war daher schon sehr früh in die kontinental-europäische Reform eingegliedert. Die Dominikanische Republik rezipierte den französischen Code d’instruction criminelle von 1808, wodurch auch sie schon eine frühzeitige Wende im Strafprozess erlebte. In Brasilien fanden aufgrund des portugiesischen Einflusses andere Entwicklungen statt, ähnlich auch in Puerto Rico als Teil der Vereinigten Staaten.1 Mexiko besaß bereits seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts eine mündliche und öffentliche Hauptverhandlung – wenn auch mit nur eingeschränkter Anwendung –, sodass man sich hier Zeit mit den Reformen ließ. 1 Vgl. Struensee/Maier, in: Maier/Ambos/Woischnik (Hrsg.), Las Reformas Procesales Penales en América Latina, S. 22; Maier, in: Jueces para la democracia, 1992, Nr. 16 – 17, S. 156, Fn. 39 für Brasilien, Fn. 161 für die Dominikanische Republik; Tijerino Pacheco, Mediatización de la oralidad, S. 183; für Kuba Rivero García/Pérez Pérez, El juicio oral.
B. Die Verwandlung des ursprünglichen Konzepts
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B. Die Verwandlung des ursprünglichen Konzepts I. Zwei Reformströmungen: Argentinien bzw. Costa Rica gegenüber Chile 1. Das ursprüngliche argentinische Reformkonzept aus den cordobesischen akademischen Bereichen, das vom klassischen kontinentaleuropäischen Strafprozesssystem geprägt war, war die Grundlage für das Musterstrafprozessgesetz für Iberoamerika und für den Entwurf Maiers von 1986. Diese Form des Strafprozesses schlug sich als geschriebenes Gesetz zuerst in den ersten Reformen in Costa Rica und Guatemala nieder und beeinflusste die Gesetzgebung weiterer lateinamerikanischer Länder.2 Parallel zu dieser seit langem etablierten Richtung entwickelte sich eine andere Reformströmung in den 90er Jahren in Lateinamerika, die deutliche angloamerikanische Einflüsse aufwies und sich als erstes am Muster des Strafprozessgesetzes von Chile vom Jahr 2000 konstituierte. Diese hatte ebenfalls eine große Auswirkung auf mehrere lateinamerikanische Länder, u. a. auch auf das ursprünglich kontinentaleuropäische Modell von Costa Rica und schließlich auf das neu erlassene einheitliche Strafprozessgesetz Mexikos. Diese neue Reformtendenz in Lateinamerika entfernte sich strukturell vom sog. reformierten Strafverfahren des kontinentaleuropäischen Rechtskreises bzw. vom „sistema mixto“,3 auch wenn sie einige grundlegende Prinzipien beibehielt. Sie etablierte ein adversatorisches System, das sich am besten durch das Muster des chilenischen Strafprozessgesetzes im nächsten Abschnitt darstellen lässt. 2. Die in dieser Arbeit erfolgte Aufteilung der Reformrichtungen nach den Kriterien „kontinentaleuropäisch“ oder „adversatorisch“ betrifft die inhaltliche Gestaltung der Strafprozessmodelle und nicht deren politischen und finanziellen Hintergründe. Bereits in Bezug auf das Verfassen der Strafprozesskonzeption für die verschiedenen Länder ist die Einordnung der Quellen und Einflüsse der zweiten Reformströmung sehr unübersichtlich. Die Entwicklung der Reformen ist auf die Tätigkeit vielfältiger Akteure zurückzuführen, die diese in den einzelnen Ländern durch unterschiedliche Anstrengungen förderten, angefangen von der Veranstaltung von Kongressen und Publikationen bis hin zum Verfassen von Gesetzesentwürfen. Eine Hauptrolle bei diesen Impulsen spielte der argentinische Jurist Alberto Binder. Binder trug sowohl mit strafprozessualen Schriften und Aktivitäten zur Reform der Strafjustiz als auch mit der Gründung von Forschungszentren, dem Abhalten von Schulungen für Juristen, der Gründung von Fachzeitschriften und sogar mit dem konkreten Verfassen von Gesetzesentwürfen für verschiedene lateinamerikanische 2
Vgl. supra, Kapitel 6 C. II. 4. a) ee). Kritisch bezüglich des kontinentaleuropäischen Strafverfahrens nach der Reform des 19. Jahrhunderts zum Beispiel die chilenische Strömung: Duce, El Ministerio Público en la reforma, S. 67, 69. 3
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Kap. 7: Die Reformbewegung in Lateinamerika
Länder aktiv zur Strafprozessreform bei. An den Reformen folgender Länder war er beteiligt oder hatte zumindest eine beratende Funktion: Guatemala, Costa Rica, El Salvador, Honduras Dominikanische Republik, Venezuela, Bolivien und Paraguay.4 Bei dem umfassenden Wandel des Strafverfahrens in den verschiedenen Ländern partizipierten allerdings noch weitere Impulsgeber. Der Richter Mora Mora, der ab 1999 Präsident der Corte Suprema von Costa Rica und Direktor des Área de Asistencia Técnica des ILANUD (Instituto Latinoamericano de las Naciones Unidas para el Delito) war und sich in den 90er Jahren für das Projekt Maiers interessierte, war an den Reformen in Costa Rica, aber auch in El Salvador, Panamá und Paraguay beteiligt und verbreitete dieses Reformkonzept durch seine Vorträge. Jorge Obando trieb auf Grund seiner jahrlangen Mitarbeit bei der Institution USAID (United States Agency for International Development) in El Salvador die Reform von Costa Rica aus voran. Anschließend entstand die chilenische Reformströmung mit den Impulsen der Abogados Cristián Riego und Juan Enrique Vargas als Leiter der Institution CEJA (Centro de Estudios de Justicia de las Américas), die im Jahr 1999 gegründet wurde und mit der Unterstützung der OEA (Organización de los Estados Americanos) und der teilweisen Finanzierung von USAID arbeitete. CEJA erlangte einen großen Einfluss durch ihre für die Reform eingesetzten Mittel und Aktivitäten.5 Die Reformbewegung bestand aber nicht nur aus einzelnen Personen, sondern aus einem Netzwerk von Praktikern, der Justiz, dem akademischen und studentischen Bereich und aus Mitgliedern der Exekutive und internationaler Institutionen, die mit Schulungsprogrammen, Vorträgen und Veröffentlichungen zur neuen Gesetzgebung beitrugen. Die Übernahme der Reformentwürfe dieser unterschiedlichen Akteure wurde allerdings nicht kritiklos hingenommen, sondern vielmehr wurde ihre Eignung für eine so grundlegende Aufgabe durch einen Angriff auf ihre fachliche Qualifikation teilweise angezweifelt.6 Eine aktive Rolle bei den lateinamerikanischen Reformen im Strafprozess übernahm die Institution USAID, die im Jahr 1961 in den USA gegründet wurde. Ihre Bemühungen um eine Erneuerung des Justizsystems in Lateinamerika entfalteten sich während des Bürgerkrieges in El Salvador in den 80er Jahren im Wege unmittelbarer Maßnahmen zur Stärkung der Strafverfolgung und langfristig durch das Eintreten für eine neue Strafgesetzgebung und richterliche Fortbildung. Der ursprüngliche Einsatz von USAID in El Salvador wird auf eine Anordnung der amerikanischen Regierung zurückgeführt, die spätere Tätigkeit in anderen Ländern wird dagegen eher als Initiative einzelner Akteure angesehen. So erweiterte USAID 4 Vgl. dazu Langer, Revolución en el proceso penal latinoamericano, S. 38 mit Bezug auf seine Interviews mit Binder; vgl. auch http://inecip.org, Instituto de Estudios Comparados en Ciencias Penales y Sociales (INECIP) für die Strafjustiz, gegründet in 1989, geleitet von Binder. 5 Zu dieser Entwicklung vgl. Langer, a. a. O., S. 38 ff. Insbesondere verbreitete die Universidad Diego Portales de Chile die Techniken des Prozessstreits oder Prozessführung (técnicas de litigación) aus dem angloamerikanischen Strafprozesssytem, vgl. zum Beispiel die Anerkennung im Vorwort von Juan E. Vargas im Buch Baytelman/Duce, Litigación penal. 6 Besonders energisch dagegen: Moreno Hernández, in: ders./Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 62 mit Fn. 51.
B. Die Verwandlung des ursprünglichen Konzepts
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ihren Einsatz auf weitere lateinamerikanische Länder, von Zentralamerika bis auf die nördlichen und zentralen Länder Südamerikas. Die Reform von Argentinien, aber auch zum Beispiel die ursprüngliche Reform von Costa Rica erfolgten allerdings unabhängig von einer Mitwirkung dieser Institution. Die Arbeit von USAID erstreckte sich in den betroffenen Ländern auf Fortbildungskurse, insbesondere für Richter, Staatsanwälte und Polizei, auf die Bereitstellung von Mitteln für die Justiz, juristische Beratung, das Erstellen von juristischen Datenbanken und die Förderung entsprechender Fachbibliotheken und weitere Aktivitäten einschließlich der Unterstützung bei den Gesetzesreformen. Bei diesen Maßnahmen waren auch die Institutionen ILANUD (Instituto para la Prevención y el Tratamiento del Delincuente), die von der UNO ins Leben gerufen und ebenfalls von USAID unterstützt wurde, und AID (Agencia para el Desarrollo Internacional de los Estados Unidos) beteiligt. In den 90er Jahren wirkten weitere Institutionen beim Reformprozess mit, wie beispielsweise die Banco Mundial und die Banco Interamericano de Desarrollo (BID).7 Es kamen also nicht unbedeutende Impulse aus dem nordamerikanischen Raum; diese trugen wesentlich zur Reform in vielen lateinamerikanischen Ländern wie El Salvador, Honduras, Nicaragua, Dominikanische Republik, Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Bolivien, Paraguay und Mexiko bei. Sie verbreiteten sich aufgrund der wechselseitigen Einflussnahme auch in weitere Länder („efecto cascada“). Natürlich kann man die zweite Reformrichtung nicht ausschließlich als Ergebnis rein amerikanischer Einflüsse ansehen, denn die erwähnten Institutionen arbeiteten nicht allein, sondern mit der Unterstützung inländischer Akteure.8 Zugleich war der Antrieb für den Wandel auf vielfältige Motivationen zurückzuführen. Auch die politischen Orientierungen der Befürworter und Autoren der Reform waren von einer großen Vielfältigkeit gekennzeichnet.9 Zugleich war die Zusammenarbeit der Impulsgeber der Reform mit den genannten Institutionen von unterschiedlichen Beweggründen und Zielen geprägt. So war es zwar nicht das ursprüngliche Ziel der USAID, das alte 7 Vgl. Langer, Revolución en el proceso penal latinoamericano, S. 31 ff., 37 mit der Erwähnung weiterer Institutionen; kritisch Moreno Hernández, in: ders./Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 60 ff.; vgl. zum Einfluss von USAID bereits Schöne, in: Ahrens/Nolte (Hrsg.), Rechtsreformen und Demokratieentwicklung in Lateinamerika, S. 313. 8 Der Beitrag von Langer beruht auf 62 geführten Interviews mit Mitgliedern der beteiligten Institutionen wie USAID, DOJ, BID, CEJA u. a., Professoren, Richtern und weiteren Juristen aus verschiedenen Ländern, die über unmittelbare Kenntnisse zur Reform verfügten. Dabei kommt er zum Ergebnis, dass die Strafprozessreform in Lateinamerika nicht auf Länder wie die USA, sondern vor allem auf die umliegenden Länder zurückzuführen ist, vgl. insbes. S. 53 ff. 9 Vgl. Langer, a. a. O., S. 30 ff., 46, der aus seinen Interviews entnimmt, dass die Reform politisch genauso links- wie rechtsorientierte Befürworter hatte. Bereits bei Einführung eines der ersten modernen Strafprozessgesetze, dem CPP Guatemala, wurde ersichtlich, dass die an ihm beteiligten Landsleute gegensätzliche politische Einstellungen vertraten, a. a. O., S. 30 f. Im Übrigen setzte Binder die Schwerpunkte im Strafprozessrecht einerseits auf die Prozessgarantien der Beschuldigten – insbesondere jener aus ärmeren Schichten – gegenüber den Strafverfolgungsbehörden und andererseits auf die Verfolgung der durch finanziell mächtige Personen begangenen Delikte, vgl. Bezugnahme auf Interviews in Langer, Revolución en el proceso penal latinoamericano, S. 30.
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Kap. 7: Die Reformbewegung in Lateinamerika
Modell des schriftlichen Strafverfahrens durch eine neue Gesetzgebung zu ändern, als sie beschloss, Mittel für das Strafrechtssystem Lateinamerikas zur Verfügung zu stellen; später aber begleitete sie die Reformen demtentsprechend. Als Beispiel für die unterschiedlichen Beweggründe zum Anstoß der Reformen können die Ergebnisse der Interviews von Langer herangezogen werden, nachdem das amerikanische DOJ (Departament of Justice) ab dem Jahr 1993 mit dem Thema der Strafjustiz und Strafverfolgung in Lateinamerika beschäftigt war und sich diesbezüglich Spannungen mit USAID ergaben. Während es das Ziel der USAID war, die politische Lage der Länder zu stabilisieren, konzentrierte sich das DOJ vielmehr auf den konkreten Kampf gegen die Kriminalität in Lateinamerika und lehnte die Stärkung der Beschuldigtenrechte in der neuen Gesetzgebung ab.10 Aufgrund der unterschiedlichen Verhältnisse, die in den beteiligten Ländern bei der Einführung der Reformen herrschten, konnte die lateinamerikanische Reform in keine einheitliche Form gebracht werden bzw. stellte sie jedenfalls keine reine spiegelbildliche Übernahme eines externen Strafprozesssystems dar,11 auch wenn eine deutliche externe Einflussnahme erkennbar ist und die Reform deshalb teilweise auch mit dem Stempel des rein durch finanzielle Mittel motivierten Geschäfts versehen wird.12 Die nordamerikanische zweckgerichtete Handlungsorientierung im Rahmen der Reformen ist eindeutig. Im Ergebnis enthalten die Strafprozessgesetze der einzelnen Länder mehr oder weniger kontinental-europäische oder adversatorische Elemente mit unterschiedlichen Gewichtungen, die sich zum Beispiel im Vergleich von Argentinien mit Mexiko (im Einzelnen infra, Kapitel 8) zeigen werden. Diese Vermengung von Prozessbestandteilen aus zwei Verfahrensmodellen darf nicht mit der Bezeichnung des lateinamerikanischen Verfahrens als „gemischt“ („mixto“)13 verwechselt werden, die auf die französische Ausdrucksweise „système mixte“ des Code d’Instruction Criminelle von 1808 zurückzuführen ist und sich auf die Verbindung zweier grundverschiedener Verfahrensteile bezieht: das zur Vorbereitung und Verdachtsklärung dienende nicht-kontradiktorische Ermittlungsverfahren, das die Kennzeichen des alten Inquisitionsverfahrens im Sinne der Schriftlichkeit und Heimlichkeit beibehält, und die moderne mündliche, unmittelbare und öffentliche Hauptverhandlung, bei der das daraus resultierende Beweismaterial als einzige Urteilsgrundlage dienen soll.
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Vgl. Langer, a. a. O., S. 42 f. Siehe dazu Langer, Discusiones 21 (2018), 12 ff.; Engländer, Discusiones 21 (2018), 165 ff. Ambos spricht über eine selektive Rezeption des kontinentaleuropäisch-instruktorisch und angloamerikanisch-adversatorisch orientierten Verfahrensrechts in Lateinamerika, in: Ahrens/Nolte (Hrsg.), Rechtsreformen und Demokratieentwicklung in Lateinamerika, S. 176. 12 Für Mexiko grundsätzlich: Moreno Hernández, in: ders./Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 60 f., 95. 13 Vgl. dazu nur Vélez Mariconde, Derecho procesal penal I, S. 138, 140, 144; Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 H c IV, S. 452 f.; Duce/Riego, Proceso Penal, Kap. II, I 2. 11
B. Die Verwandlung des ursprünglichen Konzepts
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II. Das chilenische adversatorische Muster Die Reform des Strafprozesssystems in Chile verzögerte sich zeitlich, nachdem der Código de Procedimiento Penal von 1906 in der inquisitorischen Form mit Ursprung in Las Siete Partidas (Die „Sieben Rechtsbücher“) von 1265 fast ein Jahrhundert lang bestand, ohne dass die europäischen Erneuerungen übernommen wurden. Anders als in den restlichen lateinamerikanischen Ländern wurde die Staatsanwaltschaft im Jahr 1927 abgeschafft und die Ermittlungs- und Anklagefunktionen mitsamt der Entscheidung über die Erhebung der Anklage konzentrierten sich in der Person des Richters.14 Auch die Abschaffung des alten Inquisitionsprozesses dauerte länger, da die Wende von einer Militärdiktatur hin zu einer Demokratie erst 1990 – und damit später als in den anderen lateinamerikanischen Ländern – erfolgte. Die Reformdebatte begann erst Ende 1992, als in Argentinien bereits eine lange Diskussion stattgefunden hatte und Guatemala mit den Reformen schon in einem fortgeschrittenen Stadium war. Nachdem die argentinische Reform in Córdoba bereits sehr früh angestoßen und ab den 80er Jahren auch in den weiteren Teilen des Landes vollzogen worden war, wurden ihre Befürworter zu einem internationalen Seminar, das von der Corporación de Promoción Universitaria in November 1992 zu den Zielen der Reform veranstaltet wurde, eingeladen, um über die Einzelheiten der Reformbewegung in Lateinamerika zu berichten. Auch eine empirische und dogmatische kritische Untersuchung des inquisitorischen Strafprozesses führte zu neuen Erkenntnissen auf diesem Gebiet.15 Anschließend schuf die Corporación de Promoción Universitaria das „Foro de discusión sobre la oralidad de los procesos penales“, das aus Mitgliedern der Judikative, des akademischen Sektors und aus Rechtsanwälten bestand und das in der zweiten Hälfte von 1993 stattfand. Im Rahmen der Arbeit des Foro wurde ein internationales Seminar im Oktober 1993 veranstaltet, bei dem vor allem die Einführung einer Staatsanwaltschaft diskutiert wurde. In dieser Angelegenheit verbündeten sich die Corporación de Promoción Universitaria unter der Leitung von Juan Enrique Vargas, einem der Impulsgeber der Reform, und die Fundación Paz Ciudadana, um den Entwurf eines neuen Strafprozessgesetzes zu verfassen.16 Für diese Aufgabe wurden Cristián Riego, María Inés Horvitz, Jorge Bofill, Mauricio Duce und später Raúl Tavolari beauftragt. Eine zentrale Rolle bei der Formulierung der allgemeinen Reformziele und der Arbeitsmethode hatte der argentinische Berater Alberto Binder inne. Zugleich wurde 14 Die Promotores fiscales wurden durch DFL (Decreto con Fuerza de Ley) Nr. 426 vom 3. März 1927 abgeschafft. Für die Strafprozessgeschichte Chiles vgl. Duce/Riego, Proceso Penal, Kap. II und III; Paillas, Derecho Procesal Penal I; Fontecilla, Tratado de Derecho Procesal Penal I; über die Staatanwaltschaft: De Ramón Folch, in: Boletín de la Academia Chilena de Historia Nr. 100, 1989, S. 315 ff. 15 Die Untersuchung erfolgte 1992 und 1994 und wurde von der Fundación Ford finanziert, vgl. dazu Duce, in: Pásara (Hrsg.), En busca de una justicia distinta, S. 202 f. Als Hauptreferenten wurden die Befürworter Maier und Binder eingeladen. 16 Die CPU hatte eine liberale Richtung, während die FPC als etwas konservativer die politische Gegenrichtung vertrat, vgl. dazu Duce, in: Pásara (Hrsg.), En busca de una justicia distinta, S. 217.
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Kap. 7: Die Reformbewegung in Lateinamerika
die Reformarbeit vom Foro, einer Gruppe von 60 Mitgliedern aus verschiedenen Tätigkeitsfeldern und ferner von weiteren Akteuren unterschiedlicher Ausrichtungen begleitet. Anschließend wurde der Entwurf Ende 1994 verfasst und am 5. 6. 1995 der Legislative durch die Exekutive vorgelegt.17 Durch eine Verfassungsreform wurde 1997 der Ministerio Público kreiert (Art. 80) und anschließend wurde im Jahr 1999 eine Ley Orgánica Constitucional del Ministerio Público verabschiedet. Erst im Jahr 2000,18 sieben Jahre nach dem Beginn der Reformbestrebungen, erfolgte schließlich eine grundlegende Erneuerung des Strafprozessrechts mit einer Staatsanwaltschaft als autonomen Organ. Grundsätzlich hält das Modell an dem materiellen Offizialprinzip dergestalt fest, dass der Strafanspruch für die Prozessbeteiligten wegen des öffentlichen Interesses nicht disponibel ist.19 Bezüglich der Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung ist die Wahl der Beweismittel und die Durchführung der Beweiserhebungen dann die Aufgabe der Parteien in adversatorischer Auseinandersetzung. Es gilt also die Verhandlungsmaxime, die Parteien haben dem Gericht den zur Entscheidung relevanten Tatsachenstoff vorzutragen (principio de aportación de parte).20 Das Schrifttum charakterisiert das chilenische Strafprozesssystem als auf dem Prinzip der formellen Wahrheit basierend.21 In diesem, durch die Parteien beherrschten, Prozessmodell verfügt jede Partei auch über die Informationen des Prozessgegners, die im jeweiligen Verfahren vorgetragen werden. Denn die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen sind der Verteidigung spätestens kurz vor der Hauptverhandlung bekanntzugeben. Eine vorbereitende Sitzung mit dem Ermittlungsrichter vor der Hauptverhandlung hat zudem den Zweck, dass die Parteien „ihre Karten“ über die eigene Sachverhaltseinschätzung „offenlegen“, die jeweiligen Beweismittel benennen und so den Prozessgegenstand 17
Zur Reformentwicklung vgl. Duce/Riego, Proceso Penal, Kap. III; Duce, in: Pásara (Hrsg.), En busca de una justicia distinta, S. 195 ff. mit Nachweisen über die Rede vom Bundespräsident Frei über die „Reform des Jahrhunderts“, vgl. S. 198. 18 Código Procesal Penal (Ley Nr. 19.696), veröffentlicht am 12. 10. 2000. 19 Vgl. dazu López Masle, in: Horvitz Lennon/ders., Derecho procesal penal chileno I, II C 1.1. und 1.2., S. 36 ff.; zum materiellen Offizialprinzip vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 12 Rn. 7. 20 So wie in Deutschland im Zivilprozessrecht. In Chile ist die Staatsanwaltschaft für die Beweisführung in beiden Prozessphasen zuständig. Die chilenische Literatur bezeichnet das System als adversatorisch, vgl. Rodríguez Vega, Sistema acusatorio de justicia penal, S. 661 f. mit vielen weiteren Nachweisen. Ferner ordnet sie das System unter dem principio de aportación de parte ein, solange man den Gegensatz, den Amtsermittlungsgrundsatz, als eine Beweisführung ausschließlich des Gerichts versteht. Wenn man aber die Beweisführung der Staatsanwaltschaft als Vertreter des Staates auch als Amtsermittlung ansieht, ist die Literatur bereit, das System auch unter dem Amtsermittlungsgrundsatz einzugliedern, vgl. dazu López Masle, in: Horvitz Lennon/ders., Derecho procesal penal chileno I, II C 1.2., S. 42. 21 Vgl. López Masle, a. a. O., II C 1.2., S. 41; II C 2.3.2.2., S. 99. In Bezug auf die Schwierigkeiten des Prinzips der materiellen Wahrheit durch zivilprozessuales Denken und angelsächsische Vorbilder in der Reformdiskussion bereits Schöne, in: Ahrens/Nolte (Hrsg.), Rechtsreformen und Demokratieentwicklung in Lateinamerika, S. 314.
B. Die Verwandlung des ursprünglichen Konzepts
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für die spätere Hauptverhandlung genau definieren und beschränken. Mit dieser Offenbarung, auf Spanisch „revelación“ oder „descubrimiento“, verfügen die Parteien über Informationen hinsichtlich der Beweismittel, die der Gegner im Prozess erheben möchte. Entsprechend beinhaltet der Eröffnungsbeschluss („auto de apertura“), der in Chile vom Ermittlungsrichter erlassen wird, die genaue Bestimmung der zu erhebenden Beweise. Die Parteien können sich also im Voraus, insbesondere auf die Befragungen und Gegenfragen („contraexamen“) der Zeugen- und Sachverständige beider Seiten, vorbereiten. Nach Art. 259 Abs. 2 muss die Anklageschrift eine Zeugen- und Sachverständigenliste sowie sogar die bei den Zeugenaussagen und Sachverständigenberichten zu behandelnen Punkte beinhalten. Die Verteidigung kann auf die Anklageschrift erwidern, es besteht diesbezüglich jedoch keine Pflicht. Wenn sie aber Beweis in der Hauptverhandlung erheben möchte, muss sie wie die Staatsanwaltschaft eine Zeugen- und Sachverständigenliste und die zu behandelnden Punkte präsentieren (Art. 263 c).22 Ferner können zwischen beiden Parteien in der vorbereitenden Sitzung Vereinbarungen getroffen werden, die Taten betreffen, die bereits nachgewiesen und damit nicht mehr Gegenstand der Diskussion in der Hauptverhandlung sind (Art. 275). Schließlich entscheidet der Ermittlungsrichter anhand des Katalogs von Beweisausschlussregeln, ob die von den Parteien vorgeschlagenen Beweismittel zulässig sind (Art. 276). In der Wirklichkeit des chilenischen Ermittlungsverfahrens setzte sich ein Vorhaben bei den intensiven Umschulungen durch, wonach die richterlichen Anordnungen in der Regel unmittelbar und mündlich in den Sitzungen erlassen werden. Dieses Konzept entspricht den vom chilenischen Strafprozessrecht verfolgten Zielen der Beschleunigung und der Kontradiktion.23 Diesem Vorhaben zufolge dürfen die Sitzungen nur mündlich, ohne Protokollierung und ununterbrochen vor dem Richter ablaufen („corran en serie frente al juez como una cinta transportadora“).24 Durch diese Bestrebungen in Chile wurde sogar die grundlegende Umgestaltung des costaricanischen Strafverfahrens, das ursprünglich eigentlich das Abbild eines kontinentaleuropäischen Systems darstellte, in eine adversatorische Richtung getrieben. So erließ das costa-ricanische Bundesverfassungsgericht im Jahr 2007 den Beschluss, dass die richterlichen Anordnungen im Ermittlungsverfahren mündlich und unmittelbar in den Sitzungen und ohne Ermittlungsprotokolle mit dem Zweck der Kontradiktion und Beschleunigung des Verfahrens erlassen werden sollen und im Anschluss an diese Entscheidung wurden entsprechende Verordnungen erlassen und noch im gleichen Jahr aufwendige Umschulungen von Richtern und Staatsanwälten 22
Baytelman/Duce, Litigación penal, S. 33. Demgegenüber wird das Ermittlungsverfahren zum Beispiel in der argentinischen Provinz Córdoba nach dem kontinental-europäischen System geführt, so nach der Gegenüberstellung in der Studie von CEJA, vgl. dazu Riego, Informe comparativo (CEJA), S. 89. Vgl. ferner über das in der chilenischen Praxis erreichte mündliche Ermittlungsverfahren Baytelman/Duce, Evaluación de la reforma, S. 11, 56 ff., 69 ff., gegen die Protokolle S. 61 ff. 24 Baytelman/Duce, Evaluación de la reforma, S. 59 ff. mit Leitlinien für eine schnelle und effektive Durchführung der Sitzungen, sogar von Ermittlungsrichter, die für den Fall nicht zuständig sind. 23
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Kap. 7: Die Reformbewegung in Lateinamerika
durch die Judikative mittels Finanzierung durch die Banco Interamericano de Desarrollo (BID) durchgeführt.25 Eine weitere Komponente für die angestrebte Schnelligkeit und Effektivität des Verfahrens stellt ferner der procedimiento abreviado im chilenischen Strafverfahren dar, der für Delikte mit einer Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahre vorgesehen ist.26 Dabei stellt der Staatsanwalt einen Antrag auf die Durchführung eines solchen verkürzten Verfahrens, über den dann der Ermittlungsrichter nach Anhörung des Angeklagten entscheidet (Art. 406 ff.). Hinzu kommt hier eine Besonderheit, die auch in den restlichen lateinamerikanischen Ländern greift: Ein Großteil der polizeilichen Festnahmen bezieht sich auf Täter, die auf frischer Tat erfasst wurden. Der Wunsch des Gesetzgebers ist es, solche Fälle schnell durch den procedimiento abreviado abzuwickeln. Die Durchführung einer ausgiebigen Beweisaufnahme bei dieser Art von Fällen wird nämlich als Rückkehr ins alte Inquisitionsverfahren angesehen.27 Diese negative Einstellung gegenüber einer bestmöglichen Wahrheitsfindung durch das reguläre Beweisverfahren ist charakteristisch für die neuen Reformimpulse. In den übrigen Fällen, bei denen eine Hauptverhandlung durchgeführt wird, besitzt das erkennende Gericht keinerlei Aktenkenntnis, da es nur den Eröffnungsbeschluss des Ermittlungsrichters mit der Anklage- und Verteidigungsschrift zur vorherigen Einsicht bekommt (Art. 281, Abs. 1 CPP). Die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens werden dem Gericht durch die Staatsanwaltschaft im Verlauf der Hauptverhandlung präsentiert.28 Die Beweisführung in der Hauptverhandlung liegt also nicht in den Händen des erkennenden Gerichts im Sinne einer Amtsaufklärung, sondern ist Aufgabe der Prozessbeteiligten. Das Gericht hat dabei bereits bei der Auswahl der Beweismittel lediglich eine passive Stellung und hat vor allem die Überwachung einer korrekten Durchführung des fair trials bzw. des juego justo zur Aufgabe.29 In der Hauptverhandlung werden zuerst die Beweise der Staatsanwaltschaft und anschließend die der Verteidigung behandelt (Art. 328 CPP). Die Reihenfolge der Erhebung der Beweise in der jeweiligen Beweisführung der Parteien und damit der Darstellung der aus jeweiliger Sicht relevanten Informationen wird jeder Partei nach eigenem Ermessen überlassen.30 Dieser Vorgang stellt den 25 Urteil der Corte Suprema de Justicia von Costa Rica Nr. 2007 – 03019 von 7. 3. 2007; Circulares 72 – 07 und 17/2007; vgl. unterstützend die chilenischen Institution CEJA, Informe Seguimiento Reforma Procesal Penal Costa Rica, S. 1 ff., 8 f., zum Verzicht auf eine Ermittlungsakte S. 13, zu Initiative und Finanzierung S. 22, in: http://biblioteca.cejamericas.org/hand le/2015/5140. 26 Kritisch gegenüber der anfangs sporadischen Anwendung des procedimiento abreviado vgl. die Reformimpulsgeber Baytelman/Duce, Evaluación de la reforma, S. 251 ff. 27 Vgl. der Impulsgeber und Verfasser der chilenischen Reform Cristián Riego, Informe comparativo (CEJA), S. 97. 28 Vgl. Baytelman/Duce, Litigación penal, S. 32; zur Umsetzung in der Praxis, vgl. Baytelman/Duce, Evaluación de la reforma, S. 70. 29 Vgl. Baytelman/Duce, Litigación penal, S. 43. 30 Baytelman/Duce, Litigación penal, S. 35.
C. Mexikanische Reformentwicklung
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Schwerpunkt der Effektivität der Parteienleistung im Strafverfahren dar, weshalb eine gute Vorbereitung der Prozessbeteiligten aus deren Sicht zwingend geboten ist. Dementsprechend beschäftigt sich die juristische Ausbildung und auch ein Großteil der Literatur mit dem Erstellen und dem Vortrag einer sog. „teoría del caso“.31 Hinsichtlich der Zeugen- und Sachverständigenbefragungen in der Hauptverhandlung steht zunächst der Partei ein Fragerecht zu, die den Beweis in den Prozess eingeführt hat. Danach können von der anderen Partei Fragen gestellt werden (Art. 329 Abs. 3 CPP). Sollten dann noch Unklarheiten bestehen, hat auch das Gericht die Möglichkeit, Fragen zu stellen (Art. 329 Abs. 4 CPP).32 Das chilenische Modell beinhaltet damit eine adversatorische Form des Strafprozesses, die wiederum von einer starken Stellung der Prozessführungsregeln bzw. der Technik des Prozessstreits (reglas de litigación, teoría del caso) und der dafür erforderlichen Ausbildung der beteiligten Akteure gekennzeichnet ist.33 Diese Strömung entfernte sich vom ursprünglichen Konzept der argentinischen Universität Córdoba und verbreitete sich in vielen Ländern Lateinamerikas, zuletzt in Mexiko mit dem Bundesstrafprozessgesetz von 2014.
C. Mexikanische Reformentwicklung I. Verfassung von 1917 und Bundesstrafprozessgesetz von 1934 1. Mündliche Hauptverhandlung Anfang des 20. Jahrhunderts war das Strafverfahren in Mexiko nicht ganz so inquisitorisch gehalten wie in anderen Ländern Lateinamerikas, denn es hatte durch die Verfassung von 1917 einen „moderneren“ Charakter bekommen und das Strafverfahren war durch einige Eigenschaften eines „sistema acusatorio“ geprägt: Das setzte u. a. eine Trennung zwischen der Ermittlungs- bzw. Anklagefunktion (Ministerio Público) und der Entscheidungsfunktion (Art. 21 Verfassung), den Bestand einer Verteidigung sowie des Öffentlichkeitsgrundsatz (Art. 20 Verfassung) fest.34 Mit dem später folgenden Bundesstrafprozessgesetz von 1934 (Código Federal de Procedimientos Penales – für Bundesstrafsachen neben den einzelnen Strafprozessgesetzen der Länder) entwickelte sich allerdings noch nicht durchweg ein modernes Strafprozesssystem mit ausreichenden Kautelen zur Gewährleistung einer 31
Vgl. dazu infra, Kapitel 8 A. III. 4. Vgl. dazu López Masle, in: Horvitz Lennon/ders., Derecho procesal penal chileno I, II C 1.2., S. 42. 33 Vgl. die Betonung eines seiner Fördererer, Vargas, in: Baytelman/Duce, Litigación penal, S. 14 ff. 34 Moreno Hernández, Impactos, S. 19; ders., Homenaje a Schünemann, Bd. II, S. 731 ff., 742, Fn. 32; Martínez Geminiano, in: Carmona Castillo/Mafud Mafud (Hrsg.), Juicio oral penal, S. 50 f. 32
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Kap. 7: Die Reformbewegung in Lateinamerika
adäquaten Verfahrensbalance. So waren die Prinzipien der Mündlichkeit, der Unmittelbarkeit und der Öffentlichkeit nur eingeschränkt anzuwenden. Mündlich wurden nämlich nur die Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen durchgeführt (Art. 155 für das Ermittlungsverfahren; Art. 207, 249, 267 CFPP); daneben bestand noch die Möglichkeit, zur Verteidigungsschrift ein mündliches Plädoyer vorzutragen (Art. 87 CFPP). Der Unmittelbarkeitsgrundsatz wurde in Art. 16 CFPP und die für die lateinamerikanischen Länder bedeutende Kontradiktion in Art. 306 CFPP geregelt. Der Öffentlichkeitsgrundsatz war bereits in Art. 20 A VI der Verfassung vorgesehen. Damit konnte das Strafverfahren vor der großen Reform zwar nicht als „inquisitorisch“ bezeichnet werden, jedoch noch genauso wenig als „acusatorio“.35 2. Die Rolle der Staatsanwaltschaft Das frühere Strafverfahren Mexikos wies Besonderheiten auch bezüglich der Rolle der Staatsanwaltschaft bzw. des Ministerio Público auf. Anders als bei den restlichen lateinamerikanischen Ländern war dieses Organ bereits seit 1917 mit den Ermittlungs- und Klagekompetenzen gesetzlich und sogar verfassungsrechtlich versehen. In der Zeit davor, bis zum Jahr 1917, waren die strafprozessualen Ermittlungsaufgaben allein in richterlicher Hand. Nach der mexikanischen Revolution von 1910 war man bestrebt, die Ermittlungstätigkeit vom richterlichen Aufgabenbereich abzuspalten und auch der Polizei einen beträchtlichen Teil ihrer Macht zu entziehen. Deshalb kreierte der damalige Präsident Venustiano Carranza für die Verfassung von 1917 das Organ Ministerio Público (Art. 21, Satz 2, Reform der Verfassung von 1857)36: „La persecución de los delitos incumbe al Ministerio Público y a la Policía Judicial, la cual estará bajo la autoridad y mando inmediato de aquél.“ Dadurch wurde dem Ministerio Público die ausschließliche Befugnis zur Ausübung der Strafverfolgung und Sachverhaltsermittlung mit der Hilfe der Policía Judicial zugeteilt, die auch von ihm geleitet wird. Mit der Verfassungsreform von 1996 wurde noch das Wort „Ermittlung“ in den Art 21 eingefügt: „La investigación y persecución de los delitos incumbe al Ministerio Público, el cual se auxiliará con una policía que estará bajo su autoridad y mando inmediato“. Danach sind die Verfolgung- und Ermittlungsaufgaben ausschließlich dem Ministerio Público zugeordnet, während die Polizei nur als Hilfsorgan unter strikter Anleitung von diesem ermitteln durfte.37 In Mexiko wurde zuletzt jedoch zunehmend die Meinung vertreten, dass sowohl das Ministerio Público als auch die Polizei ineffizient bei der Erfüllung der Er35
Vgl. Moreno Hernández, Impactos, S. 19. Vgl. Proyecto de Reformas a la Constitución de 1857, vorgelegt von Venustiano Carranza bei der Einführung des Congreso Constituyente in Querétaro, 1. Dezember 96, z. B. in: http: //www.biblioteca.tv/artman2/publish/1916_209/Proyecto_de_Reformas_a_la_Constituci_n_ de_1857_Pre_210_printer.shtml. 37 Zu dieser Entwicklung und den folgenden vgl. u. a. Hidalgo Murillo, Naturaleza policial de la investigación procesal por delito, S. 106. 36
C. Mexikanische Reformentwicklung
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mittlungsaufgaben arbeiteten.38 Deshalb werden mittlerweile die Arbeitsbereiche von Polizei und Ministerio Público beim Ermittlungsprozess neu definiert und der Art. 21 der Verfassung erfuhr in diesem Aspekt eine weitere Veränderung.
II. Reformen seit 1983, ohne Veränderung des Prozessmodells Während andere lateinamerikanische Länder begannen, über grundlegende strafprozessuale Reformen zu diskutieren, wie etwa über die Abschaffung des alten inquisitorischen Strafprozesses, die Etablierung der mündlichen Hauptverhandlung und die Übertragung der Ermittlungsaufgaben auf die Staatsanwaltschaft, richtete sich das Augenmerk in Mexiko auf andere strafprozessuale Themen, denn das dortige Strafverfahren war ja bereits von der Struktur des alten inquisitorischen Systems abgewichen. So wird berichtet, dass in Mexiko in der Zeit zwischen 1983 bis 1994 die Debatten sowie der Gegenstand der Reformen eher Aspekte wie die Einbeziehung subjektiver Tatbestandselemente und auch weiterer Kriterien des allgemeinen Strafrechts in die Tatbestandsvoraussetzungen (u. a. für die richterliche Anordnung einer Festnahme) behandelten. In diesem Zusammenhang wurde das alte objektive strafprozessuale Kriterium des „cuerpo del delito“ im Sinne einer bloß objektiven Tatbegehung, dem bis dahin das Konzept der kausalen Handlungslehre folgte, durch das Kriterium der Tatbestandsmerkmale unter Berücksichtigung subjektiver Elemente ersetzt.39 Neben dieser Art von Diskussionen stand außerdem die Strafverfolgung von organisierter Kriminalität im Vordergrund der Debatten. Entsprechend wurden im Jahre 1996 zunächst neue strafprozessualen Maßnahmen eingeführt, während sich die anschließenden Reformen im Jahr 1999 auf die Erreichung einer effektiveren Kriminalitätsverfolgung konzentrierten, weshalb in diesem Zuge die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft erweitert wurden und der Begriff des „in flagranti“, dem Antreffen auf frischer Tat, umformuliert wurde.
III. Die Reformbewegung Auch wenn in Mexiko modernere Strukturen als in den restlichen lateinamerikanischen Ländern bestanden, spürte auch die Strafprozesswissenschaft und die Justiz Mexikos zunehmend einen starken Einfluss durch die spanischsprachigen Nachbarländer, nachdem einige dieser in den 90er Jahren mit großen Strafprozessreformen begannen.40 Die ersten Impulse für eine Strafprozessreform gehen in 38
Vgl. dazu näher infra, Kapitel 8 A. III. 3. b) gg) mit Nachweisen. Vgl. zur Entwicklung bis 1999 González Ruiz/Mendieta Jiménez/Buscaglia/Moreno Hernández, El sistema de justicia penal y su reforma, S. 530 ff.; Moreno Hernández, Impactos, S. 11 ff. (als Mitautor der entsprechenden Verfassungsreform, siehe Fn. 37 seines Aufsatzes). 40 Zur Stellung Mexikos im Rahmen der Reformen der Nachbarländer vgl. Moreno Hernández, in: ders./Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 53, 60 ff., mit 39
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Kap. 7: Die Reformbewegung in Lateinamerika
Mexiko einerseits auf die Initiative des Justizsystems, andererseits auf die Erwägungen und Erkenntnisse im Rahmen der Conferencia Nacional de Presidentes de Tribunales Superiores de Justicia und die Conferencia de Procuradores de Justicia zurück und auch auf Einflüsse weiterer öffentlicher und privater Bereiche, wie beispielsweise dem akademischen. Die Regelungen zum bestehenden Strafverfahren standen im Mittelpunkt der Kritik und das Hauptinteresse richtete sich auf die Einführung eines sistema acusatorio mit juicio oral. Über diese neuen Bestrebungen wurde in den Medien, Fachzeitschriften und Fachbüchern viel publiziert, allerdings waren die Zielvorstellungen bezüglich des Umfangs der Mündlichkeit und der Eigenschaften eines sistema acusatorio bei so vielen und unterschiedlichen Beteiligten selbstverständlich nicht einheitlich. Darüber hinaus wurde in der Reformdiskussion neben anderen Themen vor allem auch über die sog. Alternativmechanismen zur Konfliktlösung (mecanismos alternativos de solución de conflictos) und das Opportunitätsprinzip gesprochen.41 Seltener wurde darüber debattiert, ob die häufig praktizierten prozessualen Vereinbarungen mit dem Angeklagten über das Prozessergebnis nicht gerade die Realisierung der so dringlich ersehnten mündlichen Strafprozesse verhindern würden. Durch die Vielzahl an Beteiligten aus verschiedensten Lagern und die Ausführlichkeit und Tiefe der Diskussionen über jeden Reformpunkt, wies der Reformprozess jedenfalls eine Dynamik ohne Monopolisierung des Dialogs, also ohne Prägung der Diskussion durch einige Wenige, auf. Allerdings stellte sich die – an sich lobenswerte – Berücksichtigung der verschiedenlichsten Äußerungen und Meinungen aufgrund ihrer Vielstimmigkeit eher als Hindernis für die tatsächliche Ingangsetzung eines neuen Prozessmodells dar. Bei dieser ausführlichen Reformdiskussion blieben auch die ausländischen Erfahrungen und erlassenen Gesetze nicht ohne Beachtung; eine vollständige Übernahme eines ausländischen Strafprozesskonzepts ohne Berücksichtigung der eigenen mexikanischen Besonderheiten und Bedürfnisse kam jedoch nicht in Frage.42
IV. Die dezentrale Gesetzgebung Bei den Gedankenspielen über eine mögliche grundlegende Strafprozessreform war außerdem die dezentrale Gesetzgebung Mexikos als ein wichtiger Aspekt zu berücksichtigen. Wie in den Vereinigten Staaten von Amerika oder in Argentinien gab es in Mexiko lange Zeit eigene Strafprozessgesetze in jedem Bundesstaat. Es handelte sich um 31 Códigos der einzelnen mexikanischen Bundesstaaten (Estados) und einen Código für den Distrito Federal. Dazu gab es den Código Federal auf Kritik auf die Entwicklungen bereits ab dem Proyecto Fox von 2004, siehe S. 63. Zu den Einflüssen bei der Reform siehe supra, B. I. 41 Vgl. Moreno Hernández, Impactos, S. 19 ff., insbes. 22. 42 So z. B. Moreno Hernández, Impactos, S. 19 ff., insbes. 25; kritischer ders., in: ders./ Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 60 ff.
C. Mexikanische Reformentwicklung
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Bundesebene. Bundesdelikte, also nach dem Código Federal zu verfolgende Delikte, sind schwere Delikte, wie beispielsweise Waffen- und Drogenhandel; andere nicht so schwere Delikte waren dagegen den lokalen Gerichten der jeweiligen Bundesstaaten zugewiesen. Mexiko hat kein parlamentarisches System, sondern ein aus den Vereinigten Staaten importiertes (föderales) Präsidialsystem. Diese Föderation ist eine Vereinigung souveräner Länder (Estados), die ihre interne Souveränität beibehalten und ihre externe Souveränität an den Bund delegieren. Art. 124 der mexikanischen Verfassung definiert die Aufteilung der Föderations- und Staatenkompetenzen. „Las facultades que no están expresamente concedidas por esta Constitución a los funcionarios federales, se entienden reservadas a los Estados“. Danach sind also diejenigen Befugnisse, die die mexikanische Verfassung der Föderation nicht ausdrücklich erteilt, den Bundesstaaten vorbehalten. Die von Literatur, Justiz und auch die auf extra zum Thema der Vereinheitlichung des Strafprozesses organisierten Veranstaltungen vertretene Auffassung betonte lange Zeit das Bedürfnis, eine einheitliche Kodifizierung zu etablieren. Eine Vereinheitlichung des Strafprozessrechts wurde dabei als durchaus kompatibel mit dem Föderalismus und der Teilsouveranität der Mitgliedstaaten angesehen und in diesem Aspekt wollte man dem Vorbild von Brasilien und Deutschland folgen.43 Von diesen frühen Impulsen bis zur heutigen Vereinheitlichung war es jedoch noch ein langer Weg, dessen ersten Schritte im Erlass neuer Strafprozessgesetze für die einzelnen mexikanischen Bundesstaten ab dem Jahre 2007 in Verbindung mit einer Verfassungsreform im Jahre 2008 bestanden. Der politische Wandel im Sinne eines Demokratisierungsprozesses war für die Ingangsetzung der Reformen schließlich ausschlaggebend.
V. Die Reformdiskussion seit dem Demokratisierungsprozess Mit der Rückkehr der Demokratie fingen die ersten Reformen zur Modernisierung des Strafprozessrechtes an. Während die Partei PRI von 1929 bis 2000 Mexiko regierte, war die politische Lage in diesem gesamten Zeitraum ungeeignet für die Durchsetzung strafprozessualer Veränderungen. Den Demokratisierungsprozess stieß der Einsatz von Präsident Ernesto Zedillo von der PRI an. Die Wahlen des 2. Juli 2000 gewann Vicente Fox aus der mexikanischen christdemokratisch-konservativen Partei PAN (Partido Acción Nacional).44 Präsident Fox legte der Legislative dann am 29. März 2004 eine Gesetzesinitiative vor. Der Schwerpunkt des Entwurfes lag in der 43
Dictamen por el que se expide el CPP Nacional, III 1 A. IV (S. 13). Er setzte sich mit einem Stimmenanteil von 42,5 % (die einfache Mehrheit genügte) gegen seine Konkurrenten Francisco Labastida der PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution, sozial-demokratische Revolutionspartei, 36,1 %) und Cuauhtémoc Cárdenas von der PRD (Partido de la Revolución Democrática – demokratischer Sozialismus bestehend aus sozialistischen und liberalen Politikern, gemäßigt Links –, 16,6 %) durch. 44
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Stärkung des Mündlichkeitsgrundsatzes, des Öffentlichkeitsgrundsatzes und des Unmittelbarkeitsprinzips des Strafprozesses,45 allerdings mit einer Akzentuierung auf der Straffung und Beschleunigung des Verfahrens. Darüber hinaus sah der Entwurf eine grundsätzliche Reformierung der Staatsanwaltschaft und der Polizei vor. So war die Ersetzung des Ministerio Público Federal (Bundesstaatsanwaltschaft) durch die Fiscalía General de la Nación (etwa „Nationale Generalstaatsanwaltschaft“) geplant, was nicht einen bloßen Wechsel der Bezeichnung darstellte, sondern vielmehr auf grundsätzliche Veränderungen abzielte. Bei dem Versuch, die von allen Seiten kritisierte Ineffizienz des Ministerio Público bei der Verbrechensverfolgung zu beseitigen, griff der Entwurf Fox’ jedoch auf Lösungsvorschläge zurück, die unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht unbedenklich waren. So bekam die Fiscalía im Entwurf des Präsidenten Fox die Ermittlungs- und Verfolgungsaufgaben nicht (mehr) zugewiesen; diese wurden der Polizei übertragen. Der Entwurf sah also vor, dass die Polizei die Ermittlungsaufgaben selbstständig übernehmen sollte und dem Ministerio Público lediglich nach Abschluss der Ermittlungen die Ermittlungsergebnisse vorzulegen hätte. Dieser Lösungsweg war deshalb problematisch, weil die im Ermittlungsverfahren gewonnenen Informationen und Ergebnisse heutzutage häufiger ausschlaggebend für das Endergebnis des Verfahrens sind, weshalb dieser elementare Verfahrensschritt nicht vollständig und vorbehaltslos der Polizei überlassen werden kann. Ferner war der Zusammenschluss der Polizei zu einer „Policía Federal“ vorgesehen, was z. B. auch die Ermittlungs- und die Präventivpolizei hätte einschließen sollen.46 Außerdem war neben diesen Maßnahmen ergänzend vorgesehen, die Fiscalía von der Exekutive unabhängig zu machen.47 Über den Entwurf von Präsident Fox wurde sehr viel debattiert. Teilweise wurden dabei auch die amerikanischen Einflüsse kritisiert, die aus der intensiven Mitwirkung der Institutionen Proderecho und USAID resultieren sollten.48 Das Bundesverfassungsgericht (Suprema Corte de Justicia de la Nación) kreierte deshalb die Comisión para el Estudio de las Reformas Penales, bestehend aus einer Gruppe von Bundesrichtern, die sowohl die verfassungsrechtliche als auch die einfachgesetzliche Seite der von Präsident Fox geplanten Strafprozessreform beleuchteten und diese schließlich in einem Beschluss Ende 2004 als nicht umsetzbar ansahen. Insbesondere wiesen sie dabei allerdings auf das Fehlen der entsprechenden finanziellen Mittel im
45 Vgl. González Ruiz/Mendieta Jiménez/Buscaglia/Moreno Hernández, El sistema de justicia penal y su reforma, S. 575 ff. 46 Vgl. González Ruiz/Mendieta Jiménez/Buscaglia/Moreno Hernández, El sistema de justicia penal y su reforma, S. 577, 593. Allgemein dazu Hidalgo Murillo, Naturaleza policial de la investigación procesal por delito, S. 93 ff., 100. 47 Vgl. dazu z. B. Carrancá y Rivas, La averiguación previa. 48 Moreno Hernández, in: ders./Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 63 ff.
C. Mexikanische Reformentwicklung
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Haushaltsplan hin.49 Der Entwurf wurde danach auch vom Bundesrat nicht angenommen.50
VI. Die Verfassungsreform von 2008 1. Neben der Gesetzesinitiative von Präsident Fox im Jahre 2004 beschäftigten sich mehrere Institutionen verschiedener Art mit der Reformierung des Strafverfahrens in Mexiko. Daraus entsprangen mehrere Reforminitiativen, einerseits für das Bundesstrafprozessgesetz und für Strafprozessgesetze einiger mexikanischer Bundesstaaten, andererseits für diejenigen Artikel der mexikanischen Verfassung, die das Strafverfahren betreffen. In Mexiko hatte es sich nämlich als üblich erwiesen, dass jede Gesetzesinitiative zu einer wichtigen Strafprozessreform von einer Initiative zur Verfassungsreform begleitet wird.51 Angetrieben waren diese Initiativen von einigen öffentlichen Institutionen (u. a. INACIPE, IIJ-UNAM, ITAM, CIDE), aber auch von privaten Organisationen (u. a. Red Nacional a favor de los juicios orales, Academia Mexicana de Ciencias Penales, CEPOLCRIM, Asociación Nacional de Doctores en Derecho, RENACE) bzw. internationalen Institutionen (u. a. Proderecho, CEJA; Fundación Konrad Adenauer).52 So verfasste die PRI-Partei zum Beispiel im Dezember 2006 ihren Entwurf für ein Bundesstrafprozessgesetz, die PAN-Partei legte ihren Entwurf im März 2007 vor und die Parteien PRD, PT und Convergencia präsentierten ihren Entwurf im April 2009. Die Reform des mexikanischen Grundgesetzes (Constitución Política de los Estados Unidos Mexicanos – CPEUM) erfolgte auch unter vielfältiger Mitwirkung der Legislative, der Exekutive, akademischer Stellen und internationaler Institutionen53 und ist am 19. Juni 2008 in Kraft getreten.54 In der Folgezeit strengten die politischen Parteien drei weitere Gesetzesinitiativen für ein reformiertes Strafprozessgesetz in den Jahren 2011, 2012 und 2013 an. Für die Analyse besagter Entwürfe und ihrer Diskussion wurden vier Sitzungen (Audiencias Técnicas) eines Beraterausschusses (Consejo Técnico) in März und April 2013 anberaumt. Dieser empfahl im Ergebnis ein einheitliches Bundesstrafprozessgesetz, das für alle mexikanischen Bundesstaaten Geltung entfalten sollte.55 Im April 2013 wurden dann drei entsprechende Entwürfe für ein einheitliches Bundesstrafpro49
Vgl. dazu Aviles Allende, Descalifica la Corte reforma judicial de Fox. Vgl. dazu Moreno Hernández, Homenaje a Schünemann, Bd. II, S. 731 ff., 746. 51 Hidalgo Murillo, Naturaleza policial de la investigación procesal por delito, S. 93 ff., 100. 52 Vgl. dazu Moreno Hernández, Impactos, S. 1 f.; ders., Homenaje a Schünemann, Bd. II, S. 731 ff., 747. 53 Vgl. Dictamen por el que se expide el CPP Nacional, III 1 A. II (S. 13). 54 Veröffentlicht in Diario Oficial de la Federación am 18. Juni 2008. Auch einsehbar unter: http://www.diputados.gob.mx/LeyesBiblio/ref/cpeum.htm. 55 Vgl. Dictamen, II (S. 4 ff.). 50
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Kap. 7: Die Reformbewegung in Lateinamerika
zessgesetz (Código Nacional) von den politischen Parteien vorgelegt.56 Für die entsprechende Debatte wurden 18 Sitzungen des Beraterausschusses (Consejo Técnico) zwischen Mai und August 2013 angesetzt. Damit das Bundesparlament einen Código Nacional erlassen durfte, wurde außerdem auch eine Ergänzung in Art. 73 der mexikanischen Verfassung eingefügt.57 2. Ziel der verfassungsrechtlichen Reform von 2008 bezüglich des Strafverfahrens war einerseits die Etablierung eines sistema acusatorio mit den Grundsätzen der Mündlichkeit, Öffentlichkeit, Kontradiktion, Konzentration, Kontinuität, Unmittelbarkeit und andererseits die Abschaffung der hierarchischen und operativen Abhängigkeit der Polizei bezüglich des Ministerio Público, damit sie die Ermittlungstätigkeiten nun selbständig und lediglich unter juristischer Leitung der Staatsanwaltschaft durchführen konnte. Vorgesehen war dabei, dass die Leitung der Ermittlungen beim Ministerio Público verbleibt, aber bei technischer und funktioneller Selbständigkeit der Polizei und unter Gewähr von mehr (polizeilichen) Befugnissen bei der Ermittlungstätigkeit. Mit dieser Verfassungsreform wurde Art. 21 der mexikanischen Verfassung nochmals wie folgt geändert: „La investigación de los delitos corresponde al Ministerio Público y a las policías, las cuales actuarán bajo la conducción y mando de aquél en el ejercicio de esta función.“ Im Ergebnis führte dies zu einer Stärkung der polizeilichen Befugnisse bei der Ermittlungstätigkeit und damit zeitgleich auch zu einer Erhöhung der polizeilichen Einflussnahme auf das Endergebnis des Strafverfahrens. Die neue Definition der Arbeitsbereiche der Polizei und des Ministerio Público im Ermittlungsverfahren war in der mexikanischen Strafprozessreform eine wichtige Aufgabenstellung, v. a. weil sich in den letzten Jahren vor der Reform der Eindruck von mangelnder Strafverfolgung verbreitete bzw. die Ineffizienz der Strafverfolgungsorgane mehr und mehr in den Fokus der Wahrnehmung der Öffentlichkeit rückte. Sowohl in den Medien, als auch auch in der Fachliteratur wurde vermehrt auf die Ineffizienz, daneben aber auch auf die Korruption der Polizei und des Ministerio Público hingewiesen. Der Vorwurf lautete, dass sich die Polizei bei ihren Ermittlungen nicht an die prozessualen Regeln und etwaige Anweisungen des Ministerio Público hielte. Deshalb seien die Beweiswertstandards sehr schwach, die Beweiserhebung der Polizei sei nicht kontradiktorisch und erfolge ohne die Einhaltung von Beschuldigtenrechten.58 Hinzu käme, dass sich die einzelnen Verfahren vor dem Ministerio Público extrem verzögerten, insbesondere die Wartezeiten auf einen Termin zur Vernehmung; es würde außerdem ggf. sehr lange dauern, bis nach Abschluss eines Ermittlungsverfahrens Anklage erhoben wird, und der ggf. Geschädigte müsse immer wieder überprüfen, ob sein Verfahren (noch) bearbeitet wird.59 56 Die Entwürfe sind im Dictamen, II xiii (S. 8 f.) und detaillierter in III (S. 12 ff.) beschrieben. 57 Vgl. Dictamen, II xii (S. 8); II xvii (S. 10). 58 Vgl. CESC/CIDE u. a., Memoria IV Seminario Internacional, S. 6 und 9. 59 So z. B. Moreno Hernández, Impactos.
C. Mexikanische Reformentwicklung
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3. Ob eine Reform des mexikanischen Grundgesetzes in dieser strafprozessualen Detaildichte60 erforderlich war, ist fraglich.61 Die verfassungsrechtliche Berücksichtigung der verfahrenserledigenden Urteilsabsprachen stellt dabei jedoch eine Besonderheit dar, auf die im Zusammenhang mit der Behandlung des mexikanischen procedimiento abreviado in Kapitel 8 tiefer eingegangen wird. 4. Für die detaillierte Ausarbeitung eines neuen Strafprozessgesetzes nach den Vorgaben des neuen Strafprozessmodells als ein „sistema acusatorio“ mit „juicios orales“ wurde eine Frist von acht Jahren ab dem 19. 6. 2008 gesetzt. Für andere wichtige Reformpunkte, wie beispielsweise dem Begriff des „inflagranti“ – dem Antreffen auf frischer Tat, der Regelung eines Lauschangriffs oder den Resozialisierungsregeln (Art. 16 und 18 der Verfassung) sowie die Vorgaben für Ermittlungstätigkeiten des Ministerio Público und der Polizei und deren Verhältnis zueinander (Art. 21) wurde dagegen keine Frist gesetzt, diese neue Regelung gelten vielmehr ab dem 19. 6. 2008.62
VII. Die Reform der Strafprozessgesetze der Bundesstaaten und die Vereinheitlichung durch den Código von 2014 1. Das erste modernisierte Strafprozessgesetz Mexikos wurde im Bundesstaat Chihuahua erlassen. Dieses Strafprozessgesetz, das mit der Unterstützung von Proderecho63 auf Grundlage des Entwurfs des mexikanischen Bundesstaats Oaxaca 60
Die behandelten Aspekte sind beispielsweise: Art. 17, Abs. 4: mündliches Strafverfahren; Art. 20, Abs. 1: Prozess „acusatorio“ mit Grundsatz der Mündlichkeit, Öffentlichkeit, Kontradiktion, Konzentration, Kontinuität, Unmittelbarkeit; Art. 20 A I: Tataufklärung; A III: Inbegriff der Hauptverhandlung; A IV: Personenverschiedenheit zwischen Ermittlungsrichter und Instanzrichter; AV: Waffengleichheit; AVII: Urteilsabsprachen; B. Beschuldigtenrechte; B II. Kein Beweiswert des Geständnisses ohne Strafverteidiger; B V Abs. 2: Bei der organisierten Kriminalität haben die Ermittlungsakten unter Umständen Beweiswert; B VIII. Notwendige Verteidigung. Anwesenheitsrecht des Verteidigers „in allen Schritten des Prozesses“. Ferner sind weitere strafprozessuale Themen in den Art. 16 ff. geregelt: Art. 16: Begriff des inflagranti; staatsanwaltschaftliche Anordnung der Festnahme, wenn nicht auf einem Richter zurückgegriffen werden kann; fester Wohnsitz; Ermittlungsaufgabe der Staatsanwaltschaft, Lauschangriff, Aufgaben des Ermittlungsrichters; Art. 17: Alternative Lösungsmechanismen; öffentlichen Verteidigerbüros; Voraussetzungen des Verteidigerberufs; Art. 18: Resozialisierung; Verurteilter wegen organisierter Kriminalität; Art. 19: „auto de vinculación a proceso“ (Einbeziehung des Beschuldigten in das Ermittlungsverfahren); Untersuchungshaft; organisierte Kriminalität; Art. 20 B. Prozessfristen, Frist von zwei Jahren für die Untersuchungshaft; Opferrechte. 61 Vgl. Hidalgo Murillo, Naturaleza policial de la investigación procesal por delito, S. 107. 62 Dazu Moreno Hernández, Impactos, S. 23 f. 63 Vgl. darüber Hidalgo Murillo, Investigación Policial y teoría del caso, S. 59. Trotz der Beteiligung von Proderecho wird teilweise auf die Vielfältigkeit der Mitwirkenden hingewiesen: Die Entwurfsidee wurde zuerst in den „Jornadas de Sozialización“ öffentlich gemacht, die aus 170 Sitzungen mit insgesamt 7.000 Teilnehmern aus der Gesellschaft Chihuahua entstammt. Anschließend wurde der Entwurf in der „Consultas técnicas a la Reforma“ in einer
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Kap. 7: Die Reformbewegung in Lateinamerika
und mit einigen Einflüssen aus dem chilenischen Modell ausgearbeitet wurde,64 trat bereits am 1. 1. 2007 in Kraft65 und damit noch vor der Verfassungsreform von 2008. Seinem Ursprung folgend weist dieser Código eine adversatorische Struktur auf, wie diese im gesamten Reformrahmen zu finden ist. Auffällig ist auch die Verankerung des Prinzips der „historischen“ Wahrheit in seinem Art. 1, das mit der adversatorischen Struktur und den verfahrensbeendigenden Absprachen kombiniert wurde. Darüber hinaus wird das Prinzip des Inbegriffs der Hauptverhandlung verankert, indem nur die in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise zur Urteilsgrundlage gemacht werden dürfen. Das führt dazu, dass die Akten des Ermittlungsverfahrens nicht mehr als Beweis dienen können und dürfen und dass deren Beweiswert für das Urteil entfällt (Art. 35, Abs. 2; 236, Abs. 1, 284 CPPCh). Im verkürzten Verfahren (procedimiento abreviado, Art. 387 ff.) wurde die Geltung dieses Prinzips jedoch ausgeschlossen (Art. 236, Abs. 2 CPPCh). 2. Im Anschluss an das Inkrafttreten des bedeutenden Código Chihuahua folgten auch neue Strafprozessgesetze der mexikanischen Bundesstaaten Oaxaca (am 9. 9. 2007 in Kraft getreten), Morelos (am 30. 10. 2008 in Kraft getreten), Zacatecas (am 5. 1. 2009 in Kraft getreten), Baja California (am 1. 6. 2009 in Kraft getreten) und später der weiteren mexikanischen Bundesstaaten bis zur Verabschiedung des einheitlichen Código Nacional. Der Regelungsrahmen der Códigos für die Einzelstaaten, aber auch der verschiedenen Entwürfe für ein einheitliches Strafprozessgesetz, umfasste in der Regel ein Bekenntnis zu folgenden zentralen und prägenden Elementen: Inbegriff der Hauptverhandlung; Pflicht zur Objektivität der Staatsanwaltschaft; Personenverschiedenheit zwischen Ermittlungsrichter und erkennendem Gericht; Stärkung der Rechte der Verteidigung im Ermittlungsverfahren; öffentliche Verteidigerbüros; Regelungen für eigene Ermittlungen des Verteidigers; die „audiencia intermedia“, in denen Vereinbarungen über den Ausschluss von Beweisanträgen und über Fakten getroffen werden; Kenntnis des Richters der Hauptverhandlung lediglich vom Eröffnungsbeschluss, nicht auch der Ermittlungsakte; gegebenenfalls Regelungen über das Verlesen von Protokollen; Videoaufnahme der Hauptverhandlung und verfahrenserledigende Urteilsabsprachen. 3. Die Verfassungsreform von Juni 2008 ging – wie bereits dargestellt – mit einer Fristsetzung von acht Jahren für die Einführung des akkusatorischen Systems in Mexiko einher und auf genau dieses Ziel richteten sich die Reformen. Die Vereinheitlichung des mexikanischen Strafprozessrechts, wodurch die Códigos der BunVielzahl von Vorträgen in mehreren mexikanischen Bundesstaaten weiterdiskutiert und die Vorschläge, Anmerkungen, Kritiken und Beiträge von verschiedenen Fachjuristen und Organisationen in die Reform eingearbeitet. Vgl. das Dokument „Consideraciones de la reforma integral al sistema de justicia penal de Chihuahua“ z. B. in: www.congresoson.gob.mx, unter „biblioteca virtual“, „legislación“. 64 Vgl. darüber Hidalgo Murillo, Investigación Policial y teoría del caso, S. 59. 65 Bereits 2004 hatten Nuevo León und Estado de México zwar bereits Reformen eingeführt, aber der erste Bundesstaat mit einer adversatorischen Form im Sinne eines proceso acusatorio war Chihuahua.
C. Mexikanische Reformentwicklung
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desstaaten außer Kraft gesetzt wurden, erfolgte schließlich durch die Verabschiedung des Código Nacional de Procedimientos Penales (CNPP), der am 5. März 2014 im Diario Oficial de la Federación veröffentlicht wurde und damit in Kraft trat.66 Am 19. Juni 2016 wurde das neue System im ganzen Bundesgebiet Mexikos verbindlich eingeführt.67 Auf die Einzelheiten der neuen adversatorischen Struktur und der grundlegenden Prinzipien wird im Kapitel 8 eingegangen.
66
Einsehbar unter: http://dof.gob.mx/nota_detalle.php?codigo=5334903&fecha=05/03/2 014; aktuelle Fassung: http://www.diputados.gob.mx/LeyesBiblio/ref/cnpp.htm. 67 Dictamen de las Comisiones Unidas de Justicia y estudios Legislativos, Dez. 2013, III 1) C II (S. 18).
Kapitel 8
Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur in Lateinamerika am Beispiel Mexikos A. Die Verteilung der Prozessrollen und das Beweisverfahren als Kernpunkt der Modelldichotomie I. Vergleichsgegenstand Anhand der Ausführungen des vorangegangenen Kapitels 7 ist eine adversatorische Strömung in der Strafprozessrechtsreform in Lateinamerika seit der Modernisierung Ende letzten Jahrhunderts zu konstatieren, die teilweise Wurzeln im angloamerikanischen Strafprozessrecht und als ihren Impulsgeber das chilenische Modell aufweist. Aus der Fülle von strukturellen Unterschieden zwischen der Strafprozessreform Lateinamerikas und der kontinentaleuropäischen Tradition ist bei diesem Gegensatz zwischen Parteienwettstreit und Amtsaufklärung wie üblich von besonderer Bedeutung die Rollenverteilung im Beweisverfahren im Rahmen der Wahrheitssuche. In der Beweiserhebung zeigen sich die Hauptunterschiede zwischen beiden Systemen bei den konträr gerichteten Parteiaktivitäten zur Beschaffung des Beweisstoffes, bei der Beweisführung, sei es des Gerichts oder der nicht richterlichen Parteien (Anklage und Verteidigung), entsprechend auch bei der Bestimmung des Umfangs der Beweiserhebungen. Weitere Unterschiede sind die Art und Weise der Beweiswürdigung und einige je nach Prozessmodell variierende Prozessmechanismen wie das Beweisantragsrecht oder die Beweisausschlussregeln.1 1
Zur Gegenüberstellung beider Modelle vgl. für die englischsprachige Literatur Damasˇka, U. Pa. L. Rev. 121 (1973), 506 ff.; ders., Evidence Law Adrift, S. 74 ff.; ders., The Faces of Justice and State Authority; ders., Zbornik PFZ 51 (2001), 477; LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, § 1.8. (c); für deutschsprachige vgl. u. a.: Damasˇka, ZStW 87 (1975), 715 ff.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 15 Rn. 6 f., § 19 Rn. 1 f., § 44 Rn. 79 ff.; Schünemann, u. a. ZStW 114 (2002), 1 ff.; ders., Festschrift für Fezer; ders., in: Öst. Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Die Reform, S. 9 ff.; ders., StraFo 2010, 90 ff., 91 f.; Tiedemann, ZRP 1992, 107 f.; Weigend, ZStW 104 (1992), 489; ders., Festschrift für Rissingvan Saan S. 749 ff.; Eser, Festschrifft für Miyazawa, S. 561 ff., S. 565; ders., Festschrift für Tiedemann, S. 1453 ff.; ders., in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 12 f.; Kirsch, StV 2003, S. 636 ff.; Harding, in: Eser/Rabenstein (Hrsg.), Strafjustiz, S. 3; Hörnle, ZStW 117 (2005), 804; Langer, in: Maier/Bovino (Hrsg.), El procedimiento abreviado, S. 97 ff.; ders., in: American Journal of Comparative Law, Vol. 53, S. 835 ff. (2005); Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 25 ff. und passim; LR/Kühne, Einl. G Rn. 22, Rn. 16; Billis, Die Rolle des Richters, S. 82 ff. und passim; Gaede, Fairness, S. 344 ff.; Anders,
A. Die Verteilung der Prozessrollen und das Beweisverfahren
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Ein Blick auf den Inhalt und die Gestaltungsmöglichkeiten der wie in Mexiko adversatorisch geführten Hauptverhandlung gegenüber dem deutschen Modell mit seiner Amtsaufklärungspflicht, insbesondere in der unterschiedlichen Verteilung der Prozessrollen bei der Beweissammlung und -führung, zeigt, wie wichtig und im wahrsten Sinne des Wortes entscheidend die Existenz einer Hauptverhandlung als Urteilsgrundlage ist, die diesen Namen auch verdient. Denn nur dort unterliegen die in ihr erhobenen Beweise der Kontradiktion bei gleichzeitiger Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit. Demgegenüber wurde das Ermittlungsverfahren in keinem dieser Systeme mit diesen Vorzügen ausgestattet. Angesichts dessen, dass der Schwerpunkt des Strafverfahrens in das wegweisende Ermittlungsverfahren vorgezogen wurde und so die Hauptverhandlung als Urteilsgrundlage an Bedeutung verloren hat, ist zu beklagen, wenn die entscheidende Verfahrensphase so dürftig ausgestaltet ist. Neben den verwendeten Methoden für die Sammlung des urteilrelevanten Prozessstoffes und der Rollenverteilung bei ihrer Gewinnung differieren die Systeme, je nachdem, inwiefern der Streitstoff und das Beweisverfahren zur Disposition der Staatsanwaltschaft und Verteidigung stehen, was in der Regel mit einer adversatorischen Beweissammlung einhergeht, oder ob diese Punkte außerhalb der Reichweite der Parteien liegen, was dem Untersuchungsgrundsatz entspricht.2 Die abstrakt-theoretische Dichotomie zwischen dem adversatorischen und kontinental-europäischen Beweisverfahren in der Hauptverhandlung ist ein logischer Ausgangspunkt für die sich anschließende Untersuchung der lateinamerikanischen, insbesondere mexikanischen Modernisierungen, wobei diese nicht lupenrein einem theoretischen Modell folgen.3 Trotzdem stellt eine Darstellung der idealtypischen Struktur beider Beweisverfahrensmodelle eine illustrative Grundlage für die Rechtsvergleichung dar.
ZStW 129 (2017), 103 ff.; bezogen auf den Parteibegriff Haas, Strafbegriff, 2008, S. 39 ff. Vgl. ferner Fn. 3 zur Diskussion bezüglich der Internationalen Gerichtshöfe. 2 Übersicht dazu zum Beispiel bei Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 18 Rn. 15; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 15 Rn. 1 ff. Im spanischsprachigen Schrifttum differenziert man zwischen der Dispositionsmaxime im engeren Sinne, also die Verfügbarkeit der Parteien darüber, ob sie sich zum Justiz zur Anspruchstellung richten, und der Verhandlungsmaxime (principio de aportación de parte), nachdem nur die Parteien die relevanten Tatmerkmale und ihre Beweismittel in den Prozess bringen, vgl. Montero Aroca u. a., Derecho Jurisdiccional I, S. 335; López Masle, in: Horvitz Lennon, Derecho procesal penal chileno I, II C 1.1., S. 36 mit Fn. 13.Vgl. ferner in Deutschland zur materiellen Seite des Offizialprinzips im Sinne der Unverfügbarkeit über das begangene Delikt und die dadurch bewirkte Strafe Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 12 Rn. 7. 3 Auch bei den strafverfahrensrechtlichen Regeln der internationalen Strafgerichtshöfe (ICC, ICTY) findet man nicht alleinig Strukturen des adversatorischen Modells, vgl. dazu zum Beispiel Ambos, in: International Criminal Law Review (ICLR) 3 (2003), 1 mit Literaturnachweisen in Fn. 6; Kirsch, StV 2003, S. 636 ff.; Pastor, in: Delmas-Marty u. a. (Hrsg.), Les sources du droit international pénal, S. 353 ff.; Eser, Festschrift für Jung, S. 167 ff. u. a.
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
II. Rollenverständnis im kontinentaleuropäischen Verfahren 1. Beweiserhebung durch das Gericht Einige Elemente einer Strafverfolgung und einem Beweisverfahren von Amts wegen rühren aus dem römischen Recht und wurden erst im kanonischen Recht ausgeformt.4 Die Offizialmaxime setzte sich an Stelle der Initiative des Einzelnen, mit Gottesurteilen bzw. einem Zweikampf als Beweismittel, spätestens mit der Einführung von Inquisitionselementen und anschließend mit der Etablierung des Inquisitionsprozesses im europäischen Kontinent durch. Mit dem reformierten Strafprozess des 19. Jahrhunderts wurde der Untersuchungsgrundsatz der ursprünglichen inquisitorischen Verfahrensgestaltung als Kernelement beibehalten. Als Errungenschaft der Reformbewegung wurde diese Verfahrensgrundlage mit der Anklageform kombiniert, sodass heute die Anklage- und die Richterfunktion getrennt erscheinen bzw. unter zwei Staatsbehörden aufgeteilt sind, auch wenn ihre Ausübung weiterhin von der staatlichen Seite stattfindet.5 Bei dieser Verfahrensstruktur wird die Strafverfolgung also nicht dem Einzelnen überlassen, sondern von staatlichen Stellen im öffentlichen Interesse übernommen. Auch wenn es sich heute selbstverständlich nicht mehr um einen Inquisitionsprozess handelt, vor allem weil die Subjektstellung des Beschuldigten gestärkt wurde, kann man die Behauptung aufstellen, dass in der deutschen Hauptverhandlung „inquisitorisch verfahren“ wird.6 Argentinien gilt mit seinem noch aktuellen Bundesstrafprozess als Vertreter dieses Musters in Lateinamerika mit der Besonderheit, dass das Ministerio Público und die Verteidigung Vorschläge für die Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung unterbreiten.7 Eine Parallele zur deutschen Hauptverhandlung kann man dabei nicht ziehen, weil der – noch eine zeitlang geltende – Código Nacional in der Fassung Levenes viel ältere Strukturen aufweist. Darüber hinaus und vielleicht wegen der schlechten Erfahrung in Argentinien wird eine Hauptverhandlung mit richterlicher Beweisführung kritisch gesehen und als inquisitorisch abgestempelt.8 Das mündliche, öffentliche und unmittelbare Beweisverfahren eines klassischen europäisch-kontinentalen Modells beruht auf den Grundsätzen der Amtsaufklä4
Vgl. dazu supra, Kapitel 1, ferner Trusen, Der Inquisitionsprozeß, S. 168 ff. Für den Anklagegrundsatz vgl. heute SK-StPO-Weßlau/Deiters, § 151 Rn. 2; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 13 Rn. 1 f. 6 Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 11 Rn. 1; § 18 Rn. 15; SK-StPO-Weßlau/Deiters, Vor § 151 ff. Rn. 2. 7 Man könnte darin eine Ähnlichkeit mit der von Köhler in seiner Monographie „Inquisitionsprinzip“ aus den 70er Jahren sog. „autonome Beweisführung“ sehen, bei der die Staatsanwaltschaft, der Angeklagter und die Verteidigung Beweismittel in der Hauptverhandlung ohne vorherigen förmlichen Beweisantrag präsentieren, wobei dieses Konzept nicht explizit aus Deutschland übernommen würde. Heute vertritt der Schüler von Köhler Anders, ZStW 129 (2017), 90 ff. eine Wiedereinführung der „autonome Beweisführung“. 8 Vgl. dazu supra, Kapitel 6 und für die verschiedenen Modelle vgl. dieses Kapitel 8 A. II. 2. b) dd) (2). 5
A. Die Verteilung der Prozessrollen und das Beweisverfahren
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rungspflicht und des Beweisantragssystems mitsamt dem Strengbeweis und den Beweiserhebungsverboten. Kennzeichnend ist ein verfahrensleitender Richter (§ 238 StPO; Art. 375 des argentinischen CPP Nacional), der über alle Angelegenheiten der Beweiserhebung die Kontrolle besitzt und die Pflicht hat, aktiv die Beweisaufnahme auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für das Urteil von Bedeutung sind (§ 244 Abs. 2 StPO; im argentinischen CPP Nacional existiert keine entsprechende Vorschrift, sondern nur der Bezug auf die richterlichen Beweiserhebungen, vgl. Art. 382 Abs. 1, 375, 356, 357, 388 CPP Nacional). Dabei werden alle verfügbaren Erkenntnismittel ausgeschöpft. Das erkennende Gericht wird also alle notwendigen und erlaubten Beweiserhebungen durchführen, die zu einer Ermittlung der Tatsachenlage in Richtung materieller Wahrheit führen.9 Das Beweisverfahren liegt in den Händen des Vorsitzenden, dessen Pflicht es ist, die Auswahl der Beweismaterialien nach eigenem Ermessen und ohne Begründungen mit dem Ziel der Ermittlung der materiellen Wahrheit zu treffen, die Reihenfolge ihrer Durchführung je nach Einzelfall aufgrund von Zweckmäßigkeitserwägungen festzulegen und insgesamt den Umfang der Beweiserhebung zu bestimmen. Dabei ist ein etwaiger Belastungs- oder Entlastungscharakter der Erkenntnismittel nicht relevant bzw. wird nicht danach differenziert. Darüber hinaus bestehen für das Gericht keine festgelegten Sachaufklärungsmechanismen in den Beweisvorgängen. Was die Beweisanträge der Verteidigung und der Anklage betrifft, werden sie nach bestimmten festgelegten Kriterien angenommen oder abgelehnt, ohne dass diese Beweisinitiativen für das Gericht verbindlich wären.10 Dem Tatgericht als einzelnes Erkenntnissubjekt, dessen Neutralität durch die Funktionshäufung (Stoffsammlung und ihre Würdigung) beeinträchtigt wird und zumal von der eher belastenden Information der Verfolgungsbehörden durch die Aktenkenntnis beeinflusst ist, fehlen aber damit die optimalen Bedingungen zur Annäherung an die Wahrheit.11 Dass diese psychologisch unbewussten Wege zur richterlichen Informationsverarbeitung im Strafprozess bestehen, stellt sich als die größte Herausforderung des kontinentaleuropäischen Amtsaufklärungsmodells dar und berechtigt die erkenntnistheoretischen Einwände gegen das tatgerichtliche Instruktionsermessen. Aus diesen Bedenken heraus aber die Abschaffung der Inquisitionsmaxime zu fordern vernachlässigt die Suche nach Lösungsalternativen bei der Verteilung der Prozessrollen.
9
Zu den Einzelheiten vgl. supra, Kapitel 2 A. I. Vgl. zum Beweisantragsrecht supra, Kapitel 2 B. II. 2. 11 Siehe jüngst Schünemann, Festschrift für Streng, S. 762 (IV 5 d); im Anschluss zuletzt Anders, ZStW 129 (2017), 92 f. Weitere Nachweise supra, Kapitel 2, Fn. 195. 10
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
2. Mitwirkung der anderen Verfahrensbeteiligten a) Allgemeines Die weiteren Verfahrensbeteiligten verfügen über Mitwirkungsrechte und Möglichkeiten zu prozessualen Eingriffen im Beweissystem, etwa durch Einwände, Kommentierungen oder Erklärungen zu Beweiserhebungen, Beweisanträgen und Befragungen. Das Motto lautet dabei Mitwirkung an, aber nicht Steuerung des Beweisverfahrens und dessen Umfang. b) Staatsanwaltschaft aa) Einrichtung als objektive Untersuchungsbehörde Die Ausgestaltung der Rolle der Staatsanwaltschaft im kontinentaleuropäischen System und auch im argentinischen Strafprozessrecht als objektive Ermittlungsbehörde und nicht als Partei ist in ihren Ursprüngen auf die Französische Revolution und ihre Etablierung als ministère public in der napoleonischen Code d’Instruction Criminelle (1808) zurückzuführen.12 Demgegenüber ist in einem adversatorischen System ihre Rolle als Partei dominant. Ihre Anfänge gehen aber nicht auf England zurück, weil dort die Polizei für die Sachverhaltserforschungen im Vorverfahren und der Verletzter in der Hauptverhandlung bereits früher entscheidend waren.13 Erst im Jahr 1985 wurde in England eine unabhängige Anklagebehörde, der Crown Prosecution Service, geschaffen.14 Beim gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess existierte ein solches Anklageorgan auch nicht, sondern die Rolle des Anklägers war in den richterlichen Aufgabenbereich miteinbezogen und eine zusätzliche Prozessfigur dafür war nicht vorgesehen. Ein wichtiger Aspekt zur Überwindung des alten Inquisitionssystems nach der französischen Revolution war die Etablierung eines vom Gericht unabhängigen Anklägers sowie die Einführung der öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung. In diesem Sinne war die Staatsanwaltschaft nicht nur für die Hauptverhandlung, sondern neben dem Untersuchungsrichter auch für die schriftliche Ermittlungsphase mit Verfolgungsaufgaben und den ersten Ermittlungsaufgaben mit der Polizei (enquête préliminaire) vorgesehen. Der Untersuchungsrichter, der juge d’instruction, von Balzac nicht zu Unrecht als l’homme le plus puissant de France bezeichnet,15 behielt aber seine entscheidende Rolle im Strafverfahren, die erst allmählich durch die Zunahme der Verteidigerrechte eingedämmt wurde. 12
Vgl. supra, Kapitel 1 B. I. 2. über die europäische Rechtsgeschichte. Darüber Langbein, The Origins, S. 313 ff.; ders., HeinOnline – 41 U. Chi. L. Rev. 439 1973 – 1974, S. 444. Für diese noch aktuelle Gestaltung vgl. Huber, in: Jescheck/Leibinger (Max Planck-Institut) (Hrsg.), AA.VV., Funktion und Tätigkeit der Anklagebehörde, S. 545 ff. 14 Vgl. dazu zum Beispiel Langbein, The Origins, S. 284 ff.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 13 Rn. 3. 15 Balzac, Splendeurs, S. 627. 13
A. Die Verteilung der Prozessrollen und das Beweisverfahren
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In Deutschland findet man die ersten Anzeichen für eine Anklagefigur beim Fiscalat, das immer wieder verdrängt wurde. Die wirkliche Etablierung der Staatsanwaltschaft fing nach französischem Vorbild mit der Rezeption der napoleonischen Gesetzgebung in Rheinland (1810) und mit dem reformierten Strafprozess in den deutschen Gebieten an.16 Aber die Entstehung dieser Figur, die später in der lateinamerikanischen Reform als begrenzende Instanz zur bestehenden Richtermacht äußerst bewundert wurde, ist in ihren Ursprüngen in Deutschland angeblich nicht von strafprozessualen Idealen zur Erreichung einer ausgewogenen Rollenverteilung getrieben. Aus einer näheren Untersuchung der Hintergründe zur Einrichtung der Staatsanwaltschaft folgt nämlich die Erkenntnis, dass das Vorhaben von König Friedrich Wilhelm IV eigentlich keine grundlegende, rechtsstaatlich-liberale Reform des Strafverfahrens verfolgte, als er neue Impulse an die Gesetzgebungsarbeiten gab.17 Die Einführung der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Verfahrens lag demnach nicht in seinem Fokus, sondern die Einrichtung einer Behörde als Instrument zur Regierungskontrolle der als politisch unzuverlässig betrachteten Rechtsprechung. Nach dieser Version wäre die Staatsanwaltschaft von der preußischen Regierung unabhängig von den revolutionären Ereignissen konzipiert worden. Die traditionelle Betrachtung der Staatsanwaltschaft als liberale Errungenschaft der französischen Revolution wird so relativiert. Als der Gesetzgebungsminister Savigny und der Justizverwaltungsminister Mühler mit den Gesetzesentwürfen beauftragt wurden, konzentrierten sich die Arbeiten also auf eine Staatanwaltschaft als Behörde zur Kontrolle und Korrektur der Rechtsprechung. Erst Friedberg als Assessor des späteren preußischen Justizministers hob den Aspekt der Gesetzeswächtertätigkeit hervor, demzufolge die Staatsanwaltschaft auch die entlastenden Umstände ermitteln und in Erwägung ziehen sollte. Abgesehen von den Einzelheiten des damaligen politischen Interesses an der Etablierung einer von der Regierung weisungsabhängigen Behörde, fand also zu diesem Zeitpunkt die Geburt der objektiven Stellung der Staatsanwaltschaft in Deutschland statt, die zugleich ein gewichtiges Kennzeichen des kontinentaleuropäischen Modells bildet. Nach der Promemoria vom 23. März 1846 soll sie „als Wächter des Gesetzes befugt sein, bei dem Verfahren gegen den Angeklagten von Anfang an dahin zu wirken, daß überall dem Gesetz ein Genüge geschehe“. Sie sei „eben so sehr zum Schutze des Angeklagten als zu einem Auftreten wider denselben verpflichtet“.18 Mit dem Gesetz vom 17. Juli 184619 wurde die so gestaltete Staatsanwaltschaft neben einem mündlichen und akkusatorischen Verfahren eingerichtet. Auf diese Basis baute die Struktur des reformierten preu-
16 Zur Einführung der Staatsanwaltschaft in Deutschland vgl. Keller, Staatsanwaltschaft in Deutschland; Elling, Einführung der Staatsanwaltschaft; Carsten/Rautenberg, Geschichte der Staatsanwaltschaft. 17 Collin, „Wächter der Gesetze“, S. 405; Roth, Kriminalitätsbekämpfung, S. 202 ff. 18 Savigny/Uhden, Promemoria über die Einführung der Staats-Anwaltschaft, S. 40 ff. Nach Collin, „Wächter der Gesetze“, S. 404, war eigentlich Friedberg der Verfasser dieser Ideen. 19 PrGS, S. 267 ff.
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
ßischen Verfahrens, das im § 6 des Gesetzes vom 3. Januar 184920 die Wächterfunktion der Staatsanwaltschaft folgendermaßen definierte: „Dem Staatsanwalte legt sein Amt die Pflicht auf, darüber zu wachen, dass bei dem Strafverfahren den gesetzlichen Vorschriften überall genügt werde. Er hat daher nicht bloß darauf zu achten, dass kein Schuldiger der Strafe entgehe, sondern auch darauf, dass niemand schuldlos verfolgt werde“. Weil dieses Gesetz die Grundlage für die Reichsjustizgesetze ist, wurde dieses Konzept der Staatsanwaltschaft auch in das noch heute geltende Strafverfahren übernommen. Wenn man von den Hintergründen einer für die staatliche Machtzunahme instrumentalisierten Entstehung absieht, dient der Anspruch auf eine von ihrer Struktur und Funktionen her objektiven Staatsanwaltschaft als ein wichtiges Kennzeichen des kontinentaleuropäischen Modells. Die Rolle eines „Wächters des Gesetzes“ und in Verknappung eines Zitats der „objektivsten Behörde der Welt“, womit man sich ironischerweise auf die strenge Weisungsabhängigkeit der damaligen Staatanwaltschaft bezog, ist allerdings in der heutigen Wirklichkeit des Strafprozesses nur mehr Wunschdenken.21 bb) Kennzeichnende Elemente Im internationalen Vergleich wird die andersartige Funktion der Staatsanwaltschaft als wichtiger Baustein für die unterschiedliche Ausbalancierung bei den Prozessmodellen akzentuiert. Gegenüber ihrem Pendant im adversatorischen System ist die Staatsanwaltschaft in der deutschen Hauptverhandlung nicht Partei22 und entwickelte sich nicht an Stelle bzw. als Vertreter des Verletzten, sondern mit Bedacht auf ihre Pflichten und Befugnisse.23 Aus der rechtsvergleichenden Perspektive 20
PrGS, S. 14 ff. Liszt, DJZ 1901, S. 180: „Ich gebe eines zu: die Parteistellung der Staatsanwaltschaft ist allerdings durch unsere Prozeßordnung besonders verdunkelt worden. Durch die Aufstellung des Legalitätsprinzips, durch die dem Staatsanwalt auferlegte Verpflichtung, in gleicher Weise Entlastungs- wie Belastungsmomente zu prüfen, durch das ihm eingeräumte Recht, Rechtsmittel zu Gunsten des Beschuldigten einzulegen, u. s. w. könnte ein bloßer Civiljurist zu der Annahme verleitet werden, als wäre die Staatsanwaltschaft nicht Partei, sondern die objektivste Behörde der Welt. Ein Blick in das Gesetz reicht aber aus, um diese Entgleisung als solche zu erkennen. Es genügt ein Hinweis auf § 147 GVG: ,Die Beamten der Staatsanwaltschaft sind verpflichtet, den dienstlichen Anweisungen ihrer Vorgesetzten nachzukommen.‘ Auf Anweisung hin hat der StA auf Verurteilung zu plädieren, auch wenn er von der Unschuld des Angeklagten überzeugt ist, und umgekehrt“. Anstatt einer Wächterrolle hat die Staatsanwaltschaft eine Herrenrolle, so jüngst Schünemann, Festschrift für Weßlau, S. 361. 22 Gegenüber dieser traditionellen Feststellung entnimmt eine aktuelle Meinung Art. 19 Abs. 4, dass das deutsche Strafverfahren als Parteiverfahren ausgestaltet werden soll, vgl. Haas, Strafbegriff, S. 298 ff., S. 365 ff. Zuletzt dazu Anders, ZStW 129 (2017), 103 f. mit einem berechtigten Hinweis (Fn. 127) auf Widersprüche bei der Ablehnung der absoluten Straftheorie von Haas, Strafbegriff, S. 260 ff., 415 f. 23 So aus der amerikanischen Sicht, vgl. Langbein, HeinOnline – 41 U. Chi. L. Rev. 439 1973 – 1974, S. 448. 21
A. Die Verteilung der Prozessrollen und das Beweisverfahren
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wird die rechtlich erwartete Objektivität und die Verpflichtung zur Ermittlung der der Entlastung dienenden Umstände (so in der deutschen StPO § 160 Abs. 2) hervorgehoben, was auch dem für die Staatsanwaltschaft verpflichtenden Grundsatz des fairen Verfahren zu entnehmen ist.24 Beim Systemvergleich steht auf der Waage, dass es anstatt des Anklagermessens25 grundsätzlich das Legalitätsprinzip gilt, demzufolge die Staatsanwaltschaft verpflichtet ist, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen (§ 152 Abs. 2 StPO). Außerdem besteht das Erfordernis der Anklageerhebung, d. h. die Eröffnung einer gerichtlichen Untersuchung ist durch die Erhebung einer Klage bedingt (Anklagegrundsatz, § 151 StPO) und der Staatsanwalt hat das Anklagemonopol (§ 152 Abs. 1). Das Bundestrafprozessgesetz Argentiniens richtet sich dem kontinentaleuropäischen System folgend auch nach diesen Prinzipien.26 cc) Bedeutung ihrer Verfahrensrolle Bei der Reformdebatte über die Abschaffung des alten Inquisitionsprozesses wurde sich sehr auf die Entstehung der Staatsanwaltschaft im kontinentalen System konzentriert. Im Vergleich zu den Nachbarländern Frankreich und Spanien wurde der deutschen Staatsanwaltschaft eine entscheidende prozessuale Rolle zugesprochen, als sie im Jahr 1974 mit der Abschaffung der Figur des Untersuchungsrichters die Herrschaft über das Ermittlungsverfahren erlangte und sich als die „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ etablierte. Rechtsvergleichend wird betont, dass ihr Aufgabenumfang und ihr Einflussbereich im Vergleich zu den weitergehenden, fast uneingeschränkten Befugnissen ihres Pendants im Parteiprozess27 reduziert wäre. Zumindest gälte das für die Hauptverhandlung: Da das deutsche Strafverfahren einen „Nichtparteiprozess“ darstellt,28 ist die Staatsanwaltschaft im Anschluss an ihre Ermittlungen grundsätzlich auf die Erhebung der Anklage bzw. auf ihr Anklagemonopol beschränkt; denn in der Hauptverhandlung wird das Beweisverfahren vom erkennenden Gericht gemäß dem Untersuchungsprinzip geführt. Zugleich müsste sie theoretisch ihrer Objektivitätspflicht gerecht werden und sowohl auf belastenden als auch auf entlastende Elemente hinweisen. Schließlich wird ihr Ermessen auch durch 24 Für das deutsche Recht: KK-Diemer, § 152 Rn. 6; KK-Griesbaum, § 160, Rn. 1 ff.; KKFischer, Einleitung Rn. 147 f., 203; Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, § 152, § 160 Rn. 14; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 1 f., § 9 Rn. 1, 10 f.; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 6, Rn. 10; LR/Mavany, § 152 Rn. 4; LR/Erb, § 160 Rn. 51; LR/Kühne, Einl. J Rn. 48 ff.; MüKoStPO/Kölbel, § 160 Rn. 78; SK-StPO-Wohlers/Deiters, § 160 Rn. 31; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 5 I 1, Rn. 132; BeckOK StPO/Sackreuther, § 160, Rn. 9, 13 ff.; auch Anders nach seiner besonderen Ansicht nimmt die Rolle der Staatsanwaltschaft als „Wächter des Gesetzes“ an, ZStW 129 (2017), 104. 25 Vgl. dazu infra, A. II. 2. b) dd) (3) (b). 26 Vgl. dazu supra, Kapitel 6 C. II. 4. b). 27 Langbein, HeinOnline – 41 U. Chi. L. Rev. 439 1973 – 1974, S. 440 spricht diesbezüglich von „omnipotence of the public prosecutor in American procedure“. 28 Bohnert, Die Abschlussentscheidung des Staatsanwalts, S. 418 mit Nachweisen.
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
das Legalitätsprinzip eingeschränkt, sodass ihre Prozessrolle grundsätzlich mehr Einschränkungen erfahren sollte als ihr Korrelat im adversatorischen Verfahren. In einem Parteisystem ist ein formeller Ausgleich der Verfahrensrollen zwar hergestellt, für die tatsächliche starke und kaum eingegrenzte Machtposition der Staatsanwaltschaft bzw. ihre materielle Überlegenheit sind derartige Vorbehalte im System jedoch nicht vorgesehen. Darüber hinaus hat auch das Gericht in der Hauptverhandlung hier keine der Balance zwischen dem Prozessbeteiligten dienende Verfahrensposition, die entsprechend der Amtsaufklärungspflicht jedoch geboten wäre. Somit sind die Parteien auf ihren eigenen Einfluss im adversatorischen Prozess beschränkt. Allerdings unterliegt die Staatsanwaltschaft in der Praxis des kontinentaleuropäischen Systems trotz Kautelen einigen Versuchungen. Zunächst einmal verfügt sie über eine technische und rechtliche Überlegenheit im Ermittlungsverfahren,29 während der Verteidigung gleichwertige prozessuale Chancen in dieser Phase des Verfahrens nicht zugänglich sind. Diese Unausgewogenheit überträgt sich anschließend auf die Einstellung des erkennenden Richters zu den Sachverhaltserforschungen in der Hauptverhandlung, da durch dessen Aktenvorkenntnis die staatsanwaltschaftliche Auffassung im Vorverfahren und die protokollierten Beweismittel nicht unerheblich ist. Die Überlegenheit der Staatsanwaltschaft erhöhte sich mit den Urteilsabsprachen, weil die Anklageerhebung unmittelbar in eine Verurteilung führt und die von ihr beherrschte Ermittlungsakte dabei als alleiniges Fundament dient.30 Zweitens ist die von der Staatsanwaltschaft verlangte Objektivität in der Praxis nicht vereinbar mit ihrer inneren Einstellung als Strafverfolgungsbehörde. Ihr wird dabei ein psychologisch schwer umsetzbares Verhalten abverlangt; deshalb wird diese Anforderung sicherlich nicht immer eingehalten.31 In diesem Zusammenhang wird der Staatsanwalt im Verfahren hauptsächlich die Belastungsmomente hervorheben und von der Verteidigung die Herausarbeitung der entlastenden Aspekte erwarten bzw. davon ausgehen, dass das Gericht im Rahmen seiner Aufklärungspflicht schon eine objektive Position einnehmen wird. Angesichts der tatsächlichen Neigung der Staatsanwaltschaft, allein den Schuldnachweis zu führen, zeigt sich eindrucksvoll die zwingende Erforderlichkeit einer starken Verteidigung, sowohl im Ermittlungs- als auch im Hauptverfahren. Zugleich ist die gesetzliche Objektivitätspflicht umso wichtiger für einen gerechten Ausgleich der Rollen im kontinentalen System. Diese Anforderung legt einen einschränkenden Rahmen in der Strafverfahrensstruktur fest, verlangt von der Staatsanwaltschaft Unvoreingenommenheit in ihrer Verfolgungs- und Anklagetätigkeit und unterscheidet sich dadurch von der Stellung als Partei. 29
Vgl. für alle Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 11, Rn. 1. Jüngst Schünemann, Festschrift für Weßlau, S. 358 ff. 31 Vgl. Bruns, Festschrift für Grützner, S. 47 ff.; Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, A I 3 Rn. 10; Volk, Die Wahrheit vor Gericht, S. 151 f. 30
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dd) Der Ministerio Público in Lateinamerika (1) Relevanz Die Figur des Ministerio Público hatte in den lateinamerikanischen Reformen der 90er Jahre bei der Modernisierung des Strafprozesses eine besondere Relevanz. Man kann dabei Parallelen zur Entstehung der französischen und der deutschen Staatsanwaltschaft als „Kind der Revolution“, „el hijo de la revolución“32, bei der Überwindung des alten Inquisitionsprozesses ziehen, auch wenn diese bereits vor fast zweihundert Jahren stattgefunden hatte. Die Schaffung einer vom Richter getrennten Anklagerolle in der öffentlichen, mündlichen Hauptverhandlung war sowohl in Europa als auch später in Lateinamerika das Hauptziel der Reformen. Allerdings kommt der Einführung des lateinamerikanischen Ministerio público in der Reformdebatte wohl eine noch größere Bedeutung zu als der Etablierung der kontinentaleuropäischen Staatsanwaltschaft. Zu Beginn der Reformen in Argentinien wurde besonders Wert darauf gelegt, dass hinsichtlich der Ermittlungsarbeit die Figur des Untersuchungsrichters durch den Ministerio Público ersetzt werden sollte. Aus heutiger Sicht kann man sich fragen, ob die Schaffung einer zusätzlichen Prozessfigur bzw. die Erweiterung ihrer bestehenden Befugnisse zu einer besseren Verteilung der Verfahrensrollen im lateinamerikanischen Strafprozess geführt haben. Dass ein anderes Organ als der Richter die Anklagefunktion übernimmt, ist heute eine Selbstverständlichkeit, weshalb die Anstrengungen zur Umsetzung dieses Ziel berechtigt waren. Die Frage stellt sich jedoch eher hinsichtlich der Ersetzung des Untersuchungsrichters durch die Staatsanwaltschaft. In Deutschland wird das enge Verhältnis zwischen dem Staatsanwalt und dem erkennenden Gericht unter dem Stichwort „Schulterschlusseffekt“ kritisch gesehen, da die Trennung von Aufgaben nicht unbedingt Gegenkontrollen zwischen den verschiedenen Organen gewährleistet.33 Nun muss man sich in die Zeiten der argentinischen Debatten zu Beginn der lateinamerikanischen Reformen hineinversetzen, deren größter Kritikpunkt das Bestehen einer überlegenen Richtermacht war und die die Einschränkung der richterlichen Aufgabenkompetenzen und nicht zuletzt auch die Ernennung neuer Staatsanwälte durchsetzen wollten.34 Verfahrenserledigenden Absprachen existierten nicht; dafür gab es endlose Strafprozesse mit einer Dauer von bis zu zehn Jahren und sogar mehr,35 die das Ergebnis einer immensen Ausdehnung des Strengbeweisverfahrens waren. In dieser tatsächlichen Lage sollte der Ministerio Público als Kontrollinstanz eine Dämpfung dieser Konflikte ermöglichen.
32 Nach dem Titel des Werkes von Günther, Staatsanwaltschaft – Kind der Revolution, 1973. Für Lateinamerika vgl. Binder, Funciones y disfunciones, S. 67 ff. 33 Nachweise supra, Kapitel 2, Fn. 195. 34 Vgl. supra, Kapitel 6 C. II. 4. b) dd) (1) mit Fn. 130. 35 Vgl. darüber Pastor, El plazo razonable, S. 241 ff., 255, 260, 265, 272, 291, 298, 305, 314.
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
(2) Ursprung Ursprünglich wurde die Prozessrolle der Staatsanwaltschaft aus dem kontinentaleuropäischen Rechtsraum übernommen.36 Ausgangspunkt war die napoleonische Gesetzgebung nach der französischen Revolution; auch die italienischen Strafprozessordnungen von 1913 und 1930 dienten als unmittelbare Grundlage. Vorreiter für die Gesamtreform des Strafverfahrens in Lateinamerika war der Código Procesal Penal von der argentinischen Provinz Córdoba von 1939, der auf den genannten Quellen beruhte und unter anderem die Übertragung der Ermittlungsaufgaben auf den Untersuchungsrichter, also auf eine andere Figur als den erkennenden und urteilenden Richter, als Neuerung mit sich brachte. Damit wurden zunächst auf diese Weise die Funktionen getrennt (Art. 179 ff., 203 ff., 206 Abs. 1, 382 ff.37). Der Ministerio Público hatte die Anklagefunktion (Art. 402, 429). In besonderen Fällen, d. h. bei einfachen Delikten (correccionales) und bei einfachen Ermittlungen (die sog. instrucción sumaria), leitete er sogar selbst das Ermittlungsverfahren (Art. 197, 311 ff., 203). Für die Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung war gemäß dem Untersuchungsgrundsatz das Gericht zuständig. In ihren Anfängen besaß die neu etablierte Figur des Ministerio Público also keine führende Rolle im Ermittlungs- und Hauptverfahren. Die Bedeutung des ursprünglichen Ministerio Público lag genauso wie in Europa lediglich in seiner Funktion als Anklageorgan. Im Übrigen stellte das kontinental-europäische Vorbild die Figur der Staatsanwaltschaft in den Hintergrund, nachdem das Ermittlungsverfahren vom Untersuchungsrichter bis zu dessen Abschaffung im Jahr 1974 geleitet wurde und die Hauptverhandlung bis heute vom erkennenden Richter nach dem Amtsaufklärungsprinzip geführt wird. Im Strafprozessgesetz von der Provinz Córdoba in den argentinischen Gebieten hatte der Ministerio Público also nur eine untergeordnete Rolle. Nach dem Ende der Militärdiktatur in Argentinien im Jahr 1983 wurde das noch bestehende Bundesstrafprozessgesetz von 1889 abgeschafft und eine Modernisierung des Strafprozesses mit der Einführung einer mündlichen, unmittelbaren und öffentlichen Hauptverhandlung und der Trennung zwischen Ermittlungsorgan (Ministerio Público oder Untersuchungsrichter) und erkennendem Richter vorangetrieben.38 Für das Verfassen eines neuen Bundesstrafprozessgesetzes (CPP Nación) wurden die sog. Entwürfe Levene (1975) und Maier (1986) herangezogen. Auf der Grundlage der deutschen StPO führte der Proyecto Maier ein Ministerio Público als Herrn des Ermittlungsverfahrens ein (Art. 68, 229, 250 des Entwurfs). Dieses Organ sollte das Objektivitätsprinzip beachten und auch die für den Beschuldigten entlastenden Umstände 36 Vgl. darüber Maier, Derecho Procesal Penal II, § 11 A 1 IV, S. 306, Fn. 37, § 11 A 3 a I, S. 365. 37 Código de Procedimiento Penal de la Provincia de Córdoba. Näher supra, Kapitel 6 C. II. 1. 38 Vgl. Einzelheiten, auch der Entwürfe, supra, Kapitel 6 über die Strafprozessgeschichte Lateinamerikas.
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berücksichtigen (Art. 69, 232 Abs. 2), dem Gedanken des § 160 Abs. 2 StPO entsprechend. Auch beim Ausbau der Prüfungskompetenz des Ermittlungsrichters bei bestimmten Untersuchungshandlungen folgte der Entwurf den Grundsätzen des deutschen Strafprozessrechts.39 Die Idee eines Ministerio Público als Herr des Ermittlungsverfahrens stieß auf Ebene der Bundesrichter auf viel Kritik. Daher wurde das Proyecto Levene, das einen herrschenden Untersuchungsrichter im Ermittlungsprozess vorsah, im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens im Jahr 1991 angenommen. Das Proyecto Maier kam in seinem Entstehungsland also nicht zum Einsatz, diente allerdings als Basis für die Reformen in den Provinzen und für den CPP Modelo para Iberoamérica, auf dem wiederum die ersten lateinamerikanischen Reformen beruhten. Trotz der ursprünglich zurückhaltenden Ausgestaltung des Ministerio Público in Lateinamerika stand diese Figur sowie ihre Befugnisse und Aufgaben im Vordergrund der strafprozessualen Reformdiskussionen.40 Mit der Abschaffung der richterlichen Voruntersuchung erhielt er mit den Impulsen vom Entwurf Maier und entsprechend den kontinentaleuropäischen Vorbildern eine führende Rolle im Ermittlungsverfahren. Diese Entwicklungen änderten sich jedoch grundlegend, als eine neue Reformströmung nach Lateinamerika vordrang und das Verfahren vordergründig adversatorisch ausgestaltet wurde. Damit erlangte auch der Ministerio Público die starke Position einer Prozesspartei.41 In Argentinien als Entstehungsort der gesamten lateinamerikanischen Reformen blieb man hinsichtlich des Bundesstrafprozesses dagegen den kontinentaleuropäischen Maßstäben treu. (3) Legalitätsprinzip und Objektivitätspflicht (a) In Lateinamerika gelten das principio de legalidad procesal (Legalitätsprinzip) und der Anklagegrundsatz. Die Staatsanwaltschaft ist demnach verpflichtet, bei einem Tatverdacht Ermittlungen vorzunehmen und ggf. Anklage zu erheben.42 Die Bezeichnung ist allerdings unglücklich gewählt. Denn sie weist schon nicht auf die Beachtung der Gesetze hin.43 Darüber hinaus wird der Ausdruck principio de legalidad zugleich für das Gesetzlichkeitsprinzip in der spanischen Sprache verwendet. Bereits das argentinische Bundesstrafprozessgesetz von 1889 ging von einer staatlichen Pflicht zur Strafverfolgung und Anklage aus (Art. 14: „acciones“); damit 39
Vgl. Maier, Introducción al Proyecto, S. 645. Vgl. z. B. Schriften wie Maier, in: Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 106 ff. m. w. N. über die ursprüngliche Debatte in Argentinien; ferner zur Diskussion über seine Rolle als Herr des Ermittlungsverfahrens supra, Kapitel 6, Fn. 73 und über die Rechtsstellung infra, dieses Kapitel, Fn. 57. 41 Vgl. infra, III. 3. b) und Kapitel 7 B. 42 Bereits in Argentinien: Vélez Mariconde, Derecho procesal penal II, S. 180 ff.; im Anschluss Maier, Derecho Procesal Penal I, § 8 C 2, S. 828 ff., Band II, § 11 A 2 b, S. 321 ff.; für Costa Rica vgl. González, La obligatoriedad de la acción en el proceso penal costarricense. 43 Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 6 Rn. 8. 40
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war das Legalitätsprinzip uneingeschränkt gesetzlich verankert. Im Jahr 1921 wurde dieses Gebot in den Art. 71 des argentinischen Strafgesetzes44 aufgenommen und gilt bis heute im materiellen Recht einheitlich für den gesamten Bund.45 Zugleich macht sich der Staatsanwalt einer Amtspflichtverletzung strafbar, wenn er von einer gebotenen Strafverfolgung absieht (Art. 274 Código Penal). Auch der CPP Córdoba und der Proyecto Maier46 richteten sich nach diesem Grundsatz. Der Código Levene als bis heute geltendes Bundesstrafprozessgesetz enthält in Art. 5 ebenfalls die Verpflichtung zu Erhebung der Strafklage von Amts wegen.47 Ferner sieht auch das Gesetz zur Organisation der Staatsanwaltschaft von 1998 in Art. 29 eine Anklagepflicht bezüglich aller Delikte vor, von denen die Staatsanwaltschaft Kenntnis erlangt hat. (b) Der Einfluss von Kontinentaleuropa auf die Reform in Lateinamerika brachte darüber hinaus die Durchbrechungen vom Legalitätsprinzip durch Opportunitätskriterien, die vor allem in den 90er Jahren Gegenstand intensiver Diskussionen wurden, als die letzten Entwicklungen für die Reform des alten inquisitorischen Verfahrens stattfanden. Heute wird auf die prozessualen Opportunitätsregeln (reglas de disponibilidad de la acción penal) in Art. 71 des Strafgesetzbuches im Juni 2015 verwiesen. Nach dem Muster der deutschen StPO wurden die Opportunitätsbestimmungen in den Código Procesal Penal Modelo para Iberoamérica (1988) eingeführt. Anschließend verbreiteten sich diese neuen Strukturen entsprechend im restlichen Lateinamerika. Trotz der amerikanischen Einflüsse wurde ein umfangreiches Anklageermessen der Staatsanwaltschaft48 bzw. eine schrankenlose Verfolgungs- und Anklagefreiheit, die in der spanischen Sprache als „oportunidad libre“ bezeichnet wird, nicht übernommen. Die Entscheidung fiel zugunsten einer „oportunidad reglada“, also einer geregelten Einschränkung der Verfolgungs- und Anklagepflicht, wie es im kontinentaleuropäischen Recht vorgesehen ist.49 Die sog. Krise des Legalitätsprinzips50 hält sich also auch in Lateinamerika noch Grenzen. 44
Art. 71: „Sin perjuicio de las reglas de disponibilidad de la acción penal previstas en la legislación procesal, deberán iniciarse de oficio todas las acciones penales …“. Zum Legalitätsprinzip vgl. Maier, Derecho Procesal Penal I, § 8 C 2, S. 828 ff.; Clariá Olmedo, Derecho Procesal Penal I, S. 467 ff. 45 Die Gesetzgebungskompetenz für das materielle Strafrecht liegt beim Bund. Stattdessen wird das Strafprozessrecht von den Provinzen ausgestaltet (Art. 67 Nr. 11, 104 Constitución Nacional argentina). 46 Vgl. supra, Kapitel 6 C. II. 4. a) cc) (2) (a) und (c). 47 Art. 5 des CPPN: „La acción penal pública se ejercerá por el Ministerio fiscal, el que deberá iniciarla de oficio siempre que no dependa de instancia privada. Su ejercicio no podrá suspenderse, interrumpirse ni hacerse cesar, excepto en los casos expresamente previstos por la ley“. Vgl. für die Provinzen Maier, Derecho Procesal Penal I, § 8 C 2 II, S. 830. 48 Vgl. dazu LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, § 13.2 (a), (d) ff.; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 87 ff., 99 ff., 480 f.; Maier, Derecho Procesal Penal I, § 8 C 3, S. 836. 49 Vgl. §§ 153 bis 154e, 376 deutscher StPO; § 45 JGG, dazu KK-Fischer, Einleitung, Rn. 10 f.; LR/Kühne, Einl. I Rn. 19 ff., insbes. 20. 50 So von Rieß, NStZ 1981, 2, mit Bezug auf einen Beitrag von Weigend.
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Die Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft war ebenfalls im Bundesstrafprozessgesetz von 1889 fixiert (Art. 118). Nun ist im Gesetz ausdrücklich nur die Möglichkeit vorgesehen, dass der Ministerio Público ein Rechtsmittel zugunsten des Angeklagten einlegt (Art. 433 CPP Nación,51 entsprechend zu § 296 Abs. 2 StPO). Im Übrigen bestehen in der argentinischen Literatur Einwände gegen die Anforderung an den Ministerio Público, auch für die den Beschuldigten entlastende Prozesselemente zu sorgen.52 Jedenfalls sind die entscheidenden Pflichten der Staatsanwaltschaft gemäß dem kontinentaleuropäischen Muster festgelegt und wurden auch in den späteren argentinischen Regelungen aufrechterhalten. Das Strafprozesssystem behält seine traditionelle Form; im Übrigen wird die Änderung der Stellung der Staatsanwaltschaft hin zu einer Partei ausdrücklich und vorwiegend abgelehnt.53 (4) Rechtsstellung und Weisungsgebundenheit (a) Modelle Gegenstand intensiver akademischer Diskussionen in Lateinamerika und auch in der Literatur ist ferner die Rolle, die eine Staatsanwaltschaft in dieser Verfahrensgestaltung übernehmen sollte. Ein wichtiger Aspekt bei der Schaffung dieser neuen Prozessfigur war die Rechtsstellung des Ministerio Público im Verhältnis zu den anderen Gewalten und die innere Weisungsunabhängigkeit. Man könnte sogar behaupten, dass dieses Thema einen Schwerpunkt der lateinamerikanischen Strafprozessreform bildet. Bei der Zuordnung der Staatsanwaltschaft zu einer der drei Gewalten bzw. bei Festlegung ihrer Unabhängigkeit sind sowohl Fragestellungen der Ernennung, Beförderung, Versetzung und Entlassung der Staatsanwälte sowie der Aufsicht über sie als auch eine etwaige externe und interne Weisungsgebundenheit – beispielsweise gegenüber dem Justizminister (extern) – zu beleuchten. Im internationalen Vergleich sind verschiedene Modelle für die Rechtsstellung zu beobachten. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist eine starke Zugehörigkeit zur Exekutive zu erkennen, wie es auch bei anderen kontinentaleuropäischen Modellen zum Beispiel in Deutschland und Frankreich der Fall ist und bis zur aktuellsten Reform in Mexiko der Fall war. Demgegenüber ist die Staatsanwaltschaft beispielsweise in 51
Für die Provinzen vgl. Maier, Derecho Procesal Penal II, § 11 A 2 b, Fn. 79, S. 324. Vgl. gegen die Objektivitätspflicht das Gutachten des Oberstaatsanwalts der Cámara Nacional de Casación Penal Gustavo A. Bruzzone im Fall Vicco, Juan y otro s/contrabando (causa Nr. 5, Tribunal Oral en lo Penal Económico Nr. 3), Sala I, Prozess Nr. 74/94, Reg. Nr. 117; dazu Blanco, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 10-B, 2000, S. 147 ff. Ferner wird dem System ein gewisser „Paternalismus“ vorgeworfen, vgl. Bovino, Ingeniería de la verdad, in: Problemas, S. 13 ff. 53 Vgl. Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal I, Kap. III 6, S. 250 ff.; Núñez, CPP Córdoba anotado, art. 4, Nr. 4, S. 16; Clariá Olmedo, Derecho Procesal Penal II, Nr. 531, S. 290 f. Später war Maier, der traditionellen argentinischen und deutschen strafprozessualen Einstellung folgend, gegen der Einführung eines Parteiprozesses, in: Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 107, Fn. 55; ders., Derecho Procesal Penal II, § 11 A 2. b II, S. 323. 52
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Italien, Costa Rica, Kolumbien, Paraguay und in den argentinischen Provinzen der Judikative zugeordnet. Eine unabhängig organisierte Staatsanwaltschaft ohne Zuordnung zu einer der Gewalten besteht im überwiegenden Teil der lateinamerikanischen Länder sowie auf internationaler Ebene auch in Osteuropa. Dabei kommt es vor, dass sie sogar als autonomes Organ verfassungsrechtlich etabliert ist. In Deutschland ist die Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft nicht so strikt festgelegt wie in anderen Ländern; ihre Rolle ist eher ambivalent. Bestimmt hatten einige Aspekte dieser Zwitterstellung einen Einfluss auf die im Zuge der lateinamerikanischen Reformen angestrengten Überlegungen zur Organisation des Ministerio Público, eine spiegelbildliche Übernahme des deutschen Systems ist in der Reform jedoch nicht zu erkennen. Einerseits ist die Staatsanwaltschaft in Deutschland der Judikative durch die Verpflichtung zu Wahrheit und Gesetz ganz nahe, gegen eine Einordnung als Organ der Rechtsprechung spricht andererseits aber die externe Weisungsgebundenheit. Dass sie gerade nicht Bestandteil der rechtsprechenden Gewalt ist, kommt auch darin zum Ausdruck, dass der Judikative ausweislich Art. 92 GG ausschließlich Richter zugeordnet sind und die Staatsanwaltschaft nicht erwähnt wird. Auch den §§ 150 f. GVG lässt sich entnehmen, dass die Staatsanwaltschaft nicht der Judikative angehört.54 Das BVerfG und die herrschende Meinung sehen die Staatsanwaltschaft trotz ihrer Eingliederung in die Justiz als Organ der Exekutive.55 Aufgrund ihrer weitreichenden Rechte und Pflichten kann die Staatsanwaltschaft auch beiden Gewalten zugeordnet werden. In der Regel arbeitet die Staatsanwaltschaft selbständig an den Fällen und richtet sich dabei im Sinne einer einheitlichen Strafverfolgung nach den allgemeinen ministeriellen Richtlinien für die diesen unterworfenen Staatsanwälte. Das Justizministerium und die Landesjustizministerien verfügen daneben über ein externes Weisungsrecht gegenüber der Staatsanwaltschaft (§§ 147 Nr. 1 und 2 GVG, als „Erlass“ oder „Auftrag“ bezeichnet), wovon in Deutschland jedoch kaum Gebrauch gemacht wird und was gegebenenfalls von Parlament und Öffentlichkeit genau verfolgt wird. Diese externe Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft ist auch nicht kritiklos.56 Die interne Weisungsgebundenheit bedeutet demgegenüber, dass die Staatsanwälte sich den Anordnungen des obersten Staatsanwalts beugen müssen (§§ 147 Nr. 3, 146, 152 Abs. 1 GVG). (b) Die intensive Debatte in Lateinamerika Schon sehr früh rückten die Thematik der Rechtsstellung des Ministerio Público und die Frage einer externen Weisungsgebundenheit in den Fokus der Reformdis54 Für eine Übersicht vgl. nur LR/Kühne, Einl. J Rn. 55 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, Vor § 141 GVG Rn. 4 ff.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 9 Rn. 10, jeweils mit weiteren Nachweisen. 55 BVerfG, Urteil v. 20. 02. 2001 – 2 BvR 1444/00 Rn. 41. 56 Zur Debatte darüber vgl. Paeffgen, Gedächtnisschrift für Schlüchter, S. 563 ff.; Krebs, Die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft, S. 115 ff.; Rautenberg, GA 2006, 356 ff. Diese Diskussion ist aber überbewertet, so Schünemann, Festschrift für Weßlau, S. 361.
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kussionen Lateinamerikas. Vor allem auch die Unvoreingenommenheit der Staatsanwaltschaft bzw. der Ausschluss politischer Einflussnahme auf deren Entscheidungen und damit die Definition der Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft hatte eine exponierte Stellung in den Debatten sowohl in der Lehre57 als auch auf Seiten der Legislative. Dabei wurde auch verstärkt die Ermöglichung einer externen Weisungsunabhängigkeit der Staatsanwaltschaft diskutiert, welche die erwünschte Neutralität und den Schutz vor politischer Einflussnahme – insbesondere vor Einwirkungen der Exekutive – gewährleisten sollte. Außerdem bedeutsamer Gegenstand der Diskussionen waren Regelungen zur Unterbindung eines Missbrauchs der Strafverfolgung gegenüber politischer Feinde sowie zur Vermeidung der Straflosigkeit von Korruption (auch in den eigenen Reihen der Exekutive).58 Als Möglichkeiten wurden eine Zugehörigkeit der Staatsanwaltschaft zur Exekutive mit einer gewissen technischen Autonomie, eine Zuordnung zur Judikative oder aber eine absolute Unabhängigkeit bzw. die Stellung als autonomes verfassungsrechtliches Organ besprochen. Diese letzte Variante setzte sich in den meisten Ländern durch.59 In Argentinien wurden diese Fragestellungen allerdings bereits in der Zeit vor dem Bundesstrafprozessgesetz von 1889 – also lange vor dem reformierten Verfahren – anlässlich unerfreulicher Geschehnisse im Zusammenhang mit dieser Prozessfigur aufgearbeitet. Es kam nämlich schon damals nicht selten zu Fällen politischer Einflussnahme durch die Regierungen auf die Amtsausübung der einzelnen Fiscale (Staatsanwälte).60 Dennoch war bezüglich der Rechtsstellung der 57
Vgl. Roxin, in: El Ministerio Público para una nueva justicia penal, S. 40 ff.; Bustos, in: El Ministerio Público para una nueva justicia penal, S. 173 ff.; Iglesias, in: Transition to democracy in Latin America, S. 269 ff.; Rusconi, Reforma procesal y la llamada ubicación institucional del ministerio público, S. 61 ff.; Guariglia, Facultades discrecionales del ministerio público, S. 83 ff.; Heymann, in: 26 U. Miami Inter-Am. L. Rev. 535 (1995); Bovino, El Ministerio Público en el proceso de la reforma, in: Problemas, S. 29 ff.; ders., Ingeniería de la verdad, in: Problemas, S. 218; ders., Ministerio Público y Poder Ejecutivo, in: Justicia penal y derechos humanos 2004; ferner ders., La persecución penal pública en el derecho anglosajón; Montes, Algunas consideraciones sobre la reforma constitucional, S. 135 ff. neben vielen anderen. Auch die Impulsgeber der Reform in Chile erörterten das Thema mit Betonung der Erforderlichkeit einer internen hierarchischen Struktur des Ministerio Público, vgl. Riego, in: Revista Sistemas judiciales Nr. 3, Buenos Aires, 2002, S. 54 f.; Duce, El Ministerio Público en la reforma, S. 74 f. 58 Vgl. z. B. Duce, ¿Qué significa un Ministerio Público autónomo?, S. 9. 59 Diese Unabhängigkeit von den drei staatlichen Gewalten besteht in Argentinien, Bolivien, Chile, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Honduras, Peru und Venezuela. Vgl. Duce, ¿Qué significa un Ministerio Público autónomo? In Kolumbien und Paraguay gehört der Ministerio Público der Judikative an, hat jedoch einen Status von funktionaler Autonomie (vor allem was die Finanzen und die Anordnungsbefugnis betrifft). Neben Uruguay wird auch bei all diesen Ländern die Staatsanwaltschaft als autonom eingeordnet, während die Staatsanwaltschaft in Mexiko bis zur heutigen Reform noch von der Exekutive abhängig war, vgl. Carpizo, El Ministerio Fiscal como órgano constitucional autónomo, S. 54. 60 Vgl Kühn, Die Entwicklung des Ministerio Público Fiscal, S. 115 mit weiteren Nachweisen.
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
Staatsanwaltschaft in der Bundesverfassung Argentiniens (Constitución Nacional argentina) keine Vorgabe enthalten. Entsprechend inkonsequent wurden die Amtsträger des Ministerio Público in den einzelnen Provinzen und auch im Bund in hohen Positionen als Gerichtsmitglieder angesehen, wohingegen die unteren Fiskale den Anweisungen der Exekutive unterworfen waren.61 Die Exekutive machte so nicht nur von allgemeinen Weisungen an die Procuradores Fiscales und Agentes Fiscales Gebrauch, sondern auch oft in den anderen bereits beschriebenen missbräuchlichen Fällen. Die damit einhergehende politische Beeinflussung der richterlichen Entscheidungen durch die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft wurde von der Literatur nicht kritiklos hingenommen, sondern wurde im Laufe der Jahre Gegenstand sehr intensiver Auseinandersetzungen und kristallisierte sich folgerichtig als ein Hauptaspekt der Reformen. Obwohl sich im Schrifttum auch einige Meinungen teilweise auf das angloamerikanische System zur Rechtfertigung der Weisungen der Exekutive gegenüber der Staatsanwaltschaft stützten, wurde nach ganz überwiegender Auffassung die Objektivität der Strafverfolgung gefordert, die frei von politischen Einflüssen sein müsse.62 Nach der Demokratiewende erstreckte sich diese Kritik auch auf die breiten ministeriellen Weisungsbefugnisse gegenüber den Fiskales und deren Missbrauch sogar durch Personen aus dem Regierungskreis.63 Die Idee einer unabhängigen Staatsanwaltschaft geht auf den Begründer des modernen reformierten Strafprozesses und Professor an der Universität der Provinz Córdoba, Vélez Mariconde, zurück, der sich vom französischen Modell einer zur Exekutive zugeordneten Staatsanwaltschaft entfernte und sie dem italienischen Modell folgend als der Judikative zugehörig ansah.64 Nach dieser Maxime wurde die Staatsanwaltschaft in Córdoba und auch in den meisten argentinischen Provinzen definiert und installiert.65 Die Staatsanwälte sind dort Justizbeamte und auch wie die Richter der Objektivität verpflichtet. Damit sollte eine Weisungsabhängigkeit zur Exekutive ausgeschlossen werden. In Lateinamerika übernahm auch Costa Rica diese Form der Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft. Das Konzept eines unter denselben Maximen wie bei der Judikative gestalteten Ministerio Público zielte
61
Vgl. Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal I, S. 244. Auf jeden Fall unter anderen: Maier, in: Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 106 ff. 63 Vgl. zum Beispiel Sancinetti/Ferrante, El derecho penal en la protección de los derechos humanos, S. 294 ff. 64 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal I, S. 244 ff., 258 ff.; auch Clariá Olmedo, Tratado de Derecho Procesal Penal II, S. 285 ff.; Ayarragaray, El ministerio público. 65 Eine Auflistung der Provinzen mit den entsprechenden Vorschriften findet sich in Maier, Derecho Procesal Penal II, § 11 A 2 a III, S. 316. Zum Vergleich zwischen der Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft in Argentinien und in Deutschland in den 70er Jahren vgl. Maier, in: Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 130. 62
A. Die Verteilung der Prozessrollen und das Beweisverfahren
253
damals eigentlich auf die Ermittlung des tatsächlichen Sachverhalts und damit auf das Ziel der Erforschung der materiellen Wahrheit ab.66 Für eine umfassende Regelung mit Einschränkungen und Kautelen für die Weisungsbefugnisse sorgte das Proyecto Maier mit dem Vorentwurf eines Gesetzes zur Organisation der Strafjustiz und des Ministerio Público. Weisungen des Justizministeriums an die unteren Amtsträger des Ministerio Público waren danach nicht zugelassen (Art. 119 Abs. 1). Die an den Procurador General gerichteten allgemeinen oder auch konkreten fallbezogenen Weisungen könnten von diesem mit Begründung abgelehnt werden (Art. 119 Abs. 2) und falls die Exekutive dennoch auf ihrer Weisung beharren wollte, müsste sie die Zustimmung der Legislative einholen. Erst dann wäre in einem solchen Fall die Weisung ggf. für den Procurador General bindend (Art. 119 Abs. 3). Auch für die Ernennung und Entlassung der Staatsanwälte wurde ein äußerst differenziertes System zur Vermeidung des Missbrauchs etwaiger Befugnisse durch die Exekutive geschaffen. Anders als traditionell in der argentinischen Lehre vorgesehen, ordnete der Vorentwurf Maiers die Staatsanwaltschaft nicht weiter der Judikative zu, sondern hob ihre Selbständigkeit hervor und konzentrierte sich auf die detaillierte Regelung der Beziehungen des Ministerio Público zu den anderen Staatsgewalten.67 Die Organisation der Bundesstrafjustiz bis zur Verfassungsreform von 1994 und der daran anschließenden späteren Gesetzgebung war alles andere als umfassend durch die alten Bundesgesetze Nr. 27 aus dem Jahre 1862 und Nr. 4055 aus dem Jahre 1902 geregelt. Bei den diesbezüglichen Verhandlungen wurde eine Zugehörigkeit der Staatsanwaltschaft wie in den Provinzen zur Judikative vorgeschlagen. Schließlich wurde die Figur des Ministerio Público zwar in Art. 120 des Grundgesetzes eingefügt, dabei aber nicht in der Judikative integriert, sondern als unabhängiges Organ der Rechtspflege mit funktioneller Autonomie und finanzieller Selbständigkeit, in Koordination mit den anderen Staatsgewalten, neu definiert. Eine Regelung der Staatsanwaltschaft in der argentinischen Verfassung wäre daneben nicht erforderlich gewesen68 und mit Blick auf die Schwerpunktsetzung der Reformen im Strafprozess hinsichtlich dieses Organs erscheint es als eine übertriebene Maßnahme. Die Autonomie wurde jedenfalls in der Ley Orgánica del Ministerio Público Gesetz 24.946 vom 11. März 1998 in Art. 1 festgelegt. Mittlerweile regelt die neue Ley Orgánica Gesetz 27.148 vom 10. 6. 2015 ganz ausführlich in den Art. 4 ff. die Gewähr der Autonomie des Ministerio Público und damit das Verhältnis zu und den Umgang mit den anderen Staatsgewalten. Problematisch ist allerdings 66
Vgl. Maier, Derecho Procesal Penal II, § 11 A 2 b II, S. 319. Vorentwurf eines Gesetzes zur Organisation der Strafjustiz und des Ministerio Público: Anteproyecto de Ley Orgánica, Doctrina Penal/Cuadernos, Año 11, Nr. 41 bis 44, 1988, S. 342; vgl. dazu auch Maier, Derecho Procesal Penal II, § 11 A 2 b IV am Ende, vgl. auch VI für die Ansicht Maiers zur Beziehung zu den anderen Staatsgewalten. 68 Auch so Maier, der über „Ratlosigkeit“ spricht Derecho Procesal Penal II, § 11 A 2 b, S. 356. 67
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
noch, dass der Procurador General de la Nación auf Lebenszeit bestellt wird (Art. 62). Was die interne Weisungsbefugnis betrifft, besteht in Argentinien, wie in Deutschland auch, eine innere Weisungsabhängigkeit. Auch dieser Aspekt ist durch das Ley Orgánica del Ministerio Público Fiscal Gesetz 24.946 vom 11. 3. 1998 geregelt und nun im neuen Gesetz 27.148 vom 10. 6. 2015 ebenfalls ausführlicher festgelegt. Denn das Ministerio Público soll seine Aufgaben einheitlich ausüben und besitzt dazu eine hierarchische Struktur. Das System richtet sich nun darauf, eine Aufsicht der Amtsführung untergeordneter Amtsträger mittels Übernahme der Verantwortung für deren Tätigkeiten durch die Vorgesetzten zu etablieren. Untergeordnete Amtsträger sollen entsprechend nach den Anweisungen ihrer Vorgesetzten handeln (Art. 9 Satz a). Ob die Amtsausübung in der Praxis ausreichend einheitlich und hierarchisch strukturiert ist und auch, ob die einzelnen fiscales überhaupt mit genügend Beurteilungsspielraum ausgestattet sind, wird allerdings weiterhin rege diskutiert.69 Mit der hierarchischen Struktur etablierte man in Argentinien eine Staatsanwaltschaft, die sich vom amerikanischen Modell mit dezentralisierter Struktur völlig entfernte. Für die neue Organisation des Ministerio Público wäre die amerikanische Tradition des local government nicht passend gewesen. Diese stammt noch aus der Kolonialzeit der Vereinigten Staaten von Amerika und gesteht der Staatanwaltschaft seit jeher zumindest auf der lokalen Ebene Weisungsfreiheit zu. Auch wenn sich heutzutage zwar ebenfalls eine Tendenz zur bundesweiten Vereinheitlichung der Strafverfolgung in den USA verzeichnen lässt, förderten die althergekommenen Strukturen das in der amerikanischen Tradition verankerte Anklageermessen der Staatsanwaltschaft.70 Dies passt aber nicht zum argentinischen, vom Legalitätsprinzip beherrschten Strafprozessrecht. (c) Verteidigung Die Relevanz des Verteidigers und die ihm zu gewährenden Rechte erfordern eine besondere Erörterung bei der kontinentaleuropäischen Verfahrensstruktur, nachdem die Kontrollstellen im richterzentrierten System auf verschiedene Akteure verteilt sind. Es ist nämlich theoretisch auf einer unparteiischen Verfahrensherrschaft des Gerichts, auf der Objektivität der Staatsanwaltschaft und auf ihrer Verpflichtung zu Wahrheit und Gerechtigkeit aufgebaut.71 Wenn man diese Kautelen der Verteilung der Prozessrollen im adversatorischen Strafprozess gegenüberstellt, erkennt man eine unterschiedliche Akzentuierung der Verteidigerposition in beiden Systemen. Die Beweiserhebungen bzw. die Aktivität der Verteidigung sind beim adversatori69
Vgl. dazu Kühn, Die Entwicklung des Ministerio Público Fiscal, S. 217 f. Vgl. dazu supra, Kapitel 6 C. II. 4. a) cc) (2), dazu LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, § 13.2 g; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 88 mit Nachweisen; Brodowski, ZStW 124 (2012), 741 ff. mit Nachweisen. 71 Vgl. dazu supra, A. II. 2. b) dd). 70
A. Die Verteilung der Prozessrollen und das Beweisverfahren
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schen Modell systemimmanent und als Ausfluss der Verfahrensfairness unentbehrlich. Das Gericht ist dabei nicht für die Ermittlung der Wahrheit zuständig, sondern die prozessualen Erkenntnisse entstehen aus dem parteiisch beschaffenen und präsentierten Beweismaterial. Ferner ist eine gewisse Objektivität der Staatsanwaltschaft im adversatorischen System nicht mal theoretisch vorgesehen, so wie demgegenüber § 160 Abs. 2 der deutschen StPO vorsieht, dass sie auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln hat. Wenn auch die Übermacht der Untersuchungsbehörden nicht zu verleugnen ist, besteht immerhin eine explizite Regelung im deutschen Strafverfahren, die dem Ausgleich dienen soll. Weil das adversatorische System demgegenüber parteizentriert ist, erhält die Verteidigerfigur eine strukturinhärente Bedeutung als Gegengewicht für die Ausgewogenheit im Strafverfahren. Unter diesem Aspekt könnte die Erforderlichkeit der Verteidigung im kontinentalen System auf den ersten Blick in Zweifel gezogen werden. Allerdings wäre eine Relativierung der Bedeutung der kontinentalen Verteidigerposition unangebracht, auch wenn Gericht und Staatsanwaltschaft für die Berücksichtigung sowohl der Belastungs- als auch der Entlastungsmomente sorgen müssen. Auf diese gesetzlich vorgesehene Neutralität bei der Sachverhaltserforschung wurde in der Zeit geachtet, als die Verteidigerrechte in der StPO noch schwach ausgeprägt waren.72 Heute zeigt sich die besondere Bedeutung der Verteidigerstellung bei der Beweiserhebung in der kontinentalen Hauptverhandlung erstens im Vorbringen aller zugunsten des Angeklagten sprechenden Umstände bzw. im Fall des richterlichen Übersehens deren Zugehörbringens, der Aufklärung diesbezüglich entstandener Missverständnisse, oder allgemein betrachtet in der Einhaltung der Gesetzeskonformität des Verfahrens.73 Zweitens wird eine nach außen hin objektive Einstellung der Staatsanwaltschaft zum Sachverhalt nicht ohne weiteres kompatibel sein mit ihrem inneren Rollenverständnis als Strafverfolgungsorgan. Sie steht so in einem psychologischen Spannungsfeld, sodass die strikte Einhaltung der Objektivitätspflicht nicht immer einfach sein wird.74 In der Praxis kann sich eine Tendenz der Staatsanwaltschaft zur überproportionalen Betonung der Belastungsmomente in der Erwartung entwickeln, dass die Verteidigung schon auf die vernachlässigten entlastenden Elemente aufmerksam machen wird, oder dass diese Aspekte zumindest im Rahmen der richterlichen Aufklärungspflicht ans Licht gebracht werden. Nichtsdestotrotz bringt diese Anforderung einen bedeutenden einschränkenden Rahmen in der Strafverfahrensstruktur, führt die Figur der Staatsanwaltschaft zur Unvoreingenommenheit in ihrer Verfolgungs- und Anklagetätigkeit und entfernt sie von einer Stellung als Partei. Drittens zeigt die justizielle Wirklichkeit andere Verhältnisse bezüglich der gesetzlich erwarteten Unvoreingenommenheit bei der amtlichen Sachverhaltserforschung in der Hauptverhandlung. Die richterliche 72 Über die Entwicklung der Stellung des Verteidigers vgl. KK-Willnow, Vorbemerkungen § 137 Rn. 1. 73 Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, A I 3 Rn. 9; B VI 1 b Rn. 177. 74 Vgl. supra, II. 2. b) cc) mit Nachweisen.
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
Kenntnis der Ermittlungsakte wirkt sich nämlich in Richtung einer Betonung der Belastungsmomente im Sinne der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen im Vorverfahren aus, sodass die erwünschte richterliche Neutralität bzw. Unparteilichkeit bei der erneuten im Sinne einer bloß wiederholten Ermittlung in der Hauptverhandlung in der Praxis schwierig einzuhalten ist.75 Dabei kennzeichnet sich das Ermittlungsverfahren durch eine Übermacht der Ermittlungsbehörde76 ohne eine echte kontradiktorische Mitwirkung der Verteidigung, was sich durch die richterliche Aktenkenntnis in die Hauptverhandlung überträgt und für eine prozessual unausgeglichene Ausgangslage sorgt. Die Möglichkeiten der Verteidigung für eine aktive Betätigung in dieser Verfahrensphase sind sehr eingeschränkt.77 Diese Schieflage erfordert unbedingt ein Gegengewicht durch die exklusiv für den Angeklagten vorgesehene Schutzaufgabe des Verteidigers. Mit seinem aktiven Mitwirken muss der Strafverteidiger die entlastenden Elemente in der Hauptverhandlung zu Gehör bringen, um die unentbehrliche Balance herstellen zu können.78 Die Befürchtung einer jedenfalls strukturellen Bedeutungslosigkeit der Verteidigerrolle in der vom Gericht dominierten Hauptverhandlung zeigt sich also als unbegründet. Eine starke Stellung und insbesondere die strenge Einseitigkeit79 des kontinentalen Strafverteidigers ist dabei von zentraler Relevanz. Erwähnenswert sind zudem seine soliden Rechte im deutschen Hauptverfahren, die weiter als die des amerikanischen reichen. Einerseits besteht für den deutschen Strafverteidiger eine umfassende Akteneinsicht ab dem Abschluss der Ermittlungen (§ 147 StPO), was dem amerikanischen Anwalt nicht zusteht, und er selbst Offenbarungspflichten unterworfen ist,80 so wie auch in den lateinamerikanischen Rechtsordnungen, die dem adversatorischen chilenischen Modell folgen.81 Im argentinischen Bundesstrafprozessrecht besteht ein solches Recht wie das des § 147 StPO nicht, aber immerhin wird dem Strafverteidiger Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren immer dann gewährt, wenn nicht die Geheimhaltung der Ermittlungen angeordnet ist (Art. 106 Abs. 2, 204 CPP Nación). Ferner verfügt die deutsche Verteidigung über
75
Vgl. dazu die Nachweise supra, Kapitel 2, Fn. 195. Vgl. für alle Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 11, Rn. 1. 77 Darüber bereits Barton, StV 1984, 394 ff.; ders., Mindeststandards der Strafverteidigung; ders./Kölbel/Lindemann, Wider die wildwüchsige Entwicklung; ferner Rieß, Festschrift Reichsjustizamt, S. 373 ff.; ders., ZIS 2009, 474; Wolter, GA 1985, 84 ff.; Weigend, ZStW 113 (2001), 302; Schünemann, ZStW 114 (2002), 38 ff.; Satzger, 65. DJT, C 38 ff.; Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens, StV 2004, 228 ff.; LR/Kühne, Einl. G Rn. 7n, 7o, Einl. J Rn. 103, unter vielen anderen. 78 Vgl. dazu Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 1; auch zuletzt Schünemann, in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 95 und passim; ders., GA 2018, 184; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 11 Rn. 1. 79 Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, A I 3 Rn. 11; Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, Vor § 137 Rn. 1 mit Nachweisen. 80 Betont von Schünemann, StraFo 2010, 92. 81 Vgl. supra, Kapitel 7 B. II. 76
A. Die Verteilung der Prozessrollen und das Beweisverfahren
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ein neben dem Amtsaufklärungsprinzip stehendes Beweisantragsrecht,82 was auch der Fall im Bundesstrafprozessrecht Argentinens ist.
III. Rollenverständnis im adversatorischen Verfahren 1. Akkusatorisches Verfahren Das mexikanische Grundgesetz (Art. 20 1. Satz83) und das neue Bundesstrafprozessgesetz (Art. 4 Abs. 184) proklamieren die akkusatorische Strafprozessform. Der Ausdruck acusatorio wird aber im Rahmen der Reformbewegung in Lateinamerika mit einer sehr breit aufgefächerten Bedeutung verwendet. Dabei wird das Akkusationsprinzip wie in früheren Zeiten des deutschen Strafprozesses in formell und materiell aufgegliedert.85 Einerseits wird er als „principio acusatorio formal“ mit dem Anklagegrundsatz verknüpft und damit auf die Trennung der Funktionen des Anklägers und des Richters bzw. der Strafverfolgungs- von der Urteilsaufgabe bezogen, die früher nur in der Person des inquisitorischen Richters im kontinentaleuropäischen System ausgeübt wurden und eine Aufspaltung nach dem Reformierten Strafprozess des 19. Jahrhunderts erfuhren.86 Im Übrigen könnte die Etablierung der Anklägerrolle gegenüber dem Angeklagten den Anschein erwecken, als ob es sich um zwei gegenüberstehende und gleichberechtigte Parteien handeln würde, aber eigentlich wird diese Aufteilung in Ankläger und Richter im traditionellen kontinentaleuropäischen Verfahren in einem formellen Sinne und nicht materiell als Parteisystem aufgefasst. Die akkusatorische Form wird also als nur „formal“ bezeichnet, weil die Strafverfolgung Sache des Staates ist (Offizialprinzip) und nicht den Privatpersonen überlassen bleibt, wobei sie auf die Staatsanwaltschaft und den Richter verteilt wird. In Zeiten vor dem Inquisitionsprozess, zum Beispiel beim altgermanischen oder beim römischen Verfahrensrecht,87 war die Prozessform nicht nur im formellen, sondern auch im materiellen Sinne akkusatorisch, weil die 82
Vgl dazu supra, Kapitel 2 B. II. 2. Art. 20 1. Satz Constitución: „El proceso penal será acusatorio y oral. Se regirá por los principios de publicidad, contradicción, concentración, continuidad e inmediación.“ 84 Art. 4 Abs. 1 CPPN: „Características y principios rectores. El proceso penal será acusatorio y oral, en él se observarán los principios de publicidad, contradicción, concentración, continuidad e inmediación y aquellos previstos en la Constitución, Tratados y demás leyes“. 85 Vgl. die Aufgliederung der Diskussion von Zachariae und Köstlin von Zimmermann, Freiheit und Gebundenheit der Staatsanwaltschaft, S. 12 ff., insbes. 17; ferner Küper, Die Richteridee der Strafprozeßordnung, S. 198 f. 86 Eine aktuelle Übersicht findet sich bei Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 13 Rn. 1 f., § 17 Rn. 2 und 5; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 18 Rn. 5 f.; SK-StPO-Weßlau/ Deiters, Vor § 151 ff. Rn. 2. Zum Principio acusatorio formal vgl. für Spanien Asencio Mellado, Principio acusatorio y derecho de defensa, S. 22 f.; für Argentinien Maier, Derecho Procesal Penal II, § 9 F 2 c, S. 121; für Chile López Masle, in: Horvitz Lennon/López Masle, Derecho procesal penal chileno I, II C 1.3.1, S. 43. 87 Dazu supra, Kapitel 1 A. II. 83
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
Strafverfolgung nicht eine Sache des Staates, sondern eine privatrechtliche Angelegenheit war.88 Dabei war es sogar eine natürliche Konsequenz, dass der private Kläger über seine Initiative frei verfügen konnte. Bei dieser materiellen Ausrichtung des Anklagegrundsatzes handelt es sich genuin um einen Parteiprozess, der zwischen einem privaten Kläger (der Verletzte oder seine Sippe) und einem Beklagten stattfindet und dabei sogar eine echte gleichgeordnete Position erreicht werden kann, wenn keine der beiden Parteien über eine tatsächliche Übermacht verfügt. Anders verhält es sich beim heutigen amerikanischen Strafrecht mit seinem öffentlichen Charakter und der Funktion der Generalprävention, kombiniert mit einem adversatorischen Strafprozess89 und einer staatlichen Strafverfolgung,90 also nicht von einer Privatklage wie in früheren Verfahrensformen abhängig. In diesem Rahmen ist eine Gleichstellung von Ankläger und Beschuldigten selbst unter Einziehung von Einschränkungen und strengen Regeln kaum möglich. Andererseits spricht man in Lateinamerika vom proceso acusatorio, seitdem die alten inquisitorischen Strafprozessgesetze ab den 90er Jahren im letzten Jahrhundert in dem Sinne reformiert wurden, dass sie eine mündliche Hauptverhandlung mit dem akkusatorischen System etablierten, Strafprozessgarantien erörterten bzw. erweiterten und Strafprozessprinzipien wie Mündlichkeit, Unmittelbarkeit, Öffentlichkeit, Unparteilichkeit des Richters, Konzentration, Kontradiktion u. a. festlegten.91 Die Trennung der Ermittlungsaufgaben im Vorverfahren von den erkennenden Funktionen der Hauptverhandlung ist eigentlich ein wichtiger Verdienst der Strafprozessreform in Lateinamerika, weil diese Aufgaben bis dahin meistens in einem Organ konzentriert waren. Ferner wird der Ausdruck acusatorio teilweise für eine adversatorische Verfahrensform als Gegensatz zum sog. inquisitorischen Prozesses verwendet, womit aber einerseits der alte Inquisitionsprozess, andererseits öfters auch der heute geltende kontinentaleuropäische („reformierte“) Strafprozess gemeint wird.92 Die Gleichsetzung der Ausdrücke „akkusatorisch“ mit „adversatorisch“ dürfte auch aus deutscher Sicht nicht fremd sein, nachdem auf das Akkusationsprinzip bereits in der Literatur über die Reformbewegung und die Entstehung der StPO von 1877 Bezug 88 Zu dieser materiellen Seite vgl. Maier, Derecho Procesal Penal II, § 9 E 1 II, S. 55 ff.; § 9 F 2 c, S. 121; § 11 A 3. a I, S. 364. 89 Vgl. LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, § 1.4. c. Der Ausdruck „akkusatorisch“ wird dort nicht verwendet bzw. auch nicht definiert, so Gómez Colomer, El sistema de enjuiciamiento criminal, S. 30. 90 Vgl. dazu Ferrajoli, Diritto e ragione, Parte Terza, IX.39.3. 91 Vgl. zum Beispiel Damasˇka, in: Kadisch (ed.), The Encyclopedia, S. 24 f.; Langer, in: Harvard International Law Journal, Vol. 45, No. 1, 2004, Punkt I, S. 4. Mit dem Begriff acusatorio hat sich Montero Aroca intensiv beschäftigt, vgl. zum Beispiel in: Gómez Colomer/ Cussac González (coords.), Terrorismo S. 311 ff. Vgl. ferner Ambos, Jura 2008, 586 ff. Für Mexiko zum Beispiel Moreno Hernández, La relación entre el Derecho Penal y el Derecho Procesal Penal, S. 332 mit Fn. 8. 92 Unter vielen anderen zum Beispiel in Mexiko Martínez Geminiano, in: Carmona Castillo/ Mafud Mafud (Hrsg.), Juicio oral penal, S. 60.
A. Die Verteilung der Prozessrollen und das Beweisverfahren
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genommen wurde, um über das Prozessmodell mit einem deutlichen Einfluss der Parteien auf die Beweisaufnahme zu debattieren.93 Auf jeden Fall bildet der Terminus accusatorial im angloamerikanischen Raum einen Grundsatzbegriff, dessen Bedeutung im Einzelnen aber dort selten erörtert wird.94 Aus der heutigen rechtsvergleichenden Perspektive sind zwei Gestaltungsmöglichkeiten für den auf der Basis einer staatlichen Strafverfolgung etablierten Akkusationsprozess interessant. Entweder besitzt er eine adversatorische Form als Parteiprozess oder er kann sich nach den Grundsätzen eines kontinentaleuropäischen Strafverfahrens richten, indem er das Akkusationsprinzip mit der inquisitorischen Rolle des Gerichts in der Hauptverhandlung kombiniert. Was nun das mexikanische Strafprozessrecht anbelangt, wurde dort eine adversatorische Verfahrensform im Sinne der Beweisführung der Parteien übernommen, auch wenn eine lange kontinentaleuropäische Tradition im Strafprozessrecht vorherrschte.95 Die Parteistruktur wird in Art. 6 CPPN betont und mit dem Kontradiktionsprinzip in Verbindung gesetzt.96 Es verfügt allerdings über einige Elemente des kontinentaleuropäischen Systems, wie beispielsweise das Legalitätsprinzip und die Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft.97 Der Terminus „acusatorio“ führt ferner zu bedauerlichen Konfusionen, wenn damit die Idee verknüpft wird, dass Vereinbarungen bzw. Absprachen zwischen den Prozessbeteiligten bezüglich der Schuld bzw. Strafe eine logische Konsequenz des akkusatorischen Systems im Sinne eines Parteiprozesses sein sollen. Die Gestaltung des neuen akkusatorischen lateinamerikanischen Prozessmodells wurde nämlich immer wieder mit der Idee verbunden, dass das Verfahren bei Schuldanerkennung seitens des Angeklagten mit Vereinbarungen über die Prozessergebnisse beendigt werden könnte. Der italienische Strafrechtswissenschaftler Luigi Ferrajoli, der in Lateinamerika für grundlegende Fragen zum Straf- und Strafprozessrecht viel beachtet wird, hat bereits auf die richtige Ausdifferenzierung hingewiesen, damit diese Konfussionen beseitigt werden können. Einerseits gäbe es das theoretische akkusatorische Modell, das in der Trennung zwischen Richter und Kläger und aus Mündlichkeit und Öffentlichkeit bestünde. Andererseits gäbe es die konkreten Eigenschaften des nordamerikanischen akkusatorischen Prozesses als historisches Modell, wovon einige, wie die Disponibilität der Strafverfolgung, nicht in direktem
93
Vgl. z. B. Glaser, Handbuch, S. 187, 214 f. Vor allem findet man dort kaum Bezug auf dem Akkusationsprinzip, so Gómez Colomer, El sistema de enjuiciamiento criminal, S. 28 ff. 95 Kritisch dazu Moreno Hernández, in: ders./Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 60 f. Ihm zufolge wurde diese Rezeption von nordamerikanischen internationalen Institutionen beeinflusst, vgl. dazu supra, Kapitel 7 B. I. 96 Art. 6 CPPN: „Principio de contradicción. Las partes podrán conocer, controvertir o confrontar los medios de prueba, así como oponerse a las peticiones y alegatos de la otra parte, salvo lo previsto en este Código.“ 97 Vgl. dazu infra, A. III. 3. b) bb) und cc). 94
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
Bezug zu dem theoretischen akkusatorischen Modell stünden.98 Unter dem Blickwinkel dieser Differenzierungen wird nun das neue mexikanische Strafprozesssystem betrachtet und dabei der Augenmerk insbesonders darauf gerichtet, welche Relevanz die mündliche Hauptverhandlung erfährt, die neu etabliert wurde. 2. Wahrheitskonzept in der mexikanischen Verfassung Bei der Verfassungsreform von 2008 wurden die Zwecke des Strafverfahrens festgelegt: die Tataufklärung, der Schutz des Unschuldigen, die Bestrafung des Schuldigen und ggf. die Schadenswiedergutmachung (Art. 20 A I),99 die auch im neuen Código Nacional wiederholt werden (Art. 2). Bei dieser grundlegenden Bestimmung zeigt sich der offensichtliche Wille des Verfassungsgebers, an einer bestimmten Konzeption des Strafverfahrens festzuhalten, die so ausgelegt werden sollte, dass das mexikanische Verfahren durchaus am Prinzip der materiellen Wahrheit festhält.100 Das Strafprozessgesetz des mexikanischen Estado Chihuahua (2006) führte hingegen wie auch Venezuela 2009 (Art. 13)101 ausdrücklich das Prinzip der „historischen Wahrheit“ ein (Art. 1).102
98
Ferrajoli, Diritto e ragione, Parte Terza, IX.39.2 und 3. Art. 20, apartado A, fracción I: „El proceso penal tendrá por objeto el esclarecimiento de los hechos, proteger al inocente, procurar que el culpable no quede impune y que los daños causados por el delito se reparen“. Nach Moreno Hernández, La relación entre el Derecho Penal y el Derecho Procesal Penal, S. 353, Fn. 29 ist das Prinzip der materiellen Wahrheit in der Verfassungsreform verankert: „La reforma constitucional mexicana parte de la base de que en el nuevo proceso penal también debe buscarse la verdad material y no sólo la verdad formal, si bien aquella no tiene que ser vista como una verdad absoluta, ni como una verdad que se obtenga a toda costa.“, vgl. ferner S. 351. 100 Die Suprema Corte de Justicia de la Nación (Bundesverfassungsgericht, Primera Sala) im Urteil vom 19. März 2014 bezüglich des procedimiento abreviado des Bundesstaats Mexico noch vor der Vereinheitlichung, Verfassungsbeschwerde 4433/2013 (amparo directo en revisión) sagt das nicht ausdrücklich, aber man könnte es aus dem Sinn entnehmen. Diese Entscheidung wird ausführlich infra, B. II. 5. b) cc) (3) (b) behandelt. Ferner entnimmt Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Art. 1, S. 6 ff., Art. 2, S. 59 ff. aus diesen Vorschriften nicht das Prinzip der materiellen Wahrheit. Eindringlich in Mexiko allgemein für das Prinzip der materiellen Wahrheit Moreno Hernández, zum Beispiel in: La relación entre el Derecho Penal y el Derecho Procesal Penal, S. 353. 101 Art. 13: „Finalidad del proceso: El proceso debe establecer la verdad de los hechos por las vías jurídicas, y la justicia en la aplicación del derecho, y a esta finalidad deberá atenerse el juez al adoptar su decisión“. 102 Art. 1: „Finalidad del proceso – El proceso penal tiene por objeto establecer la verdad histórica …“. 99
A. Die Verteilung der Prozessrollen und das Beweisverfahren
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3. Parteiführung a) Allgemeines Anders als die Amtsaufklärung findet die typische Beweisaufnahme eines adversatorischen Systems parteizentriert nach dem Grundsatz der Parteiautonomie (party autonomy103) und gemäß den Regeln über die Beweiseinführung, -offenlegung und den Beweisausschluss statt.104 Die Auswahl der Erkenntnismittel wird von den Parteien grundsätzlich frei vorgenommen und sie werden von ihnen als „eigene“ vorgebracht. Die Beschaffung, Erhebung, Darstellung und Prüfung der Beweise ist allein Sache der Parteien. Ein solches parteizentriertes Strafverfahren beruht auf einem prozessualen Wahrheitsverständnis als Ergebnis der Parteikontradiktion im Sinne von „These und Gegenthese“ und nicht auf dem Verhältnis zwischen dem materiellen Recht und dem Strafprozessrecht, das als theoretische Grundlage des kontinentalen Strafprozesses fungiert.105 Deshalb erhält die Verfahrenslegitimation beim adversatorischen System eine besondere Relevanz, wofür feste Fairness- und Spielregeln mit richterlicher Kontrolle vorgesehen sind. Entsprechend zum Konzept der Parteiführung kennzeichnet sich das Modell durch eine andersartige Verteilung der Verfahrensrollen. Die Staatsanwaltschaft ist im angloamerikanischen bzw. im adversatorischen System eine Schlüsselfigur. Eine Pflicht zur Objektivität wie in Deutschland besteht in dieser Form nicht106 und zur Verankerung des prosecution case unterliegt sie der Beweislast.107 Sie präsentiert die Beweismittel als erstes und es besteht für sie die Pflicht, alle unmittelbaren Tatzeugen für entscheidende Tatsachen und die sie für glaubwürdig hält, zu laden. Die Zeugenauswahl geschieht nach ihrem Ermessen, sie muss aber der Verteidigung diesen Vorgang offenlegen. Demgegenüber besteht für die Verteidigung keine Pflicht, Beweismittel zu sammeln und zu präsentieren.108 Allerdings würde eine Untätigkeit im Mandat zu einem irreparablen Nachteil für den Angeklagten führen. Zu einem Parteisystem gehören ferner Vereinbarungen der Prozessbeteiligten über unstrittigen Sachverhalt bzw. gemeinsame Zugeständnisse über ein Geschehen oder Fakt (agreed evidence, in Mexiko: acuerdos probatorios, Art. 345 CPPN).
103
Dennis, The law of evidence, Kapitel 1 C (1.15), S. 14 ff., Kapitel 13 B (13.3.), S. 522. Vgl. dazu die Fundstellen supra, dieses Kapitel 8, Fn. 1. 105 Vgl. Grundsätzen und Kritik im Kapitel 2. 106 Vgl. infra, A. III. 3. b) cc). 107 Im Gegensatz zum kontinentaleuropäischen Strafprozess, vgl. LR/Kühne, Einl. I Rn. 32 mit älteren Nachweisen. 108 Vgl. für das englische Strafverfahren Dennis, The law of evidence, Kapitel 13 B (13.4), S. 524; für das amerikanische zum Beispiel Kadisch/Schulhofer, Criminal Law and its processes, Chapter 1 D 2.1. 104
262
Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
Hintergrund dieses Ausschlusses bestimmter Beweiserhebungen ist der gemeinsame Wunsch nach Verfahrensökonomie.109 In Anbetracht dieser Verteilung der Verfahrensrollen und eines solchen Beweissystems in einer rein adversatorischen Prozessstruktur ist nun die Reformbewegung in Mexiko nachzuzeichnen, die eigentlich zur in dieser Arbeit sog. zweiten, adversatorischen Variante der Reformströmung in Lateinamerika gehört. Dabei wurde die Absicht im Zuge der mexikanischen Reform betont, ein Modell nicht direkt und vollständig aus einem anderen Rechtssystem zu übernehmen, sondern eigene Verfahrensstrukturen zu entwickeln, die für Mexiko adäquat sind. Im neuen mexikanischen Strafprozessrecht wird die akkusatorische Prozessstruktur mit einem Parteiverfahren kombiniert (Art. 20 1. Satzmexikanisches Grundgesetz, Art. 4 Abs. 1, Art. 6 CPPN).110 Das Prinzip der Gleichheit der Parteien (Anklage und Verteidigung) ist verfassungsrechtlich (Art. 20 A V, 2. Satz111) und im CPPN (Art. 11112) verankert. In Art. 105 Abs. 2 werden der Angeklagte, sein Verteidiger, der Ministerio Público, das Opfer und sein Beistand (asesor jurídico) zu Parteien erklärt.113 Im adversatorischen System Mexikos bestimmen die Parteien, also die Staatsanwaltschaft, der Verletzte und die Verteidigung, welche Beweise im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung erhoben werden114 (Art. 213 für den Ministerio Público im Ermittlungsverfahren,115 Art. 216 für die Verteidigung im Ermittlungsverfahren; Art. 262 für beide Parteien: derecho a ofrecer medios de prueba; Art. 335 Abs. 2 VII: Beweismittel der Staatsanwaltschaft in der Anklage; Art. 335 Abs. 4 für die Staatsanwaltschaft und Verletzter: Zeugenliste). Mit dem Zweck der Bestimmung der zu erhebenden Beweismittel findet die audiencia intermedia bereits im Zwischenverfahren vor dem Ermittlungsrichter statt, bei der auch Vereinbarungen zwischen den Parteien über den unstrittigen Sachverhalt möglich sind, solange der Verletzte nicht dagegen ist (acuerdos probatorios, Art. 345). Außergewöhnlich ist 109
Für das englische Verfahren vgl. Billis, Die Rolle des Richters, S. 174 f., 219 mit Nachweisen. Für Mexiko vgl. infra, A. III. 5. b) bb). 110 Vgl. dazu supra, A. III. 1. 111 „Las partes tendrán igualdad procesal para sostener la acusación o la defensa, respectivamente.“ 112 Art. 11 CPPN: „Principio de igualdad entre las partes. Se garantiza a las partes, en condiciones de igualdad, el pleno e irrestricto ejercicio de los derechos previstos en la Constitución, los Tratados y las leyes que de ellos emanen“. 113 Art. 105, Abs. 2: „Los sujetos del procedimiento que tendrán la calidad de parte en los procedimientos previstos en este Código, son el imputado y su Defensor, el Ministerio Público, la víctima u ofendido y su Asesor jurídico.“ 114 Vgl. supra, A. III. 3. b) dd) und d); III. 5. Über die Beweisführung der Parteien nach dem CPPN vgl. Dagdug Kalife, Manual de Derecho procesal penal, Kapitel VIII.2.2.4., S. 503, 5.4., S. 536. 115 Gegen eine „inquisitorische“ Beweisführung von einem Untersuchungsrichter und für die Übernahme dieser Aufgabe vom Ministerio Público für den neuen CNPP vgl. Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Art. 213, S. 593.
A. Die Verteilung der Prozessrollen und das Beweisverfahren
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die Möglichkeit für jeden Bürger, Beweismittel im Prozess anzubieten, wie beispielsweise eine Videoaufnahme.116 Die im Zwischenverfahren von den Parteien vorgeschlagenen Beweiserhebungen können andere sein als solche, die von ihnen in der Anfangssitzung („audiencia inicial“, Art. 307 ff.) oder beim kurzen Beweisverfahren in der folgenden Sitzung („continuación de la audiencia inicial“, Art. 315) angeboten wurden.117 Eine Besonderheit in der Beweisführung der Parteien ist die Präklusion von Beweiserhebungen, außer es handelt sich um neue oder früher unbekannte Beweise.118 Ferner umrahmt die Beweisführung der Parteien die Offenlegung der Beweise (Art. 336, 337 Abs. 1; 340 Abs. 2 CPPN) und das Konzept der „Beweislast“ des Anklägers für den Schuldnachweis (Art. 20 A V, 1. SatzGrundgesetz; Art. 130 CPPN),119 allerdings ist der Staatsanwalt zur Objektivität verpflichtet und somit muss er auch entlastende Beweise erheben. Eine Übersicht über die Prozessparteien zeigt erste Besonderheiten in ihren Aufgaben und Befugnissen im Prozess ans Licht auf. b) Staatsanwaltschaft aa) Ursprung (1) Während England ursprünglich keine Anklagebehörde wie im kontinentaleuropäischen System besaß,120 entwickelte sich der Staatsanwalt im US-amerikanischen Strafprozess als eine relevante, öffentliche Institution, die im Namen des Bundesstaates oder Staates agiert. Es handelt sich um den Assistant, der sich als Vertreter des US Attorney General (vom Federal Departament of Justice abhängig) um die Strafverfolgung in seiner örtlichen Zuständigkeit und um die Anklage in der mündlichen Hauptverhandlung kümmert. In den USA etablierte sich also eine staatliche Strafverfolgung, die eigentlich auf die Zeiten der Inquisition zurückzuführen ist. Aber anders als im kontinentaleuropäischen System schien die Staatsanwaltschaft in den USA prinzipiell keine strukturelle Veränderung der Prozessrollen zu bewirken, weil sie in der ursprünglichen Position des Verletzten als Prozesspartei auftrat. Diese Orientierung war eine Konsequenz des angelsächsischen Einflusses der privaten Strafverfolgung.121 Allerdings handelt es sich nun nicht mehr
116
So Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Art. 262, S. 694. Dazu Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Art. 335, S. 897. 118 Vgl. Dagdug Kalife, Manual de Derecho procesal penal, Kapitel VIII.2.2.14., S. 508. 119 Vgl. supra, A. III. 3. b) dd) und c). 120 Vgl. supra, A. II. 2. b) aa). 121 Siehe den Vergleich supra, A. II. 2. b). Zu den Ursprüngen der Staatsanwaltschaft im common law vgl. Langbein, The Origins, S. 313 ff.; ders., Understanding the short history of plea bargaining, S. 266 f.; darüber Bovino, La persecución penal pública en el derecho anglosajón; ders., Principio acusatorio, derecho de defensa e imparcialidad (2013). 117
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Privatpersonen, sondern es trat auf einer Seite die staatliche Strafverfolgung auf den Plan. (2) Angesichts dieser Quellen und Differenzierungen122 ist der Ministerio Público im adversatorischen Strafverfahren Mexikos zu betrachten. Anders als die anderen Strafverfahrensformen Lateinamerikas, bei denen der Untersuchungsrichter die Verfahrensherrschaft hatte, bestand in Mexiko bereits ab 1917 eine mit Ermittlungsund Klageaufgaben sogar verfassungsrechtlich beauftragte Staatsanwaltschaft. Ziel der damaligen Reform war die Trennung von der Ermittlungs- bzw. Anklagefunktion (Ministerio Público) und der Entscheidungsfunktion (Art. 21 Verfassung).123 Als Hilfsorgan bei den Ermittlungen stand die Policía Judicial zur Verfügung. Dadurch war Mexiko in den ersten vier Jahrzehnten den anderen lateinamerikanischen Ländern weit voraus. bb) Legalitätsprinzip Im mexikanischen Recht wird das Legalitätsprinzip Art. 21 der Bundesverfassung entnommen, was noch auf eine Verbindung zwischen Strafprozessrecht und materiellem Recht124 hinweist. Auch wenn diese Bestimmung keinen direkten Bezug auf eine Verfolgungspflicht der Staatsanwaltschaft gegen jeden Verdächtigen, sondern nur auf die Zuständigkeit des Ministerio Público für die Tatermittlungen und die Strafklage (Art. 21 Abs. 1 und 2) nimmt,125 interpretiert man sie als die staatliche Verpflichtung, bei einem Tatverdacht die Ermittlungen vorzunehmen und erforderlichenfalls Anklage zu erheben, also als Ausprägung des Legalitätsprinzips.126 Das neue mexikanische Bundesstrafprozessgesetz nimmt ebenfalls keinen direkten Bezug auf das Legalitätsprinzip, aber es setzt diesen Grundsatz in den Vorschriften über den Ministerio Público voraus. Allerdings wäre eine explizite Vorschrift wünschenswert, v. a. weil hier ein adversatorisches System auf kontinentaleuropäische fundamentale Merkmale zurückgreift. Art. 127 bezieht sich auf die Kompetenzen des Ministerio Público, ohne eine Pflicht zur Aufnahme von Ermittlungen oder einer Anklageerhebung aufzuerlegen. Art. 131 Abs. 1, der sich auf die Pflichten des Ministerio Público bezieht, ist auch kein derartiger Verfolgungszwang zu entnehmen. So knüpft Nr. III nur an seine Führungsposition bei Durchführung der
122
Für einen Rechtsvergleich bezüglich der Staatsanwaltschaft mit Einbeziehung vielen Ländern vgl. Gómez Colomer, El sistema de enjuiciamiento criminal, S. 99 ff. 123 Vgl. dazu supra, Kapitel 7 C. I. 124 Darüber einleuchtend Rieß, NStZ 1981, 6. 125 Art. 21 Abs. 1: „La investigación de los delitos corresponde al Ministerio Público y a las policías, las cuales actuarán bajo la conducción y mando de aquél en el ejercicio de esta función“. Abs. 2: „El ejercicio de la acción penal ante los tribunales corresponde al Ministerio Público“. 126 Vgl. Hernández Reyes, in: Carmona Castillo/Mafud Mafud (Hrsg.), Juicio oral penal, S. 84 f.; Dagdug Kalife, Manual de Derecho procesal penal, Kapitel IV.2.4., S. 227.
A. Die Verteilung der Prozessrollen und das Beweisverfahren
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Ermittlungen an.127 Nr. V verpflichtet nur gegebenenfalls zur Aufnahme der Ermittlungen.128 Hiermit wird aber nicht eine Ermittlungspflicht bezüglich aller verfolgbaren Straftaten postuliert, so wie es das Legalitätsprinzip im Sinne der Gleichheit und Gerechtigkeit vor dem Gesetz fordert. Anders verhält es sich beim Strafprozessgesetz der Estados de Oaxaca, Chihuahua, Morelos und des Código Federal für Bundessachen, bei denen das Legalitätsprinzip ausdrücklich jeweils in den Art. 196 Abs. 1, 83, 88 Abs. 1 und 113 verankert ist, das zugleich aber durch Opportunitätsbestimmungen Ausnahmen erfährt. Auch ein betont adversatorischer Strafprozess wie der von Kolumbien enthält das Legalitätsprinzip, gekoppelt mit einem Opportunitätsprinzip (Art. 250 der Bundesverfassung). Andererseits zeigt sich die Relevanz von Opportunitätskriterien als Gegenpol eines Verfolgungszwangs in der neuen mexikanischen Strafprozesskonzeption, indem sie in der Bundesverfassung (Art. 21 Abs. 7) vorgesehen sind und auf die einfachgesetzliche Regelung verweisen, die wiederum früher in den Strafprozessgebungen der Estados und nun im Art. 256 Abs. 2 des CPPN enthalten sind. Dabei handelt es sich um die Kriterien der Geringfügigkeit (I, II, VI)129 ; der physischen oder psychischen Folgen der Tat für den Täter (III)130 ; der in einem anderen Strafverfahren zu erwartenden oder bereits verhängten Strafe (IV)131; des Kronzeugen oder der Aufklärungsgehilfe, ohne Einschränkungen auf bestimmte Delikte (V) und des sehr unscharfen Kriteriums der Präventivgründe der Kriminalpolitik (VII).132 Diese Durchbrechungen des Legalitätsprinzips gehen sehr weit, v. a. beim Kronzeugen bzw. bei der aus dem angloamerikanischen Rechtskreis übernommenen Verfahrenseinstellung als Ausgleich für eine belastenden Aussage gegen einen Dritten, die nun in Mexiko und anders als in Deutschland uneingeschränkt für alle Delikte möglich ist. Damit bietet sich in allen Strafrechtsfällen eine Möglichkeit der Zeugenaussage, die einen fragwürdigen Beweiswert besitzt, weil der Kronzeuge für die Belastung eines anderen belohnt und daher tendentiell dazu neigen wird, Taten zu erfinden oder zumindest zu überzeichnen. Durch eine solch weitgehende Privilegierung bzw. ohne Einschränkungen auf bestimmte Delikte sind Bedenken wegen Verletzung des Schuld-, Gleichheits- und Legalitätsprinzips und des Gebots der Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns angezeigt.133 127
…“. 128
Art. 131 Abs. 1 III: „Ejercer la conducción y mando de la investigación de los delitos
Art. 131 Abs. 1 V: „Iniciar la investigación correspondiente cuando así proceda …“. Entsprechend § 153 f. StPO. 130 Entsprechend § 153b StPO. 131 Entsprechend § 154 ff. StPO. 132 Vgl. dazu Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Arts. 256 – 257, S. 667 ff., über die Gründe des Nr. VII S. 677 f. 133 Für die deutsche Regelung kritisch Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rn. 942 ff.; auch dazu Geipel, in: Miebach/Hohmann, Wiederaufnahme in Strafsachen, Einleitung, Rn. 163 ff.; Heger, in: Lackner/Kühl, StGB § 46 b Rn. 1, alle m. w. N. 129
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
Immerhin wäre eine Sicherung des Legalitätsprinzips durch eine gerichtliche Kontrolle im Rahmen einer Art Klageerzwingungsverfahren zu begrüßen, die anders als in Deutschland134 nach dem mexikanischen Código Nacional sogar bei einer Einstellung aus Opportunitätskriterien möglich ist (Art. 258). Die Beschwerde wird vom Verletzten beim Ermittlungsrichter eingelegt. In einer dafür anberaumten mündlichen Verhandlung wird der Ermittlungsrichter die Einstellung bestätigen oder aufheben und den Staatsanwalt zur Wiederaufnahme der Ermittlungen verpflichten.135 Auch wenn die praktische Bedeutung eines Klageerzwingungsverfahrens an sich sehr niedrig sein kann, stellt es eine notwendige Kautel für den Schutz des Legalitätsprinzips und die Bindung des Verfahrens an diesen Grundsatz dar. In diesem Punkt bietet der mexikanische Gesetzgeber eine Lösung, die sich durchaus vom Konzept eines adversatorischen Systems mit einem weiten Anklageermessen unterscheidet, weil dieses keine Möglichkeit wie das Klageerzwingungsverfahren vorsieht.136 cc) Objektivitätspflicht Anders als in Argentinien137 ist beim Ministerio Público nach dem neuen Strafprozesssystem in Mexiko in der Literatur die Rede von parte,138 wobei sich der spanische Terminus nicht nur auf die in der Rechtsvergleichung verwendete Idee der Partei, sondern auch auf die bloße Teilnahme am Prozess beziehen kann. Neben der führenden Rolle des Ministerio Público bei den Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung ist für die Kennzeichnung als Partei von Relevanz, ob der Ministerio Público nur ein Prozessbeteiligter im Sinne der Teilnahme am Prozess oder ein befangener, weil einseitiger Prozessbeteiligter ist, was der Konzeption eines adversatorischen Verfahrens entspricht. Wäre die Staatsanwaltschaft zur Objektivität bzw. zur Ermittlung auch der entlastenden Umstände und damit zur Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtet, würde die Qualifikation als Partei herkömmlich entfallen.139 134
Für alle Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozeßordnung, § 172 Rn. 3, 35. Vgl. dazu Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Art. 258, S. 679 ff. 136 Vgl. dazu Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 89 f. mit Nachweisen. 137 Vgl. nur Maier, Derecho Procesal Penal II, § 9 E 3 I, S. 65, der das Wort „parte“ für die Benennung der Prozessbeteiligten ablehnt und ein Adversarialsystem als fremd ansieht. 138 Die mexikanische Literatur verwendet diesen Ausdruck, vgl. zum Beispiel Barroso Rojas, in: Carmona Castillo/Mafud Mafud (Hrsg.), Juicio oral penal, S. 420. 139 In diesem Sinne, weil die Staatsanwaltschaft in Deutschland aus diesem Grund keine Partei ist, Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Rn. 105 ff.; Roxin, DRiZ 1969, S. 385; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 9 Rn. 11; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 6 Rn. 10; Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, Vor § 141 GVG Rn. 8; LR/Kühne, Einl. J Rn. 52 f. m. w. N.; in Argentinien Maier, Derecho Procesal Penal II, § 11 A 2 b, S. 323. Vgl. dazu die besondere Ansicht von Haas, Strafbegriff, S. 39 ff. auch mit Nachweisen über die herkömmliche Meinung. 135
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Für den Rechtsvergleich stehen wiederum die sich aus der Gegenüberstellung des angloamerikanischen und des kontinentaleuropäischen Systems ergebenden Maßstäbe zur Verfügung. Die für das kontinentaleuropäische System charakteristische Objektivität der Staatsanwaltschaft existiert in dieser Form im nordamerikanischen System nicht.140 Dort verwandelt sich das Objektivitätsprinzip in eine bloße Pflicht zu einem fairen Verhalten gegenüber der Strafverteidigung. Es bestehen Verhaltensregeln für die Verhinderung eines extrem parteiischen, unfairen Handelns der Staatsanwaltschaft beim Sammeln und Präsentieren der Beweise im Strafprozess. Zum Beispiel muss sie über Beweismittel informieren, die die Position der Verteidigung stärken. Allerdings wird die Staatsanwaltschaft solche Beweiserhebungen nicht von selbst übernehmen.141 Die Verteidigung wird einschätzen, ob diese Elemente ihre These stützen und ob sie diesen Beweis erheben will. Im adversatorischen Verfahren gehört also eine Verhaltensordnung für die Ausführung der amtlichen Funktion, so wie es berufsrechtliche Bestimmungen für einen Strafverteidiger bei der Ausübung seiner Aufträge in den Rechtssystemen gibt. Entsprechend zu den berufsrechtlichen Pflichten eines Rechtsanwalts bestehen für die Staatsanwaltschaft Verhaltensrichtlinien für ihre Stellung als Vertreter des öffentlichen Interesses in der Rechtspflege zu einem reibungslosen Funktionieren der Strafjustizsystems. So erfordert der Verhaltenscode für die britische Staatsanwaltschaft ein faires und unparteiisches Verhalten bei der Bearbeitung der Straffälle.142 Beim Ministerio Público der adversatorischen Strömungen Lateinamerikas wird allerdings ein für die Erforschung der entlastenden Umstände aktives Handeln gefordert, sodass eine Objektivitätspflicht besteht, die weiter als die Regelungen des angloamerikanischen Systems gehen soll. Es wird nämlich ein objektives Vorgehen nach dem Vorbild des chilenischen Strafprozesses im Gesetz verlangt, weshalb auch entlastende Umstände erforscht bzw. berücksichtigt werden müssen.143 Wie in den mexikanischen Estados, zum Beispiel in Oaxaca (Art. 114), die Objektivitätspflicht des Ministerio Público vorgesehen war, wird sie nun auch im neuen Código Nacional (Art. 129 Abs. 1) festgelegt, sodass die Ermittlungen sich sowohl auf belastende als auch entlastende Elementen beziehen müssen. Ferner werden die erforderliche Sorgfalt (debida diligencia, Art. 129, Abs. 1) und die Treuepflicht (deber de lealtad, 140 Vgl. dazu Langbein, HeinOnline – 41 U. Chi. L. Rev. 439 1973 – 1974, S. 448 ff.; vgl. LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, § 24.7.d mit Rechtsprechung; in der spanischsprachigen Literatur: vgl. Maier, Derecho Procesal Penal II, § 11 A 2 b I und X, S. 318 f., 348 f., allgemein in § 11 A 2 b II, S. 323 f.; Bovino, Ingeniería de la verdad, in: Problemas, S. 216. 141 Vgl. Mooney v. Holohan, 294 US 103 (1935); Brady v. Maryland, 373 US 83 (1963); United States v. Agurs, 427 US 97 (1976); dazu zum Beispiel Bibas, in: Steiker (Hrsg.), Criminal Procedure Stories. 142 Die Written Standards for the Conduct of Profesional Work, § 10.1 schreibt dem Staatsanwalt ein „fairly and impartially“ Verhalten vor, vgl. https://www.barstandardsboard.org. uk/regulatory-requirements/the-old-code-of-conduct/written-standards-for-the-conduct-of-pro fessional-work; dazu Billis, Die Rolle des Richters, S. 159 f. 143 Chile: Ley Orgánica Constitucional del Ministerio Público vom 8. 10. 1999 (Nr. 19640), in Kraft getreten 15. 10. 1999, Art. 3, http://www.leychile.cl/Navegar?idNorma=145437.
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
Art. 128) gefordert, derzufolge der Ministerio Público die wahre Information über die Tat und die Ermittlungsergebnisse vermitteln muss. Er darf den Verfahrensbeteiligten Beweismaterial nicht vorenthalten („ocultar“), das für ihre Position von Vorteil wäre. Diese Fürsorgepflicht gilt v. a. dann, wenn er dieses Material nicht selbst in das Verfahren einbringt (Art. 128, Abs. 2).144 Allerdings sind all diese Kautelen in der Praxis Mexikos durch die immer wieder bemängelte Korruption der Akteure nicht garantiert.145 Diese Leitsätze regeln heute die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft anstelle des Grundsatzes des sog. „fe pública“ (öffentliches Vertrauen), der die Richtigkeit ihres Handelns im Ermittlungsverfahren des alten Systems unterstellte.146 Die mexikanische Mischung von einem adversatorischen System mit einer objektiven Staatsanwaltschaft bildet eine Hybridform, die in der Praxis nicht ohne Schwierigkeiten agieren dürfte. Allerdings stellt die Objektivitätspflicht in einem adversatorischen Modell – zumindest als ein theoretisch einzuhaltender Grundsatz – eine Begrenzung des staatlichen Machtapparats gegenüber dem einzelnen Beschuldigten dar, bei dem das Gericht die Parteivereinbarungen über den Beweis und das gesamte Beweisverfahren nicht beherrscht. Deshalb sollte ihre Einhaltung richtigerweise streng kontrolliert werden. dd) Beweisführung Auch wenn der mexikanische Ministerio Público sich nach der Objektivitätspflicht und nach dem Legalitätsprinzip richten muss, verhält er sich in mancher Hinsicht als Partei, insofern ihm eine führende Rolle bei den Beweiserhebungen und Vereinbarungen über die Beweismittel gewährt wurde.147 Diese hervorgehobene Stellung nimmt er in allen Phasen des adversatorisch strukturierten Verfahrens ein. Im Vorverfahren behält er auch nach der Reform die Ermittlungs- und Anklageaufgaben, die er grundsätzlich bereits im alten System besaß. Das Ermittlungsverfahren wird von der Staatsanwaltschaft geleitet (Art. 212 f.; 221, 127), bei deren Untersuchungen die Polizei unterstützt. Bis auf einige aufgelistete Ermittlungsmaßnahmen (Art. 252) bedarf der Staatsanwalt in der Regel keiner Genehmigung des Ermittlungsrichters (Art. 251). Neben den Ermittlungen im Vorverfahren gehören zu seinen Aufgaben die Beantragung der Prozessbindung bzw. Verbindung zum Prozess des Beschuldigten (vinculación del imputado a proceso, Art. 309), die Teilnahme an
144 Vgl. dazu Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Arts. 128 – 129, S. 336 f.; Dagdug Kalife, Manual de Derecho procesal penal, Kapitel IV.2.4., S. 228, Kapitel IV.2.1.3., S. 224. 145 Vgl. dazu infra, gg). 146 Jiménez Martínez, Código Nacional, S. 159. 147 Dazu Dagdug Kalife, Manual de Derecho procesal penal, Kapitel VIII.2.2.4., S. 503. mit der Gegenüberstellung zu einer inquisitorischen Hauptverhandlung.
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der dafür anberaumten Sitzung und die aktive Beteiligung beim entsprechenden kurzen Beweisverfahren. Im Zwischenverfahren erfolgt die Gewährung von Akteneinsichtsrecht für die Offenlegung der Beweise (Art. 336; 337 Abs. 1); die Teilnahme an der Zwischensitzung vor dem Ermittlungsrichter mit der Festlegung des Prozessgegenstandes („audiencia intermedia“, Art. 342 ff.); ggf. der Abschluss von Vereinbarungen zwischen Staatsanwalt und Angeklagten über den unstrittigen Sachverhalt, solange der Verletzte nicht dagegen ist (acuerdos probatorios, Art. 345); die Benennung der Beweismittel (Art. 262; 335 Abs. 2 VII) und die Erstellung eines Fragenkatalogs für die Vernehmungen (Art. 335 Abs. 4). In der Hauptverhandlung führt der Ministerio Público die Beweiserhebungen neben dem Verteidiger. Die Regelung für die Reihenfolge der Beweiserhebungen richtet sich nach dem Leitgedanken der Beweislast,148 sodass die Beweismittel zuerst von der Staatsanwaltschaft erhoben werden (Art. 395 Abs. 2). Für die Befragung von Zeugen sind beide Parteien zuständig (Art. 372 Abs. 1). Der Ministerio Público ist also in diesem entscheidenen Prozessstadium eine zentrale Figur und damit differenziert er sich grundsätzlich von seinem kontinentalen Pendant, dessen Funktion in dieser Verfahrensphase nur die Vertretung der Anklage ist (so in der deutschen StPO §§ 243 III, 226). Im Hintergrund dieser tragenden Rolle steht die Verankerung der akkusatorischen Strafprozessform im mexikanischen Grundgesetz (Art. 20, 1. Satz) und im neuen Bundesstrafprozessgesetz (Art. 4 Abs. 1) neben dem kontradiktorischen Prinzip, das mit der Parteistruktur kombiniert wird (Art. 6).149 Ferner ist wiederum im Grundgesetz (Art. 20 A V, 1. Satz150) und im neuen Strafprozessgesetz (Art. 130) die Rede von der „Beweislast“ des Anklägers für den Schuldnachweis im Strafprozess.151 Anders als im deutschen Strafprozessrecht wird in Mexiko das Thema Beweislast besonders betont und in der Literatur ausgeführt, v. a. im Verhältnis zu den Aufgaben der Verteidigung.152 Hervorgehoben wird der Umstand, dass eine Behauptung als Verteidigung nicht von der Beschuldigtenseite nachgewiesen werden muss. Es soll die Aufgabe des Ministerio Público im Rahmen seiner Beweislast sein, sie zu widerlegen. Allerdings wird es dabei als problematisch angesehen, dass die „teoría del 148
Vgl. Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Art. 395, S. 1110. 149 Vgl. supra, A. III. 1. 150 „La carga de la prueba para demostrar la culpabilidad corresponde a la parte acusadora, conforme lo establezca el tipo penal.“ 151 Vgl. dazu Carbonell/Caballero González, Código Nacional con jurisprudencia, Art. 130, S. 171 ff.; Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Art. 130, S. 338. 152 Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Art. 130, S. 338; Hernández Reyes, in: Carmona Castillo/Mafud Mafud (Hrsg.), Juicio oral penal, S. 91; Carbonell/Caballero González, Código Nacional con jurisprudencia, Art. 130, S. 171 ff.; Barroso Rojas, in: Carmona Castillo/Mafud Mafud (Hrsg.), Juicio oral penal, S. 419.
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
caso“153 der Verteidigung dabei vollständig ins Wanken gerät, wenn die Staatsanwaltschaft ihre Unglaubwürdigkeit nachweist. Letztendlich ist das aber ein Risiko, das die Verteidigung in ihrem Vorbringen letzten Endes immer zu tragen hat. ee) Die erwartete Waffengleichheit Besonders hervorgehoben bei den adversatorischen Strömungen in Lateinamerika wird das Prinzip der Waffengleichheit als Grundprinzip des Parteiprozesses. In Mexiko wird die prozessuale Gleichheit der Parteien (Anklage und Verteidigung) verfassungsrechtlich (Art. 20 A V, 2. Satz) und im CPPN (Art. 11) proklamiert. Dieser Grundsatz ist im adversatorischen System von großer Bedeutung für sein Konzept der Wahrheitsfindung im Sinne der Herstellung einer These und Gegenthese unter gleichen Bedingungen in der Verteilung der Prozessrollen. Besonders bei der adversatorischen Strömung Lateinamerikas wird als wesentliche Voraussetzung das sog. proceso acusatorio angesehen.154 Allerdings hat sich die Realität der adversatorischen Prozessstruktur im modernen Staat deutlich verändert im Vergleich zum ursprünglichen Verhältnis Staat-Bürger. Der konstante Ausbau der technischen und normativen Mittel der Polizei und Staatsanwaltschaft bedeutet heute eine deutliche Überlegenheit der Strafverfolgungsbehörden gegenüber den knappen Ressourcen der Verteidigung, die die Möglichkeit einer tatsächlichen Waffengleichheit in der Realität des Strafprozesses verhindern.155 ff) Rechtsstellung Was die Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft im mexikanischen Strafverfahren betrifft, genoss der Ministerio Público bis jetzt keine sachliche und persönliche Unabhängigkeit. Die Verfassung von 1917 übernahm aus den USA das Modell eines Generalstaatsanwalts, der im Namen des Präsidenten anklagte und ihm sowohl dabei als auch bei seiner Ernennung die erforderliche Unabhängigkeit absprach. Gemäß des früheren Art. 102 A der Verfassung ernannte die Exekutive die Staatsanwälte.156 In diesem Punkt blieb Mexiko lange Zeit ohne Reform, während die meisten Länder Lateinamerikas ein Ministerio público unabhängig von den drei Gewalten organisierte. Im Jahr 2016 wurde die Procuraduría General de la República (PGR) in die Fiscalía General de la República umgewandelt. Damit ist sie nicht mehr von der Exekutive abhängig, sondern sie ist nun ein autonomes Organ. Sie vertritt nicht mehr die Interessen des Bundes, sondern der Gesellschaft. Die Umstrukturierung erfolgte 153
Vgl. dazu supra, A. III. 4. Für den neuen mexikanischen Código vgl. Dagdug Kalife, Manual de Derecho procesal penal, Kapitel VIII.2.2.5, S. 503 und 2.2.13, S. 507 f. Ansonsten zum Beispiel Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. 168. 155 Zur Kritik mit Nachweisen vgl. infra, C. II. 2., auch supra, Kapitel 2 A. I. 1. a) dd). 156 Vgl. Dagdug Kalife, Manual de Derecho procesal penal, Kapitel IV.2.1.2., S. 223 f. 154
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durch eine Verfassungsreform (Art. 102, Reform vom 10. 10. 2014).157 Der Fiscal General wird für 9 Jahren ernannt. Der Bundesrat stellt eine Liste von 10 Kandidaten auf und legt sie der Exekutive vor. Diese wählt daraus drei Kandidaten aus. Die Exekutive kann den Fiscal General des Amtes entheben, aber dem kann von der Mehrheit des Bundesrats widersprochen werden (Art 102 Abs. A der mexikanischen Verfassung). Mit diesen Neuerungen orientiert sich Mexiko am Muster vieler lateinamerikanischen Länder, die einen autonomen Ministerio Público eingeführt haben. gg) Die Wirklichkeit Seit langem wird auf mögliche Korruption im mexikanischen Ministerio Público hingewiesen. Besonders problematisch war es im alten System, nachdem das von der Staatsanwaltschaft geführte Ermittlungsverfahren für die Urteilsfindung ausschlaggebend war. Man spricht von einer damaligen Übernahme der Partei- und Richterrolle seitens der fiscales und von einer rein passiven Stellung des Richters, der keine Kontrolle über ihr Handeln ausübte. Zugleich existierte oft eine Nachlässigkeit der Staatsanwaltschaft bei der Sammlung des Beweismaterials und bei der Durchführung der Beweiserhebungen, zum Beispiel durch Nichtbesuch des Tatorts, bei der Delegierung entscheidender Ermittlungsaufgaben, bei der Sicherstellung von Beweismitteln, bei der Benennung von Sachverständigen, durch Unkenntnis der Sachverständigengutachten, durch Abwesenheit und Delegierung bei den Hausdurchsuchungen und allgemein durch Unkenntnis der umfangreichen Ermittlungsprotokolle.158 Andererseits wird an der Einhaltung der Objektivitätspflicht des Ministerio Público gezweifelt, weil man sich bei dieser Behörde in Mexiko kaum vorstellen kann, dass sie im Interesse des Beschuldigten Entlastungsmomente berücksichtigen wird.159 c) Verletzter Das Interesse an der Gewährung einer eigenen Rechtsstellung des Verletzten im Strafprozess bestand bereits in der argentinischen grundlegenden strafprozessualen Literatur des letzten Jahrhunderts und verstärkte sich in den 80er Jahren im Zusammenhang mit der Abschaffung des Inquisitionsprozesses und mit den entsprechenden strukturellen Reformen. Diese Tendenz entsprach zeitlich der im deutschen Strafprozess zu verzeichnenden Strömungen, die den Akzent auf die Interessen des Verletzten verlagerten. Während das frühere Reformierte Strafverfahren und die 157
Vgl. dazu etwa Vasconcelos Méndez, Reforma procesal y Ministerio Público, S. 5 ff. Die Unzufriedenheit wird auch in der Fachliteratur geäußert, vgl. Benavente Chorres/ Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Arts. 128 – 131, S. 337, 341 f.; Rodríguez Vázquez, Lo especial del procedimiento abreviado, S. 167 f. 159 Dagdug Kalife, Manual de Derecho procesal penal, Kapitel IV.21.3., S. 224. 158
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Reichsstrafprozessordnung ihm allenfalls eine Randrolle zuschrieben, richteten sich nunmehr diese Tendenzen auf eine Stärkung der Verletztenbeteiligung im deutschen Strafverfahren.160 Ein Einfluß der europäischen Bewegung auf die lateinamerikanische Reform ist dabei nicht auszuschließen. Bereits der Código Procesal Penal Modelo para Iberoamérica von 1988, der eigentlich nicht ein Parteiprozess, sondern ein prinzipiell richterlich geführter Beweisprozess in Verbindung mit Beweisvorschlägen der Prozessbeteiligten war, sah die Figur des querellante vor (Art. 78 ff., 269). Die Idee der Anerkennung einer Rechtsposition für den Verletzten entstand im Zusammenhang mit einem kontinental-europäischen System der richterlichen Aufklärungspflicht in der Hauptverhandlung. Nun billigt der mexikanische Strafprozess mit seiner adversatorischen Hauptverhandlung der Figur der víctima oder ofendido eine Rolle als Prozessbeteiligter zu, was eigentlich Ausdruck eines kontinental-europäischen Prozessverständnisses ist. Die mexikanische Rollenverteilung geht dadurch über den herkömmlichen Rahmen des Parteiprozesses hinaus und entfernt sich in diesem Punkt vom amerikanischen System, das dem Opfer keine Parteirolle entsprechend zum Konzept des bipolaren Parteiverfahren zuschreibt.161 Eine so starke Anklagemacht durch zwei Akteure, nämlich die Staatsanwaltschaft und der Verletzte, gegenüber der Verteidigung entspricht nicht dem ursprüglichen Konzept des Parteiprozesses. Mit dieser Kombination von Elementen aus den zwei Prozessmodellen schafft das mexikanische Verfahren aber ein deutliches Ungleichgewicht zu Ungunsten des Angeklagten. Dabei trägt auch ein weiterer Aspekt zur unterlegenen Stellung des Angeklagten bei, indem der mexikanische Richter Kenntnisse über die Ermittlungsakte besitzt (Art. 347 Abs. 2 CNPP), sodass eine unvoreingenommene richterliche Einstellung gegenüber dem Angeklagten nicht gewährleistet ist. Die Rahmenbedingungen sind hier wieder anders als im Parteiprozess mit einer Jury. Der Angeklagte findet sich isoliert gegenüber einer starken Gegenmacht wieder.162 Wenn man die Zuschreibung einer Prozessrolle an den Verletzten aus dem kontinental-europäischen Rechtskreis in ein adversatorisches System übernimmt, wird dabei unweigerlich das erforderliche Gleichgewicht unter den Prozessbeteiligten ins Schwanken geraten. Ein Parteisystem mit einer doppelt besetzten Anklägerrolle gegenüber den Singulärkräften der Verteidigung, ohne dass das Gericht die Verantwortung für die Vollständigkeit der Beweiserhebungen übernimmt, stellt eine für den Angeklagten ungünstige Modellkombination dar. Die Einführung einer naturgemäß einseitigen Prozessrolle für den Nebenkläger ist nur insoweit berechtigt, solange diese Verstärkung der Anklageposition durch richterliche Beweiserhebungen mit dem Ziel der Auffindung der materiellen Wahrheit kompensiert wird. Aber ein Parteisystem wie im mexikanischen neuen Strafprozess kann diesen Ausgleich 160 Darüber zum Beispiel Weigend, Deliktsopfer, S. 96 ff.; Rieß, JR 2006, 276; zuletzt kritisch Anders, ZStW 129 (2017), 83. 161 Vgl. Lagodny, ZStW 113 (2001), 814 mit Nachweisen. 162 Dazu vgl. Schünemann, Función y límites del proceso acusatorio.
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nicht anbieten. Gegenüber der von der víctima oder ofendido angebotenen Beweiserhebung (Art. 338 Abs. 3 CNPP) muss sich die Verteidigung notgedrungen mit eigenen Mitteln und Möglichkeiten wehren. Zugleich sind die Ziele einer Stärkung der Rechtsstellung des Verletzten in der Regel nicht mit der umfassenden Aufklärung der Tatschuld verbunden, sondern stellen die Kompensation der Tatfolgen in den Vordergrund.163 Der deutsche Nebenkläger hat heutzutage ebenfalls einige Rechte, allerdings ist seine Rechtsstellung bereits aufgrund der richterlichen Aufklärungspflicht nicht so ausgeprägt wie beim mexikanischen Pendant (Art. 109 ff., 338 CNPP). Der mexikanische Beistand des Opfers (asesor jurídico de la víctima) ist in seiner Rechtsstellung ausdrücklich dem Verteidiger gleichgestellt (Art. 110 Abs. 4 CNPP), während eine solch vollständige Angleichung beim deutschen Nebenkläger nicht besteht. Die in Lateinamerika verbreitete Bezeichnung víctima oder ofendido ist ohnehin für die Prozessrolle nicht angebracht, nachdem diese Eigenschaft zunächst gerade nicht feststeht, sondern erst durch das Urteil zugesprochen wird. d) Verteidigung Ein Kennzeichen des neuen mexikanischen Strafprozessrechts, aber überhaupt im adversatorischen System ist das Streben nach Kontradiktion durch eine erwünschte aktive Teilnahme der Verteidigung bereits im Ermittlungsverfahren.164 Auch in der Hauptverhandlung führt sie neben der Staatsanwaltschaft die Beweiserhebungen.165 Diese erhöhte Verantwortung der Verteidigung ist auf die Konzeption des adversatorischen Verfahrens zurückzuführen. Das Gericht nimmt eine passive Stellung an und die Parteien üben die Herrschaft über das Beweisverfahren aus, zumal die Präsentation einer fundierten teoría del caso jeder Partei („prosecution case“ und „defensive case“) von den Techniken des Prozessstreits oder Prozessführung (trial technikes) bestimmt wird. Anders als das herkömmliche adversatorische System hat man die hohen Anforderungen an die Verteidigerrolle in Mexiko dadurch etwas relativiert, indem dem Ministerio Público eine Objektivitätspflicht auferlegt wurde. Damit soll in der Theorie das Herausschälen und Beachten von Entlastungsmomenten nicht nur auf die Zuverlässigkeit eines Verteidigers angewiesen, sondern auf eine weitere Instanz verteilt und so mit Sicherungen versehen sein.
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Zuletzt Anders, ZStW 129 (2017), 83. Bezüglich des Verteidigers im kontinentaleuropäischen System siehe supra, A. II. 2. c). Über die Möglichkeiten der Mitwirkung der Verteidigung im amerikanischen Strafprozess vgl. Kadisch/Schulhofer, Criminal Law and its processes, Chapter 1 D 2.1.; ferner Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Art. 127, S. 334 f. 165 Anders als in der „inquisitorisch“ ausgeführten Hauptverhandlung, dazu Dagdug Kalife, Manual de Derecho procesal penal, Kapitel VIII.2.2.4., S. 503. 164
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
e) Gerichtliche Aufgaben aa) Im herkömmlichen adversatorischen System Im parteizentrierten Beweisverfahren wie in der englischen und nordamerikanischen Hauptverhandlung besitzt das Gericht keine führende Position, sondern eine Kontrollfunktion. Eine Parallele mit der Aufklärungspflicht des deutschen Richters zu ziehen166 wäre unzutreffend. Es besteht auch nicht eine Annäherung beider Verfahrenssysteme aufgrund der korrigierenden oder ergänzenden richterlichen Maßnahmen zum Abschluss des adversatorischen Beweisverfahrens. Der zentrale Unterschied liegt in der andersartigen Herrschaft über das Beweisverfahren zur Sachverhaltsaufklärung. In dieser ursprünglichen Form des adversatorischen Systems bestehen die richterlichen Möglichkeiten, bei beweisrechtlichen Angelegenheiten einzugreifen, grundsätzlich in der Kontrolle der Zulässigkeit der Beweismittel. Anders als moderne internationale Mischformen des Strafverfahrens konzentrieren sich traditionellerweise im common law die Befugnisse des Gerichts in der Regel auf die Prüfung der Zulässigkeit von Beweisen nach den Beweisausschlussregeln, sei es nach Anträgen bzw. Einwänden der Parteien oder von Amts wegen. Darüber hinaus und auch wenn nicht immer praktiziert, ist für den angloamerikanischen Berufsrichter die Möglichkeit für Ergänzungen bzw. Korrekturen bei den Beweiserhebungen nicht ausgeschlossen. Diese Konstellation kann sich im Rahmen des Gerichtsermessens und als Ausnahme bis zum Zeitpunkt des Zurückziehens der Jury ergeben, v. a. wenn es sich etwas Unerwartetes im Prozess ergibt. Eine etwaige richterliche Initiative in der Hauptverhandlung müsste sich aber auf die Beseitigung von Unklarheiten, Widersprüchen und Lücken beschränken. Hinweise an die Parteien wären statthaft, sei es über die Erforderlichkeit einer Beweismaßnahme, über die Überflüssigkeit von Beweismitteln, als auch über die erforderliche Verständlichkeit der Beweisaufnahme.167 Solche Eingriffsmöglichkeiten hätten in einem kontinentaleuropäischen Strafverfahren ein anderes Gewicht für die Sachverhaltsermittlung, weil der Richter dort selbst das Beweisverfahren aktiv betreibt. Weil im adversatorischen Verfahren die Sachverhaltsaufklärung Aufgabe des Anklägers und hinsichtlich entlastender Umstände ggf. zusätzlich der Verteidigung ist, wird ein aktiver Richter eigentlich als unerwünschte Einmischung in das von den Parteien zu gestaltende Beweisverfahren angesehen. Zu seiner Prozessrolle gehört die Neutralität, die durch ein „descending into the arena“ nicht verlassen werden sollte. Es wird im common law von der Richterfigur Zurückhaltung und Umsichtigkeit bei der
166 Vgl. dazu Herrmann, Reform, S. 299 mit Nachweisen. Für die allgemeine Gegenüberstellung zwischen einem kontinental-europäischen und einem adversatorischen Strafverfahren vgl. die Fundstellen supra, dieses Kapitel 8, Fn. 1. 167 Vgl. dazu Herrmann, Reform, S. 304, 306, 312 für die englische, S. 320 ff. für die amerikanische Hauptverhandlung mit Nachweisen; zuletzt Anders, ZStW 129 (2017), 105.
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Beweisaufnahme verlangt, egal ob es sich um entlastende oder belastende Beweise handelt.168 In der Praxis zeigt sich eine besondere richterliche Passivität v. a. in den USA, allerdings scheint das je nach Bundesstaat und nach Person des Richters zu differieren, wobei die Bundesgerichte mehr korrigierend eingreifen würden.169 Maßnahmen werden auch in Großbritannien selten ergriffen, sodass es geschehen kann, dass ein Zeuge von keiner Partei und auch nicht vom Richter aufgerufen wird. Auch die Reaktion des Kontrollgerichts für den eher seltenen Fall eines aktiven richterlichen Verhaltens in der Hauptverhandlung kann unterschiedlich ausfallen. In jedem Fall ist eine Beeinflussung der Geschworenen über die Schuldfrage durch den Richter unzulässig.170 Auch wenn der Berufsrichter Zusatzmaßnahmen im Beweisverfahren ergreifen würde, ist die Entscheidung über die Schuldfrage im angloamerikanischen System eine Aufgabe der Jury. Damit verfügt das Entscheidungsorgan über keine Möglichkeiten, bei den Beweiserhebungen korrigierend oder ergänzend einzugreifen. In diesem Punkt bietet der mexikanische Strafprozess eine bessere Gestaltung der Beurteilungsgrundlage, weil das erkennende Gericht das Urteil fällt. bb) Im lateinamerikanischen Raum, insbesonders in Mexiko Das Zusammenspiel zwischen der Beweisführung der Parteien und der möglichen richterlichen Befugnis zur Beweiserhebung von Amts wegen in der Hauptverhandlung kann unterschiedliche Formen aufweisen. Die lateinamerikanische Literatur beschäftigt sich mit diesem Thema im Zusammenhang mit dem Prinzip der „imparcialidad“ (Unbefangenheit bzw. Unparteilichkeit) des Richters und dem Kontradiktionsprinzip, denen es eine herausgehobene Bedeutung für die Bestimmung der Strafverfahrensstruktur zuschreibt.171 Inzwischen bevorzugt die herrschende Meinung eine maximale Einschränkung der richterlichen Beteiligung an den Beweiserhebungen. Es wird also in der Literatur und Gesetzgebung das Bild eines passiven Richters vorgezogen, sodass sein Aufgabenbereich als auf die leitenden Funktionen und Klärung der strafprozessualen, formellen Fragen reduziert angesehen wird. In diesem Sinne wird die Zeugenbefragung nicht in seinem Auf168
Vgl. Dennis, The law of evidence, Kapitel 13 B (13.3, 13.4), S. 524 f. mit Nachweisen auch der Rechtsprechung. Vgl. ferner zu diesem Thema supra, Kapitel 2 A. II. 3.; infra, dieses Kapitel 8 C. II. 2. 169 So Weigend, Festschrift für Rissing-van Saan, S. 760 f. mit Nachweis; der zugleich der Bezug auf einem vollkommen passiven Richter im Beweisverfahren des angloamerikanischen Systems ablehnt und seine aktiven ergänzenden Möglichkeiten betont. Ferner Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 180, Fn. 147 mit Nachweis. 170 Vgl. Dennis, The law of evidence, Kapitel 13 B (13.4.), S. 524 f.; ferner Herrmann, Reform, S. 323 ff. für USA, S. 308 f. für England, über einen aktiveren englischen Richter S. 306 f., aber auch über den nicht aufgerufenen Zeugen S. 313. 171 Vgl. dazu supra, Kapitel 5 mit Nachweisen.
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
gabenfeld verortet bzw. es wird ihm allenfalls die Möglichkeit klärender oder ergänzender Fragen zum Abschluss gewährt. Es wird teilweise sogar argumentiert, dass eine aktive richterliche Betätigung in den Beweiserhebungen der Hauptverhandlung die Wahrheitsfindung verhindern oder zumindest erschweren könnte, weil die Sachverhaltserforschungen sich nur in eine Richtung ziehen würden, nämlich in die vom erkennenden Richter vorgezogene Hypothese.172 In den lateinamerikanischen Strafprozessgesetze bestehen diesbezüglich verschiedene Regelungsmöglichkeiten. Auf der einen Seite stehen die Systeme, die den Beweis von Amts wegen ausdrücklich vollständig ausschließen, so wie in Kolumbien (Art. 361173), Panama (Art. 348174) oder Bolivien (Art. 342 Abs. 3175). Bei einem zweiten Modell wird die richterliche Beweiserhebung im Gesetz nicht vorgesehen, so wie in Chile (Art. 328 Satz 2176 für die Beweise der Parteien), Nicaragua (Art. 317 für die Beweise der Parteien im Einklang mit Art. 10177) oder Ecuador, wo Art. 301, der unter „weitere Beweise“ die Beweiserhebung von Amts wegen vorsah, im Jahr 2009 aber abgeschafft wurde. Das dritte Modell räumt die Befugnis des erkennenden Gerichts zu eigenen Beweiserhebungen im Strafprozessgesetz als eine Ausnahme an, so wie im Strafprozessgesetz Perus (Art. 155 Nr. 3178; Art. 385 Nr. 2179), Venezuelas (Art. 359180) oder Honduras (Art. 333181). Ein viertes Modell 172 Vgl. statt aller Guzmán, La verdad en el proceso penal, S. 177 f. zum Konsens in der Literatur über eine minimale Beteiligung des erkennenden Richters und S. 189 zur richterlichen Hypothese. 173 Art. 361 CPP Kolumbien: „En ningún caso el juez podrá decretar la práctica de pruebas de oficio.“ Nach der Rechtsprechung handelt es sich um den Richter der Hauptverhandlung, während es dem Ermittlungsrichter die Erhebung eigener Beweise möglich ist, vgl. Urteil des kolumbianischen Bundesverfassungsgerichts (Corte Constitucional) C-396-07 von 23. 5. 2007. 174 Art. 348 CPP Panama: „El juez de Garantías y el Tribunal de Juicio no podrán decretar, en ningún caso, pruebas de oficio“. 175 Art. 342 Abs. 3 CPP Bolivien: „En ningún caso el juez o tribunal podrá … producir prueba de oficio“. 176 Art. 328 Satz 2: „Cada parte determinará el orden en que rendirá su prueba, correspondiendo recibir primero la ofrecida para acreditar los hechos y peticiones de la acusación y de la demanda civil y luego la prueba ofrecida por el acusado respecto de todas las acciones que hubieren sido deducidas en su contra.“ 177 Art. 317 Satz 1 CPP Nicaragua: „En cualquier tiempo antes de iniciar los alegatos conclusivos, las partes podrán formular por escrito y presentar al juez propuestas de instrucciones adicionales al jurado …“; Art. 10: „… los jueces no podrán proceder a la investigación, persecución ni acusación de ilícitos penales“. 178 Art. 155 Nr. 3 CPP Peru: „La Ley establecerá, por excepción, los casos en los cuales se admitan pruebas de oficio“; zugunsten dieser Lösung Nietzsche Ibarra Delgado, ¿Acaso la iniciativa probatoria del Juez Penal en el NCPP vulnera el „Principio Acusatorio“?, S. 355 ff. 179 Art. 385 Nr. 2 CPP Peru: „El Juez penal, excepcionalmente, una vez culminada la recepción de pruebas podrá disponer de oficio o a pedido de la parte, la actuación de nuevos medios probatorios si en el curso del debate resultasen indispensables o manifiestamente útiles para esclarecer la verdad. El juez penal cuidará de no reemplazar por este medio la actuación propia de las partes.“
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schließt die richterliche Beweiserhebung von Amts wegen neben den Beweisvorschlägen der Prozessbeteiligten ein, so wie der immer wieder in Lateinamerika als inquisitorisch abgestempelte und für den Bund heute noch geltende argentinische „Código Levene“ (Arts. 356 Abs. 2 Satz 2; 357 Abs. 1 und 388182). Auch das brasilianische Strafprozessgesetz fügte im Jahr 2008 die richterliche Befugnis ein und gehört damit auch zu dieser vierten Kategorie (Art. 156 II183). Das neue Bundesstrafprozessgesetz Mexikos orientiert sich an der chilenischen Lösung, nach der nur die Beweiserhebungen der Parteien ausdrücklich vorgesehen sind und über die Möglichkeit richterlicher Beweiserhebungen von Amts wegen nicht die Rede ist. Für die Annahme einer solchen richterlichen Befugnis könnte man zu Recht auf die Argumente zurückgreifen, die in der Literatur für die richterliche Abschlussbefragung in den Vernehmungen (Art. 372 Abs. 2 Satz 3) angeführt werden.184 Das Ziel der Erforschung der „realen“ Wahrheit steht nämlich im Vordergrund des Strafprozesses nach Art. 20 A I Grundgesetz185 und so wie der Richter aus diesem Grund zu Abschlussfragen befugt ist, sollte man ihm nicht die Möglichkeit nehmen, eigene Beweise zu erheben, die die Parteien vernachlässigt oder willentlich auf der Seite gelassen haben. Auch bei Anwendung grundlegender adversatorischer Prinzipien wie die Unparteilichkeit des Richters, die Kontradiktion und der prozessuale Ausgleich, die von der mexikanischen Rechtsprechung in Zusammenhang mit der Frage nach dem richtigen Handeln des Richters aufgeführt werden, sollte das Gericht eine Befugnis für eigene Beweiserhebungen besitzen. Mit den Worten der Rechtsprechung „kann sich der Richter nicht als bloßer Beobachter 180 Art. 359 COPP (Código Orgánico Procesal Penal) Venezuela: „Excepcionalmente, el tribunal podrá ordenar, de oficio o a petición de parte, la recepción de cualquier prueba, si en el curso de la audiencia surgen hechos o circunstancias nuevos, que requieren su esclarecimiento. El tribunal cuidará de no reemplazar por este medio la actuación propia de las partes.“ 181 Art. 333 CPP Honduras: „Diligencias para mejor proveer. Durante el juicio, solamente podrán evacuarse los medios de prueba oportunamente propuestos por las partes. El Tribunal podrá, sin embargo, a petición de parte o de oficio, ordenar que se practiquen otras pruebas si durante el juicio se ha puesto de manifiesto la omisión de un elemento de prueba importante antes no conocido. Dichas pruebas podrán ser ordenadas también por el Juez en la audiencia inicial.“ 182 Art. 356 Abs. 2 Satz 2 CPP Nación Argentina: „Admisión y rechazo de la prueba. … Si nadie ofreciere prueba, el presidente dispondrá la recepción de aquella pertinente y útil que se hubiere producido en la instrucción“; Art. 357 Abs. 1: „Instrucción suplementaria. Antes del debate, como noticia de las partes, el presidente, de oficio o a pedido de parte, podrá ordenar los actos de instrucción indispensables que se hubieren omitido o denegado o fuere imposible cumplir en la audiencia …“; Art. 388: „Nuevas pruebas. Si en el curso del debate se tuviera conocimiento de nuevos medios de prueba manifiestamente útiles, o se hicieren indispensables otros ya conocidos, el tribunal podrá ordenar, aún de oficio, la recepción de ellos.“ Kritisch dazu zum Beispiel Binder, Proyecto de Código Procesal Penal de la Nación, S. 28 f. 183 Art. 156 CPP Brasil: „A prova da alegação incumbirá a quem a fizer, sendo, porém facultado ao juiz de oficio: … II. determinar, no curso da instrução, ou antes de proferir sentença, a realização de diligências para dirimir dúvida sobre ponto relevante.“ 184 Dazu Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, S. 1094 ff. 185 Vgl. dazu supra, A. III. 2.
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des Parteihandelns, aber auch nicht als Hauptperson und damit als Hindernis für die Parteien, ihre Rechte im Beweisverfahren frei auszuüben, verhalten.“ „Er ist aber das Hauptsubjekt im prozessualen Dreieck, der für den konstanten Ausgleich zwischen den Parteien als Kennzeichen der Adversarialität und des Akkusationssystems sorgen muss.“ Damit „darf er nicht gleichmütig bei einem mangelhaften oder tendenziösen Handeln der Parteien bleiben, aber er darf auch nicht ihre Rechte bezüglich der Beweiserhebungen entgegen das Prinzip der Unparteilichkeit manipulieren oder bei ihrer Ausübung interferieren.“186 Auf jeden Fall und im Einklang mit dem Ziel der materiellen Wahrheitsfindung, das im Strafprozess Mexikos verankert ist, sollte es nicht zur kolumbianischen Lösung kommen, derzufolge das Gericht die von den Parteien mit oder ohne Absicht vernachlässigten Beweismitteln nicht von Amts wegen erheben darf. 4. „Teoría del caso“ a) Die Darstellung der Sachverhaltsversion Um solche Strafprozessreformen in Lateinamerika zu erörtern, die einem direkten Einfluss des amerikanischen Verfahrens unterliegen, ist das Verständnis der teoría del caso von großer Bedeutung. Die trial techniques, also Techniken des Prozessstreits oder der Prozessführung (técnicas de litigación) und davon die relevanteste, die sog. theory of the case („prosecution case“ und „defensive case“), auf Spanisch teoría del caso, wurden aus dem amerikanischen Verfahrenssystem187 in den Großteil Lateinamerikas importiert. Allerdings findet diese Art der Verhandlungsführung nicht wie im US- amerikanischen Strafprozess vor einer Jury, sondern in Lateinamerika vor einem Richter statt. Mit teoría del caso bezeichnet man die Version des Staatsanwalts und des Verteidigers über das in Frage kommende Geschehen. Durch die Vorstellung konträrer Positionen und Debatte beider, d. h. durch das Kontradiktionsprinzip, werden die Richter in die Lage versetzt, die Beweiswürdigung vorzunehmen und die Grundlage für die richterliche Entscheidungsfindung und Urteilsfällung zu schaffen.188 Die 186 Urteil 160744 II.2o. P.272 P (9a.), Décima época, Tribunales Colegiados de Circuito, Semanario Judicial de la Federación y su Gaceta, Libro I, octubre de 2011, Tomo 3, S. 1754, vgl. dazu Carbonell/Caballero González, Código Nacional con jurisprudencia, S. 181. 187 Vgl. zum Beispiel Mauet/Easton, Trial Techniques, S. 24; Lubet, Modern Trial Advocacy, Kapitel 1 und passim; Skinner, Massachusetts District Criminal Defense Manual, Chapter 1, siehe auch Antzoulatos, Chapter 4. 188 So zum Beispiel González Obregón, Manual Práctico del juicio oral, XII A; dies., La teoría del caso en el procedimiento penal mexicano, S. 148. Über die zahlreiche Literatur vgl. in Chile: Baytelman/Duce, Litigación penal, S. 33; auch die weiteren ersten Beiträge in Mexiko: Nataren Nandayapa/Ramírez Saavedra, Aspectos relevantes de la litigación oral; Casanueva Reguart, Juicio Oral, S. 122; Nataren Nandayapa/Ramírez Saavedra, Litigación oral, S. 74; Bardales Lazcano, Guía para el estudio del sistema acusatorio en México, S. 200; Elías Ur-
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Aufstellung einer Version des Geschehens nicht nur durch den Staatsanwalt, sondern insbesonders durch den Verteidiger wird als ein wesentlicher Aspekt des amerikanischen Strafprozesses angesehen. So findet man eine ausführliche Darstellung der teoría del caso des Verteidigers in den entsprechenden Abhandlungen und Ausbildungskursen, und zwar nicht nur als mögliche Strategie des Verteidigers, sondern quasi als Teil des Strafverfahrensrechts. Betont wird bei der theory of the case die Erforderlichkeit „to persuade“ und die Vorbereitung einer „story“ sowohl durch den Staatsanwalt, als auch durch den Verteidiger: „What is a ,theory oft he case‘? Your theory of the case is simply a logical, persuasive story of ,what really happened‘. It must be consistent with the credible evidence and with jury’s perception of how life works.“189 „Trials … are held in order to allow the parties to persuade the judge or jury by recounting their versions of the historical facts. Another name for this process is storytelling. Each party to a trial has the opportunity to tell a story, albeit through the fairly stilted devices of jury address direct and cross examination, and introduction of evidence …The content of the stories – their plot and mise-en-scene – ist governed, of course, by the truth, or at least by so much of the truth as is available to the advocate. Thereafter, the party who succeeds in telling the most persuasive story should win.“190
Die teoría del caso wurde in Lateinamerika in den Strafprozessreformen übernommen, die dem chilenischen Modell folgen – also solche, die dem US-amerikanischen System sehr ähneln. Was eigentlich bloß eine mögliche Technik des mündlichen Diskurses (técnica de litigación oral) sein sollte, verwandelte sich in ein Haupthema des Strafprozesses, sogar unter Einbeziehung des ganzen materiellen Strafrechts. Dabei spricht man über „trama para la obra, que es el juicio“ (das Drehbuch für das Werk, das der Prozess ist) und über die Komponenten der „trama“ (Drehbuch): „personajes, escenarios, elementos temporales, acción, sentimientos“ (Figuren, Szenarien, zeitliche Elemente, Handlung, Gefühle).191 Diese Sachverhaltsversion wird im angloamerikanischen System der Laienjury, die der Verbrechenslehre nicht kundig ist, präsentiert. Allerdings findet der Prozess in Lateinamerika vor keiner Jury, sondern vor Berufsrichtern (die gegebenenfalls von Schöffen begleitet sind) statt, womit der Sinn der vereinfachten Darstellung, die eine solche Tatsachendarstellung anbietet, auf den ersten Blick desavouiert wird. Die teoría del caso besteht aus drei Teilen: dem Sachverhalt, den Beweis und die rechtliche Grundlage, die eigentlich auch die Verbrechenslehre beinhaltet. Damit quides, Teoría del caso y elementos substanciales del delito, S. 58 ff.; Ruiz Sánchez, La teoría del caso y los alegatos en los juicios orales, S. 56. 189 Mauet/Easton, Trial Techniques, S. 491. 190 Lubet, Modern Trial Advocacy, Kapitel 1 und 13. 191 Mccullough, Teoría del caso. Dazu auch Pastrana Berdejo/Benavente Chorres, El juicio oral, S. 153; für die Erforderlichkeit der emotionalen Komponente Higa Silva, Litigación, argumentación y teoría del caso, S. 25.
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umfasst sie einen enorm weit gefächerten Bereich, der vom gesamten materiellen bis zum formellen Strafrecht geht. Teilweise wird sogar behauptet, dass die Verbrechenslehre durch die mexikanische Verfassungsreform von 2008 „vernichtet“ und durch die Theorie des Beweises und der Beweiswürdigung ersetzt wurde.192 Kritisch gegenüber der teoría del caso steht beispielsweise Moreno Hernández, demzufolge der Leitgedanke der von ihm sog. „neoprocesalistas“ der lateinamerikanischen Reform von folgender Prämisse ausgeht: „Wer über die Techniken des Prozessstreits nichts weiß, kann die Theorie nicht beherrschen“.193 Die ersten Reformimpulse in Lateinamerika übernahmen die teoría del caso noch nicht. Bedeutende lateinamerikanische Abhandlungen beschäftigten sich nicht mit der teoría del caso. Bei den Strafprozessreformen in Zentralamerika (Guatemala 1992), Costa Rica (1996) und El Salvador (1997), die vor der chilenischen Reform stattfanden, findet man den Bezug auf die teoría del caso noch nicht. Erst die Strafprozessreform von Chile, die vom Vorbild des nordamerikanischen Systems inspiriert wurde, hebt die teoría del caso grundlegend hervor.194 Entsprechend wurde diese Theorie auch in Kolumbien in die Strafprozessordnung eingefügt.195 In Mexiko fügte man die teoría del caso zuerst im Código des Bundesstaates Durango196 ein, der der kolumbianischen Regelung folgte. In beiden Gesetzgebungen wurde die Anklage der Staatsanwaltschaft und der Schriftsatz der Verteidigung mit der teoría del caso
192 Vgl. Dondé Matute, in: Nava Garcés (coord.), Dogmática penal, S. 1 ff. Kritisch dazu Coaña Be, Teoría del caso en México, S. 5, 8. 193 Vgl. Moreno Hernández, La relación entre el Derecho Penal y el Derecho Procesal Penal, S. 351, der sich kritisch auf die Aussage bezieht: „quien no sabe litigación no puede hacer teoría“. Für solchen Aussagen vgl. die Impulsgeber der chilenische Strafprozessreform: Baytelman/Duce, Litigación penal, S. 10: „Si un juez … no conoce las dinámicas de litigación con cierta profundidad, sus posibilidades de tomar decisiones en frente de las cuestiones normativas – de admisibilidad, de credibilidad o de legalidad – se ven seriamente mermadas. Un juez que no sabe de litigación – litigante, juez o profesor de derecho – simplemente elabora teorías abstractas, intelectuales, que no responden a la realidad, a los problemas y a los valores para que los que dichas normas fueron disenadas. Y con demasiada frecuencia esto – en América Latina lo sabemos bien – desnaturaliza el proceso, lleva a lecturas lineales y literalistas de las normas, equivoca las interpretaciones, genera requisitos absurdos o bien los estima satisfechos con cumplimientos puramente formales. Finalmente, terminamos entregando la comprensión de nuestras instituciones procesales-penales a la Real Academia Española de la Lengua, o a la esclavitud de aburdos silogismos, categorizaciones, excesos conceptuales y fetichismos teóricos, que privilegian que dichas teorías, sean consistentes y redondas‘, aun cuando ellas solo arrojen más sombra que luz a nuestro uso de las normas procesales“; auch so für Kolumbien Velázquez, in: Velázquez/Félix Cárdenas/López Saure, Dogmática jurídico-penal, S. 117 ff. 194 Vgl. Blanco Suárez et. al., Litigación estratégica, S. 17 ff., 24 ff. 195 Art. 371: „Declaración inicial. Antes de proceder a la presentación y práctica de las pruebas, la Fiscalía deberá presentar la teoría del caso. La defensa, si lo desea, podrá hacer lo propio“. 196 Art. 380, Abs. 4: „Enseguida, concederá la palabra al Ministerio Público para que exponga su acusación o teoría del caso y, posteriormente, se ofrecerá la palabra al defensor, quien podrá exponer los fundamentos en que base su defensa o teoría del caso“.
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gleichgesetzt und damit entstehen Unklarheiten.197 In der Folge regelte auch der Primer Código für den Bundesstaat Puebla die teoría del caso.198 Für die Strafprozessordnungen der Bundesstaaten Quintana Roo und Aguascalientes gibt es keinen akkusatorischen Prozess ohne teoría del caso.199 Der Bundesstaat Sinaloa hat ein Zusammenhang zwischen dem Einspruch und der teoría del caso gezogen, sodass der Einspruch ihrer Kontrolle oder Schutz dienen würde.200 Ferner benennen weitere Bundesstaaten die teoría del caso in den Strafprozessordnungen nicht, sondern beziehen sich nur auf die Stellungnahme des Verteidigers („indique su posición“).201 Erfreulicherweise hat der Código Nacional abgesehen, auf eine teoría del caso Bezug zu nehmen. Auf die teoría del caso wird aber nicht nur in der Gesetzgebung Bezug genommen. Die anschließenden Reformen und die entsprechende Ausbildung der Akteure besteht grundsätzlich darin, die Techniken des Prozessstreits bzw. die Verteidigungsund Anklagestrategien zu erlernen. Insbesondere gehört die teoría del caso im Rahmen der Technik der Streit (técnicas del litigio) zu den Ausbildungsprogrammen und Prüfungen der SETEC (Secretaría Técnica del Consejo de Coordinación para implementación del sistema de justicia penal). Sie wird in Kursen, Seminaren, auf Kongressen und schon im Universitätsstudium von Spezialisten für das Thema ge197 Kritisch zur Verwechslung von alegato de apertura (ein Eröffnungsplädoyer) und teoría del caso Hidalgo Murillo, Investigación Policial y teoría del caso, S. 59, 65. 198 Art. 413: el juez „en seguida, concederá la palabra al Ministerio Público para que exponga su acusación o teoría del caso y, posteriormente, se ofrecerá la palabra al Defensor, quien podrá exponer los fundamentos en que base su defensa o teoría del caso“. 199 Art. 168 des CPP von Quintana Roo: „entenderá por teoría del caso a la actividad intelectual de construcción, revisión y confirmación de una versión central que el Ministerio Público o el acusador privado o la defensa hacen sobre los hechos de relevancia penal, extraída de la conjunción de las hipótesis fáctica, jurídica y probatoria, a cuya guía se articularán sus actuaciones y estrategias a desarrollar respecto al caso concreto, en las distintas audiencias de la fase preliminar o de preparación, y sobre todo en la audiencia de juicio oral, la cual se expondrá de acuerdo con el objetivo de la audiencia, explicativamente y con propósitos persuasivos ante el juez de control o el Tribunal de juicio oral.“ Art. 170, Abs. 2: „El defensor, en cambio, podrá optar por la construcción de una teoría del caso alternativa o elegir una defensa negativa; pero en todo caso, de elegir la primera o combinar ambas modalidades, sus peticiones y argumentos deberá orientarlos de un modo coherente y verosímil a su teoría del caso“. Art. 369 des CPP von Aguascalientes: „una vez abierto el debate, el juez concederá la palabra al Ministerio Público, a la víctima u ofendido y su asesor jurídico, para que expongan su teoría del caso de acusación a través del alegato de apertura (…) Posteriormente, se ofrecerá la palabra al defensor para que exponga su teoría del caso de defensa“. 200 Art. 359 des CPP von Sinaloa: „por objeciones se entiende todo medio de control o de protección de la teoría del caso que tienen las partes en el proceso y que está dirigida a evitar actuaciones o manifestaciones ilegales o impropias de la parte contraria, en la formulación de alegatos de apertura, durante los interrogatorios y contrainterrogatorios, en los alegatos de clausura, en los actos tendentes a la ilegal admisión e incorporación de la prueba en juicio y en todo aquello que se traduzca en una violación a los principios rectores del proceso“. 201 So Oaxaca, Art. 362; Zacatecas, Art. 391; Chihuahua, Art. 358; Estado de Mexiko, Art. 364; Baja California, Art. 358; Morelos, Art. 353.
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lehrt.202 Dieser Schwerpunkt in der praktischen Schulung der Anwälte im angloamerikanischen System kann in seinen Ursprüngen auf die rein praktische Ausbildung der englischen lawyers (sog. barrister) in den Inns of Court bzw. den Anwaltskammern bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgeführt werden. Die Kammer hatten nicht nur eine Aufsicht- und Kontrollfunktion, sondern insbesondere die Aufgabe der Ausbildung unter Zuverfügungstellung von Bibliotheken, Arbeitsund Schlafräumen für die Anwälte. Heutzutage ist ein juristisches Studium keine Voraussetzung für die Anwaltszulassung. Währendessen fand die juristische Grundausbildung im kontinentaleuropäischen System immer bei Gelehrten und an Universitäten statt.203 Zugleich beschäftigt sich die Literatur intensiv mit diesem Thema.204 So sieht Binder die teoría del caso als sehr bedeutend und aufbaufähig, in dem er sie möglicherweise als den núcleo de la litigación, also den Nukleus im adversatorischen System begreift und sich dessen weitere Ausarbeitung, Verbreitung und eine sprachliche Adaption auf die neuen prozessualen Wirklichkeiten wünscht.205 Die Einzelheiten der teoría del caso werden in der allgemeinen Literatur, aber auch in den strafprozessualen Kommentaren dargelegt. So wird zum Beispiel der richtige Zeitpunkt für das Vorbringen der teoría del caso vor dem Gericht erörtert, wozu keine einhellige Meinung bzw. Regelung besteht. Unter anderen Gelegenheiten nennt man vor allem den alegato de apertura und alegato final.206 Allerdings betont man die Erforderlichkeit der Erarbeitung einer teoría del caso bereits ab den ersten Ermittlungen gegen den Beschuldigten.207
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Vgl. dazu kritisch Hidalgo Murillo, Investigación Policial y teoría del caso, S. 60. Vgl. Billis, Die Rolle des Richters, S. 43; über die Inns of Court vgl. Hennings/Horst/ Kramer, Die Stadt als Bühne, S. 316. 204 Von der zahlreichen Literatur zum Beispiel: Hidalgo Murillo, Investigación policial y teoría del caso, auch wenn kritisch in weiteren Werken, s. oben; ders., Hacia una teoría del caso mexicana; Higa Silva, Litigación, argumentación y teoría del caso; Benavente Chorres, La aplicación de la teoría del caso; Jiménez Martínez, El aspecto jurídico de la teoría del caso; Moreno Holman, Teoría del caso; Casarez Zazueta/Guillén López, in: Gálvez Esparza u. a. (coords.), Memorias del V Coloquio; Osorio y Nieto, Teoría del caso y cadena de custodia; Ortiz Ruiz, Teoría del caso; Espinoza Bonifaz, Estrategias de litigación penal: Teoría del caso, vgl. weitere Nachweise supra, Fn. 188. 205 Binder, Vorwort in Moreno Holman, Teoría del caso. 206 Vgl. zum Beispiel Casanueva Reguart, Juicio Oral, S. 122; Nataren Nandayapa, a. a. O., S. 74 ff. 207 Vgl. zum Beispiel Benavente Chorres, La aplicación de la teoría del caso, S. 33 f. 203
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b) Kritische Betrachtung aa) So scheint die teoría del caso zumindest in einigen Ländern wie in Mexiko allgegenwärtig zu sein.208 Bereits einige Formulierungen sind besonders auffällig: Es gäbe bereits Experten für die teoría del caso; das akkusatorische System wäre nicht zu verstehen, wenn man die teoría del caso nicht verstanden hat; ein Strafprozess ohne eine gute teoría del caso wäre nicht möglich zu „gewinnen“.209 Die Beförderung der teoría del caso in das Zentrum des Verfahrens und die Zurückstufung der Tataufklärung durch ein ordentliches Beweisverfahren in den Hintergrund verfehlt die 2008 in die Verfassung eingeführten Zwecke des Strafverfahrens, die nun auch der Código Nacional festlegt (Art. 2): die Tataufklärung, der Schutz des Unschuldigen, die Bestrafung des Schuldigen und die Schadenswiedergutmachung (Art. 20 A I).210 bb) Besonders problematisch ist, dass man sich mit der Bezeichnung teoría del caso auf verschiedene Kategorien oder Strukturen eines Rechtssystems bezieht (bzw. sich mit denen identifiziert), die eigentlich schon längst eigene Fundamente und Inhalte gehabt haben. So entsteht öfters eine Verquickung zwischen der teoría del caso und dem Sachverhalt, der Straftat, der Verbrechenslehre oder prozessrechtlichen Schritte wie dem alegato de apertura (Eröffnungsplädoyer) und der staatanwaltschaftlichen Anklage. Auch ensteht eine Vermischung der teoría del caso mit prozessualen Voraussetzungen, wie der dringende Tatverdacht bei der Festnahme oder für den auto de vinculación a proceso (Art. 16 und 19 der mexikanischen Verfassung).211 Mit der teoría del caso entsteht also eine Banalisierung einer Vielfalt von juristischen Begriffen und Kategorien, deren Erörterung einen enormen wissenschaftlichen und gesetzgeberischen Hintergrund voraussetzen. Es ergibt sich sogar eine Vermischung von Rechtsstrukturen des common law mit anderen des kontinentaleuropäischen Rechtssystems. Mexiko und im Allgemeinen Lateinamerika übernahm nämlich vor Jahrzehnten die Verbrechenslehre aus dem materiellen deutschen Strafrecht. Die wesentlichen Lehrbücher und weitere Abhandlungen des Allgemeinen und Besonderen Teils wurden und werden heutzutage unmittelbar übersetzt. Zugleich sind die Wurzeln des lateinamerikanischen Rechtssystems überhaupt im römisch-germanischen zu finden und sind damit grundsätzlich dem Schuldgedanken verbunden. Nun spricht man beim lateinamerikanischen Strafprozessmodell darüber, dass die Verbrechenslehre an die teoría del caso zu Prüfung der 208 Coaña Be, Teoría del caso en México, S. 10. In diesem Sinne auch Moreno Hernández, La relación entre el Derecho Penal y el Derecho Procesal Penal, S. 336 f., 348 Fn. 24, S. 349, 351. 209 Darüber kritisch Hidalgo Murillo, Investigación Policial y teoría del caso, S. 60. 210 Dazu supra, A. III. 2. 211 Das erkennt man bereits an den gesetzlichen Formulierungen. Ausdrücklich Hidalgo Murillo, Investigación Policial y teoría del caso, S. 64 f., auch 59.
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
juristischen Elemente „gekoppelt“ wird.212 Dies alles zeigt eine unnötige Vermengung der Begriffe und Kategorien des materiellen und formellen Rechts. cc) Wenn man auf diese Weise die strategische bzw. rein taktisch-geprägte Seite des Strafprozesses in den Vordergrund stellt, ergibt sich eine Verschiebung der Relevanzen im Strafprozess. Die durch die teoría del caso erzeugte Schwerpunktverlagerung auf strategische Aspekte, Regeln des Streits und vor allem auf der Darbietung einer Sachverhaltsversion der Verteidigung drängt bedeutende Grundsätze des Strafverfahrens in den Hintergrund. Es entsteht so allgemein der Eindruck, dass das Verbot des Selbstbelastungszwanges (nemo tenetur se ipsum accusare – niemand ist verpflichtet, ein Verfahren gegen sich selbst in Gang zu bringen oder bei seiner Überführung aktiv mitzuwirken213) und die daraus resultierende Aussagefreiheit seine wesentliche Bedeutung als prozessrechtliche Manifestation des Rechtsstaatsprinzips verliert. Auch die Konzeption, dass es eine Behauptungslast nicht gibt,214 wird dadurch tangiert. Dieser wesentliche Kernbereich des Strafverfahrens soll dem Beschuldigten eine Wahlmöglichkeit gewähren, die nicht nur die Aussage-, sondern auch die generelle Verhaltensfreiheit des Beschuldigten betrifft.215 Danach muss er nicht zu seiner Strafverfolgung bzw. zu seiner eigenen Verurteilung durch aktives Handeln beitragen.216 Es besteht für ihn keine Pflicht, das Gericht bei der Wahrheitserforschung zu unterstützen,217 und er hat keine Darlegungs- bzw. Beweislast.218 So erstaunt es, dass nun die Verteidigerseite in denjenigen lateinamerikanischen Staaten, die dem Einfluss des angloamerikanischen Strafprozesses unterliegen, das Schweigerecht brachliegen lassen, selbst eine Darstellung der Tatsachenversion als Schwerpunkt fordern und sich dafür besonders ausbilden lassen. Es stellt sich die Frage, ob die Ausprägung des Schweigerechts und seine Grundlage, nämlich die Unschuldsvermutung, in diesem Punkt im adversatorischen anders ist als im kontinentaleuropäischen System. Eigentlich sind die Ursprünge des nemo-tenetur-Grundsatzes auf das englische Common Law im Rahmen des Kampfes gegen den Offizial- oder Inquisitionseid bzw. gegen den Zwang zur Selbstbezichtigung in der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts
212 So zum Beispiel Ortiz Ruiz, Teoría del caso, S. 6; Benavente Chorres, La aplicación de la teoría del caso, S. 27. 213 Vgl. etwa Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 9 Rn. 9. 214 So für den deutschen Strafprozess, vgl. bereits Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Rn. 379 mit älteren Nachweisen. 215 So wie es bezüglich des deutschen Rechts ausdrücklich ausgeführt wird, vgl. SK-StPORogall, Vorbemerkungen vor §§ 133 ff. StPO Rn. 67. 216 KK-Diemer, § 136, Rn. 10 mit Rechtsprechungsnachweisen. 217 BGH StV 1986, 421 (422). 218 BVerfG NJW 2005, 1641.
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zurückzuführen.219 Als theoretische Grundlage diente das naturrechtliche Gebot der Selbsterhaltung. Die Entstehung der Regel ist aber selbstverständlich nicht aus der Neuzeit, sondern bereits auf das talmudische Recht und das kanonische Recht, beide im Alten Testament, zurückzuführen.220 Von Großbritannien aus breitete sich der Grundsatz in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in die USA aus, sodass er wenige Wochen vor der Unabhängigkeitserklärung, am 12. Juni 1776, in die Declaration of Rights von Virginia (Art. 8: „nor can he be compelled to give evidence against himself“), in den Bill of Rights der amerikanischen Einzelstaaten und 1791 in den fünften Verfassungszusatz eingefügt wurde („nor schall be compelled in any criminal case to be a witness against himself“), womit er bis heute einen herausragenden Grundrechtsrang besitzt.221 Diese „privilege against self-incrimination“ erhielt noch mehr Relevanz nach der Grundsatzentscheidung Miranda v. Arizona von 1966, nachdem die Belehrungspflicht bei der polizeilichen Vernehmung als unverzichtbar deklariert und das Schweigerecht des Beschuldigten als Kernbereich des Strafprozesses hervorgehoben wurde. Nach den Worten des Bundesrichters Warren, handelte es sich um die „one of our Nation’s most cherished principles“.222 Gegenüber der bedeutenden Rolle des nemo-tenetur Grundsatzes im angloamerikanischen Rechtsraum war dessen Entwicklung und Prägung im kontinentaleuropäischen System sehr langsam, in Deutschland sogar sozusagen „relativ dürftig“.223 So enthielt die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 die Unschuldsvermutung (Art. 9, und später auch der Art. 13 der nicht in Kraft getretenen Verfassung von 1793), aber kein Bezug auf das Schweigerecht des Beschuldigten. Jellinek hatte einen amerikanischen Einfluss des Grundsatzes, sich nicht selbst bezichtigen zu müssen, auf die französische Erklärung nachzuweisen gesucht.224 In Deutschland versuchte Feuerbach in seinem Werk von 1821, das nemotenetur-Prinzip aus dem englischen Recht zu übernehmen.225 Immerhin ist die Aussagefreiheit ein Zeichen der Abschaffung des Inquisitionsprozesses und gilt in Deutschland als Errungenschaft des reformierten Strafprozesses. Allerdings war das 219 Vgl. zur Entwicklungsgeschichte das gründliche Werk des amerikanischen Historikers Levy, Origins of the fifth Amendment, hier insbes. S. 62 ff., 79 ff., 221 ff.; ferner Guradze, Festschrift für Loewenstein, S. 152 ff.; Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 72 ff.; Nothhelfer, Die Freiheit von Selstbezichtigungszwang, S. 4 f. 220 Über die Ursprünge vgl. Levy, Origins of the fifth Amendment, S. 433 ff.; ferner Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 67 ff.; Nothhelfer, Die Freiheit von Selstbezichtigungszwang, S. 3 f. 221 Vgl. Levy, Origins of the fifth Amendment, S. 333 ff.; ferner Guradze, Festschrift für Loewenstein, S. 156 ff.; Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 81 ff.; Nothhelfer, Die Freiheit von Selstbezichtigungszwang, S. 4 f. 222 384 U.S. 436 ff., 457 ff. (1966). 223 So Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 87. 224 Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 12 ff., 23 f. (Gegenüberstellung der Art. 9 der französischen Erklärung und Artikel 12 der Erklärung von Massachusetts: „no subject shall … be compelled to accuse, or furnish evidence against himself“). 225 Feuerbach, Mündlichkeit, Bd. 2, S. 366 f.
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nemo-tenetur-Prinzip nur in der StPO Braunschweig von 1849 geregelt.226 Bei den Beratungen der RStPO legte man den Schwerpunkt nicht auf die Aussagefreiheit, sondern allgemein auf die Mitwirkungsfreiheit fest, was im vorliegenden Untersuchungsrahmen eigentlich noch interessanter ist: „daß der Beschuldigte nicht verpflichtet sei, seinerseits zur Feststellung der Wahrheit beizutragen“227. In der RStPO von 1877 wurde das Prinzip aber nicht ausdrücklich normiert. Nur bezüglich der Belehrung wurde vorgewarnt „leicht den Beschuldigten veranlassen (…), seiner eigenen Sache zu schaden, weil man häufig geneigt sein wurde, das Schweigen, wenn auch das Gesetz dem Beschuldigten das Recht hierzu nicht streitig macht, zu seinem Nachteil zu deuten“.228 Erst durch die Belehrungsvorschriften im StPÄndG von 1964 wurde die Aussagefreiheit in die deutsche StPO eingefügt,229 unter anderen den § 136 Abs. 1 Satz 2 für die erste richterliche Vernehmung, § 163 a Abs. 3 für das Ermittlungsverfahren, § 243 Abs. 5 Satz 1 für die Hauptverhandlung. Der nemo-tenetur-Grundsatz ist nicht ausdrücklich im Grundgesetz geregelt, er wird aber aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten (Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG) sowie dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) abgeleitet.230 Dieses Privileg des Beschuldigten ist ferner eine Konsequenz der Unschuldsvermutung,231 wonach der Angeklagte bis zu dem im gesetzlichen Verfahren erbrachten Nachweis seiner Schuld als unschuldig gilt (Art. 6 II EMRK, Art. 14 II IPBR, auch mit dem Rechtsstaatsprinzip verfassungsrechtlich begründet).232 Der Ermittlungsgrundsatz und die konsequente Aufklärungspflicht des Staates können im kontinentalen Strafprozess wiederum als Ausfluss der Unschuldsvermutung angesehen werden. Weil jeder Beschuldigte einer Straftat bis zum Nachweis seiner Schuld als unschuldig gilt, obliegt die Aufklärung des Sachverhalts nicht den Prozessbeteiligten gemeinsam, sondern nur dem Staat als Vertreter der Anklage. Die Darlegung und der Nachweis der Tatschuld ist also dessen Aufgabe. Jeder Bürger ist durch die Unschuldsvermutung entbunden, aktiv an seiner Be- und Entlastung mitzuwirken. Allerdings findet eine solche Ableitung aus der Unschuldsvermutung 226
Text bei den Verh. des 7. DJT, Bd. 2, S. 118. Hahn, Materialien, Bd. 3, Abt. 1, S. 702; dazu Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 102. 228 Hahn, Materialien, Bd. 3, Abt. 1, S. 139. 229 BGBl. I, 1067, vgl. Eb. Schmidt, NJW 1968, 1213 ff.; Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 42 f.; Nothhelfer, Die Freiheit von Selstbezichtigungszwang, S. 9 f. mit Nachweisen. 230 Zu den verschiedenen Positionen vgl. Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips, S. 28 ff. mit Nachweisen; ansonsten z. B. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 104 f.; Nothhelfer, Die Freiheit von Selstbezichtigungszwang, S. 11 ff. mit Nachweisen; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 7 IV 8, Rn. 191; KK-Diemer, § 136a Rn. 1, § 136 Rn. 10, mit Rechtsprechungsnachweisen. 231 Über dieses Verhältnis vgl. Nothhelfer, Die Freiheit von Selstbezichtigungszwang, S. 37 mit Nachweisen. 232 Vgl. nur SK-StPO-Rogall, Vorbemerkungen vor §§ 133 ff. StPO Rn. 74 m. N.; anders SK-StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 180 m. N. 227
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eher in einem kontinentaleuropäischen Rechtsraum Platz. In einem Parteisystem wirkt sie befremdlich, weil die Beweislastverteilung dort bei den Parteien liegt. Das gilt unabhängig davon, dass man von einer „Mitwirkungspflicht“ des Beschuldigten auch nicht im adversatorischen System sprechen kann. Die in Deutschland bestehende gerichtliche Pflicht zur Beibringung der Beweise wird im adversatorischen Verfahren dem Staatsanwalt bzw. der Polizei übertragen.233 Im Übrigen ist der Begriff Beweislast für das traditionelle kontinentaleuropäische System ungeeignet, weil ein Freispruch nicht als Last oder gar Niederlage für den Staat gelten darf. Die Last der Beweisführung liegt hierzulande immer beim Staat, weil die Aufklärung, auch der entlastenden Umständen (selbst bei Schweigen des Angeklagten), Aufgabe des Gerichts ist.234 In diesem Sinne hat der schweigende Angeklagte eher eine ungünstige Position beim adversatorischen System, wenn er als bloßer Prozessbeobachter nichts zu seiner Entlastung beitragen kann.235 Zugleich hätte er gemäß den lateinamerikanischen Richtlinien für die Verteidigung seine Version des Sachverhaltes von Anfang an darzustellen. Wenn man aber die verschiedenen Aspekte der Unschuldsvermutung bei den zwei konträren Modellen vergleicht, tauchen auch beim deutschen Strafprozess strukturelle Aspekte auf, die die Unschuldsvermutung gewiss einschränken, wie beispielsweise die Aktenkenntnis des erkennenden Richters im Gegensatz zur Unvoreingenommenheit der angloamerikanischen Jury, die die Ermittlungsakte nicht kennt.236 In der Gegenüberstellung beider Prozesssysteme wurde teilweise auch angeführt, dass eine Aussage beim deutschen Strafverfahren erwartet wird, während in den USA ein Schweigen öfters stattfände. Im englischen Verfahren würde wiederum die Tendenz zu einer Aussage gehen.237 Allerdings wird teilweise auf die negativen Konsequenzen für den schweigenden Angeklagten im Rahmen eines Deals hingewiesen. Wurde ihm eine niedrige Strafe für sein Schuldgeständnis angeboten, was er ablehnt und dabei von seinem Schweigerecht Gebrauch macht, wäre die Verhängung einer lebenslangen Strafe oder sogar der Todesstrafe als „constitutionally legitimate“ in den USA angesehen.238 Dieser Vergleich benötigt auf jeden Fall einer entsprechenden Untersuchung und die Heranziehung mehrerer Gesichtspunkte. Es gibt wiederum andere Prozessaspekte, die zu einer stärkeren Ausprägung der Unschuldsvermutung und des Schweigerechts im kontinentaleuropäischen System 233 Vgl. Kühne, Strafprozessrecht, § 17, Rn. 301; dazu Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, S. 522 ff., 87, 372 f. 234 So Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 18 Rn. 18; § 24 Rn. 5. 235 Darüber kritisch Eser, in: Schroeder/Kudtratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 11 ff., 19. 236 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung Guradze, Festschrift für Loewenstein, S. 163 f. 237 Herrmann, in: Jung (Hrsg.), Der Strafprozeß im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, S. 158 f. mit Fn. 88; ders., Reform, S. 423 ff., 434 ff. 238 Vgl. dazu Arzt, Ketzerische Bemerkungen zum Prinzip in dubio pro reo, S. 26 m. w. N.
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beitragen, wie das Erfordernis des weiteren Nachweises und der Ermittlung der Wahrheit trotz Geständnisses des Angeklagten im deutschen Strafverfahren, anders als beim guilty plea des amerikanischen Systems. Jedenfalls zeigen diese Beispiele illustrativ, wie unterschiedlich ein Machtausgleich nach der Idee des check and balances in den sich gegenüberstehenden Rechtssystemen ausfallen kann und wie sehr man an Kautelen bei etwaigen strafprozessualen Entwicklungen denken muss, um ein solches Gleichgewicht zwischen den Prozessmächten beizubehalten. dd) Wenn man die teoría del caso in die Kategorien der deutschen Strafverfahrensrechtsdogmatik übersetzen müsste, so kommen hierfür die Festlegung des Verfahrensgegenstandes (der Tat im prozessualen Sinn) und der Anklagesatz in Frage. Anders als im adversatorischen System tritt aber dieser Aspekt im deutschen richterzentrierten Strafverfahren nicht als ein Kernthema des Strafprozesses auf. Was das Schweigerecht des Angeklagten betrifft, könnte man meinen, dass es nicht verletzt wird, wenn lediglich von seinem Verteidiger eine der staatsanwaltschaftlichen Darstellung entgegengesetzte Sachdarstellung verlangt wird, doch lässt sich eine indirekte Beeinträchtigung nicht leugnen, die sich etwa zeigt, wenn der Beschuldigte sich zur Aussage entschließt und dann von der Theorie seines Verteidigers abweichen muss. Die vom Gesetzgeber 2017 in § 243 Abs. 5 S. 3 StPO eingeführte Möglichkeit der Verteidigung, eine Erklärung zur Anklage abzugeben, muss „für den Angeklagten“ abgegeben werden, weshalb Zulässigkeit und Rechtsstellung einer solchen Erklärung für den nicht ganz fern liegenden Fall, dass der Angeklagte zunächst nicht aussagen will, äußerst zweifelhaft erscheint. ee) In einigen Zusammenhängen, die sich zumindest auf Spanisch zeigen, wird die teoría del caso sogar als Leistung gesehen, d. h. dass beide Parteien, also auch die Verteidigung, eine gewisse Obliegenheit zur Darstellung einer Version des Geschehens an das Gericht haben. Den obligatorischen Charakter239 entnimmt man einigen Passagen aus der Literatur,240 aber auch Formulierungen des mexikanischen Bundesverfassungsgerichts, weiterer Gerichte und der Strafprozessordnung für den Bundesstaat Quintana Roo.241 Nach dem mexikanischen Bundesverfassungsgericht242 spielt die teoría del caso eine wichtige Rolle beim prozessualen Gleichheitsrecht (derecho de igualdad pro239 Kritisch Hidalgo Murillo, El caso de la teoría del caso, S. 3; Coaña Be, Teoría del caso en México, S. 6 ff. 240 So zum Beispiel die ersten Ausführungen über teoría del caso in der mexikanischen Literatur, siehe González Obregón, Manual Práctico del Juicio Oral, XII A; dies., La teoría del caso en el procedimiento penal mexicano, S. 148. Nach Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Art. 395, S. 1110, ist eine passive und inaktive Einstellung der Verteidigung nicht immer strategisch. 241 Vgl. für Art. 168 des CPP von Quintana Roo supra, Fn. 199. 242 Primera Sala, contradicción de tesis 412/2010, 6. Juli 2011 (http://www2.scjn.gob.mx/ ConsultaTematica/PaginasPub/DetallePub.aspx?AsuntoID=122744), veröffentlicht auch in: Semanario Judicial de la Federación y su Gaceta (SJF), Novena época, Libro I, Oktober 2011, Tomo 2, S. 609.
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cesal) des Art. 20, apartado A, fracción V des Grundgesetzes. Diese Vorschrift benennt in ihrem Absatz 1 aber zuerst eigentlich eine grundsätzliche Maxime jedes Strafverfahrensrechts, dass nämlich der Ankläger die Beweislast für den Schuldnachweis hat. Erst im Anschluss daran, im 2. Absatz, ist das Prinzip der prozessualen Gleichheit der Parteien bei der Anklage und Verteidigung festgelegt, worauf sich das Bundesverfassungsgericht bezieht.243 Dieses Prinzip wurde vom mexikanischen Bundesverfassungsgericht in dem Sinn ausgelegt, dass die Parteien durch die Formulierung der teoría del caso die Argumente des Gegners von Anfang an erfahren, um sich besser darauf vorbereiten zu können. Laut Bundesverfassungsgericht „müssen sowohl der Staatsanwalt als auch der Angeklagte und sein Verteidiger dem Gericht ihre Version der Tat präsentieren auf Basis von Daten, die jeder beiträgt, damit man von seiner Version überzeugt werde“. Die sog. teoría del caso ist nach dem Bundesverfassungsgericht die zentrale Idee bzw. Faktenlage, auf der die Arbeit jeder Partei beruhen werde. Mit ihr würde man die Fakten klären und ihre Relevanz bestimmen. So beruhe die teoría del caso auf der argumentativen Konsistenz für die Festlegung der prozessualen Hypothese, die man nachweisen möchte und die die richterliche Entscheidung begründen wird.244 Das Gericht von Morelos schloss sich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an und hob die Erforderlichkeit argumentativer Fähigkeit der Parteien zur Durchsetzung ihrer Ansprüche im Prozess hervor. Zugleich betonte es eine adäquate Vorbereitung der Parteien für das Erkennen der Stärken, Schwächen, Möglichkeiten und Risiken des Falles und für das Arrangement der Beweismittel für ihre Vorlage in der Hauptverhandlung. In dieser Entscheidung wird die teoría del caso als eine Verfahrensformalie angesehen, auch wenn die Strafprozessordnung von Morelos ein solches Konstrukt eigentlich gar nicht ausdrücklich vorsieht. Sollte die teoría del caso nicht vor Durchführung der Hauptverhandlung dargestellt worden sein, wird der Richter den Angeklagten und seine Verteidigung im Sinne des Art. 24 der Strafprozessordnung von Morelos darauf aufmerksam machen, damit sie diesen Mangel beseitigt. Die Entscheidung geht in der Betonung der teoría del caso sogar sehr weit: „Eine Verhandlung ohne teoría del caso führt zu der Absurdität, Strafprozesse ohne präzise Ziele durchzuführen, die in unnützlichen, inkongruenten oder verzögernden Prozesshandlungen enden könnten, insoweit man weder kennt, was man im Verfahren beweisen möchte, noch die anzuwendenden Beweismittel“.
Die Verteidigung muss eine kurze Darstellung ihrer Vorstellungen durch die Darlegung der entsprechenden Argumente und der hierfür benötigten Erkenntnismittel präsentieren. Der Richter kann bei Unterbleiben eines Vortrags der Vertei243 Art. 20, apartado A, fracción V: „La carga de la prueba para demostrar la culpabilidad corresponde a la parte acusadora, conforme lo establezca el tipo penal. Las partes tendrán igualdad procesal para sostener la acusación o la defensa, respectivamente“. 244 Primera Sala, contradicción de tesis 412/2010, 6. Juli 2011 (http://www2.scjn.gob.mx/ ConsultaTematica/PaginasPub/DetallePub.aspx?AsuntoID=122744), S. 82 f.
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digungsargumente bei der Eröffnung der Hauptverhandlung das Verfahren aussetzen, damit dieses Versäumnis beseitigt wird. Ferner thematisiert die Entscheidung von Morelos eine mögliche Kollision dieses Erfordernisses mit der Unschuldsvermutung. Dabei wird die Möglichkeit erkannt, dass die Verteidigung sich doch auf das Schweigerecht des Angeklagten beruft und keine Beweismittel anbietet, sodass sie sich letztlich nur auf die Erkenntnismittel der Anklage stützt. Diese passive Haltung würde die Verteidigung in der Formulierung ihrer teoría del caso darstellen. Schließlich weist die Entscheidung von Morelos darauf hin, dass das kontradiktorische Prinzip für akkusatorische Hauptverhandlungen gelte und nur eingehalten werde, wenn sowohl die Verteidigung als auch der Staatsanwalt ihre jeweiligen teorías del caso darlegen. Nachdem sie von der Gegenpartei bekannt werden, könnten auf der prozessualen Gleichheitsebene widersprochen werden.245 Allerdings liegt der Schwerpunkt des Morelos-Urteils nicht auf einem Schweigen des Angeklagten, sondern auf der Notwendigkeit eines aktiven Tätigwerdens im Rahmen der Kontradiktion. Bei dieser Verschiebung der Relevanz wird die enorme Bedeutung des Schweigerechts des Angeklagten, d. h. die Möglichkeit, dass er keine eigene Version präsentiert und Gebrauch davon macht, auf der Seite gelassen und dadurch die mexikanischen Traditionen verkannt.246 5. Adversatorische Verfahrensstruktur in Mexiko a) Adversatorische Elemente bereits im Ermittlungsverfahren Nach dem chilenischen Modell besteht ein adversatorischer Moment bereits am Anfang des Ermittlungsverfahrens, in dem die Parteien ihre Beweismittel anbieten bzw. einreichen und diese in einer gerichtlichen Sitzung erhoben werden, um überhaupt zu einem für das deutsche Verständnis unbekannten Beschluss des Ermittlungsrichters im Ermittlungsverfahren zu kommen: die „vinculación del imputado a proceso“ (Art. 309), die eine Festschreibung der Rolle als Beschuldigter ist. Dieser kleine Verfahrensabschnitt wird im Folgenden beschrieben. Die Anfangssitzung („audiencia inicial“, Art. 307 ff.) findet zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Beschuldigten nebst Verteidiger vor dem Ermittlungsrichter statt. Nach der richterlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Festnahme findet in dieser Sitzung die Bekanntgabe der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den festgenommenen Beschuldigten statt („formulación de la imputación“, Art. 309 Abs. 1). In 13,9 % der Fälle wird im Estado de México der auto
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Cuarto Tribunal Colegiado del Décimo Octavo Circuito, Décima época, Registro 2006728, Tesis Aislada (penal), in: Semanario Judicial de la Federación, Buch 7, Tomo II, veröffentlicht: 13. 6. 2014, tesis XVIII.48.9 P (10a.), S. 1932. 246 Zum letzten Kritikpunkt vgl. Coaña Be, Teoría del caso en México, S. 1.
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de no vinculación a proceso erlassen, sodass damit das Strafverfahren bereits ein Ende findet.247 Befindet sich der Beschuldigte auf freiem Fuß, kann die Staatsanwaltschaft ihn ebenso zur Anfangssitzung laden, wenn sie die richterliche Beteiligung bei der Festlegung des Beschuldigtenstatus für opportun hält (Art. 310). Für die Durchsetzung dieser Ladung darf sie die Festnahme anordnen (Art. 310 Abs. 3). Nach der Bekanntgabe der Verfahrenseinleitung wird dem Beschuldigten die Möglichkeit gegeben, sich zu den Tatvorwürfen zu äußern oder dazu zu schweigen (Art. 312). Beantragt die Staatsanwaltschaft anschließend die „Prozessbindung bzw. Verbindung zum Prozess des Beschuldigten“ („vinculación del imputado a proceso“, Art. 309 Abs. 2; 313 – über Verfahren und Fristen vor dem richterlichen Prozessbindungsbeschluss), findet in der folgenden Sitzung ein kurzes Beweisverfahren statt („continuación de la audiencia inicial“, Art. 315), in der die Parteien ihre Beweismittel anbieten bzw. einreichen (Art. 313 Abs. 2 für die Staatsanwaltschaft, Abs. 4 für die Verteidigung). Dieses adversatorische Moment bereits am Prozessanfang endet mit einem richterlichen Beschluss, sei er positiv oder negativ über die Verbindung zum Prozess des Beschuldigten (Art. 316 ff.). In diesem Beschluss wird die Tat festgelegt, diesbezüglich der man gegen den Beschuldigten ermittelt (Art. 316 Abs. 2), unabhängig davon, dass später womöglich eine weitere Tat hinzukommt (Art. 316 Abs. 3). Der Richter kann dabei eine andere rechtliche Bewertung als die Staatsanwaltschaft vornehmen (Art. 316 Abs. 2). Relevant ist ferner die Tatsache, dass die Mittel des „kurzen Beweisverfahrens“ von einigen Ausnahmen abgesehen nicht für das Urteil verwendet werden dürfen (Art. 320). Die Erörterung des Ermittlungsverfahrens in mündlichen Verhandlungen ist ein wichtiges Anliegen der Impulsgeber der chilenischen Reform für eine dadurch erwartete Beschleunigung des Verfahrens, wofür sich die Institution CEJA für lateinamerikanische Länder besonders einsetzte.248 b) Adversatorische Elemente im Zwischenverfahren aa) Offenlegung der Beweismittel Besonders prägend für ein adversatorisches System ist die punktuelle Pflicht der Verteidigung zur Offenlegung der Beweise (eine Art „Discovery“, Art. 337 Abs. 1; 340 Abs. 2). Das Akteneinsichtsrecht für die Beweise des Ministerio Público ist in Art. 336 und 337 Abs. 1 geregelt, der alle belastende, aber auch entlastende Beweise offenlegen muss, die in der Ermittlungsakte enthalten sind. Die Offenlegung der
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Statistik von México Evalúa, Centro de Análisis y Políticas Públicas, A.C., 2014, auf der Basis gerichtlicher und stattsanwaltschaftlicher Information über 1.145 Fällen. Vgl. dazu Fondevila/Langer/Bergman/Vilalta/Mejía, ¿Cómo se juzga en el Estado de México?, S. 28. 248 Vgl. dazu supra, Kapitel 7 B. I.
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Verteidigung bezieht sich nur auf die Beweismittel, die sie in der Hauptverhandlung erheben wird.249 Nach der gegenseitigen Offenlegung der Anklage und Verteidigung findet eine Zwischensitzung („audiencia intermedia“) vor dem Ermittlungsrichter und noch im Zwischenverfahren statt (Art. 342 ff.). Das Ziel der Zwischensitzung ist die Festlegung des Prozessgegenstandes. bb) Vereinbarungen über die Auswahl der Beweismittel Dabei werden ggf. „acuerdos probatorios“ (Art. 345) abgeschlossen. Als typisches adversatorisches Element handelt es sich um Vereinbarungen zwischen Staatsanwalt und Angeklagten vor der Hauptverhandlung über den unstrittigen Sachverhalt. Voraussetzung ist, dass der Verletzte nicht dagegen ist. Der Ermittlungsrichter entscheidet anhand der Ermittlungsakte und vor der Eröffnung der Hauptverhandlung, ob die Vereinbarung gerechtfertigt ist. cc) Parteienherrschaft bei der Auswahl der Beweismittel für die Hauptverhandlung Laut der gesetzlichen Bestimmung des mexikanischen Strafprozessgesetzes über den Beweis haben die Parteien „das Recht, Beweismittel anzubieten“ (Art. 262250). Es scheint sich auf den ersten Blick um eine freiwillige Prozessleistung der Parteien zu handeln, bestimmte Beweiserhebungen anzuregen. Allerdings ist eine stärkere Parteienherrschaft, auch sogar teilweise im Ermittlungsverfahren, in anderen detaillierten Vorschriften vorgesehen. Es besteht teilweise sogar die Pflicht, die Beweise offenzulegen. In den weiteren Verfahrensnormen ist die aktive Parteibeteiligung bei der Beweismittelauswahl beschrieben. Die Staatsanwaltschaft benennt die Beweismittel in ihrer Anklageschrift im Zwischenverfahren („etapa intermedia“) (Art. 335 Abs. 2 VII251; für die Strafzumessung: 335 Abs. 2 X). Bei einem Zeugen- bzw. Sachverständigenbeweis muss sie eine Liste mit ihren persönlichen Angaben vorlegen. Zugleich muss sie die Themen benennen, wozu Fragen gestellt werden (Art. 335 Abs. 4252). Allerdings zeigt die Wirklichkeit zum Beispiel im Bundesstaat Estado de México, dass sich die Staatsanwaltschaft nur in 61,5 % der Fälle um zusätzliche Beweismittel bemüht zu denen, die vom Anzeigeerstatter oder Polizei im Vorver249
Vgl. dazu Dagdug Kalife, Manual de Derecho procesal penal, Kapitel VIII.5.4., S. 536. Art. 262: „Las partes tendrán el derecho de ofrecer medios de prueba para sostener sus planteamientos en los términos previstos en este Código“. 251 Art. 335, Abs. 2 VII: „El señalamiento de los medios de prueba que pretenda ofrecer, así como la prueba anticipada que se hubiere desahogado en la etapa de investigación“. 252 Art. 335, Abs. 4: „Si el Ministerio Público o, en su caso, la víctima u ofendido ofrecieran como medios de prueba la declaración de testigos o peritos, deberán presentar una lista identificándolos con nombre, apellidos, domicilio y modo de localizarlos, señalando además los puntos sobre los que versarán los interrogatorios“. 250
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fahren präsentiert wurden.253 Was die anderen Parteien betrifft, so kann sich der Verletzte nach der Anklageschrift als Nebenkläger bestellen und Beweismittel anbieten, von denen die Verteidigung ebenfalls gleich Kenntnis erhält (Art. 338 Abs. 1 III). Anschließend muss der Angeklagte bzw. die Verteidigung schriftlich (oder mündlich in der Zwischensitzung „audiencia intermedia“) ihre Beweismittel offenlegen bzw. einreichen, deren Erhebung sie in der Hauptverhandlung beabsichtigt (Art. 340 Abs. 1 f.254). Der Ermittlungsrichter entscheidet anschließend über die Zulässigkeit der von den Parteien vorgeschlagenen Beweise. Deren Ablehnung kommt aber nur in Ausnahmenkonstellationen in Betracht, d. h. bei überflüssigem, nicht sachbezogenem, unnötigem, unrechtmäßigem Parteienbeweis u. a. (Art. 346). Gemäß der Statistik für Estado de México schließen die Gerichte in 16,1 % der Fälle vorgeschlagene Beweismittel aus.255 c) Adversatorische Elemente in der Hauptverhandlung aa) Unvoreingenommenheit des erkennenden Gerichts? In der Zwischensitzung („audiencia intermedia“) erlässt der Ermittlungsrichter den Beschluss über die Eröffnung des Hauptverfahrens (Art. 347 Abs. 1). Dort legt er die genehmigten Beweismittel und auch das erkennende Gericht fest. Für den nächsten Schritt traute sich der mexikanische Gesetzgeber offenbar nicht, die Ermittlungsakte dem erkennenden Gericht vorzuenthalten und entschied sich dafür, dass diesem die Ermittlungsakte mitsamt dem Eröffnungsbeschluss zugesendet wird (Art. 347 Abs. 2). Als Konsequenz handelt es sich leider nicht um ein unvoreingenommenes Gericht, was bei der adversatorischen Verfahrensform eigentlich zu begrüßen gewesen wäre.
253 Statistik von México Evalúa, Centro de Análisis y Políticas Públicas, A.C., 2014, auf der Basis gerichtlicher und stattsanwaltschaftlicher Information über 1.145 Fällen. Vgl. dazu Fondevila/Langer/Bergman/Vilalta/Mejía, ¿Cómo se juzga en el Estado de México?, S. 28 f. Damals galt der CPP für den Estado de México, weil der CPP Nacional erst in März 2014 verabschiedet wurde und in Juni 2016 in Kraft trat. 254 Art. 340 Abs. 2: „Deberá descubrir los medios de prueba que pretenda desahogar en juicio para tal efecto, a partir de este momento y hasta en un plazo máximo de diez días deberá entregar física y materialmente a las demás partes dichos medios de prueba, con salvedad del informe pericial el cual deberá ser entregado a más tardar …“. 255 Vgl. Fondevila/Langer/Bergman/Vilalta/Mejía, ¿Cómo se juzga en el Estado de México?, S. 33.
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bb) Rolle der Parteien in der Hauptverhandlung Zur Durchführung einer Hauptverhandlung kommt man in Mexiko selten, zum Beispiel im Estado de México heute nur in 3,6 % der Fälle.256 In der Hauptverhandlung hat das Gericht organisatorische und disziplinarische Aufgaben (Art. 354), während die Parteien ihre Beweise präsentieren. Die Zeugen-, Sachverständigenund Angeklagtenbefragung wird von den Parteien geführt, und zwar zuerst von der Partei, die den Beweis vorgeschlagen hat, dann von der Gegenpartei und anschließend von den restlichen Prozessbeteiligten (Art. 372 Abs. 1). Die Partei, die den Beweis vorgeschlagen hat, kann dann nochmals fragen und dann nochmals die Gegenpartei als Kreuzverhör (contrainterrogatorio und recontrainterrogatorio, Art. 372 Abs. 4). Das Gericht kann Fragen zur Aufklärung stellen (Art. 372 Abs. 2 a. E.). Eine autonome Ladung des Gerichts eines von den Parteien nicht berücksichtigten Zeugen ist gesetzlich nicht vorgesehen, was aus der Sicht einer unter der Amtsaufklärungspflicht richterlich geleiteten Hauptverhandlung aufgrund der möglichen Lücken für die Wahrheitsforschung kritisiert wird. cc) Reihenfolge der Beweismittel Zuerst werden die Beweismittel der Staatsanwaltschaft, dann diejenigen vom Nebenkläger und zum Schluss die Beweismittel der Verteidigung in der Hauptverhandlung erhoben (Art. 395 Satz 1). Nach Art. 395 Satz 1 bestimmt jede Partei die Reihenfolge für die Erhebung der eigenen Beweismittel. d) Die praktische Umsetzung des gesetzlichen Beweisverfahrens Eine aktive Rolle der Staatsanwaltschaft in der Aufklärungsarbeit und bei der Materialsammlung im Beweisverfahren scheint in der Wirklichkeit Mexikos sehr zurückhaltend zu sein, wie es sich aus einer aktuellen Statistik aus dem Estado de México ergibt. Zunächst einmal beziehen sich zum Beispiel im Estado de México 91,7 % der polizeilichen Festnahmen auf Täter, die auf frischer Tat ertappt wurden. Die meisten Strafprozesse bzw. in 61 % der Fälle im Estado de México wird das Verfahren durch ein Geständnis im Rahmen eines procedimiento abreviado erledigt, der vom Beschuldigten öfters aufgrund einer vermeintlich belastenden Beweislage angenommen wird. Für die übrigen Fälle gelten in der Wirklichkeit sozusagen noch inquisitorische Strukturen, nachdem die Flagranz und zwei belastende Zeugenaussagen für die Verurteilung oft auszureichen scheinen. Nur in 38,5 % der Fälle 256 Vgl. Statistik von México Evalúa, Centro de Análisis y Políticas Públicas, A.C., 2014, auf der Basis gerichtlicher und stattsanwaltschaftlicher Information über 1.145 Fällen; dazu Fondevila/Langer/Bergman/Vilalta/Mejía, ¿Cómo se juzga en el Estado de México?, S. 12.
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kümmert sich die Staatsanwaltschaft um die Erlangung zusätzlicher Beweismittel als das von der Polizei mit Beteiligung des Verletzten im Rahmen der Festnahme gesammelte Material.257 Die Verfahrenserledigung durch den procedimiento abreviado insbesondere bei Flagranzfällen wird von den neuen Reformströmungen vorgezogen und eine komplette Durchführung des Strafprozesses in solchen Konstellationen als inquisitorisch bemängelt.258 Mit dieser Betrachtungsweise werden aber die Entwicklungen des kontinentaleuropäischen Strafprozesses im 19. Jahrhundert und damit auch die Ursprünge des modernen Strafprozesses in Lateinamerika völlig außer Acht gelassen, nachdem die Ergebnisse aus dem Ermittlungsverfahren in diesen Fällen als alleinige Grundlage für die Verfahrenserledigung dienen sollen. Weitere Ergebnisse der für Estado de México vorliegenden Statistik erwecken den Eindruck, dass die Wirklichkeit des Strafverfahrens noch einige Anpassungen für die erwartete grundlegende Modernisierung benötigt. Denn in 18,05 % der untersuchten Strafprozessakten wurden durch die Polizei widerrechtlich verursachte Körperverletzungen des Beschuldigten während der Festnahme oder der anschließenden Vernehmungen ärztlich nachgewiesen. Die Gerichte akzeptierten aber das polizeiliche Handeln und den durch die Misshandlung erlangten Beweis in 97,4 % ohne weitere Konsequenzen.259
6. Beweisausschlussregeln und ihr Korrelat im kontinentaleuropäischen Modell Die Auswahl der Beweismittel für die Hauptverhandlung und ihr Aufruf kann beim adversatorischen Beweisrecht nicht so frei erfolgen, wie es bei einem vom erkennenden Richter eines kontinentaleuropäischen Modells in Erfüllung seiner Aufklärungspflicht erfolgt. Ein ausgeprägtes strategisches Handeln der Parteien bei einer adversatorischen Beweisführung ist nämlich instande, die erforderliche Balance zwischen Anklage und Verteidigung zu beeinträchtigen. Belastende oder entlastende Beweise könnten mit einer solchen Geschicklichkeit, mitunter sogar mit Verschleierungstendenzen präsentiert werden, dass die gewieftere Partei als die vermeintlich Überzeugendere die Einstellung des passiven Richters in ihre Richtung lenken könnte. Strukturell ist dabei der Angeklagte in der unterlegenen Position, weil er hoffen muss, dass sein Verteidiger in der Lage ist, einen geschickt agierenden 257
Vgl. dazu Fondevila/Langer/Bergman/Vilalta/Mejía, ¿Cómo se juzga en el Estado de México?, S. 29, 34. Im Übrigen ergibt sich aus einer Studie von CEJA über die Ingangsetzung der Strafprozessreformen in Chile, Costa Rica, Paraguay und in der argentinischen Provinz Córdoba, dass es sich bei den polizeilichen Festnahmen in 57 % der Fälle um auf frischer Tat gefasste Täter handelt, vgl. dazu Riego, in: Revista Sistemas judiciales Nr. 3, Buenos Aires, Argentinien, 2002, S. 56. 258 Vgl. wiederum den Impulsgeber und Verfasser der chilenischen Reform Cristián Riego, a. a. O., S. 56. 259 Fondevila/Langer/Bergman/Vilalta/Mejía, ¿Cómo se juzga en el Estado de México? S. 18 f., 38.
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Staatsanwalt in die Grenzen zu weisen. Eine unerlässliche Herkulesaufgabe hat deshalb die Verteidigung, die zuvorderst als einzig wirkliche Verantwortliche und ohne den flankierenden Einsatz einer weiteren, neutralen Instanz jedes entlastende Beweismittel präsentieren muss.260 Insgesamt steckt die Gefahr einer gewissen Unausgewogenheit in der Struktur der parteiisch geführten Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung, anders als die richterliche Sachaufklärung, die von Objektivität und Sachbezogenheit geleitet sein soll. Dies gilt auch, wenn aus anderen Gründen die Objektivität nicht vollständig gewährleistet ist, wie beim Problem der häufig engen Verbindung von Staatsanwaltschaft und Gericht aufgrund räumlicher Nähe und Überschneidungen im berufichen Werdegang. Die Voreingenommenheit des Richters durch seine Kenntnis der in Richtung Belastung geführten Ermittlungsakte relativiert noch mehr die erwartete Objektivität. Wegen dieser Unausgewogenheit ist eine Auseinandersetzung mit Einschränkungen bzw. Regeln der Zulässigkeit von Beweisen in einem adversatorischen System charakteristisch. Die Beweisausschlussregeln gelten als Gegengewicht für die etwas ungeschütztere Position des Angeklagten. Sie sind im konkreten Einzelfall wenig anpassungsfähig, bieten aber – womöglich gerade deshalb – ein Korrektiv bei bemakelten Beweismitteln. Demgegenüber verzichtet das kontinentale Modell auf einen strengen Formalismus bei den Beweisregeln und bietet einen eher weichen Ausgangspunkt, bei dem nicht nur auf eine erhöhte Qualität des einzelnen Beweismittels abgestellt wird, sondern die Glaubwürdigkeit und die entsprechende richterliche Überzeugung kann sich aus verschiedenen Quellen ergeben. Allein die Beweisverwertungsverbote fungieren als feste Größe. Auch wenn sich die Beweisrechtsmodelle in der Formalität oder Elastizität bei der Qualitätsprüfung der zulässigen Beweismittel differenzieren, zeigt sich in den Ergebnissen eine deutliche Annäherung beider Systeme. Bekannt ist die Bedeutung der hearsay-Ausschlussregel als markante Beweisregel des Common Law (Federal Rules of Evidence, FRE 802), nach der der Beweis vom Hörensagen grundsätzlich verboten ist. Damit soll jeder Zeuge „nur über Tatsachen berichten, von denen er persönliche Kenntnis hat“. Allerdings erfährt sie dort Ausnahmen (siehe supra, Kapitel 2 B. II. 1.). Andererseits ist ihr Korrelat im deutschen Rechtssystem nicht als feste Regel fixiert, d. h. der deutsche Richter hat einen gewissen Spielraum bei der Bewertung. Er darf sich aber nicht ohne weiteres auf das Verlesene verlassen. Bei einem Rechtssystem, das mit einer Jury operiert, ist das Erfordernis von Beweisausschlussregeln also größer, um das fehlende professionelle Wissen und Erfahrung der Laienrichter beim prozessualen Umgang mit Beweismitteln auszugleichen. Solche Gedanken über eine notwendige Kompensation sind aber in den lateinamerikanischen Ländern nicht erforderlich, da der Gesetzgeber sich dort gegen 260 Besonders kritisch Eser, Festschrift für Miyazawa, S. 561 ff., S. 565. Vgl. ferner zu diesem Thema Billis, Die Rolle des Richters, S. 184 ff., 268 ff., 324 ff.
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die Einführung einer Jury zugunsten einer Hervorhebung des Berufsrichters in der Hauptverhandlung entschieden hat. Aus Art. 16 Abs. 3, Art. 19 Abs. 1 und 20, Apartado A der mexikanischen Verfassung ergibt sich, dass sich der Verfassungsgeber für die Nichtformalisierung der Beweise in allen Phasen eines Strafverfahrens entschieden hat, abgesehen von einigen Ausnahmen.261 Die mexikanische Bundesverfassung Art. 20, Apartado A, fracción VIII und das neue Bundesstrafprozess Mexikos (Art. 402) gehen vom Prinzip der freien Beweiswürdigung aus. Wenn in Mexiko eine strenge Qualitätsprüfung der zulässigen Beweismittel ähnlich wie im common law mit dieser Intensität nicht gefordert wird, ist es fraglich, ob dann noch die Verfahrensbalance aufrechterhalten bleiben kann. Für das System der richterlichen Beweiswürdigung spricht die intensive Beschäftigung mit diesem Thema in Lateinamerika in den strafprozessualen Abhandlungen seit langer Zeit und die Tatsache, dass nicht eine Jury, sondern der Richter die Beweiswürdigung übernimmt.
B. Die Absprachen im neuen Bundesstrafprozessgesetz Mexikos von 2014 I. Der procedimiento abreviado in Lateinamerika Die Absprachen verbreiteten sich in den lateinamerikanischen Gesetzgebungen vor allem auf Basis des chilenischen Modells des procedimiento abreviado. Renommierte chilenische Lehrbücher begründen die neue Tendenz folgendermaßen: „En una sociedad post-industrial más individualista, fragmentada y compleja, perderían progresivamente legitimidad las regulaciones basadas en modelos de autoridad y centradas en la noción de ,lo público‘, tendiéndose a una mayor desregulación y a modos alternativos de solución de conflictos, sobre la base de la apelación a las nociones de participación ciudadana e igualdad.“262
Ausgangspunkt des Absprachengedanken ist die Idee einer Konfliktlösung, die auf Appellen an die Begriffe Bürgerbeteiligung und Gleichheit beruhen. Man sieht sie als eher passend für die individualistische und komplexe, postindustrielle Gesellschaft. Demnach würden die Rechtssysteme an Legitimität verlieren, die auf Autoritätsgewalt bestehen, und die auf der Idee der Verstaatlichung fußen. Wann immer man diese Argumentation in der Literatur zum lateinamerikanischen procedimiento abreviado liest, verwundert die Selbstverständlichkeit, mit der das Strafprozessrecht unter Verweis auf eine private Konfliktlösung und „Gleichheit der 261 Carbonell/Caballero González, Código Nacional con jurisprudencia, S. 320 f., zu Décima Época, Tribunales Colegiados de Circuito, Gaceta del Semanario Judicial de la Federación, Buch 11, Oktober 2014, Bd. III, S. 2377. 262 Zusammengefasst wird dieser Gedanke im Hintergrund der Absprachen von Horvitz Lennon, in: Horvitz Lennon/López Masle, Derecho procesal penal chileno II, S. 503 f.
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Bürger“ „privatisiert“ wird, wohingegen über den (Fort-)Bestand der Normen des materiellen Strafrechts als „staatliche“ Entscheidung des Gesetzgebers gar nicht diskutiert wird. Zugleich wird die Ebenbürtigkeit der Verteidigung mit den Strafverfolgungsbehörden ohne weiteres vorausgesetzt und andere Gedankenmodelle zu diesem Konzept, die die Durchsetzungskraft der Verteidigung betreffen, werden in strafprozessualen Abhandlungen oft gar nicht erst thematisiert. Eine rechtliche bzw. rechtstheoretische Rechtfertigung des procedimiento abreviado ist kaum vorhanden.263 Anstatt dessen besteht das Hauptargument für seine Einführung in Lateinamerika in der unterstellten Effizienzsteigerung im Strafprozess.264 Ressourcenschonung und eine hohe Quote von erledigten Verfahren sind die zentralen Themen einer bedeutenden Strömung der Reformbewegung in Lateinamerika, deren Ausgangspunkt alleine verfahrensökonomische Überlegungen sind. Mit dem Ausdruck „descongestión“ bezieht man sich dort auf den Aspekt der Prozessökonomie, während eine Aufklärung des wahren Sachverhalts bzw. die Ermittlung der materiellen Wahrheit aus dieser Perspektive außer Betracht bleibt. Die strafprozessuale Modernisierung in Lateinamerika mit der Abschaffung des alten schriftlichen Inquisitionsprozesses und der erst in den letzten drei Dekaden erfolgten Durchsetzung der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme sowie der öffentlichen Beaufsichtigung leidet an einem Geburtsfehler, weil sie an einem tiefen Widerspruch krankt, nachdem sie gleichzeitig für ihre eigene Eliminierung durch den procedimiento abreviado gesorgt hat. In Anbetracht der hohen Ansprüche der Gesamtreform in Lateinamerika, endlich vom alten schriftlichen Strafverfahren wegzukommen, erscheint es nicht ungerecht, diesen vermeintlichen Fortschritt tatsächlich als Rückschritt zu bewerten. Wenn man eine Parallele zur Unvereinbarkeit der deutschen Absprachen zum reformierten Strafverfahren zieht, stellt man schnell Gemeinsamkeiten fest. Allerdings erfolgte die faktische Abschaffung der Hauptverhandlung in Lateinamerika im selben Atemzug wie ihre Einführung. Die Rückwärtsentwicklung zeigt sich in den Absprachensysteme vor allem darin, dass das Verfahrensergebnis von den bloßen Angaben aus der Ermittlungsakte abhängig gemacht werden und das Geständnis als die „Königin der Beweismittel“ statuiert wird: „confessio est regina probationum“.265 Ursprünglich wurden die Absprachen in Europa aus dem angloamerikanischen System v. a. durch die italienische und portugiesische Gesetzgebung in den 1980er Jahren übernommen, aber auch durch die Rechtspraxis, wie es in Deutschland der Fall war. Die europäischen Einflüsse auf die lateinamerikanischen Länder sind 263
Vgl. die Ausführungen von Binder supra, Kapitel 5 F. Statt aller ein begeisteter Vertreter der Effizienz: Riego, in: Maier/Bovino (Hrsg.), El procedimiento abreviado, S. 453 ff. Zu dieser Strömung in Lateinamerika vgl. supra, Kapitel 7 B. II. Statt aller zum „eklatanten Theoriedefizit“ LR/Stuckenberg, § 257c Rn. 2 ff. mit Nachweisen. 265 Dazu kritisch statt aller jüngst LR/Stuckenberg, § 257c Rn. 18, 38; KMR/v. HeintschelHeinegg, § 257c Rn. 32. 264
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entsprechend vielfältig.266 Aus den unterschiedlichen Quellen entstand die Einführung des procedimiento abreviado für den „Código Cafferatta“ der argentinischen Provinz Córdoba von 1992, nach seinem von den Vereinbarungen und Verkürzungen im Strafprozess überzeugten Urheber benannt. Paradoxerweise handelte es sich dabei um die Provinz, die das erste nicht-inquisitorische und moderne Strafprozessgesetz mit einer mündlichen Hauptverhandlung bereits mehrere Jahrzehnte früher als der Rest Lateinamerikas, nämlich im Jahr 1939 schuf. Im Jahr 1992 war die Provinz wieder Vorreiterin in strafprozessualen Erneuerungen, aber nun in der faktischen Ausschaltung der Hauptverhandlung und ihrer Ersetzung durch den abreviado. Auch das Bundesstrafprozessgesetz Argentiniens führte den procedimiento abreviado im Jahr 1997 ein, genauso wie Guatemala in 1994, Costa Rica in 1996267 und El Salvador in 1998268 sowie sodann die weiteren lateinamerikanischen Länder, bis zuletzt 2014 das mexikanische Bundesstrafprozessgesetz folgte. Gegnerische Stimmen zu den Absprachen in Lateinamerika gibt es von Anfang an. Schon bei ihrer Einführung wurden argentinische Stimmen dagegen laut.269 266 Dazu Horvitz Lennon, in: Horvitz Lennon/López Masle, Derecho procesal penal chileno II, S. 504 f. mit Nachweisen aus der italienischen Literatur. Über die Einflüsse vgl. auch supra, Kapitel 7 B. 267 Vgl. Nachweise dazu supra, Kapitel 6 C. II. 4. a) ee); Kapitel 6 C. II. 4. a) cc) (1) mit Fn. 90 und supra, Kapitel 6 C. II. 6. Für Guatemala: Loarca/Bertelotti, in: Maier/Bovino (Hrsg.), El procedimiento abreviado, S. 411 ff. 268 Vgl. dazu Amaya Cobar, in: Maier/Bovino (Hrsg.), El procedimiento abreviado, S. 395 ff. 269 Kritisch gegenüber der Absprachen in der argentinischen Literatur vgl. Maier bezüglich des in den CPP Córdoba von 1991 eingefügten procedimiento abreviado, Derecho Procesal Penal, § 5 G 9 d, S. 440 f.; vgl. ferner ders., Entre la inquisición y la composición, Dossier S. 28; nicht nur bezüglich Córdoba ders., Festschrift für Gössel, S. 703; für Bagatelldelikte annehmbar vgl. ders., in: Jueces para la democracia (1992), Nr. 16 – 17, S. 153 f.; ferner Magariños, Sentencia Osorio Sosa, La Ley 1998-B; De la Rúa, La Ley, Bd. 1997-D, S. 1198 ff.; Bovino, Simplificación del procedimiento, S. 527 ff.; ders., in: Maier/ders. (Hrsg.), El procedimiento abreviado, S. 53 ff.; Ziffer, Lineamientos de la determinación judicial de la pena, S. 173 f.; Sancinetti, ¿Moralidad o eficiencia en la política criminal?, S. 4 ff.; ders., Avenimiento y mediación; Zaffaroni, El proceso penal, S. 15; ders., Independencia y autonomía del poder judicial; Díaz Cantón, in: Maier/Bovino (Hrsg.), El procedimiento abreviado, S. 251 ff.; Córdoba, in: Maier/Bovino (Hrsg.), El procedimiento abreviado, S. 229 ff. (deutsche Version: Festschrift für Claus Roxin II, S. 1831 ff.), u. a. Zugunsten der Absprachen vgl. Cafferata Nores, Juicio penal abreviado, in: Cuestiones actuales sobre el proceso penal, XI; ders., Juicio Abreviado; ders., Introducción al nuevo CPP de la Provincia de Córdoba, S. 88; ders., El principio de oportunidad en el derecho argentino, S. 17 f.; Bruzzone, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 8, 1998, S. 571 ff. Vgl. ferner zur Debatte Ambos, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 4 – 5, 1997, S. 275 ff.; D’Álbora, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 8-A, 1998, S. 463 ff.; Schiffrin, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 8-A, 1998, S. 484 ff.; Vivas, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 8-A, 1998, S. 497 ff.; Anitua, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 8-A, 1998, S. 548 ff.; Bertolino, in: Jurisprudencia Argentina 1997, S. 2 ff.; Martínez, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 9-B, 2000, S. 373 ff. Vgl. ferner alle Beiträge im Sammelband von Maier/ Bovino (Hrsg.), El procedimiento abreviado.
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Gleiches gilt für Mexiko270 und die anderen lateinamerikanischen Länder.271 Teilweise werden deutsche, aber auch spanische, italienische und argentinische Quellen für die allgemeine Kritik de lege ferenda herangezogen.272 Mitunter beruht die Kritik auf dem Einfluss von Ferrajoli, der die Absprachen als moderne Nachbildung früherer Prozessformen sieht, die von einem anderen Verfahrensverständnis ausgingen, nämlich als eine privatrechtliche Angelegenheit und nicht als Sache des Staates.273 Dieser Aspekt wird in Lateinamerika als proceso acusatorio material bezeichnet und wird in diesem Zusammenhang immer wieder mit dem Hinweis auf die heutige Verstaatlichung des Strafrechts und der Strafverfolgung thematisiert.274 Der Konflikt der Absprachen mit der Inquisitionsmaxime wird in der lateinamerikanischen Debatte nicht in dem Maße wie in Deutschland thematisiert, nachdem die lateinamerikanischen Länder mit Ausnahme von Argentinien inzwischen eine adversatorische Verfahrensführung besitzen. Allerdings berufen sich diese Länder gleichzeitig auf das Prinzip der materiellen Wahrheit, wodurch eine schwer aufzulösende Spannung aufgebaut wird.
II. Die gesetzliche Regelung im mexikanischen CPPN 1. Bezeichnung Wie in den lateinamerikanischen Nachbarländern üblich wird die Absprache in Mexiko in der Form eines „procedimiento abreviado“ (wörtlich: „beschleunigtes Verfahren“) gefasst, der inzwischen in das mexikanische Grundgesetz als „terminación anticipada“ (wörtlich: „vorzeitige Beendigung“) in Art. 20 apartado A,
270 Für Mexiko zum Beispiel: Moreno Hernández, Homenaje a Schünemann, Bd. II, S. 731 ff., 771 f.; ders., La relación entre el Derecho Penal y el Derecho Procesal Penal, S. 354; ders., in: ders./Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 93 ff., 101: „[E]s könnte sich als eine weitere Quelle für Korruption und Nötigung verwandeln“. 271 Zum Beispiel für Guatemala: Loarca/Bertelotti, in: Maier/Bovino (Hrsg.), El procedimiento abreviado, S. 411 ff.; für Kolumbien: Castaño Vallejo, Revista Nuevo Foro Penal 80, 2013, S. 165 ff.; für Ecuador: Zavala Baquerizo, in: Iter Criminis 7, 2009, S. 175 ff. Vgl. ferner einen Beitrag gegen den amerikanischen plea bargaining, der auch in Lateinamerika bekannt ist: Langbein, in: Maier/Bovino (Hrsg.), El procedimiento abreviado, S. 3 ff. 272 Als Beispiel für Mexiko: Moreno Hernández, in: ders./Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 92 mit einer detallierten Erläuterung der Kritik von Schünemann und Zaffaroni. 273 Ferrajoli, Diritto e ragione, Parte Terza, IX.39.3.; ders., in: Maier/Bovino (Hrsg.), El procedimiento abreviado, S. 45. Zu diesen Aussagen von Ferrajoli im chilenischen Schrifttum Horvitz Lennon, in: Horvitz Lennon/López Masle, Derecho procesal penal chileno II, S. 513; im mexikanischen Schrifttum zum Beispiel Cepeda Morado, El procedimiento abreviado mexicano, S. 12 f. 274 Vgl. supra, A. III. 1.
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fracción VII275 implementiert wurde und in den Art. 201 bis 207 des neuen Bundesstrafprozessgesetzes (CPPN) näher geregelt wird. 2. Initiative Bezüglich der Initiative für den procedimiento abreviado wurde in Lateinamerika von Anfang an das angelsächsische Modell der staatsanwaltschaftlichen Anregung für eine schnelle Verfahrenserledigung verfolgt. Bei der adversatorischen Ausgestaltung der späteren Strafprozessgesetze in den restlichen lateinamerikanischen Ländern war es dann eine Selbstverständlichkeit, die Verfahrenserledigung durch den abreviado als eine Angelegenheit der Parteien zu betrachten. Dem diesem in der Region etablierten Konzept folgend liegt die Initiative für den procedimiento abreviado nach dem neuen mexikanischen Código Nacional (Art. 201 I CPPN) nur bei der Staatsanwaltschaft, die allein zum erforderlichen Antrag vor dem Ermittlungsrichter befugt ist. Damit wurden diejenigen mexikanischen Stimmen abgelehnt, die diese Verfahrensabkürzung als ein Recht des Angeklagten sehen oder eine richterliche Initiative von Amts wegen in Betracht ziehen.276 Eine Abgabe des Angebots durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger bzw. eine Antragstellung auf Eröffnung eines abgekürzten Verfahrens kommt beim mexikanischen Código Nacional also nicht in Betracht. Frühere Strafprozessgesetze der einzelnen mexikanischen Bundesstaaten wie Oaxaca sahen die Möglichkeit vor, dass der Angeklagte der Staatsanwaltschaft einen Vorschlag für die Eröffnung des abreviado unterbreitet (Art. 298 fracción IV277), allerdings war nur das Anklageorgan zum formalen Antrag befugt. In Bezug auf die ausschließliche Initiative der Staatsanwaltschaft für den abreviado im Código Nacional äußert sich Moreno Hernández kritisch und bevorzugt die Lösung einer der Entwürfe für das Bundesstrafprozessgesetz,278 derzufolge dieses Verfahren nur vom Angeklagten beantragt werden könne und der Richter anschließend die Erfüllung der Voraussetzungen überprüfen müsse. Damit würde 275 Art. 20 AVII: „Una vez iniciado el proceso penal, siempre y cuando no exista oposición del inclupado, se podrá decretar su terminación anticipada en los supuestos y bajo las modalidades que determine la ley. Si el imputado reconoce ante la autoridad judicial, voluntariamente y con conocimiento de las consecuencias, su participación en el delito y existen medios de convicción suficientes para corroborar la imputación, el juez citará a audiencia de sentencia. La ley establecerá los beneficios que se podrán otorgar al inculpado cuando acepte su responsabilidad.“ (Hervorhebungen nicht im Original). 276 Als Recht des Angeklagten oder gegebenenfalls als richterliches Befugnis, aber auf keinen Fall als Befugnis der Staatsanwaltschaft sieht es Moreno Hernández, in: ders./Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 91. Dazu auch Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Arts. 201 – 207, S. 555. 277 Art. 298 CPP Oaxaca: „Facultades del imputado: Hasta la víspera del inicio de la audiencia intermedia, por escrito, o al inicio de dicha audiencia, en forma verbal, el imputado podrá: IV. Proponer a las partes … el procedimiento abreviado …“. Dazu Benítez, in: Carmona Castillo/Mafud Mafud (Hrsg.), Juicio oral penal, S. 448. 278 Von der Bundesratsabgeordneten Cristina Díaz u. a. von der Partido Revolucionario Institucional (PRI) vom 4. 4. 2013.
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man die Drucksituation vermeiden, die in der Regel im Anschluss an eine Absprachenverweigerung des Angeklagten entstehe.279 Die Zubilligung der Initiative an die Staatsanwaltschaft ist in Mexiko auch aus anderen Gründen umstritten. Die Tatsache, dass dieses Organ einseitig bestimmt, in welchen Fällen das Angebot einer Strafmaßverringerung unterbreitet wird, wird teilweise mit Bedenken betrachtet. Mitunter wird auch bemängelt, dass die Staatsanwaltschaft genau in solchen Fällen den abreviado beantragt, in denen sie Schwierigkeiten für die Begründung der Anklage sieht.280 Es ist nachvollziehbar, dass eine gewisse Skepsis bezüglich dieser Befugnis der Staatsanwaltschaft besteht, zumal diese Behörde in der Wirklichkeit Mexikos unter einer kritischen Beobachtung steht. Das entgegengesetzte Modell einer alleinig richterlichen Initiative verspricht aber auch keinen besseren Ausgleich der Verhandlungspositionen, wie die unten folgenden Erörterungen beim Vergleich mit den deutschen Absprachen zeigen.281 3. Zeitpunkt und Verlauf Der staatsanwaltschaftliche Antrag auf abreviado kann seit dem Erlass des auto de vinculación a proceso (Beschluss über die Einbeziehung des Beschuldigten in das Verfahren) bis kurz vor Eröffnung der Hauptverhandlung gestellt werden (Art. 202 Abs. 1 CPPN). Solange der Ermittlungsrichter in der audiencia intermedia (Zwischensitzung) noch nicht über die Eröffnung der Hauptverhandlung entschieden hat, kann der Staatsanwalt den abreviado noch in der Sitzung mündlich beantragen. Der Antrag erfolgt also entweder mündlich in einer der Sitzungen oder schriftlich beim Ermittlungsrichter. In der letzten Konstellation wird der Ermittlungsrichter die Prozessbeteiligten zu einer gesonderten Sitzung laden, in der über die Eröffnung des abreviado entschieden wird. So oder so muss diese Frage in einer mündlichen Sitzung in Anwesenheit des Ermittlungsrichters, der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten mit seinem Verteidiger (Art. 202 Abs. 2 Satz 1 CPPN) diskutiert und entschieden werden. Der Verletzte wird also auch geladen, seine Abwesenheit verhindert aber nicht die richterliche Entscheidung (Art. 202 Abs. 2 Satz 2 CPPN). Die Verhandlung wird auf Video aufgenommen und es wird darüber ein Protokoll gefertigt.282 Voraussetzungen für die Eröffnung des procedimiento abreviado durch den Ermittlungsrichter ist eine verkürzte Anklage der Staatsanwaltschaft unter Benennung der Beweise und der Zustimmung des Angeklagten. In Fall der Ablehnung würde der trámite ordinario, also die Durchführung des regulären Strafverfahrens folgen. Gegen die Ablehnungsentscheidung kann Rechtsmittel eingelegt werden (Art. 467 279
Moreno Hernández, in: ders./Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 92. Darüber Cepeda Morado, El procedimiento abreviado mexicano, S. 22, 24. 281 Vgl. infra, B. V. 4. a). 282 Dazu Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Art. 201 – 207, S. 561. 280
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Abs. 1 IX CPPN). Wird der abreviado genehmigt, werden die Prozessbeteiligten vom Ermittlungsrichter angehört, damit sie ihre Schlussvorträge halten können. Der Möglichkeit dieser Schlussäußerungen wird entgegengehalten, dass der abreviado nicht von dem Gedanken der Kontradiktion geleitet wird. Andererseits hält man die Schlussvorträge unentbehrlich für den Fall, in dem die Verteidigung auf einen unrechtmäßigen Beweis hinweist und dies den Anlass für ein incidente de nulidad (Anfechtungsverfahren) gibt.283 Schließlich wird der Ermittlungsrichter sein Urteil („fallo“) in derselben Sitzung fällen. Für die Urteilsbegründung hat er 48 Stunden Zeit (Art. 206 Abs. 1 CPPN). Eine Berufung ist möglich (Art. 467 Abs. 1 Nr. X CPPN). Diese Form der Absprache läuft beim Ermittlungsrichter und damit wurde für den Fall der Ablehnung des procedimiento abreviado dafür Sorge getragen, dass das Verfahren nicht vor demselben erkennenden Gericht der Hauptverhandlung und Entscheidungsorgan weiter durchgeführt wird. 4. Voraussetzungen In der Sitzung für die Entscheidung über den Antrag auf procedimiento abreviado werden die Voraussetzungen der Art. 201 f. CPPN geprüft. a) Verkürzte Anklage, Inhalt Dazu gehören eine verkürzte Anklage, die andere Voraussetzungen als die Anklage für die Eröffnung der Hauptverhandlung hat (dazu Art. 324 Abs. 3, 335, 344 Abs. 1 CPPN): Die Angabe der Tat, die rechtliche Beurteilung und die Beweise aus dem Ermittlungsverfahren sind Inhalt der verkürzten Anklage. aa) Angabe der Tat, rechtliche Beurteilung In der Anklage muss die Tat angegeben werden, die beim auto de vinculación a proceso (Beschluss über die Einbeziehung des Beschuldigten in das Verfahren) bereits festgelegt wurde. Art. 19 Abs. 5 Satz 1 der mexikanischen Verfassung284 und Art. 335 Abs. 3 CPPN285 fordern, dass jedes Strafverfahren auf einer in einem solchen Beschluss beschriebenen Tat zurückzuführen sein muss. Der abreviado darf also nicht auf einer anderen Tat beruhen. Demgegenüber ist es möglich, dass die 283 Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Arts. 201 – 207, S. 560. Dieser Autor betont dort das Konsensprinzip für den mexikanischen abreviado. Fraglich ist aber, ob er tatsächlich auf Konsens beruhen kann, wenn es Ansprüche auf eine zusätzliche richterliche Sachverhaltsaufklärung bestehen, wie es später erörtert wird. 284 Art. 19 Abs. 5 Satz 1 Constitución: „Todo proceso se seguirá forzosamente por el hecho o hechos delictivos señalados en el auto de vinculación a proceso“. 285 Art. 335 Abs. 3 CPPN: „La acusación solo podrá formularse por los hechos y personas señaladas en el auto de vinculación a proceso …“.
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rechtliche Beurteilung der Tat eine andere als im vorherigen auto de vinculación a proceso ist (Art. 335 Abs. 3 CPPN).286 bb) Staatsanwaltschaftliche Beweismittel (datos de prueba) Die Staatsanwaltschaft muss mit der Anklage „datos de prueba“ (Beweismittel) vorlegen (Art. 201 Abs. 1 I CPPN)287 und zusätzlich eine rechtliche Würdigung vornehmen.288 Die vom Ermittlungsrichter zu entscheidende Zulässigkeit des abreviados richtet sich danach, welche Nachweise die Staatsanwaltschaft mit der Anklage vorlegt. Art. 201 Abs. 1 I CPPN bezieht sich also auf die Erfordernisse für den staatsanwaltschaftlichen Antrag, während Art. 203 Abs. 1 Satz 1 CPPN die Voraussetzungen für die richterliche Annahme des staatsanwaltschaftlichen Antrags festlegt. Anders als der Código Nacional mit dem Erfordernis der „datos de prueba“ verlangt das mexikanische Grundgesetz für die vorzeitige Beendigung des Verfahrens das Vorliegen ausreichender Überzeugungsmittel („medios de convicción“), die den Vorwurf bestätigen (Art. 20 AVII 2. Satz des Grundgesetzes: „existen medios de convicción suficientes para corroborar la imputación … el juez citará a audiencia de sentencia“). Nach Art. 203 Abs. 1 Satz 1 CPPN289 wird der Ermittlungsrichter den Antrag der Staatsanwaltschaft annehmen, wenn ausreichende Beweise im Sinne des Art. 20 AVII Satz 2 des Grundgesetzes vorliegen, die den Vorwurf bestätigen. Satz2 bestimmt, dass die erforderlichen Überzeugungsmittel (medios de convicción) die datos de prueba aus der Ermittlungsakte sind. Problematisch bei den zwei verschiedenen Bezeichnungen ist, ob die Anforderung an einen Nachweis der Tat für die Zulassung des procedimiento abreviado, die auf den Angaben aus der Ermittlungsakte beruht, mit der Aufforderung an einen Nachweis der Tat auch für eine strafrechtliche Verurteilung übereinstimmt. Fraglich ist also, ob das Strafurteil nur die Beweise der Ermittlungsakte als Grundlage haben soll, oder ob weitere Beweiserhebungen vor der richterlichen Entscheidungsfindung möglich sind. Diese Debatte wird im Abschnitt über das Strafurteil erörtert.290 286 Art. 335 Abs. 3 CPPN: „… aunque se efectúe una distinta clasificación, la cual deberá hacer del conocimiento de las partes“. Dazu Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Arts. 201 – 207, S. 556. 287 Art. 201 Abs. 1 I CPPN: „Que el Ministerio Público solicite el procedimiento, para lo cual se deberá formular la acusación y exponer los datos de prueba que la sustentan.“ 288 Darüber Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Arts. 201 – 207, S. 557. 289 Art. 203 Abs. 1 CPPN: „Admisibilidad. En la misma audiencia, el juez de control admitirá la solicitud del Ministerio Público cuando verifique que concurran los medios de convicción que corroboren la imputación en términos de la fracción VII del apartado A del artículo 20 de la Constitución. Serán medios de convicción los datos de prueba que se desprendan de los registros contenidos en la carpeta de investigación.“ 290 Dazu vgl. infra, B. II. 5. b).
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Hier ist nur von Interesse, dass der staatsanwaltschaftliche Antrag auf abreviado auf den Informationen der Ermittlungsakte beruht. Von der Überzeugungskraft der von der Staatsanwaltschaft in der Anklage vorgelegten Beweismittel hängt also die Entscheidung des Ermittlungsrichters zugunsten der Zulassung des procedimiento abreviado oder für die Ablehnung des staatsanwaltschaftlichen Antrags mit der Weiterführung des regulären Verfahrens (Art. 203 Abs. 2 CPPN) ab. Aus diesem Grund wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass der günstigste Zeitpunkt für die staatsanwaltschaftliche Beantragung des procedimiento abreviado nicht unbedingt im Verlauf der Sitzung sein wird, in der der auto de vinculación a proceso (Beschluss über die Einbeziehung des Beschuldigten in das Verfahren) erlassen wird. Weil dieser Beschluss in der Regel mit wenigen Nachweisen erreicht wird, wird die Staatsanwaltschaft die weiteren Ermittlungen mit weiteren belastenden Beweisen abwarten.291 Bezüglich des chilenischen abreviado, der als Vorbild für Mexiko diente, stellt sich darüber hinaus die Frage, ob der bloße staatsanwaltschaftliche Verweis auf die polizeilichen Protokolle für den Antrag auf abreviado und seine Zulässigkeit ausreicht oder ob die Staatsanwaltschaft auch zusätzlich selber ermitteln und zu einer eigenen Bewertung der Beweislage für den Antrag kommen sollte. Diese Anforderung wurde im chilenischen Gesetzgebungsverfahren thematisiert,292 ist aber nicht Gegenstand von Differenzierungen in der mexikanischen Regelung. cc) Beantragung des Strafmaßes In der Anklage muss ein konkretes Strafmass gemäß dem Katalog des Art. 202 Abs. 3 bis 5 CPPN beantragt werden. Bei milderen Fällen mit einer gesetzlichen Freiheitsstrafe von maximal 5 Jahren einschließlich einer Qualifikation kann die Staatsanwaltschaft eine Reduktion von bis zur Hälfte der Mindeststrafe beim Vorsatzdelikt und eine Reduktion von bis zu zwei Drittel der Mindeststrafe beim Fahrlässigkeitsdelikt beantragen (Art. 202 Abs. 3 CPPN). Bei den restlichen Fällen kann sie eine Reduktion von einem Drittel der Mindeststrafe beim Vorsatzdelikt und eine Reduktion von bis zur Hälfte der Mindeststrafe beim Fahrlässigkeitsdelikt beantragen (Art. 202 Abs. 4 CPPN). Hier tut sich womöglich eine Sanktionsschere auf: Eine Reduzierung des Strafmaßes für ein Vorsatzdelikt von beispielsweise 5 Jahren auf 2,5 Jahren kann einen Angeklagten durchaus verleiten, ein falsches Geständnis abzulegen, wenn er seine Chancen auf einen Freispruch als gering ansieht. In der Anklage ist ferner ggf. die Höhe der Schadenswiedergutmachung zu benennen. In diesem Fall wird auch der Verletzte gehört, der sich gegen die Eröffnung 291
So Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Arts. 201 – 207, S. 557. 292 Horvitz Lennon, in: Horvitz Lennon/López Masle, Derecho procesal penal chileno II, S. 532.
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des abreviado nur wenden kann, wenn die Wiedergutmachung nicht garantiert ist (Art. 201 Abs. 1 II; 204 CPPN). b) Anerkenntniserklärung des Angeklagten über seine Beteiligung an der Begehung der Tat aa) Zustimmung zu und Anerkennung von Tatsachen (1) Das Anerkenntnis des Angeklagten bezieht sich beim mexikanischen abreviado nur auf Tatsachen. Eine Zustimmung zu Rechtsfragen oder zur Anklage insgesamt ist bei dieser Version des abreviado nicht möglich.293 Ausgeschlossen ist eine pauschale Annahme verschiedener Punkte der Anklage einschließlich des Schuldspruches oder der rechtlichen Bewertung. Bei der Regelung des abreviado in Mexiko finden sich also mehrere Indizien für das Bestreben, der Zustimmung des Angeklagten inhaltliche Grenzen zu setzen und sich dadurch vom plea bargaining, das sich als Quelle aller einverständlichen Verfahrenserledigungen ausmachen lässt, zu distanzieren. Mit dieser Einschränkung des Zustimmungsstoffs folgt der mexikanische Gesetzgeber dem chilenischen Vorbild,294 und es bestehen inhaltliche Parallelen mit der heutigen deutschen Verständigung,295 die neben den Unterschieden zu dem angelsächsischen Archetyp einer gesonderten Erörterung bedürfen.296 Über die Plausibilität der praktischen Einhaltung dieser Restriktionen bei der richterlichen Annahme einer Anerkenntniserklärung besteht aber in der mexikanischen Anwaltschaft eine gewisse Skepsis. Bei den restlichen Regelungen des abreviado in Lateinamerika ist der vorgesehene Gegenstand der Anerkenntniserklärung unterschiedlich. So bestehen zum Beispiel in Peru die erwähnten inhaltlichen Einschränkungen nicht. Dort ist nämlich eine pauschale Annahme der Anklagepunkte vorgesehen (Art. 372 CPP).297 Auch die Absprachen einiger kontinentaleuropäischen Verfahrensregelungen sehen einen weiten Umfang der Anerkenntniserklärung vor, wie zum Beispiel die conformidad in Spanien (Art. 655 LECrim „conformidad absoluta“) oder die comparution in Frankreich.298 (2) Neben der verkürzten Anklage ist also die Zustimmung des Angeklagten Voraussetzung für die Eröffnung des mexikanischen abreviado. Das neue Bundesstrafprozessgesetz listet die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Zustimmung 293 Vgl. Art. 201 Abs. 1 III CPPN; dazu Cepeda Morado, El procedimiento abreviado mexicano, S. 29 ff. 294 Vgl. Art. 406 CPP Chile, dazu Horvitz Lennon, in: Horvitz Lennon/López Masle, Derecho procesal penal chileno II, S. 521 f., 524. 295 Zum Vergleich mit der deutschen Verständigung infra, B. V. 4. b) cc) und zum Vergleich mit dem plea bargaining infra, B. V. 3. c) bb). 296 Vgl. dazu infra, B. V. 297 Vgl. dazu Fernández Muñoz, in: Derecho & Sociedad 34, 2010, S. 210 ff. 298 Vgl. dazu infra, B. V. 2.
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im Art. 201 Abs. 1 III CPPN auf: a) Die Belehrung über sein Recht auf eine Hauptverhandlung; b) sein Verzicht auf die Durchführung einer Hauptverhandlung; c) seine Zustimmung für die Anwendung des procedimiento abreviado; d) seine Anerkennung („admita“) der eigenen Verantwortlichkeit für die vorgeworfene Straftat und e) seine Zustimmung („acepte“) für ein Urteil auf der Grundlage der staatsanwaltschaftlichen Beweismittel, die mit der Anklage vorgelegt werden. Problematisch ist die vom Gesetzgeber im Punkt d) geforderte Anerkennung der „Verantwortlichkeit“ („Admita su responsabilidad por el delito que se le imputa“), die als eine Aufforderung zu einem „Eigenständnis von Schuld“ vergleichbar beim guilty plea interpretiert werden könnte. Allerdings würde eine solche Gesetzesauslegung den Wortlaut des mexikanischen Grundgesetzes missachten. Dieses verlangt in Art. 20 AVII Satz 2 die Anerkennung der „Beteiligung an der Begehung der Tat“ für die vorzeitige Verfahrensbeendigung: „Si el imputado reconoció … su participación en el delito“.299 Diese verfassungsrechtliche Formulierung ist nicht nur deutlicher als das Schlagwort „Verantwortlichkeit“, sondern auch richtig, weil der Angeklagte nur Tatsachen anerkennen kann. Die Beantwortung rechtlicher Fragen gehört nach der herkömmlichen mexikanischen Auffassung zum richterlichen Aufgabenbereich. Eine pauschale Annahme der staatsanwaltschaftlichen Anklage ist also nicht der vom CPPN geforderten „Anerkennung der Verantwortlichkeit“ zu entnehmen, weil ein so grundlegender Schritt in Richtung Wahrheitsabstrich nicht mit dieser knappen gesetzlichen Formulierung gemeint sein kann. Es bestehen also inhaltliche Unterschiede, was den Gegenstand der zur Disposition der Parteien stehenden Punkte betrifft. Ferner betont die neue Rechtsprechung das Erfordernis der Freiwilligkeit der Zustimmung und dass der Angeklagte sich dabei über deren Umfang und Folgen bewusst sein muss. Andernfalls würde man sein Recht auf ein faires Verfahren (debido proceso) verletzen.300 Bezüglich der Forderung nach Freiwilligkeit der Zustimmung wird aber teilweise in der Literatur in Mexiko zu Recht erkannt, dass eine solche Anforderung die Realitäten verkennt. Von einer Freiwilligkeit der Zustimmung kann angesichts der strukturell unterlegenen Position des Angeklagten nicht die Rede sein, v. a. dann nicht, wenn die Untersuchungshaft in Mexiko missbräuchlich genutzt wird, um Druck auszuüben.301
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Darüber kritisch Cepeda Morado, El procedimiento abreviado mexicano, S. 47 ff. Décima Época, Instancia: Primer Tribunal Colegiado en Materia Penal del Segundo Circuito, Fuente: Semanario Judicial de la Federación y su Gaceta, T. III, März 2015, S. 2293, tesis: II.1.8P. J/3 (10.a). 301 Cepeda Morado, El procedimiento abreviado mexicano, S. 22. Für die deutschen Absprachen statt aller Schünemann, ZRP 2009, 107. 300
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bb) Richterliche Überprüfung und Zulässigkeit Die beim abreviado erforderliche Anerkenntniserklärung des Angeklagten ist nur ein erster Schritt für die Beendigung des Prozesses. Eine solche Einlassung über die Begehung der Tat nebst seinem Willen zu einer Vereinbarung allein reichen nicht aus, um das Verfahren zu erledigen. Beim mexikanischen abreviado wird genauso wie bei seinem chilenischen Vorbild eine Übereinstimmung zwischen den vom Angeklagten anerkannten Tatsachen und der Sachverhaltsermittlung gefordert.302 Dieser Aspekt wird vom Richter überprüft, indem er die Geeignetheit der Beweismittel der Anklage unter die Lupe nimmt, sie anhand der Ermittlungsakte überprüft und über die Zulässigkeit bzw. Genehmigung des Antrags auf einen abreviado entscheidet. Dabei wird betont, dass nicht nur die Entscheidung der Staatsanwaltschaft oder eine auf einer Fehleinschätzung beruhende Zustimmung der Verteidigung für das Zustandekommen der Parteivereinbarung ausreicht, sondern dass der mexikanische Gesetzgeber bei der Zulässigkeitsprüfung den richterlichen Abgleich der vorliegenden Beweise für die Tat verlangt.303 Ob eine zusätzliche richterliche Verifizierung des Wahrheitsgehalts der Zustimmung des Angeklagten bei der Urteilsfindung erfolgt und wie weit der Richter diese Überprüfung mit zusätzlichen Beweiserhebungen treiben darf, ergibt sich nicht eindeutig aus dem Gesetz. Rechtsprechung und Literatur beschäftigten sich mit diesem Thema und auf ihre Erörterung unten ist zu verweisen. cc) Kein Geständnis, weil dieses in Mexiko auch rechtliche Aspekte umfasst Beim mexikanischen Konzept der Absprachen mit Zustimmung des Angeklagten zu den Tatsachen bestand aber ein Problem mit dem traditionellen Begriff von Geständnis, nachdem die Rechtsprechung diesen Begriff nicht nur für die Anerkennung der Taten, sondern auch zusätzlich für die rechtliche Verantwortlichkeit verwendete. Um aus diesem Dilemma herauszukommen und die Anerkenntniserklärung des procedimiento abreviado begrifflich einzuordnen, entschied das Bundesverfassungsgericht Mexikos neuerdings, dass das Anerkenntnis des Angeklagten, die im procedimiento abreviado erfordert wird, kein Geständnis sei und deshalb nicht durch den juicio de Amparo revidiert werden könne.304 Diese Ein302 Ausdrücklich Horvitz Lennon, in: Horvitz Lennon/López Masle, Derecho procesal penal chileno II, S. 534 f., 521 f.; Cepeda Morado, El procedimiento abreviado mexicano, S. 28 f. 303 Cepeda Morado, El procedimiento abreviado mexicano, S. 50. 304 Décima época, Suprema Corte de Justicia de la Nación, Primera Sala, in: Semanario Judicial de la Federación y su Gaceta, T. II, August 2016, S. 784, tesis aislada 1a CCIX/2016 (108), materia penal: „Diferencias jurídicas entre los conceptos ,confesión‘ conforme al sistema procesal penal tradicional mixto/escrito y ,reconocimiento‘ o ,aceptación‘ del hecho señalado en la ley como delito, acorde al sistema procesal penal acusatorio. Para establecer las diferencias jurídicas entre los conceptos referidos, es útil considerar los artículos 207 y 287 del Código Federal de Procedimientos Penales, que regulan la confesión en el sistema procesal penal mixto/ escrito, de los cuales se advierte, entre otras cuestiones, que aquélla es una declaración que debe
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ordnung der Anerkenntniserklärung als etwas anderes als ein Geständnis bestand bereits im Konzept der mexikanischen Rechtsprechung im Bezug auf die Strafprozessgesetze der einzelnen Bundesstaaten vor der Vereinheitlichung.305 emitirse voluntariamente ante el Ministerio Público o la autoridad jurisdiccional, sobre hechos propios del declarante que constituyan el tipo delictivo materia de la acusación, lo que debe hacerse con pleno conocimiento del procedimiento y del proceso, sin coacción alguna, en presencia de su defensor y con las formalidades legales que regula dicho sistema procesal penal. Por su parte, la ,aceptación‘ en el procedimiento abreviado debe realizarse forzosamente ante la autoridad judicial, con las reglas del sistema procesal penal acusatorio y bajo los términos en que lo haya especificado el Ministerio Público en su escrito de acusación, es decir, en las modalidades y con la calificación jurídica establecida en el escrito correspondiente, la cual, aceptada en sus términos, no admite objeciones o variantes; ello, aunado al hecho de que las referidas figuras ,confesión‘ y ,aceptación‘ de la participación en el delito se dan en niveles distintos; esto es, mientras que la ,confesión‘ constituye un indicio que alcanza el rango de prueba plena cuando se corrobora por otros elementos de convicción, la ,aceptación‘ del inculpado de su responsabilidad no constituye una prueba ni un dato de prueba, pues se trata del simple asentimiento de la acusación en los términos en que la formula el acusador, que cumple con un requisito de procedencia para la tramitación del procedimiento abreviado. En efecto, la ,confesión‘ del inculpado no tiene otra finalidad que la de reconocer su participación en la comisión del delito imputado; mientras que la ,aceptación‘ voluntaria de la participación, se hace con el objetivo específico de terminar en forma anticipada el proceso penal; que se tramite en el procedimiento referido, y se disfrute de los beneficios legales que procedan, tales como la obtención de penas menos estrictas. Así, la ,aceptación‘ de la responsabilidad en los ilícitos atribuidos no constituye una prueba, que sólo puede serlo la ,confesión‘ formal de los hechos por parte del indiciado y que, en su caso, deberá rendirse en juicio oral, no en el procedimiento abreviado. Esto es, cuando el inculpado admite ante autoridad judicial su responsabilidad en la comisión del delito atribuido, en las modalidades y circunstancias expuestas por el Ministerio Público en el escrito de acusación, no está propiamente confesando su participación en la comisión de los hechos ilícitos que se le atribuyen, sino que acepta ser juzgado a partir de los medios de convicción en que sustentó la acusación el Representante Social, para dar procedencia al procedimiento abreviado, como forma anticipada de terminación del proceso penal acusatorio ordinario.“ Vgl. dazu die Presse http://www.eluniversal.com.mx/articulo/nacion/poli tica/2016/03/18/reconocer-delito-no-equivale-confesión. 305 „Procedimiento abreviado. Su aceptación por el imputado no implica que deberá considerarársele confeso (legislación del Estado de México). De conformidad con el artículo 20, apartado A, fracción VII, de la Constitución Política de los Estados Unidos Mexicanos, iniciado el proceso penal, podrá decretarse su terminación anticipada en los supuestos y bajo las modalidades que determine la ley, si el inculpado reconoce ante la autoridad judicial su participación en el delito y existen medios de convicción suficientes para corroborar la imputación. Por su parte, los numerales 388, 390 y 385 del Código de Procedimientos Penales para el Estado de México disponen que el procedimiento abreviado se tramitará cuando el imputado admita el hecho atribuido en la acusación y acepte ser juzgado con los antecedentes recabados en la investigación, así como que la sentencia condenatoria no podrá exceder el contenido de la acusación; sin embargo, el que aquél acepte dicho procedimiento, no implica que deba considerársele confeso, pues conforme a las jurisprudencias 105 y 108, sostenidas por el Pleno y la Primera Sala de la Suprema Corte de Justicia de la Nación, publicadas en el Apéndice al Semanario Judicial de la Federación 1917 – 1995, Tomo II, Materia Penal, páginas 60 y 61, de rubros: ,Confesión del acusado‘ y ,confesión valor de la‘, respectivamente, la confesión es la declaración voluntaria realizada por una persona penalmente imputable ante autoridad competente, y con las formalidades legalmente exigidas, sobre hechos propios constitutivos de delito, que importa el reconocimiento de la propia culpabilidad derivada de su actuar; de lo que
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In anderen Ländern Lateinamerikas wie Guatemala wird die Anerkenntniserklärung ausdrücklich als Geständnis verstanden.306 Dagegen wird aber teilweise argumentiert, dass das Geständnis an den alten Inquisitionsprozess erinnert. Ferner soll die Anerkenntniserklärung nicht als Beweis beim Urteil verwendet werden.307 Beispiel dafür ist die conformidad in Chile, die gemäß der Rechtsprechung nicht als Beweismittel genutzt werden darf.308 dd) Mehr plea als bargaining? In der Regel besteht bei der Regelung des abreviado in den lateinamerikanischen Strafprozessgesetzen ausdrücklich kein Bezug auf Vereinbarungen der Parteien oder gar auf ein Verhandeln des Angeklagten im Sinne eines gegenseitigen „Tauschhandels“. Der Gesetzgeber regelt nur die Anklage und die Zustimmung dazu. Ein „bargaining“309 steht nicht im Vordergrund der lateinamerikanischen Vorschriften, sondern die Anerkennung und Zustimmung des Angeklagten. In Bezug auf die chilenische conformidad (Art. 406 CPP Chile), die als Vorbild in der Region gilt, wird teilweise eine begriffliche Differenzierung versucht, indem man den abreviado als Anerkenntnis (allanamiento) und nicht als Vergleich (transacción) versteht.310 In Mexiko wird mitunter die Möglichkeit kritisiert, die Anerkenntniserklärung des Angeklagten im Rahmen des abreviado als eine „Vereinbarung“ mit der Staatsanwaltschaft im Sinne eines Konsenses zu betrachten.311 Mit dieser Auffassung der Interaktion zwischen den Prozessbeteiligten könnte sich der abreviado an die französischen Absprachen im Sinne einer composition pénale oder eine comparution sur reconnaissance préalable de culpabilité (Erscheinen nach vorherigem Schuldanerkenntnis) annähern, die teilweise dergestalt verstanden werden, dass sie die Möglichkeit einer richtigen négociation nicht erse concluye que, para considerar la existencia de una confesión, el dicho del inculpado debe comprender la admisión de que el delito existe, y el reconocimiento de que participó en su ejecución, con la concreción de todos sus elementos típicos, como autor intelectual, material, coautor, copartícipe, inductor o auxiliador (aun cuando con posterioridad se invoque alguna excluyente del ilícito o de la responsabilidad, o bien, una atenuante); aspectos que no se satisfacen, con la única circunstancia de que el imputado acepte ser juzgado conforme a las reglas del procedimiento abreviado.“ Primer Tribunal Colegiado del Segundo Circuito con residencia en ciudad Nezahualcóyotl, Estado de México. Vgl. dazu Cepeda Morado, El procedimiento abreviado mexicano, S. 48. 306 Darüber Martínez Gutiérrez, Análisis jurídico del procedimiento abreviado, S. 35. 307 Vgl. Martínez Gutiérrez, Análisis jurídico del procedimiento abreviado, S. 47 f. 308 González San Martín/Mardones Loyola, Análisis doctrinario y jurisprudencial, S. 144, mit Nachweisen über die chilenische Rechtsprechung. 309 Wobei eine Art des amerikanischen bargainings ist „implizit“, wenn die Parteien nicht verhandeln, sondern der Angeklagte von sich aus infolge seines guilty plea auf eine mildere Strafe hofft, vgl. dazu Brodowski, ZStW 124 (2012), 748. 310 González San Martín/Mardones Loyola, Análisis doctrinario y jurisprudencial, S. 138 f., 144 f. 311 Beispielsweise Zamora Pierce, Abreviado – Comentarios a la sentencia, S. 175.
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öffnen.312 Aus dieser Sichtweise heraus wird diese Verfahrensart als ein „contrat d’adhésion“ und nicht als eine „véritable situation de négociation“ gedeutet.313 Allerdings ist in der praktischen Anwendung des abreviado von der tatsächlichen Durchführung von Verhandlungsgesprächen zwischen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung auszugehen. In Lateinamerika ist die Rede nicht ohne Grund von „justicia negociada“. Damit ist ein Tausch von Vorteilen zwischen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigerseite über das Verfahrensergebnis gemeint. Nichts anderes geschieht in der Wirklichkeit des mexikanischen Strafprozesses. Beispielsweise war im Gesetzgebungsprozess im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca, der eine Musterfunktion in der Region besaß, die Verhandlung mit der Staatsanwaltschaft über die Strafe in Betracht gezogen worden. Es wurde vermutet, dass der Angeklagte der Anwendung des abreviado nicht zustimmen würde, wenn die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe nicht als angemessen empfunden würde. Der lohnende Aspekt dieser Verfahrensform würde eben gerade in der Strafmilderung bestehen.314 Eigentlich dürfte die Frage, ob Vereinbarungsgespräche zwischen den Prozessbeteiligten bei den verschiedenen Absprachenformen tatsächlich geführt werden, in der allgemeinen Debatte über die Absprachen nicht von besonderer Relevanz sein. Sollten keine Verhandlungsgespräche zwischen den Prozessbeteiligten geführt werden und würde sich die Interaktion nur auf die Möglichkeit der Zustimmung oder Ablehnung für den Angeklagten reduzieren, würde eine solche Wahlmöglichkeit das tatsächliche Ungleichgewicht der Positionen ihrer Beteiligten unverhohlen ans Licht bringen. Sie würde die reale Lage zeigen, dass eine ebenbürtige Ausgangsposition der Verhandlungskontrahenten im Strafprozess schwer zu erreichen ist, v. a. wenn Untersuchungshaft droht. In diesem Rahmen von einer freien Kommunikation der Verfahrensbeteiligten mit Richtigkeitsanspruch oder von Konsens zu sprechen, bildet nicht die echten Verhältnisse ab. Bei der deutschen Verständigung geht der Gesetzgeber vom Begriff des Einvernehmens aus.315 Allerdings scheint es bei den angebotenen Leistungen und Gegenleistungen nicht um eine quasi-vertragliche Vereinbarung mit Elementen der Wechselbezüglichkeit gehen. Der Angeklagte kann sich jedenfalls aufgrund des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit nicht verpflichten. Das Geständnis ist für das deutsche Recht ein Beweismittel und keine Verfügungs-
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Art. 495 – 7 bis 495 – 16 des französischen CPP. Vgl. dazu etwa Jung/Nitschmann, ZStW 116 (2004), 790; anders Peters, Urteilsabsprachen im Strafprozess, S. 123. 313 Jung/Nitschmann, ZStW 116 (2004), 790 in Bezug auf die französische Presse. Dazu auch Nolte, Verständigung im Strafprozess, S. 278 f. 314 Vgl. Benítez, in: Carmona Castillo/Mafud Mafud (Hrsg.), Juicio oral penal, S. 448. 315 BT-Drucks. 16/12310, S. 13.
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erklärung. Ferner ist ein Vertrag mit dem Gericht über den Ausgang des Verfahrens bereits durch die Bestimmung des Art. 92 GG ausgeschlossen.316 5. Strafurteil im Anschluss an den procedimiento abreviado a) Erforderlichkeit eines richterlichen Urteils, Entscheidungsorgan Der Abschluss der vorzeitigen Beendigung („terminación anticipada“) mit einem richterlichen Urteil ist eine verfassungsrechtliche Anforderung (Art. 20 A VII: „el juez citará a audiencia de sentencia“). Weitere Angaben über die Art des dafür zuständigen Richters werden vom Grundgesetz nicht gegeben. Für die Hauptverhandlung fordert die Verfassung, dass diese Prozessphase vor einem Richter stattfinden sollte, der den Fall bis dato nicht kannte.317 Der procedimiento abreviado wurde nun vom Gesetzgeber des Bundesstrafprozessgesetzes so konzipiert, dass der Ermittlungsrichter das Urteil erlässt (Art. 206 Abs. 1 CPPN), was für diese Figur eine ungewöhnliche Aufgabe darstellt.318 Bereits in anderen lateinamerikanischen Ländern wendet sich teilweise das Schrifttum gegen die fehlende Unbefangenheit bzw. Unparteilichkeit (imparcialidad) des Ermittlungsrichters als Entscheidungsorgan im abreviado. Allerdings wird der Einwand dadurch relativiert, dass der Ermittlungsrichter im Verlauf des abreviado eigentlich nicht ermittelt, sondern nur die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen kontrolliert. Vorzuziehen wäre jedenfalls eine unvoreingenommene Instanz für das Urteil im abreviado.319 Ferner gelten die allgemeinen Anforderungen des Art. 403 Abs. 1 V und VIII CPPN an das Urteil, demzufolge die klare, logische und vollständige Bestimmung und Erläuterung aller nachgewiesenen Taten und Umstände mit der entsprechenden Beweiswürdigung erfolgen soll, die als Grundlage für das richterliche Urteil dienen.320 Dass diese allgemeinen Vorschriften über das Urteil auch beim abreviado anwendbar sind, wird von der Literatur anerkannt.321
316 Vgl. dazu nur Niemöller/Schlothauer/Wieder, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, Rn. 8; LR/Stuckenberg, § 257c Rn. 25. 317 Art. 20 A. IV Satz 1 Constitución: „El juicio se celebrará ante un juez que no haya conocido el caso previamente“. 318 Dazu kritisch Moreno Hernández, in: ders./Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 94. 319 Auch so Horvitz Lennon, in: Horvitz Lennon/López Masle, Derecho procesal penal chileno II, S. 519. 320 Art. 403 Abs. 1 V: „La valoración de los medios de prueba que fundamenten las conclusiones alcanzadas por el Tribunal de enjuiciamiento“; Abs. 1 VIII: „La determinación y exposición clara, lógica y completa de cada uno de los hechos y circunstancias que se consideren probados y de la valoración de las pruebas que fundamenten dichas conclusiones“. 321 Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Arts. 201 – 207, S. 561.
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b) Der für das Strafurteil erforderliche Nachweis der Tat aa) „Datos de prueba“ (Beweismittel) vs. „Medios de convicción suficientes“ (ausreichende Überzeugungsmittel) Die bloße Anerkennung der Tat impliziert im lateinamerikanischen procedimiento abreviado keinen Verzicht auf ihren Nachweis.322 Eine erste richterliche Überprüfung erfolgt bei der Zulassung des Antrags auf abreviado durch einen Abgleich mit der Ermittlungsakte, auf deren Erörterung oben verwiesen wird. Nun stellt sich hier die Frage nach der Möglichkeit des Richters zur Heranziehung zusätzlicher Nachweise und einer abschließenden Gesamtüberprüfung der Urteilsgrundlage. In Mexiko ist es sogar in der Verfassung und dazu einfach gesetzlich geregelt, dass eine Vereinbarung der Parteien alleine als Urteilgrundlage nicht ausreicht. Bezüglich des für das Strafurteil erforderlichen Nachweises der Tat für den mexikanischen procedimiento abreviado ist die Frage von Bedeutung, welchen Umfang und Qualität an Beweisen für die Straftat und Strafschuld für eine Verurteilung in diesem verkürzten Rahmen erwartet wird. Art. 20 A VII Satz 2 des mexikanischen Grundgesetzes fordert den Nachweis der Tat für die „terminación anticipada“ (vorzeitige Beendigung). Voraussetzung sind ausreichende Überzeugungsmittel, die den Vorwurf bestätigen („existen medios de convicción suficientes para corroborar la imputación“323). Das neue Bundesstrafprozessgesetz begnügt sich aber für die Zulässigkeit des procedimiento abreviado mit den „datos de prueba“ (Beweismittel), die die Staatsanwaltschaft mit der Anklage vorlegt (Art. 201 Abs. 1 I und Art. 203 Abs. 1 Satz 2 CPPN). Zugleich definiert Art. 203 Abs. 1 CPPN die von der Verfassung geforderten „medios de convicción“ als die „datos de prueba“ aus der Ermittlungsakte.324 Die „medios de convicción“ werden damit auf die Beweismittel aus der Ermittlungsakte reduziert. An dieser von dem neuen mexikanischen Código Nacional vorgenommenen Abweichung von der Verfassung bestehen Kritikpunkte und Auslegungsfragen. Ein Teil der mexikanischen Literatur beanstandet die Beschränkung auf die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweismittel für eine Verurteilung. Es wird argumentiert, dass das Grundgesetz in seinen allgemeinen Grundsätzen über das Strafverfahren als Nachweis der Tat nur die Beweise vorsieht, die in einer Hauptver-
322 Das wird in den Gesetzestexten gefordert und die Literatur bezieht sich auch allgemein darauf, vgl. für Mexiko Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Arts. 201 – 207, S. 553, 561; für Chile: Pfeffer Urquiaga, Código Procesal Penal, S. 392 mit Nachweisen über die Debatte im Rahmen der Gesetzgebung; Horvitz Lennon, in: Horvitz Lennon/López Masle, Derecho procesal penal chileno II, S. 521 f. Für eine Differenzierung zwischen den für die Zulässigkeit und für das Strafurteil erforderten Nachweis vgl. infra die Erörterungen im Anschluss. 323 Hervorhebung nicht im Gesetz. 324 Der Text von beiden Vorschriften ist bereits oben in den Fußnoten angegeben.
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handlung erhoben wurden (Art. 20 A III, Satz 1325).326 Diesen Einwand kann man aber als eine allgemeine Kritik gegen die Absprachen in dem Sinne einordnen, dass sie ein Verzicht oder Verkürzung der Hauptverhandlung voraussetzen und dass sie auf die Angaben der Ermittlungsakte gestützt werden. Weil der lateinamerikanische procedimiento abreviado zusätzlich ein richterliches Urteil erfordert (Art. 206 CPPN: „fallo“), stellt sich die Frage, inwiefern sich der Inhalt der Entscheidung (fondo de la controversia) von den Zulässigkeitsvoraussetzungen (condiciones de procedencia) des abreviado unterscheidet. Umstritten ist also, ob es im Urteil nur um eine Bestätigung der Aspekte geht, die für die Entscheidung über die Zulässigkeit des abreviado anfangs relevant waren, ob also nur die datos de prueba der Staatsanwaltschaft für diese Abschlussentscheidung ausreichen. Man kann den Diskussionsstand in Lateinamerika in zwei Auffassungen untergliedern. bb) Erste Ansicht: Procedimiento abreviado nur für Verurteilungen vorgesehen Nach einem Teil der Meinungen wird mit dem Urteil im abreviado nur das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zulässigkeit bestätigt und damit sollen nur Verurteilungen als Abschluss dieser verkürzten Verfahrensform möglich sein. Dafür könnte Art. 203 Abs. 1 CPPN sprechen, der die staatsanwaltschaftlichen Beweismittel (datos de prueba) für die Annahme der abreviado als ausreichend ansieht.327 Wenn man dieser Ansicht folgt, müssten die Anforderungen an den Nachweis der Straftat und Tatschuld, die für eine Verurteilung ausreichen, mit den Anforderungen an einen Nachweis für die Zulässigkeit des procedimiento abreviado übereinstimmen. Auch müsste die rechtliche Würdigung bei beiden Varianten korrespondieren. Würden die Voraussetzungen des Antrags auf abreviado nicht gegeben sein, dann würde der Antrag abgelehnt werden. Diese Meinung wird so begründet, dass zum abreviado kein kontradiktorisches Beweisverfahren gehöre. Ferner sei der abreviado auch nicht für einen schnellen Freispruch gedacht. Sollte der Angeklagte über Argumente für seine Unschuld verfügen, oder wenn es um Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgründen gehe, müssten die entsprechenden Aspekte in einer Hauptverhandlung diskutiert und nachgewiesen werden. Bei einer Gesamtbetrachtung des abreviado überzeugt aber diese Auslegung der mexikanischen Vorschriften nicht. Weil die Bundesverfassung und der neue CPPN nicht den Konsens zwischen den Parteien über die Verfahrenserledigung durch einen 325 Art. 20 A. III, Satz 1: „Para los efectos de la sentencia sólo se considerarán como prueba aquellas que hayan sido desahogadas en la audiencia de juicio.“ 326 Moreno Hernández, in: ders./Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 94. 327 Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Art. 201 – 207, S. 560 f., 557. Nach dieser Meinung könnte nur der incidente de nulidad zu einem Freispruch führen, beispielsweise bei Nichtigkeit wegen Verletzung der Menschenrechte. Aus der ecuadorianischen Literatur verneint ein entschiedener Gegner der Absprachen die Möglichkeit des Freispruchs beim abreviado, vgl. Zavala Baquerizo, in: Iter Criminis 7, 2009, S. 175 ff.
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abreviado ausreichend scheinen zu lassen, aber auch nicht nur einen Abgleich mit den Beweisen aus der Ermittlungsakte, sondern auch ausreichende Überzeugungsmittel (medios de convicción) und zusätzlich ihre Beurteilung in einem richterlichen Urteil vorsehen (Art. 20 AVII Satz 2 GG), sollte diese Kautel so interpretiert werden, dass dadurch ein richterlicher Freiraum für eine weitere, zusätzliche Bewertung vor einem Urteilsspruch eröffnet wird. Das spricht für eine weitere Funktion der richterlichen Abschlussentscheidung im abreviado. Diese Voraussetzung ist beim abreviado sogar erforderlich: Weil die lateinamerikanischen Absprachen nicht wie im deutschen Strafprozess von einem Richter, sondern von den Parteien gesteuert werden, ist die Einschaltung einer richterlichen Instanz als ein kompensierender und überprüfender Faktor in der Verfahrensbalance anzusehen. cc) Zweite Ansicht: Freispruch auch beim abreviado möglich (1) Allgemeines Für den anderen Teil der Meinungen ist ein Freispruch im Rahmen des abreviado durchaus möglich. Aus dieser Perspektive heraus wird eine zusätzliche richterliche Überprüfung gewisser Aspekte des bestehenden Ermittlungsmaterials vor dem Urteilsspruch gefordert. Diese Verifizierung könne nicht nur zu einer Verurteilung, sondern auch zu einem Freispruch führen. Nur die Anerkenntniserklärung des Angeklagten zusammen mit den Nachweisen der Staatsanwaltschaft aus der Ermittlungsakte würde also nach dieser Ansicht für eine Verurteilung nicht ausreichen, auch wenn der Ermittlungsrichter die staatsanwaltschaftlichen Nachweise als Zulässigkeitsvoraussetzung zunächst überprüft hat.328 Von diesem Ausgangspunkt her interpretiert das in Lateinamerika für die Auslegung des abreviado einflussreiche chilenische Schrifttum, dass es bei der Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen nur um „ausreichende“ Nachweise aus der Ermittlungsakte gehen würde. Es würden wenige Beweise ausreichen, um den procedimiento abreviado zunächst zuzulassen, während die Anforderungen für die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten, die das Urteil verlangt, strenger wären.329 Einige lateinamerikanische Strafprozessgesetze wie das von El Salvador sehen die Möglichkeit des Freispruchs ausdrücklich vor (Art. 380 Abs. 4 CPP).330 Auch die Strafprozessgesetze einzelner Bundesstaaten Mexikos vor der Vereinheitlichung der Strafprozessgesetze, wie das von Zacatecas, berücksichtigten ausdrücklich diese Variante (Art. 426 CPP).
328 Vgl. zum Beispiel Pfeffer Urquiaga, Código Procesal Penal, S. 392 mit Nachweisen über die Debatte im Rahmen der chilenischen Gesetzgebung. 329 So Horvitz Lennon, in: Horvitz Lennon/López Masle, Derecho procesal penal chileno II, S. 524, 527, 535, die die Zulässigkeitsvoraussetzung von „ausreichendem“ Nachweis des Art. 410 Abs. 1 des chilenischen CPP als eine „suficiencia razonable“ interpretiert. Art. 410 Abs 1 chilenischer CPP: „cuando los antecedentes de la investigación fueren suficientes para proceder de conformidad a las normas de este Título“. 330 Vgl. dazu CPP de El Salvador Comentado, Tomo 2, Art. 379 f.
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Sodann teilen sich die Ansichten zur Frage darüber, was der Ermittlungsrichter bei seinem Urteil am Abschluss des abreviado überprüfen muss, nämlich nur die rechtlichen Fragen oder auch die Tatsachen: (2) Überprüfung nur rechtlicher Fragen beim Urteil des abreviado Teilweise wird die Möglichkeit eines Freispruchs nur aufgrund rechtlicher Fragen vertreten, wie zum Beispiel bei der richterlichen Berücksichtigung von Rechtfertigungsgründen, genauso wie die rechtliche Qualifikation der Straftat auch eine Aufgabe des Richterssei.331 Demgegenüber könnte der Nachweis der Tat nach dieser Sichtweise nicht mehr beim Urteil in Frage gestellt werden, weil dieser Aspekt bzw. die staatsanwaltschaftlichen Nachweise bereits vom Angeklagten anerkannt wurden, was als Grundlage für die Zulässigkeit der abreviado diente. Als Beispiel für einen Freispruch aufgrund rechtlicher Fragen wird eine Notwehrhandlung eines 18-Jährigen genannt, der auf dem Boden liegt und aktuell vom Box-Weltmeister im Schwergewicht mit starken Schlägen und Todesdrohungen ohne Anlass malträtiert wird. Um sich des Angriffs zu erwehren, schießt der junge Mann mit einer Waffe auf den Weltmeister und dieser stirbt. Wenn die Tötungshandlung im procedimiento abreviado erörtert wird und sich dabei weder die Staatsanwaltschaft noch die Verteidigung in ihrer Vereinbarung auf die Notwehrlage berufen, sei der Richter trotzdem befugt, den Angeklagten in diesem Fall durch Bejahung des Rechtfertigungsgrundes freizusprechen.332 Wenn diese Auffassung die Letztentscheidung über Rechtsfragen beim abreviado dem Richter überlässt, entfernt sie sich vom System des plea agreement, bei dem eine Parteivereinbarung über die rechtliche Qualifikation und über weitere rechtliche Aspekte üblich ist (charge bargaining) und die in der Praxis keine richterliche Verifizierung erfährt. (3) Überprüfung auch von Tatsachen beim Urteil des abreviado (a) Gesetzgebungsdebatte und Schrifttum Nach der Gegenmeinung, die auch in Bezug zum Muster des chilenischen procedimiento abreviado vertreten wird, ist die Möglichkeit der richterlichen Überprüfung auch der Nachweise über die Tatsachen beim Urteilsspruch vorgesehen.333 Ein Freispruch sei im Fall von nicht ausreichendem bzw. nicht überzeugendem Nachweis über die Beteiligung des Angeklagten an der Tatbegehung und über seine Tatschuld möglich. Nach dieser Ansicht hat das Urteil nach Abschluss des abreviado 331 Für Chile: Falcone Salas, La absolución en el procedimiento abreviado, S. 371 ff.; für Mexiko: Cepeda Morado, El procedimiento abreviado mexicano, S. 55 ff. 332 Cepeda Morado, a. a. O., S. 90 f. 333 Für Chile Horvitz Lennon, in: Horvitz Lennon/López Masle, Derecho procesal penal chileno II, S. 527 f., 535 mit Verweis auf S. 531 auf die Debatte im Rahmen der chilenischen Gesetzgebung. Für Nachweise zu Mexiko vgl. unten.
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den Sinn, dass der Richter den Angeklagten nach einer abschließenden Überprüfung der Tatsachen auch freisprechen könne. Bereits in der Debatte im chilenischen Gesetzgebungsverfahren wurde auf die Erforderlichkeit einer Stärkung der richterlichen Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen hingewiesen. Demnach darf der Richter die von ihm als zulässig angenommene Zustimmung des Angeklagten (Art. 410 Abs. 1 chilenischer CPP) vor dem Urteil in einem zweiten Schritt näher überprüfen.334 Die erste richterliche Kontrolle im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung ließe einen Spielraum für den Richter beim Strafurteil offen, damit er eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Verfahrens vornehmen und den Angeklagten ggf. wegen fehlender Überzeugung von seiner Schuld freisprechen könne. Dafür muss das Gericht die bestehenden Beweise nach den Kriterien der Logik, der wissenschaftlichen Kenntnisse und der Erfahrungssätze objektiv würdigen.335 Der CPP des mexikanischen Bundesstaates Chihuahua, der vom chilenischen Strafprozessgesetz inspiriert ist und auch als Vorbild für den heutigen mexikanischen Código Nacional dient, berücksichtigte ausdrücklich die Möglichkeit eines Freispruchs im Rahmen des abreviado (Art. 392 Abs. 1 Satz 1). Für den neuen mexikanischen Código Nacional hingegen wird die Möglichkeit, den Angeklagten im Rahmen des abreviado aufgrund einer richterlichen, abschließenden Überprüfung der Tatsachen freizusprechen, im Schrifttum nur teilweise vertreten.336 (b) Rechtsprechung (aa) Frühere Rechtsprechung mit einem Modell der „Sachverhaltsaufklärung“ beim abreviado Bereits vor der Vereinheitlichung des mexikanischen Strafprozesses beschäftigte sich die Rechtsprechung der Gerichte einiger mexikanischen Bundesstaaten mit der richterlichen Überprüfung der Urteilsgrundlage beim abreviado. In Bezug auf die Gesetzgebung des Bundesstaates Nuevo León (Art. 601 ff. CPP) wurde in einer Entscheidung aus dem Jahr 2013 eine abschließende richterliche Würdigung der Gesamtheit der Beweise bei der Urteilsfällung gefordert. Das heißt, dass dabei eine 334
Vgl. bei Pfeffer Urquiaga, Código Procesal Penal, S. 398, den Bezug auf die Debatte im chilenischen Senado: „reforzar el control que el juez debe efectuar … a fin de evitar que se transe sobre los hechos en aquellos casos en que la investigación del fiscal sea insuficiente“; „el juez puede rechazar el acuerdo si su contenido no se conforma con los antecedentes de la investigación“. Die Cámara de Diputados stellte ferner in der Gesetzgebungsdebatte fest: „no puede entenderse que aun sobre la base de la aceptación de los hechos, el juez tenga necesariamente que condenar, porque ello significaría legalizar un allanamiento a una condena y atribuirle un sentido jurisdiccional al acuerdo entre el fiscal y el imputado, en desmedro de las facultades naturales del órgano jurisdiccional“, „aquí, el imputado acepta que los antecedentes reunidos por el fiscal son ciertos, en general. El juez tiene que indagar dentro de esos antecedentes y, sobre la base de ellos, puede absolver“, dazu Pfeffer, a. a. O., S. 392 f. 335 Horvitz Lennon, in: Horvitz Lennon/López Masle, Derecho procesal penal chileno II, S. 527 f. 336 Vgl. zum Beispiel Bardales Lazcano/Vázquez González de la Vega/Arcos Cortés, Acusatorio y juicio de amparo, S. 279; Zamora Pierce, Abreviado – Comentarios a la sentencia.
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richterliche Bewertung der für die Urteilsfindung ausschlaggebenden Beweise mit der Maßgabe vorzunehmen ist, aufgrund welcher Beweismittel der Richter die Straftat, aber auch die Tatbegehung durch den Angeklagten und seine Tatschuld als nachgewiesen ansieht.337 Die richterliche Beweiswürdigung im Rahmen des abreviado war auch Gegenstand der Rechtsprechung des mexikanischen Bundesstaates Chihuahua vor der Vereinheitlichung der Strafprozessgesetze.338 Nach einem Urteil aus dem Jahr 2015 bleibe das Gericht für die Beweiswürdigung und für die rechtlichen Fragen zuständig und die Parteien dürften über diese Aspekte keine Vereinbarungen treffen. Für die Beweiswürdigung gelten die Kriterien der Logik, der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Erfahrungssätze bei einer objektiven Betrachtungsweise. Diese Entscheidung ist ferner wegen seiner Einschränkung des Prozessgegenstands relevant. Die Anerkenntniserklärung des Angeklagten im procedimiento abreviado der Art. 387 ff. des CPP Chihuahua dürfe demnach nur zu Tatsachen und nicht zu Rechtsfragen ergehen. Die in der Erklärung des Angeklagten in Bezug genommenen, ihm vorgeworfenen und von ihm anerkannten Tatsachen stellen die Grenze der 337 Décima época, Tribunales Colegiados de Circuito, in: Semanario Judicial de la Federación y su Gaceta, Tomo III, abril de 2013 (amparo von 9.11.12), S. 2255, tesis: IV.2.8P.5 P(10a), materia penal: „Cuando el inculpado se acoge al procedimiento abreviado a que se refiere el artículo 601 del Código de Procedimientos Penales del Estado de Nuevo León, es necesario que en su trámite manifieste con anuencia de su defensor, entre otras cosas, que no tiene pruebas que ofrecer o desista de las ofrecidas, salvo las relativas a la individualización de la pena. Sin embargo, ello no exime al juzgador de la obligación de valorar los restantes elementos de prueba que existan en la causa penal al dictar la sentencia respectiva, pues es necesario que lo haga en su totalidad, a efecto de que precise con cuáles acreditó el hecho probado y si éste materializó el ilícito, así como la plena responsabilidad del inculpado …“. 338 Décima época, Tribunales Colegiados de Circuito, in: Semanario Judicial de la Federación y su Gaceta, Tomo V, Libro 24, noviembre de 2015, S. 1156, tesis: XVII.1.8P.A J/ a 11(10 ), materia penal: „Procedimiento abreviado. El hecho de que el inculpado opte por esta forma especial de terminación anticipada, admita los hechos que se le atribuyen y esté de acuerdo con la cantidad que el Ministerio Público precisó en su acusación por concepto de reparación del daño, no impide que el juez de garantía valore las pruebas y concrete la imposición de dicha sanción pecuniaria, sin que se exceda del monto que conformó la imputación (nuevo sistema de justicia penal en el Estado de Chihuahua).“„… la admisión de los hechos constituye el límite de lo pactado entre las partes, se fija la litis y el imputado decide renunciar al derecho de un juicio oral, quedando con ello resguardado su derecho de ser juzgado con base en esos hechos, lo que además consiste en la única restricción de la actividad jurisdiccional, ya que las cuestiones de derecho relacionadas con la valoración de la prueba no se delegan ni forman parte del citado acuerdo, a diferencia de los hechos, respecto de los cuales no debe existir oposición. En esa tesitura, el que el inculpado opte por dicho mecanismo de terminación anticipada, admita los hechos que se le atribuyen y esté de acuerdo con la cantidad que el Ministerio Público precisó en su acusación por concepto de reparación del daño, no impide que el Juez de garantía valore las pruebas y concrete la imposición de dicha sanción pecuniaria, sin que se exceda del monto que conformó la imputación. Lo anterior, toda vez que no puede quedar despojado de esa facultad que constitucionalmente le ha sido dada y que se encuentra obligado a cumplir, aplicando la lógica, los conocimientos científicos y las máximas de la experiencia, en estricto apego a los principios de objetividad y deber de decidir, así como de fundamentación y motivación, según los artículos 17 a 20 de la Constitución Federal.“
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Disponibilität dar. Damit seien die für das Urteil in Frage kommenden Tatsachen umrissen und das Recht des Angeklagten garantiert, nur wegen dieser Tatsachen abgeurteilt zu werden. Das Gericht müsse sich beim Urteil allein nach den vom Angeklagten anerkannten Tatsachen richten. Diese interessanten Urteile aus den mexikanischen Bundesstaaten vor der Vereinheitlichung der Strafprozessgesetze339 setzten bereits damals eine Richtschnur in dem Sinne, dass der abreviado in zwei wesentlichen Aspekten vom plea bargaining abweicht: erstens der zur Disposition stehende Gegenstand, der u. a. nicht den Schuldspruch oder die Subsumtion erfassen darf, und zweitens die abschließende richterliche Kontrolle und Beweiswürdigung. Für die Frage nach der in der Praxis vorzufindenen Einschränkung des Gegenstands des abreviado und der eingehenden richterlichen Überprüfung ist auf den nachstehenden rechtsvergleichenden Abschnitt zu verweisen. Von großer Bedeutung ist das Urteil der mexikanischen Suprema Corte de Justicia de la Nación (Bundesverfassungsgericht, Primera Sala) vom 19. März 2014 über den erforderlichen Nachweis beim procedimiento abreviado des Bundesstaats Mexico noch vor der Vereinheitlichung. Es geht um die Verfassungsbeschwerde Nr. 4433/ 2013 i. V. m. Nr. 4491/2013 (amparo directo en revisión). In der ersten Instanz war der Angeklagte wegen Raubes eines Firmenwagens vom Ermittlungsrichter von Chalco im Bundesstaat Mexiko im Rahmen eines procedimiento abreviado verurteilt worden. Als Beweismittel (dato de prueba) der Staatsanwaltschaft diente ein Sachverständigengutachten über den Wert des geraubten Pkws als bewegliche Sache. Diese Wertermittlung ist beim Raub insoweit relevant, als Art. 289 I des Strafgesetzbuches des Bundesstaates Mexiko (CPP von Estado de México) eine Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis 12 Jahre oder Geldstrafe für den Fall vorsieht, dass der Wert der geraubten Sache maximal das 30-fache des Mindestgehalts übersteigt. Demgegenüber sieht Art. 289 Veine Freiheitsstrafe von 6 bis 12 Jahre oder Geldstrafe für den Fall vor, dass der Wert das 2000-fache ist. Nachdem der Ermittlungsrichter den Angeklagten im Rahmen eines abreviado aus dem Strafrahmen des Art. 289 I verurteilte, entschied sich das Berufungsgericht für eine viel höhere Strafe aus Art. 289 V aufgrund des im Sachverständigengutachten angegebenen hohen Wagenwerts. Die Verteidigung legte dagegen Verfassungsbeschwerde (amparo directo) ein und argumentierte gegen die Entscheidung, dass das Gutachten nicht fundiert sei und dass es die für dieses Beweismittel vorgesehenen gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfülle. Der Gutachter hätte verabsäumt, die Anknüpfungstatsachen zu benennen. Hierauf entschied der für die Verfassungsbeschwerde zuständige Tribunal Colegiado, dass zum procedimiento abreviado genauso wie zum regulären Strafverfahren die Überprüfung gehöre, ob die für die Verurteilung relevanten Beweismittel den Grundregeln des Strafprozesses gemäß Art. 20 A I, II, V, VII, VIII und X der mexikanischen Verfassung entsprächen. Auf der Basis eines unbegründeten Gutachtens könne man den Angeklagten nicht zu 339 Über die knappen und noch nicht relevanten Fällen bezüglich des neuen CPPN vgl. Cepeda Morado, El procedimiento abreviado mexicano, S. 79 ff.
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der Art. 289 V entnommenen, höheren Strafe verurteilen. Das Rechtsmittel hatte also zunächst Erfolg. Die Anklägerseite legte aber gegen das Urteil des Tribunal Colegiado vor dem Suprema Corte Revision ein. Der Suprema Corte bestätigte die Entscheidung des Tribunal Colegiado in dem Sinne, dass die allgemeinen Prinzipien des Strafprozessrechts, die in den Art. 20 A I, II, V, VII, VIII und X der mexikanischen Verfassung verankert sind, auf alle Sitzungen des Strafverfahrens und damit auch auf den procedimiento abreviado anwendbar seien. Nur so sei der Angeklagte auch in der verkürzten Prozessform durch diese Kautelen geschützt. Von besonderem Interesse sind die einzelnen Argumente bezüglich der Überprüfung von Tatsachen im Rahmen des procedimiento abreviado und hier Art. 20 A I. Demnach ist Ziel des Strafprozesses die Tataufklärung, der Schutz des Unschuldigen, die Bestrafung des Schuldigen und die Schadenswiedergutmachung. Diese Bestimmung stellt gewisse Anforderungen an den Nachweis der Straftat und Tatschuld, die auf das Gebot der materiellen Wahrheitsfindung zurückzuführen sind. Diese Anforderungen wurden auch vom Suprema Corte in dem Sinne akzentuiert, dass die Ziele des proceso acusatorio „die Bestimmung der realen, historischen oder prozessualen Wahrheit, der tatbestandsmäßigen Tat, des Täters“340 u. a. seien. Der Suprema Corte bezog sich in diesem Zusammenhang auf die Materialien im Rahmen der Verfassungsreform, die in Bezug auf Art. 20 A I erläutern, dass „die Prinzipien des Strafprozesses nicht nur auf das reguläre Verfahren anwendbar sind, sondern auf alle Sitzungen, bei denen Beweise in Anwesenheit der Parteien debattiert werden“341. Ferner seien die Bestimmungen des Art. 20 AVII und VIII im Hinblick auf die erforderliche richterliche Überzeugungsbildung (convicción) von Relevanz und auch auf den abreviado anwendbar. Sowohl der Tribunal Colegiado wie auch der Suprema Corte betonen, dass Art. 383 Abs. 1, 384 Abs. 1 und 385 des damaligen CPP des Estado de México nicht nur auf das reguläre Verfahren, sondern auch auf den procedimiento abreviado anwendbar seien. Demnach besteht die Möglichkeit einer Verurteilung nur, wenn man die Straftat und die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten gänzlich („plenamente“) nachweist (Art. 383 Abs. 1). Im Zweifelsfall muss man ihn freisprechen. Ferner darf die Verurteilung nicht strenger als die Forderungen der staatsanwaltschaftlichen Anklage nach Art. 385 sein. Die Argumente des Suprema Corte und des Tribunal Colegiado sind bezüglich der Anforderungen an Nachweis der Straftat und Tatschuld beim abreviado kompromisslos: Auch wenn der Angeklagte sich für den abreviado entscheidet, bedeutet dies nicht, dass der Ermittlungsrichter alle Behauptungen der Staatsanwaltschaft über340 „… determinar la verdad real, histórica o procesal, determinar la existencia de un hecho típico, identificar a su autor …“. 341 Dictamen de las Comisiones Unidas de Puntos Constitucionales y de Justicia: „los principios del proceso penal no sólo son aplicables al juicio propiamente dicho, sino a todas las audiencias en las que con inmediación de las partes se debata prueba“. Dazu und zum Urteil des Corte Suprema vom 19. März 2014 siehe Zamora Pierce, Abreviado – Comentarios a la sentencia, S. 157 ff., 160.
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nehmen müsse. Es sei eine verfassungsrechtlich anerkannte Befugnis, dass der Richter die Beweise würdigen soll, sodass er nur mit der notwendigen Überzeugung (convicción) entscheiden dürfe. Zugleich sei für den Angeklagten auch verfassungsrechtlich garantiert, dass er nur im Fall seines Schuldnachweises verurteilt werden könne. Deshalb kann man im Rahmen des abreviado auch zu einem Freispruch zu kommen, was der Tribunal Colegiado ausdrücklich formulierte und der Suprema Corte bestätigte. Für eine andere Interpretation des erforderlichen Nachweises im Rahmen des abreviado sorgt das Sondervotum des Richters Cossío Díaz, der großes Gewicht auf das Einverständnis des Angeklagten mit der Anwendung dieser verkürzten Verfahrensform legt und deshalb mit der Mehrheitsentscheidung des Gerichts nicht einverstanden war. Nach seiner Ansicht umfasst die Zustimmung des Angeklagten die Verwendung der Beweise aus dem Ermittlungsverfahren und damit auch des später bestrittenen Sachverständigengutachtens. Weil sich die Parteien in dieser Vorgehensweise einig waren, komme eine zusätzliche richterliche Beweiswürdigung vor der Urteilsfindung im Rahmen des abreviado nicht in Frage. Ein Freispruch sei beim abreviado nur in der Konstellation möglich, dass die Anklage nicht kongruent sei. Die von der Mehrheit des Suprema Corte begründete Anwendbarkeit der allgemeinen verfassungsrechtlichen Prinzipien auf den abreviado wird im Sondervotum mit der Argumentation bestritten, dass eine solche Auslegung die Rechtsnatur des abreviado verkenne und ihren Zweck verfehle. Der procedimiento abreviado sei durch die Verfassungsreform eingefügt, um damit die Parteivereinbarungen zu privilegieren und eine unnötige Durchführung einer Hauptverhandlung mit Beweiserhebungen zu vermeiden. Die in der Anklage vorgebrachten Beweismittel (datos de prueba) können nicht als Nachweis der Tat betrachtet werden, weil sie nicht durch die Kontradiktion der Parteien geprüft wurden. Im abreviado gehe es um eine Schuldanerkennung des Angeklagten. Die Kontradiktion und Würdigung von Beweisen kämen nach dem Sondervotum nicht in Frage. Dieses Urteil des Suprema Corte gab dem procedimiento abreviado für Mexiko einen Sinngehalt, der sich vom plea bargaining insoweit unterscheidet, als dass das Angebot der Staatsanwaltschaft und die Zustimmung des Angeklagten in der angloamerikanischen Praxis grundsätzlich für den Richter verbindlich sind und eine richterliche Überprüfung der Vereinbarung selten erfolgt.342 Zu diesem Urteil des Suprema Corte vom 19. März 2014, mit dem Einschränkungen für den neu entstandenen abreviado durch eine eingehende richterliche Überprüfung mit der Erhebung zusätzlicher Beweise vor der Urteilsfällung eingeführt werden, bestehen Parallelen zur sog. „Domestizierung“ der deutschen Absprachen, die zuletzt durch das Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 2013 erfolgte.343 In diesem Sinn kann man beide Modelle als „Kombinationslösung“ oder als 342 343
Vgl. dazu infra, B. V. 3. c) und d). Vgl. dazu unten im entsprechenden Rechtsvergleich.
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das ambivalente „Absprachemodell mit Sachverhaltsaufklärung“ bezeichnen. Trotz der damit für den Richter eröffneten Möglichkeit, von den Zustimmungen der Parteien teilweise abzuweichen und im Rahmen der Überzeugungsbildung auf weitere Beweiserhebungen zurückzugreifen, ist die tatsächliche Einhaltung dieser Anforderungen in Anbetracht der Bedürfnisse der Praxis fraglich. Sinn und Zweck der einverständlichen Verfahrenserledigungen ist die Verkürzung bzw. die Beschleunigung des Verfahrens und deshalb ist ihnen ein Verzicht auf weitere Beweiserhebungen immanent. (bb) Neuere Rechtsprechung mit Anspruch nur auf den Vergleich mit der Aktenlage Im Urteil vom 18. August 2016 setzte sich der in Spanien promovierte Richter der Primera Sala des mexikanischen Suprema Corte José Ramón Cossío Díaz mit seiner Auffassung im Sondervotum vom 19. März 2014 durch. Seine Meinung fand nun die Zustimmung der restlichen vier Bundesverfassungsrichter. Das höchstrichterliche Urteil stellt eine Abkehr und ein neues Paradigma für den procedimiento abreviado in Mexiko dar, weil dessen Auslegung das Einfallstor für die Durchsetzung der Konsensmaxime bilden könnte. Nun wird das Erfordernis von ausreichenden Überzeugungsmittel („medios de convicción“, Art. 20 A VII Satz 2 des Grundgesetzes) für den abreviado in dem Sinne ausgelegt, dass eine eingehende richterliche Beweiserhebung mitsamt einer Beweiswürdigung nicht erfolgt.344 Der Ermittlungsrichter habe nur eine Kontrollfunktion für die Verfahrensfairness und für den Schutz der prozessualen Rechte der Parteien. So wird die Anklage nur auf ihre argumentative Logik und Kongruenz überprüft. Diese soll aber nicht nur auf der Anerkenntniserklärung des Angeklagten beruhen, sondern auch andere Beweismittel vorlegen. Die Primera Sala geht nunmehr davon aus, dass eine eingehendere Beweisaufnahme den abreviado in eine allenfalls etwas vereinfachte Hauptverhandlung verwandeln würde. Der Angeklagte habe sich aber freiwillig in einer Position manövriert, bei der eine kontradiktorische Beweisaufnahme ausgeschlossen sei. Somit bestünde keine Kontradiktion bezüglich des Nachweises der Tatbegehung und der Täterschuld, weil 344 Décima época, Suprema Corte de Justicia de la Nación, Primera Sala, in: Semanario Judicial de la Federación y su Gaceta, T. II, August 2016, S. 783, tesis 1a CCXII/2016 (108), materia penal (amparo directo en revisión 1619/2015): „la locución ,medios de convicción suficientes‘ no puede confundirse, interpretarse o asignarle como sentido, que deba realizarse un ejercicio de valoración probatoria por parte del juzgador para tener por demostrada la acusación formulada por el Ministerio Público, porque la labor del Juez de Control se constriñe a figurar como un ente intermedio que funge como órgano de control para que se respete el debido proceso y no se vulneren los derechos procesales de las partes, y es quien debe determinar si la acusación contra el imputado contiene lógica argumentativa, a partir de corroborar que existan suficientes medios de convicción que la sustenten; es decir, que la aceptación del acusado de su participación en la comisión del delito no sea el único dato de prueba, sino que está relacionada con otros que le dan congruencia a las razones de la acusación. De no considerarse así, no tendría sentido contar con un procedimieno abreviado, pues éste se convertiría en un juicio oral un tanto simplificado“. Siehe auch Décima época, Suprema Corte de Justicia de la Nación, Primera Sala, in: Semanario Judicial de la Federación y su Gaceta, Libro 77, T. III, August 2020, S. 2205 ff., 2217 (contradicción de tesis 409/2019).
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die Parteien einig seien, diese Elemente anhand der mit der Anklage vorgelegten Beweismittel für nachgewiesen zu halten, die wiederum als Urteilsgrundlage dienen würden.345 Das Urteil verwendet an dieser Stelle die Ausdrücke „Vereinbarung“ (acuerdo) und „Annahme der Anklage“ (admisión de la acusación), allerdings wird eine genauere Erklärung dieser Begriffe nicht angeboten. Über die Rechtsnatur des abreviado nach dessen neuer Auslegung äußert sich die neue Rechtsprechung der Suprema Corte nicht. Aus den Urteilsgründen ist auch nicht auf eine Etablierung einer neuen Verfahrensstruktur nach Art einer Konsensmaxime zu schließen. Fraglich ist, ob der abreviado durch diese höchstrichterliche Entscheidung einen quasi-vertraglich bindenden Charakter bekommt. Anders als im deutschen Recht, bei dem ein Vertrag mit dem Gericht über den Ausgang des Verfahrens bereits gegen Art. 92 GG verstoßen würde,346 wäre eine solche Vereinbarung bei den restlichen Absprachenmodelle möglich, weil die entscheidende Interaktion zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Angeklagten stattfindet. In diesem Sinne könnte man die Idee eines Vertrages für den abreviado erwägen. Dagegen sprechen aber zwei Gründe: Das Konzept von vertragsartigen Einverständniserklärungen passt erstens nicht zum abreviado, nachdem dabei nicht die Rede von Vereinbarungen, sondern von Zustimmung ist. Diese im Hintergrund der lateinamerikanischen abreviados vorgenommene Differenzierung scheint die Realität der Absprachen gut widerzuspiegeln, nachdem der Angeklagte nicht freiwillig und innerlich überzeugt etwas vereinbart, sondern sich in der bestehenden Drucksituation auf bestimmte Bedingungen einlässt. Zweitens wurde immer wieder in Bezug auf den abreviado seit dessen verfassungsrechtlicher Verankerung betont, dass die Erklärungen der Parteien alleine als Urteilsgrundlage nicht ausreichen. Es wird ein gewisses Mindestmaß an Nachweis gefordert. Jedenfalls handelt es sich bei dieser Entscheidung des Suprema Corte um ein offenes Bekenntnis zur Verfahrensabkürzung und Ressourcenschonung, die mit der Wirklichkeit und dem Sinn der Absprachen in Einklang steht. In den Vordergrund der Konzeption des abreviado wird die Zustimmung des Angeklagten gestellt und man begnügt sich mit einem Urteil auf der Basis der Aktenlage. Problematisch ist die Kompatibilität einer solchen Deutung des abreviado mit den mexikanischen verfassungsrechtlichen Grundsätzen. Nach der hier vertretenen Auffassung sind der Schuldgrundsatz und das in ihm verankerte Prinzip der materiellen Wahrheit unveräußerliche Fundamente des neuen mexikanischen Strafprozessrechts, womit die
345 Tesis 1a CCXI:, S. 785: „en la posición en la que se coloca voluntariamente el acusado … excluye la aplicación del principio de contradicción probatoria …, porque ya no estará a debate demostrar la comisión del hecho delictivo ni la culpabilidad del acusado, mediante elementos de prueba, sino que las partes convienen en tener estos presupuestos como hechos probados a partir de los medios de convicción en los que se sustenta la acusación, con la finalidad de que la autoridad judicial esté en condiciones de dictar sentencia“. Dazu siehe Rodríguez Vázquez, Lo especial del procedimiento abreviado, S. 157 f., 162 ff. 346 Vgl. nur LR/Stuckenberg, § 257c Rn. 25.
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nach dem Urteil des Suprema Corte von 2016 in Kauf zu nehmenden Wahrheitsabstriche unvereinbar sind.
III. Ableitung aus dem Opportunitätsprinzip In der Stellungnahme des Senats zum neuen mexikanischen Bundesstrafprozessgesetz wird darauf aufmerksam gemacht, dass der procedimiento abreviado aus dem Opportunitätsprinzip abgeleitet wird und „nicht unbedingt ein Recht des Angeklagten“ sei.347 Gegen die Gleichstellung der Urteilsabsprachen mit dem Opportunitätsprinzip ist aber einzuwenden, dass die Begründung und Voraussetzungen beider Verfahrenserledigungsarten unterschiedlich sind.348 Die Anwendung (gesetzlicher) Opportunitätskriterien liegt im Ermittlungsverfahren gemäß Art. 21 Abs. 7 des mexikanischen Grundgesetzes, das wiederum auf die gesetzliche Regelung verweist, im Ermessensspielraum der Staatsanwaltschaft.349 Demgegenüber besteht die Möglichkeit eines procedimiento abreviado erst dann, wenn sich die Staatsanwaltschaft für die Strafverfolgung entschieden hat, der Fall an die Gerichte weitergeleitet wurde und der Richter den auto de vinculación a proceso erlassen hat. Voraussetzung ist außerdem, dass der Angeklagte sich nicht gegen die Anwendung des procedimiento abreviado wendet (Art. 20 A VII des mexikanischen Grundgesetzes), was beim Opportunitätsgedanken keine Rolle spielt.
IV. Statistiken Ein Überblick über den einwohnerstarken Estado de Mexiko mit 17 Mio. Einwohnern, der als einer der ersten ab 2009 die Modernisierung des Strafprozesssystems vollzog, zeigt mit 3,6 % eine sehr niedrige Prozentzahl durchgeführter Hauptverhandlungen zwischen den Jahren 2010 und 2014. Die Verfahrenserledigung durch den procedimiento abreviado beträgt 61 % (11 % im Vorverfahren und 50 % im Zwischenverfahren). Die Erledigung durch acuerdo reparatorio bzw. durch die Vereinbarung zwischen dem Beschuldigten und dem Verletzten (Art. 186 CNPP) beträgt 11,7 % (7,3 % im Vorverfahren und 4,4 % im Zwischenverfahren). Bei diesen 347 Dictamen por el que se expide el CPP Nacional (Dictamen de las Comisiones Unidas de Justicia y estudios Legislativos, Segunda por el que se expide el Código Nacional de Procedimientos Penales – aprobado en la reunión de Comisiones unidas el 3 de diciembre de 2013, „Dictamen del Senado sobre el sistema procesal penal mexicano“ – über die neue mexikanische Bundesstrafprozessordnung, http://www.senado.gob.mx/comisiones/anticorrupcion/iniciativa_ codigo.php). 348 Gegen eine Gleichstellung des procedimiento abreviado mit dem Opportunitätsprinzip Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Art. 201 – 207, S. 555. 349 Art. 21 Abs. 7 des mexikanischen Grundgesetzes: „El Ministerio Público podrá considerar criterios de oportunidad para el ejercicio de la acción penal, en los supuestos y condiciones que fije la ley.“
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Daten handelt es sich meistens um Täter, die auf frischer Tat ertappt wurden (in 59,3 % der Fälle handelt es sich um Raub), die im Estado de Mexiko 91,7 % der polizeilichen Festnahmen betragen, was ein Zeichen für eine niedrige staatsanwaltschaftliche und polizeiliche Aufklärungsarbeit sein könnte. Zugleich stellt die Kombination von Flagranzdelikten mit einer Praxis, die die Aussage von zwei Belastungszeugen für eine Verurteilung ausreichen lässt, ein Druckmittel für den Beschuldigten dar, sich auf eine verfahrenserledigende Absprache einzulassen.350 Die Statistiken des mexikanischen Bundesstaates Chihuahua für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Código Nacional zeigt ähnliche Prozentsätze für die Anwendung des abreviado: 68,80 % für das Jahr 2012, 62,10 % für das Jahr 2013 und 51,94 % für das Jahr 2014.351 Es besteht eine Tendenz, die abgekürzten Verfahrensformen als den bedeutendsten Aspekt des sistema acusatorio zu betrachten.352 Auffällig ist eine Feststellung in der Stellungnahme des Senats über das neue mexikanische Bundesstrafprozessgesetz:353 Dort werden Anspielungen auf den Einsatz der Strafe als „inquisitorisch“ gemacht und demgegenüber eine Interaktion zwischen den Parteien zur prozessualen Lösung des Konflikts als positiv beurteilt.354 Diese Art von Aussage ist nicht unüblich im Rahmen der lateinamerikanischen Reformen. Man möchte den Einsatz des materiellrechtlichen Strafrechts einschränken und dafür greift man auf Kürzungen des Strafbaren im Strafverfahren zurück. Demgegenüber sind die Argumente in Stellung zu bringen, die einen Rückgriff auf das materiellrechtliche ultima-ratio-Prinzip für Einschränkungen, die strafprozessualer Natur sind, nicht zulassen.355
350 Die Quelle der gesamten Statistik ist von México Evalúa, Centro de Análisis y Políticas Públicas, A.C., 2014, auf der Basis gerichtlicher und staatsanwaltschaftlicher Information über 1.145 Fällen. Vgl. dazu Fondevila/Langer/Bergman/Vilalta/Mejía, ¿Cómo se juzga en el Estado de México?, S. 12, 35 f., auch 7, 10, 13, 15 f., 34. 351 Statistik auf der Basis eines Antrags auf öffentliche Information durch den Instituto Chihuahense para la Transparencia y Acceso a la Información pública, dazu Vallejo Cruz, in: Proyecto Justicia, 2015. 352 Über diese Tendenz berichtet Moreno Hernández, in: ders./Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 94. 353 Dictamen por el que se expide el CPP Nacional. 354 Dictamen, a. a. O., S. 130: „El uso de Mecanismos Alternativos de Resolución de Controversias. Si bien su utilización plantea ciertas dificultades en el orden federal, el consenso entre los comparecientes fue que su correcto funcionamiento, así como su capacidad para erguirse como uno de los canales más importantes de desahogo de conflictos penales depende de dos factores. El primero, una adecuada capacitación de los operadores del sistema. El segundo, una transformación de orden cultural para que la ciudadanía rompa ese paradigma inquisitivo que coloca a la prisión como un sinónimo de justicia.“ (Hervorhebungen nicht im Original). 355 Vgl. supra, Kapitel 5 F.
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V. Der procedimiento abreviado im Rechtsvergleich 1. Ähnlichkeit zum deutschen Strafbefehlsverfahren Der procedimiento abreviado ähnelt in der Struktur teilweise dem deutschen Strafbefehlsverfahren, insoweit bei ihm keine Hauptverhandlung stattfindet und ein richterliches Urteil erlassen wird (Art. 206). Andererseits ist der abreviado in einigen Ländern wie in Mexiko auf alle Delikte und Strafrahmen anwendbar. Anders ist es zum Beispiel beim chilenischen abreviado, der in der Region als Muster fungiert und für Delikte mit einer Freiheitsstrafe bis 5 Jahre vorgesehen ist (Art. 406 Abs. 1 CPP, für bestimmte Delikte bis 10 Jahre). Bereits aus diesem Grund entspricht der abreviado nicht dem deutschen Strafbefehlsverfahren, auch wenn ursprünglich diese verkürzte Verfahrensform für Kleinkriminalität in der argentinischen Literatur in Betracht gezogen wurde. 2. Parallelen und Unterschiede zu der französischen comparution Der lateinamerikanische procedimiento abreviado nähert sich ferner in einigen Punkten der französischen comparution sur reconnaissance préalable de culpabilité (Erscheinen nach vorherigem Schuldanerkenntnis)356 an, die im Jahr 2004 und damit zeitlich später als der abreviado in Lateinamerika gesetzlich geregelt wurde. Die Ähnlichkeiten erscheinen zufällig, da ein direkter Einfluss nicht zu erkennen ist. Sie betreffen v. a. den Verfahrensablauf und die Verteilung der Prozessrollen, aber auch bei den inhaltlichen Ansprüchen bestehen gewisse Parallelen. Beide Absprachenformen werden von der Staatsanwaltschaft initiiert. Der Angeklagte erteilt seine Zustimmung, wobei es bei der comparution um ein Schuldeingeständnis und um die Annahme der rechtlichen Subsumtion bzw. der anwendbaren Straftatbestände geht.357 Das zeigt zunächst inhaltliche Unterschiede zum abreviado, nachdem bei ihm nur die Anerkennung von Tatsachen möglich ist. Bei beiden wird keine Hauptverhandlung durchgeführt, sondern der Richter entscheidet über die Zulässigkeit bzw. Genehmigung der Anwendung dieser Verfahrensform (admisión in abreviado, Art. 203 CPPN und homologation in comparution, Art. 495 – 11 CPP). Schließlich enden beide Verfahrensarten mit einer richterlichen Entscheidung (bei comparution Art. 495 – 11 Abs. 2). Der Richter muss die Tatsachenbasis und die rechtliche Beurteilung auch bei der comparution überprüfen (Art. 495 – 9 Abs. 2 Satz 2 des französischen CPP: „Après avoir vérifié la réalité des faits et leur qualification juridique …“),358 wobei zusätzliche Beweise nicht zu erheben sind.359 Es 356 Arts. 495 – 7 bis 495 – 16 des französischen CPP. Vgl. dazu etwa Jung/Nitschmann, ZStW 116 (2004), 785 ff.; Nolte, Verständigung im Strafprozess, S. 153 ff.; Peters, Urteilsabsprachen im Strafprozess, S. 118 ff. 357 Dazu Nolte, Verständigung im Strafprozess, S. 159; Peters, Urteilsabsprachen im Strafprozess, S. 119. 358 Dazu Nolte, a. a. O., S. 177, 280; Peters, a. a. O., S. 120. 359 Peters, a. a. O.
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besteht also eine inhaltliche Verifizierung, allerdings ist diese beschränkt. Ein Anspruch auf eine Sachverhaltsaufklärung mit zusätzlichen Beweiserhebungen wie nach der früheren Rechtsprechung für den mexikanischen abreviado oder bei der heutigen deutschen Verständigung nach dem sog. Verständigungsurteil besteht beim französischen Konzept also nicht. Eine weitere Parallele der comparution mit dem abreviado besteht darin, dass beim Scheitern des beschleunigten Verfahrens ein unvoreingenommener Richter die Fortführung des Prozesses übernimmt (Art. 203 Abs. 2 Satz 1 CPPN), der die Protokolle des abreviado (Art. 203 Abs. 2 Satz 2 CPPN) bzw. der comparution nicht zur Verfügung gestellt bekommt.360 Auch beim Scheitern des plea bargaining kommt es zu einer Hauptverhandlung vor einer unvoreingenommenen Jury. In diesem Punkt ist die Regelung der deutschen Verständigung rechtsvergleichend betrachtet antiquiert, derzufolge hier dasselbe Gericht das Urteil nach dem Scheitern der Verständigung sprechen muss.361 3. Parallele und Unterschiede zum plea bargaining a) Die Hauptinspiration und verschiedene Vergleichsaspekte Gewiss haben kontinentaleuropäische Quellen einen Einfluss auf die konkrete Form des abreviado in Lateinamerika gehabt, wie bereits anfangs erwähnt wurde. Bei der Etablierung der Absprachen in Mexiko wird aber teilweise eine Übernahme aus dem US-amerikanischen System erkannt,362 zumal es sich um ein adversatorisches System handelt. Es besteht also eine grundsätzliche Übereinstimmung in der Verteilung der Prozessrollen und in der zurückhaltenden Rolle des Richters bei der Interaktion der Parteien zu Beginn des Verfahrens. Was den Inhalt der Zustimmung des Angeklagten beim abreviado bzw. dem angloamerikanischen agreement mitsamt ihrer richterlichen Kontrolle mit ihren Detailfragen betrifft, bestehen demgegenüber wesentliche Unterschiede. Dennoch bleiben die angloamerikanischen Einflüsse als Hauptinspiration bei allen späteren Entwicklungen der Absprachen im Strafverfahren auch in Kontinentaleuropa bemerkbar. b) Verteilung der Prozessrollen Die Parallele zeigt sich unmittelbar in der Verteilung der Prozessrollen, nachdem die Staatsanwaltschaft beim abreviado und beide Parteien beim plea bargaining die Initiative und die Interaktion führen. Was die Verhandlungsanregung anbelangt, sind nur die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte beim amerikanischen plea bargaining 360
Bezüglich der comparution Nolte, a. a. O., S. 280. Nachweise dazu infra, B. V. 4. 362 So explizit Moreno Hernández, in: ders./Ontiveros Alonso, Comentarios al Código Nacional, S. 95. 361
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dazu befugt. Eine Initiative des Richters oder ein Anbieten eines zu hohen Strafrabatts (im Sinne einer Sanktionsschere) durch ihn sind nicht zulässig.363 Was eine Beteiligung und Mitwirkung des Richters an den Verhandlungen der Parteien betrifft, ist sie im US-amerikanischen Bundesstrafverfahren unzulässig. Die Vereinbarungen (agreement) werden dort unter den Parteien getroffen, während der Richter an dieser Debatte nicht teilnehmen darf, so nach der Rule 11(c)(1) der Federal Rules of Criminal Procedure: „c) Plea Agreement Procedure. (1) In General. An attorney for the government and the defendant’s attorney, or the defendant when proceeding pro se, may discuss and reach a plea agreement. The court must not participate in these discussions.“364
Eine Beteiligung des Richters wird aber von den Verfahrensordnungen mehrerer Bundesstaaten nicht ausgeschlossen.365 Im Allgemeinen beteiligt sich der Richter in der Praxis nicht an der Verhandlung über das plea agreement. Hier besteht mehr oder minder eine gewisse Parallele zum mexikanischen abreviado, solange der Richter nur eine Kontrollfunktion über die Antragsvoraussetzungen ausübt. Beim Scheitern der Verhandlungskommunikation zwischen den Kontrahenten sorgen beide Rechtssysteme für Kautelen, die die Unvoreingenommenheit des für den Schuldspruch zuständigen Körpers gewährleisten. Diese Bedingung ist weltweit eine Selbstverständlichkeit. Deshalb ist es verwunderlich, dass sich die deutsche Verständigung in diesem Punkt als Ausnahme herauskristallisiert, weil derselbe Spruchkörper für die anschließende reguläre Beweiserhebung im Falle des Scheiterns der Absprache zuständig bleibt. Diese Rollenverteilung sichert nicht die Neutralität desjenigen Gerichts, das anschließend die Beweisaufnahme leitet und entscheidet. Zur eingehenden Kritik sei auf den nachstehenden Rechtsvergleich mit der deutschen Verständigung verwiesen. c) Inhaltliche Unterschiede aa) Gegenstand der guilty plea gegenüber dem Gegenstand der Anerkenntniserklärung (1) Inhaltlich bestehen wesentliche Unterschiede zwischen dem als ursprüngliche Quelle fungierenden angelsächsischen plea bargaining und dem Absprachenmodus einiger Rechtsordnungen wie dem mexikanischen abreviado. Beim guilty plea besteht ein Eigenständnis von Schuld, also keine Einschränkung des Geständnisses auf 363 Vgl. LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, § 21.1 (a), § 21.2 (c); Weigend, ZStW 94 (1982), 209 ff.; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 148; Brodowski, ZStW 124 (2012), 744, alle m. w. N. 364 Nachweise dazu in LR/Stuckenberg, § 257c, Rn. 17. 365 Vgl. dazu Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 160; ders., ZStW 120 (2008), S. 365 mit Nachweisen; Brodowski, a. a. O., 744 f. mit Nachweisen zu den Meinungen, die eine gewisse Beteiligung der Richter in der amerikanischen Praxis vermelden.
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Tatsachen und kein Verbot der Schuldspruchabrede.366 Ein Beweisverfahren zum Schuldnachweis wird dadurch entbehrlich. Ausreichend ist ein pauschales Schuldbekenntnis, ohne dass eine richterliche Überprüfung der Tatsachenbasis in der Praxis erfolgt. Die Einlassung des Angeklagten muss nur mit den angeklagten Delikten übereinstimmen. Damit befindet sich dieses Modell in einem Pool der Absprachenwelt, bei dem es um die Stellungnahme des Angeklagten zur Anklage geht. Es handelt sich nicht um ein Beweismittel, sondern um eine Verfügungserklärung. Sie ist eine Verfügung über den Prozessgegenstand und nicht über die Beweislage.367 (2) Ist der Ausgangspunkt des plea bargaining als Quelle so definiert, gilt er auch als Basis für eine Einordnung der weltweiten Absprachenformen und nicht zuletzt auch für den abreviado. Ursprünglich kann man in der Rechtsvergleichung zwei unterschiedliche Muster bezüglich einer Einlassung des Beschuldigten erkennen. Auf einer Seite befindet sich das Geständnis, das im Konzept der RStPO als ein Beweismittel unter vielen nach dem französischen Muster konzipiert wurde. Auf der anderen Seite findet man die Idee einer anerkenntnisgleichen Prozesshandlung englischen Ursprungs, die einigen Partikularrechten folgte, aber damals von den Schöpfern der RStPO nicht übernommen wurde.368 Beim mexikanischen abreviado wird die Anerkenntniserklärung nicht als Geständnis begriffen. Andererseits entfernt sie sich noch weiter von der anerkenntnisgleichen Prozesshandlung, weil die mexikanische Anerkenntniserklärung kein pauschales Eingeständnis der Schuld im Sinne eines guilty plea darstellt. Erstens bezieht sich die Anerkennung des Angeklagten im Sinne des abreviado auf Tatsachen neben seiner Zustimmung für die Anwendung dieser abgekürzten Verfahrensform. Es geht dabei also nicht um eine prozessuale Anerkenntniserklärung im Sinne der Disposition über den gesamten Inhalt der Anklage, was in Mexiko verfassungswidrig wäre. Darüber hinaus wird die mexikanische Anerkenntniserklärung auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft, was zumindest durch den Vergleich mit dem Akteninhalt im Zulässigkeitsverfahren erfolgt und dies dürfte auch nicht den Anforderungen aus dem Urteil des Suprema Corte von 2016 widersprechen. Für den Teil der Meinungen in der Literatur, die auch eine abschließende richterliche Gesamtüberprüfung aller Aspekte des abreviado bei der Urteilsfindung erlauben, sind die Differenzen mit den angelsächsischen Strukturen noch deutlicher. bb) Gegenstand des plea agreement gegenüber der Zustimmung beim abreviado (1) Dieser Aspekt ist eng mit dem letzten Abschnitt verbunden. Was den Inhalt des plea agreement betrifft, wird in der US-amerikanischen Praxis von dem sehr breiten Spektrum an Möglichkeiten Gebrauch gemacht. Vereinbarungen zwischen der 366
Zu diesen Erfordernissen bei der deutschen Verständigung vgl. infra, B. V. 4. b) cc). Zum guilty plea vgl. die Nachweise supra, Kapitel 3 A. am Ende. 367 So ausgedrückt von Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 47. 368 Dazu LR/Stuckenberg, § 257c, Rn. 10 mit Nachweisen.
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Staatsanwaltschaft und dem Angeklagten/Verteidigung über die Tatsachen (fact bargaining) sowie über die rechtliche Bewertung der Tat bzw. über die anzuklagenden Delikte (charge bargaining) gehören zur täglichen Praxis des plea bargaining. Beim fact bargaining wird die Faktengrundlage des fraglichen Sachverhalts „ausgehandelt“. Als Ausgleich für ein guilty plea des Angeklagten und im Anschluss daran präsentiert die Staatsanwaltschaft die schuldrelevanten Tatsachen vor dem Gericht in einer abgemilderten Form bzw. die in Frage kommende Tatsachenbasis wird für den Angeklagten vorteilhafter gefasst. Beispiele dafür sind die Betäubungsmittelmenge, die beschlagnahmt wurde, oder die Höhe des Vermögensschadens. Beim charge bargaining akzeptiert die Staatsanwaltschaft das Schuldbekenntnis des Angeklagten zu einem milderen Straftatbestand und sieht von der Anklage des an sich ebenfalls erfüllten, schwereren Straftatbestands bzw. qualifizierender Umstände ab. Alternativ werden Anklagepunkte bzw. weitere Taten in diesem Absprachenrahmen fallengelassen. Weil der Richter nicht an der Verhandlung beteiligt ist, muss er sich anschließend nur auf diese Straftat konzentrieren. Eine Form des charge bargaining ist zum Beispiel in der Rule 11(c)(1)(A) der amerikanischen Federal Rules of Criminal Procedure vorgesehen: „the plea agreement may specify that an attorney for the government will (A) not bring, or will move to dismiss, other charges“.369 Beide Formen müssen hier nicht weiter ausdifferenziert werden, weil sie unter das Anklageermessen der US-amerikanischen Staatsanwaltschaft fallen und Gegenstand der Verhandlung sein bzw. „wegverhandelt“370 werden können. Die Staatsanwaltschaft entscheidet innerhalb dieses Rahmens, bezüglich welcher Delikte sie anklagt. Es werden sogar Extremfälle von plea agreement akzeptiert, bei denen die Tatsachenbasis absolut fehlt oder eine faktische oder rechtliche Unmöglichkeit besteht. Ein sentencing bargaining bezieht sich allgemein auf ein für den Angeklagten leichteres Urteilsergebnis. Bei allen Formen besteht eine grosse Entscheidungsfreiheit der Staatsanwaltschaft, die den anzuklagenden Straftatbestand festlegt und zunächst sogar auf die Möglichkeit einer „Überanklage“ (overcharging) zurückgreifen könnte, um eine bessere Ausgangsposition bei den Verhandlungen zu erlangen.371 (2) Wenn man nun einen Blick auf den mexikanischen procedimiento abreviado wirft, ist auf die obigen Ausführungen zur Anerkenntniserklärung zu verweisen372 und hier etwas zu erweitern. Eine solche Möglichkeit der Verhandlung über den 369
Dazu LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, § 21.1 (a), (h). Fact bargaining wurde vom Court of Appeal bezüglich England & Wales für unzulässig erklärt. Grundlage für das gerichtliche Urteil muss eine wirkliche und wahre Tatsachengrundlage sein. Vgl. dazu etwa Peters, Urteilsabsprachen im Strafprozess, S. 207 f. Zu diesen Themen Weigend, ZStW 94 (1982), 206 ff.; Riquert, El debido proceso, S. 6; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 148 f., 164; ders., ZStW 120 (2008), 342 f., 361 ff.; Hertel, ZJS 2010, 200 mit Nachweisen; Brodowski, ZStW 124 (2012), 749 f. 370 Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 168. 371 Statt aller Damasˇka, JICJ 2004, 1027; LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, § 21.1 (c); Trüg, ZStW 120 (2008), 344. 372 Vgl. supra, B. II. 4. b) aa).
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gesamten Inhalt der Anklage nebst der rechtlichen Würdigung wie im plea bargaining ist im mexikanischen Verfassungskonzept ausgeschlossen. Diesbezüglich entschied sich Mexiko wie beim chilenischen Vorbild für ein moderates Einvernehmen, demzufolge die Zustimmung des Angeklagten nur zu seiner Beteiligung an der Tatbegehung möglich ist („reconoce … su participación en el delito“, Art. 20 Abs. A VII der Constitución) und er zugleich auf die Durchführung der Hauptverhandlung verzichten muss. Was den neuen mexikanischen CPPN betrifft, ergibt sich auch nichts anderes aus der Auflistung von Punkten, wozu der Angeklagte seine Zustimmung geben muss (Art. 201 Abs. 1 III): a) Die Belehrung über sein Recht auf eine Hauptverhandlung; b) sein Verzicht auf die Durchführung einer Hauptverhandlung; c) seine Zustimmung für die Anwendung des procedimiento abreviado; d) seine Anerkennung der eigenen Verantwortlichkeit für die vorgeworfene Straftat und e) seine Zustimmung für ein Urteil auf der Grundlage der staatsanwaltschaftlichen Beweise, die in der Anklage präsentiert werden. Die Auslegungen in Mexiko tendieren dazu, dass der Angeklagte nur über Tatsachen sein Einvernehmen erteilt.373 Eine andere Lösung bot demgegenüber der Entwurf des Bundesratsabgeordneten Escudero Morales, der als Voraussetzung für die Eröffnung des abreviado die Zustimmung des Angeklagten nicht nur zu seiner Beteiligung an der Tatbegehung, sondern zusätzlich auch zur rechtliche Beurteilung der Straftat vorsah (Art. 545 II).374 Beim ursprünglichen chilenischen procedimiento abreviado, der als Quelle diente, wird die Zustimmung des Angeklagten (conformidad) nur zu Tatsachen erteilt. Eine Zustimmung bezüglich der Anwendung des materiellen Rechts kommt bei dieser Verfahrensart nicht in Frage, noch weniger Vereinbarungen darüber.375 In der chilenischen Literatur wird betont, dass der Angeklagte seine Zustimmung zum konkreten Verfahren des procedimiento abreviado und damit zu einem Urteil auf der Grundlage der staatsanwaltschaftlichen Beweise gibt. Eine Zustimmung zur Strafe und dem Strafmaß ist nicht erforderlich.376 Eine andere Ansicht vertritt aber in Mexiko die Meinung, dass die Vereinbarungen zwischen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung über die Rechtsfolgen eine Selbstverständlichkeit seien. Der entscheidende Richter könne die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe nicht ändern und auch nicht mildern, weil sonst der auf die Vereinbarung gestützte procedimiento abreviado den Sinn verlieren würde.377 373
Zum Beispiel Cepeda Morado, El procedimiento abreviado mexicano, S. 29 ff. Vgl. darüber Cepeda Morado, a. a. O., S. 32. 375 Vgl. Art. 406 CPP Chile, dazu Horvitz Lennon, in: Horvitz Lennon/López Masle, Derecho procesal penal chileno II, S. 521 f., 524, die sich auf „consentimiento“ und „acuerdo“ im Sinne der Zustimmung bezieht. 376 So ausdrücklich über das chilenische CPP Horvitz Lennon, in: Horvitz Lennon/López Masle, a. a. O., S. 524. 377 So Benavente Chorres/Hidalgo Murillo, Código Nacional Comentado, Arts. 201 – 207, S. 558: „… la pena solicitada por fiscalía y aceptada por el acusado de seguro es fruto de las negociaciones entre acusador y acusado, luego entonces se entiende el por qué el juzgador no 374
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
d) Richterliche Kontrolle aa) Beim plea bargaining Der US-amerikanische Bundesgesetzgeber versuchte bereits vor vielen Jahren bei der Legalisierung des plea bargaining, durch normative Einschränkungen dessen ausufernder Praxis Einhalt zu gebieten, allerdings erfolglos. Seit 1966 wird eine richterliche Kontrolle der Tatsachenbasis gefordert, so nach dem heute geltenden Bundesstrafverfahren: „Before entering judgment on a guilty plea, the court must determine that there is a factual basis for the plea“ (Rule 11 b) 3 der Federal Rules of Criminal Procedure).378 Diese Vorschrift hat eigentlich eine Leitfunktion, weil in vielen Bundesstaaten vergleichbare Grenzen normativ bestehen. Ferner ist der Richter nicht verpflichtet, das Schuldanerkenntnis (guilty plea) und die Vereinbarungen der Parteien (plea agreement) zu akzeptieren. Wenn er sie aber akzeptiert, besteht eine Bindungswirkung, außer es würden sich neue Umstände ergeben. Für die Strafzumessung ist der Richter trotz der Vereinbarungen der Parteien zuständig.379 Das Erfordernis der Tatsachenbasis bekommt grundsätzlich bei den sog. Alford pleaFällen Bedeutung. Hiernach wird ein guilty plea auch wirksam für den Fall, dass der Angeklagte dazu erklärt, die Tat gar nicht begangen zu haben. Bei diesen widersprüchlichen, aber für die Vereinbarung wirksamen Aussagen wird eine richterliche Verifizierung der Tatsachenbasis eher als in plausiblen Zugeständnissen gefordert. Allerdings besteht die Überprüfung wiederum nur in einem Abgleich mit dem Beweismaterial der Anklageschrift. Darüber hinaus werden guilty pleas in extremen Fällen von charge bargaining auch wirksam, bei denen eine faktische oder rechtliche Unmöglichkeit besteht. Hier kollidiert die Vereinbarung wiederum deutlich mit dem Erfordernis der Tatsachenbasis.380 Die geltenden normativen Grenzen werden vom Supreme Court restriktiv interpretiert und von den Untergerichten gar unbeachtet gelassen, sodass sie in der Praxis des plea bargaining nicht eingehalten werden. Die Parteivereinbarungen und das staatsanwaltschaftliche Ermessen sind also grundsätzlich nicht Gegenstand richterlicher Kontrolle in der Praxis des US-amerikanischen Strafprozessrechts. Das richterliche Verlesen der Anklageschrift mit dem Schuldbekenntnis des Angeklagten wird als ausreichend für das Verfahrensergebnis betrachtet, ohne dass zusätzliche Beweise erhoben werden. Abgesehen von außergewöhnlichen, extrem gravierenden
podrá modificar la sanción solicitada por la Representación Social, ni siquiera para reducirla, dado que, haría ineficaz el juicio abreviado sustentado en la negociación“. 378 Vgl. dazu Goldman, 22 B.C.L. Rev 815 (1981), S. 816, 819; Turner, American Journal of Comparative Law 54 (2006), S. 501 ff.; Trüg; Lösungskonvergenzen, S. 158 f. 379 Vgl. Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 158 f., 161, 175. 380 Vgl. dazu Turner, American Journal of Comparative Law 54 (2006), S. 515; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 172 f., 164; ders., ZStW 120 (2008), 359 f. mit Nachweisen; Sickor, Das Geständnis, S. 165.
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Fällen beschränken sich die Gerichte darauf, diese Vereinbarungen zu ratifizieren.381 Auch für England und Wales gilt beispielsweise allgemein, dass die Einlassung des Angeklagten automatisch akzeptiert wird und jede Überprüfung entbehrlich ist.382 bb) Beim abreviado Der mexikanische Bundesgesetzgeber ist nun aufgrund der Einführung des abreviado zuversichtlich bezüglich einer eingehenden gerichtlichen Kontrolle, indem er eine zwingende richterliche Überprüfung der Übereinstimmung der Anerkenntniserklärung des Angeklagten mit den Angaben aus dem Ermittlungsverfahren bereits bei der Zulässigkeitsprüfung gesetzlich vorsieht. In seinem Urteil vom 19. März 2014 zum früheren Strafprozessgesetz des Bundesstaats Mexiko verlangte der Suprema Corte vor der Urteilsfällung zusätzlich eine richterliche Verifizierung der in der Anerkenntniserklärung anerkannten Tatsachen auf ihre Übereinstimmung nicht nur mit der Ermittlungsakte, sondern überhaupt mit dem wahren Sachverhalt. Es bestehen nämlich beim procedimiento abreviado gesetzliche bzw. verfassungsrechtliche Anforderungen an eine richterliche Überprüfung der Anerkenntniserklärung des Angeklagten und des Verfahrensergebnisses, die bezüglich des guilty plea und den Verhandlungsergebnissen in der Praxis des plea bargainings nicht vorhanden sind. Was den Umgang der mexikanischen Praxis mit den damaligen Anforderungen der Primera Sala an die Sachverhaltsaufklärung im Rahmen des für die Verfahrensbeschleunigung gedachten procedimiento abreviado betraf, wären ähnliche Bedenken wie bei der deutschen Verständigung zu äußern gewesen, dazu unten beim entsprechenden Vergleich. Nun wurden die Anforderungen an die richterliche Überprüfung durch das Urteil der Primera Sala vom 18. August 2016 reduziert, was wiederum mit den Ansprüchen der mexikanischen Verfassung an die Feststellung des wahren Sachverhalts als Urteilsgrundlage kollidieren kann. e) Fazit aa) Verteilung der Prozessrollen Die weltweite Tendenz, darunter auch das plea bargaining und der abreviado, zeigt ein homogenes Bild bei der Verteilung der Prozessrollen, in dem der „Deal“ zwischen den auf vergleichbaren Interessenebenen antretenden Kontrahenten Staatsanwaltschaft und Angeklagten abgeschlossen wird, während eine Initiative des Richters oder seine Beteiligung an die Verhandlungskommunikation unzulässig ist. 381 Statt aller Turner, American Journal of Comparative Law 54 (2006), S. 504, 514 f.; Damasˇka, StV 1988, 398 f.; Langer, in: Harvard International Law Journal, Vol. 45, No. 1, 2004, S. 36, Fn. 171: „Courts usually defer to agreements reached by the parties“; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 164, 172 f., 178 ff.; ders., ZStW 120 (2008), 356 f., 359 f., 365, mit Nachweisen, mit Ausnahmen in bestimmten Staaten: S. 365. 382 Nun bezüglich England & Wales vgl. etwa Peters, Urteilsabsprachen im Strafprozess, S. 180.
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Dementsprechend besteht eine gewisse Neutralität des erkennenden Gerichtsorgans in dem Fall, dass es nicht zum Abschluss einer Vereinbarung kommt und eine reguläre Beweisaufnahme durchgeführt werden muss.383 bb) Kompatibilität des plea bargaining und des abreviado mit der Rechtsordnung? Eine Vereinbarkeit des plea bargaining und die damit verbundene Disposition der Parteien über den gerichtlichen Schuldspruch im Rahmen einer unvollständigen Beweisaufnahme scheint mit den US-amerikanischen Verfassungsgrundsätzen nicht zu kollidieren.384 Diese Art von Verfahrenserledigung dürfte mit einem prozeduralorientierten Wahrheitsbegriff gut vereinbar sein. Die Idee, die Richtigkeit des Verfahrensergebnisses von der Einhaltung bestimmter prozessualer Vorgaben abhängig zu machen, ist mit einer derartigen Verfahrenskonzeption kompatibel. Was den zulässigen Gegenstand der Einlassung betrifft, sind zwei grobe Absprachenmuster zu erkennen. Ausgangspunkt in dieser Gestaltungsspanne ist ein pauschales Schuldbekenntnis im Sinne eines guilty plea mit der Entbehrlichkeit der richterlichen Verifizierung des Schuldnachweises, weil die Prüfung der Übereinstimmung mit den angeklagten Delikten als ausreichend angesehen wird. Von Bedeutung ist in diesem Konzept die Einhaltung der Prozessregeln zum Schutz des Angeklagten wie zum Beispiel die Freiwilligkeit des Schuldbekenntnisses oder die Informiertheit des Beschuldigten.385 Ferner stehen beim plea agreement vielfältige Inhalte zur Disposition, wie das fact bargaining oder charge bargaining. Gegenüber dem Konzept des plea bargaining installierte man inhaltliche Differenzierungen und Einschränkungen bei der Legalisierung der Absprachen in Kontinentaleuropa und bei der Einführung des abreviado in Mexiko, was im Zug der Einführung des modernen mexikanischen Strafprozessrechtes passierte. Eine Gewährleistung dieser Grenzen ist in der Praxis aber nicht zu verzeichnen. Nicht zu übersehen sind die inneren Widersprüche bezüglich der Kompatibilität einer auf Sachverhaltsaufklärung nicht verzichtenden Absprachenregelung mit ihrem auf Ökonomisierung abzielenden Sinngehalt und auch darauf ausgerichteter Praxis. Jedenfalls besteht ein Bestreben bei dieser Art von „Absprachemodell mit Sachverhaltsaufklärung“, sich mit viel Einsatz des Gesetzgebers und der Rechtsprechung vom „Extremfall“ des plea bargaining zu entfernen. Das betrifft den Inhalt der Zustimmung bzw. der Vereinbarung, aber auch den Gegenstand des Geständnisses und die richterliche Überprüfung beider Elemente. Auch wenn der procedimiento abreviado und die deutschen Absprachen deutliche Unterschiede bezüglich der Verteilung der Prozessrollen und der Durchführung aufweisen, nähern sie sich in383
Zu den Einzelheiten wird es auf den Rechtsvergleich mit der deutschen Verständigung infra verwiesen. 384 Dazu Brodowski, ZStW 124 (2012), 739, 776 mit Nachweisen. 385 Über diesen Regeln Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 168 ff., 177; Sickor, Das Geständnis, S. 164.
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haltlich an. Die Zusammenhänge und Differenzierungen sind aber so feinsinnig, dass man dafür zusätzlich eines Überblicks über die Einzelheiten der deutschen Verständigung bedarf.
4. Parallelen und Unterschiede zur deutschen Verständigung a) Verteilung der Prozessrollen aa) Abspracheinitiative und -führung Von der deutschen „Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten“ des § 257c StPO unterscheidet sich der lateinamerikanische procedimiento abreviado grundsätzlich darin, dass bei ihm die Interaktion zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Angeklagten stattfindet, während der (Ermittlungs-)Richter die Entscheidung über die Zulässigkeit und Kontrolle über das verkürzte Verfahren übernimmt und das Urteil in diesem Rahmen fällt. Demgegenüber werden die deutschen Absprachen nunmehr vom erkennenden Richter dadurch in die entscheidende Phase geführt, dass er bekannt gibt, welchen Inhalt die Verständigung haben könnte (§ 257c Abs. 3386). Deutschland steht in Europa nahezu alleine in seinem richterzentrierten System der Abspracheregelung.387 Vor der Legalisierung der Absprachen war der Richter nicht unbedingt der Initiator, sondern Verteidigung und Staatsanwaltschaft konnten unverbindliche Vorgespräche führen, die dann aber letzten Endes durch das Gericht noch akzeptiert und „abgesegnet“ werden mussten; das Gericht konnte sich aber auch dem Vorschlag verweigern. Verlässlichkeit in Form eines „gentlemen’s agreement“ gab es erst nach dem Plazet des Gerichts. Heutzutage kann das Gericht die ersten Gespräche im Zwischenverfahren gem. § 202a StPO schon in der Phase vor Eröffnung der Hauptverhandlung führen, also zu einem Zeitpunkt, in dem es allein Kenntnis von der schriftlichen Aktenlage und den Angeklagten noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hat. § 160b StPO regelt dies im Ermittlungsverfahren analog für Gespräche der Staatsanwaltschaft mit den Verfahrensbeteiligten. Weil in diesem Stadium oft entscheidende Weichen gestellt werden, kommt diesen Gesprächen große Bedeutung zu. Die verbindliche Kommunikation und die Konzessionen für die Abgabe eines Geständnisses sind aber im Fall einer Strafbarkeit und einer darauf aufbauenden Anklage eine vorrangig richterliche Angelegenheit. Problematisch bei der Verteilung der Verfahrensrollen in einer strafprozessualen Absprache ist, dass sich die Kontrahenten schwerlich auf Augenhöhe treffen können. Die strukturell schlechtere Ausgangsposition des Beschuldigten ist selbst im Falle einer Verteidigung allenfalls im Fall eines durchfinanzierten Verteidigung auszu386
Wobei der Gesetzgeber damit kein alleiniges Initiativrecht des Gerichtes zu einer Verständigung verbindet, vgl. BT-Drucks. 16/12310, S. 13. 387 Zuletzt Anders, ZStW 129 (2017), 82 m. w. N.; Schünemann, Festschrift für Streng, S. 762.
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gleichen, weil eine Etablierung von Waffengleichheit wegen der stetigen Verstärkung der Überwachungs-, Ermittlungs- und Verfolgungsmacht von Polizei und Staatsanwaltschaft im heutigen staatlichen Verhältnis zum Bürger nicht plausibel sein kann.388 Die Ermittlungsarbeit in Lateinamerika scheint weniger intensiv zu sein, wenn man die hohe Quote der Flagranzdelikte betrachtet. Allerdings ist das Ungleichgewicht auch dort nicht zu übersehen. Die ungünstige Ausgangsposition des Beschuldigten mit seiner Verteidigung lässt sich auch nicht bei der deutschen Verständigung verleugnen. Neben der unterlegenen Stellung gegenüber den Verfolgungsbehörden befindet sich die Verteidigerseite zusätzlich in der Defensive, weil das Gericht nicht am Ende der Verhandlungen als Kontrollinstanz agiert, sondern selbst Partner der Absprache ist. Wegen der Entscheidungsbefugnis des Richters über die Täterschuld und über die Höhe der Strafe steht die Verteidigung so oft mit dem Rücken zur Wand. Die Verteilung der Prozessrollen ist für den Angeklagter bei den deutschen Absprachen noch unvorteilhafter ausgestaltet, da eine prozessuale Grundbedingung, nämlich die Neutralität des Tatgerichts, nicht erfüllt ist. Weil der erkennende Richter die dominierende Rolle bei der Verständigung einnimmt, die Einigungsgespräche führt, die Verfahrensherrschaft besitzt und zugleich selbst Verhandlungspartner ist, ist die richterliche Neutralität tangiert.389 Die Abgabe eines Angebots liegt im Ermessen des Gerichts. Kriterien für diese Ermessensausübung sind aber nicht entwickelt worden.390 Dabei kann sich das auf einer Verständigung basierende Urteil als nicht mehr ein Akt der rechtsprechenden Gewalt im Sinne des Art. 92 GG herausstellen, weil diese Vorschrift die Ausübung durch einen nichtbeteiligten Dritten voraussetzt.391 Nicht auszuschließen ist der richterliche Rückgriff auf diese Verfahrensart aus Gründen der Arbeitsentlastung der Justiz, womit nun nicht die Neutralität im Sinne der Unparteilichkeit, sondern im Sinne des vorausgesetzten Ausschlusses aller eigenen Interessen betroffen wäre.392 Bedenklich dabei ist die Praxis der Erledigung durch Verständigung von ausgerechnet besonders umfangreichen und komplizierten 388
Allgemeine Nachweise zum deutschen Schrifttum bezüglich der Waffengleichheit infra, C. II. 2., auch supra, Kapitel 2 A. I. 1. a) dd). 389 Vgl. zur Kritik unter vielen anderen Schünemann, 58. DJT, B 116 ff.; ders., StV 1993, 658 f.; ders., ZStW 119 (2007), 951 f.; ders., ZRP 2009, S. 107; ders., ZIS 2009, 491 f.; ders., GA 2018, 185; Roxin/ders., Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 29, 34; Salditt, Gedächtnisschrift für Schlüchter, S. 74 f.; Weßlau, ZStW 116 (2004), 167; Duttge, Festschrift für Böttcher, S. 64; Rieß, StraFo 2010, 11 f.; LR/Stuckenberg, § 257c Rn. 17 m. w. N.; Eschelbach, Festschrift für Rissing-van Saan, S. 136; BeckOK StPO/ders., § 257c, Rn. 5, 26; Matolepszy, ZStW 126 (2014), 501. 390 Vgl. dazu Salditt, Festschrift für Tolksdorf, S. 383 ff. 391 Vgl. Schünemann, 58. DJT, B 55 f.; Haas, Gedächtnisschrift für Keller, S. 65, 70; LR/ Stuckenberg, § 257c Rn. 17 unter anderen. 392 Statt aller vgl. Schünemann, 58. DJT, B 27 ff., und aus soziologischer Sicht bezüglich der Rückverwandlung des Strafverfahrens von einem Wertkonflikt in einen Interessenkonflikt der einzelnen Akteure: S. 50 ff.
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Verfahren, anstatt diese Verfahrensform für die Fälle von klarer Beweislage zu reservieren.393 Gegenüber der verbreiteten Kritik an der Neutralität des Gerichts in der deutschen Verständigung sieht das Bundesverfassungsgericht diese Voraussetzung mit den Vorgaben des Verständigungsgesetzes dadurch gewährleistet, dass die Bindungswirkung einer Verständigung eingeschränkt sei und dass der Angeklagte über diese Einschränkung belehrt werde.394 Diese Lösungsmöglichkeit des Gerichts von einer Absprache ist im § 257c Abs. 4 S. 1 und S. 2 StPO vorgesehen: „Die Bindung des Gerichtes an eine Verständigung entfällt, wenn rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben und das Gericht deswegen zu der Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist“. Das Prozessverhalten des Angeklagten kann auch ein Grund für eine Bewertungsabweichung sein. Aber diese für den Richter eröffnete Möglichkeit stellt keine ausreichende Garantie für seine Neutralität dar. Es besteht zunächst eine Rechtsbindung, nachdem das Gericht nach Angebot und Zustimmung gebunden ist, solange sich die im Gesetz vorgesehenen Veränderungen nicht ergeben. Inwiefern eine Bereitschaft des Gerichts besteht, für eine Neubewertung seiner bisherigen Überzeugung offen zu bleiben, ist dabei eine heikle Frage. Ein Abweichen des Richters vom Vereinbarten in einer von ihm geleiteten Verständigung, bei der er auch Verhandlungspartner ist, scheint an sich und bei der heutigen Struktur des reformierten Inquisitionsprozesses quasi eine „Fiktion“ zu sein.395 Weil die Verteidigung kaum Mitwirkungsmöglichkeiten in der derzeitigen Ausgestaltung des Ermittlungsverfahrens besitzt, ist es eine zwingende Konsequenz, dass diese Anfangsphase des Verfahrens die belastende, einseitige Perspektive der Strafverfolgungsbehörden widerspiegelt. Wenn der deutsche Richter die Verständigung auf der Basis der Ermittlungsakte leitet und zugleich faktisch eine Verhandlungsposition als Kontrahent übernimmt, entsteht in ihm ein von der Akte vermitteltes, überwiegend belastendes Tatbild.396 Bereits dieser Einfluss des Ermittlungsverfahrens auf die innere Haltung des Richters gegenüber dem Angeklagten und dazu der eigentliche Grund für Absprachen, nämlich dass sie der richterlichen Arbeitsentlastung dienen sollen, wird in der Prozesswirklichkeit dazu führen, dass ein richterliches Abweichen von der Vereinbarung zum Beispiel durch Anerkennen eines Übersehens rechtlich oder tatsächlich bedeutsamer Umstände, unplausibel ist. Die Neutralität eines Gerichts, das zugleich Leiter und Teilnehmer der Verhandlung ist, kann nicht aufgrund eines unwahrscheinlichen Wegfalls der Bindung an die Vereinbarung bzw. eine nur theoretische Ergebnisoffenheit fingiert werden. 393
Vgl. die Erwartungen des Gesetzgebers in BT-Drucks. 16/12310, S. 15; dazu etwa Murmann, ZIS 2009, 535; BeckOK StPO/Eschelbach, § 257c, Rn. 5. 394 BVerfGE 133, 168 (Rn. 65, ferner Rn. 62). 395 Eschelbach, Festschrift für Rissing-van Saan, S. 136. 396 Zu diesem „Inertia-Effekt“, aber auch zum „Schulterschlusseffekt“ vgl. Nachweise supra, Kapitel 2, Fn. 195.
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Deshalb scheint die lateinamerikanische Einbindung eines Richters erst am Ende der Vereinbarungen zwischen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung die bessere Alternative397 für die Balance zwischen den Prozessbeteiligten in Sinne einer Kontrollinstanz zu sein. Mexiko hat sich für eine Initiative des abreviado ausschließlich durch die Staatsanwaltschaft entschieden, während andere lateinamerikanische Rechtsordnungen diese Möglichkeit auch dem Angeklagten zubilligen. In einigen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, die anders als im common-law einen Anspruch auf eine gerichtliche Überprüfung der Ergebnisrichtigkeit der strafprozessualen Vereinbarungen in der Regel erheben, liegt die Initiative für die Absprache auch in den Händen der Staatsanwaltschaft. Beispiele dafür sind der pattegiamiento in Italien398 und die comparution sur reconnaissance préalable de culpabilité (Erscheinen nach vorheriger Schuldanerkenntnis) in Frankreich.399 Im polnischen Strafverfahrensrecht besteht ferner eine Einteilung in Verfahrensphasen, wobei die Initiative der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren (Art. 335 § 1 KPK) und dem Angeklagten in der Hauptverhandlung gehört (Art. 387 KPK) und ein dahingehender „Rat“ der Staatsanwaltschaft oder des Richters im letzteren Fall in der Praxis vorkommt. Die spanische conformidad ist schließlich eine Anerkenntniserklärung des Angeklagten mit seinem Verteidiger bezüglich der angeklagten Delikte, sodass das Gericht bei dieser Interaktion der Prozessbeteiligten auch eine passive Rolle einnimmt (Art. 655, 784.3, 787 LECrim). Demgegenüber stellt die richterliche Dominanz und Steuerung der deutschen Verständigung eine Unausgeglichenheit größeren Ausmaßes dar als die parteiische Führung der Absprachenkommunikation, die sich in der Rechtsvergleichung etabliert hat und zwischen Verfahrensgegner erfolgt, auch wenn diese nicht auf Augenhöhe sind. Bei der Wahl zwischen den zwei Drucksituationen ist bei einverständlichen Verfahrenserledigungen eine zurückhaltende richterliche Position vorzuziehen. Eine Einleitung und Führung der Absprachengespräche durch das Tatgericht, das zugleich die Rolle als Entscheider innehat, und dem Angeklagten durch seine dominante Position und der Aussicht auf eine gemilderte Strafe nach einem Geständnis keine Wahl lässt – noch dazu alles auf Basis der nur schriftlich vorliegenden Akten –, erinnert unweigerlich an die Zeiten des alten Inquisitionsverfahrens und stellt einen weiteren Rückschritt dar, als die Zulässigkeit der Absprachen schon an sich implizieren.400 397 398
120 ff.
Für das deutsche Strafprozessrecht zur Diskussion gestellt von Rieß, StraFo 2010, 12. Zu dieser Figur im Codice di Procedura Penale vgl. etwa Orlandi, ZStW 116 (2004),
399 Das CRPC-Verfahren ist in den Arts. 495 – 7 bis 495 – 16 des französischen CPP geregelt, vgl. dazu etwa Jung/Nitschmann, ZStW 116 (2004), 785 ff.; Peters, Urteilsabsprachen im Strafprozess, S. 118 ff., 168. 400 Statt aller schon seit langem für diese allgemeine Kritik an die Absprachen, nicht nur in Bezug auf die Verteilung der Rollen, Hassemer, JuS 1989, 895; Schünemann, NJW 1989, 1901 f.; ders., ZRP 2009, 105 f.; Weigend, JZ 1990, 778; jüngst zum Beispiel LR/Stuckenberg, § 257c Rn. 14 f., 18 m. w. N.
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bb) Richterliche Kompetenz nach Scheitern der Absprache Der gravierendste Nachteil bezüglich der Verteilung der Rollen selbst nach einer erfolgten Absprache besteht darin, dass der deutsche Gesetzgeber für den Fall des Scheiterns die Entscheidungskompetenz demselben Tatgericht belässt: Wenn es nicht zu einer erfolgreichen Absprache kommt, bleibt das Gericht, dass die Verständigung inititiierte und sich an der Absprache beteiligte, für die anschließende Hauptverhandlung und für den Schuldspruch zuständig.401 Andere Rechtsordnungen kamen nicht auf den Gedanken, diese Aufgaben dem daran beteiligten Gericht zu überlassen. Bereits beim US-amerikanischen Strafprozess ist der am plea bargaining beteiligte Richter im Fall des Scheiterns der Parteivereinbarungen nicht mehr für den Schuldspruch zuständig, weil das ohnehin eine Angelegenheit der Jury ist.402 Beim Scheitern des mexikanischen procedimiento abreviado, aber auch bei der französischen comparution403 übernimmt ein unvoreingenommener Richter die Weiterführung des Prozesses, der die Protokolle des Abspracheverfahrens nicht zur Verfügung gestellt bekommt. Im Fall der Zulassungablehnung des abreviado wird das Strafverfahren nach Art. 203 Abs. 2 Satz 1 CPPN gemäß den Bestimmungen für das ordentliche Verfahren (procedimiento ordinario) fortgesetzt.404 Damit ist ein erkennendes Gericht (tribunal de enjuiciamiento, Art. 211 Abs. 1 III; Art. 391 Abs. 1 CPPN) und nicht mehr der Ermittlungsrichter (juez de control) für die Hauptverhandlung des procedimiento ordinario zuständig.405 Ferner besteht beim lateinamerikanischen procedimiento abreviado in der Regel die Pflicht des Ermittlungsrichters, für den Fall der Zulassungsablehnung alle Protokolle über den Antrag, die Diskussion und Entschlüsse über den abreviado aus der Ermittlungsakte zu entfernen (so wie bei Art. 203 Abs. 2 Satz 2 des mexikanischen CPPN).406 Die staatsanwaltschaftliche Anklage wird als nicht existent erklärt (Satz 1). Für diese Kautelen sorgt bereits das Muster des chilenischen abreviado in Art. 410 Abs. 3 CPP, wobei Abs. 2 hinzufügt, dass die Anerkennung des Angeklagten ebenfalls für nicht existent gehalten wird. Durch die Wiederherstellung der
401
Kritisch statt aller Schünemann, ZStW 119 (2007), 951 f.; weitere Nachweise bei LR/ Stuckenberg, § 257c, Rn. 17. 402 Vgl. jüngst etwa Brodowski, ZStW 124 (2012), 770. 403 Bezüglich der comparution Nolte, Verständigung im Strafprozess, S. 280. 404 Art. 203 Abs. 2 Satz 1 CPPN: „… y se continuará de acuerdo con las disposiciones previstas para el procedimiento ordinario“. 405 Auch die Art. 97, Abs. 1 I; 317 des CPP vom mexikanischen Bundesstaat Chihuahua trennte diese Funktionen. 406 Art. 203 Abs. 2 Satz 2: „Asimismo, el Juez de control ordenará que todos los antecedentes relativos al planteamiento, discusión y resolución de la solicitud de procedimiento abreviado sean eliminados del registro.“
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vor dem Antrag des abreviado bestehenden Rechtslage ist beabsichtigt, die Unparteilichkeit des erkennenden Richters der Hauptverhandlung zu gewährleisten.407 Was das absprachebedingte Geständnis bei der deutschen Verständigung betrifft, ist seine Unverwertbarkeit in § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO vorgesehen. Für die mexikanische Anerkenntniserklärung könnte man diese Kautel auch aus der allgemeinen Bestimmung des Art. 203 Abs. 2 Satz 2 CPPN entnehmen. Allerdings ist die praktische Auswirkung des Verwertungsverbots nach einer gescheiterten Absprache v. a. bei der Fortführung vor demselben Gericht wie in Deutschland zu bezweifeln, weil die Festigung der Verdachtshypothese in der subjektiven richterlichen Überzeugung408 schwer aus der Welt zu schaffen ist. b) Inhalt der Verständigung und Maßstäbe für die richterliche Beurteilung aa) Paradoxon der Wahrheitssuche mit zusätzlichen Beweiserhebungen Auch wenn die deutsche Rechtsprechung bereits vorgewarnt hatte, dass die Legalisierung der Urteilsabsprachen ohne die Abweichung von den Grundsätzen des herkömmlichen Strafprozesses und die Festlegung neuer Rechtsregeln nicht zu erreichen wäre,409 hielt der deutsche Gesetzgeber des Verständigungsgesetzes an der Fortgeltung der Grundsätze des Strafverfahrens einschließlich der Überzeugung des Gerichts vom festgestellten Sachverhalt auch für das Verständigungsverfahren fest. Grundlage eines Urteils im Strafprozess sei nicht die Verständigung zwischen den Prozessbeteiligten selbst, sondern die Überzeugung des Gerichts von dem von ihm festzustellenden Sachverhalt. Das neue Regelungskonzept würde die richterliche Verpflichtung zur Ermittlung der materiellen Wahrheit nicht zurückdrängen. Die Pflicht des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nach § 244 Abs. 2 StPO soll dementsprechend unberührt bleiben (§ 257c Abs. 1 Satz 2 StPO). Der Gesetzgeber wollte mit diesem Vorbehalt dafür sorgen, dass ein Widerspruch des Bundesverfassungsgerichts möglichst ausbleibt, nachdem dessen Rechtsprechung die Ermittlung des wahren Sachverhalts für die Verwirklichung des materiellen Schuldprinzips als zentrales Anliegen des Strafprozesses immer hervorhob.410 Eine solch gesetzliche Tarnung des Systembruches ist in der Rechtsvergleichung nicht in dieser Dimension auffindbar. In diesem gesetzlichen Selbstbetrug wohnt eine Verzerrung der Wirklichkeit der Urteilsabsprachen inne, die seit ihrer heimlichen Praxis ab den 1980er Jahren eine ganz besondere Belastung speziell für den deutschen Strafprozess darstellt. Die gesetzliche Klausel wirkt da wie die Freizeichnung „ohne Gewähr“ oder wie der Vermerk auf einem Wechsel, mit dem die Haftung für diesen Wechsel 407
Horvitz Lennon, in: Horvitz Lennon/López Masle, Derecho procesal penal chileno II, S. 529. 408 Vgl. die Argumentation zum „Inertia-Effekt“, Nachweise supra, Kapitel 2, Fn. 195; ferner heute statt aller BeckOK StPO/Eschelbach, § 257c, Rn. 5. 409 BGHSt 50, 40, 63 f. 410 Vgl. nur BVerfG NStZ 1987, 419.
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ausgeschlossen wird.411 Jedenfalls ist der 2. Senat in seinem Urteil vom 19. März 2013 auf diese merkwürdige Kombination der zwei gegensätzlichen Welten in dem Sinne eingegangen, dass das Verständigungsgesetz am Schuldprinzip und der mit ihm verbundenen Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit zu messen sei.412 Mit einer Reihe von präzisierenden Auslegungen des Verständigungsgesetzes413 erhöhte der 2. Senat sogar die Ansprüche an die Ermittlung des Sachverhalts: Während er auf eine Festlegung der Anforderungen an die Qualität des Geständnisses bewusst verzichtete,414 lautet nun das Prüfprogramm des Bundesverfassungsgerichts, dass das Geständnis im Strengbeweisverfahren – und nicht wie früher gedacht durch Abgleich mit der Aktenlage – überprüft werden soll.415 Wenn man diesen Vorgaben streng folgen sollte, müsste man eine umfassende Beweisaufnahme durchführen, als ob es kein Geständnis gegeben hätte. Das Dilemma dieses Absprachenkonzepts leuchtet unmittelbar ein, und zwar ist es offensichtlich, dass weitreichende Verständigungen im Strafprozess mit Aufklärungspflicht und Schuldprinzip schlichtweg nicht kompatibel sind.416 Wer nach der Prämisse quid pro quo und im juristischen Sinne nach dem Motto do ut des vorgeht,417 richtet sich am Leitgedanken von Leistung und Gegenleistung aus und impliziert die Idee der Verfügbarkeit. Die Widersprüchlichkeit418 zwischen der im deutschen Strafprozessrecht geltenden Inquisitionsmaxime und der Zulässigkeit der Verständigung ist nicht aufzulösen. Eine Vereinbarkeit der Absprachen mit dem bestehenden Strafprozesssystem ist deshalb rechtsvergleichend betrachtet womöglich am schwierigsten beim deutschen Recht zu erreichen. Das Schrifttum hält diese
411 „Angstklausel“ nach Hettinger, JZ 2011, 299; „Beschwichtigungsversuch“ nach MüKoStPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 40. Nach Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 61. Vorauflage 2018, § 257c, Rn. 3 soll auch „wenig mehr als ein Lippenbekenntnis“ bleiben. 412 BVerfGE 133, 168 (insbes. Rn. 105). 413 BVerfGE 133, 168 (insbes. Rn. 64, 67); zu Recht kritisch MüKoStPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 32 f.: „out of area“ und „ultra vires“. 414 BT-Drucks. 16/12310, S. 18 f.; dazu etwa Ignor/Wegner, in: Satzger/Schluckebier/ Widmaier, StPO, § 257c, Rn. 51. 415 BVerfGE 133, 168 (Rn. 209 f.). 416 Murmann, ZIS 2009, 532 m. w. N., 538; ders., Festschrift für Roxin II, S. 1389 ff.; Schünemann, etwa ZRP 2009, 106; Trüg, ZStW 120 (2008), 367 ff.; Fezer, NStZ 2010, 179; Rieß, StraFo 2010, 11; Altvater, Festschrift für Rissing-van Saan, S. 30; Theile, NStZ 2012, 667; Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 61. Vorauflage 2018, § 257c, Rn. 3 („kann nicht gelingen“); BeckOK StPO/Eschelbach, § 257c, Rn. 5. Vor dem Gesetz wurde dies wiederholt behauptet, unter zahlreichen Autoren Schünemann, StV 1993, 658; Jahn/Müller, JA 2006, 685 („wirklichkeitsfremd“). 417 Zu diesem Verhältnis Beulke/Satzger, JuS 1997, 1072; Satzger/Ruhs, in: Bockemühl (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts, 8. Teil, 30. Kapitel, Rn. 2 m. Nachweisen; Herzog, GA 2014, 694. 418 Unter anderen Fischer, StraFo 2009, 181; Jahn/Müller, NJW 2009, 2631 („unrealistisch und in sich widersprüchlich“); Duttge, Festschrift für Schünemann, S. 884; Knauer, NStZ 2013, 436; Flore/Tsambikakis (Hrsg.), Steuerstrafrecht, § 257c Rn. 23.
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
Spannung berechtigerweise für eine Inkonsequenz des Gesetzgebers419, einen „Geburtsfehler und Mogelpackung zugleich“420. Die im Lauf der Jahre geübte Absprachepraxis beinhalte auch fact bargaining und charge bargaining und habe damit mit einer Erforschung des tatsächlichen Geschehens nichts zu tun.421 Die quasivertragliche Struktur sei diesem Verfahren also immanent und das werde vom Gesetzgeber „begrifflich kaschiert“422. Auch wenn man eine richterliche Überprüfung des Geständnisses bei der Verständigung zulassen möchte, kann man nicht ableugnen, dass es sich um verfahrensabkürzende423 Absprachen handelt. Nichts anders soll bezüglich der richterlichen Überprüfung der Anerkenntniserklärung beim abreviado gelten. Der einleuchtende Anlass für die Entfaltung von einverständlichen Verfahrenserledigungen im Strafverfahren ist die Idee der Verfahrensbeschleunigung und der Entlastung der Justiz. Deshalb sind Einschränkungen der Ermittlung der materiellen Wahrheit durch die Verschlankung des Prozessstoffs und die möglichst starke Verkürzung der Beweisaufnahme den Urteilsabsprachen immanent. Die Wahrheitsabstriche kommen bereits mit dem Vorschlag des Richters bei der deutschen Verständigung nach der Lektüre des polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen gestalteten Akteninhalts oder sogar nur des Anklagesatzes424 in Schwung. Unvermeidbar in diesem aufwandsparenden Rahmen sind die Verhandlungen über den Ausschluss der Erhebung weiterer Beweise. Dementsprechend wird die gebotene ordentliche Beweisaufnahme in der mündlichen Hauptverhandlung erstens durch das Geständnis bzw. die Anerkenntniserklärung und zweitens durch die Information der von den Strafverfolgungsbehörden kreierten Ermittlungsakte ersetzt. Die Unzulässigkeit dieses Vorgangs nach dem Amtsaufklärungsgrundsatz des deutschen Rechts ist offensichtlich, weil eine gerichtliche Ausschöpfung des vollständigen Beweismaterials in einem absprachengesteuerten Verfahren nicht gewollt ist. Ferner bleibt eine Schöpfung der richterlichen Überzeugungsbildung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung schlechterdings anspruchslos. Erkannt wird, was dem Ergebnis dient. Es krankt also auch die Erkenntnisquelle für die Tatsachengrundlage, worauf sich die gerichtliche Rechtsanwendung im Urteil stützen soll.425 Das betrifft nicht nur das Erfordernis der Konzentration auf die Hauptverhandlung des für die Überzeugungsbildung bedeutsamen Verfahrensstoffes des § 261 StPO, sondern auch das entsprechende Erfordernis des Art. 402 des mexikanischen CPPN. Konsequenter war der CPP des mexikanischen Bundesstaates Chihuahua, der als Quelle für den Código Nacional diente, weil er dieses Prinzip für den abreviado ausschloss (Art. 236 Abs. 2). 419
BeckOK StPO/Eschelbach, § 257c, Rn. 2. Knauer/Lickleder, NStZ 2012, 367. 421 Trüg, ZStW 120 (2008), 368. 422 BeckOK StPO/Eschelbach, § 257c, Rn. 5. 423 Betont von MüKoStPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 46. 424 Statt aller Fischer, StraFo 2009, 179. 425 Über den Amtsaufklärungsgrundsatz und die freie richterliche Beweiswürdigung vgl. supra, Kapitel 2 A. I. 420
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Anders als für das US-amerikanische Rechtssystem426 sind die geschilderten Einschränkungen der gebotenen Aufklärung für das deutsche Recht verfassungsrechtlich bedenklich,427 weil die materielle Wahrheit von Verfassungs wegen erforscht werden und die Strafe schuldangemessen sein muss. Der Nachweis der Schuld obliegt dem Staat, und das ist auch dem Konzept des mexikanischen Grundgesetzes innewohnend.428 Um eine Verfassungswidrigkeit zu umgehen, müsste man in jedem Einzelfall die materielle Wahrheit möglichst vollständig erforschen. Damit wird aber die Verständigung vorwiegend sinnlos429 und das könnte tatsächlich ihren Tod bedeuten.430 Aber die Vorstellung von einer faktischen Abschaffung der Urteilsabsprachen muss als naive Erwartung tituliert werden, wenn man auf die jahrelang heimlich geführte Praxis zurückblickt. Von daher ist der mögliche Irrweg der Praxis zu falschen Geständnissen431 wegen des taktischen Motivs nicht zu verkennen, die wie beim plea bargaining auch aus der Drucksituation heraus entstehen. bb) Ablehnung einer Konsensmaxime In der Entwurfsbegründung des Verständigungsgesetzes wurde die Einführung eines Konsensprinzips ausdrücklich abgelehnt.432 Auch wenn das Konzept des Verständigungsgesetzes Bedenken wegen seiner ambivalenten Prämissen hervorruft, ist diese konkrete Absage insofern zu begrüßen,433 als Konsens mit den von den Beteiligten verfolgten Interessen zu tun hat und zu einer Annäherung an die materielle Wahrheit nicht verpflichtet ist. Zugleich setzt Konsens Freiwilligkeit und Überzeugung des Handelnden voraus, was in der absprachebedingten Drucksituation, in der der Angeklagte sich befindet, nicht vorhanden sein kann.
426
Vgl. dazu supra, B. V. 3. e) bb). Für die Verfassungswidrigkeit der Absprachen in Deutschland statt aller Schünemann, 58. DJT, B 92 ff., 178, 4.4; LR/Stuckenberg, § 257c Rn. 13 mit Nachweisen. 428 Auch wenn die neuen lateinamerikanischen Reformströmungen sich immer wieder auf eine private „Konfliktlösung“ beziehen. 429 Fischer, StraFo 2009, 183; BeckOK StPO/Eschelbach, § 257c, Rn. 2; LR/Stuckenberg, § 257c Rn. 13; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 69; Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 61. Vorauflage 2018, § 257c Rn. 3, u. a. 430 Kudlich, NStZ 2013, 380; Schmitt, Festschrift für Tolksdorf, S. 411 f. 431 Statt aller Fischer, StraFo 2009, 183; Steller, Festschrift für Eisenberg, S. 213. Oder der Angeklagte bekennt „höchst unverfänglich, um die zugesagte Strafmilderung nicht zu gefährden“, Kölbel/Selter, JR 2009, 448. 432 BT-Drucks. 16/12310, S. 8, 13; BVerfGE 133, 168 (Rn. 65 ff.); dazu Ignor/Wegner, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, § 257c Rn. 23; HK-GS/König/Harrendorf, § 257c Rn. 7. Trüg sieht die Vereinbarungen des plea bargaining auch nicht als einen inhaltlich ausgefüllten Konsens, sondern als eine Konzession, weil das Machtgefälle zwischen beiden Parteien in den USA als zu groß erscheine, ZStW 120 (2008), 366. 433 Ausdrücklich Murmann, ZIS 2009, 531; Stuckenberg, ZIS 2013, 218; Weigend, StV 2013, 424 f.; Greco, GA 2016, 11. Dagegen MüKoStPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 112. 427
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Für die Frage, ob der lateinamerikanische abreviado sich nach der Konsensmaxime richtet, kann man die Sichtweisen in zwei Strömungen einteilen: a) Einige Auffassungen in Lateinamerika lenken ihre Auslegungen in eine ähnliche Richtung wie in Deutschland und sehen die bloße Zusammenführung von staatsanwaltschaftlichem Antrag und Anerkenntniserklärung als unzureichend für eine Grundlage des Urteils. Diesen Weg ist der mexikanische Suprema Corte im früheren Urteil vom 19. März 2014 gegangen, und daran hinderte ihn die adversatorische Verfahrensform nicht. Deshalb ist der Auffassung nicht zuzustimmen, derzufolge das Konsensprinzip unbedingt zu einem adversatorischen Verfahren gehöre. Diese Annahme gilt zumindest nicht für die lateinamerikanischen adversatorischen Formen, die sich in ihren Fundamenten als gemischt erweisen. b) Die Gegenmeinung schränkt die Anforderungen für die Urteilsgrundlage auf die Aktion der Parteien ein, ohne eine zusätzliche Sachverhaltsaufklärung und die Überzeugung des Gerichts für das Verfahrensergebnis zu beanspruchen und damit könnte dieses Konzept unter einer Konsensmaxime einzuordnen sein. Trotz der Unterschiede zwischen dem lateinamerikanischen procedimiento abreviado und der deutschen Verständigung, v. a. bezüglich der Abspracheninitiative, bestehen also wesentliche Parallelen bezüglich des Inhalts der Einigung, zumindest wenn man der ersten der soeben erwähnten Auffassungen folgt. Nun sind der Inhalt der Verständigung und ihr zulässiger Gegenstand, aber auch die Maßstäbe für die richterliche Beurteilung näher zu betrachten. Die Einzelfragen über die verfahrensrechtlichen Modalitäten der Absprachen, insbesondere die Verfahrensnormen zur Transparenz des Verständigungsgeschehens, die (nur) zur Verfahrensgerechtigkeit gehören, werden in dieser rechtsvergleichenden Übersicht nicht behandelt, auch wenn sie von der deutschen Rechtsprechung als ein „Kern des gesetzlichen Regelungskonzepts“434 hervorgehoben werden. cc) Zulässiger Gegenstand der Anerkenntniserklärung und der Verständigung (1) Was den zulässigen Verhandlungsgegenstand betrifft, wird eine pauschale Einräumung der Richtigkeit des Anklagesatzes mit einem Schuldanerkenntnis seitens des Angeklagten, wie beim plea bargaining üblich ist, von den kontinentaleuropäisch orientierten Strafprozesssystemen wie vom deutschen Gesetzgeber nicht übernommen. Zu dieser zurückhaltenden Ausformung der Absprachen gehören auch die procedimientos abreviados, solange strengere Anforderungen an diese Verfahrensabkürzung gestellt werden. Beim mexikanischen abreviado ist ein Eingeständnis der Schuld nicht möglich. Aber auch Verhandlungen über die Tatsachen sind nicht erlaubt. Genauso unzulässig ist eine Zustimmung des Angeklagten zu einer rechtlichen Beurteilung und damit ist auch eine Verhandlung darüber unzulässig. Ein Ausschluss von der Anwendbarkeit von Tatbeständen des materiellen Rechts durch fact bargaining bzw. charge bargaining wollte man bei der Etablierung des mexi434
BVerfGE 133, 168 (Rn. 96).
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kanischen abreviado im Anschluss an das chilenische Muster vermeiden. Betont wird in diesem Rahmen, dass die Anerkenntniserklärung nur über Tatsachen erfolgt.435 Die Staatsanwaltschaft beantragt den abreviado mit festzustellenden Tatsachen, woraufhin der Angeklagte diese anerkennt, was aus deutscher Sicht einem Geständnis gleichkommt. Der deutsche Gesetzgeber formuliert einige Präzisierungen zum zulässigen Verständigungsstoff: „Gegenstand dieser Verständigung dürfen nur die Rechtsfolgen sein, die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können …“ (§ 257c Abs. 2 Satz 1 StPO). Zugleich postuliert er das Verbot der Verständigung über den Schuldspruch (Abs. 2 Satz 3). Diese Kriterien waren bereits von der Rechtsprechung vor Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung statuiert. Noch ohne sich über den Schuldspruch zu äußern, erklärte das Bundesverfassungsgericht schon in seinem Grundsatzbeschluss von 1987 als ausgeschlossen, die „rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafzumessung in einer Hauptverhandlung, die letztlich mit einem Urteil zur Schuldfrage abschließen soll, ins Belieben oder zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts zu stellen“.436 Nach der Leitentscheidung des 4. Senats des Bundesgerichtshofs von 1997 durften die strafrechtliche Bewertung und Einordnung des Sachverhalts nicht Gegenstand einer Verständigung sein. Eine Absprache über den Schuldspruch wurde ausdrücklich von Verfassungs wegen als Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren und das Schuldprinzip für unzulässig erklärt.437 Ferner sollte die richterliche freie Beweiswürdigung nicht durch die Verständigung beeinträchtigt werden.438 Im Verständigungsurteil vom 19. März 2013 bestimmte das Bundesverfassungsgericht, dass „nicht nur die tatsächlichen Feststellungen, sondern auch deren rechtliche Würdigung der Disposition der an einer Verständigung Beteiligten entzogen“ bleiben.439 Das Verbot, über den Schuldspruch zu disponieren, fuße auf dem Schuldgrundsatz.440
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Vgl. darüber supra, B. II. 4. b) aa) und B. V. 3. c) bb) mit Nachweisen. BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1987 – 2 BvR 1133/86 = NJW 1987, 2662 (2663). 437 BGHSt 43, 195, 204: „Dies schließt eine Absprache über den Schuldspruch von vornherein aus. Seine Grundlage darf immer nur der nach der Überzeugung des Gerichts tatsächlich gegebene Sachverhalt sein; dessen strafrechtliche Bewertung und Einordnung ist einer Vereinbarung nicht zugänglich. Eine Absprache darf auch nicht dazu führen, daß ein aufgrund der Vereinbarung abgelegtes Geständnis des Angeklagten ohne weiteres dem Schuldspruch zugrunde gelegt wird, ohne daß sich das Gericht von dessen Richtigkeit überzeugt. Das Gericht bleibt dem Gebot der Wahrheitsfindung verpflichtet. Das Geständnis muß daher auf seine Glaubwürdigkeit überprüft werden; sich hierzu aufdrängende Beweiserhebungen dürfen nicht unterbleiben.“ Diese Entschließung wurde im BGH 50, 40, 50 bestätigt. Zum Verbot der Verständigung über den Schuldspruch siehe ferner Satzger/Ruhs, in: Bockemühl (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts, 8. Teil, 30. Kapitel, Rn. 18. 438 BGHSt 43, 195, 206 f. 439 BVerfGE 133, 168 (Rn. 73). 440 BVerfGE 133, 168 (Rn. 109). Für eine Liberalisierung der Absprachen über den Schuldspruch jüngst Rabe, Verständigungsurteil, S. 155 ff. mit Nachweisen. 436
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Das Verständigungsgesetz bestimmt den zulässigen Gegenstand der Verständigung (§ 257c Abs. 2 StPO), also den Strafausspruch, wobei keine bestimmte Strafe im Sinne einer Punktstrafe vereinbart werden darf.441 Es wird aber kein Richtmaß für die richterliche Beurteilung für die materielle Richtigkeit des Verfahrensergebnisses im Gesetz gegeben.442 Dieser Aspekt wird vom Gesetzgeber und von der Rechtsprechung allerdings nicht als zu vernachlässigen eingestuft, was durch das Verbot der Schuldspruchabrede und der Festhaltung an der Pflicht zur Wahrheitsermittlung gezeigt wird, auch wenn darin genau die Widersprüchlichkeit der Neuregelung der deutschen Verständigung liegt. Ferner beruht das Verbot der Disposition über den Schuldspruch des § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO auf der Fortgeltung der Amtsaufklärungspflicht, wie in § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO festgelegt wird. Damit dürfen weder die Feststellungen noch die richterliche Beurteilung Gegenstand einer wirksamen Verständigung sein. Diese Kautel darf aber durch die Einstellung im Sinne der §§ 154, 154a bezüglich Teile des angeklagten Sachverhalts umgegangen werden.443 Die Rechtslage in Deutschland ist dennoch so, dass Tatsachen nicht disponibel sind. Die Pflicht zur Wahrheitsermittlung verhindert die Disposition über deren Feststellungen.444 Es kann also nicht über Fakten bzw. über Tatsachen, die zum Schuldspruch gehören, „gedealt“ werden, wie zum Beispiel über die Wirkstoffkonzentration in nicht geringer Menge gehandelter Betäubungsmittel. Dadurch erfolgt indirekt eine Verständigung über die Schuld und ist deshalb ausgeschlossen.445 Die Aufklärungspflicht bindet das Gericht so sehr, dass es alle für den Schuldspruch relevanten Tatsachen auf der Grundlage eigener Überzeugung ermitteln und werten muss. Das bedeutet, dass das Gericht eine Aufklärung nicht unterlassen darf oder gar wider besseres Wissen eine Tatsache falsch darstellen darf, nur weil das Verfahren in eine Absprache mündet. Die einseitige Anerkennung von Tatsachen seitens des Angeklagten, egal ob diese richtig oder fasch sind, sind der Inhalt eines Geständnisses. Eine Verständigung hingegen beruht immer auf bi- oder trilateralem, gegenseitigem Nachgeben, also einem Abweichen von der eigenen Auffassung. Genau das ist aber dem Gericht bezüglich Tatsachen verwehrt, weil sonst die materielle Wahrheit eingebüßt wird. Genauso wie bei den Tatsachen sind Verhandlungen über die rechtliche Bewertung des Sachverhalts nicht zulässig. (2) Darüber hinaus und im deutlichen Widerspruch zur gesetzlich beanspruchten Einhaltung der Amtsaufklärungspflicht besteht die Möglichkeit der Verständigung über das Unterlassen weiterer Beweiserhebungen. Sie wird als Beispiel für „sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrundeliegenden Erkenntnisverfahren“ des 441 Satzger/Ruhs, in: Bockemühl (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts, 8. Teil, 30. Kapitel, Rn. 14, 22; LR/Stuckenberg, § 257c, Rn. 37. 442 Vgl. Duttge, Festschrift für Schünemann, S. 884; BeckOK StPO/Eschelbach, § 257c, Rn. 11. 443 S. dazu etwa LR/Stuckenberg, § 257c, Rn. 33. 444 Vgl. Satzger/Ruhs, in: Bockemühl (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts, 8. Teil, 30. Kapitel, Rn. 18; LR/Stuckenberg, § 257c, Rn. 10. 445 BeckOK StPO/Eschelbach, § 257c, Rn. 11; Hertel, ZJS 2010, 203.
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§ 257c Abs. 2 Satz 1 StPO in der Gesetzesbegründung angegeben und ist damit zulässiger Gegenstand einer Verständigung. Wenn aber weitere Beweiserhebungen zur Aufklärung des wahren Sachverhalts im konkreten Fall notwendig gewesen wären, müsste sich der Richter mit der bis dato bestehenden Beweislage abfinden.446 (3) Dass in Deutschland eine umfangreiche Kasuistik und mitunter auch kaum nachvollziehbare Unterscheidungen bestehen, kann in diesem Rechtsvergleich offen bleiben. Festzuhalten ist, dass die gesetzlichen Bestimmungen und die Auslegung des Schrifttums und der Rechtsprechung im deutschen wie mexikanischen Raum für detaillierte Einschränkungen bezüglich des Zustimmungsgegenstands sorgen. Beunruhigend ist die weitgehend fehlende tatsächliche Einhaltung dieser feingliedrigen Differenzierungen in der Realität der Vereinbarungsgespräche. dd) Die erforderliche Überzeugung des Gerichts Beim Vergleich der Absprachenmodelle ist die Frage von Bedeutung, ob die bloße Anerkennung der Tatbegehung durch den Angeklagten für die Verfahrenserledigung bzw. für eine Verurteilung ausreicht. Bei der Einführung des mexikanischen procedimiento abreviado wurde dieses Thema eingehend erörtert und es wurde verfassungsrechtlich festgelegt, dass Voraussetzung für diese Erledigungsart ausreichende Überzeugungsmittel sind, die den Vorwurf bestätigen. Wie bei den deutschen Absprachen muss also ein Schuldnachweis vorliegen. In diesem Punkt sind sich die beiden oben erwähnten mexikanischen Ansichten einig, weil die Anerkenntniserklärung des Angeklagten zumindest die erste richterliche Zulässigkeitsprüfung bestehen muss. Die Tatsachenanerkennung wird in ihrer Zuverlässigkeit mindestens durch einen Abgleich mit der Aktenlage verifiziert. Nach einem Teil der Ansichten, wie er in der früheren Entscheidung der mexikanischen Primera Sala vom 19. März 2014 vertreten wurde, müsste eine zusätzliche richterliche Überprüfung des Schuldnachweises bei der Urteilsfindung mit der Möglichkeit eines Freispruches erfolgen. Die Parallele dieser früheren Deutung des mexikanischen abreviado mit der heutigen deutschen Verständigung liegt auf der Hand. Der deutsche Gesetzgeber und die Rechtsprechung fordern auch die Überzeugung des Gerichts, was mehr als eine bloße Zulässigkeitsprüfung impliziert. So ist in der Begründung des Gesetzesentwurfs der deutschen Bundesregierung konzidiert, dass eine Verständigung als solche niemals die Grundlage eines Urteils bilden kann. „Es ist weiterhin die Überzeugung des Gerichtes von dem festzustellenden Sachverhalt erforderlich“.447 Das Bundesverfassungsgericht hebt beim Verständigungsurteil nochmals hervor, „dass eine Verständigung niemals als solche die Grundlage eines Urteils bilden kann, sondern weiterhin allein und ausschließlich die – ausreichend fundierte – Überzeugung des 446 Vgl. etwa LR/Stuckenberg, § 257c, Rn. 10, 39 f.; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 112 mit Nachweisen. 447 BT-Drucks. 16/12310, S. 13.
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Gerichts von dem ihm festzustellenden Sachverhalt maßgeblich bleibt.“ „Die Norm schließt jede Disposition über Gegenstand und Umfang der dem Gericht von Amts wegen obliegenden Pflicht zur Aufklärung des mit der Anklage vorgeworfenen Geschehens aus“. „Dem Gericht muss es untersagt bleiben, im Wege vertragsähnlicher Vereinbarungen mit den Verfahrensbeteiligten über die Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit zu verfügen und sich von dem Gebot schuldangemessenen Strafens zu lösen.“448 Bezüglich des Geständnisses wurde bestätigt, was nach ständiger Rechtsprechung der Grundsatz ist, also dass es auf seine Glaubhaftigkeit hin überprüft werden muss, „sich hierzu aufdrändende Beweiserhebungen dürfen nicht unterbleiben“.449 Das führt zum Thema der richterlichen Feststellung des Wahrheitsgehalts des Geständnisses bzw. der Anerkenntniserklärung des Angeklagten. ee) Die richterliche Überprüfung der Anerkenntniserklärung und des Geständnisses (1) Eine erste Verifizierung der Anerkenntniserklärung des Angeklagten beim abreviado erfolgt durch einen Vergleich mit dem Akteninhalt im Zulässigkeitsverfahren. Die frühere Entscheidung der Primera Sala vom 19. März 2014 eröffnete die Möglichkeit für den Richter, durch eine zusätzliche Überprüfung in einem zweiten Schritt vor dem Urteil und quasi in einer Rückschau, hiervon abzuweichen, wenn es anderer Überzeugung war. In diesem Sinne griff auch hier ein Korrektiv ein und der Richter musste nicht sehenden Auges ein falsches Urteil fällen. Im deutschen Recht sind die zwei Schritte nicht zu erkennen, weil sie in der allgemeingültigen (Aufklärungs-)pflicht des Richters aufgehen. Nun besteht das Korrektiv des zweiten Schrittes nach dem Urteil der mexikanischen Primera Sala vom 18. August 2016 nicht mehr. Somit ist die geforderte richterliche Überprüfung des Wahrheitsgehalts eines Geständnisses nach der neuen deutschen Rechtslage strenger als die Überprüfungserfordernisse bezüglich der Anerkenntniserklärung beim abreviado. (2) Ferner bestehen Unstimmigkeiten bezüglich des Begriffs des Geständnisses und der lateinamerikanischen Anerkenntniserklärung. Gegenüber dem deutschen Geständnis kann man bei der Anerkenntniserklärung nach den mexikanischen Regelungen des abreviado nicht behaupten, dass es sich um ein Beweismittel handelt.450 Sogar bestreiten Meinungen in Mexiko die Eigenschaft der Anerkenntniserklärung als Geständnis, nachdem der mexikanische Geständnisbegriff auch die Anerkennung des anwendbaren materiellen Strafrechts beinhaltet. Im Rahmen des abreviado wollte man verhindern, dass der Angeklagte seine Zustimmung über die in Betracht kommenden Straftatbeständen abgeben darf. Andere lateinamerikanische Länder
448
BVerfGE 133, 168 (Rn. 68, 105). BVerfGE 133, 168 (Rn. 5). 450 Zu diesem und zu den folgenden Aspekten bezüglich abreviado vgl. supra, B. II. 4. b) cc) mit Nachweisen. 449
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bestreiten die Eigenschaft der Anerkenntniserklärung als Geständnis hingegen nicht, wie zum Beispiel Guatemala. Jedenfalls handelt es sich bei der mexikanischen Anerkenntniserklärung um die Anerkennung seitens des Angeklagten von Tatsachen, deren Wahrheitsgehalt zumindest für einen Teil der Meinungen vom Richter ausgiebig vor dem Urteil überprüft wird. Von daher besteht aus deutscher Sicht eine Annäherung bei diesen Anforderungen, d. h. diese Anerkennung von Tatsachen ist einem Geständnis gleichzusetzen. Demgegenüber ist das Geständnis für das deutsche Recht eindeutig ein Beweismittel. Nach dem Verständigungsgesetz „soll“ Bestandteil jeder Verständigung ein Geständnis sein (§ 257c Abs. 2 Satz 2 StPO). Die Vorgabe ist fakultativ, somit könnte eine Verständigung theoretisch auch ohne Geständnis zustande kommen, auch wenn das als wenig plausibel angesehen wird.451 Das Verständigungsgesetz schweigt über die Anforderungen an das Geständnis, aber entgegen der bisherigen Praxis bestimmt die Gesetzesbegründung, dass es derart konkret sein muss, „dass eine Überprüfung möglich ist und eine Übereinstimmung mit der Aktenlage festgestellt werden kann.“ Ein Formalgeständnis, das in der Praxis üblich war, ist danach nicht ausreichend. „Nach der geständigen Einlassung dürfen keine Zweifel an deren Richtigkeit bestehen, nur dann kann von einer weiteren Sachaufklärung abgesehen werden“. Das Gericht darf somit „einem abgesprochenen Geständnis nicht blind vertrauen, sondern muss es auf seine Glaubhaftigkeit prüfen“.452 Als Beweisgrundlage einer Verurteilung wird im deutschen Strafverfahrensrecht teilweise ein qualifiziertes Vollgeständnis erfordert,453 während für andere ein schlankes Geständnis ausreichen soll.454 Die Überprüfung des Geständnisses wird im Rahmen der allgemeinen Aufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO gefordert. Als Beweismittel ist ihre Heranziehung zur Überzeugungsbildung unerlässlich.455 Nun möchte der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts die Befugnisse des Richters bei den Verhandlungsgesprächen etwas mehr einschränken und verlangt in seiner Entscheidung vom 19. März 2013 eine Schärfung der Überprüfung des verständigungsbasierten Geständnisses auf seine Richtigkeit. Demnach müsse der Beweiswert des Geständnisses durch andere im Strengbeweisverfahren erhobene Beweise abgesichert werden und hänge nicht von der Übereinstimmung mit dem Akteninhalt ab. Das wird im Verständigungsurteil gefordert, nachdem es nicht ge451
BeckOK StPO/Eschelbach, § 257c, Rn. 20 mit Nachweisen; Satzger/Ruhs, in: Bockemühl (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts, 8. Teil, 30. Kapitel, Rn. 30. 452 Vgl. BGHSt 50, 40, 49; BT-Drs. 16/12310, 18 und 14; dazu statt aller MüKoStPO/Jahn/ Kudlich, § 257c Rn. 127 mit Nachweisen; Satzger/Ruhs, in: Bockemühl (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts, 8. Teil, 30. Kapitel, Rn. 31. Zur früheren Praxis vgl. jüngst Sickor, Das Geständnis, S. 392 mit Nachweisen. 453 BeckOK StPO/Eschelbach, § 257c, Rn. 21 mit Nachweisen; LR/Stuckenberg, § 257c, Rn. 46; Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, § 257c Rn. 17. 454 Vgl. u. a. MüKoStPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 127 mit Nachweisen. 455 BT-Drucks. 16/12310, 14; LR/Stuckenberg, § 257c, Rn. 47 mit Nachweisen.
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
nügt, „das verständigungsbasierte Geständnis durch einen bloßen Abgleich mit der Aktenlage zu überprüfen (anders noch BGHSt 50, 40, 49), da dies keine hinreichende Grundlage für die erforderliche Überzeugungsbildung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) darstellt …“. Das ausdrückliche Ziel des Gesetzgebers sei also „die Verständigung mit den Grundsätzen der Amtsaufklärung nach § 244 Abs. 2 StPO und der richterlichen Überzeugungsbildung in Einklang zu bringen“.456 In Anbetracht dieser Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts klingt es geradezu paradox, dass die Absprachen ausgerechnet zur Vermeidung der im Strengbeweisverfahren in der Hauptverhandlung durchzuführenden aufwendigen Beweiserhebungen entstanden sind und nun sollen sie als Rettungsanker für die Vereinbarkeit der Verständigungen mit den deutschen Maximen fungieren. Diese Gegenkontrolle des Geständnisses anhand des Strengbeweisverfahrens ist nicht konturiert. Für den Bedarf von zusätzlichen Beweiserhebungen zur Überprüfung der Zuverlässigkeit des verständigungsbasierten Geständnisses bestehen keine Maßstäbe. Orientierungspunkt für diese Bewertung und für die Beurteilung der Verständigung ist die Überzeugung des Gerichts von der Schuld des Angeklagten.457 Die zu erforschende Wahrheit ist damit Sache der Überzeugungsbildung des Gerichts.458 Wegen der fehlenden Maßstäbe und das dem einzelnen Richter überlassene Entscheiden über die Beweiserhebung je nach Einzelfall459 besteht eine Unsicherheit von Fall zu Fall über die konkrete Verschlankung der Beweisaufnahme. Der Versuch einer Auflösung der bestehenden gesetzlichen Widersprüchlichkeit liegt also in den Händen des Richters. Inwieweit das Gericht in Tiefe und Breite von weiteren Beweiserhebungen absieht, wird vom Grad der Glaubhaftigkeit des Geständnisses und von seiner Widerspruchsfreiheit im Verhältnis zu den Angaben der Ermittlungsakte abhängen.460 Der verteidigte Angeklagte wird mit seinem gut ausgefeilten Geständnis formvollendet den Ansprüchen genügen, um eine weitere Beweiserhebung zu vermeiden. In der Praxis wird der Ermittlungsbeamte als Zeuge über die Ermittlungsergebnisse vernommen, was in der Regel keine neuen Erkenntnisse in Vergleich zur Verlesung der Ermittlungsakte liefert, weil meist nur der polizeiliche Ermittlungsbericht kursorisch wiedergegeben wird. Genauso gut könnte man die Ermittlungsakte im Wege des Selbstleseverfahrens in die Hauptverhandlung einführen. Um eine echte Aufklärung des Sachverhaltes durch Beweiserhebungen im Strengbeweisverfahren handelt es sich dabei nicht. Eine eingehende Beweiserhebung zur Verifizierung des Wahrheitsgehalts eines verständigungsbasierten Geständnisses, wie 456
20. 457
BVerfGE 133, 168 (Rn. 71 f.); vgl. dazu BeckOK StPO/Eschelbach, § 257c, Rn. 8, 6.1,
Vgl. dazu etwa Ignor/Wegner, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, § 257c, Rn. 51 ff.; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 127 f. 458 Ignor/Wegner, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, § 257c, Rn. 26. 459 Vgl. KK-Moldenhauer/Wenske, § 257c Rn. 13; KMR/v. Heintschel-Heinegg, StPO, § 257c Rn. 32; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 112; Beulke/Stoffers, JZ 2013, 673. 460 Vgl. MüKoStPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 112.
C. Schlussfolgerungen
351
zum Beispiel die Ladung zentraler Zeugen, die die Tatsachen genuin wahrgenommen haben, gehört auch heute noch nicht zum Alltag der Absprachen im Strafverfahren.
C. Schlussfolgerungen I. Die internationale Tendenz zum adversatorischen Strafverfahren Das neue mexikanische Strafprozessgesetz folgt der Tendenz in Lateinamerika für ein System mit adversatorischen Elementen, das allerdings nicht rein dem common law-Modell nachgebildet ist. Damit festigt sich die heutige internationale Beliebtheit für wesentliche Punkte eines Parteisystems, das nicht in seiner Reinform dem angloamerikanischen Strafverfahren, sondern als sog. Mischform übernommen wurde.461 Das Konzept des Konsenses für verfahrenserledigende Absprachen hat diese Reformströmung unmittelbar aus dem Gedankengut des Parteiverfahrens entnommen. Eine Übernahme adversatorischer Züge erfolgte inzwischen auch in anderen ursprünglich rein nach dem kontinentaleuropäischen Muster gestalteten Strafprozesssysteme Europas, so wie beispielsweise in Italien462 oder in Spanien.463 Auch die internationalen Strafgerichtshöfe arbeiten mit solch gemischten Formen des Strafprozesssystems.464 Dabei ist im Rahmen der lateinamerikanischen Reformen die Tendenz zu verzeichnen, das als „inquisitorisch“ bezeichnetes System abzulehnen. Die neuen Reformströmungen vermeiden sogar eine entsprechende Differenzierung zwischen dem aus der spanischen Inquisition von den lateinamerikanischen Ländern übernommenen alten Verfahren und den neuen kontinentaleuropäischen Formen wie das System des reformierten Strafprozesses des 19. Jahrhunderts465 mit v. a. der Aner-
461 In deutscher Sprache über diese internationalen Mischformen vgl. beispielsweise Eser, in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung; Kirsch, StV 2003, 638. 462 Vgl. zum Beispiel die Art. 190, 496, 498 des italienischen Strafprozessgesetzbuches bezüglich der Beweisführung der Parteien in der Hauptverhandlung mit der Möglichkeit der abschließenden richterlichen Erhebung neuer Beweise (Art. 507 Abs. 1) und der abschließenden Befragung durch den Gerichtsvorsitzender (Art. 506 Abs. 2). 463 Art. 708, 728, 729 Nr. 2 spanischer LECr, nachdem die Parteien das Beweisverfahren führen, aber das Gericht von den Parteien vernachlässigte Beweise erheben kann. 464 Vgl. dazu zum Beispiel Ambos, International Criminal Law Review (ICLR) 3 (2003), 1 mit Literaturnachweisen in Fn. 6; Kirsch, StV 2003, 636 ff.; Pastor, in: Delmas-Marty u. a. (Hrsg.), Les sources du droit international pénal, S. 353 ff.; Eser, Festschrift für Jung, S. 167 ff. 465 Vgl. Nachweise supra, Kapitel 7 B. I. Demgegenüber beschäftigte sich die ursprüngliche argentinische Strafprozessliteratur intensiv mit den Einzelheiten des alten Inquisitionsprozesses und den Erneuerungen des Reformierten Strafprozess vgl. Vélez Mariconde, Derecho procesal penal I, S. 93 ff., 131 ff.; Maier, Derecho Procesal Penal I, § 5 D, E, F, Band II, § 11 A 3 a III.
352
Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
kennung der Subjektqualität des Beschuldigten.466 Wenn aber doch auf die heutige kontinentaleuropäische Strafverfahrensform mit der richterlichen Sachverhaltsaufklärung in der Hauptverhandlung Bezug genommen wird, zeigt sich auch dazu eine negative Haltung bzw. wird sie teilweise als paternalistisch gekennzeichnet.467 Die Einzelheiten ihrer Kautelen und Mechanismen zu Herstellung einer Verfahrensbalance wie zum Beispiel das starke Beweisantragsrecht der Verteidigung in Deutschland oder dass die Verteidigung nicht zur Offenlegung ihrer Beweismittel verpflichtet ist, sind dabei nicht einmal Gegenstand der Erörterung in der Reformdiskussion. Die Kritik bezieht sich auf eine starke Aufgabenkonzentration in der Richterfigur in der Phase der Hauptverhandlung, aber in den Anfangszeiten der Reform betraf sie auch das früher vom Untersuchungsrichter geführte Ermittlungsverfahren. Als bedenklich wird die Zentralisierung in der Rolle des Richters durch die Bestimmung der Beweismittel und des Umfangs der Beweisaufnahme, durch die Verhandlungsführung inkl. der Durchführung der Beweiserhebungen nebst dem Recht zur Erstbefragung, und schließlich durch die Urteilsfällung gesehen. Auch im angelsächsischen Rechtsraum, in dem in der Regel die rechtsvergleichende Erörterung des kontinentaleuropäischen Modells knapp und wenig differenziert erfolgt, verbreitet sich eine abschätzige Betrachtungsweise des „civil law“ bzw. des kontinentaleuropäischen Strafprozesssystems der richterlichen Sachaufklärung als Gegenpart zum „common law“.468 Das zentrale erkenntnistheoretische Defizit im System der Amtsaufklärungspflicht, das durch die tatrichterliche Kenntnis der Ermittlungsakte und die damit verbundenen Vorurteile bei der Informationsverarbeitung ausgelöst wird, ist nicht zu verleugnen. Dies muss aber nicht direkt zu einer Abschaffung der Instruktionsmaxime führen. Eine Revidierung der Verteilung der Prozessrollen und eine Stärkung der Verteidigungsrechte im Ermittlungsverfahren können die Gefahren einer nur einseitigen Tataufklärung reduzieren und den Erkenntnisprozess auf dem Weg zur Wahrheit verbessern.
II. Typische Schwachpunkte und Vorzüge der Beweisverfahrensmodelle 1. Unterschiedliche Beweisverfahrensstrukturen Die Beurteilung der theoretischen Grundlage des Strafprozesses und der Weg zur Wahrheit ist bereits Gegenstand der Ausführungen des 2. Kapitels mit der Fundie466
Zur Entwicklung zusammenfassend zum Beispiel Rieß, Festschrift für Eser, S. 446 ff. Diese Einstellung ist in Lateinamerika verbreitet. Ansonsten vgl. zum Beispiel Weigend, Festschrift für Rissing-van Saan, S. 759. 468 Über eine negative oder überholte Einstellung demgegenüber berichten zum Beispiel Weigend, Festschrift für Rissing-van Saan, S. 758 mit Nachweisen; Langer, in: American Journal of Comparative Law, Vol. 53, S. 840, Fn. 18 (2005). 467
C. Schlussfolgerungen
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rung des kontinentaleuropäischen Verfahrensmodells auf einer externen, materiellrechtlichen Legitimation und des adversatorischen Prozessmodus auf dem Verfahren selbst bzw. auf der Kontradiktion und Verständigung der Parteien mit dem Grundgedanken der Parteiautonomie (party autonomy) und der Waffengleichheit (equality of arms). Neben der Frage nach dem Wahrheitsziel des Strafverfahrens ist inzwischen eine übliche Frage des Strafprozessrechts, welche Beweisverfahrensstrukturen der zuverlässigen Aufklärung des Sachverhalts dienen und damit zu einer besseren Annäherung an die Wahrheit führen können, was Gegenstand dieses 8. Kapitels war. Die Frage betrifft üblicherweise die Dichotomie der Modelle in ihrer theoretischen Dimension, deren Einzelheiten als Grundlage für den Rechtsvergleich mit den konkreten Beweisformen dienen. 2. Das Defizit an Waffengleichheit Neben der in der rechtsvergleichenden Diskussion hervorgehobenen Vor- und Nachteile beider Beweisverfahrensmodelle ist ein grundlegender Unterschied die Methode der Sachverhaltsermittlung, die auf die dadurch zu erreichende Wahrheit gerichtet ist. Einerseits ist im kontinentaleuropäischen Strafverfahren das System auf Vollständigkeit und Objektivität der Sachverhaltserforschung mit dem Zweck der realen Wahrheit ausgerichtet, andererseits ist als Grundlage des adversatorischen Systems die Effizienz des Beweisverfahrens durch das Wetteifern der Parteien aus Eigeninteresse konzipiert, was grundsätzlich die Waffengleichheit bzw. Stellung der Parteien auf Augenhöhe voraussetzt. Der Nachteil des ersten Systems, den Verfahrensbeteiligten keine Hauptrolle im Beweisverfahren einzuräumen, sondern diese mit einem durch die Kenntnis der Ermittlungsakte präperierten Richter zu besetzen, hat als Korrelat die Defizite in der Idee der Waffengleichheit im adversatorischen Strafprozess. Worum geht es bei diesem Defizit? Auch wenn die Parteien formell auf gleicher Ebene gestellt sind und so ursprünglich eine ausgewogene Kontradiktion konzipiert wurde, ist es im heutigen Verhältnis zwischen Staat und Bürger kaum möglich, dass beide Parteien sich tatsächlich auf Augenhöhe begegnen. Der Staat hat seine polizeiliche Überwachungsmacht nach und nach technisch und normativ übermäßig verstärkt, was sich in die Verfolgungs- und Ermittlungskapazität der Staatsanwaltschaft bis in die Beweissammlung für die einzelnen Strafprozesse hinzieht.469 Zugleich besitzt die Staatsanwaltschaft einen Informationsvorsprung.470 Noch mehr: 469 Betont von Schünemann, GA 2008, 314 ff.; Weigend, ZStW 104 (1992) 502; ders., ZStW 113 (2001), 304; ders., Festschrift für Rissing-van Saan S. 763; Rieß, Festschrift für Schäfer, S. 174 f. Besonders akzentuiert für die vor dem Internationalen Gerichtshof zu verhandelnden Fälle Kirsch, StV 2003, 638. Vgl. auch die Debatte über die fehlende Waffengleichheit bei den Fällen vor den Internationalen Strafgerichtshöfe in Ambos, in: Eser/Rabenstein (Hrsg.), Strafjustiz, S. 60 f. 470 BVerfG NStZ 84, 228: der in dem Erfordernis „einer wirksamen und funktionstüchtigen Strafrechtspflege“ liegt; dazu auch Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, Einl Rn. 88.
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
Sie setzt das Strafverfahren einseitig in Gang, ohne dass der Beschuldigte über diese Entscheidung, den Zeitpunkt und weitere Bedingungen mitbestimmen kann. Eine „Aufrüstung“ des Beschuldigten im selben Maße wie die Verfolgungsbehörden und Schaffung von Gleichheit der Rechte ist nicht möglich. Es kann dann nur eine Ausbalancierung der Prozessrollen beansprucht werden.471 Jedenfalls ist der Bezug auf den Begriff der „Waffengleichheit“ nicht der richtige für die deutsche Prozessstruktur mit der inquisitorischen Rolle des Richters und den unterschiedlichen Grundpositionen und Aufgabenzuweisungen an die verschiedenen Prozessbeteiligten.472 Vielmehr spielt das Erfordernis der Kontradiktion und damit der Mitwirkung des Angeklagten und seines Verteidigers eine wesentliche Rolle im Rahmen der Wahrheitsfindung. Besonders bedenklich bei der Übernahme eines rein adversatorischen Systems in Mexiko ist die erfolgte Gewährung einer deutlich überlegenen Machtposition der Strafverfolgungsbehörden. Die Waage tendiert in Richtung einer staatsanwaltschaftlichen Überlegenheit durch die personelle, technische und polizeiliche Ausstattung und durch die Anwendung heimlicher staatlicher Eingriffsmaßnahmen. Angesichts dieser neuen Gegebenheiten in der Strafverfolgung und anders als in der freien Parteibetätigung im adversatorischen Verfahren vermag die Verteilung der Verfahrensrollen in der kontinentaleuropäischen Verfahrensstruktur durch die gerichtliche unparteiische Beweisführung nebst der gesetzlichen Forderung nach Objektivität der Staatsanwaltschaft einen Widerstand gegen die Auslösung einer vollkommenen Schieflage in der Informationsgewinnung im Beweisverfahren anzubieten. Im lateinamerikanischen Strafprozess ist die Absicht zur Eindämmung eines Missverhältnisses der Parteien zumindest durch die gesetzliche Betonung der Objektivitätspflicht des Ministerio Público mit der erforderlichen Sorgfalt (debida diligencia, Art. 129, Abs. 1 CPNN) und der Treuepflicht (deber de lealtad, Art. 128 CPPN) zu erblicken. Demgegenüber überlässt der traditionelle adversatorische Verfahrensmodus des angloamerikanischen Systems den Parteien die freie Regie bei der Beschaffung der Tatsachengrundlage im Beweisverfahren. Es bleiben so für die Verteidigung wenig Möglichkeiten zur Durchsetzung gegenüber der wenig begrenzten und tatsächlich starken Machtposition der Staatsanwaltschaft. Das Gericht verfügt dort außerdem nicht über eine der Ausbalancierung zwischen den Prozessbeteiligten dienenden Verfahrensposition, wie sie ein System mit Amtsaufklärungspflicht bietet, sodass die Parteien im adversatorischen Prozess auf ihre tatsächlichen Kräfte angewiesen sind. Somit erfordert das Verfahren des common law einen aktiven und konstruktiven Einsatz der Strafverteidigung, der spätestens bei hohen Anforderungen nicht immer garantiert werden kann.
471
So für das deutsche Strafprozessrecht zum Beispiel Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, Einl. Rn. 88; Rieß, Festschrift für Schäfer, S. 175; Bohnert, Die Abschlußentscheidung des Staatsanwalts, S. 421 f.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 11 Rn. 7. 472 Vgl. darüber supra, Kapitel 2 A. I. 1. a) dd) mit Nachweisen.
C. Schlussfolgerungen
355
Neben der technischen Unterlegenheit der Verteidigung gegenüber Staatsanwaltschaft und Polizei wird sich dieses Defizit bei durchschnittlichen Fähigkeiten bzw. nur mäßigem Arbeitseinsatz des agierenden Anwalts in der Regel nochmals vergrößern. Das überspitzt sich im Fall einer unzureichenden, nachlässigen oder gar fehlerhaften Tätigkeit bzw. einem Scheitern eines Verteidigers. Dem Verteidiger wird also eine große Verantwortung aufgebürdet, auch wenn verschiedene Ausgleichsmechanismen wie die Beweisausschlussregeln oder die richterliche Kontrolle vorgesehen sind. Besondere Anwaltsleistungen bei der Präsentation der relevanten Sachverhaltsversion und bei der Beweisführung werden sich nur beim Sonderfall einer durchfinanzierten Verteidigung ergeben, und damit hängt die erforderliche Balance zwischen den Prozessrollen letztendlich von den finanziellen Kapazitäten des Angeklagten ab.473 Allerdings verfügt der Angeklagte besonders in den lateinamerikanischen Ländern in der Regel nicht über solche Verteidigungsmöglichkeiten, sodass ein Ungleichgewicht entsteht, das durch die bloße Kontradiktion des Verfahrens nicht repariert werden kann. Neben der materiellen Überlegenheit der Staatsanwaltschaft ist der Blick auf die Passivität des erkennenden Gerichts bei der Sachverhaltsaufklärung im adversatorischen System unvermeidlich. Zwar wird immer wieder betont, dass es sich im angloamerikanischen Strafprozess nicht um einen vollkommen passiven Schiedsrichter handelt,474 weil ihm im Beweisverfahren Korrektur- und Ergänzungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.475 In diesem Sinne hat die mexikanische Reform wie in weiteren lateinamerikanischen Strafprozessgesetzen eine gesetzliche Festlegung der Zusatzbefugnisse des erkennenden Richters bei der Befragung geschaffen. Man kann also die zumindest rudimentären Möglichkeiten des erkennenden Gerichts zur Betätigung am Rand des fremd gelenkten Beweisverfahrens im adversatorischen System positiv würdigen. Dieses Thema beschäftigte die lateinamerikanische Literatur bereits früher, in denen eine adversatorische Hauptverhandlung noch nicht in Frage kam.476 Nun ist aber der Richter im adversatorischen System ohne Kenntnis der Vorverfahrensakte neben der Übermacht der Staatsanwaltschaft und Polizei nicht in der Lage, der Verteidigung eine aktive Unterstützung zu bieten.477
473
Vgl. u. a. Hörnle, ZStW 117 (2005), 833. Als „Klischee“ bezeichnet von Weigend, Festschrift für Rissing-van Saan, S. 760. 475 Vgl. supra, dieses Kapitel 8 A. III. 3 e) aa) mit Nachweisen; ferner supra, Kapitel 2 A. II. 3. 476 Die Debatte über die korrigierenden oder ergänzenden Fragen des erkennenden Richters zieht sich in Lateinamerika auf früheren Zeiten zurück, siehe zum Beispiel bereits Clariá Olmedo, Derecho Procesal, S. 171 f. 477 Kritisch Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 44 Rn. 80. Zu dieser Frage zuletzt Anders, ZStW 129 (2017), 104 der ein „Mischmodell“ aus Amtsermittlung und parteilicher Beweisvorführung vorzieht (S. 90 ff.), bei dem die Staatsanwaltschaft aber in ihrer Stellung als „Wächter des Gesetzes“ bleibt (S. 104). 474
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
Eine allgemeine Beobachterposition des Richters gegenüber den Parteien ist also zu einseitig, weil diese die allein von ihren Interessen gelenkten Sachverhaltsversionen und entsprechende Belastungs- oder Entlastungsbeweise vortragen, während das Gericht sich nicht ein vollständiges Bild des wahren Sachverhalts verschaffen kann. Durch diese Bindung an die Inszenierungen der Parteien bis zum Abschluss des Beweisverfahrens ist anschließend die Beurteilungsgrundlage für die Schuldfrage auf eine Weise eingeschränkt, die im System des deutschen Strafprozesses in Verbindung mit den Anforderungen des materiellen Rechts auf rechtsstaatliche Grenzen stoßen würde. 3. Legalitätsprinzip und Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft Das adversatorische Strafprozesssystem Mexikos hält sich an Grundsätze eines kontinentaleuropäischen Verfahrens wie das Legalitätsprinzip und die Objektivitätspflicht. Mit der verfassungsrechtlichen Verankerung der Verfolgungs- und Anklagepflicht zeigt es, dass es sich noch an Wertungen des materiellen Rechts hält. Eine solch ausdrückliche Erhaltung der Verbindung des Strafprozessrechtes mit dem materiellen Recht, wie im Ausgangspunkt des althergekommenen Strafverfahrenssystems Kontinentaleuropas (vgl. dazu Kapitel 2 bis 4), wäre für die lateinamerikanische Reform in den theoretischen Grundlagen zu wünschen. In diesem Sinne sollte ein Verzicht auf eine weitere bzw. tiefgreifende Strafverfolgung nicht ausschließlich nach prozessualen Zweckmäßigkeitsentscheidungen erfolgen, sondern sich primär nach den gesetzgeberischen Bestimmungen des Strafgesetzbuches richten. Die Beibehaltung des Legalitätsprinzips könnte in der mexikanischen Rechtsordnung gut mit einer außerprozessualen Legitimation des Verfahrens begründet werden, die mit dem bestehenden Rechtssystem in Einklang stünde. Nach der hier vertretenen Perspektive liefert die Lehre der subsidiären Rechtsgüterschutzaufgabe des Strafrechts die Letztbegründung der staatlichen Strafbefugnis. In der materiellen Ausprägung der Strafnormsetzung bieten die Anforderungen des Rechtsgüterschutzprinzips die Legitimation für die einzelnen Straftatbestände des materiellen Strafrechts, das wiederum durch die ultima-ratio-Funktion beschränkt ist.478 Bei der Festlegung des strafbaren Verhaltens interessiert unmittelbar für den Strafprozess das in der Verfassung verankerte materielle Gesetzlichkeitsprinzip (nulla-poenaGrundsatz), wozu das Legalitätsprinzip dessen prozessuales Pendant darstellt. Das Legalitätsprinzip ist also im Rahmen der Verbindung zwischen Prozessrecht und materiellen Recht zu betrachten. Wenn man von der Rechtsgüterschutzfunktion des materiellen Strafrechts ausgeht, ist diese Aufgabe durch den Verzicht auf Strafverfolgung im Bereich des Strafprozessrechtes gefährdet. Das Strafprozesssystem muss also dem Legalitätsprinzip folgen. Der Staat ist verpflichtet, durch den 478 Über das Rechtsgüterschutzprinzip als Letztbegründung des Strafrechtssystems und damit als prägend für den Strafprozess vgl. supra, Kapitel 3 B. IV.; Kapitel 4 A.
C. Schlussfolgerungen
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Strafprozess die Ahndung durch das materielle Strafrecht sicherzustellen, ohne über Verfolgung oder Verzicht auf Verfolgung willkürlich zu entscheiden. Nur in diesem Begründungsrahmen dürfen dann Einschränkungen der Verfolgungspflicht angenommen werden, solange sie nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und ohne Behinderung der Funktion des Strafrechts zum Rechtsgüterschutz erfolgen.479 4. Weitere relevante Aspekte in der Dichotomie a) Nicht von weniger Relevanz als die mangelnde Waffengleichheit und das Anklageermessen der Staatsanwaltschaft ist das im Grundgedanken des adversatorischen angloamerikanischen Systems angelegte plea bargaining, bei dem eine Annäherung an die materielle Wahrheit nicht beansprucht wird. Auch wenn man durch die kontinentaleuropäische Quasi-Übernahme dieser Verfahrenserledigungsform das Streben nach Wahrheit nicht aufgegeben hat, ist die darauf angelegte Reduktion auf das polizeiliche Ermittlungsverfahren problematisch, weil die Hauptverhandlung nur mehr ein theoretisches Konstrukt bleibt. b) Einige weitere Einzelaspekte des adversatorischen Verfahrens sind Gegenstand der Debatte in der Gegenüberstellung der Modelle, wie die Langsamkeit der Beweisvorgänge durch die Mitwirkung des Schwurgerichts.480 Da die adversatorische Hauptverhandlung in Mexiko aber mit Berufsrichtern abläuft, trifft dieser Nachteil nicht zu. Ein weiterer Einwand bezüglich der Verfahrensdauer besteht ferner in ihrer aufwendigen Gestaltung mit der Aufteilung des zu präsentierenden Beweisstoffes in den „prosecution case“ und anschließend den „defence case“, verbunden mit einer ausgedehnten Befragung durch Verhör und Kreuzverhör. Diese betont kontradiktorische Methode kann sich mehr als beim Modell der Sachverhaltsaufklärung durch ein gut vorbereitetes Gericht in die Länge ziehen. Allerdings droht eine solche Überdehnung der Verfahrenslänge eher bei der großen Dimension von komplexen internationalrechtlichen Strafverfahren,481 während die üblichen Straffälle im lateinamerikanischen Raum dadurch nicht besonders belastet sind. c) Neben den Unzulänglichkeiten in der Legitimation des adversatorischen Systems (vgl. Kapitel 2, 3, 5) und der mangelnden Waffengleichheit werden Schwachpunkte des kontinentaleuropäischen Systems in der entsprechenden Debatte über die Dichotomie hervorgehoben. So hat der Parteienwettstreit als Korrelat im kontinentaleuropäischen Verfahren das Problem der richterlichen Aktenkenntnis. Da die Mitwirkungsmöglichkeiten der Verteidigung im heutigen Ermittlungsverfahren für die Herausarbeitung der entlastenden Momente unzureichend sind,482 projiziert 479
So bereits Rieß, NStZ 1981, 6. Damasˇka, StV 1988, 401; Kamisar/LaFave//Isrel/King/Kerr, Modern Criminal Procedure, Chapter 22. 481 Eser, Festschrift für Tiedemann, S. 1463 ff.; Langer, in: American Journal of Comparative Law, Vol. 53, S. 872 ff. (2005); Weigend, Festschrift für Rissing-van Saan, S. 756 f. 482 Fundstellen supra, Fn. 77. 480
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Kap. 8: Kontinentaleuropäische vs. adversatorische Verfahrensstruktur
man zwangsläufig die vom Strafverfolgungsapparat gesammelten und überwiegend belastenden Beweise und das Tatbild in die Hauptverhandlung. Dieser Nachteil verstärkt sich im deutschen Strafprozess durch den Eröffnungsbeschluss nach § 203 StPO, nachdem das auch für die künftige Hauptverhandlung und Urteilspruch zuständige Gericht den hinreichenden Verdacht bei vorläufiger Tatbewertung aufgrund der vorangegangenen Ermittlungen in der Wahrscheinlichkeit der späteren Verurteilung annimmt. Dazu kommt üblicherweise die enge Interaktion zwischen Staatsanwaltschaft und Richter im Verlauf des Strafprozesses, was für eine Fortschreibung der Erkenntnisse aus den Vorverfahrensakten in der Hauptverhandlung prädestiniert. Im Ergebnis ist die verbreitete Feststellung berechtigt, dass der Schwerpunkt des Strafprozesses in das Ermittlungsverfahren vorverlagert wird. Angesichts der schwachen Rechtsposition der Verteidigung in dieser Verfahrensphase, die nicht zur eigentlichen Wahrheitsfindung konzipiert wurde, sondern nur der Sammlung des Verfahrensstoffes dienen soll, müssen die Rechte der Verteidigung im Ermittlungsverfahren entsprechend gestärkt werden.
Kapitel 9
Zusammenfassung und Ausblick A. Resümee Als Resümee des Blicks auf die globale Entwicklung der Hauptverhandlung im Strafverfahren lässt sich ernüchtert konstatieren, dass die Uhr des hauptverhandlungszentrierten Prozessmodells abgelaufen ist. Von diesem Modell, das als Ausdruck des liberalen Rechtsstaates entstanden war und gelten muss, ist heute vieles bereits verloren gegangen, der Rest im Abbau begriffen. Das Strafverfahren bildet sich wieder zurück in Richtung auf die alte Machtverteilung im Inquisitionsprozess. Das ist nicht nur eine bloße Floskel, um jegliche Kritik am geltenden Prozessrecht mit der am Inquisitionsprozess gleichzusetzen. Vielmehr finden sich erstaunliche Parallelen: So wie die Folter im alten Inquisitionsverfahren zur Geständniserzwingung verwendet wurde, erweist sich das heutige Abspracheverfahren lediglich als eine humanere Prozessform, die aber mit der Folter im Inquisitionsprozess darin übereinstimmt, dass das Geständnis des Angeklagten mithilfe der Drohung mit einer überschweren Strafe oder dem Versprechen eines unangemessen großen Strafrabattes erzwungen werden soll. Mit der Positionierung des Geständnisses als regina probationum haben die Reformen der letzten Jahrzehnte den Prozess also wieder dorthin zurückgeführt, wo er vor 200 Jahren gestanden hat.
Kapitel 1: Die zentrale Bedeutung des durch Folter abgenötigten Geständnisses im Inquisitionsprozess 1. Für die Überprüfung der These einer weltweit zu registrierenden Rückkehr zum Inquisitionsprozess lohnt sich ein Blick auf den davor bestehenden Zustand schon allein deshalb, um die Entwicklung und die Züge des alten Inquisitionsverfahrens, auf die es in dem hiesigen Gesamtrahmen besonders ankommt, nach heutiger Sicht beurteilen zu können. Das Augenmerk richtet sich auf den langen Weg bis zur Etablierung der Hauptverhandlung als Entscheidungszentrum des Strafverfahrens in der RStPO seit der Entstehung des Inquisitionsprozesses, auf die Umstellung des Beweisrechts und damit auf die zentrale Bedeutung des durch Folter abgenötigten Geständnisses im Inquisitionsprozess. 2. Traditionellerweise werden das Offizialprinzip, das Untersuchungsprinzip und die materielle Wahrheit als die strukturbildenden Prinzipien des Inquisitionspro-
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Kap. 9: Zusammenfassung und Ausblick
zesses betont. Die heutige historische Forschung hebt die aus dem kanonischen Recht vom Inquisitionsprozess übernommene Rationalisierung des Beweisrechts als Fortschritt im Verfahrensrecht hervor. Dieser Deutungsrahmen sieht den Inquisitionsprozess als erforderliche Entwicklung des Strafverfahrens, die vom Kirchenrecht in das weltliche Recht einsickerte und die Erforschung der materiellen Wahrheit zum Prozessziel erklärte. Die Entstehung des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses wird ferner von der Ketzerverfolgung und der Anwendung von Folter abgegrenzt, weil die Anwendung von Folter erst später aufkam. Insofern wird in der modernen rechtshistorischen Literatur vor einer vorschnellen Verteufelung des gemeinrechtlichen Strafprozesses gewarnt. Als positive Entwicklung wird dabei die Ablösung der sog. „irrationalen“ Beweise bzw. Prozesstechniken des altgermanischen Prozessrechts durch die „rationalen“, empirisch verifizierbaren Mittel angesehen. Nachdem Gottesurteile von Innozenz III. durch das Verbot der Beteiligung von Priestern im Jahr 1215 praktisch undurchführbar gemacht worden waren, und zusätzlich der Zweikampf allmählich wegfiel, entstand ein Vakuum hinsichtlich der prozessualen Beweismöglichkeiten. Als funktionales Äquivalent dienten die „rationalen“ Beweismittel des kanonischen Rechts bzw. nun des inquisitorischen Prozessmodells: das Geständnis und der Zeugenbeweis. Die disziplinarrechtliche inquisitio im kirchlichen Bereich hatte bereits gezeigt, dass damit gegen hohe Geistliche wegen Ämterkaufs und Bruch des Zölibates erfolgreich vorgegangen werden konnte. 3. Diese heute in der Rechtsgeschichte vorherrschende Ansicht darf jedoch in der aktuellen Strafprozessreformdebatte nicht so verstanden werden, als ob der Inquisitionsprozess quasi reingewaschen werden könnte bei einer gleichzeitig völligen Zurückdrängung des Gesichtspunkts der Geständniserlangung und der dazu angewendeten Folter. Dabei hilft auch der Hinweis wenig, dass die Folter als Ermittlungsmethode offenbar erst geraume Zeit nach der Einführung der neuen Prozessform praktiziert wurde. In der Konzeption des Inquisitionsprozesses ist nämlich von vornherein ein „Webfehler“ enthalten gewesen, der die Ausrichtung des Verfahrens auf die materielle Wahrheit als Prozessziel verhinderte. Die Verurteilung des Angeklagten beruhte in den weitaus meisten Fällen auf einem wie auch immer zustande gekommenen Geständnis. Die Folter ist dem Inquisitionsprozess also nicht als ein fremdes Element aufgepfropft worden, sondern war in seiner Grundlage bereits angelegt. Die verfahrensbeherrschende Stellung des Geständnisses im Inquisitionsprozess ist auf mehrere Gründe zurückzuführen. Erstens übernahm der Inquisitionsprozess die Rationalisierung der Beweise aus dem kanonischen Recht, aber damit auch die zentrale Bedeutung der Institution „Beichte“. Dass das Geständnis die regina probationum blieb, mag also einem theologischen Einfluss geschuldet gewesen sein. Zweitens war das Beweisrecht im Inquisitionsprozess wie auch im kanonischen Recht im Kern von den Forderungen nach vollem Beweis geprägt, dabei aber an gesetzliche Beweisregeln gebunden, sodass es nur beim Beweis durch zwei Au-
A. Resümee
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genzeugen oder bei Vorliegen eines Geständnisses zu einer Verurteilung kommen durfte und sogar musste. Bezweckt waren damit der Ausschluss jeder richterlichen Willkür und der Schutz des Angeklagten, aber weil die damaligen kriminalistischen Möglichkeiten davon überfordert waren, war die öffentliche Gewalt zwecks Effizienz der Strafrechtsordnung zur Entwicklung von Mechanismen genötigt, um im Fall eines Beweismangels die Freilassung des Angeklagten zu vermeiden. Zwei zuverlässige Zeugen oder ein freies Geständnis waren in den meisten Fällen kaum zu gewinnen. Es verblieb damit eine entscheidende Lücke zur Erreichung des Vollbeweises, was zur Erzwingung des erforderlichen Geständnisses durch die Folter führte. Die von den gesetzlichen Beweisregeln eingeführten Beschränkungen erwiesen sich aber auch nach Hinzunahme der peinlichen Befragung zur Erreichung der materiellen Wahrheit als hinderlich bzw. bei der Folter als untauglich. Die Motivation des Tatverdächtigen für seine Geständnisbereitschaft war auf die angewendete Gewalt zurückzuführen. Zwangsmaßnahmen und die unterlegene Subjektposition des Angeklagten beeinträchtigten die Glaubwürdigkeit des Geständnisses. Sie führten zu einer falschen Selbstbeschuldigung, je nachdem, wieviel Widerstand der Beschuldigte der Folter und den Mitteln einer raffinierten Inquisitionstechnik entgegensetzen konnte. Die Erforschung der Wahrheit war damit eher gefährdet denn gewährleistet. Die Strömung änderte sich mit der Kritik an die Folter, die schon vor der Aufklärung bestand und sich nicht nur auf das Argument der Verletzung der Menschenwürde stütze, sondern insbesondere wurde ihre Untauglichkeit für die Erforschung der materiellen Wahrheit betont. Die spätere Entwicklung zeigt aber, dass die formelle Abschaffung der Folter den Rückgriff auf analoge Mechanismen zur Erzwingung eines Schuldbekenntnisses nicht verhinderte, wie die Anwendung sog. Ungehorsams- und Lügenstrafen belegt. 4. Im Vergleich von heute und damals scheint der entscheidende Aspekt das Streben der Untersuchungsbehörden nach Erlangung eines Geständnisses zu liegen, wozu im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess auf die Folter und heute auf eine vorgebliche Strafmilderung im Abspracheverfahren zurückgegriffen wird. Die Fortschritte des Inquisitionsprozesses gegenüber dem germanischen Akkusationsverfahren seien aber gerade durch die Abnötigung des Geständnisses wegen dessen mangelnden Eignung zur Erreichung der materiellen Wahrheit wieder neutralisiert worden. 5. Der Weg vom gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess bis zum heutigen Strafverfahren mit Urteilsabsprachen führte über die Errungenschaften des liberalen Strafverfahrens, das die Reform im 19. Jahrhundert in Europa brachte. In der Hauptsache bestand die Reform in der Einführung der Hauptverhandlung als dem eigentlichen Entscheidungszentrum. Neben dieser grundlegenden Strukturveränderung im Vergleich zum gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahren blieb es nach der Reform beim Festhalten an dem
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Kap. 9: Zusammenfassung und Ausblick
Ziel der Ermittlung der materiellen Wahrheit. Allerdings wurden die verfahrensrechtlichen Unzulänglichkeiten der alten Verfahrensform beseitigt, die sich als untauglich zur Erreichung dieses Ziels erwiesen hatten. Eine unmittelbar-persönliche Kenntnisnahme bzw. Inaugenscheinnahme der Beweismittel durch das erkennende Gericht in der Hauptverhandlung sollte nun die optimale Wahrheitsfindung garantieren. Zugleich wurde eine aktive Mitwirkungsmöglichkeit des Angeklagten an der Beweisaufnahme mit eigenen Verteidigungsrechten in der Hauptverhandlung sichergestellt. Auch die Rechte des Beschuldigten beim Verhör, das Verbot der Ausübung physischen bzw. psychischen Zwangs, zugleich die Einstufung der Vernehmung als nicht nur auf ein Geständnis, sondern auch auf Beachtung von Alternativhypothesen im Beweisverfahren abzielend, können mit Fug und Recht als Errungenschaften der Reformbewegung betrachtet werden.
Kapitel 2: Wahrheit und Verfahren 1. Das Schuldprinzip als Ausgangspunkt Der Schuldgrundsatz bildet den Ausgangspunkt dafür, dass die Erforschung der materiellen Wahrheit im deutschen Strafprozess als das verfassungsrechtlich beherrschende Prinzip des Strafverfahrens gilt. Ohne die Ermittlung des wahren Sachverhalts kann das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden. 2. Forderungen des materiellen Strafrechts an den Strafprozess Bei der strafprozessualen Sachverhaltsermittlung geht es jedoch nicht um die Suche nach einer umfassenden historischen Wahrheit. Die Relevanzen ergeben sich aus den Vorgaben des materiellen Strafrechts bzw. den materiellrechtlichen Straftatbeständen, sodass nur ein Wirklichkeitsausschnitt im Sinne der Wahrheit im Strafprozess erforscht wird. Somit bestimmt das materielle Strafrecht diejenigen relevanten Realitätsaspekte, die im Prozess nachgewiesen werden müssen. Im Verfahren müssen also die Tatbegehung im Sinne der Tatbestandsmerkmale und die Tatschuld festgestellt werden. Die Forderung des materiellen Strafrechts an den Strafprozess richtet sich außerdem darauf, dass die Ausgestaltung des Verfahrens so gut wie möglich an einer Annäherung an die materielle Wahrheit ausgerichtet werden soll. Damit ist es dem Strafverfahren aufgegeben, möglichst nahe an eine objektive Wirklichkeit heranzukommen.
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3. Wahrheit als Korrespondenz Zur Erfüllung dieser Erfordernisse des materiellen Strafrechts eignet sich aus dem breiten Angebot der Wahrheitsdiskussion am besten die Korrespondenztheorie im Sinne der Übereinstimmung der gedanklichen Vorstellung mit der Wirklichkeit. Sie bietet die passende philosophische Grundlage: Wahrheit bezieht sich auf einen bestehenden Sachverhalt, der losgekoppelt vom Strafprozess als Gegenstand des Erkenntnisses im Beweisverfahren existiert. Die Aufgabe des Gerichts besteht nun darin, sich bei der Tatsachenermittlung die Erkenntnis von einem subjektunabhängigen, realen Geschehen zu verschaffen, die mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Dabei ist diese Aufgabe zugunsten einer „bestmöglichen Wahrheitserforschung“ zu erfüllen. In dem hier vor allem interessierenden Zusammenhang ist wichtig, dass der Beschuldigte über den Anspruch auf Wahrheit nicht disponieren kann, was auf dem korrespondenztheoretischen Begriff der Wahrheit beruht. Zur Spezifizierung der Korrespondenztheorie und zu ihrer Anpassung an das Strafverfahren als gesellschaftlichen Vorgang sind am besten die Alltagstheorien und mit ihnen die sozial „vorgeformte“ Wirklichkeit heranzuziehen. Welche Anforderungen an die strafprozessuale Sachverhaltsermittlung zu stellen sind, hängt von vielfältigen Aspekten ab. Wahrheit im Strafprozess hat ein bestimmtes Publikum als Adressaten, was wiederum bestimmte Erwartungen an den Wahrheitsgehalt eines Strafurteils entstehen lässt. Gewiss erwarten die Prozessbeteiligten, die Allgemeinheit und überhaupt der Umgang mit realen sozialen Institutionen den Realitätsbezug und das Alltagsverständnis in Zusammenhang mit der Zurechnung der schuldhaften Begehung einer Tat im Strafverfahren. Zur gesellschaftlichen Akzeptanz der richterlichen Entscheidungen und des gesamten Strafsystems erweist sich der Bezug zur Wirklichkeit bei der Sachverhaltsaufklärung als unerlässlich. 4. Das System der richterlichen Sachverhaltsaufklärung Zur Erreichung der erwünschten Korrespondenz eignet sich am besten die Methode der richterlichen umfassenden Sachverhaltsaufklärung mittels aller zulässigen Erkenntnismittel mit dem Ziel der Erforschung der materiellen Wahrheit – bei Wahrung empirischer und normativer Grenzen. Der deutsche Gesetzgeber hat an der inquisitorischen Struktur des Verfahrens, mit der Methode der amtlichen Beweiserhebung, lange Zeit nicht grundlegend gerüttelt. Korrespondenztheoretisch ist dabei die Vollständigkeit der Beweiserhebung fundamental. Es sind auch solche Tatsachen vom Richter im deutschen Strafprozess zu überprüfen, die vom Angeklagten nicht bestritten werden. Darüber hinaus ist das Gericht nicht an Tatsachenbehauptungen in einem Geständnis gebunden, sondern hat diese vielmehr ebenfalls zu überprüfen. Andererseits besteht ein adversatorisches Element in Form des Beweisantragsrechts, das sich allerdings nicht gegen das
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Kap. 9: Zusammenfassung und Ausblick
Prinzip der materiellen Wahrheitsfindung, sondern zu seinen Gunsten auswirkt. Im Übrigen ist das Beweisantragsrecht der Verteidigung nicht weniger umfassend als das Korrelat im adversatorischen System. Stark ausgeprägt ist auch das Fragerecht der Anklage und der Verteidigung im Dienst der Wahrheitserforschung. Bei einer auf der Amtsermittlungspflicht beruhenden Hauptverhandlung liegt eine Gefahr darin, dass die richterliche Auswahl der Beweiserhebungen und die Art der Beweisführung durch die Kenntnis der Vorverfahrensakte und damit durch die Anklagehypothese stark beeinflusst ist. Die Projektion der vom Strafverfolgungsapparat gesammelten, überwiegend belastenden Beweise rund um das vermeintliche Tatbild in die Hauptverhandlung hinein und hindurch ist dadurch vorgezeichnet. Dieser Nachteil verstärkt sich im deutschen Strafprozess durch den Eröffnungsbeschluss, demzufolge das auch für die Hauptverhandlung zuständige Gericht die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung bei vorläufiger Tatbewertung aus der Akte heraus annimmt. Die Fortschreibung bzw. genauer gesagt Wiederholung der Erkenntnisse aus der Ermittlungsakte in der Hauptverhandlung verstärkt sich darüber hinaus durch die üblicherweise enge Interaktion zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht im Verlauf des Strafprozesses. Dies muss aber nicht direkt zu einer Abschaffung der Instruktionsmaxime führen. Zur Verringerung der unleugbaren Gefahren einer nur einseitigen Tataufklärung durch die richterliche Kenntnis der Ermittlungsakte und zur Verbesserung des Erkenntnisprozesses auf dem Weg zur Wahrheit gehören aber auch Bemühungen zu einer Revidierung der Verteilung der Prozessrollen und eine kritische Betrachtung des heutigen Aus- bzw. Abbaus der Verteidigungsrechte. 5. Das adversatorische System a) Fehlende Vollständigkeit der Beweisaufnahme Die Nachteile des Systems der richterlichen („inquisitorischen“) Aufklärung haben als Pendant die Defizite im adversatorischen Strafprozess. Das erste Manko liegt dort im fehlenden Anspruch auf Vollständigkeit der Beweisaufnahme. Werden einige Zeugen von den Parteien nicht geladen, oder wird der Bezug auf die Schuldunfähigkeit aus strategischen Gründen von beide Parteien vermieden, sind Wahrheitsdesiderate im Beweisverfahren unvermeidbar. Ferner kann durch Beweisvereinbarungen der Parteien eine Lückenhaftigkeit bei der Informationsgewinnung entstehen. Auch wenn die Möglichkeit für den Berufsrichter zu Ergänzungen bzw. Korrekturen bei den Beweiserhebungen im adversatorischen System nicht ausgeschlossen ist, wird in der Praxis des angloamerikanischen Parteiprozesses Zurückhaltung und Umsichtigkeit bei der Beweisaufnahme verlangt. Seine Neutralität beim von den Parteien zu gestaltenden Beweisverfahren soll durch ein „descending into
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the arena“ nicht verlassen werden. Damit konzentrieren sich die richterlichen Aufgaben in der Regel auf die Kontrolle der Zulässigkeit der Beweismittel. Abgesehen von gewissen richterlichen Korrekturen in Mischstrukturen moderner Parteiprozesse bleibt die Entscheidungsgrundlage für das Urteil grundsätzlich auf die Geschehensversionen der Parteien und auf die von ihnen inszenierten Beweiserhebungen bis zum Abschluss des Beweisverfahrens beschränkt. Der Vorwurf des Wettkampf-Charakters des Strafverfahrens, demzufolge es den Parteien um den Sieg und nicht um die Wahrheit gehe, ist in diesem Zusammenhang sicherlich gerechtfertigt. b) Die unerreichbare „Waffengleichheit“ Die zweite Schwäche des adversatorischen Systems besteht in der erwarteten, aber faktisch unerreichbaren Waffengleichheit. Auch wenn eine Gleichrangigkeit der Verfahrensbeteiligten Voraussetzung für eine ausgewogene Kontradiktion in dieser Verfahrensform ist, scheitert sie daran, dass beide Seiten nicht über dieselben technischen und prozessualen Möglichkeiten verfügen. Die sukzessive Verstärkung der polizeilichen Überwachungsmacht zieht sich in die Verfolgungs- und Ermittlungskapazität der Staatsanwaltschaft bis hin in die Beweissammlung im Prozess. In der Konsequenz erfordert das Parteiensystem einen aktiven und konstruktiven Einsatz der Strafverteidigung, die dadurch eine erhöhte Verantwortung trägt. Anstatt einer nur abwehrrechtlich verstandenen Waffengleichheit des adversatorischen Parteisystems hat die richterzentrierte Sachaufklärung das Potenzial, sogar eine stärkere Position für den Beschuldigten anzubieten. Dies setzt allerdings die optimale Kontradiktion und Einbindung des Angeklagten bei der Ermittlung der Wahrheit als Bestandteil des Verfahrens voraus. Das kann nur gelingen, wenn man der starken Strafverfolgungsmacht bei Wahrung der richterlichen Aufklärung einen Ausbau der Verteidigungsrechte entgegensetzt. Diese Kompensation ist einem Wechsel zum adversatorischen Modell vorzuziehen, in dem der Verteidigung eine erhöhte Verantwortung aufgebürdet wird. Wie die Reformen in Lateinamerika mit den Nachteilen der Einführung eines adversatorischen Systems umgegangen sind, ist Gegenstand der Erörterung in Kapitel 8. 6. Tatrichterliche Beweiswürdigung Nach der Reform im 19. Jahrhundert in Deutschland wurden die Prinzipien der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit mit der inneren Überzeugungsbildung verknüpft. Anders liegt die Beweislehre des Common Law, bei der eine bestimmte Logik des Ausschlusses und der Erheblichkeit der Beweise ausschlaggebend ist. Interessant sind dabei die Besonderheiten im adversatorischen lateinamerikanischen System
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Kap. 9: Zusammenfassung und Ausblick
nach der Reform. Diesbezüglich sei auf die Zusammenfassung des Kapitels 8 verwiesen.
Kapitel 3: Verfahrensrecht und materielles Recht 1. Das Gebot der umfassenden Sachverhaltsklärung harmonierte im deutschen Strafprozessrecht lange Zeit mit der Auffassung, dass das Strafverfahren dem materiellen Recht „dient“. Die Aufbrechung dieser einseitigen Betrachtung des Strafprozessrechts als untergeordneter Rechtsbereich erfolgte durch die sukzessive Betonung der Eigenständigkeit des Strafprozessrechts und seiner Rückkoppelung auf das materielle Strafrecht. 2. Inzwischen oszilliert die (herrschende) Konzeption zwischen der Theorie einer ausgewogenen Wechselwirkung zwischen materiellem Recht und Verfahrensrecht und der Autonomie des Verfahrens auf der Basis prozeduraler Theorien. Unter ihnen ist die Diskurstheorie ambitionierter, sofern sie den Wahrheitsbezug nicht dementiert. Gegen eine diskurstheoretische Fundierung des Strafverfahrens und der Absprachen schlagen die Einwände der Zirkularität und Inhaltsleere und des interessenorientierten Handelns, zugleich der Nichterfüllung der Bedingungen Herrschaftsfreiheit und Zwanglosigkeit zu Buche. Jedenfalls eignet sich eine Revision des Wahrheitsbegriffs beim späten Habermas dazu, am inquisitorischen Modell festzuhalten. Was eine rein innerprozessuale Orientierung und sogar Legitimierung des Strafverfahrens betrifft, leidet sie an dem fehlenden verfahrensexternen Rahmen für die Entscheidung zu Gunsten einer bestimmten Prozessstruktur. Ein hauptsächlich auf der Basis von Kontradiktion und Verständigung der Beteiligten gestaltetes Beweisverfahren gewährt den Prozessbeteiligten eine zu große Definitionsmacht, deren Geeignetheit für eine legitime Verurteilung und Bestrafung zweifelhaft ist. 3. Bei aller Ablehnung einer nur dienenden Funktion des Verfahrens bleibt die bedeutende Rolle des materiellen Strafrechts für das Verfahren festzuhalten. Als verfahrensexterner Rahmen beeinflusst es die Ausrichtung des Verfahrens und schränkt deren mögliche Ergebnisse ein. Ausgehend vom Schuldprinzip richtet es das Verfahren auf die Ermittlung der Wahrheit aus.
Kapitel 4: Straftheorien und Schuldprinzip als Ausgangspunkt der Wechselbeziehung 1. Androhungsgeneralprävention und Schuldprinzip Auch wenn die Bedeutung der Straftheorie für die Verfahrensstruktur nicht überbewertet werden soll, sind inhaltliche Maßgaben aus Zweck und Funktion der
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Strafe zu gewinnen. Eine teleologische, auf die gesellschaftlichen Folgen bedachte Rechtfertigung des staatlichen Rückgriffs auf das Strafrechtssystem und die Strafe wird von der auf den Rechtsgüterschutz bezogenen Theorie der Androhungsgeneralprävention ermöglicht. Die Strafandrohung setzt wiederum die Schuld des Betroffenen voraus. Die Verbindung mit dem Schuldprinzip ergibt sich aus dem Steuerungsmechanismus der Strafnormen mit ihrer Motivationswirkung. 2. Strafprozessuale Konsequenzen Die Perspektive der Androhungsgeneralprävention im Zusammenhang mit dem Schuldprinzip ermöglicht eine unmittelbare Ableitung des strafprozessualen Grundsatzes der Erforschung der materiellen Wahrheit. Im Einklang mit der h. M. ist somit das Gebot der materiellen Wahrheit aus dem Schuldprinzip abzuleiten. 3. Materielle Wahrheit und Gesetzlichkeitsprinzip Die gesetzlich präzise Fixierung der Strafbarkeit vor der Tatbegehung (Gebot der Gesetzesbestimmtheit) ist einerseits Voraussetzung für die Androhungsgeneralprävention, andererseits steht sie in einem engen Verhältnis mit dem Schuldprinzip, weil sie ein tatbestandsbezogenes Unrechtsbewusstsein zur Tatzeit ermöglicht. Dies betrifft auch den Nachweis der Tat im Prozess. Die vom Gesetzlichkeitsprinzip aufgestellte Grenze ergibt nur Sinn, wenn sich die Gesetzesanwendung auf einen konkret verwirklichten Sachverhalt bezieht, also nicht auf einen verhandelten bzw. kommunizierten. Die Gesetzesbestimmtheit findet so ihr strafprozessuales Korrelat in der materiellen Wahrheit.
Kapitel 5: Begründungen in Lateinamerika für die Ausgestaltung des adversatorischen Strafprozesses 1. Innerprozessuale Orientierung der Begründungen Den Ausgangspunkt für die Darstellung und Erläuterung der Reform des Strafverfahrens in Lateinamerika bildet die dort mittlerweile überwiegende Auffassung, das adversatorische Modell sei dem klassischen kontinentaleuropäischen vorzuziehen. Aber die dafür vorgebrachten Prinzipien der Unbefangenheit oder Unparteilichkeit des Richters, der Kontradiktion sowie das ultima-ratio-Prinzip genügen nicht, um die Defizite dieses Verfahrensmodells wettzumachen. Bei den neuen Reformströmungen handelt es sich teilweise um innerprozessuale Erklärungen für die Auswahl der Verfahrensform. Sie konzentrieren sich auf das Zusammenspiel der Verfahrensrollen und der Verfahrensregeln, ohne auf materiellrechtliche Hintergründe Bezug zu nehmen. In der deutschen Literatur finden sich Parallelen, die eine
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Kap. 9: Zusammenfassung und Ausblick
Unvereinbarkeit des Untersuchungsgrundsatzes mit der Stellung des Richters als unbeteiligter Dritter im Sinne des Art. 92 GG sehen. 2. Erwiderung auf das Argument der fehlenden Unparteilichkeit des Richters Die lateinamerikanische Literatur scheint auf den ersten Blick verteidigungsfreundlich zu sein, indem sie das kontinentaleuropäische System mit dem Einwand der Parteilichkeit des Richters ablehnt, die Unparteilichkeit beim adversatorischen Modell hervorhebt und dabei die Parteienherrschaft über das Beweisverfahren bevorzugt. Allerdings muss eine adversatorische Rollenverteilung im Strafprozess zu einer unterlegenen Stellung der Verteidigung führen, vor allem aufgrund der Defizite bei der erwarteten „Waffengleichheit“, die als Grundidee des Parteisystems dient. Dazu ergibt sich ein Parodoxon im System Mexikos: Traut man dem Richter nicht zu, objektiv zu ermitteln (weil man ihm vorwirft, der Anklagehypothese zu folgen), dann kann man auch der Staatsanwaltschaft eine objektive Sachverhaltserforschung nicht zutrauen. Das mexikanische Strafprozessrecht besteht aber auf einer Objektivität der Staatsanwaltschaft, anders als die Extremvariante des angloamerikanischen Strafverfahrens, bei der die Anklage nur einseitig ermittelt. 3. Erwiderung gegen ein Wahrheitsgebot nur bei Verurteilungen Nach der Wahrheit im Strafprozess nur in belastender Absicht zu suchen, d. h. für eine Verurteilung, ist eine Sicht des Strafprozesses, die einige Punkte im Hintergrund der Rechtfertigung von richterlichen Entscheidungen außer Acht lässt. Die materielle Wahrheit bzw. die umfassende Klärung des Sachverhalts ist aus dem Schuldprinzip abzuleiten, mithin ist der Bezug des Prozesses zum materiellen Recht zu berücksichtigen. Andererseits erwarten die Bürger aufgrund des Gewaltmonopols, dass die Wahrheit im Strafprozess ermittelt wird und dass Strafurteile, sei es bei Verurteilung oder Freispruch, einen Wahrheitsanspruch erheben. 4. Erwiderung auf die Einbeziehung des ultima-ratio-Prinzips zur Bevorzugung des adversatorischen Systems Die von der lateinamerikanischen Reformströmung aus dem ultima-ratio-Prinzip abgeleitete adversatorische Struktur des Strafverfahrens, das auf eine Konfliktlösung und auf die Vermeidung bzw. Minimierung einer Bestrafung ausgerichtet sein soll, kann man berechtigerweise als eine rein prozessual begründete Maßstabsetzung für die Gerechtigkeit der richterlichen Entscheidung einstufen. Zugleich entfernt sich diese Auffassung vom herkömmlichen Verständnis des ultima-ratio-Prinzips als materiellrechtliches Kriterium, das der Beschränkung des Einsatzes des Strafrechts auf unerträgliche Verhaltensweisen bzw. auf besonders gravierende Eingriffe für den Bürger dienen soll.
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Kapitel 6: Kontinentaleuropäische Wurzeln der lateinamerikanischen Reform 1. Bedeutung der Entwicklung Die Hinwendung der lateinamerikanischen Diskussion zum US-amerikanischen Modell einer adversatorischen Fassade ist vor der Realität des plea bargaining umso überraschender, als die lateinamerikanische Verfahrensreform zunächst sehr starke kontinentaleuropäische Wurzeln besaß. Bevor die Tendenzen zur Herabstufung bzw. faktischen Abschaffung der (inquisitorischen) Hauptverhandlung in Lateinamerika in den letzten gut zwei Jahrzehnten ihre Kraft entfalteten, fand in Argentinien eine grundlegende Beschäftigung des Schrifttums und der Gesetzgebung mit der Einführung der mündlichen, unmittelbaren und öffentlichen Hauptverhandlung als Entscheidungszentrum des Verfahrens und ihrer Eignung für die Erforschung der materiellen Wahrheit im Rahmen eines Systems der richterzentrierten Sachaufklärung statt. Wenn man auf den Ursprung des Strafverfahrens in Lateinamerika zurückblickt, sind kontinentaleuropäische Ursprünge und die Übernahme der Grundidee zu erkennen, dass die Verhängung einer Strafe nur in Folge der im Strafprozess nachgewiesenen Täterschuld passieren kann. Dieses ursprünglich durch spanische Einflüsse eingeführte Konzept eines Strafverfahrens mit staatlichem Strafverfolgungsanspruch war inquisitorisch. 2. Vom Inquisitionsprozess zunächst zur kontinentaleuropäischen Verfahrensform a) Das spanische inquisitorische Strafverfahren kam in den lateinamerikanischen Kolonien nach deren Eroberung zum Einsatz, und zwar mit einer ähnlichen Struktur und vergleichbaren Eigenschaften wie der gemeinrechtliche inquisitorische Prozess in Europa. Die Mehrheit der lateinamerikanischen Länder behielt den ursprünglichen Inquisitionsprozess mit einigen Änderungen bis in die 90er Jahren des 20. Jahrhunderts bei. b) Vorreiter für die Gesamtreform des Strafverfahrens und für die Abschaffung des Inquisitionsverfahrens in Lateinamerika war das Strafprozessgesetzbuch der argentinischen Provinz Córdoba von 1939, das die napoleonische Gesetzgebung nach der französischen Revolution und auch die italienische Strafprozessordnung von 1913 als Quelle hatte. In Córdoba herrschte eine vertiefte Kenntnis über die modernen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, sodass eine mündliche, unmittelbare und öffentliche Hauptverhandlung eingeführt und am Prinzip der materiellen Wahrheit festgehalten wurde. Das Gesetzbuch war mit diesen Schwerpunkten Grundlage für die ersten Reformimpulse in Lateinamerika: Das Musterstrafprozessgesetz für Iberoamerika von 1978 und 1988 und für das frühere Strafprozessgesetz von Costa Rica aus dem Jahre 1973, die als „sistema mixto moderno“ mit der
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Einteilung des Strafverfahrens in zwei Phasen Ausgangspunkt für andere lateinamerikanische Strafprozessgesetze waren. Nahezu alle argentinischen Provinzen sorgten für die Abschaffung des alten Inquisitionsprozesses und verabschiedeten nach und nach Strafprozessgesetze zunächst nach dem cordobesischen Muster (der Erlass der Strafprozessgesetze ist eine Angelegenheit jedes Einzelstaates). Schließlich wurde auch für den argentinischen Bund ein reformiertes Strafverfahren im Jahre 1992 nach dem Modell von Córdoba von 1939 etabliert, als man sich für den „Entwurf Levene“ aus dem Jahr 1975 entschied. Diese Verfahrensstruktur ist, mit einigen Veränderungen, bis heute noch eine zeitlang maßgeblich für das Bundesstrafprozessgesetz. Damit blieb man in Argentinien als Entstehungsort aller lateinamerikanischen Reformen beim Bundesstrafprozess den kontinentaleuropäischen Maßstäben treu. Eine Parallele zur deutschen Hauptverhandlung kann man dabei nicht ziehen, weil das Verfahren nach dem „Entwurf Levene“ viel ältere Strukturen aufweist. Darüber hinaus und vielleicht wegen der schlechten Erfahrung in Argentinien wird eine Hauptverhandlung mit richterlicher Beweisführung kritisch gesehen und als inquisitorisch abgestempelt. Weil in der Prozesswirklichkeit ein enger Schulterschluss zwischen dem erkennenden Gericht und dem Untersuchungsrichter bzw. ein blindes Vertrauen in seine schriftlichen (und bei der Akte befindlichen) Aufzeichnungen zu konstatieren war, erschien aus der Perspektive der Kritiker des „Código Levene“ eine Ersetzung des Untersuchungsrichters durch einen neu zu konzipierenden Ministerio Público erforderlich. Im Gesetzgebungsverfahren stand der „Entwurf Maier“ aus dem Jahr 1986 zur Auswahl, der auf der Grundlage des reformierten deutschen Strafprozesses mit den Prinzipien der materiellen Wahrheit, staatsanwaltschaftlichen Führung des Ermittlungsverfahrens, Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft, Legalitätsprinzip, mündliche Hauptverhandlung unter der Führung des erkennenden Gerichts, mit Beweisantragsmöglichkeiten der Prozessbeteiligten und Unzulässigkeit der Verlesung von Ermittlungsprotokollen konzipiert wurde. Auch wenn der Terminus „inquisitorisch“ in diesem Entwurf entschieden abgelehnt wurde, ist er nach deutschem Vorbild verfasst und diese Bezeichnung folglich nicht ganz unpassend. Er kam letztlich in Argentinien nicht zum Einsatz, diente aber als Fundus für die Reformen in den Provinzen und für das Musterstrafprozessgesetz für Iberoamerika, auf dem wiederum die ersten lateinamerikanischen Reformen beruhten. Die Urteilsabsprachen (juicio abreviado) wurden 1997 im Bundesstrafprozessgesetz eingeführt. Erstaunlicherweise kam der Impuls aus der Provinz Córdoba, die früher für die Abschaffung des Inquisitionssystems sorgte. Für die etwas veraltete Struktur des Bundesstrafverfahrens (Código Levene), das den Schwerpunkt auf das schriftliche Ermittlungsverfahren setzte, bedeutete diese Einfügung einen Rückschritt, weil die mündliche Hauptverhandlung damit restlos an Bedeutung verlor.
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Kapitel 7: Das Aufkommen des adversatorischen Systems in Lateinamerika Die oben beschriebenen Entwicklungen in Richtung eines reformierten kontinentaleuropäischen Strafverfahrens änderten sich jedoch grundlegend, als eine neue Reformströmung in den 90er Jahren nach Lateinamerika vordrang und das Verfahren vordergründig adversatorisch ausgestaltet wurde. Sie wies deutliche angloamerikanische Einflüsse auf und konstituierte sich als erstes am Muster des Strafprozessgesetzes von Chile von 2000. Dieses hatte eine große Auswirkung auf mehrere lateinamerikanische Länder, u. a. auch auf das ursprünglich kontinentaleuropäische Modell von Costa Rica und schließlich auf das neu erlassene einheitliche Strafprozessgesetz Mexikos von 2014.
Kapitel 8: Kontinentaleuropäische vs. lateinamerikanische adversatorische Verfahrensstruktur am Beispiel Mexikos In diesem Kapitel geht es um die Gegenüberstellung der kontinentaleuropäischen Tradition des deutschen Strafprozesses und des argentinischen Bundesstrafprozessgesetzes mit der adversatorischen Strömung in Lateinamerika am Beispiel Mexikos. Gegenstand der Analyse ist also die intensive Auseinandersetzung zwischen den Anhängern eines kontinentaleuropäischen Modells und den Propagandisten einer vorgeblich adversatorischen, letztlich aber in den „procedimiento abreviado“ nach US-amerikanischem Muster führenden Verfahrensstruktur in Mexiko. Dabei ist die erste Hälfte des Kapitels den Einzelheiten der inquisitorischen oder adversatorischen Rollenverteilung, die zweite Hälfte dem „abreviado“ auch im Vergleich mit der deutschen Verständigung gewidmet, worauf eine abschließende Beurteilung folgt. 1. Verteilung der Prozessrollen a) Vergleichsgegenstand Aus der Fülle von strukturellen Unterschieden ist beim Gegensatz zwischen Parteienwettstreit und Amtsaufklärung von besonderer Bedeutung die Rollenverteilung im Beweisverfahren im Rahmen der Wahrheitssuche. b) Rollenverständnis im kontinentaleuropäischen Verfahren aa) Prozessuale Rolle der Staatsanwaltschaft Auch wenn im reformierten deutschen und bundesstaatlichen argentinischen Strafprozess die Führung des Beweisverfahrens gemäß dem Untersuchungsprinzip in
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der Hauptverhandlung beim erkennenden Gericht blieb, konzentrierte sich die Debatte auf die Einrichtung einer Staatsanwaltschaft. Dies geschah insbesondere im Rahmen der argentinischen Reform, weil der neu konzipierte Ministerio Público als begrenzende Instanz zur bestehenden Richtermacht anerkannt wurde. In Deutschland wurde ihr eine entscheidende prozessuale Rolle zugesprochen, als sie 1974 mit der Abschaffung der Figur des Untersuchungsrichters die Herrschaft über das Ermittlungsverfahren erlangte. Im Vergleich zu den weitgehenden, fast uneingeschränkten Befugnissen ihres Pendants mit der Rolle als Partei im adversatorischen Verfahren erfährt die Staatsanwaltschaft als objektive Ermittlungsbehörde in Deutschland und Argentinien auf Bundesebene grundsätzlich mehr Einschränkungen: Objektivitätspflicht, Verpflichtung zur Ermittlung der der Entlastung dienenden Umstände und Einschränkung des Anklageermessens durch das Legalitätsprinzip. Aber bereits bei der Entstehung der Staatsanwaltschaft in Preußen war sie angeblich nicht von strafprozessualen Idealen zur Erreichung einer ausgewogenen Rollenverteilung getrieben. Heute, in der Praxis des kontinentaleuropäischen Systems trotz Kautelen, unterliegt die Staatsanwaltschaft einigen Versuchungen: Technische und rechtliche Überlegenheit im Ermittlungsverfahren; Unvereinbarkeit der verlangten Objektivität in der Praxis mit ihrer inneren Einstellung als Strafverfolgungsbehörde; ein enges Verhältnis mit dem erkennenden Gericht; Übertragung ihrer Ermittlungsergebnisse in die Hauptverhandlung durch die richterliche Aktenvorkenntnis; Überlegenheit durch die Urteilsabsprachen. Umso wichtiger ist die Einhaltung der Objektivitätspflicht. bb) Bedeutung der Verteidigung als Gegengewicht Fraglich ist, welche Relevanz die Verteidigung in so einem System mit einer Objektivität der Staatsanwaltschaft und einer unparteiischen Verfahrensherrschaft des Gerichts in der Hauptverhandlung, bei gleichzeitiger Verpflichtung zur Ermittlung der Wahrheit, besitzt. Anders als die Verteidigerposition im adversatorischen System muss sie nicht aktiv für Beweiserhebungen und eine Präsentation des Beweismaterials sorgen. Das hindert aber nicht, dass die exklusiv für den Angeklagten vorgesehene Schutzaufgabe des Verteidigers im kontinentalen System eine zentrale Relevanz sowohl im Ermittlungsverfahren wie auch in der Hauptverhandlung hat. Die Verteidigung wird die Aufmerksamkeit auf die vernachlässigten entlastenden Elemente durch ein aktives Mitwirken lenken und für die Einhaltung der Gesetzeskonformität des Verfahrens sorgen. Insbesonders ist ihre kontradiktorische Mitwirkung bei einer überproportionalen staatsanwaltschaftlichen Betonung der Belastungsmomente trotz Objektivitätspflicht erforderlich. Dasselbe gilt bezüglich der Übertragung der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen belastenden Hypothesen in die Hauptverhandlung als Konsequenz der richterlichen Kenntnis der Ermittlungsakte. Was konkret die Prozessstellung des Verteidigers nach deutschem Recht und argentinischem Bundesstrafprozessrecht angeht, vermisst man die Gewährung einer
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echten mitwirkenden Rolle der Verteidigung im Ermittlungsverfahren. Anders geschieht es im deutschen Hauptverfahren, in dem der Verteidiger solide Rechte besitzt, die z. T. weiter als die des US-amerikanischen Kollegen reichen. Für den deutschen Strafverteidiger besteht ein umfassendes Akteneinsichtsrecht ab dem Abschluss der Ermittlungen, was dem US-amerikanischen Anwalt nicht zusteht, der selbst Offenbarungspflichten unterworfen ist, so wie es auch in den lateinamerikanischen Rechtsordnungen ist, die dem adversatorischen chilenischen Modell folgen. Im argentinischen Bundesstrafprozessrecht ist das Akteneinsichtsrecht etwas eingeschränkter. Die deutsche Verteidigung verfügt ferner über ein neben dem Amtsaufklärungsprinzip stehendes Beweisantragsrecht, was auch der Fall im Bundesstrafprozessrecht Argentiniens ist. c) Rollenverständnis im adversatorischen Verfahren aa) Mexikanische adversatorische Verfahrensform Im Einklang mit der Reformtendenz in Lateinamerika erhielt das neue mexikanische Strafprozessrecht (sog. „sistema acusatorio“) eine adversatorische Verfahrensform im Sinne der Beweisführung der Parteien, auch wenn eine lange kontinentaleuropäische Tradition vorherrschte. Die Sachverhaltsaufklärung ist also Aufgabe des Anklägers und der Verteidigung, während das Gericht keine führende Position, sondern eine Kontrollfunktion besitzt. Anders als im Fall der Amtsaufklärung findet die Beweisaufnahme wie in jedem adversatorischen System parteizentriert nach dem Grundsatz der Parteiautonomie und gemäß den Regeln über die Beweiseinführung, -offenlegung und den Beweisausschluss statt. Zur Durchführung einer Hauptverhandlung kommt es in Mexiko allerdings selten, zum Beispiel im Estado de México heute nur in 3,6 % der Fälle. Die Besonderheit des Strafverfahrens Mexikos ist, dass es durchaus am Prinzip der materiellen Wahrheit festhält. Zugleich gelten weitere Grundsätze eines kontinentaleuropäischen Verfahrens wie das Legalitätsprinzip und die Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft. Darüber hinaus findet der Prozess in Mexiko, wie in den anderen Ländern Lateinamerikas, vor keiner Jury, sondern vor Berufsrichtern (die ggf. von Schöffen begleitet sind) statt. Besonders hervorgehoben wird bei den adversatorischen Strömungen in Lateinamerika das Prinzip der Waffengleichheit als Grundprinzip des Parteiprozesses. bb) Einhaltung der Waffengleichheit und hohe Verantwortung der Verteidigung (1) Machtposition der Strafverfolgungsbehörden Kritisch bei der Übernahme eines rein adversatorischen Systems in Mexiko ist die erfolgte Gewährung einer deutlich überlegenen Machtposition der Strafverfolgungsbehörden, die auf den konstanten Ausbau der technischen und normativen
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Mittel der Polizei und Staatsanwaltschaft gegenüber den knappen Ressourcen der Verteidigung zurückzuführen ist. Dies verhindert die Möglichkeit einer tatsächlichen Waffengleichheit in der Realität des Strafprozesses. (2) Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft Andererseits legt das mexikanische Gesetz die Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft nach dem Vorbild des chilenischen Strafprozesses fest. Es werden Sorgfalt und Treuepflicht gefordert, derzufolge sie die wahre Information über die Tat und der Ermittlungsergebnisse vermitteln muss. Zugleich besteht die Forderung nach einem aktiven Handeln zur Erforschung auch entlastender Umstände. Das unterscheidet sie von der Staatsanwaltschaft im angloamerikanischen Verfahren, für die - als einseitiger Prozessbeteiligter - das Objektivitätsprinzip aus einer bloßen Pflicht zu einem fairen Verhalten gegenüber der Strafverteidigung besteht. Die mexikanische Mischung eines adversatorischen Systems mit einer objektiven Staatsanwaltschaft, die sich in mancher Hinsicht als Partei verhält, bildet eine Hybridform, die in der Praxis nicht ohne Schwierigkeiten agieren dürfte. Andererseits stellt die Objektivitätspflicht eine Begrenzung des staatlichen Machtapparats gegenüber dem einzelnen Beschuldigten dar. In der Praxis wird aber seit langem auf mögliche Korruption und Nachlässigkeiten in der mexikanischen Staatsanwaltschaft hingewiesen. Dadurch wird der Strafverteidigung in Mexiko eine große Verantwortung für die Herstellung einer Balance im Strafprozess aufgebürdet. (3) Ungleichgewicht durch den Verletzten als Prozessbeteiligter Ein besonderes Ungleichgewicht zu Ungunsten des Angeklagten schafft das neue mexikanische Strafverfahren, indem es dem Verletzten (víctima oder ofendido) eine Rolle als Prozessbeteiligter bei der adversatorischen Hauptverhandlung zubilligt und ihn in seiner Rechtsstellung sogar ausdrücklich dem Verteidiger gleichstellt. Diese Zuschreibung einer Prozessrolle an den Verletzten ist eigentlich Ausdruck eines kontinental-europäischen Prozessverständnisses. Sie geht über den herkömmlichen Rahmen des Parteiprozesses hinaus und entfernt sich in diesem Punkt vom amerikanischen System, das dem Verletzten keine Parteirolle entsprechend dem Konzept des bipolaren Parteiverfahren zuschreibt. Bei einer so starken Anklagemacht durch zwei Akteure, nämlich die Staatsanwaltschaft und der Verletzte, ohne dass das Gericht die Verantwortung für die Vollständigkeit der Beweiserhebungen übernimmt, gerät das erforderliche Gleichgewicht unter den Prozessparteien im mexikanischen System ins Wanken. (4) Richterliche Aktenkenntnis und Zusatzbefugnisse (a) Zu einer besseren Verteilung der Prozessrollen in einem adversatorischen System wie in Mexiko wäre es zu begrüßen gewesen, dass die Ermittlungsakte dem erkennenden Gericht vorenthalten wird. Der Gesetzgeber entschied sich allerdings
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dafür, dass diesem die Ermittlungsakte mitsamt dem Eröffnungsbeschluss zugesendet wird. Die Voreingenommenheit des Richters durch seine Kenntnis der in Richtung Belastung geführten Ermittlungsakte relativiert noch mehr die erwartete Objektivität. (b) Ein im mexikanischen Gesetz vorgesehener Mechanismus für den Ausgleich der vorgegebenen technischen Unterlegenheit der Verteidigung besteht in der Zusatzbefugnis des erkennenden Richters bei der Befragung. Anders als im angloamerikanischen System mit Jury fällt das Urteil in den lateinamerikanischen Ländern das erkennende Gericht, sodass ihm diese Zusatzbefugnis eine bessere Gestaltung der Beurteilungsgrundlage anzubieten vermag. Bei diesen rudimentären richterlichen Möglichkeiten zur Betätigung am Rand der fremd gelenkten Sachverhaltsrekonstruktionen bestehen aber immer noch Defizite für den Richter bei der Verschaffung eines vollständigen Bilds des wahren Sachverhalts. Neben der Möglichkeit zur richterlichen Befragung bei Vernehmungen wäre die der richterlichen Ergänzungen bzw. Korrekturen bei den Beweiserhebungen von Bedeutung. Diesbezüglich sind die lateinamerikanischen Regelungen unterschiedlich. Mexiko orientiert sich an der chilenischen Lösung, derzufolge nur Beweiserhebungen der Parteien ausdrücklich vorgesehen sind und über die Möglichkeit richterlicher Beweiserhebungen von Amts wegen nicht die Rede ist. Die Interpretation sollte sich im Einklang mit dem Ziel der Ermittlung der materiellen Wahrheit aber darauf richten, dem Richter nicht die Möglichkeit nehmen, eigene Beweise zu erheben, die die Parteien vernachlässigt oder willentlich auf der Seite gelassen haben. (5) Erhöhte Verantwortung der Verteidigung Ein adversatorisches Strafverfahren, auch das neue mexikanische, stellt bereits von seiner Struktur her hohe Anforderungen an die Verteidigerrolle. Kennzeichen der adversatorischen Verfahrensform ist ein Streben nach Kontradiktion durch eine erwünschte aktive Teilnahme der Verteidigung im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung, bei der sie als Partei neben der Staatsanwaltschaft die Beweiserhebungen führt und sich um die Präsentation der teoría del caso kümmert. Darüber hinaus und anders als der Verteidiger im kontinentaleuropäischen System hat sie die Pflicht zur Offenlegung der Beweismittel, die sie in der Hauptverhandlung erheben wird. Die zusätzlichen Kautelen des mexikanischen Systems, bestehend aus der Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft und den möglichen richterlichen Befragungen, ggf. auch korrigierenden oder ergänzenden richterlichen Maßnahmen im Beweisverfahren, vermögen in der Prozesswirklichkeit nicht die erhöhte Verantwortung zu kompensieren, die die Strafverteidigung trägt. Eine unerlässliche Herkulesaufgabe hat deshalb die Verteidigung, die zuvorderst als einzig wirkliche
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Verantwortliche und ohne den flankierenden Einsatz einer weiteren, neutralen Instanz jedes entlastende Beweismittel präsentieren muss. (6) Verletzung der Mitwirkungsfreiheit durch die theory of the case? Mit der Einführung der theory of the case („prosecution case“ und „defensive case“), auf Spanisch teoría del caso, aus dem amerikanischen Verfahrenssystem im Großteil Lateinamerikas entsteht der Handlungsdruck, dass nicht nur die Staatsanwaltschaft, sondern auch die Verteidigung ihre Version des Sachverhaltes (ihre „story“) von Anfang an darzustellen hat. Dadurch verliert das Verbot des Selbstbelastungszwanges und die daraus resultierende Aussage-, Mitwirkungs- und generelle Verhaltensfreiheit des Beschuldigten seine wesentliche Bedeutung als prozessrechtliche Manifestation des Rechtsstaatsprinzips. Danach muss dieser nicht zu seiner Strafverfolgung bzw. zu seiner eigenen Verurteilung durch aktives Handeln beitragen. Es besteht für ihn keine Pflicht, das Gericht bei der Wahrheitserforschung zu unterstützen. Wenn die Auslegung dieser Regeln des Streits und Darbietung der Sachverhaltsversion des Beschuldigten in den Vordergrund des Verfahrens gerät, ist die bereits vorhandene unterlegene Stellung der Verteidigung gegenüber den Verfolgungsbehörden nochmals geschwächt. Zugleich findet diese Art der Verhandlungsführung nicht wie im US-amerikanischen Strafprozess vor einer Jury, sondern vor Berufsrichtern (die ggf. von Schöffen begleitet sind) statt, womit der Sinn der vereinfachten Darstellung, die eine solche Tatsachendarstellung anbietet, auf den ersten Blick desavouiert wird. (7) Freie Beweiswürdigung anstatt Beweisausschlussregeln Weil vom mexikanischen Gesetz eine strenge Qualitätsprüfung der zulässigen Beweismittel mit Beweisausschlussregeln ähnlich wie im common law nicht gefordert wird, ist es fraglich, ob dann noch die Verfahrensbalance im adversatorischen System aufrechterhalten bleiben kann. Für das in Mexiko übernommene System der richterlichen Beweiswürdigung spricht die intensive Beschäftigung mit diesem Thema in Lateinamerika seit langer Zeit und die Tatsache, dass das Verfahren nicht mit einer Jury operiert, sondern der Richter die Beweiswürdigung übernimmt. 2. Abreviado und Urteilsabsprachen a) Rückschritt Im Vordergrund der Verfahrenswirklichkeit steht in Mexiko wie in ganz Lateinamerika der procedimiento abreviado als Sonderform der Urteilsabsprachen. Ausgangspunkt des jüngst in Lateinamerika verbreiteten Absprachengedankens ist die Idee einer privaten Konfliktlösung und „Gleichheit der Bürger“ bei einer gleichzeitig unterstellten Effizienzsteigerung im Strafprozess. Damit wird aber der (Fort-)Bestand der Normen des materiellen Strafrechts als „staatliche“ Entscheidung
A. Resümee
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des Gesetzgebers ignoriert. Ungeachtet der hohen Ansprüche an eine strafprozessuale Modernisierung in Lateinamerika durch die Abschaffung des alten schriftlichen Inquisitionsprozesses ist deshalb leider kein Fortschritt zu erkennen, sondern im Gegenteil ein Rückschritt zu beklagen. b) Verteilung der Prozessrollen Grundsätzlich besteht ein großer Unterschied bezüglich des Verantwortlichen für die Führung der deutschen Verständigung und des abreviado, weil die dominierende Rolle in Deutschland vom Gericht (§ 257c Abs. 3) und in Lateinamerika von den Parteien übernommen wird. Die Lösung im deutschen Strafprozess, nämlich die Beteiligung des Richters an der Absprachekommunikation nebst seiner leitenden Rolle bei den Verhandlungsgesprächen, ist aus lateinamerikanischer Perspektive nicht haltbar. Die gebotene Neutralität des Gerichts bzw. seine Stellung als unbeteiligter Dritter ist bei diesem Absprachemuster nicht gewährleistet. Dieses strukturelle Defizit besteht beim mexikanischen Absprachemodell des procedimiento abreviado nicht, indem dieses die Unparteilichkeit des Richters durch die Kombination der staatsanwaltschaftlichen Initiative mit dem Anerkenntnis bzw. der Zustimmung des Angeklagten bestehen lässt. Der abreviado, der im mexikanischen Strafprozess die gleiche Funktion ausübt wie das plea bargaining im amerikanischen Strafverfahren, unterscheidet sich von letzterem doch sehr erheblich und in gewissem Umfange kommt wieder eher der deutschen Regelung nahe, abgesehen von der unterschiedlichen Rolle des Richters, der hier von Anfang an dominiert, während nach dem mexikanischen Strafprozessrecht der Richter erst am Ende des Abspracheverfahrens hineinkommt. Für den Rechtsvergleich bleibt deshalb die mexikanische Regelung ebenso wie die teilweise eigenständige Regelung in anderen lateinamerikanischen Ländern von Interesse. c) Inkompatibilität der Urteilsabsprachen und des abreviado mit der bestehenden Rechtsordnung Weil das deutsche Strafprozessrecht – man könnte auch so weit gehen: die auf eine kontinentaleuropäische Grundlage gestützten Strafprozessordnungen – von der Prämisse ausgehen, dass die Pflicht zur Ermittlung der materiellen Wahrheit aus dem verfassungsrechtlich verankerten Schuldprinzip zu entnehmen ist, sind die Anforderungen an das Strafverfahren anders als im common law. Nach zutreffender Auslegung der mexikanischen verfassungsrechtlichen Bestimmungen bestehen aber auch dort entsprechende Anforderungen an die Verfahrensgestaltung im Sinne einer vollständigen Sachverhaltsermittlung und an einen Schuldnachweis. Weil es wesentliche Unterschiede in den Fundamenten der Verfahrensmodelle gibt, müssten sich substanzielle Unterschiede bei den zu einer Bestrafung führenden Verfahrensweisen ergeben, und ist auch nicht jeder Weg dorthin legitim. Im deutschen Strafverfahren ist deshalb für ein Konsensprinzip kein Platz, seine Zurückweisung
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Kap. 9: Zusammenfassung und Ausblick
verdient also Zustimmung. Dasselbe ist im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen für die künftige Auslegung des mexikanischen abreviado wünschenswert. Auch das Zulassen eines inhaltsleeren Formalgeständnisses würde den Grundsätzen eines kontinentaleuropäischen Strafverfahrens wie auch der mexikanischen Verfassung widersprechen, deshalb ist dessen Ablehnung im deutschen wie auch im mexikanischen Strafverfahren richtig. Es wäre bei beiden Strafprozesskonzepten nicht möglich gewesen, das Absprachekonzept eines plea bargainings mit der Verhandlung über alle Aspekte der Anklage und einem guilty plea als Schuldanerkenntnis als Ausgangsbasis zu übernehmen. Bereits die weiten Möglichkeiten für den Inhalt eines plea agreement und die pauschale Anerkenntnis der Schuld des Beschuldigten als guilty plea kollidieren vollständig mit den Maximen des deutschen und mexikanischen Systems. Auch eine Akzeptanz von Schuldbekenntnissen, die nicht ansatzweise auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft werden, entspricht nicht den Maßstäben eines kontinentaleuropäischen Strafverfahrens. Die Aussicht auf die Belohnung, milder bestraft zu werden, verursacht an sich schon einen unzulässigen Druck auf den Beschuldigten und kann selbst einen Unschuldigen zu einem falschen Bekenntnis verführen. Mit dem Bestreben, den breiten Verhandlungsspielraum eines plea bargainings zu vermeiden und die Absprachen mit dem bestehenden Strafprozesssystem in Einklang zu bringen, lautet der Umweg des deutschen Gesetzgebers und der Rechtsprechung „Kombination“ oder „Absprachemodell der Sachverhaltsaufklärung“. Allerdings konterkariert das im Gesetz behauptete Festhalten an der Pflicht des Gerichtes zur vollständigen Sachverhaltsaufklärung (§ 257c Abs. 1 S. 2) den Sinn der Absprachen, der in der Beschränkung des als Urteilsgrundlage zu bewertenden Materials besteht. Würde man eine vollständige Beweiserhebung in der Hauptverhandlung zur Verifizierung der Zuverlässigkeit des Geständnisses anstreben, droht der „Tod“ der Absprachen, weil sie ihren ureigenen Sinn verlieren würden. Wenn aber wiederum die Beweise in diesem „kombinierten“ Konzept nur sehr sparsam erhoben würden, sind verfassungsrechtliche Bedenken sowohl gegen die deutsche Verständigung als auch den abreviado zu erheben. Es gehört nämlich zum Zweck der Verkürzung bzw. Beschleunigung, dass die Gewinnung der für das Verfahrensergebnis relevanten Informationen grundsätzlich aus dem Geständnis bzw. der Anerkenntniserklärung und auf der Basis einseitiger Informationsgewinnung im Ermittlungsverfahren durch die Polizei und Staatsanwaltschaft erfolgt. Dadurch werden das materielle Schuldprinzip und die daraus abzuleitenden Anforderungen an Tat- und Schuldnachweis nach dem Prinzip der materiellen Wahrheit sowohl für das deutsche wie auch für das mexikanische Recht gefährdet. Welchen Umfang der zusätzliche richterliche Aufklärungsaufwand nach einer Absprache haben muss, wird je nach Einzelfall unterschiedlich sein. Zwar soll gem. § 257c Abs. 1 S. 2 die Aufklärungspflicht unberührt bleiben, doch ist diese Regelung im Hinblick auf den Zweck der Absprachen paradox. Es gibt kein Anforderungsprofil für die Überprüfung der Zuverlässigkeit des Geständnisses, auch wenn eine
B. Ergebnis
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Geständniskontrolle im Strengbeweisverfahren gefordert wird. Ob und inwieweit weitere Beweise zu erheben sind, ist nämlich eine Frage der Überzeugungsbildung des zuständigen Gerichts. Somit wird der Richter je nach Einzelfall über die Durchführung weiterer Beweiserhebungen entscheiden. Die jeweilige Abkürzung bzw. Vereinfachung der Beweisaufnahme erfolgt von Fall zu Fall. Dadurch wird eine Auflösung des im Gesetz angelegten Widerspruchs versucht. Damit besteht aber für den Richter ein breiter Handlungsspielraum, in dem er sowohl deutliche Abstriche bezüglich der zur Verfügung stehenden Beweismittel machen, als auch großzügig umfangreiche Beweiserhebungen anordnen darf. Die Situation beim mexikanischen abreviado schien nach der früheren Entscheidung des Suprema Corte vom 19. März 2014 dieselbe zu sein, nachdem diese strenge Anforderungen an die richterliche Kontrolle des Tatnachweises stellte, aber noch keine genaueren Maßstäbe für die Bestimmung des Bedarfs von zusätzlichen Beweiserhebungen bestanden. Nach der neueren Entscheidung vom 18. August 2016 stellt sich die Frage aber nicht mehr, weil danach eine eingehende richterliche Überprüfung der Urteilsgrundlage nicht mehr geboten ist. Auch feingliedrige Einschränkungen am Absprachengegenstand zeigen sich als unpraktikabel. In Mexiko ist diese Gefahr sogar größer, nachdem dort noch keine genaueren Differenzierungen bezüglich des Verhandlungsstoffs bestehen und sich die Justiz mit einem ganz neuen Strafprozessmodell befassen muss, das noch nicht genau konturiert ist. Dabei scheint sich die richterliche Überprüfung des Wahrheitsgehalts der Anerkenntniserklärung auf ein Minimum zu reduzieren. Nicht zuletzt missachtet eine solche Verfahrenserledigung die Grundsätze des reformierten Strafverfahrens und auch des mexikanischen Strafprozessrechtes, nach denen die Urteilsfindung nur auf Grund des Inbegriffs der Hauptverhandlung und nicht auf einer anderen Grundlage erfolgen darf.
B. Ergebnis I. Insgesamt hat sich gezeigt, dass – neben dem Hang zur „Effizienz der Strafrechtspflege“, einem immer öfter bemühten Topos für die Begründung jeglicher Einschränkung von Verteidigungsrechten – der auschlaggebende Punkt in der Vergleichbarkeit zwischen dem alten Inquisitionsprozess und heute in der „Jagd nach dem Geständnis“ liegt, zu deren Zweck damals die Folter und heute das Abspracheverfahren eingesetzt wird. Beide sind ein funktionales Pendant zueinander. Obwohl im Inquisitionsprozess einige Fortschritte gegenüber dem überkommenen Parteiverfahren zu verzeichnen sind, verwischte die Lösung über das abgenötigte Geständnis das Ziel der materiellen Wahrheitsfindung. Dieses Dilemma zeigt sich in der Realität des weltweit siegreichen abgekürzten Verfahrens ohne eine substantielle Hauptverhandlung, sei es als plea bargaining, als procedimiento abreviado oder als Verständigung. Der Angeklagte vereinbart etwas
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nicht freiwillig und innerlich überzeugt, sondern lässt sich in der bestehenden Drucksituation auf bestimmte Bedingungen ein, um in vermeintlich auswegloser Situation das geringere Übel von zweien zu wählen. Dann lässt das Gericht in der Praxis oftmals ein inhaltsleeres Formalgeständnis genügen oder fordert allenfalls ein sog. „schlankes Geständnis“, um ja keine Widersprüchlichkeiten aufkommen zu lassen. Als fortwährende Konstante in der weiteren Entwicklung zeigt sich ein zwanghaftes Streben der Justiz nach Erlangung eines Geständnisses, um in einer Art „self-fullfilling-prophecy“ ihr Urteil bestätigt zu bekommen und quasi durch den Verurteilten selbst Absolution für den Urteilsspruch zu erlangen. Wenn man die großen Reformbögen unter diesen Aspekten betrachtet, führt das Abspracheverfahren dann also wieder zu der einseitigen Wahrheitsfindung des Inquisitionsverfahrens zurück, wobei die Errungenschaften der Hauptverhandlung dem Angeklagten nicht mehr durch die Folter geraubt, sondern durch die vorgebliche Strafmilderung abgekauft werden. II. Was die geschichtliche Entwicklung des deutschen Strafprozesses betrifft, zeigt sie nach der Abschaffung des Inquisitionsverfahrens eine vorbildliche Verfahrensform zur Ermittlung der materiellen Wahrheit durch die Einfügung der mündlichen, unmittelbaren und öffentlichen Hauptverhandlung. Dabei waren die Rechte der Verteidigung weit weniger als heute ausgearbeitet, allerdings war die Schaffung einer besseren Stellung bei der damaligen ausbalancierten Struktur mit ausreichenden Mitwirkungsrechten in der Hauptverhandlung gar nicht erforderlich. Die Ziele der Väter der Reichsstrafprozessordnung, die Hauptverhandlung in den Vordergrund zu stellen, sind aber inzwischen dem Untergang geweiht. Diese Verfahrensphase spielt heutzutage qualitativ wie quantitativ nicht mehr die wesentliche Rolle im Strafverfahren, und die Bemühungen um eine Kompensation werden wohl nie den damaligen durchschlagenden Erfolg haben. Das ist die Kernfrage des rechtsstaatlichen Strafverfahrens schlechthin, nämlich die Reduzierung der Hauptverhandlung als Entscheidungszentrum des Strafprozesses, die im neunzehnten Jahrhundert auf dem europäischen Kontinent und vor allem in Deutschland in inquisitorischer Form entwickelt und in ihrer adversatorischen Form in der Prozesstheorie der USA am weitesten fortgeschritten ist. III. Aus der rechtsvergleichenden Bestandaufnahme lässt sich schließen, dass die lateinamerikanische Prozessreform und die dort zuvor sehr intensiv geführten Debatten nicht nur für die deutsche Diskussion nützlich sind, sondern auch als Prüfstein der globalen Entwicklung dienen. Sie bilden ein großes Fundament und tragen neben der Generalhypothese ihren rechtsvergleichenden Beitrag in sich selbst. Die lateinamerikanische Strafprozessentwicklung zeigt im Gegensatz zur schrittweisen europäischen Entfaltung einen sehr späten, aber dann fast unmittelbaren Übergang vom spanischen Inquisitionsprozess zu einem adversatorischen Verfahren mit Urteilsabsprachen. Dadurch ist die Bedeutung der Ermittlungsphase und des Geständnisses fast ohne Unterbrechung eine feste Konstante des Verfahrens. Außerdem sind einige Defizite bei der theoretisch auch in Lateinamerika gebotenen
C. Ausblick
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Ermittlung der materiellen Wahrheit zu verzeichnen, die sich aus der adversatorischen Verfahrensform ergeben. Zu nennen sind vor allem die fehlende Vollständigkeit der Beweisaufnahme, die Möglichkeit von Beweisvereinbarungen der Parteien und die nur abwehrrechtlich vorausgesetzte, in der Wirklichkeit aber nicht zu erreichende „Waffengleichheit“ der Parteien. Dem Strafverteidiger wird eine (allzu) große Verantwortung für die Herstellung einer Balance im Strafprozess aufgebürdet. Dabei hilft ihm nicht die vorgesehene Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft, die nämlich durch leider festzustellende Unregelmäßigkeiten innerhalb dieses Organs schon lange zu implodieren droht. Die Prozessrollenverteilung in Richtung auf Belastung wird durch Gewährung von Aktenkenntnis an den erkennenden Richter und nicht zuletzt durch die Zuschreibung einer Prozessrolle an den Verletzten umso mehr perpetuiert. Eine bessere Verfahrensbalance als die nur abwehrrechtlich agierende Verteidigung könnte eine richterzentrierte Sachaufklärung mit einer optimalen Kontradiktion und Einbindung der Verteidigung bei der Ermittlung der Wahrheit als Bestandteil des Verfahrens bieten. Das wäre die Perspektive, die die Aufmerksamkeit künftiger Reformen auf sich ziehen muss.
C. Ausblick I. Die wachsende Bedeutung der Ermittlungsphase im Strafprozess Mit der heutigen Praxis der Urteilsabsprachen und dem daraus resultierenden Funktionsverlust der Hauptverhandlung übt das Ermittlungsverfahren einen zunehmenden Einfluss auf den Ausgang des gesamten Strafprozesses aus. Diese Beeinflussung ist u. a. auch durch die Kenntnisnahme des erkennenden Gerichts der in Richtung Anklagehypothese geführten Ermittlungsakte bedingt. Das Grundproblem ist, dass das Ermittlungsverfahren ursprünglich nicht entsprechend der weichenstellenden, ja gar entscheidenden Funktion ausgestaltet wurde, die es heute in der Praxis besitzt. Von seiner Struktur und Funktion her handelt es sich um ein Verfahrensstadium mit einer ausgeprägten überlegenen Macht der Strafverfolgung, die sich gegen die hypothetische Macht eines gedachten „allwissenden Schuldigen“ durchsetzen möchte. Damit geht es nicht um eine flexible, je nach Ziel leicht veränderbare Prozessetappe. Demgegenüber verfügt die Verteidigerposition in der Hauptverhandlung über ein (gerade noch) starkes Beweisantragsrecht und unterliegt noch keinen Offenbarungspflichten gegenüber der Staatsanwaltschaft bezüglich ihrer eigenen Beweismittel, sodass sie in diesem Prozessstadium eine solide Position innehat. Allerdings tritt dieser Zustand zu spät ein, wenn nämlich die richterliche Grundeinstellung von den oft in eine belastende Richtung geführten Ermittlungsprotokollen und Abschlussberichten bereits beeinflusst sein kann.
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Kap. 9: Zusammenfassung und Ausblick
Wenn das Gewicht durch die schleichende Umpolung des Strafprozesses auf das Ermittlungsverfahren vorverlagert wird und man noch am Prinzip der materiellen Wahrheit weiter festhalten möchte, steht man quasi vor der Sisyphusarbeit, angesichts der derzeit überlegenen Macht der Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren das strukturell Unmögliche zum Möglichen umzuwandeln. Eine Balance unter den Verfahrensbeteiligten hat bereits in dieser Verfahrensphase Dringlichkeitscharakter.
II. Der notwendige Blick auf das Ermittlungsverfahren Das Problem kann an seinen Wurzeln betrachtet werden, nämlich an der Verteilung der Parteirollen schon bei der Herstellung der Verfahrensakte im Ermittlungsverfahren, die grundsätzlich mit der Brille der Polizei erfolgt. Weil die Möglichkeiten der Verteidigung für eine aktive Betätigung in dieser Verfahrensphase sehr eingeschränkt sind, ist die gesammelte Informationsbasis und das dort widergespiegelte Tatbild von Einseitigkeit gekennzeichnet. Zur Angleichung der widerstreitenden Kräfte im Ermittlungsverfahren ist eine grundlegende Reform dieses Abschnitts jedenfalls eher geeignet als die Einfügung einzelner Ergänzungen der Verteidigerrechte nach Art eines Flickwerks. So muss die Verteidigung im Rahmen der Abwägung mit dem Interesse an einer effektiven Strafverfolgung ganzheitlich in ihren Grundfesten Information, Beteiligung und Beweisführung betrachtet werden, wenn eine Annäherung an die kontradiktorische Struktur der verloren gegangenen Hauptverhandlung erreicht werden soll. Zusätzlich muss in die Waagschale die Möglichkeit geworfen werden, dass doch noch eine Hauptverhandlung stattfindet, die im Fall einer Mitwirkung eines Verteidigers im Ermittlungsverfahren spätestens dann ihrer eigentlichen Funktion beraubt werden könnte und zu einer bloßen Nachvollziehung der Ermittlungsergebnisse zu verkommen droht. In die Abwägung, in welchem Umfang die Verteidigung bei Akten der Ermittlungsphase anwesend sein und mitwirken sollte, sind also zwei Elemente einzustellen, die eine einschränkende Rolle beim Kräftemessen spielen: Einerseits der Interessenkonflikt mit den originären Ermittlungsaufgaben der Staatsanwaltschaft, d. h. die Staatsanwaltschaft in Ruhe ermitteln zu lassen, und andererseits der Konflikt mit dem Verfahrensabschnitt der Hauptverhandlung, der bei kontradiktorischen Beweiserhebungen im Ermittlungsverfahren zur bloßen Bestätigung der Ermittlungsergebnisse herabgestuft werden könnte. Adäquate Kenntnisse des Strafverteidigers über den konkreten Gang der Ermittlungen, Überprüfungsmöglichkeiten und eigene Mittel zur objektiven Aufklärung des Sachverhalts sind von großer Relevanz zur Herstellung der ersehnten Verfahrensbalance. Durch welche konkreten Maßnahmen und Rechte der Verteidigung man dem unerträglichen Druck des einseitigen Ermittlungsverfahrens ent-
C. Ausblick
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gegnet, ist noch Gegenstand der Debatte. Dafür bieten die unterschiedlichen Rechtsordnungen einige Lösungen und Erfahrungen. Die Suche nach der Balance, die Diskussion über die Rechte der Verteidigung und nicht zuletzt die Mühe der Strafverteidiger, sich auf diese neuen Anforderungen einzustellen, wird sicherlich noch eine ständig im Fluss befindliche Aufgabe in den unterschiedlichen Rechtsordnungen sein.
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