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German Pages 190 Year 2006
CHEMNITZER EUROPASTUDIEN
Band 2
Die Außen- und Regionalpolitik der Republik Estland mit Blick auf den Ostseeraum Von Nadine Mensel
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
NADINE MENSEL
Die Außen- und Regionalpolitik der Republik Estland mit Blick auf den Ostseeraum
Chemnitzer Europastudien Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll und Matthias Niedobitek
Band 2
Die Außen- und Regionalpolitik der Republik Estland mit Blick auf den Ostseeraum
Von Nadine Mensel
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1860-9813 ISBN 3-428-12088-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit nahm die Technische Universität Chemnitz im Sommersemester 2005 als Magisterarbeit an. Zum Zwecke der Veröffentlichung wurde sie im begrenzten Umfang überarbeitet und aktualisiert. Grundlegende Impulse für die Arbeit habe ich während eines Studienaufenthalts an der Tartu Ülikooli in Estland erhalten. Schnell hat mich dieses nordosteuropäische Land mit den quirligen Städten Tartu und Tallinn, seiner wechselvollen Geschichte und mannigfaltigen Landschaften begeistert. Meiner estnischen Gasthochschule möchte ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen, insbesondere den Mitarbeitern des Baltic Studies Programme, die mich bei der Recherche unterstützten und in Gesprächen wertvolle Einblicke in die Thematik gaben. Besonderer Dank gilt Frau Prof. Dr. Beate Neuss und Herrn Prof. Dr. Wolfram Hilz, die nicht nur mein Studium der Internationalen Politik in Chemnitz entscheidend prägten, sondern ebenso den Entstehungsprozess dieser Arbeit konstruktiv begleiteten. Dass vorliegende Studie eine gewisse Schnittmenge an raum- und politikwissenschaftlichen Inhalten aufweist, verdanke ich Herrn Prof. Dr. Peter Jurczek, der geografische Aspekte stets hervorhob und mein Interesse daran geweckt hat. Maßgeblich verantwortlich für die Aufnahme in die Schriftenreihe und die Publizierung sind Herr Prof. Dr. Matthias Niedobitek sowie Frau Prof. Dr. Beate Neuss und Herr Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, die mir beide einen großzügigen Druckkostenzuschuss gewährten, wofür ich allen ausdrücklich danke. Mein ganz persönlicher Dank gebührt schließlich Herrn Thomas Knoll, der mich über meine Fehler lachen ließ und mir fortwährend Rückhalt wie Ansporn war, egal ob am selben Ort oder wie so oft Tausende Kilometer entfernt. Chemnitz, Dezember 2005
Nadine Mensel
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.
15
Heranführung an die Thematik und Begründung der Themenwahl . . . . .
15
II. Grundlegende und weiterführende Fragestellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
III. Aufbau der Arbeit und Vorgehensweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
IV. Forschungsstand und Einblick in die verwendete Literatur. . . . . . . . . . . . .
20
B. Estland in der Transformationsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I.
Politische Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vergangenheit als Hypothek wiedererlangter Unabhängigkeit . . . . . . . 2. Politische Agenda der Transformationszeit und ihre Implementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23 23
II. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Probleme der Transition und Reformierung der Wirtschaftsstrukturen 2. Umorientierung im Außenhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wegbereitung eines baltischen Wirtschaftsraumes . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30 30 33 36
C. Go West! Die Außenpolitik Estlands. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
I.
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Institutionalisierung der Außenpolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsrechtliche Bedingungen und Zuständigkeiten . . . . . . . . . . . a) Kompetenzen der Staatsversammlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kompetenzen des Staatspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kompetenzen der Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kompetenzen des Außenministeriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundzüge und Prämissen der Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Außenwirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entwicklungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sicherheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39 39 41 41 42 42 43 46 47 48
II. Estlands Westintegration in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rückkehr nach Europa: Beziehungen zur Europäischen Union . . . . . . 2. Sicherheitsdenken: Einbindung in die NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Beziehungen zu den Nachbarstaaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhältnis zur Russischen Föderation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bilaterale Beziehungen zu Lettland und Litauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bilaterale Beziehungen zu Finnland und Schweden . . . . . . . . . . . . . . . .
58 58 63 65
8
Inhaltsverzeichnis
D. Estlands Agieren in der Ostseeregion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführende Grundlagen zur interregionalen Kooperation . . . . . . . . . . . . . . 1. Theoretische und geopolitische Überlegungen im Kontext der Ostseezusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeine Voraussetzungen für grenzübergreifende Kooperation im Ostseeraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Estlands balto-skandinavischer Aktionsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Intrabaltische Kooperation: Wunschdenken oder Wirklichkeit? . . . . . . 2. Blick nach Norden: eine realistische Alternative? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Synthese: baltisch-nordische Kooperation am Beispiel der Sicherheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Multinationale Institutionen und Initiativen regionaler Zusammenarbeit. 1. Der Rat der Ostseestaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Netzwerke VASAB 2010 und Baltic 21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Interkommunale Kooperation am Beispiel des Peipsi Center for Transboundary Cooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Interdependenzen zwischen europäischer Integration und regionaler Verflechtung in der Ostseeregion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Erwartungshaltungen der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Ostseeraum als EU-Binnenregion und daran geknüpfte Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenzübergreifende Zusammenarbeit im Kontext der Beitrittsverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Regionalpolitische Förderinstrumente der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Konzept der Nördlichen Dimension. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Antriebskräfte der estnischen Regierung zur regionalen Kooperation. . . . 1. Politische und sicherheitsrelevante Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ökonomische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Barrieren grenzübergreifender Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70 70 70 73 75 75 79 82 88 88 93 98 102 102 102 104 107 109 116 116 118 121
F. Schlussbetrachtung und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 I. Reflexion wichtiger Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 II. Perspektiven der Ostseekooperation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Chronologie wichtiger Ereignisse der jüngeren estnischen Geschichte . . . . . 133 Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
Inhaltsverzeichnis
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Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Dokumente estnischer Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
161
Dokumente zur Ostseekooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
166
Dokumente der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
168
Historische Quellen und Dokumente internationaler Organisationen. . . . . . .
170
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
170
Nachweis der verwendeten Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Sachwortregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
Verzeichnis verwendeter Tabellen Tabelle 1:
Opfer deutscher und sowjetischer Besatzung in Estland (1939–1955). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
Tabelle 2:
Regierungen der Republik Estland seit 1992 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Tabelle 3:
Außenminister der Republik Estland seit 1991. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
Tabelle 4:
Datenblatt zur estnischen Wirtschaft, 1993–2003 . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Tabelle 5:
Index der veränderten Verbraucherpreise in Estland im Vergleich zum Vorjahr (Inflationsrate), 1992–2004 (in Prozent). . . . . . . . . . . . . 142
Tabelle 6:
Estlands Im- und Exportbeziehungen, 1993–2003 (in Millionen EEK und Anteile am Gesamtumfang in Prozent). . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Tabelle 7:
Handelsbilanzen Estlands, 1993–2003 (in Millionen EEK) . . . . . . . . 145
Tabelle 8:
Direktinvestitionen von und nach Estland, 1999–2004 (in Tausend Euro) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
Tabelle 9:
Bevölkerung Estlands nach Staatsangehörigkeit und Nationalität (Zensus vom 31. März 2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Tabelle 10: Demografische Daten Estlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Tabelle 11: Durchschnittliches Monatseinkommen in Estland pro Haushaltsmitglied im Verhältnis zum Landesdurchschnitt, 2000–2003 . . . . . . 150 Tabelle 12: Arbeitslosenrate in Estland nach Bezirken im Verhältnis zum Landesdurchschnitt, 2000–2003. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Tabelle 13: Trilaterale Abkommen zwischen den Republiken Estland, Lettland und Litauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Tabelle 14: Die vier Dimensionen und vierzehn Ziele des Raumplanungskonzepts Vision and Strategies around the Baltic Sea 2010 (VASAB 2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
Verzeichnis verwendeter Abbildungen Abbildung 1: Estland und seine Bezirke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Abbildung 2: Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen . . . . . . . . . . . 155 Abbildung 3: Kooperationsgebiet von INTERREG III B. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Abbildung 4: Struktur des Außenministeriums der Republik Estland. . . . . . . . . . 157 Abbildung 5: Organisationsstruktur des Rates der Ostseestaaten . . . . . . . . . . . . . . 158 Abbildung 6: Organisationsstruktur von VASAB 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Abbildung 7: Organisationsstruktur von Baltic 21. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
Verzeichnis verwendeter Abkürzungen BAFTA BALTBAT BALTDEFCOL BALTNET BALTRON BALTSEA BEAC BIP BMR BR BRD BSR BV CBC CBSS DDR ECU EEK EFRE EFTA EG EGKS EKP EMFA ESSR ESVP EU EURATOM EWG FDI GASP
Baltic Free Trade Agreement/Baltisches Feihandelsabkommen Baltic Battalion/Baltisches Bataillon Baltic Defence College/Baltisches Verteidigungscollege Baltic Air Surveillance Network/Baltisches Luftraumüberwachungsnetzwerk Baltic Naval Squadron/Baltischer Marineverband Baltic Security Assistance Forum Barents Euro-Arctic Council Bruttoinlandsprodukt Baltischer Ministerrat Baltischer Rat Bundesrepublik Deutschland Baltic Sea Region/Ostseeregion Baltische Versammlung Cross-border Co-operation/Grenzüberschreitende Zusammenarbeit Council of the Baltic Sea States/Rat der Ostseestaaten (Ostseerat) Deutsche Demokratische Republik European Currency Unit/Europäische Währungseinheit Eesti Kroon/Estnische Krone Europäischer Fonds für Regionalentwicklung European Free Trade Association/Europäische Freihandelsvereinigung Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Estnische Kommunistische Partei Estonian Ministry of Foreign Affairs/Estnisches Außenministerium Estnische Sozialistische Sowjetrepublik Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europäische Union Europäische Atomgemeinschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Foreign Direct Investments/Ausländische Direktinvestitionen Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
Verzeichnis verwendeter Abkürzungen GD GUS HELCOM IFOR IGK IMF IOK KFOR KGB KMU KSZE MOE NATO NB8 ND NGO OECD
OSZE PCA Peipsi CTC PfP PHARE RGW RSFSR SFOR TACIS UBC UdSSR UN VASAB WEU WTO
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Generaldirektion Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Helsinki Commission/Helsinki Kommission Implementation Force – Operation Joint Endeavour Intergouvernementale Kommission International Monetary Fund/Internationaler Währungsfonds Internationale Organisierte Kriminalität Kosovo Force Komitet Gosudarstvennoi Bezopasnosti/Komitee für Staatssicherheit Kleine und Mittlere Unternehmen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Mittel- und Osteuropa North Atlantic Treaty Organization Nordic-Baltic-Eight Nördliche Dimension Non-Governmental Organization/Nicht-Regierungsorganisation Organization for Economic Co-operation and Development/Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Partnership and Co-operation Agreement Peipsi Center for Transboundary Cooperation Partnership for Peace/Partnerschaft für Frieden Poland and Hungary Assistance for the Reconstruction of the Economy Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik Stabilization Force in Bosnia and Herzegovina Technical Assistance for the Commonwealth of Independent States Union of the Baltic Cities/Union der Ostseestädte Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations/Vereinte Nationen Visions and Strategies around the Baltic Sea Westeuropäische Union World Trade Organization/Welthandelsorganisation
A. Einleitung I. Heranführung an die Thematik und Begründung der Themenwahl Am 1. Mai 2004 überzogen Feuerwerk und Jubelstimmung den europäischen Kontinent, als die Aufnahme von zehn mittel- und osteuropäischen Ländern in die Europäische Union (EU) nicht länger eine Sache von Verhandlungen war, sondern wahrhaftig geschah. 15 Jahre zuvor herrschten in Europa derartig widrige politische Wirklichkeiten, welche die Welt insgesamt in einer ideologischen Konfrontation des Ost- und Westblocks fixierten, dass ein friedliches Zusammenwachsen der europäischen Nationen auf lange Sicht unmöglich schien. Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika als Protagonisten und weltpolitisch agierende Supermächte standen sich mehr als vierzig Jahre feindlich gesinnt gegenüber, mehrmals am Rande eines Krieges beziehungsweise in indirekter Weise durch ihre Stellvertreter. Im Herbst 1989 sollte diese antagonistische Konstellation solch unübersehbare Risse erhalten, dass im weiteren Verlauf Ost-West-Konflikt und Kalter Krieg endeten sowie zwei Jahre darauf das Sowjetimperium implodierte. Dieser Zusammenbruch veränderte die politische Weltkarte nachhaltig, kam es doch zu zahlreichen Staatsneugründungen oder wie im Fall der baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen zur Wiedererrichtung staatlicher Souveränität. Für die Gesellschaften jener Staaten bildeten die Wendejahre 1989 bis 1991 den Abschluss eines Kapitels jahrzehntelanger politischer Bevormundung und Unterdrückung. Die Epoche von Freiheit und Demokratie in einer sich zunehmend globalisierenden Welt konnte nun auch in diesem Teil Europas beginnen. Im Zuge der erneuten Ausübung staatlicher Eigenständigkeit konnten Esten, Letten und Litauer im kollektiven Gedächtnis verwurzelte Erinnerungen revitalisieren, da sie bereits über Erfahrungen als selbstständige, demokratisch organisierte Nationen verfügten. Zum Ende des Ersten Weltkriegs (1914–1918) waren sie erstmals imstande, ihre Unabhängigkeit zu proklamieren. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 konnten sich die drei Kleinstaaten allerdings nicht länger zwischen den Machtblöcken des Deutschen Reiches und der Sowjetunion behaupten. Tallinn, Riga und Vilnius wurden abwechselnd zum Spielball der nazistischen und der kommunisti-
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A. Einleitung
schen Diktatur. Letztere entzog den drei Ländern 1940 qua Okkupation den Status der Autonomie und stülpte ihnen das System von Sowjetrepubliken über,1 verbunden mit weit reichenden gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Umwälzungen. Erst im August 1991 sollte die größtenteils selbstinitiierte Loslösung der Balten von Moskau gelingen. Die in der Folgezeit unternommenen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationsanstrengungen, um zum Kreis einer offenen westlichen Gemeinschaft zu gehören, werden als Gegenstand einer Magisterarbeit am Beispiel der Republik Estland nachvollzogen. Zwei Politikfelder stehen innerhalb der Untersuchung im Mittelpunkt: zum einen die estnische Außenpolitik, die grundlegende Handlungsrichtungen im internationalen Kontext aufzeigt und zum anderen die Regionalpolitik, welche die Grundsätze auswärtiger Politik auf räumlich begrenzter Ebene – hier in der Ostseeregion (Baltic Sea Region – BSR) – umzusetzen hat. Diese Region ist nicht gleichzusetzen mit dem Baltikum, das lediglich als Teilmenge oder Subregion des gesamten Ostseeraums gilt.2 Innerhalb dieser Region befindet sich Estland an der Südküste des Finnischen Meerbusens, der Esten und Finnen voneinander trennt. Die Fläche des nordosteuropäischen Landes beträgt annähernd 45.000 Quadratkilometer, womit er der kleinste der drei baltischen Staaten ist. Umgeben von der Ostsee im Norden und Westen, grenzt das Land im Süden an Lettland und im Osten an Russland. Zunächst beziehen sich Darstellung und Bewertung der Kooperationsbemühungen Estlands im Untersuchungsraum auf die beiden anderen baltischen Staaten, Lettland und Litauen, sowie auf die nächsten nordischen Nachbarn Finnland und Schweden, bevor der gesamte Ostseeraum ins Blickfeld gerät. Die darin von estnischer Seite angedachten und realisierten Kooperationsvorhaben in verschiedener Sachfeldern bilden den Schwerpunkt der Studie.
II. Grundlegende und weiterführende Fragestellung Das Aufgreifen dieser Thematik – Estlands Außen- und Regionalpolitik unter besonderer Berücksichtigung der Ostseeregion – gilt vornehmlich dem Fragekomplex, ob die Regierung in Tallinn ihrem außen- und regionalpolitischen Handeln seit der zurückerlangten Unabhängigkeit konkrete Vi1
Vgl. Garleff, S. 166. Tonangebend ist daher das angelsächsische Verständnis bei der Begriffsbestimmung. Baltic Sea Region (BSR) meint hier die Ostseeregion als Ganze, während die deutsche Übersetzung eine Reduktion auf die baltischen Länder vornimmt. Vgl. Henningsen, S. 8. 2
II. Grundlegende und weiterführende Fragestellung
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sionen zu Grunde legte, welche Optionen ihr diesbezüglich zur Verfügung standen und inwiefern Strategien zu deren Verwirklichung vorlagen. Von Interesse ist die Auseinandersetzung mit einer solchen Problemstellung deshalb, weil anhand eines ausgesuchten Landes seine Interaktionen mit dem geopolitischen Umfeld dokumentiert werden. Dabei handelt es sich um Wechselbeziehungen, die wiederum in enger Verbindung zur inneren Transformation Estlands und zur europäischen Integration stehen. Die eingehende Analyse solch wechselseitiger Beeinflussung wird eine weiterführende Aufgabe dieser Untersuchung darstellen. Das politische Hauptanliegen Estlands richtete sich seit der wiedererrichteten Unabhängigkeit 1991 klar auf die Einbindung in westliche Organisationen und Bündnisse. Sowohl die Mitgliedschaft in der EU als auch in der NATO wurden als unbedingte Ziele estnischer Außen- und Sicherheitspolitik ausgewiesen. Formen kooperativer Regionalpolitik flankierten diese Vorhaben. Jedoch, so die Vermutung, haben sie zu keiner wesentlichen Stärkung der Ostseeregion an sich beigetragen, die als eine erfolgreiche subregionale Integration im europäischen Kontext gewertet werden könnte. Der Wegfall des Eisernen Vorhangs in dieser Region im Allgemeinen und für das EU-Neumitglied Estland im Besonderen signalisierte Chancen und Herausforderungen gleichermaßen. Das vielfach zitierte Motto von einer Rückkehr nach Europa pointiert die vorherrschenden Erwartungen und Grundstimmungen der Esten. Nach wie vor verheißt die europäische Einigung einen signifikanten Beitrag zur Stabilisierung des gesamten Ostseeraums. Dies wiederum erzeugt endogene Initiativen im Sinne einer regionalen Integration, die hier aus estnischer Sicht dokumentiert werden sollen. Demzufolge kann von einer beiderseitigen Einwirkung zwischen Brüssel und der Regierung Estlands gesprochen werden. Zu betonen ist die Offenheit jener zwei Integrationsstränge, die den Esten kein enges Handlungskorsett aufgezwungen haben, sondern Raum für die Formulierung nationaler Interessen anbieten. Derartige regionalpolitische Vorstellungen des baltischen Landes zu konkretisieren, markiert ein nächstes Ziel der Arbeit. Die Betrachtung gegenwärtiger Integrationsbemühungen in der Ostseeregion und der darin zum Tragen kommenden Ambitionen Estlands soll zudem die Frage beantworten, inwiefern „die Wiederherstellung eines alten historischen und vielfältigen Raumes“3 als Erfolg oder bloßes Wunschdenken gewertet werden kann. Sind ungeachtet der Überwindung politischideologischer Grenzen kooperationshinderliche Ressentiments bestehen geblieben, beziehungsweise erschweren nationale Egoismen die interregionale Zusammenarbeit? Somit besteht eine zusätzliche Aufgabe darin, externe und interne Erwartungen hinsichtlich regionaler Zusammenarbeit in der 3
Petkevicˇius, S. 122.
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A. Einleitung
Ostseeregion herauszustellen, diese zu vergleichen sowie Kooperationshindernisse und -anreize zu skizzieren. Daran anknüpfend gilt es, die Rolle Estlands im genannten regionalen Umfeld zu spezifizieren sowie seine Motive und Handlungsprämissen in seinen nachbarschaftlichen Beziehungen eingehender zu bestimmen. Um die einzelnen Vorhaben dieser Studie zusammenzufassen, dienen folgende Fragen als Leitfaden: • Welche innenpolitischen Rahmenbedingungen beeinflussen das außenund regionalpolitische Vorgehen der estnischen Regierung? • Wie lauten die Charakteristika, Leitlinien und Motive der estnischen Außenpolitik und welchen Stellenwert nimmt darin die Regionalpolitik ein? • Vor welcher geopolitischen Ausgangslage sind die Kooperationsbemühungen Estlands im Ostseeraum zu verstehen? • Wie verlief die grenzübergreifende Zusammenarbeit auf politischer, wirtschaftlicher und institutioneller Ebene in der Ostseeregion bislang? • Welche Möglichkeiten eröffnete die Europäische Integration für den Ostseeraum und speziell für Estland? Wodurch unterscheiden sich die jeweiligen Erwartungshaltungen? • Mit welchen Perspektiven für die Ostseekooperation ist zu rechnen und wie kann sich Estland diesbezüglich positionieren? Mit der Beantwortung dieser Leitfragen beabsichtigt vorliegende Arbeit, neue Sichtweisen der Außenpolitikanalyse am Beispiel Estlands, verbunden mit Kooperationsvorgängen in der Ostseeregion, vorzutragen.
III. Aufbau der Arbeit und Vorgehensweise Die Phase der Wiederherstellung der estnischen Unabhängigkeit (1988 bis 1991) sowie der Beitritt des Landes zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 grenzen den Untersuchungszeitraum ein. Ausgangsbasis für das Verständnis estnischer Außen- und Regionalpolitik ist der Rückgriff auf den Transformationsprozess der 1990er Jahre, der sich bereits in der Logik der Westorientierung vollzog. Kapitel B. konzentriert sich auf diese Aufgabe, wobei die Erläuterung politischer und wirtschaftlicher Strukturen im Vordergrund steht. Ohne einen knappen Rekurs auf die Vergangenheit kommt eine solche Erörterung nicht aus, denn dort liegen die Ursachen für gegenwärtige sozioökonomische, gesellschafts- oder außenpolitische Schwierigkeiten, die letztendlich auch die Regionalpolitik erfassen können. Estland als ein postkommunistisches Land sah sich enormen Transformations- und Transitionsanstrengungen ausgesetzt, wollte es den Weg in den Westen erfolgreich beschreiten. Ein Überblick über die daraus resultierende sozioökonomische
III. Aufbau der Arbeit und Vorgehensweise
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Agenda ist daher von Bedeutung, womit gleichzeitig Einblicke in die Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeiten der Politik gegeben werden. Außerdem können erste Rückschlüsse auf die Wertigkeit regionalpolitischer Vorhaben innerhalb des gesamten Reformkomplexes aufgezeigt werden, was sich beispielsweise auf die Errichtung eines intrabaltischen, also eines alle drei baltischen Länder betreffenden, Wirtschaftsraumes bezieht. Nach diesen vorbereitenden Schritten konzentriert sich das dritte Kapitel (C.) auf die auswärtige Politik der Republik Estland. Die tiefer gehende Auseinandersetzung mit den außenpolitischen Grundsätzen bildet in diesem Zusammenhang das Gerüst zum Verständnis der Regionalpolitik. Letztere baut auf den Vorgaben der ersten auf und spezifiziert diese hinsichtlich eines konkreten Raumes, hier der Ostseeregion. Die Charakterisierung estnischer Außenpolitik und die Benennung ihrer wesentlichen Zielvorhaben gliedert sich in drei Ebenen: Erstens wird der Institutionalisierung der Außenpolitik nachgegangen, was die Erläuterung verfassungsrechtlicher Bestimmungen, die Einbindung in die internationalen Beziehungen sowie die Erläuterung der wichtigsten außenpolitischen Handlungsprämissen bedingt. Durch den Verweis auf Außenwirtschafts-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik erfahren die generellen Leitlinien eine Präzisierung. Zweitens wird die von Estland angestrebte Westintegration anhand der EU- und NATOBeitrittsgesuche veranschaulicht. Und drittens bedarf es einer näheren Betrachtung des nachbarschaftlichen Umfelds, in dem Estland agiert. Hierbei kommt es auf die Bewertung der Beziehungen zu Russland, Lettland und Litauen sowie zu Finnland und Schweden an, weil diese Länder in außenund regionalpolitischer Hinsicht direkt oder indirekt maßgeblichen Einfluss auf Tallinn ausüben. An die bis dahin herausgearbeiteten Erkenntnisse schließt Kapitel D. zum politischen Vorgehen Estlands in der Ostseeregion an, wenn diese Politik in Relation zum räumlichen Kontext bewertet wird. Dem gehen theoretische Überlegungen zu den Begriffen Region und Kooperation sowie eine geopolitische Einordnung der BSR voraus. Daran knüpft die Entwicklung tri- respektive multilateraler Kooperationsformen an, die Estland im Laufe der Zeit eingegangen ist. Hinzu kommen weitere Initiativen der Ostseekooperation entweder intergouvernementalen oder transnationalen Charakters, die eine Stärkung ihres Aktionsraums zum Ziel haben. Bei all diesen Unterpunkten steht die Frage im Mittelpunkt, welche regionalpolitischen Akzente Tallinn zu setzen vermochte. Hat die Ostseeregion in der Folge an Bedeutung gewonnen? Wo traten Komplikationen auf und wie wurden diese gelöst? Die Beantwortung dieser Fragen dient nicht nur der näheren Charakterisierung estnischer Regionalpolitik. Vielmehr soll dadurch die Aufmerksam-
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A. Einleitung
keit auf implizite Wechselwirkungen zwischen regionaler Verflechtung und der alles bestimmenden Devise der Westintegration gelenkt werden. Kapitel E. nimmt auf diesen Aspekt Bezug. Einerseits geschieht dies unter Berücksichtigung der Erwartungen Brüssels. Welche Vorstellungen hatte die Europäische Union gegenüber den baltischen Kandidatenländer und Polen formuliert, die nach einer Aufnahme in die Union den Ostseeraum nahezu in einen EU-Binnenraum verwandeln würden? Gab es Strategien oder Initiativen, mit Hilfe derer sich die zu Grunde liegenden Intentionen umsetzen ließen? Den europäischen Interessen werden anschließend die estnischen gegenübergestellt. Um die Motivation des Landes für seine Aktivitäten in der Ostseeregion zu präzisieren, fließen politische, sicherheitsrelevante und ökonomische Gesichtspunkte in die Überlegung ein. Ein abschließendes Unterkapitel (E. II. 3.) lässt kooperationshemmende Mechanismen nicht außen vor, die insbesondere mit Blick auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Estland und Russland offen zu Tage treten. Über Umsetzung und Erfolg kooperativer Regionalpolitik im Untersuchungsraum, ausgehend von den Prämissen der estnischen Regierung, resümiert das sechste Kapitel (F.). Dabei gilt es herauszuarbeiten, inwiefern sich nationale und supranationale Interessen bei der Umsetzung einer multidimensionalen Ostseekooperation behindern oder ergänzen. Dieses als Bilanz angelegte Kapitel soll darüber hinaus bisherige Errungenschaften regionaler Zusammenarbeit in der BSR in die Zukunft projizieren. Dementsprechend sollen die künftige Gestalt von Kooperationsarrangements sowie die diesbezügliche Modifikation der Interessen Estlands berücksichtigt werden.
IV. Forschungsstand und Einblick in die verwendete Literatur Die verwendete Literatur ist grob in zwei Kategorien zu teilen: Eine erste befasst sich mit den Transformationsprozessen mittel- und osteuropäischer Länder angesichts ihrer Vorbereitung auf die Aufnahme in die Europäische Union respektive die NATO. Einzelstudien bilden dabei die Ausnahme. Vielmehr werden ausgewählte Staaten zu Gruppen zusammengefasst und miteinander verglichen, was den Vorteil hat, dass der Leser über mehrere Länder gleichzeitig Wissenswertes erfährt. Details und Tiefenanalyse sind dann in Gefahr, zu kurz zu geraten. Besonders auffällig ist diese Methode bei der Auseinandersetzung mit den baltischen Staaten, die fast ausschließlich als Trio einer Betrachtung unterzogen werden. Das trifft sowohl für die Untersuchung ihrer Reformbemühungen als auch auf ihre Außenpolitik zu, die insbesondere von westlichen Wissenschaftlern oft als baltische Außenpolitik verkürzt dargestellt wird. In der politischen Wirklichkeit liegt eine derartige von außen vorgenommene Generalisierung nicht vor. Beispiele da-
IV. Forschungsstand
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für sind die Werke von Gerd Föhrenbach,4 Sven Arnswald,5 Sven Arnswald und Mathias Jopp,6 Kristian Gerner und Stefan Hedlund,7 Ole Nørgaard und Lars Johannsen8 sowie von Thomas Schmidt.9 Zwar gelingt es den Autoren, die politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der betreffenden Länder auf dem Weg von sozialistischen autoritären Systemen hinzu demokratisch und markwirtschaftlich orientierten Ordnungen in den 1990er Jahren nachzuzeichnen, doch ist es für den Leser schwierig, ein exaktes Bild der Bedürfnisse eines jeden Landes für sich zu erhalten. Gleichzeitig ergab sich mit Verweis auf das Forschungsziel der Arbeit das Problem, speziell estnische Positionen in diesem Kontext zu destillieren. Auf diesem Gebiet besteht nach wie vor Präzisionsbedarf von wissenschaftlicher Seite. Hier genügen die Veröffentlichungen, vor allem die Monografien mit Schwerpunkt Estland nicht, um eine möglichst umfassende Lagebeschreibung zu gewährleisten. Wertvolle Beiträge leisten vor allem die Studien von David Arter,10 Wendelin Ettmayer,11 Davis J. Smith12 sowie die hervorragenden Sammelbände von Marju Lauristin u. a.13 und Georg Klöcker.14 Gleichfalls hervorzuheben sind die Innenansichten des ersten frei gewählten Ministerpräsidenten der wieder unabhängigen estnischen Republik, Mart Laar,15 der aus der Perspektive des politisch Involvierten die zum Teil dramatische Umbruchphase seines Landes rekapituliert. Gleichwohl sind die zuweilen stark subjektiven Einfärbungen kritisch zu hinterfragen. Erscheinungen jüngeren Datums sind eher rar; Ausgleich dafür bieten Aufsätze aus Sammelbänden und Fachzeitschriften.16 Was die Erforschung der Außenpolitik Estlands anbelangt, wurde diese bei weitem nicht erschöpfend untersucht. Zum einen liegt dies an den Archivierungsfristen öffentlicher Behörden, speziell des Außenministeriums, zum anderen mögen mangelnde Sprachkenntnisse und die geringe Größe des Landes ursächlich für gemindertes Forschungsinteresse sein. Überwiegend widmen sich estnische, finnische, aber auch dänische Wissenschaftler 4
Vgl. Föhrenbach. Vgl. Arnswald (2000). 6 Vgl. Arnswald/Jopp. 7 Vgl. Gerner/Hedlund. 8 Vgl. Nørgaard/Johannsen. 9 Vgl. Schmidt. 10 Vgl. Arter. 11 Vgl. Ettmayer. 12 Vgl. Smith. 13 Vgl. Lauristin u. a. (Hrsg.). 14 Vgl. Klöcker (Hrsg.). 15 Vgl. Laar. 16 Vgl. Hubel (Hrsg.); Pettai/Zielonka (Hrsg.). 5
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A. Einleitung
der Außenpolitikanalyse Estlands, wobei die Sicherheitspolitik und die Beziehungen zu Russland im Vordergrund stehen,17 da diese Themenfelder von der estnischen Regierung im Untersuchungszeitraum prioritär besetzt wurden. Um die relative Überschaubarkeit der Sekundärliteratur angemessen zu kompensieren, fließen in diese Arbeit zahlreiche Dokumente des estnischen Außenministeriums (Estonian Ministry of Foreign Affairs – EMFA) ein. Vorwiegend handelt es sich um öffentlich, das heißt auch per Internet, zugängliche Reden und Stellungnahmen der Außenminister. Hinzu kommen die Jahrbücher des EMFA, in denen rückblickend zu den auswärtigen Beziehungen der Republik Estland Stellung bezogen wird.18 Die zweite Kategorie verwendeter Literatur bezieht sich auf die Integrations- und Kooperationsbestrebungen in der Ostseeregion. Diesbezüglich kommen Beschlüsse der Europäischen Union, ihre Förderprogramme sowie Primärtexte der in der BSR tätigen Organisationen und Institutionen zur Auswertung. Wichtige theoretische und praktische Erkenntnisse liefern die Arbeiten von Merrill Douglas,19 Nicola Catellani,20 Piret Ehin21 sowie der Sammelband von Hanna Ojanen22 zur Nördlichen Dimension der EU und die Sonderausgabe des Journal of Baltic Studies.23
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Vgl. Vares (Hrsg.); Joenniemi/Vares (Hrsg.); Artéus/Lejinš (Hrsg.); Knudsen (Hrsg.). 18 Vgl. Estonian Ministry of Foreign Affairs (EMFA) (Hrsg.) (2001); EMFA (Hrsg.) (2002); EMFA (Hrsg.) (2003). 19 Vgl. Merrill. 20 Vgl. Catellani (2000). 21 Vgl. Ehin. 22 Vgl. Ojanen (Hrsg.). 23 Vgl. Journal of Baltic Studies, Jg. 23, Heft 2 (2002).
B. Estland in der Transformationsphase Das zurückliegende 20. Jahrhundert war gekennzeichnet durch kommunistische und nationalistische Totalitarismen, denen Millionen von Menschen zum Opfer fielen. Deutscher Nationalsozialismus und der dadurch forcierte Zweite Weltkrieg (1939–1945) gelten diesbezüglich als mahnende Präzedenzfälle. Nicht unerwähnt bleiben dürfen die Entwicklungen der Nachkriegszeit, als zahlreiche Länder unter eine Ideologie gezwungen wurden, die die Schaffung eines neuen Menschen in einer klassenlosen Gesellschaft anstrebte. Unweigerlich musste dies massenhafte Verfolgungen Andersdenkender und politische Willkür nach sich ziehen. Unter der zweigeteilten Welt in Ost und West litten insbesondere die Völker Mittel- und Osteuropas (MOE). Ihnen wurde ein kommunistisches (politisches wie wirtschaftliches) System auferlegt, das sie den Weisungen der tonangebenden Sowjetunion unterwarf. Nachdem Ausbruchsversuche wie 1953 in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), 1956 in Ungarn oder 1968 in der Tschechoslowakei scheiterten, dauerte es bis in die 1980er Jahre hinein, ehe Moskaus Vorherrschaft gebrochen werden konnte. Die 1985 einsetzende Politik von Glasnost und Perestroika des Obersten Sowjet Michail Gorbatschow sollte dafür den Weg bereiten, wenngleich mit einer anders gearteten Intention.1 Davon profitierten nicht nur die im Ostblock zusammengefassten sozialistischen Staaten. Auch die sowjetischen Republiken sahen die Gelegenheit für mehr Autonomie oder gar Unabhängigkeit herannahen.
I. Politische Rahmenbedingungen 1. Vergangenheit als Hypothek wiedererlangter Unabhängigkeit Einen besonderen Fall stellen in dieser Hinsicht die Republiken Estland, Lettland und Litauen dar. Deren Auffassung zufolge – mehrheitlich von westlicher Seite unterstützt – beruhte ihre Zugehörigkeit zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) auf einem völkerrechtswidrigen Akt: der Annexion durch die Sowjetunion im Jahr 1940, die auf den Geheimen Zusatzprotokollen des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939 beruhte. Da während der vorliegenden Untersuchung das nördlichste der drei baltischen Länder, Estland, in den Mittelpunkt rückt und die Ereignisse der 1
Vgl. Wejnert, S. 7.
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B. Estland in der Transformationsphase
Vergangenheit bis ins gegenwärtige und künftige politische Geschehen hineinreichen, soll gerade jener Teil der jüngeren estnischen Geschichte kurz referiert werden. Fremdherrschaft und Okkupation haben die Esten mehrere Jahrhunderte erdulden müssen. Abwechselnd wurden ihre Siedlungsgebiete seit dem Mittelalter von Deutschen (dem Deutschen Orden), Dänen, Polen und Schweden regiert. Infolge des Großen Nordischen Krieges endete 1710 die schwedische Dominanz und leitete die russisch-zaristische Vormachtstellung ein.2 In den Wirren zum Ende des Ersten Weltkrieges (1914–1918) gelang es den Esten, sich zwischen den Kräften des Deutschen Kaiserreiches und des zerfallenden Zarenreiches respektive der revolutionären Bolschewiki zu behaupten. Am 24. Februar 1918 wurde die Unabhängigkeit Estlands proklamiert und nach zweijährigem Freiheitskampf im Frieden von Tartu am 2. Februar 1920 festgezurrt.3 Zwei Jahrzehnte sollte dieser Zustand währen, in der Estland einen wirtschaftlichen Aufstieg erlebte und sich demokratische Strukturen etablieren konnten, die allerdings in der Mitte der 1930er Jahre starke autoritäre Züge annahmen.4 Der Zweite Weltkrieg und die im Vorfeld (23. August 1939) getroffenen Absprachen zwischen dem Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop (1893–1946) und seinem sowjetischen Amtskollegen Wjatscheslaw M. Molotow (1890–1986) änderten die politische Situation Estlands und seiner baltischen Nachbarn nachhaltig. Im zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion vereinbarten Nichtangriffspakt wurden die betreffenden Länder dem Einflussbereich Stalins zugesprochen. Das Geheime Zusatzprotokoll des Paktes besagt: „Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten (Finnland, Estland, Lettland, Litauen) gehörenden Gebieten bildet die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessenssphären Deutschlands und der UdSSR.“5
Im Juni 1940 folgte die bewaffnete Intervention der Roten Armee im Baltikum „unter Bruch aller Vertragsverpflichtungen“6 gegenüber den drei Ländern. Aus den selbstständigen Republiken wurden okkupierte und annektierte Territorien der UdSSR. Freilich lesen sich diese Abläufe in der sowjetischen Geschichtsauffassung nicht als unfreiwilliger Akt. Vielmehr hätte Moskau durch den Einmarsch eine Sicherheitsgarantie für die Balten 2
Vgl. Maier, S. 17 f. Ausführlicher dazu siehe: Garleff, S. 37–46. Vgl. Maier, S. 18; Garleff, S. 94 f. 4 Vgl. Garleff, S. 118–121. 5 Geheimes Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939, einsehbar auf der Internetpräsentation des Deutschen Historischen Museums (06.11.2004). 6 Meissner (1992), S. 10. 3
I. Politische Rahmenbedingungen
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übernommen, die deren strategische Lage verbessern sollte.7 Die Eingliederung Estlands in die Riege der sozialistischen Republiken der Sowjetunion vollzog sich nach manipulierten Wahlen zur Abgeordnetenversammlung. Ihren Antrag zur Aufnahme in die UdSSR bewilligte der Oberste Sowjet in Moskau am 6. August 1940; offiziell hieß Estland fortan Estnische Sozialistische Sowjetrepublik (ESSR).8 Durch die deutsche Besetzung (August 1941 bis September 1944) wurde die einsetzende Sowjetisierung der estnischen Gesellschaft nur jäh unterbrochen. Hoffnungen auf eine Wiedererrichtung staatlicher Eigenständigkeit ließen die neuen Besatzer nicht aufkommen, lautete doch das Ziel, das gesamte Baltikum zu germanisieren.9 Dem Leiden unter der deutschen Besatzungsmacht folgte die erneute Befehlsgewalt des sowjetischen Okkupationsregimes. Die dem Land noch während der Dauer des Krieges gewaltsam oktroyierte sozialistische Rechts- und Wirtschaftsordnung bedeutete in der Praxis die Errichtung der Einparteiherrschaft in Form der Estnischen Kommunistischen Partei (EKP) und ihrer Massenorganisationen. Des Weiteren folgte der Aufbau einer zentralen Planwirtschaft, geprägt durch Zwangskollektivierungen in der Landwirtschaft und Industrialisierungsprojekte vor allem im Nordosten Estlands. Dabei wurde ein hoher Verflechtungsgrad mit den anderen Sowjetrepubliken angestrebt, um von Beginn an jeglichen Autarkiebestrebungen Einhalt zu gebieten.10 Die Umwandlung Estlands in eine funktionierende, das heißt moskautreue Teilrepublik, forderte beträchtliche Entbehrungen von der Bevölkerung; doch in einem System wie dem stalinistischen, wo der Einzelne nichts und das Kollektiv alles ist, gingen die Verantwortlichen darüber hinweg; worauf es ankam, war die Eliminierung des Klassenfeindes und der estnischen Identität. Estland teilte dieses Schicksal nicht allein. In allen baltischen Ländern hatten die „Völker Aderlässe an ihren gesellschaftlichen Eliten durch Deportation, Liquidation und Emigration zu verkraften.“11 Zusätzlich wurde die estnische Bevölkerung durch die planmäßige Ansiedlung von Immigranten vorwiegend aus den sowjetischen Teilrepubliken Russland und Ukraine unter Druck gesetzt, woraus eine veränderte ethnische Zusam7 Vgl. Gerner/Hedlund, S. 62. Die Autoren weisen zudem anschaulich auf den Revisionsprozess in den offiziellen Sowjetgremien hin, die sich selbst angesichts der Erosion ihrer Macht Ende der 1980er Jahre schwer taten, die Existenz der geheimen Zusatzprotokolle überhaupt einzugestehen. Vgl. ebd., S. 63–65. 8 Das gleiche Schicksal ereilte auch die Letten und Litauer. Vgl. Garleff, S. 166. 9 Vgl. ebd., S. 167. 10 Vgl. Meissner (1992), S. 10; Simon, S. 107. 11 Lange (1995a), S. 243. Die Opfer von Deportationen und Exekutionen in Estland lassen sich mit 125.000 Menschen beziffern; zur genauen Auflistung siehe Tabelle 1 im Anhang. Vgl. Garleff, S. 171.
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B. Estland in der Transformationsphase
mensetzung der Gesellschaft resultierte. Stellten die Esten 1934 mit 88,2 Prozent der Bevölkerung klar die Mehrheit, verminderte sich ihre Zahl bis 1989 auf 61,5 Prozent. Der Anteil der Russen stieg hingegen im gleichen Zeitraum von 8,2 auf 30,3 Prozent!12 Eine weitere Darstellung der Geschichte der ESSR bis zu den entscheidenden Wendejahren 1989 bis 1991 muss hier ausgeblendet bleiben13, um den signifikanten Etappen zur Wiederherstellung der Souveränität Rechnung zu tragen. Die bereits erwähnte Strategie von Glasnost und Perestroika räumte der Partei- und Staatsführung in Tallinn einen erweiterten Handlungsspielraum ein; zumal Moskau die baltischen Staaten insgesamt als Experimentierfeld für Reformen innerhalb der Sowjetunion betrachtete.14 Im Zuge dieser ersten Emanzipationsansätze belebte auch die estnische Bevölkerung ihr Nationalbewusstsein wieder, das unter jahrzehntelanger Russifizierung geleugnet werden musste.15 Ein bemerkenswerter Schritt folgte am 16. November 1988, als der Oberste Sowjet der ESSR die „Deklaration über die Souveränität“ annahm, die für eine gestärkte konstitutionelle Eigenständigkeit gegenüber Moskau plädierte.16 Die Hoffnung auf eine baldige Unabhängigkeit wurde damit genährt; die ins Rollen geratene Bewegung schien unaufhaltsam. Zwar erklärte sich die ESSR am 30. März 1990 für unabhängig, aber der Kreml akzeptierte eine derartig abrupte Loslösung nicht. Erst nach langwierigen Verhandlungen konnte am 12. Januar 1991 ein Grundlagenvertrag zwischen der ESSR und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) unter der Ägide von Boris Jelzin (damals Parlamentspräsident der RSFSR) abgeschlossen werden. Letztlich war es der Moskauer Putschversuch vom 19. August 1991, der die Wiederherstellung der Unabhängigkeit in die entscheidende Phase manövrierte. Einen Tag später erneuerte der Oberste Sowjet der ESSR seine Unabhängigkeitserklärung, die zuerst Jelzin im Namen der RSFSR (24. August) und später Gorbatschow im 12 Siehe in Anlehnung an das Baltische Jahrbuch 1989 die Angaben von Garleff (2001), S. 192. 13 Verwiesen sei an dieser Stelle auf das Werk von Misiunas/Taagepera. 14 Vgl. Panagiotou, S. 270. 15 Eine erste oppositionelle Sammlungsbewegung stellten die Umweltgruppen dar, die seit 1987 gegen den Ausbau der Phosphatförderung ihre Stimme erhoben. Anfang Oktober 1988 bildete sich zudem die Estländische Volksfront (Eestimaa Rahvarinne). Deren breite gesellschaftliche Basis zeigte sich schon in voller Stärke auf dem Sängerfest in der Hauptstadt (11. September 1988) mit 300.000 begeisterten Teilnehmern, weshalb später der Begriff der „Singenden Revolution“ geprägt wurde. Vgl. Gerner/Hedlund, S. 69 f.; Arter, S. 123–125. 16 Die „Deklaration“ berief sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, weshalb der estnischen Nation die Souveränität auf ihrem Territorium zugesprochen wurde. Vgl. Meissner (1992), S. 11.
I. Politische Rahmenbedingungen
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Namen der UdSSR (6. September 1991) anerkannten.17 Für Estland bedeutete dieser Schritt das Ende eines unrechtmäßigen Besatzungsregimes. Die erzwungene Anbindung an den Osten sollte nun einer freiwilligen Westintegration weichen. 2. Politische Agenda der Transformationszeit und ihre Implementierung Aus Gründen der Übersichtlichkeit und mangels thematischer Relevanz kann die Vorstellung aller Regierungen Estlands an dieser Stelle nicht erfolgen.18 Vielmehr sollen nachstehend prägnante Entwicklungsschritte des wieder eigenständigen Landes skizziert werden, was sowohl Herausforderungen als auch konkrete Lösungsansätze beinhaltet. Im Vergleich zu den einstigen Satelliten-Staaten des Sowjetimperiums fand Estland im August 1991 keine Attribute einer souverän agierenden politischen Entität vor. Die Mängel bezogen sich beispielsweise auf eine vom Volk legitimierte Verfassung, die ausführenden Organe, die lokale Verwaltung, eine funktionierende Armee und eine pluralistische Parteienlandschaft wie auch Zivilgesellschaft. Hinzu kam eine ungewisse Sicherheitslage angesichts der politischen Entwicklungen in Russland, die durch Grenzstreitigkeiten mit dem Nachbarland und dessen fortdauernder Truppenpräsenz auf estnischem Boden nicht abgeschwächt werden konnten.19 Die Agenda des politischen Übergangs vom autoritären Sozialismus zur freiheitlichen Demokratie gestaltete sich demnach reich an Hindernissen, aber auch an Erwartungen. Immerhin gehörte Estland zu den wenigen Sowjetrepubliken, die auf eine Periode staatlicher Eigenständigkeit zurückblicken konnten. Somit war eine Alternative zum sowjetischen Gesellschaftsund Politikmodell durchaus im Bewusstsein der politisch Handelnden und Interessierten präsent. Drei Schlüsselwörter sind nach Auffassung von Ole Nørgaard und Lars Johannsen prägend für die Transformationszeit in Estland: Demokratie, Marktwirtschaft und Westintegration. Sie stehen in einem interdependenten Verhältnis zueinander, denn ohne eine stabile demokratische Politik kann sich die Wirtschaft nicht derart entwickeln, dass eine Einbindung in westliche Bündnisse dauerhaft möglich wäre. Diese wiederum 17 Michail Gorbatschow tat dies hinsichtlich aller drei baltischen Staaten. Vgl. ebd., S. 13. 18 Seit den ersten Wahlen nach der Wiedererrichtungen der estnischen Staatlichkeit hat das Land acht Regierungen gesehen. Die letzten Parlamentswahlen fanden am 2. März 2003 statt; siehe Tabelle 2 im Anhang. Am 21. März 2005 erfolgte der Rücktritt von Ministerpräsident Juhan Parts und seinem Kabinett. Damit überdauerte abermals eine estnische Regierung die Legislaturperiode von fünf Jahren nicht. 19 Vgl. Smith, S. 68; Tallo, S. 126.
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B. Estland in der Transformationsphase
sind unabdingbar für das allen drei Begriffen übergeordnete Ziel, dem kleinen Land mit seinen weniger als 1,4 Millionen Einwohnern Sicherheit zu gewährleisten!20 Um diese Maßgabe alsbald zu erreichen, bedurfte es der zügigen und gleichzeitig besonnenen Errichtung eines funktionierenden Staatswesens. Den Grundstein dafür musste eine Verfassung legen. Der durch die konstitutionelle Versammlung angebotene Entwurf, welche eine parlamentarische Staatsform vorsah, wurde am 28. Juni 1992 in einem Referendum mit 91 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen.21 Durch die Schaffung einer verfassungsrechtlichen Ordnung war der Weg für die anstehenden Reformen geebnet. Zuständigkeiten und demokratische Spielregeln waren benannt, nun sollte das alte, neue Estland mit politischem Leben erfüllt werden. Damit befanden sich die Esten inmitten der zweiten Transformationsstufe hin zur Demokratisierung nach westlichem Vorbild.22 Die eingeschlagene Richtung der gesellschaftlichen und politischen Umwandlung des Landes musste eine Konsolidierung erfahren. Die ersten freien Wahlen zur Staatsversammlung (Riigikogu) fanden am 20. September 1992 statt. Sie war verbunden mit der einmaligen Wahl des Staatspräsidenten durch das Volk, der laut Verfassung durch das Parlament gewählt werden muss.23 Unter dem damals 32-jährigen Mart Laar bildete 20
Vgl. Nørgaard/Johannsen, S. 3. An der Volksabstimmung konnten nur jene Bürger Estlands und deren Nachkommen teilnehmen, die bereits vor 1940 die estnische Staatsbürgerschaft besessen hatten. Damit sollte einerseits die gesetzlich-historische Kontinuität der Republik unterstrichen werden. Andererseits wurde der überwiegende Teil der russischsprachigen Bevölkerung vom Votum ausgeschlossen. Vgl. ebd., S. 57. Festgeschrieben sind in der Verfassung das Prinzip der klassischen Gewaltenteilung zwischen der Staatsversammlung, dem Präsidenten mit seinen vorwiegend repräsentativen Rechten, der Regierung und den Gerichten der Republik (Kapitel I – §§ 1–7) sowie die Grund-, Menschen- und Bürgerrechte (Kapitel II – §§ 8–54). Ausführlich dazu siehe: Lagerspetz/Maier, S. 73–87. 22 Die erste Stufe („Durchbruch“) manifestierte sich in den Ereignissen der Befreiungsbewegung von 1987 bis 1991. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit folgte die zweite Stufe („Anhaltender Wandel“), deren Mittelpunkt die radikalen Reformen in Politik und Wirtschaft bildeten (1991 bis 1994). Schließlich brachte die dritte Stufe („Herstellung einer demokratischen Ordnung“) eine wirtschaftliche und kulturelle Stabilisierung des Landes mit sich (seit Herbst 1994). Vgl. Lauristin/ Vihalemm, S. 81 und 99. 23 Bei dieser ersten Wahl konnte keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit im Volk erzielen, sodass letztendlich auch in diesem Fall das Parlament die Entscheidung vornahm. Hierbei setzte sich der Schriftsteller Lennart Meri durch, der nach seiner ersten, ausnahmsweise vier Jahre währenden Amtszeit (die Verfassung sieht fünf Jahre vor, bei einmaliger Möglichkeit zur Wiederwahl) 1996 erneut zur Wahl antrat und abermals gewinnen konnte. Vgl. Lagerspetz/Maier, S. 75 f. 21
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sich eine Regierungskoalition (Isamaaliit – Vaterlandsunion), bestehend aus christlich-demokratischen und konservativen Parteien. Als prioritär für seine Amtshandlungen betrachtete der neue Premierminister folgende Punkte: „Stärkung der Staatlichkeit Estlands, Gründung eines Rechtsstaates und Schutz der Demokratie; Stabilisierung der Wirtschaft und Schaffung der für die Entwicklung der Marktwirtschaft erforderlichen Bedingungen; Gewährung sozialer Stabilität; die Wiederherstellung bürgerlicher Gesellschaft und die europäische Integration.“24
Allerdings konnte sich die Regierung nur zwei Jahre im Amt halten, bevor sie im September 1994 auseinander brach. Folgeregierungen behielten im Wesentlichen den begonnenen Reformkurs bei. Erklärungen dafür liegen im parteiübergreifenden Konsens, mit der sozialistischen Vergangenheit vollends zu brechen. Gefördert wurde diese Übereinstimmung durch die zu diesem Zeitpunkt lediglich marginal entwickelten gesellschaftlichen Konfliktlinien (cleavages), weshalb sich die allmählich in Erscheinung getretenen Parteien programmatisch kaum unterschieden.25 Sollte Estland in eine erfolgreiche Demokratie umgewandelt werden, war eine effiziente Verwaltung auf allen Ebenen zwingend erforderlich – und damit ein Bruch mit den Traditionen des Sowjetsystems. Staatsapparat und öffentlicher Dienst waren aufgebläht und nicht am Bürger orientiert. Darüber hinaus waren die Richtlinien stets von der Zentralregierung in Moskau gekommen. Nunmehr waren es die estnische Nation und ihre Verfassung, zu deren Wohle und auf deren Basis staatliche Einrichtungen handeln sollten. Zum Umbau der staatlichen Organe reduzierte die Regierung die Anzahl ihrer Ministerien, spezifizierte deren Kompetenzen und gliederte vormals unabhängige Abteilungen in die neu geschaffenen Strukturen ein. Parallel dazu verringerte sich das in diesen Bereichen tätige Personal um ein Drittel.26 Eine weitere Aufgabe der Regierung betraf die Umgestaltung des sozialen Netzes – sofern dieser Begriff überhaupt zutreffend ist –, weg von der Mentalität der offenen Hand, hin zu mehr Eigenverantwortung. Ohnehin ließen die Staatsfinanzen keine großen Ausgaben in diesem Segment zu, zumal das sowjetische System nicht auf Arbeitslose und Hilfsbedürftige ausgerichtet war und demnach nicht auf Fürsorgemechanismen zurückgegriffen werden konnte.27 Verlierer der Transformation blieben in dieser Situation nicht aus, wobei besonders ältere Menschen und Familien mit Kindern betroffen waren. Die von der Regierung betriebene Zuwendung gen Westen 24 25 26 27
Laar, S. 97. Vgl. Smith, S. 69; Lindpere, S. 136. Vgl. Tallo, S. 126; Laar, S. 108. Vgl. Laar, S. 148 f.; Lauristin/Vihalemm, S. 109 f.
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assoziierte die Bevölkerung mit einer idealisierten Demokratie und Marktwirtschaft, die zusammen Wohlfahrt generieren würden. Dass dieser Prozess von sozialen Spannungen begleitet sein könnte, verdrängten viele Menschen. Gleichzeitig übersah die Regierung die Notwendigkeit, ihre beabsichtigten Reformen ausreichend zu kommunizieren, was das Vertrauen in die handelnden Politiker und die Demokratie als solche schwächte.28 Ungeachtet dieser Beobachtung konnte in Estland bislang keine Hinwendung zu post-kommunistischen Kräften festgestellt werden, die ohnehin nur rudimentär ausgeprägt waren. Dazu wogen die Erfahrungen der Vergangenheit zu schwer. Selbst die russischsprachige Minderheit schloss sich mehrheitlich dem Erneuerungskurs an. Gleichwohl zählten auch sie eher zu den Verlierern der neuen politischen Wirklichkeit.29 Zum Teil war dieser Tatbestand hausgemacht, da die über lange Zeit ungeklärte Frage der Staatsbürgerschaft und somit der Integration eine Belastung für die gesamte Bevölkerung bedeutete.30 Wenngleich die politische Kultur im zweiten Jahrzehnt nach erneuter Unabhängigkeit als entwicklungsfähig einzustufen ist31 – ohnehin ein Merkmal vieler Transformationsländer –, kann die estnische Demokratie heute als grundsätzlich stabil bewertet werden. In diesem Kontext leistete die rasche wirtschaftliche Reformierung einen dezidierten Beitrag.
II. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen 1. Probleme der Transition und Reformierung der Wirtschaftsstrukturen Unbestritten dominierte der ökonomische Übergang von zentraler Planwirtschaft zur freien Marktwirtschaft die politische Tagesordnung Estlands in den 1990er Jahren, hieß doch die Devise, das Land dem Westen zuzuwenden. Nur mit wettbewerbsfähigen Strukturen für den Binnen- wie den Außenhandel konnte dies verwirklicht werden. Konsolidierte wirtschaftliche Verhältnisse sollten durch eine Mischung aus Schock-Therapie und graduellen Reformschritten herbeigeführt werden.32 Ausschlaggebend war in diesem Zusammenhang die Fähigkeit der Politik, den dafür erforderlichen gesetzlichen Rahmen abzustecken sowie weitsichtig planen zu können. Aus 28
Vgl. Lauristin/Vihalemm, S. 109; Nørgaard/Johannsen, S. 96. Vgl. Smith, S. 133. 30 Vgl. Lauristin/Vihalemm, S. 111 f.; Garleff, S. 193 f. 31 Aufschlüsse zur Entwicklung der politischen Kultur in Estland liefern Vihalemm/Lauristin/Tallo, S. 198–210. 32 Vgl. Lindpere, S. 137. 29
II. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen
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diesem Grund konnte das Modell eines Laissez-faire-Kapitalismus zu diesem Zeitpunkt für Estland nicht relevant sein. Im Gegenteil sah sich der Staat dazu veranlasst, eine gestalterische Rolle auszuüben, was der zweimalige Premierminister Mart Laar bestätigt: „Es konnte der Eindruck entstehen, dass entscheidende Reformen auch ohne die entsprechenden Gesetze angegangen werden könnten oder dass freie Marktwirtschaft keinerlei Regelungen bedürfe und sich am besten selbst Bahn bricht. (. . .) Hier liegt ein weit verbreiteter Irrtum vor. Marktwirtschaft kann nicht ohne Gesetze und Institutionen zu deren Durchsetzung auskommen, denn der Markt neigt zu einer Selbstaufhebung. Daher bedarf es eines starken Staates, um den Wettbewerb zu garantieren.“33
Die umfassende Neuausrichtung der estnischen Volksökonomie traf das Land nicht zur Gänze unvorbereitet. Das war dem Umstand geschuldet, dass bereits in der Phase der Unabhängigkeitsbewegung im Einvernehmen mit Moskau vorsichtige Reformschritte unternommen wurden. Beispielsweise wurden 1986 Kooperativen zugelassen, die ihre Geschäftstätigkeit eigenverantwortlich ausführten. 1987 konnten Kleinbetriebe erstmals außerhalb des Systems der Kommandowirtschaft agieren, vorwiegend im Agrarund Dienstleistungssektor. Private Betriebsgründungen genehmigte die Regierung seit 1989.34 Somit war zumindest in Teilen der Wirtschaft marktwirtschaftliches Grundverständnis vorhanden, obgleich die eigentliche Transition fundierteres Wirtschaftswissen verlangte. Der Internationale Währungsfonds (International Monetary Fund – IMF) hatte für die Transitionsländer einen Leitfaden formuliert, der für Tallinn als Maßstab fungierte. Vier maßgebliche Handlungsschritte werden darin unterbreitet: • Errichtung eines gesetzlich-institutionellen Rahmens zur Schaffung einer Marktwirtschaft, zur Sicherung des Wettbewerbs und zur Förderung von Auslandsinvestitionen; • Einführung von freien, durch den Markt bestimmten Preisen; • Verpflichtung zur Beibehaltung einer marktwirtschaftlichen Politik, zur Reduzierung des Haushaltsdefizits und zur Verhinderung einer Hyperinflation; • Forcierung des Außenhandels, die Einführung einer konvertiblen Währung sowie Dezentralisierung des Entscheidungsprozesses.35 Solche Hinweise fanden Widerhall bei den Verantwortlichen in der estnischen Regierung, die im Grunde auf auswärtige Expertise angewiesen war, 33 34 35
Laar, S. 168. Vgl. Ettmayer, S. 27. Zit. nach Tiusanen, S. 15.
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weil ihnen das notwendige Wissen während der Sowjetzeit schlichtweg nicht zur Verfügung gestanden hatte oder verwehrt wurde.36 Drei Schwerpunkte der estnischen Wirtschaftspolitik lassen sich herauskristallisieren, die seit Wiedererlangung der Staatlichkeit den Aktionsradius aller Regierungen bestimmt haben: Preisfreigabe, Privatisierung und Währungsreform. Letztere fungierte als Kernstück des Umgestaltungsprozesses.37 Am 20. Juni 1992 war Estland das erste Land der ehemaligen Sowjetunion, das aus der Rubel-Zone austrat und sich eine eigene Währung gab, die Estnische Krone (EEK). Dies geschah mit Hilfe der vor 1940 und nun wieder zurückerlangten, in Großbritannien, Schweden und der Schweiz gelagerten Goldbestände. Insgesamt belief sich dieser Bestand auf 11,3 Tonnen, was 1992 einem Wert von 120 Millionen US-Dollar entsprach. Mit dieser und einer zusätzlichen Reserve ausländischer Währungen wurde die Krone gedeckt.38 Nach anfänglichem Unmut erhielt Estlands Regierung bei der Reform auch die Unterstützung von Weltbank und IMF, die dem Land Kredite in Höhe von 30 Millionen beziehungsweise 40 Millionen US-Dollar gewährten. Gekoppelt wurde die Estnische Krone an die Deutsche Mark mit einem festen Kurs von 8:1.39 Abgesehen von einer Unterbewertung der Krone40 hatte deren Einführung überwiegend positive Auswirkungen, weil sie durch eine strikte Fiskalpolitik und Auflagen des IMF abgesichert wurde. Die Inflation konnte nachhaltig zurückgedrängt werden (siehe Tabelle 5 im Anhang), Importe und Exporte wurden kalkulierbarer und das Warenangebot erweiterte sich spürbar. Dabei spielte die Symbolkraft, welche die neue Währung ausstrahlte, eine wichtige Rolle. Neben der nationalen Komponente, die den Menschen Vertrauen in ihre eigene Wirtschaft vermitteln sollte, kam das Signal an die Adresse Moskaus hinzu: Estland würde auf allen Ebenen unabhängig sein! Weitere Reformschritte beinhalteten die Errichtung eines zweisäuligen Bankensektors (Privatbanken und Zentralbank (Eesti Pank)), die Liberalisierung der Preise zuzüglich der Streichung nahezu aller staatlichen Subventionen (bis Ende 1994), die Neustrukturierung des Steuersystems mit der Einführung einer linearen Einkommenssteuer von 26 Prozent (Januar 1994) 36
Vgl. Nørgaard/Johannsen, S. 107. Vgl. Maier, S. 23. 38 Vgl. Smith, S. 117; Laar, S. 47 f. Der Politiker gibt zudem aufschlussreiche Einblicke in die Abläufe der Währungsreform und zeichnet ein nachvollziehbares Bild der Stimmung im Land. 39 Vgl. Smith, S. 118. 40 Schätzungsweise lag diese bei 15 Prozent. Ein Grund dafür ist in den Anreizen für die Exportwirtschaft zu finden. Vgl. Brown, S. 496. 37
II. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen
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und die Privatisierung von Staatsbetrieben.41 Letztere bezog sich zu Beginn vor allem auf kleine und mittlere Unternehmen (KMU). Erst ab 1994 wurde mit dem Verkauf der staatlichen Großbetriebe begonnen. Prinzipiell erhielten auch ausländische Investoren die Chance, Anteilseigner oder Besitzer der Objekte zu werden. Dies schaffte eine günstige Voraussetzung für externes wirtschaftliches Engagement in Estland, was wiederum mitverantwortlich für den ökonomischen Erfolg des Landes war. Gleichwohl sind die Kosten für weite Teile der Bevölkerung hoch ausgefallen. Zwischen 1990 und 2000 lag der Anteil der Personen, denen weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte zur Verfügung standen, laut UN-Angaben bei 12,4 Prozent der Gesamtbevölkerung.42 Als Fazit kann in diesem Zusammenhang festgehalten werden, dass die Esten den Übergang zur Marktwirtschaft und gleichzeitig zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft überzeugend bewältigt haben beziehungsweise auf diesem Gebiet weit vorangeschritten sind. Der niederländische Politikwissenschaftler Wim van Meurs räumt anerkennend ein, dass kaum ein Transformationsland die makroökonomischen Umwälzungen so erfolgreich bewältigt habe wie Estland.43 Seit 1995 weist das Land stabile Wachstumsraten auf,44 was bestätigt, dass die durchgreifenden, mitunter schockartigen Maßnahmen der Anfangsjahre ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Welchen Anteil der Außenhandel respektive die Auslandsinvestitionen diesbezüglich hatten, wird der folgende Abschnitt herausstellen. 2. Umorientierung im Außenhandel Die fünf Jahrzehnte dominierende sozialistische Wirtschaftsordnung strebte die hochgradige Verflechtung der einzelnen Sowjetrepubliken an. Einerseits resultierte daraus deren Spezialisierung auf bestimmte Produktionsbereiche, andererseits wurde einer erhöhten Abhängigkeit einzuführender Waren Vorschub geleistet. Ein wieder unabhängiges, westlich orientiertes Estland sah sich deshalb einer doppelten Herausforderung gegenüber: Nicht nur hatte das Land die Regeln des freien Marktes zu erlernen und anzuwen41
Vgl. Lindpere, S. 133; Nørgaard/Johannsen, S. 132–134. Beim Anlegen einer Armutsgrenze von 120 US-Dollar pro Kopf und Monat beläuft sich der Anteil der estnischen Bevölkerung, der im Laufe der 1990er Jahre unter diese Grenze gefallen ist, auf 37 Prozent. Vgl. Nørgaard/Johannsen, S. 125; United Nations Development Programme (UNDP), S. 151. 43 Vgl. van Meurs (2002), S. 411. 44 Im Jahr 2000 wurde das BIP-Wachstum mit 7,7 Prozent angegeben; für 2001 mit 6,4 Prozent; für 2002 mit 7,2 Prozent und für 2003 mit 5,1 Prozent. Vgl. Bank of Estonia (14.12.2005a). 42
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B. Estland in der Transformationsphase
den, hinzu kam der Auftrag, eine räumlich begrenzte Ökonomie für die Strukturen des Weltmarktes auszustatten, zu welchem die Esten lange Zeit keinen Zutritt hatten.45 Abgesehen davon, dass die Regierung in Tallinn von sich aus die Loslösung vom östlichen Nachbarn Sowjetunion/Russland intendierte, wirkten zahlreiche Faktoren als Katalysator, sich den westlichen Märkten zu nähern. Dafür sprachen beispielsweise die unvorhersehbaren Wirtschaftsverhältnisse in den Nachfolgestaaten der UdSSR, von denen sich die meisten im Dezember 1991 zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zusammengeschlossen haben. Während der Besatzungszeit waren die übrigen Sowjetrepubliken die einzigen Handelspartner Estlands. In diesen Länder geschäftliche Beziehungen aufrechtzuerhalten, hätte ein ökonomisches Wagnis bedeutet. Worauf es in der Nachwendezeit ankam, waren gefestigte und zuverlässige Strukturen zur Vitalisierung der heimischen Wirtschaft. Im Gegenzug konnten die Esten weder ausreichende Investitionen noch den Transfer zukunftsträchtiger Technologien von den einstigen Partnerrepubliken erwarten, die zur Modernisierung ihrer Standorte unabdingbar gewesen wären. Mitverantwortlich für die Neujustierung der Außenhandelsbeziehungen war weiterhin die geringe Größe des estnischen Marktes. Mit weniger Menschen als die Stadt München Einwohner zählt, ist keine Kaufkraft aufzubringen, die für einen florierenden Warenabsatz sorgen könnte. Folglich war eine Ausweitung der Handelszone unausweichlich und von vitalem Interesse, um das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu steigern.46 Begünstigt wurde diese Absicht durch die Lage Estlands an der Ostsee, die in der Landessprache übrigens Läänemeri – Westmeer – heißt. Seit jeher ist dieses Gewässer als eine bedeutende Handelsstraße bekannt, wovon die Spuren der Hanse im gesamten Baltikum zeugen. Nachdem der teilende Eiserne Vorhang verschwunden war, erhielt der Güter- und Personenverkehr zu See zwischen Ost und West neuen Schub. Die Nähe zu den skandinavischen Nachbarn Finnland und Schweden sollte sich dabei als besonders günstig erweisen. Estland kann dank seiner geografischen Position durchaus eine Brückenfunktion einnehmen, die das östliche, nördliche und westliche Europa miteinander verbindet. Neben der weit gehenden Liberalisierung im Lande selbst betrieb die estnische Regierung von Beginn an eine Politik der offenen Tür für ausländische Unternehmer. Vor dem Hintergrund der Desintegration des sowjetischen Marktes und der Auflösung des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) war dieser Schritt folgerichtig,47 obwohl damit sichere 45 46 47
Vgl. Smith, S. 113. Vgl. Tiusanen, S. 4. Vgl. Mygind, S. 225.
II. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen
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Abnehmerländer und Rohstofflieferanten für das ressourcenarme Estland wegbrachen. Die wiedererlangte ökonomische Freiheit sollte fortan durch das Prinzip von Angebot und Nachfrage im Import-Export-Geschäft bestimmt werden – allerdings auch zu Weltmarktbedingungen. Um die estnische Wirtschaft mit der neuen Realität in Einklang zu bringen, bedurfte es einer progressiven Außenhandelspolitik. Bereits im September 1991 wurde das „Gesetz zu Auslandsinvestitionen“ erlassen, was auswärtigen Unternehmern die Partizipation am Privatisierungsgeschehen ermöglichte.48 Potenzielle Investoren konnten und können in allen Sektoren aktiv werden und benötigen dafür lediglich spezifische Lizenzen. Steuerliche Bestimmungen unterscheiden nicht zwischen in- und ausländischen Firmen.49 Darüber hinaus wurden Zölle und Quotenbeschränkungen für Aus- und Einfuhren abgeschafft. Zur Errichtung von Freihandelszonen kam es nicht. Vielmehr wurde das ganze Land zu einer Freihandelszone erklärt, gemäß der Devise, „dass Staaten, die über keine großen Ressourcen verfügen, sich nur durch völlige Offenheit erfolgreich etablieren können.“50 Die von Tallinn initiierten Maßnahmen verfehlten ihre Wirkung nicht. In der Praxis konnten die alten Handelsstrukturen sukzessive abgebaut und gen Westen ausgerichtet werden. 1992 verliefen noch 90 Prozent des Außenhandels in Richtung GUS. 1997 waren es etwas mehr als ein Viertel. Die Europäische Union avancierte Mitte der 1990er Jahre zum Haupthandelspartner, wobei sich deren Anteile am estnischen Export auf knapp 50 Prozent und am Import auf annähernd 60 Prozent beliefen (siehe Tabelle 6 im Anhang). Aufgeschlüsselt nach Ländern gelangte Finnland schnell zu einer führenden Stellung. Bereits 1993 – das Land war noch kein Mitglied der EU – wickelte Estland ein Viertel seines gesamten Handels mit dem nördlichen Nachbarn ab. Hinsichtlich ausländischer Direktinvestitionen (Foreign Direct Investments – FDI) nahm Finnland ebenfalls einen vorderen Platz ein, den es sich mit Schweden teilt.51 Detaillierte Ausführungen werden die entsprechenden Abschnitte in Kapitel C. III. vornehmen, welche die Beziehungen Estlands zu seinen Nachbarstaaten thematisieren. Abschließend bleibt zu resümieren, dass der internationale Handel für ein kleines Land wie Estland nachgerade von substanzieller Bedeutung ist.52 48
Vgl. Borsos/Erkkilä, S. 52 f. Vgl. ebd. 50 Laar, S. 82. 51 Beide Länder hatten im Jahr 1998 einen Anteil von 80 Prozent an der FDI-Gesamtsumme (8,07 Milliarden EEK). Im Jahr 2003 lag ihr Anteil bei 66,7 Prozent (39,2 Prozent – Schweden; 27,5 Prozent – Finnland). Vgl. Smith, S. 125; Kivikari/ Antola, S. 23. 49
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B. Estland in der Transformationsphase
Ausdruck findet dieser Umstand in der gestiegenen Abhängigkeit des BIP von Außenhandel und auswärtigen Investitionen53; die hohen Wachstumszahlen der vergangenen Jahre gründen vor allem auf diesen Tatbestand. An intensiven globalen Wirtschaftsbeziehungen ist den Esten demnach viel gelegen. Doch trifft dies ebenso mit Blick auf das direkte regionale Umfeld, sprich die baltischen Nachbarn zu? Wie sieht es in diesem Zusammenhang mit einer wirtschaftlichen Integration der Ostseeregion aus? 3. Wegbereitung eines baltischen Wirtschaftsraumes In wirtschaftshistorischer Hinsicht kennt die Ostseeregion eine lange Tradition, deren herausragendes Beispiel die mittelalterliche Hanse ist. Mehr als siebzig Städte formierten im späten Mittelalter entlang der Küsten von Nord- und Ostsee eine Handelsliga, die neben dem Warentransfer auch den Kultur- und Wissensaustausch unter den Mitgliedern förderte. Mit Beendigung des Kalten Krieges ging die Hoffnung einher, dass alte Verbindungen wieder aufgenommen werden würden und eine ökonomisch integrierte Ostseeregion entstehen könnte. Solche zum Teil idealisierenden Vorstellungen beruhten weniger auf endogenen denn exogenen Impulsen. Estland, Lettland und Litauen wurden als eine Art zusammenhängendes Gebilde interpretiert.54 In Anbetracht der oft ähnlich verlaufenen Geschichte hat diese Auffassung bis zu einem gewissen Grad ihre Berechtigung. Jedoch genügt das bloße Wunschdenken nicht als Fundament, um ein engeres Miteinander der Balten zu unterstützen. Parallel zum Ende der Existenz als Sowjetrepubliken schwand die Gemeinsamkeit, welche bis dato alle drei Länder vereinte: der Kampf für die Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit. Nachdem dieses Ziel erreicht wurde, rückten die nationale Eigenständigkeit, die Besinnung auf Kultur sowie die Westorientierung in den Vordergrund. Dennoch wären wirtschaftsrelevante Handlungsfelder vorhanden gewesen, deren Einbettung in einen regionalen Kontext der Zusammenarbeit hätte erfolgen können. Grund dafür ist das Entstehen von Problemen grenzübergreifenden Charakters zum Beispiel in den Bereichen der Verkehrsund Umweltpolitik. Ein ausschließlich lokales Vorgehen entspricht auf diesen Gebieten nicht mehr gegenwärtigen Herausforderungen. Um allerdings 52 Dass die einheimische Wirtschaft den eigenen Markt noch nicht zur Genüge versorgen kann, zeigt sich im Außenhandelsdefizit. Zwischen 1994 und 2003 stieg dieses von 4,48 Milliarden EEK auf 27,12 Milliarden EEK. Vgl. Bank of Estonia (14.12.2005a). Bei einem konstanten Wechselkurs von 1 Euro : 15,646 EEK entspricht dies einer negativen Bilanz für 1994 von 286 Millionen Euro und für 2003 von 1,74 Milliarden Euro. 53 Vgl. Hoag/Kasoff, S. 926; Borsos/Erkkilä, S. 60. 54 Vgl. Ozolina, S. 1; Löfgren/Herd, S. 73.
II. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen
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auf die wirtschaftliche Verflechtung mehrerer Märkte zurückzukommen, ist dieser Prozess keineswegs gleichzusetzen mit dem Verlust ihrer Selbstständigkeit. Stattdessen geht es um eine sinnvolle Nutzung von Synergieeffekten zur Stärkung der Region an sich und damit der involvierten Parteien. Daraus ergibt sich eine mögliche Begriffsbestimmung: „Economic integration can be defined as the movement of several countries to enhance their mutual economic ties and leading to the growth of the overall economic activity, spanning national and regional boundaries.“55 Als Voraussetzungen dafür gelten die gesetzliche Harmonisierung des Handelsrechts, liberalisierte Märkte, verfügbare Informationen über externe Märkte, transparente Finanzinstitutionen sowie ein investitionsfreundliches Wirtschaftsklima speziell für ausländische Interessenten.56 In Bezug auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit der baltischen Staaten gab es nach der wiederhergestellten Staatlichkeit zaghafte Ansätze. Dabei lassen sich folgende Entwicklungen rekapitulieren: Im März 1992 kam es nach intensiven Verhandlungen zwischen den drei Regierungen zum Abschluss eines baltischen Freihandelsabkommens (Baltic Free Trade Agreement – BAFTA). Zwei Jahre später konnte es am 1. April 1994 in Kraft treten. Dieses Abkommen beschränkte sich zunächst auf Industrieprodukte. Ein- und Ausfuhrquoten wurden abgeschafft, gleiches galt für Zölle und sonstige Handelshemmnisse. Beaufsichtigt wird die Einhaltung der Vereinbarungen durch einen Gemeinsamen Ausschuss.57 Am 1. Januar 1997 wurde eine Ergänzung des Abkommens effektiv, welche die landwirtschaftlichen Produkte in den Freihandel integrierte. Mit Rücksicht auf die existenziell angespannte Situation der Bauern in den jeweiligen Ländern hatten die Verhandlungen dieses Segment anfänglich ausgeschlossen.58 Laut OECD-Angaben hat das Freihandelsabkommen zwischen den baltischen Ländern am begrenzten Handelsumfang kaum etwas geändert. Für Estland ergab sich zwischen 1995 und 1999 folgende Bilanz: Die Exporte nach Lettland konnten sich lediglich von 7,5 auf 8,8 Prozent steigern. Nach Litauen fielen die Ausfuhren sogar von 4,7 auf 4,0 Prozent zurück. Die Importe aus beiden Ländern verblieben nahezu auf dem gleichen Niveau. 2,0 Prozent der Waren kamen aus Lettland (1999: 2,1 Prozent) und 1,6 Prozent aus Litauen (1999: 1,5 Prozent).59 Zurückzuführen ist das geringe Volumen des intrabaltischen Warenverkehrs auf die ähnliche ökonomische Basis der Länder als Hinterlassenschaft der sowjetischen Wirtschaftsordnung. Intensi55 56 57 58 59
Alter/Malyshev, S. 10. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. OECD – Centre for Co-operation with Non-Members, S. 185. Vgl. ebd., S. 187. Vgl. ebd., S. 186.
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B. Estland in der Transformationsphase
ver verliefen die wirtschaftlichen Beziehungen zu den nordischen Staaten, wie bereits im vorhergehenden Abschnitt festgestellt wurde. Hierzu haben vor allem die zwischen 1992 und 1993 abgeschlossenen Freihandelsabkommen mit Schweden und Finnland beigetragen. Diese Vereinbarungen wurden nach dem Beitritt dieser Länder zur Europäischen Union 1995 beibehalten. Außerdem vereinbarten Tallinn, Riga und Vilnius mit der EU Freihandelsverträge, die am 1. Januar 1995 in Kraft traten.60 Damit erschloss sich den Balten Zugang zum Wirtschaftsraum der fünfzehn EU-Staaten, was die eigene Wirtschaftszone weniger attraktiv erscheinen ließ und den innerbaltischen Handel eher geschwächt haben dürfte. Hier steht die Vermutung im Raum, dass sich die baltischen Länder eher als Konkurrenten wahrgenommen haben. Alle drei hatten den erklärten Wunsch, zum schnellstmöglichen Zeitpunkt der Union beizutreten. Obwohl ein geeintes Auftreten ihnen Vorteile verschafft hätte, fanden sie sich in einem Wettbewerb um die günstigste Verhandlungsposition wieder. Letzten Endes sind Estland, Lettland und Litauen am 1. Mai 2004 gleichzeitig Mitglieder der EU geworden, doch konstituierten sie auf dem Weg dahin keine regionale Einheit. Die Schaffung eines intrabaltischen Wirtschaftsraumes innerhalb der EU ist von der Tagesordnung verschwunden. Ob diese Behauptung für andere Bereiche ebenfalls zutrifft, die mittels Kooperation zum Vorteil aller Beteiligten gestaltet werden könnten, werden die nachfolgenden Kapitel anhand der estnischen Außenpolitik und des politischen Vorgehens speziell in der Ostseeregion überprüfen.
60
Vgl. ebd., S. 189.
C. Go West! Die Außenpolitik Estlands Als im August 1991 die Wiedererrichtung der estnischen Unabhängigkeit vollzogen wurde, bedeutete dieser Schritt nicht nur eine Neuordnung der innenpolitischen Verhältnisse, sondern tangierte gleichermaßen die Außenpolitik. Die vollständige Loslösung von Moskau musste konsequenterweise mit dem Aufbau eines eigenständigen außenpolitischen Apparates demonstriert werden. Schließlich drückt sich die Souveränität eines Staates auch in der Formulierung von Prioritäten hinsichtlich seines internationalen Agierens aus, das in Eigenregie und nicht durch Fremdbestimmung bewerkstelligt werden soll. Die folgenden Abschnitte werden sich auf das Erscheinungsbild der estnischen Außenpolitik konzentrieren. Bevor konkrete Inhalte in den Mittelpunkt rücken, werden vorab gesetzliche Zuständigkeiten und Rahmenbedingungen erläutert.
I. Institutionalisierung der Außenpolitik 1. Verfassungsrechtliche Bedingungen und Zuständigkeiten Mit der endgültigen Okkupation Estlands durch die Sowjetarmee im Jahr 1944 wurden seine Beziehungen zur Staatenwelt gekappt. Fortan legte die Führung der Sowjetunion die Koordinaten auswärtiger Politik fest, was sowohl die personelle Besetzung als auch die inhaltliche Ausrichtung erfasste. Zwar konnten die Sowjetrepubliken eigene Außenministerien unterhalten, doch besaßen diese lediglich eine symbolische Funktion: die eigentliche Schaltzentrale lag im Kreml. Die baltischen Scheinministerien verfügten über ein zu vernachlässigendes Personaltableau von nie mehr als fünf bis sechs Mitarbeitern, was die Kontakte zum Ausland naturgemäß limitierte. Darüber hinaus dienten jene Einrichtungen als Tarnorganisationen des sowjetischen Auslandsgeheimdienstes KGB (Komitet Gosudarstvennoi Bezopasnosti – Komitee für Staatssicherheit).1 Eine völlige Umstrukturierung der Verwaltung sowie eine Neuverteilung der Aufgabenbereiche wurden nach den August-Ereignissen von 1991 unausweichlich. Die ersten selbstständigen außenpolitischen Unternehmungen initiierte Estland noch unter dem Vorzeichen einer sozialistischen Sowjetrepublik. 1
Vgl. Vares (1993), S. 3.
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C. Go West! Die Außenpolitik Estlands
Angestrebt wurde in erster Linie eine engere Kooperation mit den zwei übrigen baltischen Republiken.2 Nach der wiederhergestellten Eigenständigkeit erfolgte im Sommer 1991 eine Bestandsaufnahme, welche die Defizite des außenpolitischen Dienstes in aller Deutlichkeit aufzeigte. Hinsichtlich der nötigen Wissensgrundlagen und unabdingbaren Ressourcen herrschte eine akute Mangelsituation. Estland war im Grunde nicht in der Lage, seine Geschicke im internationalen Umfeld angemessen leiten zu können.3 Angesichts der fünf Jahrzehnte währenden politischen Konstellation ist dieses Urteil verzeihlich. Woher hätten schließlich Gelder, qualifizierte Mitarbeiter und funktionierende Strukturen kommen sollen, wenn die eigenverantwortliche Gestaltung der Außenpolitik erst eine Sache weniger Tage und Wochen war? Bei der Besetzung diplomatischer Posten erfuhr die Regierung Unterstützung seitens westlicher Exil-Esten, wobei vor allem deren Sprachkenntnisse den Ausschlag für eine Anstellung gaben.4 Gleichwohl konnten damit allgemeine Unerfahrenheit und Inkompetenz in außenpolitischen Angelegenheiten nur unzureichend kompensiert werden. Die strukturelle Knappheit, welche sich zum Beispiel in der geringen Zahl der im Ausland unterhaltenen Botschaften ausdrückt, stellt für die kleine Ostseerepublik auch heute noch eine organisatorische und administrative Herausforderung dar.5 Im Zuge der Ausarbeitung einer Verfassung musste sich für die politisch Handelnden in Tallinn die Frage stellen, wer sich für die Außenpolitik verantwortlich zeigen konnte und wer darin angesiedelte Entscheidungen beeinflussen durfte. In der im September 1992 angenommen Konstitution der Republik Estland regelt Kapitel IX (§§ 120 bis 123) die Zuständigkeiten mit Blick auf die Außenbeziehungen und internationalen Vereinbarungen.6 Zusätzliche Bestimmungen sind im „Gesetz über die Auswärtigen Beziehungen“ (Välissuhtlemisseadus) verankert.7 Auf dessen Grundlage können das Parlament, die Regierung, das Außenministerium inklusive der Außenvertretungen sowie weitere Ministerien und Regierungseinrichtungen am außenpolitischen Prozess partizipieren.8 2 Am 12. April 1990 kam es zur Unterzeichung eines „Abkommens zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Lettland, Litauen und Estland“. Als historisches Vorbild fungierte diesbezüglich die am 12. September 1934 zu Stande gekommene „Erklärung zur Einheit und Zusammenarbeit“ der drei Baltenstaaten. Eine weitere Maßnahme zielte auf die Ausbildung von Personal für den diplomatischen Dienst. Im Januar 1990 wurde die „Estnische Diplomatenschule“ in Tallinn eröffnet. Vgl. ebd., S. 4 und 11. 3 Vgl. ebd., S. 5. 4 Vgl. ebd., S. 6. 5 Vgl. Schmidt, S. 96. 6 Vgl. The Republic of Estonia (2001), § 121 (1) bis (5). 7 Vgl. The Republic of Estonia (2003). Für eine ausführliche Diskussion des Gesetzes siehe: Uibopuu, S. 255–280.
I. Institutionalisierung der Außenpolitik
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a) Kompetenzen der Staatsversammlung Verordnungen und Gesetze mit außenpolitischer Referenz müssen von der estnischen Legislative, der Staatsversammlung (Riigikogu), angenommen werden. Die Ratifikation internationaler Verträge gehört ebenfalls zu ihrem Kompetenzkatalog. Darunter fallen beispielsweise Abkommen, welche die Staatsgrenze verändern oder in deren Folge militärische und anderweitige Verpflichtungen entstehen.9 Des Weiteren ist das Parlament dazu angehalten, mit gleichrangigen Organen anderer Staaten respektive interparlamentarischen Organisationen Beziehungen zu knüpfen sowie parlamentarische Delegationen zu bilden.10 In den Verantwortungsbereich der Volksvertreter fällt ebenso, der Entsendung estnischer Streitkräfte im Rahmen internationaler Verpflichtungen zuzustimmen.11 b) Kompetenzen des Staatspräsidenten Der Präsident ist estnisches Staatsoberhaupt und vertritt sein Land in den internationalen Beziehungen.12 Kraft seiner überwiegend repräsentativen Pflichten kann er als ranghöchster Diplomat seines Landes bezeichnet werden, indem er der Republik Estland auf internationaler Bühne ein Gesicht verleiht. Zu den präsidentiellen Aufgaben gehören die Unterzeichnung der vom Parlament ratifizierten internationalen Verträge, die Akkreditierung ausländischer Botschafter in Estland und die Ernennung estnischer Diplomaten.13 Darüber hinaus erfüllt der Präsident die Funktion des Obersten Befehlshabers (Supreme Commander) der nationalen Verteidigungskräfte, wodurch er allein den Kriegszustand erklären und die Mobilisierung anordnen kann.14 8
Vgl. The Republic of Estonia (2003), Kapitel 2 § 4. Vgl. The Republic of Estonia (2001), § 121; The Republic of Estonia (2003), § 5 (1) 1) und 2). 10 Vgl. The Republic of Estonia (2003), § 5 (1) 4). Estnische Abgeordnete nehmen an der interparlamentarischen Arbeit acht internationaler Organisationen teil, darunter die parlamentarischen Versammlungen des Europarates, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der NATO und der Westeuropäischen Union (WEU). Vgl. Jaani. 11 Vgl. The Republic of Estonia (2003), § 5 (1) 5). 12 Vgl. The Republic of Estonia (2001), Chapter V, §§ 77 und 78; The Republic of Estonia (2003), § 6. 13 Vgl. The Republic of Estonia (2003), § 6 3) und 4). 14 In Friedenszeiten übernimmt der Befehlshaber der Verteidigungskräfte (Commander of the Defence Forces) die Führung über die nationalen Verteidigungskräfte und -organisationen. Im Falle eines Krieges wird diese Funktion vom Oberbefehls9
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C. Go West! Die Außenpolitik Estlands
c) Kompetenzen der Regierung Laut § 87 (1) estnischer Verfassung ist die Regierung die wichtigste außenpolitische Instanz des Landes.15 Das näher bestimmende Gesetz führt weiterhin aus, dass die Unterhaltung von Beziehungen zu anderen Staaten vorwiegend Aufgabe des Außenministeriums ist. Internationale Verträge und Gesetzesvorhaben von außenpolitischer Relevanz müssen der Staatsversammlung zur Lesung und Ratifikation vorgelegt werden. Zusätzliche Pflichten bestehen in der Formulierung außenpolitischer Richtlinien und entwicklungspolitischer Prinzipien sowie in der Entsendung von Delegationen zur Vertretung in internationalen Organisationen.16 Der Premierminister dirigiert die außenpolitischen Aktivitäten der Regierung und vertritt Estland in den internationalen Beziehungen.17 d) Kompetenzen des Außenministeriums In Ergänzung der bereits erwähnten Verpflichtungen des Außenministeriums werden weitere Handlungsbefugnisse gesetzlich festgehalten: Wesentliche Ziele in Sachen Außenwirtschafts- und Sicherheitspolitik werden in Absprache mit den betreffenden Ministerien ausgearbeitet. Die interministerielle Zusammenarbeit ist ein Charakteristikum der estnischen Außenpolitik und rührt nicht zuletzt von den knappen verwaltungstechnischen Kapazitäten des Landes.18 Zudem ist das Außenministerium für die Koordinierung der Beziehungen zu und für die Mitwirkung in internationalen Organisationen zuständig, wobei die tragende Rolle der zuständige Minister beziehungsweise die Ministerin übernimmt.19 Nachdem das gesetzliche Rahmenwerk und die Verantwortlichkeiten der estnischen Außenpolitik einführend dargestellt wurden, richtet sich das Augenmerk im Folgenden auf deren inhaltliche Ausgestaltung. Dabei lauten die leitenden Fragen, welche Ideen und Motive die außenpolitischen Säulen konstituieren, womit diese sich begründen lassen und welchen Kurs Estland seit der wiederhergestellten Eigenstaatlichkeit verfolgt hat. haber der Verteidigungskräfte (Commander-in-Chief of the Defence Forces) ausgeübt. Vgl. The Republic of Estonia (2001), § 78 (16) und (18) sowie § 127. 15 Vgl. ebd., § 87 (1). 16 Vgl. The Republic of Estonia (2003), § 7 (1) 1) bis 3), 5) und 6). 17 Vgl. ebd., § 7 (2). 18 Vgl. Schmidt, S. 95. Einen Überblick über die Struktur des estnischen Außenministeriums und seiner thematischen Abteilungen skizziert Schmidt unter Berücksichtigung interner Quellen. Vgl. ebd; zur Übersicht dient Abbildung 4 im Anhang. 19 Vgl. The Republic of Estonia (2003), § 8 (1) 1) bis 5) und (2).
I. Institutionalisierung der Außenpolitik
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2. Grundzüge und Prämissen der Außenpolitik Das Faszinierende an der Auseinandersetzung mit der estnischen Außenpolitik der jetzigen Republik sind die Parallelen zum Prozess des Erwachsenwerdens: Schritt für Schritt findet die Entdeckung und Erweiterung des Bewusstseins in Interaktion mit der Umwelt statt. Kennzeichnend ist weiterhin der zunehmende Grad an Verantwortung sowie das Nachdenken über Lebensentwürfe und Zukunftsfragen. Ähnliches, wenn auch selbstredend auf anderer Ebene, gilt für Estland seit Sommer 1991. In außenpolitischer Hinsicht war nach Jahrzehnten der Bevormundung durch Moskau ein Selbstfindungs- und Emanzipationsprozess nachgerade verpflichtend. Nur dadurch konnten tragfähige Zielvorstellungen – sowohl regionalen als auch globalen Charakters –, die die künftige Rolle des Landes betreffen, definiert werden. Zwar ist für einen Kleinstaat wie Estland ein eingeschränktes Vorgehen in der auswärtigen Politik auf Grund der Signifikanz externer Faktoren ein Faktum. Dennoch bestand bei der Rückgewinnung der Souveränität kein Zweifel: das Land wollte nicht mehr das Dasein eines Randstaates im Nordosten Europas fristen, sondern integraler Bestandteil des Kontinents sein.20 Dazu bedurfte es eines Wandels in der Selbst- und Fremdwahrnehmung – weg vom Image eines ehemaligen Mitglieds des Ostblocks, hin zur europäischen Familie! Eine gängige Begründung für diese Haltung findet sich in den Worten der von 2002 bis 2005 amtierenden Außenministerin Kristiina Ojuland, die die Essenz der Außenpolitik ihres Landes wie folgt darlegt: „The nature of the Estonian Republic’s foreign policy is determined by our history, culture, and geographic location; by the fact that we are part of the cultural sphere, which adheres to Occidental values and an Occidental conception of the world (. . .).“21
Die Westorientierung und die damit verbundene Zugehörigkeit zum westlichen Institutionengefüge gelten als tragende Säulen der estnischen Außenpolitik. Ein solches Selbstverständnis offenbart zugleich innenpolitische Aspekte, schließlich sollte die Annäherung an den Westen wirtschaftliches Wachstum, Wohlstand und Sicherheit symbolisieren.22 Demgemäß liegt eine Verknüpfung interner und externer Problemfelder vor, hatte sich die Regierung doch „zum einen an der Absicherung der staatlichen Unabhängigkeit und territorialen Integrität und zum anderen an den inneren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen“23 zu orientieren. 20 21 22 23
Vgl. Kangeris, S. 33. Ojuland (2002c). Vgl. Kangeris, S. 33. Waitz von Eschen, Friedrich Frhr., S. 946.
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C. Go West! Die Außenpolitik Estlands
Diese Gleichzeitigkeit von Aufgaben nimmt bei näherem Hinschauen scheinbar widersprüchliche Züge an: Um die staatliche Souveränität Estlands gewährleisten zu können, bedurfte es der institutionellen Einbindung in das internationale System. Die dadurch frei werdenden Wechselbeziehungen beeinflussten wiederum die Souveränität des Nationalstaates.24 Vor dem Hintergrund der wechselvollen estnischen Geschichte schwindet allerdings jeglicher Widerspruch. Eine feste Verankerung sowohl auf der internationalen Akteurs- als auch auf Vertragsebene schafft gewollte Interdependenzen, die dem Sicherheitsbedürfnis der Esten Rechnung tragen. Die Formel, „je geringer der Grad der Integration in die internationale Völkergemeinschaft ist, desto weniger werden sich andere Staaten für sein Fortbestehen im Falle einer Bedrohung einsetzen“,25 besitzt konsequenterweise für die kleine Ostseerepublik ihre Relevanz. Internationale Organisationen offerieren ihren Mitgliedern nicht nur Kommunikations- und Informationsforen, sondern treten auch als Streitschlichtungsinstanzen auf. Folglich können einerseits verschiedene Interessen zur Sprache gebracht und andererseits zwischenstaatliche Streitigkeiten internationalisiert werden. Das größte zur Verfügung stehende Forum in diesem Kontext sind die Vereinten Nationen (United Nations – UN) und ihre Unterorganisationen. Den Antrag auf UN-Mitgliedschaft stellte die estnische Regierung am 30. August 1991. Zusammen mit Lettland und Litauen erlangte Estland am 17. September 1991 auf der 46. Tagung der Generalversammlung den Status eines Vollmitglieds.26 Mit diesem Schritt kehrte die estnische Republik zur internationalen Gemeinschaft zurück, der sie nach 1945 de jure weiterhin angehört hat.27 Damit unterstrich die UN-Mitgliedschaft den Grundsatz der historisch-politischen Kontinuität Estlands, den weite Teile der politischen Elite ihrem Handeln als Leitmotiv zu Grunde legten. Eine weitere Mitgliedschaft erfolgte bis zum Ende des Jahres 1991 mit der Aufnahme in die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die 1995 in eine Organisation (OSZE) überführt wurde. Das Mitwirken in diesem Gremium war für Tallinn deshalb von Belang, weil es 24
Vgl. Kuus, S. 398. Schmidt, S. 21. 26 Vgl. Waitz von Eschen, S. 949. 27 Die Republik Estland wurde am 22. September 1921 in den Völkerbund aufgenommen. Auf Grund der Völkerrechtswidrigkeit der deutschen und anschließenden sowjetischen Okkupation hörte Estland „nur“ de facto auf, zu existieren. Wären die Nachkriegsentwicklungen ausgeblieben oder anders verlaufen, würde Estland gewiss ein Gründungsmitglied der Vereinten Nationen gewesen sein. Für eine tiefgründige Analyse der völkerrechtlichen Frage siehe das Standardwerk von Boris Meissner (1956). 25
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sich um ein wichtiges gesamteuropäisches Instrument präventiver Diplomatie handelt.28 Estland vermochte dadurch seine Vorstellungen von Sicherheit zu internationalisieren, was speziell im Hinblick auf seinen russischen Nachbarn entscheidend war. Allerdings geriet das Land nun selbst ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Dafür verantwortlich war die Situation der russischsprachigen Minderheit, deren rechtliche Stellung nicht westlichen Standards entsprochen hatte.29 Eine nähere Auseinandersetzung mit dieser komplexen Thematik kann hierbei aber nicht zum Gegenstand werden.30 Am 14. Mai 1993 ergänzte die Vollmitgliedschaft im Europarat die Institutionalisierung estnischer Außenpolitik. 1991 erhielt das Land bereits den Status eines „special guest“31 in Straßburg. Estland bekam dadurch die Möglichkeit, auf europäischer Ebene für seine Belange einzutreten. Gleichzeitig demonstrierte der Beitritt den Wunsch nach Öffnung in zweifacher Hinsicht: Sowohl Estland als auch Europa (in erster Linie die damalige Europäische Gemeinschaft (EG)) sollten sich verstärkt aufeinander zu bewegen. Die im Laufe der Jahre durch Tallinn unterzeichneten Konventionen des Europarates sind im Lichte der europäischen Integration zu betrachten. Herstellung und Aufrechterhaltung europäischer Wertvorstellungen in den Bereichen Demokratie, Menschenrechte und kultureller Akzeptanz bedeuteten nicht zuletzt, sich auf eine Aufnahme in die Gemeinschaft/Union vorzubereiten.32 Die oben zusammengefasste inhaltliche Dimension estnischer Außenpolitik bezog sich vor allem auf die Phase unmittelbar nach Wiedergewinnung der Souveränität. Nachstehend werden inhaltliche Hauptelemente herausgegriffen, welche die außenpolitische Kontinuität Tallinns hervorheben.
28 Am 10. September 1991 erfolgte die Aufnahme in die KSZE. Vervollständigt wurde dieser Schritt durch die Unterzeichnung der Helsinki-Schlussakte sowie der Charta von Paris am 15. Oktober 1991 beziehungsweise am 6. Dezember 1991. Vgl. Schmidt, S. 271. 29 Auf Drängen Moskaus wurde am 15. Februar 1993 eine OSZE-Mission in Estland eröffnet, welche die Behandlung der Minderheitenfrage zu ihrer Aufgabe machte. Neben der bloßen Recherche standen die OSZE-Mitarbeiter der estnischen Regierung und den Behörden in Gesetzesangelegenheiten beratend zur Seite. Im Dezember 2001 stellte die OSZE ihre Arbeit in Estland ein, die Vorwürfe Moskaus konnte sie nicht bestätigen. Vgl. Schmidt, S. 272; Tiido (2002), S. 18. 30 Siehe zu dieser Thematik Sarv. 31 EMFA (2004a). 32 Vgl. EMFA (2001c); Aare, S. 44.
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a) Außenwirtschaftspolitik Die Außenwirtschaftspolitik nimmt für die estnische Regierung einen hohen Stellenwert ein. Verantwortlich dafür sind die Abhängigkeit der Binnenwirtschaft von ausländischem Kapital sowie die anhaltende Nachfrage nach Importgütern. Es bleibt zu vermuten, dass das Außenhandelsdefizit in absehbarer Zeit nicht in einen Überschuss umgewandelt werden kann. Dazu sind weitere Investitions- und Qualitätssteigerungen in der estnischen Wirtschaft erforderlich. Um jedoch die zu Grunde liegende auswärtige Wirtschaftspolitik zu charakterisieren, bietet sich die Vergegenwärtigung der geografischen Lage als Hilfestellung an. Nach Auffassung von Valve Kirsipuu gleicht die außenwirtschaftliche Orientierung Estlands einer konzentrischen Ausdehnung: Zuvörderst würde die Ostseeregion ins Blickfeld geraten, woraus ein überwiegend balto-skandinavischer Fokus resultiere. Ein zweiter Kreis erstreckte sich dann auf Westeuropa, bevor in einem dritten Aktionsfeld Beziehungen zu anderen wichtigen Industriestaaten subsumiert würden.33 Seit 1991 ist das Land fast zwanzig internationalen Organisationen der Finanz- und Wirtschaftswelt beigetreten,34 wobei speziell die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (World Trade Organization – WTO) hervorzuheben ist. Die estnische Wirtschaftspolitik ist seit Beginn der Transformationsphase auf eine umfangreiche Liberalisierung ausgerichtet. Den Erfolg dieser Strategie belegen Evaluierungsstudien, die Estland ein hohes Maß an ökonomischer Freiheit zuschreiben.35 Im internationalen Wettbewerb kann dies einen ausschlaggebenden Standortvorteil bedeuten. Für die estnische Wirtschaft heißt Liberalisierung im Umkehrschluss, dass sie auf stabile Handelsbeziehungen angewiesen ist, damit ein reibungsloser Warenaustausch im globalen Kontext stattfinden kann. Der Wunsch nach Absicherung durch das Regelwerk der WTO war daher folgerichtig. 1994 begannen die Aufnahmeverhandlungen mit der Welthandelsorganisation. Fünf Jahre später, am 21. Mai 1999, stimmte der WTO-Generalrat für einen Beitritt Estlands.36 Aus Sicht des damaligen Außenministers Toomas Hen33
Vgl. Kirsipuu, S. 72. Dazu zählen unter anderem die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (beide am 27. April 1992) und die Food and Agriculture Organization (FAO) der Vereinten Nationen. Vgl. Ilves (1998b); Schmidt, S. 276. 35 Einen zuverlässigen Indikator liefert die Untersuchung der Heritage Foundation, deren Index in Zusammenarbeit mit dem Wall Street Journal erstellt wird. Im Jahr 2003 rangierte Estland auf Platz 6 von 155 bewerteten Staaten. Vgl. The Heritage Foundation. 36 Vgl. World Trade Organization. Nachdem das estnische Parlament die entsprechenden Verträge ratifiziert hatte, wurde Estland am 13. November 1999 WTO-Mitglied. Vgl. Schmidt, S. 276. 34
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drik Ilves signalisiert diese Mitgliedschaft offiziell, dass Estland die Regeln des internationalen Handelns akzeptiert37 (selbst wenn dies bereits im Vorfeld Praxis gewesen war). Hinsichtlich ausländischer Direktinvestitionen fällt eine solche Begründung besonders ins Gewicht, da das Land für ein sicheres Wirtschaftswachstum auf externes Kapital angewiesen bleibt. Zusätzliche Gründe für den WTO-Beitritt waren die Möglichkeit, das Schiedsgericht der Organisation als Streitbeilegungsinstanz anzurufen, auf ein Netzwerk zahlreicher Informationszentren zurückgreifen zu können und infolge der anerkannten WTO-Handelsabkommen gleichzeitig Bestandteile von EU-Regularien zu implementieren.38 Um die Integration in die Weltwirtschaft zu festigen und auszubauen, bedarf es aus estnischer Sicht neben der WTO-Mitgliedschaft zusätzlich den Beitritt zur Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organization for Economic Co-operation and Development – OECD).39 b) Entwicklungspolitik Estlands Weg in die erneute Unabhängigkeit, der sich anschließende Übergang zur freien Marktwirtschaft und die tief greifende politische Reformierung sind als überwiegend erfolgreich zu bezeichnen. Auf dieser positiven Bilanz will sich die estnische Regierung nicht ausruhen, sondern ihre Erfahrungen weiterreichen. Dies geschieht zum Beispiel mittels entwicklungspolitischer Programme. Seit 1998 markiert die Entwicklungszusammenarbeit (Entwicklungshilfe und humanitäre Unterstützung) einen integralen Bestandteil estnischer Außenpolitik.40 Verantwortlich für Gestaltung und Umsetzung dieses Politikfeldes ist das Außenministerium. Im Jahr 2003 sah der Regierungshaushalt ein Volumen von annähernd sieben Millionen EEK (0,03 Prozent des BIP) für Projekte in diesem Bereich vor.41 Selbst wenn dieser Betrag gering erscheinen mag, ist die bloße Möglichkeit Estlands, einen Beitrag für die internationale Gemeinschaft zu leisten, anerkennenswert. Entwicklungspolitisches Engagement hilft der Empfängerseite und dem Renommee der Geber zu gleichen Teilen. Die Esten haben ein starkes Interesse, dass auf internationaler Ebene Notiz von ihnen genommen wird – und zwar in positiver Hinsicht. Voraussetzung dafür sind Wille und Fähigkeit, andere an den eigenen materiellen und ideellen Ressourcen teil37 38 39 40 41
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Ilves (1999b). ebd. Ilves (2000a). EMFA (2002a), S. 37. EMFA (2004b), S. 39.
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haben zu lassen und damit gewiss auch Partner zu gewinnen. Zur Gruppe der Geberstaaten zählt Estland seit 1999.42 Das Prinzip von good governance ist in der estnischen Entwicklungspolitik bestimmend. Entsprechend wird darauf hingewiesen, dass entwicklungspolitischer Erfolg nicht nur von den Ausgaben der Geberseite abhängig ist, sondern gleichsam von der „capability to use the aid rationally for proper purposes.“43 Seine wesentlichen Handlungsmotive im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit sieht das Außenministerium in der weltweiten Gewährleistung von Frieden, Demokratie und Menschenrechten sowie in der Armutsbekämpfung im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung.44 Konkretisiert werden diese recht allgemeinen Grundsätze in Seminaren und Trainings, die Wissen über wirtschaftliche und soziopolitische Transformationsprozesse vermitteln. Weil Estland mit Blick auf Entwicklung und Verbreitung moderner Informationstechnologien mittlerweile eine Vorbildfunktion innehat, ist die Regierung an der Weitergabe diesbezüglicher Kenntnisse interessiert. Von den angeführten Tätigkeitsfeldern konnten in vergangen Jahren besonders Albanien, Georgien und die Ukraine profitieren.45 c) Sicherheitspolitik Für Kleinstaaten wie Estland gehen außenpolitische Anstrengungen zu einem gewichtigen Anteil mit den Interessen der Sicherheitspolitik einher. Die Garantie nationaler Sicherheit „will remain the most important longterm foreign policy priority of the Government“46, gab Außenminister Ilves wiederholt zu verstehen. Ausgangspunkt für eine kurz gefasste Analyse der Sicherheitspolitik Estlands ist sein geopolitisches Umfeld, wenngleich historische Faktoren eine ebenbürtige Rolle spielen. Allerdings verdeutlicht der Blick auf die Landkarte weitaus schneller das Wesen des estnischen Sicherheitsbedürfnisses: Schutz vor Russland! Die Esten befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer Regionalmacht, zu deren Machtbereich sie einst (ungewollt) zählten. Die zurückerhaltene Unabhängigkeit zu bewahren und nicht abermals in machtpolitischen Entscheidungen mit fatalen Konsequenzen übergangen zu werden, begründet diese Haltung und folglich die Westorientierung (auf das Verhältnis zur Russischen Föderation wird gesondert eingegangen). Estland war somit an einer Internationalisierung sei42
Das OECD Development Assistance Committee (DAC) listet Estland seit seinem Bericht von 1999 in der Geber-Kategorie auf. Vgl. EMFA (2004g). 43 Ojuland (2002a). 44 Vgl. EMFA (2003a). 45 Vgl. EMFA (2001a); Vgl. EMFA (2004c). 46 Ilves (1999c).
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ner Bedrohungswahrnehmung interessiert, infolgedessen die Aufnahme in die wichtigsten internationalen Organisationen als außenpolitisches Ziel proklamiert wurde. Nach dieser Lesart könne allein die Verankerung im westlichen Bündnissystem für Sicherheit und Stabilität im geografischen Umfeld Estlands Sorge tragen – eine definitive Gewähr werde es jedoch nicht geben können.47 Grundlage für das Vorgehen in sicherheitspolitischen Belangen bilden die beiden Konzepte zur nationalen Sicherheit, die das Außenministerium in Zusammenarbeit mit weiteren Ministerien erstmals im Jahr 2001 und wiederholt im Jahr 2004 erarbeitet hat.48 Als Ziele von höchster Priorität werden darin die Einhaltung territorialer Integrität und Souveränität Estlands, die Förderung nationalen Wohlstands, die Bewahrung estnischer Kultur, Sprache und Identität sowie die Ausweitung internationaler Zusammenarbeit in einer sich globalisierenden Welt festgeschrieben. Um diese sicherheitspolitischen Vorstellungen umsetzen zu können, müssen interne Stabilität, die sich auf die gesamte Ostseeregion ausbreiten soll, sowie eine feste Einbindung in die euro-atlantische Sicherheitsarchitektur gewährleistet sein.49 An diesen Bedingungen wird deutlich, dass Estland an einer politischen Umgebung interessiert ist, die vorhersehbaren und kooperativen Abläufen unterliegt. Gleichzeitig verweisen die Aussagen auf das Sicherheitsbedürfnis der Esten. Als Kleinstaat mit begrenzten Ressourcen in jedweder Hinsicht kann Estland nur auf eine größtmögliche Sicherheitszone setzen, die bereits vor der Haustür beginnt. Eine genauere Einschätzung der genannten Zielsetzungen wird unter der Berücksichtigung potenzieller Gefahrenquellen möglich. Beispielsweise trägt die Kategorie neue Sicherheitsrisiken der Bedeutung externer Bedrohungen Rechnung, die zum großen Teil nicht-militärischen Ursprungs sind. Aufgeführt werden etwa ethnische Konflikte, Umweltprobleme, die Internationale Organisierte Kriminalität (IOK), der Internationale Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen.50 Ferner können ökonomische Risiken wachsende Instabilität erzeugen. Hierbei spielt die Abhängigkeit von Energieimporten eine herausragende Rolle. Russische Erdgasproduzenten, die quasi als Monopollieferanten auftreten, sowie die Verflechtung der estnischen und russischen Stromsysteme gelten auf lange Sicht hin als Risikofaktoren.51 47
Vgl. Lange (1995b), S. 135. Vgl. EMFA (2001e); EMFA (2004f). Da die gesamte Arbeit den Zeitraum bis zu den Beitritten in NATO und EU berücksichtigt, wird das letzte Sicherheitskonzept vernachlässigt, weil es vornehmlich Estlands Status als EU- und NATO-Mitglied betont. 49 Vgl. EMFA (2001e), S. 5. 50 Vgl. ebd., S. 9. 48
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Weitere Ausführungen betreffen konkrete sicherheitspolitische Maßnahmen im Rahmen der Einbindung in NATO und EU. Beide Mitgliedschaften und die im Vorfeld stattfindenden Beitrittsprozesse bilden in der Außenpolitik Estlands ein komplementäres Gefüge,52 wobei insbesondere harte und weiche Sicherheitsfaktoren in Ergänzung zueinander stehen. Die kommenden Abschnitte werden die Aufnahme Estlands in EU und NATO eingehender untersuchen und klären, warum diese Institutionen von immanenter Wichtigkeit für die estnische auswärtige Politik sind. Damit erhalten die bisher theoretisch dargelegten außenpolitischen Prämissen eine praktische Veranschaulichung.
II. Estlands Westintegration in der Praxis 1. Rückkehr nach Europa: Beziehungen zur Europäischen Union Beim Studium öffentlich zugänglicher Dokumente des Außenministeriums (Reden, Stellungnahmen und Sicherheitsstrategien) wird schnell offenbar, welche Pfeiler das Gerüst der Außenpolitik tragen: Mit der Loslösung vom sowjetischen Einflussbereich begann für die estnische Republik die Rückkehr nach Europa, wobei die Europäische Union und das Nord-Atlantische Verteidigungsbündnis als verlässliche Wegweiser in Erscheinung traten. Nach der wiederhergestellten Eigenständigkeit bestand für die Esten kein Zweifel daran, dass die Zugehörigkeit zu diesen Organisationen das Überleben ihrer Nation sichern würde.53 Unmissverständlich manifestiert sich in ihnen Estlands Strategie der Westintegration. Jene außenpolitische Orientierung gründet auf einem inhärenten Zugehörigkeitsgefühl zum Westen verstärkt durch Vorurteile gegenüber Russland, sowie auf die Erwartung finanzieller Unterstützung und ökonomischer Verflechtung.54 Charakteristisch für die estnische Außenpolitik ist ihre inhaltliche Kontinuität selbst bei wechselnden politischen Konstellationen. Aus Sicht eines Kleinstaates wirkt dieses Vorgehen verständlich, da nur durch kohärentes und zuverlässiges Agieren auf internationaler Ebene überhaupt Notiz von ihm genommen wird. Auf Grund ihrer begrenzten administrativen und finanziellen Möglichkeiten konzentrierte sich die estnische Republik auf zwei außenpolitische Säulen, wobei die „Rückkehr nach Europa“ als Leitmotiv wirkte. Der Analyst Peeter Vares begründet dieses Streben mit „Estonia’s geographic parameters, its Western cultural heritage, and the nostalgic 51 52 53 54
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
ebd. Ilves (1997b). Gobinš u. a., S. 115; Vihalemm, S. 135. \ Vares (1993), S. 12.
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dream to go back from where the country was ousted by the USSR in 1940.“55 Primär äußert sich darin der Wunsch nach Zugehörigkeit zur Europäischen Union. Bald nach Konsolidierung der zurück gewonnenen Unabhängigkeit brachte Tallinn sein Interesse an einer Mitgliedschaft in der EU zum Ausdruck und erwiderte damit zugleich die Offerte der Union, die Staaten Mittel- und Osteuropas an die bestehenden Institutionen heranzuführen.56 Darüber darf nicht vergessen werden, dass die EU (bis 1993 Europäische Gemeinschaft) neben der Erweiterung auch ihre politische Vertiefung betreiben musste, wollte sie den neuen Anforderungen gewachsen sein und weiterhin für ein politisch starkes Europa eintreten. In den Augen von Peer H. Lange ergab sich daraus für die Neuankömmlinge in Europa ein Dilemma: „What appeared then as the most demanding conceptual challenge was the fact that the candidates in Eastern Europe tend to aim at what integrated Europe had finally become in the past, while at the same time European politics are bound to reach out for other, future dimensions. The elites of the newcomers still did not arrive at the same strategic goals, cares and related tactical necessities as the elites of the experienced integrated states.“57
Von den Beitrittsaspiranten verlangte diese Situation zusätzliche Anpassungsleistungen, mit den Unions-internen Änderungen Schritt zu halten. Ihre Beitrittsabsicht stützte die estnische Regierung fern ihrer Sicherheitsüberlegungen ebenso auf innenpolitische Beweggründe. Mit Hilfe der Heranführung an die EU sollten die Errungenschaften des Transformationsprozesses gefestigt und die Reformierung des Landes legitimiert werden. Eine Mitgliedschaft hätte demnach stabilisierende Effekte für die estnische Demokratie mit sich geführt, die territoriale Integrität gewährleistet und sozioökonomische Vorteile generiert.58 Allerdings bezweifeln die Wissenschaftler Joan Löfgren und Graeme P. Herd, dass sich Tallinn zum damaligen Zeitpunkt der weit reichenden politischen Konsequenzen einer Mitgliedschaft bewusst gewesen wäre, da die aktive Partizipation in solch einem multidimensionalen System selbstverständlich Pflichten bereithalten würden.59 Für die estnische Regierung ergaben sich aus der angestrebten Integration in die EU zwei Prioritäten: Zuerst sollten die Beitrittsverhandlungen 55
Vares (1998), S. 101. Vgl. Arnswald (1998), S. 23. Das Angebot bezieht sich auf die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Kopenhagen (21.–22. Juni 1993), worin festgehalten wird, dass „die assoziierten mittel- und osteuropäischen Länder, die dies wünschen, Mitglieder der Europäischen Union werden können.“ Europäischer Rat von Kopenhagen, S. 13. 57 Lange (2000), S. 71. 58 Vgl. Löfgren/Herd, S. 10 und 19. 59 Vgl. ebd., S. 19. 56
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zu einem erfolgreichen Ende geführt werden – freilich unter Wahrung nationaler Interessen. Des Weiteren musste sich Estland so gründlich wie möglich auf den eigentlichen Beitritt vorbereiten, das heißt, seine Hausaufgaben erledigen.60 Für alle Kandidatenländer war die Erfüllung der Beitrittskriterien61, wie sie der Europäische Rat 1993 in Kopenhagen beschlossen hat, richtungweisend. Von Seiten der Europäischen Kommission wurde eine gezielte Aufnahmestrategie für die Beitrittskandidaten initiiert, die unter anderem die Umsetzung der Europa-Abkommen, die Beteiligung am PHARE-Programm,62 die Einbeziehung in den strukturierten Dialog mit der EU und ihren Mitgliedsländern sowie die Teilnahme an Programmen der Europäischen Gemeinschaft vorsah.63 Ohne sich zu detailliert mit technischen Fragen der EU-Erweiterung64 aufzuhalten, sollen zusammenfassend die wichtigsten Etappen Estlands auf dem Weg zum Beitritt wiedergegeben werden. Ein erstes Teilziel war der Abschluss eines Freihandelsabkommens zwischen Estland und der Europäischen Union. Verhandlungen dazu begannen im Februar 1994 und dauerten drei Monate.65 Für die Esten als ökonomisch liberal orientierte Nation, die frühzeitig Einfuhrbeschränkungen reduzierte respektive gänzlich abschaffte, bedeutete dies ein signifikanter Schritt hin zum europäischen Markt und gleichzeitig eine Kraftprobe für die heimische Wirtschaft. Fortgesetzt wurde die gegenseitige Annäherung durch das Assoziierungsabkommen (Europa-Abkommen), das der estnische Ministerpräsident nach zwei Verhandlungsrunden am 12. Juni 1995 unterzeichnete. Im Herbst desselben Jahres lag bei der Kommission der Antrag Estlands zur Aufnahme in die EU vor.66 60
Vgl. Mälk (1999). Die so genannten Kopenhagener Kriterien verlangen von den Kandidatenländern, dass sie „eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben; sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Die Mitgliedschaft setzt außerdem voraus, daß die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu Eigen machen können.“ Europäischer Rat von Kopenhagen, S. 13. 62 PHARE = Poland and Hungary Assistance for Restructuring the Economy. 63 Vgl. Schmidt, S. 234. 64 Über den Aufbau der estnischen Verhandlungsdelegation sowie den Ablauf der Beitrittsgespräche siehe: Palk, S. 169; Rupp, S. 107–123. 65 Das Abkommen wurde am 1. Januar 1995 wirksam. Vgl. Arnswald (1998), S. 53. 66 Vgl. ebd., S. 58 und 60. 61
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Nach einer kritischen Überprüfung der Beitrittschancen aller Kandidatenländer kam es auf dem Europäischen Rat von Luxemburg 1997 zur Bildung zweier Verhandlungsgruppen, wobei sich Estland in der ersten, das heißt fortgeschrittenen Gruppe, befinden sollte. Die Beitrittsverhandlungen begannen am 31. März 1998.67 Bereits im Vorfeld hatte Außenminister Toomas Hendrik Ilves betont, die Erweiterung auf Basis objektiver Kriterien und einer transparenten Evaluierung jedes einzelnen Beitrittsaspiranten zu vollführen. Eine Block-Lösung, wonach die baltischen Staaten eine Einheit in den Verhandlungen bilden sollten, kam für die estnische Führung keinesfalls als Option in Betracht. Einzig die Bewertung anhand individueller Verdienste eines Kandidaten könnte den Ausschlag für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen und die sich daran anschließende Mitgliedschaft geben.68 Insgesamt verfolgte Tallinn das ambitionierte Ziel, bis Ende 2001 die Verhandlungen mit der Europäischen Union zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht zu haben.69 Konfrontiert mit der Wirklichkeit, konnte erst der Gipfel von Kopenhagen im Dezember 2002 das Ende der Verhandlungen verkünden. Nachdem am 16. April 2003 zehn Kandidatenländer die Beitrittsverträge unterzeichneten und sowohl die Ratifikationsprozesse in der EU-15 als auch die Referenden in den künftigen Mitgliedsländern positiv verliefen,70 trat Estland am 1. Mai 2004 der Europäischen Union bei. Damit war ein essenzielles außenpolitisches Vorhaben der Esten fast dreizehn Jahre nach ihrer erneuten Eigenständigkeit erfüllt. Da die europäische Integration per se einen dynamischen Prozess konstituiert, erlegt die Mitgliedschaft in einer supranationalen Organisation Verpflichtungen und permanente Anstrengungen auf, die Stabilität der Gemeinschaft zu erhalten und ihre gemeinsame Agenda zu realisieren. Doch mit welchen inhaltlichen Vorstellungen verbindet Tallinn seine Zugehörigkeit zur EU und welchen Beitrag kann das Land in der erweiterten Union leisten? Estland bezeugt sein Interesse an einer starken politischen Union, die nach außen ihren Einfluss in der Weltpolitik geltend macht und sich nach innen dem Wohlstand ihrer Bürger verpflichtet fühlt.71 Zu dieser Entwicklung kann das Land mit Hilfe seines liberalen, dynamischen, innovations67 In der ersten Verhandlungsgruppe befanden sich Estland, Polen, Tschechien, Slowenien, Ungarn und Zypern. Bulgarien, Lettland, Litauen, Malta, Rumänien und die Slowakei bildeten die zweite Gruppe. Vgl. Europäischer Rat von Luxemburg; Vares (1998), S. 102. 68 Vgl. Ilves (1997b). 69 Vgl. Ilves (2000c). 70 In Estland gab die Bevölkerung am 14. September 2003 ihr Votum. 64 Prozent der Stimmberechtigten nahmen daran teil, wovon sich 66,8 Prozent für und 33,2 Prozent gegen die EU-Mitgliedschaft aussprachen. Vgl. Mälk (2004), S. 26. 71 Vgl. Ojuland (2002c).
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und technologiefreudigen Images einen Beitrag leisten. Das Verfolgen von Gemeinschaftsaufgaben impliziert für die estnische Regierung nicht, dass darüber eigene Prioritäten vergessen werden. Aus diesem Grund unterstreicht die ehemalige Außenministerin Kristiina Ojuland das Subsidiaritätsprinzip und die Rolle der nationalen Parlamente.72 Letzteres überrascht: Wenn Tallinn wirklich eine starke Union im Sinn hat, muss dann nicht das Europäische Parlament gestärkt werden, und weniger die Volksvertretungen der Mitgliedsländer, die auf die Wahrung nationaler Interessen achten? Hier wird deutlich, dass die EU-Politik der estnischen Regierung noch relativ konturlos wirkt und die eigene Position im Gefüge der 25 an Präzision gewinnen sollte. Darüber hinaus erhoffen sich die Esten Mitsprache bei der Gestaltung europäischer Außenpolitik.73 Diese müsse sich nach estnischer Lesart auf die transatlantische Partnerschaft stützen, ihre Fähigkeiten der Konfliktprävention (militärische Kapazitäten eingeschlossen) ausbauen, sowie gute nachbarschaftliche Beziehungen zu den EU-Anrainern unterhalten.74 Abschließend bleibt festzuhalten, dass die EU-Mitgliedschaft für Estland eindeutig sicherheitspolitisch motiviert ist, was jedoch offiziell unterminiert wird. Als Kleinstaat in einer Union gleichberechtigter Partner, die weltweit Anerkennung genießt, braucht sich die estnische Republik nicht länger bedroht fühlen. Das Land ist fest eingebunden in ein politisches, wirtschaftliches und wertegebundenes System. Dem Sicherheitsempfinden vieler Esten ist diese Verankerung überaus zuträglich. Dazu steuern nicht zuletzt die sicherheitspolitischen Komponenten der EU wie Westeuropäische Union, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) bei. Zeitweise betonte die estnische Seite diesen Aspekt weniger stark, obwohl sie ihn im Beitrittsgesuch fraglos mitdachte. Jedoch hätte eine allzu deutliche Betonung der Union als Sicherheitsinstanz einer raschen Eingliederung in die NATO schaden können. Nach wie vor ist die Nord-Atlantische Verteidigungsallianz für Estland die einzige Organisation mit ernst zu nehmenden militärischen Fähigkeiten.75 Die Bedeutung des Bündnisses für die estnische Außenpolitik rückt nachstehend in den Vordergrund.
72 73 74 75
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
ebd. Ilves (2000a); EMFA (2004e), S. 15; Ojuland (2003b). EMFA (2004e), S. 15. Arnswald/Jopp, S. 43.
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2. Sicherheitsdenken: Einbindung in die NATO Eine Mitgliedschaft in der NATO war und ist für die estnischen Regierungen ebenso bestimmend für ihr außenpolitisches Handeln wie der EUBeitritt gewesen. Estland in das System kollektiver Sicherheit vollends zu integrieren, ist unter dem Aspekt der hard security eine logische Maßgabe unter Berücksichtigung der bereits geschilderten Bedrohungsperzeption des Landes.76 Keineswegs verliefen die Auffassungen beider Seiten – Tallinn und Brüssel – in diesem Sachverhalt parallel; hatten sie doch in ihrem Annäherungsprozess sicherheitspolitische Zwänge zu berücksichtigen, die ihre Haltung zueinander nicht unberührt lassen konnten. Einerseits handelt es sich dabei um strukturelle Zwänge, die sich auf die Größe des Landes und seine Bevölkerung beziehen.77 Ein kleiner Staat kann mit seinen beschränkten Ressourcen das internationale Geschehen nicht im gleichen Maße beeinflussen wie Staaten, die über beachtliche finanzielle, ökonomische und militärische Mittel verfügen. Jedoch hängt die Sicherheitslage eines Landes entscheidend von jenen Machtfaktoren ab. Andererseits gilt es im gleichen Umfang geopolitische Determinanten zu vergegenwärtigen. Im Falle Estlands bedeuten die Nähe zur Regionalmacht Russland eine Schwächung der strategischen Position und Empfindlichkeit gegenüber äußerem Druck. Hinsichtlich einer Annäherung an die NATO wirkte sich dieser Sachverhalt nachteilig aus, da dem Bündnis an guten Beziehungen zu Moskau gelegen war. Drei zusätzliche Gründe trugen zur Skepsis der Allianz gegenüber den Esten als potenzielle NATO-Mitglieder bei, was im Übrigen Letten und Litauer gleichermaßen betraf, weil sie in dieser Frage unfreiwillig als Block behandelt wurden. Erstens verfügte Estland über keine ausgeprägte politische Lobby für seine Kandidatur, wie es für den EU-Beitritt der Fall gewesen war. Zweitens lag das Land schlichtweg nicht im strategischen Blickfeld der NATO, weil es von zu geringer Größe in territorialer und demografischer Hinsicht, ergo leicht verwundbar ist. Drittens lebt in Estland eine signifikante russische Minderheit (25,63 Prozent der Gesamtbevölkerung), die entweder die estnische, die russische oder gar keine Staatsbürgerschaft hat (laut Zensus 2000).78 Damit wurde die Aufmerksamkeit Moskaus auf die estnische Bewerbung gelenkt; mit einer NATO-Mitgliedschaft einer ehemaligen Sowjetrepublik mochte sich der Kreml nicht anfreunden, schließlich waren bereits mit der Aufnahme Polens, Tschechiens, Ungarns 1999 einstige Bruderstaaten des Warschauer Paktes zu verkraften. Was die 76 77 78
Vgl. ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 34. Vgl. Statistical Office of Estonia (2000); siehe auch Tabelle 9 im Anhang.
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Hürde einer Aufnahme Estlands in das Bündnis abermals erhöhte, war der ungelöste Grenzstreit mit Russland.79 Vom Ziel eines NATO-Beitritts ließ sich Tallinn dadurch allerdings nicht abbringen, denn die erwähnten Gründe, welche Brüssel zur Vorsicht einer Aufnahme Estlands anhielten, lasen sich in den Augen der beitrittswilligen Balten als wasserdichte Referenz. Die von vielen als prekär empfundene Sicherheitslage verstärkte den Wunsch nach Zugehörigkeit zur Allianz und führte zur Intensivierung der Beitrittsbemühungen. Der während der Verhandlungsphase amtierende Außenminister Ilves begründet die Bedeutung eines Mitgliedsstatus’ im Bündnis zuvörderst mit der geteilten Wertebasis und dem Versprechen der NATO, sich den MOE-Staaten zu öffnen, nachdem das Ende des Kalten Krieges die Block-Konfrontation obsolet werden ließ.80 Die estnische Regierung anerkannte in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass sie sich einem im Umbau befindlichen Bündnis anschließen würde, welches zwar die Zeit des Ost-West-Konflikts überdauert hatte, nicht jedoch seine originären Aufgaben. Weil Estland sich als Teil eines neuen Europas begreift, fühlt es sich dem Aufbau neuer Verteidigungsstrukturen verpflichtet; kurzum: „to join a new NATO in a new Europe“.81 Dieser Wille ist als Vision einer sicherheitspolitischen Instanz zu interpretieren, die weniger mit der bloßen Verteidigung Europas beschäftigt ist, sondern für die Sicherung eines geeinten Kontinents Sorge trägt und darüber hinaus dessen Werte verteidigen sowie friedensschaffende Maßnahmen ausüben sollte. Ungeachtet wachsender militärischer Kompetenzen auf europäischer Seite hätten die Vereinigten Staaten selbstverständlich weiterhin in Europa ihre Präsenz zu zeigen.82 Estlands NATO-Politik zeichnet sich neben der transatlantischen Partnerschaft durch das Prinzip der Unteilbarkeit von Sicherheit aus, wonach die Sicherheit von Staaten nie auf Kosten anderer erreicht werden dürfe.83 Dem wohnt die Befürchtung inne, die kleine Ostseerepublik könnte in eine Art Grauzone zwischen Russland und der bereits erweiterten NATO geraten. Gleichwohl existiere ein stabiles Europa nur dann, wenn die Zone kollektiver Sicherheit ausgebaut würde und ein Gleichgewicht zwischen nördlichen und südlichen Mitgliedsländern bestünde.84 Demnach intendierte die estnische Regierung mit ihrem Beitrittsgesuch ein weiteres Mal die Internationalisierung ihrer Bedrohungsperzeption. Um den sicherheitspolitischen 79 80 81 82 83 84
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Asmus/Nurick, S. 123 f.; Gobinš u. a., S. 140 f. \ Ilves (1997d). ebd. Archer/Jones, S. 171. Ilves (1997f); Asmus/Nurick, S. 170. Mälk (1999).
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Diskurs aktiv zu gestalten und nicht passiv mit fertigen Entscheidungen konfrontiert zu werden, bestanden die Esten auf ihren Sitz am Tisch der Allianz. Gleichwohl war sich die Regierung im Klaren, dass enorme Anstrengungen warteten eingedenk geringer Truppengröße sowie unzureichender und veralteter militärischer Ausstattung.85 Für das kleine Estland galt es den Beweis zu erbringen, dass es nicht nur Bezieher von Sicherheit sein würde, sondern diese auch bereitstellen könnte.86 War das Land in der ersten Erweiterungsrunde 1999 noch außen vor geblieben, brachte der NATO-Gipfel von Prag (21.–22. November 2002) die ersehnte Entscheidung Beitrittsverhandlungen aufzunehmen.87 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Estland bereits eng mit der NATO kooperiert und an Programmen teilgenommen, welche die Vorbereitung auf eine spätere Mitgliedschaft in den Mittelpunkt stellten. In dieser Hinsicht ist das institutionelle Rahmenwerk der Allianz dicht gestrickt, um so früh wie möglich strukturelle Defizite zwischen Bewerbern und Mitgliedern zu nivellieren. Zu nennen sind unter anderem die 1994 initiierte Partnerschaft für Frieden (Partnership for Peace – PfP), der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat (1997) sowie der Membership Action Plan (1999).88 Die Bewerberländer sind dazu aufgerufen, jährlich über ihre Fortschritte zur Umsetzung der NATO-Standards Bericht zu erstatten (Annual National Programme). Zur Umsetzung der Aufnahmekriterien und vor allem zur Herstellung der Interoperabilität von militärischer Ausstattung und Logistik war Estland auf die Unterstützung von außen angewiesen. In diesem Kontext sollte sich rasch eine enge Zusammenarbeit zwischen Estland, Lettland und Litauen abzeichnen, die zudem von den nordischen Staaten gefördert wurde (Kapitel D. II. 3.). Im Jahr 2002 vermochte es die estnische Regierung einen Haushalt aufzustellen, in dem die Verteidigungsausgaben erstmals ein Volumen von zwei Prozent des BIP einnahmen.89 Selbst wenn dieses Budget am unteren Limit angesiedelt war, unterstrich Tallinn seine Fähigkeit, eine 85
Vgl. Klaar, S. 20. Seit August 2001 sind estnische Kontingente im Rahmen der Stabalization Force (SFOR) in Bosnien-Herzegowina stationiert. Im Dezember 2001 folgte die Entsendung von Einheiten der Militärpolizei ins Kosovo, um die Kosovo Force (KFOR) zu unterstützen. Vgl. Tiido (2002), S. 17. 87 Weitere Mitgliedsanwärter waren Bulgarien, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei and Slowenien. Vgl. North Atlantic Treaty Organization (NATO) (2002). 88 Der Plan legt die Art der Heranführung von Beitrittsaspiranten an die NATO fest und benennt Kriterien, die über die Aufnahme entscheiden: Lösung ethnischer Konflikte nach den OSZE-Prinzipien; Engagement in der Initiative PfP und im Partnerschaftsrat; Unterhaltung geeigneter Streitkräfte für die kollektive Verteidigung und andere NATO-Missionen sowie ausreichende Finanzmittel zur Erfüllung der Pflichten als NATO-Mitglied. Vgl. Schmidt, S. 228. 86
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NATO-Mitgliedschaft finanziell zu bewältigen. Unter Vergegenwärtigung generell begrenzter, zur Verfügung stehender Finanzmittel, drückt sich in diesen zwei Prozent die Ernsthaftigkeit des Beitrittswunsches aus, hinter dem gleichzeitig innenpolitische Ziele zurückstehen mussten. Gemeinsam mit den anderen Anwärtern Bulgarien, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und der Slowakei vollzog sich die Aufnahme Estlands in die NATO am 29. März 2004.
III. Beziehungen zu den Nachbarstaaten Ungeachtet geringer personeller Ressourcen sind Aufrechterhaltung und Entwicklung bilateraler Beziehungen für Kleinstaaten eine Voraussetzung zur Vermittlung ihrer Interessen auf internationaler Ebene. Ein kleines Land allein ist nicht in der Lage, diplomatischen Druck auf andere auszuüben, wenn es sich zum Beispiel in seiner Souveränität verletzt sieht. Um Initiativen in der internationalen Politik zum Erfolg zu verhelfen, bedarf es einer Lobby, die gemeinsame Ziele ausgibt und umsetzen kann. Insbesondere zum direkten Umfeld des Kleinstaates sollte ein ausgeglichenes Verhältnis bestehen, da die Nachbarländer einen wichtigen wirtschaftlichen und kulturellen Interaktionsraum bilden. Estland ist hier keine Ausnahme. Die Beziehungen zu seinen Anrainern nehmen in der Außenpolitik des Landes einen hohen Stellenwert ein. Im Folgenden wird zuerst der Zustand der estnischrussischen Beziehungen beleuchtet, bevor in weiteren Schritten die Rolle der baltischen Länder Lettland und Litauen sowie der nordischen Länder Finnland und Schweden im außenpolitischen Tagesgeschäft Estlands untersucht wird. 1. Verhältnis zur Russischen Föderation Der Außenminister Estlands ist dazu angehalten, der Staatsversammlung jedes Halbjahr über Stand und Verlauf der auswärtigen Politik zu berichten sowie dem Plenum Rede und Antwort zu stehen. Beim Vergleich solcher Stellungnahmen verschiedener Minister lässt sich ein eindeutiges Schema der Prioritäten erkennen: Die beiden wichtigsten Säulen – Europäische Union und Nord-Atlantische Allianz – wurden bereits vorgestellt. An dritter Stelle rangiert das Verhältnis zur Russischen Föderation90 – noch vor den bilateralen Beziehungen zu den baltischen und nordischen Staaten, zu denen 89
Vgl. Ojuland (2002c). Die Verteidigungsausgaben 2002 beliefen sich auf 129,6 Millionen Euro und 2003 auf 151,9 Millionen Euro. Vgl. Estonian Ministry of Defence (2004). 90 Vgl. Mälk (1998).
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weitaus intensivere Verbindungen bestehen! Dass Moskau eine derart hohe Wertung im außenpolitischen Diskurs erfährt, spricht für die fortbestehende Wahrnehmung Russlands als Regionalmacht, ohne deren positive Einstellung gegenüber dem estnischen Staat ein unbeschwertes Auskommen nicht möglich erscheint. Auch deshalb hat Tallinn so früh wie möglich die Einbindung in westliche Institutionen verfolgt, „to resist contemporary Russian attempts to keep Estonia in its sphere of influence.“91 Beeinflusst wird das estnisch-russische Verhältnis von einer selbst nach Ende der Besatzungszeit verbreiteten Bedrohungsperzeption, in welcher Russland als dominierende Gefahrenquelle auftaucht.92 Drei Gründe sind dafür ausschlaggebend, die Erklärungen für das unterkühlte Nebeneinander der zwei Staaten aufzeigen: Erstens herrscht ein Gefühl gegenseitigen Misstrauens begründet durch die historisch belasteten Beziehungen beider Länder. In Russland weicht die Bewertung der Okkupationszeit weiterhin von der international gängigen Auffassung ab. Vielmehr wird sie überhaupt nicht als solche anerkannt, da Estland sich freiwillig der UdSSR angeschlossen hätte.93 Von vielen Esten, die politische Führung inbegriffen, wird die Russische Föderation als einflussreichster Nachfolgestaat der Sowjetunion mit selbiger gleichgesetzt, was sich im bilateralen Auskommen entsprechend widerspiegelt. Zweitens wurden die Einwände des Kremls gegenüber der NATO-Kandidatur Estlands als Einmischung in die Angelegenheiten eines souveränen Staates gewertet. Daraus schlussfolgerte Tallinn, dass Moskau traditionelle Sichtweisen seiner Einflusssphäre aufrechterhalten würde. Als dritten Faktor in ihrer Bedrohungsanalyse führen die Esten Russlands instabile politische sowie wirtschaftliche Situation an, die das zwischenstaatliche Verhältnis zu einer schwer kalkulierbaren Angelegenheit werden lässt.94 Bis 1994 schenkte die estnische Regierung der Russischen Föderation mehr Aufmerksamkeit als in den darauf folgenden Jahren. Grund dafür war die Stationierung sowjetischer/russischer Truppen auf estnischem Territorium, die von Tallinn als Relikt des Zweiten Weltkrieges betrachtet wurden. Durch deren Präsenz sah Estland seine Souveränität gefährdet, weshalb es im vitalen Interesse des Landes lag, die nun fremdländische Armee zum Abzug zu bewegen. Die ESSR zählte zu den am stärksten militarisierten Gebieten der UdSSR. Schätzungsweise waren in Estland 23.000 bis 25.000 Soldaten stationiert. Von besonderer Bedeutung war die Flottenbasis in Pal91
Vihalemm, S. 135. Vgl. Haab (1998), S. 5. 93 Erst in jüngster Zeit wurden Stimmen aus dem Kreml laut, die auf eine Abkehr dieser Sichtweise hindeuten. Vgl. The Baltic Times (2005), S. 1 und 3. 94 Vgl. Haab (1998), S. 5–7. 92
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diski, die als Übungszentrum für Atom-U-Boote diente.95 Anfang 1992 begannen die Gespräche zum Truppenabzug. Auffällig und unverständlich zugleich ist in dem Zusammenhang, dass die in ihrer Gesamtheit betroffenen baltischen Staaten mit Russland bilateral verhandelten, statt geeint vorzugehen. In der Konsequenz erhielt Moskau die Möglichkeit, die drei Länder unter Anwendung individueller Verhandlungstaktiken zu spalten. Im Falle Estlands instrumentalisierte die russische Seite unter anderem die Minderheitenfrage für sich. Den Status der russischsprachigen Bevölkerung im Interesse Russlands zu lösen, sprich ihnen automatisch und ohne den Prozess der Naturalisation die estnische Staatsbürgerschaft zu verleihen, wurde mit einem positiven Ausgang der Truppenfrage verknüpft. Allerdings zeichnete sich schnell eine gestiegene Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft ab, allen voran der USA, der Bundesrepublik Deutschland und Skandinaviens.96 Der daraus resultierende diplomatische Druck verhinderte Moskaus Beharren auf seine Junktim-Strategie. Mehr als zwei Jahre nach Verhandlungsbeginn erzielten die Parteien endlich eine Übereinkunft. Estlands Präsident Lennart Meri (1992–2001) und sein Gegenüber Boris Jelzin (1991–1999) verständigten sich am 26. Juli 1994 auf den Abzug der verbliebenen Armeeangehörigen bis zum 31. August 1994. Als Zugeständnis sicherte Tallinn den bereits ansässigen Militärpensionären die Wahrung ihrer Rechte zu und überließ den Stützpunkt Paldiski bis zum 26. September 1995 der zivilen Kontrolle Russlands.97 Eine weitere Verzögerung des Abzugs hätte Estlands NATO-Ambitionen gravierend beeinträchtigt. Ähnlich zäh sind die Gespräche zur Anerkennung des beiderseitigen Grenzverlaufs verlaufen, die bislang zu keinem Abschluss geführt haben. Verantwortlich dafür sind gegensätzliche Interpretationen des Friedens von Tartu (2. Februar 1920). Während Tallinn im Sinne seiner Politik der historischen Kontinuität auf den Vertragswortlaut bestand, erklärte die russische Führung das Abkommen kraft Estlands Beitritt zur UdSSR für null und nichtig.98 Auf Dialogsebene wurde anfänglich kein Vorankommen er95
Auskünfte über die genaue Zahl der Truppen verweigerte das Verteidigungsministerium in Moskau. Vgl. Arnswald (2000), S. 147. 96 Vgl. Schmidt, S. 148. 97 Vgl. Jeffries, S. 135. 98 Der Friedensvertrag sprach Estland im Nordosten die Stadt Narva und angrenzende Gebiete am linken Narva-Ufer zu. Im Südosten erhielt die junge Republik die Region um Petseri (russisch: Pechory), wo eine finno-ugrische Minderheit – die Setu – siedeln. Insgesamt handelte es sich um ein Territorium von 2.000 Quadratkilometern, das zuvor zum Russischen Zarenreich gehört hatte. Die Akzeptanz des Vertrages durch Moskau nach 1991 hätte Russland Gebietsverluste zugefügt. Mehr noch, das Land hätte damit die widerrechtliche Besatzung anerkannt, wodurch Reparationsansprüche seitens Estlands hätten geltend gemacht werden können. Vgl. Berg/Oras, S. 611.
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reicht. Vielmehr legte Russland den Grenzverlauf im Februar 1993 einseitig fest, der im Juni 1994 per Präsidentenerlass als solcher markiert wurde.99 Im Gegensatz zur Frage des russischen Truppenabzugs blieb die westliche Unterstützung für Estland nun aus. Wollte die estnische Regierung ihre Ziele der EU- und NATO-Mitgliedschaft nicht ernsthaft gefährden, musste sie von ihren Maximalforderungen abkehren. Aus dieser Not heraus entschied sich der damalige estnische Ministerpräsident Andres Tarand, die Gebietsansprüche fallen, jedoch den Frieden von Tartu als Dokument der staatlichen Kontinuität bestehen zu lassen.100 Von westlicher Seite gutgeheißen, lehnte die russische Führung diesen Vorschlag ab. Abermals sollte die Junktim-Politik greifen, indem Russland seine Zustimmung an die Menschenrechtsfrage in Estland knüpfte.101 Zwar konnte der Kreml mit seiner Vorgehensweise die Westintegration Estlands nicht aufhalten, doch eine genuine Bereitschaft, dem Verhältnis beider Staaten eine international anerkannte Basis zu geben, ließ bis März 1999 auf sich warten. Am 5. März 1999 paraphierten die Verhandlungsdelegationen in St. Petersburg den im langwierigen Hin und Her ausgehandelten Grenzvertrag, der jedoch weiterhin auf seine Ratifikation durch die russische Duma wartet.102 Mitverantwortlich für die Haltung der russischen Regierung gegenüber den Esten ist die Politik des „Nahen Auslands“. Die Implosion des sowjetischen Machtbereiches hatte nicht nur territoriale und machtpolitische Folgen (mit den USA als einzig agierender Supermacht), sondern rief ebenfalls eine Identitätskrise hervor. Auf der Suche nach einer den neuen internationalen Verhältnissen angepassten Rolle besann sich Russland auf seine historischen Interessenssphären.103 Hauptinhalte der 1995 konzipierten Doktrin waren die Kontrolle über Gebiete der einstigen Sowjetunion, ergo der Alleinanspruch auf strategische Belange in diesen Regionen, sowie der Schutz der Russen, die außerhalb der Grenzen der Russischen Föderation leben.104 Of99
Vgl. Schmidt, S. 164. Im Ganzen verzichtete Estland auf fünf Prozent seines Territoriums der Zwischenkriegszeit sowie auf zukünftige Forderungen. Vgl. Aalto, S. 172. 101 Vgl. EMFA (1999); Schmidt, S. 166. 102 Der russische Präsident Wladimir Putin lud die drei baltischen Präsidenten ein, an den Mai-Feierlichkeiten 2005 zum Sieg über Nazi-Deutschland teilzunehmen. Verknüpft wurde die Einladung mit der (eventuellen) Ratifikation des Grenzabkommens. Zu bedenken ist jedoch, dass die Balten den 9. Mai 1945 nicht als Datum ihrer Befreiung sehen, sondern als Fortsetzung eines unrechtmäßigen Besatzungsregimes. Nach langer Überlegung sagten der estnische Präsident Arnold Rüütel und sein litauischer Amtskollege Valdas Adamkus ihre Teilnahme ab, während Lettlands Präsidentin Vaira Vike-Freiberga nach Moskau reiste. Vgl. The Baltic Times (2004); Seputyte. 103 Vgl. Breslauer, S. 35. 104 Vgl. Jonson, S. 114; Oldberg, S. 153. 100
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fiziell wurden die baltischen Staaten von dieser Politik ausgenommen. Dennoch verblieb ein Beigeschmack der Ungewissheit, weil Moskaus Rhetorik gegenüber den Balten oft genug den Ton besagter Doktrin wiedergab. Von Worten wollte sich die estnische Regierung allerdings nicht beeindrucken lassen. Außenminister Ilves gab zu bedenken, dass „Estonia has not condescended to, nor will condescend to participate in a bilateral war of words.“105 Stattdessen betreibt das Land seit 1994 eine Politik des positiven Engagements, geleitet durch folgende Prämissen: gegenseitiger Respekt für die Souveränität und internationale Verhaltensregeln; Aufgabe territorialer Ansprüche; Verzicht auf verbale und weitere Formen der Konfrontation sowie Zusammenarbeit in Bereichen, wo diese möglich ist.106 Estland verfolgt damit eine auf Pragmatismus beruhende Politik, die zwar zu Kompromissen bereit ist, jedoch gleichsam nationale Interessen bewahrt. Eine ähnlich gelagerte Einstellung des russischen Nachbarn konnte Estlands Führung bisher nicht vernehmen. Allzu leicht sind Annäherungsversuche Tallinns von russischer Seite als Zeichen der Schwäche auslegbar, da diese einer konservativen Machtpolitik verhaftet bleibt und bei Konsensbereitschaft des Gegenüber eher weiter gehende Forderungen erhebt, anstelle eigene Positionen gleichfalls zu revidieren.107 In wirtschaftlicher Hinsicht konnte für die zurückliegende Dekade ein ähnliches Konfrontationsschema beobachtet werden wie auf dem Feld der hohen Politik. Estlands erfolgreiche Bestrebungen, sich nach 1991 vom Wirtschaftsraum der ehemaligen Sowjetunion zu lösen und das Land an westliche Märkte heranzuführen, wurden bereits skizziert. Dem sollten Aussagen zum weiteren Verlauf der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Estland und Russland hinzugefügt werden. Die estnische Regierung bescheinigte der heimischen Wirtschaft Ende der 1990er Jahre mit Blick auf den russischen Markt prinzipiell Exportmöglichkeiten.108 Jedoch verhinderten die seitens der russischen Führung 1995 verhängten Doppelzölle eine volle Ausschöpfung der günstigen Aussichten. In umgekehrter Richtung existierten keine tarifären Handelsbeschränkungen. Der anfänglich positive Trend in der Außenhandelsbilanz Estlands mit Russland (24,3 Millionen Euro) erhielt daher 1995 ein negatives Vorzeichen (–63,3 Millionen Euro). Im Jahr 2003 mussten die Esten ein Minus von 335,5 Millionen Euro hinnehmen, 105
Ilves (2001). Vgl. Ilves (1997b). 107 Diese für Moskau charakteristische Haltung wurde der Verfasserin auch in einem Gespräch mit dem Analysten Eero Mikenberg bestätigt, der am Estonian Institute for Foreign Policy tätig ist. Das Gespräch fand am 6. Dezember 2004 in Tartu, Estland, statt. Ein Protokoll wurde angefertigt. 108 Vgl. Ilves (1998b). 106
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als sie dreimal so viel importierten wie exportierten.109 Die wirtschaftsschädigende Politik Moskaus änderte sich erst mit Estlands Beitritt zur Europäischen Union am 1. Mai 2004. Sorge bereitet der Regierung in Tallinn der hohe Abhängigkeitsgrad von russischen Gaslieferungen und Petrolerzeugnissen, weshalb dieser Umstand als Risikofaktor im Nationalen Sicherheitskonzept aufgelistet wird.110 Gleichwohl verfügt Estland dank seiner eisfreien Ostseehäfen über einen Hebel in Moskau. Russische Lieferungen für den Weltmarkt gehen zum überwiegenden Teil durch die baltischen Staaten, wovon demzufolge die Esten profitieren. Hoffnung, dass die estnisch-russischen Beziehungen nicht in einer Sackgasse enden, verbreitet ansatzweise die Intergouvernementale Kommission (IGK), deren Konzept im September 1997 von Lennart Meri und dem damaligen Premier Russlands, Viktor Chernomyrdin, verkündet wurde.111 Anliegen der IGK ist die Förderung bilateraler Kooperation und die Entwicklung von Verträgen zwischen der Republik Estland und der Russischen Föderation. Diesbezüglich wurden drei Arbeitsgruppen ins Leben gerufen, die für folgende Politikfelder verantwortlich sind: Handel, Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie; sozio-humanitäre Fragen sowie kulturelle Angelegenheiten.112 Eigentlich als Forum der Vertrauensbildung und zur Normalisierung des bilateralen Verhältnisses gedacht, scheitert der dafür notwendige kontinuierliche Austausch auf hoher Ebene bis dato am Unwillen von Kreml und Duma.113 Es bleibt abzuwarten, ob Moskau in Zukunft die Bedeutung der estnisch-russischen Zusammenarbeit erkennt. Grundsätzlich kann Russland von einem Anrainer wie Estland nur profitieren. Tallinns Erfahrungen mit seinem großen Nachbarn im Osten können sich für die Beziehungen der Europäischen Union zur Russischen Föderation als wertvoll erweisen. 2. Bilaterale Beziehungen zu Lettland und Litauen Wenn die Sprache auf die baltischen Länder kommt, ist stets von Estland, Lettland und Litauen die Rede. Tatsächlich gehören nur Letten und 109 Damit nimmt die Russische Föderation unter Estlands Exportpartnern Rang Sieben ein mit einem Anteil von 3,9 Prozent an der gesamten Warenausfuhr. In Sachen Import bezieht Russland den vierten Platz mit einem Anteil am Gesamtvolumen von 8,7 Prozent. Vgl. EMFA (2004h); siehe Tabelle 6 im Anhang. 110 Vgl. EMFA (2001e), S. 9; EMFA (2004f), S. 8. 111 Ihre Arbeit nahm die IGK im Februar 1998 auf und die erste IGK-Plenarversammlung wurde am 4.-5. Dezember 1998 in Tallinn abgehalten. Vgl. EMFA (2004h). 112 Vgl. ebd. 113 Vgl. ebd.
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Litauer zur baltischen Kulturgruppe, während Esten finno-ugrischer Abstammung sind. Ungeachtet bestehender Unterschiede werden die drei Länder oft genug von außen als nahezu unitär betrachtet, was ihrer jeweiligen Geschichte, Kultur und ihrem Selbstverständnis als eigenständige Nationen mit spezifischer Identität kaum Rechnung trägt. Die undifferenzierte Auseinandersetzung mit den Balten mag vor allem daher rühren, dass sie zum einen allesamt Opfer des Stalinismus waren und sie zum anderen der Kampf um ihre Eigenständigkeit einte. Dadurch hat sich der Weltöffentlichkeit ein Bild eingeprägt, welches die drei Staaten eher als Gruppe ablichtet, die Einzelakteure jedoch unporträtiert lässt. Estland hat bislang am stärksten dieser Charakterisierung widerstanden, da es sich zum nordischen Kulturraum zugehörig fühlt.114 Abgesehen davon bestehen „excellent relations“115 zwischen allen drei Ländern, die seit ihrer zurückerhaltenen Souveränität ein weit gediehenes trilaterales Rahmenwerk geschaffen haben. Bevor in Kapitel D. die darin konzipierte Kooperation zwischen den drei Ostseerepubliken genauer bewertet werden kann, sollen Estlands bilaterale Beziehungen zu Lettland und Litauen näher bestimmt werden. Das estnisch-lettische Verhältnis ist durch die direkte Nachbarschaft beider Länder geprägt. Tallinn bezeichnet seine Beziehungen zu Riga als eng und freundschaftlich, wobei gemeinsame Interessen in auswärtigen Angelegenheiten die Basis ihres Miteinanders bereiten.116 Das galt bis 2004 vorneweg für die Beitrittsvorstellungen hinsichtlich EU und NATO. Gänzlich ungetrübt ist die Koexistenz zwischen Esten und Letten nicht immer verlaufen, worauf der mittlerweile beigelegte Grenzstreit zwischen ihnen hindeutet. Hintergrund dafür war die umstrittene Seegrenze im Golf von Riga, die Tallinn 1993 einseitig festgelegt hatte. Im April 1996 erwiderte die lettische Regierung diesen Schritt, indem sie ihre eigene Grenze ebenso unilateral festsetzte. Bevor sich die Fronten weiter verhärteten, schaltete sich Stockholm als Vermittler ein. Der ausgehandelte Kompromiss vom 12. Mai 1996 führte zur Akzeptanz der estnischen Grenze seitens der Letten. Im Gegenzug wurde lettischen Fischern die Arbeit in diesen Gewässern erlaubt.117 Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Estland und Lettland entwickelten sich erst in den letzten Jahren intensiver. Westorientierung des estnischen Marktes und teilweise vergleichbare Strukturen beider Volksökonomien senkten das Handelspotenzial. Im Jahr 2003 belief sich der Anteil des est114
Vgl. Ilves (1999d). Rainart, S. 48. 116 Vgl. EMFA (2004j). 117 Im August 1997 ratifizierten die estnische und lettische Volksvertretung den Grenzvertrag und bis Ende 1997 folgte die endgültige Markierung der gemeinsamen Grenzlinie. Vgl. Schmidt, S. 284. 115
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nischen Exports nach Lettland auf sieben Prozent seines gesamten Außenhandels. Den Import betreffend, rangiert Lettland auf Position 13. Lediglich 2,4 Prozent seiner Waren bezogen die Esten von dort. In Bezug auf Auslandsinvestitionen scheint eine günstige Basis vorhanden. Der FDI-Anteil Estlands in Lettland ergab 2004 ein Volumen von mehr als 100 Millionen Euro, womit nahezu eine Vervierfachung der Investitionen im Vergleich zum Vorjahr erzielt wurde.118 Bei anhaltendem Wachstum der estnischen Wirtschaft und der Suche nach Expansionsmöglichkeiten kann sich die räumliche Nähe zu Lettland vorteilhaft auswirken und zur Stärkung der Wirtschaftskontakte beitragen. Zwar teilen die Republiken Estland und Litauen keine Grenze miteinander, doch bestehen zwischen ihnen im Prinzip nachbarschaftliche Beziehungen. Ihre Regierungen können auf ein Fundament der freundschaftlichen Verbundenheit bauen, das sich durch gegenseitigen Respekt und den Willen zur Zusammenarbeit auszeichnet. In ökonomischer Hinsicht konnte das Verhältnis zwischen Esten und Litauern permanent vertieft werden und Tallinn sieht in diesem Zusammenhang weitere Wachstumsmöglichkeiten.119 Seit 2001 ist die für Estland anfänglich positive Handelsbilanz ins Negative umgeschlagen, was 2003 einem Volumen von 47,8 Millionen Euro entsprach. 3,7 Prozent ihres Exporthandels betrieben die Esten mit Litauen und 3,4 Prozent ihrer Waren importierten sie von dort.120 Gründe für diese geringen Anteile sind, wie bereits im Fall Lettlands angedeutet, die kleine Größe der beteiligten Märkte selbst, ihre ähnlich gelagerten Industriestrukturen sowie ihre generelle Orientierung nach Westen, wo sie mit ihren preiswerten Produkten auf eine höhere Kaufkraft treffen. Ähnlich gelagerte außenpolitische Interessen liegen auch zwischen Tallinn und Vilnius vor, was als hinreichende Bedingung für ein kooperatives Miteinander in bestimmten Politikfeldern gilt. Unter Hinzuziehung Lettlands lässt das auf eine günstige Ausgangslage für eine trilaterale intrabaltische Kooperation schließen. 3. Bilaterale Beziehungen zu Finnland und Schweden Nach der Zurückgewinnung seiner Unabhängigkeit konnte sich Estland nicht allein auf die Zusammenarbeit mit den baltischen Staaten Lettland und Litauen verlassen. Schließlich stand allen drei Ostseerepubliken ein langwieriger Strukturwandel bevor, der die Unterstützung von erfahrener Seite verlangte. Die nordischen Länder (Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden) waren willens und fähig, den Balten im Zuge ihrer 118 119 120
Siehe Tabelle 8 im Anhang. Vgl. EMFA (2004i). Vgl. ebd.; siehe Tabelle 6 im Anhang.
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Transformation zu assistieren, was ihnen im außenpolitischen Diskurs weiterhin Anerkennung einbringt.121 Dabei spielten Finnland und Schweden für Estland eine herausragende Rolle. Beide Länder zeigten das größte Engagement gegenüber Estland und seinem Reformkurs, weshalb sie im Folgenden besondere Berücksichtigung finden.122 Begründet wird die hilfsbereite Einstellung der Finnen und Schweden durch die historischen und kulturellen Bindungen der zwei Nationen im Baltikum. Das schwedische Königreich herrschte zwischen 1629 und 1710 in Estland, bis es die Macht an das Zarenreich verlor. Jahrhundertelang siedelten Schweden an der estnischen Küste, bevor sie der Stalinismus zur Flucht zwang. Noch heute zeugen Spuren davon, die mittlerweile zur Wiederbelebung des kulturellen Austauschs beitragen. Finnen und Esten wiederum gehören der finno-ugrischen Sprachgruppe an. Dies verhilft beiden Nationen zur regen Interaktion in Sachen Kultur, Handel und Wirtschaft und ist auch für den gegenwärtig engen Kontakt verantwortlich. Die Republik Finnland nahm seine offiziellen Beziehungen zu Estland am 29. August 1991 wieder auf. Seine vertragliche Bindung an die Sowjetunion verhinderte mehr als vierzig Jahre eine uneingeschränkte Außenpolitik, wodurch das estnisch-finnische Verhältnis zu einer Angelegenheit Moskaus wurde.123 Nach dem Kollaps des sowjetischen Machtbereiches konnte Helsinki seine Aufmerksamkeit ungehindert auf die ganze Ostseeregion richten, was die Annäherung an Tallinn zur Folge hatte. Gleichwohl sind die Finnen an der Aufrechterhaltung guter Beziehungen zur Russischen Föderation und an deren Einbeziehung in die politische Verflechtung der Ostseeanrainer interessiert.124 Es lag im Sicherheitsbedürfnis Helsinkis verankert, dass die Zone der Stabilität auf das Baltikum ausgedehnt werden müsste. Daher sah Tallinn in seinem nördlichen Nachbarn einen wichtigen 121 Vgl. EMFA (2002b). Informationen zu konkreten Hilfsprojekten der nordischen Länder in Estland gibt das European Union Secretariat der estnischen Staatskanzlei. Vgl. European Union Secretariat. 122 Island und Norwegen fallen aus der Untersuchung heraus, weil darin nur Länder berücksichtigt werden sollen, welche die EU-Mitgliedschaft innehaben. Dänemark engagiert sich ähnlich wie Finnland und Schweden in der Ostseeregion, richtet seinen Fokus jedoch primär auf Grund der geografischen Nähe auf Lettland und Polen aus. 123 Finnland gehörte einst zum russischen Imperium, sagte sich aber 1917 davon los und musste sich zwischen 1939 und 1944 wiederholt gegen sowjetische Aggressionen wehren. 1948 schloss Helsinki mit der Sowjetunion den „Vertrag über die Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“. Unter Beibehaltung des eigenen Gesellschaftssystems folgte es in Fragen der Außenpolitik Moskau und unterhielt dorthin intensive Wirtschaftsbeziehungen. Vgl. Schmidt, S. 205 f.; Sergounin, S. 43. 124 Vgl. Schmidt, S. 213; Sivonen, S. 101.
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Anwalt für seine Ambitionen bezüglich EU und NATO. Finnland schien für die Esten der geeignete Fürsprecher seiner Westintegration zu sein. Dem Land wurde somit eine Vorbildrolle zugesprochen, was Tallinn zur Konzentration seiner diplomatischen Anstrengungen auf den nördlichen Nachbarn veranlasste.125 Um die Absprache der beiden Länder besser zu koordinieren, wurde im Herbst 2002 auf Initiative der Premierminister Siim Kallas (Estland) und Paavo Lipponen (Finnland) die so genannte Wise Men Assembly (Versammlung der Weisen) geschaffen. Mittlerweile hat dieses Gremium mehr als vierzig Vorschläge zusammengetragen, die die Arbeit der zwei Parteien in den Bereichen Umwelt, Wirtschaft, Kultur, Forschung und Bildung auf interministerieller Ebene verbessern sollen.126 Ökonomisch gesehen, ist Estland auf finnische Absatzmärkte und Investoren angewiesen. Die relativ geringe Distanz beider Länder – Helsinki und Tallinn trennt lediglich ein achtzig Kilometer breiter Ostseestreifen – begünstigt intensive Wirtschaftsbeziehungen. Jahr für Jahr konnten sich die Exporte zum finnischen Nachbarn steigern und haben sich inzwischen auf rund ein Viertel der Gesamtausfuhr eingependelt. Hingegen ist die Wareneinfuhr aus Finnland rückläufig. Im Zeitraum von 1999 bis 2003 ging der finnische Anteil am Gesamtumfang estnischer Importe von 25,9 Prozent auf 15,9 Prozent zurück. Seit 2001 zeigt der Handel mit Finnland für die Esten ein Plus auf, welches im Jahr 2003 124 Millionen Euro betrug.127 In Bezug auf Investitionen ist der finnische Nachbar ebenso bedeutend für die estnische Wirtschaft. Nach Angaben der Zentralbank Estlands erreichten die finnischen Direktinvestitionen des Jahres 2003 eine Summe von 352 Millionen Euro, was 44 Prozent aller FDI entspricht.128 Seit Beginn der 1990er Jahre haben finnische Investoren ein umfassendes Netzwerk von Firmen in Estland errichten können, wobei sie sich speziell auf kleinere und mittlere Unternehmen konzentrieren.129 Von Tallinn aus ist die Entfernung zu Stockholm (385 Kilometer) zwar weniger schnell zu überwinden als zur finnischen Hauptstadt. Davon unbe125 Allein von 1993 bis 1995 waren estnische Premier- oder Außenminister sowie der Präsident zwanzig Mal in Finnland zu Gast (während dem lediglich ein Besuch in Moskau gegenübersteht). Vgl. Vihalemm, S. 137. Zwischen 1997 und 2004 gab es durchschnittlich vier bilaterale Treffen pro Jahr auf hoher politischer Ebene. Vgl. EMFA (2004l). 126 Vgl. ebd. 127 Vgl. Statistical Office of Estonia (2004), S. 16 und 20; siehe Tabelle 6 im Anhang. 128 Vgl. Bank of Estonia (14.12.2005b); siehe Tabelle 8 im Anhang. 129 Finnische Investoren besitzen anteilig annähernd 2.000 Unternehmen in Estland. Circa 900 weitere Firmen befinden sich im vollständigen Besitz von Unternehmern aus Finnland. Vgl. EMFA (2004l).
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eindruckt haben Esten und Schweden ihre Beziehungen seit der Wiederaufnahme ihrer Kontakte am 27. August 1991 kontinuierlich vertiefen können. In Stockholm erforderte die erneute Unabhängigkeit Estlands ein Umdenken in der Außenpolitik, da die schwedische Regierung den Anschluss an die Sowjetunion akzeptiert hatte.130 Als größter skandinavischer Staat nimmt Schweden eine besondere Position in der Ostseeregion ein. Einerseits der Neutralität in der Sicherheitspolitik verpflichtet, sorgen sich die Schweden andererseits um die Stabilität der Region. Der Beitritt zur Europäischen Union 1995 bedeutete eine leichte Lockerung dieser Maßgabe. Umgekehrt folgte daraus die Lobbyarbeit für die EU-Osterweiterung. Dass die estnische Regierung besonderen Wert auf das bilaterale Verhältnis zum Königreich legt, belegen zahlreiche gegenseitige Besuche.131 Nicht zu vergessen ist weiterhin die estnische Gemeinde in Schweden. Tausende von Esten haben nach der Okkupation ihrer Heimat Zuflucht am anderen Ufer der Ostsee finden können. Nachdem sich Estland vom Moskauer Einflussbereich erneut für souverän erklären konnte, initiierten jene Emigranten wertvolle diplomatische, wirtschaftliche und kulturelle Kontakte, die mitverantwortlich für das rasch enger werdende Verhältnis der beiden Länder zueinander waren. Neben der Fürsprache Stockholms für den EU-Beitritt Estlands zeichnete sich bereits in der Frage des russischen Truppenabzugs eine Art schwedische Anwaltschaft gegenüber den Esten ab,132 – gewiss mit eigenen Sicherheitsüberlegungen im Hinterkopf. In den Augen des estnischen Außenministeriums begründet der damalige Einsatz die Schlüsselstellung, die Schweden in der Ostseeregion ausübt. Hinzu kommen die beachtlichen Investitionssummen für die estnische Wirtschaft sowie die erwähnte Befürwortung der EU-Mitgliedschaft im Sinne einer ausgeweiteten Zone der Sicherheit und ökonomischer Prosperität.133 Keineswegs betrachtet Tallinn angesichts dieser Pluspunkte das Verhältnis als einseitig, kommt es doch eher einer „win-win relationship“134 gleich, in der alle Seiten voneinander profitieren. Was die estnisch-schwedischen Wirtschaftskontakte betrifft, ist deren stetige Ausweitung festzuhalten. Der Anteil Schwedens am estnischen Export bezifferte sich 1999 auf 22,9 Prozent (1995 10,9 Prozent) und ging vier Jahre später auf 15,2 Prozent zurück. In Bezug auf das estnische Importgeschäft zwischen 1999 und 2003 liegt der Anteil schwedischer Güter bei einem mittleren Wert von 9,6 Prozent. Seit 1998 ist Estland in der Lage, 130
Vgl. Kukk, S. 210. Zwischen 1997 und 2003 gab es 42 Begegnungen mit hochrangigen Vertretern der Politik. Vgl. EMFA (2004m). 132 Vgl. Herolf, S. 226. 133 Vgl. Ilves (1997a). 134 Vgl. ebd. 131
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im Handel mit Schweden eine positive Bilanz vorzuzeigen, die im Jahr 2003 annähernd 106 Millionen Euro aufwies. Die schwedischen Direktinvestitionen in Estland hatten im gleichen Jahr einen Umfang von fast 254 Millionen Euro, was einem Anteil von 32 Prozent des FDI-Gesamtaufkommens entspricht.135
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Vgl. Bank of Estonia (14.12.2005b); siehe Tabelle 8 im Anhang.
D. Estlands Agieren in der Ostseeregion Die Ostseeregion ist weit davon entfernt, ein homogenes, monolithisches Gebilde zu sein. Bei genauerem Hinsehen zählt das europäische Binnenmeer neun Anrainer, die sich in Sprache, Kultur, Geschichte und Entwicklungsstand voneinander unterscheiden. Lediglich ihre geografische Lage an den Ufern der Ostsee ist allen gemein. Allerdings bestehen heute mehr denn je Chancen zur kollektiven Gestaltung dieses Raumes auf politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gebieten. Seitdem sich Ende der 1980er Jahre das weltpolitische Klima zu Gunsten von Demokratisierung und Liberalisierung entscheidend gewandelt hat, wurde auch das Baltische Meer wieder zu einem freien internationalen Gewässer. Mehr als vierzig Jahre lag die Ostsee im Schatten des Kalten Krieges, der die anliegenden Staaten ideologisch in Ost und West teilte. Ziel dieses Kapitels soll es sein, die geopolitischen Determinanten der betreffenden Region zu erfassen und die darin enthaltenen Implikationen für eine intensivierte Zusammenarbeit der Ostseeländer herauszuarbeiten. In weiteren Schritten werden Möglichkeiten grenzüberschreitender Kooperation in der Ostseeregion aus der Perspektive Estlands eruiert sowie das institutionelle Rahmenwerk der Ostseekooperation näher untersucht.
I. Einführende Grundlagen zur interregionalen Kooperation 1. Theoretische und geopolitische Überlegungen im Kontext der Ostseezusammenarbeit Um die Ostseeregion (Baltic Sea Region – BSR) in ihrer geografischen und politischen Reichweite genauer zu spezifizieren, muss dem eine Begriffsklärung vorausgehen. Eine Region1 kann unter anderem nach physischen, biologischen, geologischen und anthropologischen Gesichtspunkten determiniert und untersucht werden. Im politikwissenschaftlichen Diskurs 1 Das Wort Region stammt vom Lateinischen regionalis ab und ist verwandt mit den Worten regio – für „Richtung“ oder „Grenzlinie“ – sowie regere – für „führen“, „regieren“, „leiten“. Demnach umfasst der Begriff zwei semantische Ebenen: zum einen verweist er auf etwas Räumliches, zum anderen auf etwas Metaphorisches, im Sinne von Macht. Vgl. Maciejewski, S. 30.
I. Grundlagen zur interregionalen Kooperation
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wird die Region schwerpunktmäßig als Handlungseinheit betrachtet (action unit), während regionalwissenschaftliche Studien ihren Fokus auf den Handlungsraum (action space) richten.2 In dem hier zu analysierenden Kontext, der den politischen und räumlichen Entwicklungen der BSR Rechnung tragen soll, wird folgende Definition vorgeschlagen: Eine Region konstituiert eine auf ein bestimmtes Territorium ausgelegte räumliche Einheit (Lokale Größe), in der politische, ökonomische und soziokulturelle Entscheidungsprozesse unter Beteiligung verschiedener Handlungsträger (Akteursgröße: Institutionen, Organisationen, Individuen) ablaufen (Ereignisgröße), wodurch das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen in diesem Gebiet beeinflusst wird (Interaktionsgröße).3
Ein genaueres Bild über die Ausdehnung der Ostseeregion verschafft deren naturräumliche Charakterisierung. Ein solcher Schritt ist erforderlich, um die dortigen Kooperationsbemühungen in ihrem räumlich möglichen Umfang leichter nachvollziehen zu können. Zur geografischen Abgrenzung kann einerseits die so genannte Wasserscheide herangezogen werden. Dabei erhält die Ostseeregion ihre natürliche Grenze durch dasjenige Gebiet, dessen Flüsse ins Baltische Meer fließen (Zuflussbecken). Unter diesen Bedingungen würden insgesamt 14 Staaten zur BSR zählen (neun Küstenländer und fünf Binnenländer), in denen 85 Millionen Menschen leben.4 Andererseits kann die Region auf die Anrainerstaaten der Ostsee reduziert werden. Dann gehören zum Einzugsgebiet neben den drei baltischen Ländern, auch Dänemark, Finnland und Schweden ohne ihre arktischen Gebiete, Russland mit den Administrationen (Oblast) Leningrad und Kaliningrad, Polen mit den Küstenregionen sowie die deutschen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein.5 Im Wesentlichen bevorzugen die wichtigsten multinationalen Akteure der BSR jene Herangehensweise, weshalb sich dieser territorialen Eingrenzung angeschlossen wird. Dadurch verringert sich die Größe der Handlungseinheit; zugleich resultiert daraus ein kohärenteres Bild der zu berücksichtigenden Parteien (Staaten und Organisationen) und ihrer Interessen. 2
Vgl. Schmitt-Egner, S. 181. Diese Begriffsbestimmung lehnt sich an die Überlegungen des finnischen Humangeografen Jussi S. Jauhiainen an, der die Region nach vier Dimensionen unterteilt. Demzufolge verweist der Begriff auf eine naturräumliche, eine soziokulturelle, eine wirtschaftlich-funktionale sowie eine politisch-administrative Komponente. Vgl. Jauhiainen (2004), S. 566. 4 Die direkten Anlieger sind Estland, Dänemark, Deutschland, Finnland, Lettland, Litauen, Polen, Schweden und Russland. Im Zuflussbecken (drainage basin) liegen Norwegen, die Slowakei, Tschechien, die Ukraine und Weißrussland. Dieses Gebiet hat eine Fläche von 1.745.000 Quadratkilometern (2.250.000 Quadratkilometer inklusive der Ostsee). Vgl. Rydén, S. 10. 5 Vgl. Carrafiello/Vertongen, S. 205. 3
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D. Estlands Agieren in der Ostseeregion
So mehrdeutig wie die räumliche Ausdehnung der Ostseeregion ausfällt, so divers können auch die Eigenschaften sein, die der Region eine spezifische Bedeutung verleihen sollen. Jauhiainen regt beispielsweise an: „The area around the Baltic Sea region can be considered a European megaregion consisting of several states, as a European sub-region consisting of regions and parts of states, as a network of different interest groups in the area or as an imagined community created by region-builders.“6 Diese optionalen Betrachtungsweisen werden im Zuge der weiteren Auseinandersetzung beleuchtet, da abhängig vom jeweiligen Standpunkt unterschiedliche Akteure, Konzepte und Zielsetzungen zur Gestaltung der Region auftreten. An dieser Stelle ist auf den Begriff Regionalpolitik hinzuweisen. Er bezieht sich in erster Linie auf die politischen Aktivitäten, Strategien, Entscheidungsabläufe und Instrumente, die in einer bestimmten Region beobachtbar respektive die auf eine bestimmte Region ausgerichtet sind – hier die Ostseeregion (und nicht etwa rekurrierend auf Regionen in Estland). Dies gilt insbesondere in Bezug auf die estnische Regionalpolitik, deren Inhalte und Maßnahmen die vorliegende Arbeit herausstellen will. Bevor die Bedingungen einer erfolgreichen Kooperation in der Ostseeregion näher erläutert werden, sei kurz an die geopolitische Konstellation erinnert, die bereits auf mögliche Kooperationsrichtungen hindeuten kann. Der Eiserne Vorhang teilte die Länder der BSR in drei Gruppen: die Staaten des Warschauer Paktes (die DDR, die Sowjetunion und die Volksrepublik Polen); die NATO- und EG-Staaten (die BRD und Dänemark) sowie die neutralen Länder Finnland und Schweden. Mit Beendigung des OstWest-Konflikts entfiel nicht nur die ideologische Trennung, sondern auch die Souveränitätsbeschneidung der baltischen Republiken, indem sie ihre Unabhängigkeit wiedererlangten. Dadurch eröffnete sich die Möglichkeit, die gesamte Region wieder als zusammengehöriges Ganzes zu betrachten. „Consequently“, so der finnische Politikwissenschaftler Pertti Joenniemi, „the Baltic Sea has become less of a barrier and more of a bridge, opening routes that were previously closed. It mediates rather than obstructs contacts.“7 Mittlerweile gehören die baltischen Staaten wie auch Polen zum Kreis von NATO und Europäischer Union. Letzteres gilt gleichsam für Finnland und Schweden. Lediglich Russland als größter Nachfolgestaat der UdSSR gehört keiner dieser Organisationen an. Neben dem Grad der Westintegration trägt auch die sozioökonomische Situation der Länder zur Differenzierung der Region bei. Zum einen gibt es die hoch entwickelten Industriestaaten (Deutschland und die nordischen Länder), zum anderen tritt das poli6 7
Jauhiainen (1999), S. 47. Joenniemi (1992), S. 39.
I. Grundlagen zur interregionalen Kooperation
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tisch und wirtschaftlich instabile Russland mit den Ambitionen einer Großmacht in Erscheinung. Hinzu kommen das relativ einflussreiche Polen sowie die baltischen Länder, die zusammen infolge ihrer Transformation Entwicklungsrückstände in Bezug auf den EU-Durchschnitt aufweisen.8 2. Allgemeine Voraussetzungen für grenzübergreifende Kooperation im Ostseeraum Nachdem die Handlungseinheit Ostseeregion näher charakterisiert und damit der Aktionsrahmen eingegrenzt wurde, bedarf es darauf aufbauend einer genaueren Bestimmung, wann Kooperation im grenzüberschreitenden Kontext möglich ist und welche Formen diese annehmen kann. Schwerpunkt vorliegender Arbeit ist die Konkretisierung der Regionalpolitik Estlands und die darin zum Tragen kommenden Kooperationsbemühungen in der Ostseeregion. Aus diesem Grund konzentriert sich der hierin verwendete Begriff Kooperation, auch Zusammenarbeit, auf die Aktivitäten der zentralen und lokalen Regierungen sowie der von ihnen unterstützten Organisationen und Gremien mit Blick auf korrespondierende Stellen anderer Ostseeanrainer. Allgemein gesprochen, findet Kooperation dann statt, „when actors adjust their behavior to the actual or anticipated preferences of others, through a process of policy coordination.“9 Diese politische Verhaltensabstimmung kann unterschiedliche Formen und Konstellationen annehmen. Denkbar sind etwa Ad-hoc-Maßnahmen, die für spezifische Probleme individuelle Lösungen aufzeigen; formelle oder informelle Übereinkünfte für einen längeren Zeitraum oder die Schaffung gemeinsamer Institutionen, die die weitere Kooperation lenken und Transaktionskosten minimieren sollen.10 Intergouvernementale Zusammenarbeit, das heißt Kooperation auf Regierungsebene, wird wahrscheinlicher, je stärker die politischen Zielvorstellungen einer Regierung von anderen Regierungen als nützlich für die Realisierung ihrer eigenen Vorhaben angesehen werden. Das damit implizierte Koordinieren politischer Interessen bedeutet, eigene Ansichten mit denen anderer zu verknüpfen und zu verhandeln, dass daraus Vorteile für alle involvierten Parteien entstehen, selbst wenn diese ungleich verteilt sein sollten.11 Gleiches gilt für die zwischen benachbarten Grenzregionen auftretende Zusammenarbeit (trans-border oder cross-border co-operation). Malcolm Anderson definiert diesen Begriff genauer und verbindet ihn mit der 8
Vgl. Reiljan/Andresson/Reiljan, S. 93. Keohane, S. 51. 10 Vgl. Vilpišauskas, S. 167. 11 Vgl. Keohane, S. 51 f. 9
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D. Estlands Agieren in der Ostseeregion
kooperativen Politik zwischen Regierungen unterhalb der Zentralebene, Interessenverbänden und der Bürgergesellschaft. Dabei können die Zentralregierungen einerseits eine derartige Zusammenarbeit fördern (zum Beispiel durch internationale Abkommen und Finanzmittel). Andererseits können sie diese auch einschränken, indem sie ihre höhere Politik mit den Vorstellungen der Lokalebene nicht in Einklang sehen.12 Da die Ostseeregion einen multinationalen Raum mit heterogenen politisch-administrativen Grenzen darstellt, besteht hier ein erheblicher Koordinationsbedarf zwischen den betreffenden Verwaltungseinheiten sowohl in horizontaler als auch vertikaler Hinsicht. Der entscheidende Impuls zur grenzüberschreitenden Kooperation kommt oftmals von den zur Grenze exponierten Kommunen. Indem sie Bedenken und Probleme ihres jeweiligen Aktionsraumes teilen, gelangen sie zu der Einsicht, dass „interregional cross-border co-operation would turn out to be an efficient way of strengthening not only cohesion and mutual interest (. . .), but also contribute to subnational capacity-building in terms of management skills, leadership and productivity.“13 Die Voraussetzungen für eine vielschichtige interregionale Zusammenarbeit14 lassen sich wie folgt komprimieren: Erstens bereitet das Auftreten ernsthafter Probleme, die von verschiedenen Seiten als solche anerkannt werden, die Basis für ein kooperatives Vorgehen zu deren Bewältigung. Zweitens muss daran anknüpfend eine Anzahl von Entscheidungsträgern in Schlüsselpositionen den Anstoß für die Bildung eines interregionalen Netzwerkes geben. Drittens sollte dieses Netzwerk auf gegenseitigem Verstehen und Verständnis beruhen, was beispielsweise gemeinsame Sprachkenntnisse und Verhaltensregeln bedingt.15 Durchweg bleiben allerdings Hindernisse bestehen, die es ebenfalls zu berücksichtigen gilt. Dazu zählen etwa Mängel in der Gesetzgebung und in der Regelung der Zuständigkeiten, fehlende Ressourcen in Sachen Finanzierung und Ausstattung sowie unzureichende Qualifikationen bezüglich der Verwaltungs- und Managementaufgaben. Inwieweit die genannten Bedingungen für eine effiziente Zusammenarbeit in der Ostseeregion erfüllt sind, in welchen Bereichen bereits kooperative Arrangements bestehen und wo Hürden auftauchen, werden die kommenden Abschnitte klären. 12
Vgl. Anderson, S. 201. Berg/Flitenborg, S. 131. 14 Interregionale Zusammenarbeit wird hier als das gemeinsame Agieren zwischen verschiedenen Sub-Regionen der übergeordneten Ostseeregion verstanden. Handelt es sich um Kooperation, die sich auf den Ostseeraum als Ganzes beruft, dann ist von intraregionaler Zusammenarbeit die Rede. 15 Vgl. Anderson, S. 211 f. 13
II. Estlands balto-skandinavischer Aktionsraum
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II. Estlands balto-skandinavischer Aktionsraum 1. Intrabaltische Kooperation: Wunschdenken oder Wirklichkeit? Gemeinsame Zielvorstellungen in auswärtigen Angelegenheiten, wie sie die Darstellung der bilateralen Beziehungen Estlands zu Lettland und Litauen bereits dokumentiert hat, sollten im Grunde die Basis einer trilateralen Politik bereiten, die nicht zuletzt von außen gewünscht wurde.16 Das galt bis 2004 vorneweg für die Beitrittsvorstellungen hinsichtlich EU und NATO, was auch die estnische Führung als Ausgangspunkt einer engen und pragmatischen Kooperation im Baltikum gewertet hat.17 Aber welche Taten gingen von dieser wohlmeinenden Grundeinstellung aus? Bezüglich einer EU-Mitgliedschaft war im Vorfeld zumindest keine gemeinsame Strategie erkennbar. Jede der baltischen Regierungen beschritt ihren Weg zur Europäischen Union individuell, weshalb die Vermutung nahe liegt, dass sie sich mehr als Wettbewerber denn als Partner verstanden.18 Besonders deutlich wurde diese Haltung bei der Aufnahme Estlands in diejenige Gruppe, mit der die Europäische Kommission zuerst ihre Beitrittsgespräche beginnen wollte. Riga und Vilnius sahen sich in ihren Aufnahmechancen zurückgeworfen und glaubten sich zu unrecht benachteiligt.19 Die Erfahrung hat inzwischen bewiesen, dass die damalige Entscheidung des Luxemburger EU-Gipfels 1997, obgleich politisch schwierig, die richtige war. Lettland und Litauen intensivierten ihre Reformen und fanden rechtzeitig den Anschluss an die fortgeschrittenen EU-Kandidaten. Ob Esten, Letten und Litauer nach ihrer Aufnahme in die Union konzertiert vorgehen werden, bleibt eine Frage künftiger Untersuchungen. Neben Übereinstimmungen auf dem Gebiet der Außenpolitik verhieß zudem die geringe Größe der baltischen Länder Kooperationstauglichkeit. Schließlich erbrachten einst Belgien, Luxemburg und die Niederlande eine Vorlage für ein Kooperationsmodell von Kleinstaaten. Inhaltliche Übereinstimmung und geografische Nähe veranlassten Tallinn daher zu einer prinzipiell positiven Einstellung gegenüber der intrabaltischen Zusammenarbeit.20 Jedoch ist es leicht, in offiziellen Verlautbarungen für ein politisches Miteinander der Balten einzutreten; vor allen Dingen, wenn die Erwartungshaltungen Dritter dergleichen nahe legten. Zwar wird in den EMFA-Dokumenten, die diese Thematik aufgreifen, stets die Bedeutung 16 17 18 19 20
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Ozolina, S. 1. EMFA (2001b). Väyrynen, S. 208. Arnswald (1998), S. 75. EMFA (2001b); Ilves (1997d).
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D. Estlands Agieren in der Ostseeregion
der Zusammenarbeit zwischen Estland, Lettland und Litauen betont, doch ist den Texten nichts Visionäres zu entnehmen. Oft finden sich nur vage oder allgemeine Formulierungen über Charakter und Reichweite der von Tallinn angedachten intrabaltischen Kooperation, wenngleich ihr Stellenwert für die Stabilität des Baltikums und der gesamten Ostseeregion außer Frage steht.21 Allerdings kam der Westintegration eine prioritäre Stellung auf der außenpolitischen Tagesordnung Estlands zu, wobei die Vorteile einer baltischen Integration unzureichend bedacht wurden. Wären Tallinn, Riga und Vilnius parallel zu ihren Beitrittsgesuchen eine engere Zusammenarbeit eingegangen, hätten sie nicht nur ihre ähnlich gelagerten Transformationsprobleme koordiniert bewältigen können. Gleichzeitig wären sie gegenüber ihren Verhandlungspartnern als ein Dreigespann aufgetreten, das eine verstärkte Interessenvertretung nach außen hätte ausüben können. Des Weiteren hätten die drei Länder damit ihre Integrationsbereitschaft unterstrichen. Begründen dürfte sich die abwartende Haltung der estnischen Regierung mit Hilfe einer Nutzen-Kosten-Kalkulation: Da alle baltischen Staaten vor vergleichbaren Herausforderungen standen, ihre soziopolitischen und ökonomischen Strukturen zu reformieren, benötigten sie die Hilfe besser situierter Partner, als dass sie sich gegenseitig hätten wirksam unterstützen können. Estland verfolgte seinen Reformweg mit zum Teil radikalen Maßnahmen (SchockTherapie), deren Aufschub infolge einer eventuellen Abstimmung mit Lettland und Litauen die verlangsamte Umsetzung der außenpolitischen Hauptziele bedeutet hätte. Die relative Hintanstellung der intrabaltischen Zusammenarbeit bedeutet natürlich nicht, dass die Führung in Estland Untätigkeit an den Tag gelegt hätte. Insbesondere die Beschaffenheit als Kleinstaat und die geostrategische Lage verlangten von Tallinn den Auf- und Ausbau partnerschaftlicher Beziehungen im näheren Umfeld.22 Gerade in den letzten Jahren stieg das Bewusstsein, mehr Verantwortung bezüglich der interregionalen Kooperation zu übernehmen und damit eine gestalterische Rolle in der Ostseeregion auszuüben. Hintergrund für dieses Einsehen ist das wirtschaftliche Potenzial der Region, welches durch das Ineinandergreifen von Regierungsvorhaben effektiver ausgeschöpft werden kann.23 Weil die Wirtschaftsbeziehungen der baltischen Länder zueinander wie auch diejenigen Estlands zu Schweden und Finnland bereits dargelegt wurden (siehe Kapitel B. II. 3. und C. III.), soll diesem Punkt weniger Beachtung beigemessen werden. Ohnehin ist die Wirtschaftskooperation nunmehr im Lichte der EU-Integration und 21 22 23
Vgl. EMFA (2001e), S. 5. Vgl. Järve, S. 223. Vgl. Ilves (1998c); Ojuland (2002b).
II. Estlands balto-skandinavischer Aktionsraum
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des Gemeinsamen Marktes zu bewerten, was hier nicht im Fokus der Untersuchung steht. Festzuhalten bleibt lediglich, dass Estland kraft seiner liberalen Wirtschaftspolitik an einem Höchstmaß an Offenheit und Deregulierung in der Ostseeregion interessiert ist, wo das Land bekanntlich einen Großteil seines Im- und Exports betreibt. Auf politisch-institutioneller Ebene begannen konkrete Schritte der intrabaltischen Zusammenarbeit unmittelbar nach den August-Ereignissen von 1991. Zwar gab es bereits seit Beginn der politischen Umwälzungen im Baltikum 1988 Ansätze zur Wiederbelebung der Kooperation zwischen den drei Republiken, wobei die Handelnden versuchten, an die Initiativen der Zwischenkriegszeit zu erinnern. Doch erst durch die Wiederherstellung der uneingeschränkten Souveränität konnten diese Vorstellungen realistische Formen annehmen.24 Mit Errichtung der Baltischen Versammlung (BV) am 8. November 1991 in Tallinn begann die Institutionalisierung einer kooperativen Politik zwischen Estland, Lettland und Litauen. Aufgabe der Versammlung ist es, die intrabaltische Kooperation auf interparlamentarischer Basis abzustimmen. Dazu zählen mit Blick auf den baltischen Raum die Anregung von Projekten, das Debattieren von Problemen und die Formulierung gemeinsamer Positionen bezüglich wirtschaftlicher, politischer und kultureller Sachfragen. Zudem wollen die Mitgliedsländer ihre trilateralen Anstrengungen als „force multiplier“25 in internationalen Angelegenheiten nutzen, wozu die BV als vorbereitendes und beratendes Gremium zur Verfügung steht. Angesichts wachsender Interdependenzen im Ostseeraum betont die Baltische Versammlung die Notwendigkeit, den gemeinsamen Aktionsraum mit anderen Regionalorganisationen wie dem Ostseerat oder dem Nordischen Rat zu gestalten.26 Insgesamt sind sechzig Parlamentarier (zwanzig je Land) an der Arbeit der Versammlung beteiligt, die acht Ausschüsse unterhält.27 Begründet durch die bloße Konsultativfunktion sind BV-Beschlüsse nicht bindend, wodurch es der gesamten Konzeption an Durchsetzungsfähigkeit und reellen Gestaltungsmöglichkeiten mangelt. Letztlich liegt es im Ermessen der nationalen Regierungen, inwiefern sie den Vorschlägen dieser interparlamentarischen Einrichtung Folge leisten, zumal parteipolitisch divergierende Konstellationen denkbar sind. 24
Vgl. Haab (1998), S. 3; Aalto, S. 185. Baltic Assembly (2003a). 26 Vgl. ebd. 27 Die Abgeordneten werden proportional zur Zusammensetzung der nationalen Parlamente entsandt und bilden folgende Ausschüsse: 1. Wirtschaft, Kommunikation und Informatik; 2. Bildung, Wissenschaft und Kultur; 3. Umweltschutz und Energie; 4. Gesetzliche Angelegenheiten; 5. Sicherheits- und Außenpolitik; 6. Soziale Fragen; 7. Haushalt und 8. Verfassen der Dokumente (Drafting). Vgl. Baltic Assembly (2003b). 25
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D. Estlands Agieren in der Ostseeregion
Im September 1993 kamen die Premierminister Estlands, Lettlands und Litauens überein, der intrabaltischen Kooperation ein weiteres Gremium anbei zu geben – den Baltischen Ministerrat (BMR), der am 13. Juni 1994 seine Arbeit aufnahm. Zu seinen Aufgaben zählen: die Entscheidungsfindung auf Basis der BV-Empfehlungen; die Konkretisierung trilateraler Abkommen sowie die Benennung gemeinsamer Interessen.28 Dem BMR stehen die drei Ministerpräsidenten vor (Prime Ministers’ Council), während die Außenminister den Kooperationsrat bilden. Des Weiteren arbeiten ein Sekretariat sowie 18 Fachausschüsse (Committees of Senior Officials) dem BMR zu.29 Kraft der auf estnischer Initiative eingeleiteten Reformen im Jahr 2002 rotiert der Vorsitz seit 2003 jährlich, wobei eine Kongruenz zur Baltischen Versammlung besteht. Zusammenkünfte zwischen anderen Fachministern (als den Außenministern) entfielen fortan und die Treffen der Regierungschefs haben sich auf eines per annum reduziert.30 Im Übrigen kooperieren beide Institutionen miteinander: erstens seit 1994 in alljährlicher Zusammenkunft als Baltischer Rat (BR), zweitens auf Ebene der jeweiligen Ausschüsse sowie drittens auf Ebene beider Sekretariate.31 Bisher haftet allen drei Gremien der Ruf verhältnismäßiger Ineffizienz an. Auf Grund mangelnder Implementierungsinstanzen blieb die intrabaltische Kooperation oft genug deklaratorischer Natur, weshalb sie sich weniger ausgeprägt und vertieft gestaltet als die Absichtserklärungen vermuten lassen.32 Zwischen 1994 und 2001 beschlossen Tallinn, Riga und Vilnius 22 trilaterale Abkommen (Stand 2003), die mehrheitlich den wirtschaftlichen (5) und den sicherheitspolitischen Bereich (7) betreffen.33 Insgesamt gesehen ist die intrabaltische Kooperation von Pragmatismus gezeichnet. Übereinkünfte werden vor allen Dingen dann erzielt, wenn daraus Vorteile für alle Beteiligten resultieren oder immanente nationale Interessen nicht beeinträchtigt werden. Somit ist die Zusammenarbeit Estlands, Lettlands und Litauens „a means of achieving other ends than an end in itself.“34 Eine Reihe von Faktoren hat die hinter den Erwartungen – vor allem seitens der nordischen Länder und der Europäischen Union – zurückgebliebene Zusammenarbeit der drei Ostseerepubliken negativ beeinflusst. So fehlte es den Regierungen an den nötigen Ressourcen für eine erfolgreiche 28
Vgl. Vilpišauskas, S. 175. Vgl. Baltic Council of Ministers, Artikel 2. 30 EMFA (2005). 31 Vgl. Baltic Council of Ministers, Artikel 7 und 9. 32 Vgl. Aalto, S. 185. 33 Vgl. Estonian Embassy in Riga; als Übersicht dazu dient Tabelle 13 im Anhang. 34 Löfgren/Herd, S. 73. 29
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Realisierung gemeinsamer Pläne. Um wirksame Kooperationsstrukturen zu unterhalten, wird die Bereitstellung ausreichender Gelder über einen längeren Zeitraum hinweg benötigt. Die im Transformationsprozess befindlichen Kleinstaaten verfügten nur über eine geringe finanzielle Ausstattung, weil das Gros der Budgets zur Vorbereitung auf die Mitgliedschaften in EU und NATO aufgewendet werden musste. Damit verbunden ist auch die Wettbewerbssituation, in der sich Esten, Letten und Litauer angesichts ihrer Beitrittsgesuche wieder fanden. Im Vordergrund standen daher individuelle und keine kooperativen Strategien aus Furcht, sich im Wege zu stehen. Hinzu kommt der bereits angesprochene Mangel an Ideen, wie sich die intrabaltische Kooperation auf lange Sicht hin gestalten soll. Eine weitere Ursache liegt in der diffusen Vorstellung von einer baltischen Identität, die eher von außen herangetragen wurde, als dass sie sich von innen heraus jemals firmieren konnte. Im Grunde ist dies vollends nachvollziehbar eingedenk der unterschiedlichen geschichtlichen Erfahrungen sowie der kulturellen und sprachlichen Wirklichkeiten. Nach der zurück erhaltenen Eigenstaatlichkeit besannen sich die drei Länder im Baltikum auf ihre nationalen Wurzeln und Traditionen, die es mit einem sich wandelnden geopolitischen Umfeld in Einklang zu bringen galt. Eine zu starke Ausrichtung auf die baltische Region hätte während dieser Selbstfindungsprozesse als störend empfunden werden können. Insbesondere Estland hat eine betont andere Richtung einschlagen wollen – die eines nordischen Landes. Der einstige Außenminister Ilves betrachtete das baltische Konzept als interessant, „since what the three Baltic States have in common almost completely derives from shared unhappy experiences imposed upon us from outside: occupations, deportations, annexation, sovietization, collectivization, russification. What these countries do not share is a common identity.“35 Wie sich aus diesen Bedingungen heraus die Aussichten auf eine Zusammenarbeit in der Ostseeregion gestalten, wird zum Thema nachfolgender Abschnitte. Dabei stehen zum einen die estnisch-nordische und zum anderen die baltisch-nordische Zusammenarbeit im Mittelpunkt des Interesses. 2. Blick nach Norden: eine realistische Alternative? Für die estnische Führung konnte die intrabaltische Kooperation nicht das alleinige Standbein ihres regionalen Engagements im Ostseeraum bleiben; das hat sich bereits in der Suche nach vertieften bilateralen Beziehungen zu Finnland und Schweden angedeutet. Gerade mit Blick auf deren so35
Ilves (1999d).
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zialpolitische Errungenschaften haben Estlands nördliche beziehungsweise westliche Nachbarn erstrebenswerte Akzente gesetzt. Das Attribut nordisch wird beinahe als eine Art Label stilisiert, welches aus estnischer Sicht international leichter zu vermarkten ist als das eines baltischen Landes.36 Zu hinterfragen ist allerdings, ob die anvisierten Gesellschaftssysteme nicht einer allzu idealisierten Betrachtung unterliegen. Wenn hauptsächlich positive Merkmale jahrzehntelang gewachsener Strukturen in Augenschein genommen werden, sind die dafür zu entrichtenden Kosten leicht übersehbar. Auch die skandinavischen Regierungen kennen kein sorgenfreies Auskommen und müssen ihre Politik gemäß dem Wandel der Zeit justieren (Stichpunkt Überalterung der Gesellschaft oder Arbeitsplatzexport infolge internationalen Wettbewerbs). Normen lassen sich nicht eins zu eins von einem Land auf ein anderes übertragen. Vielmehr gilt es, spezifische Schwächen und Stärken herauszustellen und ein mit dieser Lageanalyse korrespondierendes Politikprogramm zu entwerfen. Selbst Tallinn wird sich dieser Einsicht nicht entziehen können. Dieser Kritik ungeachtet bringt eine langfristige Kooperation beiderseits der Ostsee natürlich Vorteile mit sich. Insbesondere im Kontext der jüngsten EU-Erweiterung hat sich das Aufstellen und Unterhalten grenzübergreifender Projekte für die estnische Seite ausgezahlt, wobei sich ein engeres Zusammengehen zwischen Finnland und Estland herauskristallisiert hat.37 Die bereits angeführte kulturelle wie auch räumliche Nähe der zwei Nationen begründen diesen Umstand mit. Bezeichnend dafür ist die geringe Distanz der estnischen und finnischen Hauptstädte zueinander, während die zweitgrößte Stadt Estlands, Tartu, weiter von Tallinn entfernt liegt. Um die geografische Lage der wichtigsten Agglomerationen beider Länder besser zu nutzen und darüber hinaus ihre im Vergleich zu anderen europäischen Hauptstadtregionen kleinere Ausdehnung zu relativieren, kam es im Juni 1999 zur Gründung der EUREGIO Helsinki-Tallinn.38 Deren Handlungseinheiten und -räume sind die Städte Helsinki und Tallinn, deren umliegenden Kreise Uusimaa respektive Harjumaa sowie die Union der Gemeinden von Harjumaa. Daraus ergibt sich eine Gesamteinwohnerzahl von mehr als 1,9 Millionen Menschen (Stand 2002).39 EUREGIO Helsinki-Tallinn basiert auf 36
Vgl. Raik, S. 153. Vgl. Löfgren/Herd, S. 25. 38 EUREGIO ist ein wichtiges institutionelles Instrument, um die grenzüberschreitende soziale Infrastruktur in Europa voranzubringen. Die Idee wurde vom Europarat in den 1970er Jahren auf den Weg gebracht. Bald darauf begannen die ersten Aktivitäten, die mittlerweile europaweit über einhundert lokale Netzwerke in Grenzregionen hervorgebracht haben. Vgl. Jauhiainen (2002), S. 160 und 167 f. 39 Helsinki zählt 560.000 und Tallinn 400.000 Einwohner. In Uusimaa leben 840.000 und in Harjumaa 124.000 Menschen. Vgl. ebd., S. 168. 37
II. Estlands balto-skandinavischer Aktionsraum
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einer rein administrativen Zusammenarbeit der involvierten Parteien. Demnach bleiben private oder Nicht-Regierungsakteure außen vor. Organisatorisch gliedert sich das Projekt in: • Forum, zusammengesetzt durch die politischen Repräsentanten aller Beteiligten, welches gemeinsame Vorhaben erörtert und Zielvorstellungen formuliert; • Führungsausschuss, gebildet durch hochrangige Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltungen, welche das Programm der EUREGIO festlegen und Arbeitsgruppen ins Leben rufen können und • Sekretariat, welches abwechselnd von den jeweiligen finnischen oder estnischen Behörden besetzt wird und die Aufsicht über die Finanzen innehat sowie arbeitstechnische Verbesserungsvorschläge an den Führungsausschuss weiterleitet.40 Ihrem Selbstverständnis nach will die EUREGIO Helsinki-Tallinn eine Dacheinrichtung sein, die sich der Planung, Umsetzung und Koordinierung von Entwicklungsvorhaben im benannten Aktionsraum widmet. Innerhalb dieser institutionalisierten Zusammenarbeit kommen Aspekte der Wirtschaft, der Bildung und der Ökologie zum Tragen.41 Im Verlauf der EUKandidatur Estlands zielte die Arbeit der Gremien vor allem auf die Unterstützung dieser Bewerbung und die Vorbereitung auf die spätere Mitgliedschaft. Ferner liegt es im Ansinnen der Kooperationspartner, eine gemeinsame Werbestrategie zur Steigerung des Bekanntheitsgrades ihrer Region Helsinki-Tallinn zu konzipieren.42 Gelingt es Ideengebern und Entscheidungsmachern, die EUREGIO als innovative Wachstumsregion zu vermarkten, hat dies gewiss vorteilhafte Auswirkungen auf den Tourismus, den Handel und die Ansiedlung ausländischer Unternehmen, was im Gegenzug die ökonomische Situation der Region – insbesondere auf estnischer Seite – verbessern würde. Finanziert wird die EUREGIO Helsinki-Tallinn durch unterschiedliche Fördertöpfe der Europäischen Union, die für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ausgelegt sind und bei entsprechender Kofinanzierung durch die Partner vor Ort Verwendung finden. In diesem Fall sind das die Programme INTERREG III und PHARE-CBC.43 Eine vergleichbare institutionelle Übereinkunft zwischen estnischen und schwedischen Kommunen ist aus plausiblen Gründen bislang nicht geplant. 40
Vgl. Euregio Helsinki-Tallinn. Vgl. ebd. 42 Vgl. Jauhiainen (2002), S. 168. 43 PHARE-CBC = PHARE-Cross-border Co-operation. Auf die Fördermöglichkeiten der Europäischen Union bezüglich grenzüberschreitender Zusammenarbeit sowie deren ureigene Intentionen wird das fünfte Kapitel eingehen. 41
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Effizientes Arbeiten wäre angesichts der zu überbrückenden Entfernung kaum zu bewerkstelligen. Auf Grund der qualitativ anders verlaufenden Grenze zwischen der Republik Estland und dem Königreich Schweden ist das Konzept einer EUREGIO schlichtweg unpraktikabel. Wohl aber bestehen auf einem anderen Niveau Partnerschaften. Annähernd 120 Städte und Gemeinden der beiden Länder unterhalten enge Beziehungen zueinander. Zum Teil entstanden diese bereits in den 1980er Jahren,44 als die offizielle Linie in Stockholm die rechtmäßige Existenz der ESSR noch nicht infrage stellte. Die Regierung in Tallinn sieht in der Zusammenarbeit auf Ebene lokaler Gebietskörperschaften einen wertvollen Beitrag zur Wirtschaftsförderung. Diese intendierte Zielrichtung der Kooperation wird durch gemeinsame Projekte der schwedischen Handelskammern und der estnischen Exportagentur auf dem Gebiet der KMU-Förderung nochmals hervorgehoben.45 Daraus ist abzulesen, dass die Esten bilaterale Kooperation gezielt in den Feldern suchen, wo es ihnen mitunter an eigenen Kapazitäten und womöglich an Kompetenzen mangelt. Diese Haltung wird unter dem Gesichtspunkt verständlich, wonach exogene Impulse für die ökonomische Entwicklung Estlands eine entscheidende Rolle spielen. Durch das Hinzukommen weiterer Akteure lassen sich Aufgaben und Zuständigkeiten auf mehrere Parteien auffächern, was am Ende die Zentralregierung entlastet und zugleich die Kommunen langfristig in ihrer selbstständigen Entscheidungsfindung stärken wird. Damit sind die estnisch-schwedischen Bemühungen um eine möglichst breit angelegte Zusammenarbeit keineswegs erschöpft. Vielmehr sind zusätzliche Unternehmungen im Bereich der höheren Politik angesiedelt, die allerdings im baltisch-nordischen Kontext einzuordnen sind. Inwiefern zwischen den bislang untersuchten Ebenen der Kooperation in der Ostseeregion – intrabaltisch sowie estnisch-nordisch – Annäherungen stattgefunden haben und Zusammenhänge bestehen, ist Schwerpunkt des nachfolgenden Abschnitts. 3. Synthese: baltisch-nordische Kooperation am Beispiel der Sicherheitspolitik Den Nukleus der intrabaltischen Zusammenarbeit bildete die Lossagung vom sowjetischen Imperium und damit der Wunsch nach Wiedererrichtung der einst unrechtmäßig verlorenen Souveränität. Selbst wenn die drei Ost44 Vgl. Sveriges Kommuner och Landsting (The Swedish Association of Local Authorities and Regions), S. 7–9. 45 Vgl. EMFA (2004m).
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seerepubliken an gemeinsame Erfahrungen der Zwischenkriegszeit anknüpfen konnten, hielten sie nach Vorreitern der intergouvernementalen Kooperation Ausschau. Als exemplarisch begriff Tallinn diesbezüglich die Politik der fünf nordischen Länder Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden, die seit Mitte der 1950er Jahre auf diversen Gebieten vertieft kooperieren, ohne darüber ihre jeweiligen Besonderheiten und Interessen zu vergessen.46 1952 riefen die Regierungen der genannten Länder den Nordischen Rat (Nordic Council) als parlamentarisches Organ ihrer Zusammenarbeit ins Leben. Weitere Institutionen wie beispielsweise der Nordische Ministerrat (Nordic Council of Ministers) folgten sukzessive und intensivierten mit Blick auf die betreffende Region die zwischenstaatliche Politik in mehr als zwanzig Sachfeldern.47 In den 1990er Jahren sollten diese Einrichtungen für Esten, Letten und Litauer eine Vorbildfunktion für ihre gemeinsamen institutionellen Vorhaben innehaben. Warum die fünf Nordeuropäer ein koordiniertes Vorgehen in verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Belangen anstrebten und damit über die Jahrzehnte hinweg erfolgreich waren, birgt mehrere Ursachen in sich: Erstens teilen sie ein bestimmtes Wertesystem, was sich zum Beispiel in der Errichtung einer Wohlfahrtsgesellschaft mit hohen sozialen Standards ausdrückt.48 Zweitens ist ihr kooperatives Verhalten im Lichte der Ost-West-Konfrontation zu betrachten. Drei der fünf Länder, nämlich Dänemark, Island und Norwegen, gehören dem NATO-Bündnis seit seiner Gründung 1949 an. Hingegen optierten Schweden und Finnland für den Status der Neutralität, obgleich sie sich eindeutig dem Westen zugehörig fühlten. Um Spaltung und Isolation vorzubeugen, wurden auf regionaler Basis ähnlich gelagerte Interessen ausgelotet, die wiederum zur Genese einer nordischen Identität beigetragen haben.49 Sollte ein derart bewährtes zwischenstaatliches und räumlich begrenztes Handeln nicht auf die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen ausdehnbar sein? Einige Gründe sprechen gegen diese Option. Erstens sind die Institutionen der nordischen Zusammenarbeit speziell auf die Bedürfnisse der mitwirkenden Länder abgestimmt. Eine Erweiterung dieses Zirkels um die drei Republiken des Baltikums würde zu einer Vergrößerung des Handlungsraumes führen. Dies wiederum zöge eine Heterogenisierung der Interessen und folglich eine Aufweichung bestehender Kooperationsmechanismen nach sich. Zweitens wäre eine Anbindung der Esten, Letten und Litauer mit einem zusätzlichen Kosten- und Zeitaufwand für die nordischen Staaten ver46 47 48 49
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Ilves (1998a). Nordic Council (2004); Nordic Council (2002). Ozolina, S. 3. ebd.
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bunden. Zumindest die drei EU-Mitglieder Dänemark, Finnland und Schweden zahlten dann doppelt, da sie bereits an der Finanzierung der Osterweiterung der Union beteiligt sind. Drittens erklärt sich die reservierte Einstellung durch die unzulänglichen Kooperations- und Integrationserfahrungen der baltischen Länder. Bevor an eine Zusammenführung der baltischen und der nordischen Kooperation ernsthaft zu denken ist, müssen Esten, Letten und Litauer unter Beweis stellen, dass sie untereinander ähnlich weit gehende Vereinbarungen treffen können wie ihre nordischen Nachbarn. Gänzlich voneinander losgelöst agieren die angesprochenen Staaten aber keinesfalls. Die acht Regierungen fanden in den vergangenen Jahren Übereinkünfte der baltisch-nordischen Zusammenarbeit entsprechend ihrer Ansprüche und Entschlossenheit. Sie tragen damit der Einsicht Rechnung, dass insbesondere im Ostseeraum Herausforderungen aufwarten, die nach grenzübergreifenden Lösungen verlangen. Stellvertretend genannt seien die Organisierte Kriminalität (Menschhandel und Warenschmuggel), das Schifffahrtswesen oder die Umweltverschmutzung. Haben die Länder mit der Formel 5+3 den Ausbau ihrer multilateralen Beziehungen begonnen, lautet diese seit dem Jahr 2000 Nordic-Baltic-Eight (NB8).50 Diese Umbenennung legt nahe, dass die baltischen und nordischen Länder ein neues Selbstverständnis ihres politischen Miteinanders entwickelt haben. Sie verstehen sich als ebenbürtige Partner, was sie gegenüber sich selbst und Dritten postulieren möchten. NB8 ist allerdings nicht gleich bedeutend mit einer Verschmelzung der von den Parteien jeweils ins Leben gerufenen Gremien. Vielmehr stimmt das Format NB8 das Vorgehen in Bereichen konvergierender Interessen enger ab (zum Beispiel in der Forst- und Landwirtschaft). Außerdem finden Koordinierungstreffen auf Ebene der Fachminister statt und die beiden interparlamentarischen Versammlungen halten gemeinsame Sitzungen ab.51 Obwohl das Zusammengehen beider Seiten lobenswert ist, dürfen darüber folgende Bedenken nicht übersehen werden: Das gegenwärtig praktizierte Format der baltisch-nordischen Kooperation ist im Kontext der anwachsenden Institutionalisierung der Ostseeregion zu bewerten. Diesbezüglich steht zu befürchten, dass die ohnehin äußerst beanspruchten personellen und administrativen Kapazitäten der Kleinstaaten – denn als solche gelten sowohl die baltischen als auch die nordischen – infolge zunehmender gegenseitiger Konsultationen arg strapaziert werden. Hier gilt es, Dopplungen und Überschneidungen zu vermeiden, damit am Ende greifbare Synergieeffekte hinsichtlich der regionalen Kooperation generiert werden können. Beispielsweise führen der (noch zu behandelnde) Ostseerat alle acht, die Europäische 50 51
Vgl. EMFA (2003b); Rainart, S. 41. Bis 2004 kam es zu sechs Sitzungen dieser Art. Vgl. EMFA (2003b).
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Union immerhin sechs Länder abermals an einen Tisch. Zwar könnten deren Ansichten und Verhalten in diesen Gremien auf eine gemeinsame Linie gebracht werden. Dennoch entscheidet letztendlich die Umsetzung in den einzelnen Ländern über den Erfolg kooperativer Vorhaben und nicht das vermehrte Aufeinandertreffen im multilateralen Rahmen! Mit Verweis auf NB8 wird sich in der Praxis erst zeigen müssen, ob dies eine effektive Konstellation der Zusammenarbeit in der Ostseeregion darstellt. Eine Gegenüberstellung von bloßen Deklarationen und konkreten Ergebnissen ist dabei unausweichlich und sollte zum Gegenstand weiterführender Untersuchungen werden. Wo sich die Interessenskonvergenz zwischen baltischer und nordischer Seite schnell verdeutlicht, ist das Feld der Sicherheitspolitik. In diesem Bereich, der im Übrigen von NB8 und Ostseerat bewusst ausgeklammert wurde, erhielten Tallinn, Riga und Vilnius von den nordischen Regierungen entscheidende Stimuli zum Aufbau eigener Armeen, die zusätzlich eine verstärkte intrabaltische Sicherheitskooperation fördern sollten. Damit verfolgten die Nordeuropäer, hauptsächlich Finnland und Schweden, auch nationale Ziele im Sinne ihrer sicherheitspolitischen Vorstellungen in der Region. In erster Linie galt es, Souveränität und territoriale Integrität der baltischen Ostseeanrainer zu sichern; und zwar derart, dass der neutrale Status von Finnen und Schweden aufrechterhalten bliebe. Konsequenterweise konnten Helsinki und Stockholm keine expliziten Sicherheitsgarantien im Falle einer Aggression gegen die baltischen Nachbarstaaten anbieten. Um aber zu vermeiden, dass die Balten in einer gegenüber Russland verletzlichen Position ausharren, mussten Anstrengungen von außen erfolgen, die zur Stärkung der strategischen Lage des Baltikums und demzufolge der gesamten Ostseeregion führen würden.52 Mitte der 1990er Jahre stellte der damalige schwedische Regierungschef Göran Persson einen Fünf-Punkte-Plan zur Eingliederung Estlands, Lettlands und Litauens in die europäischen Sicherheitsstrukturen vor. Darin sprach er sich für: • verstärkte bilaterale Aktivitäten zwischen Tallinn, Riga und Vilnius untereinander; • zunehmende regionale Kooperation der Balten und Skandinavier; • die (mittlerweile vollzogene) EU-Mitgliedschaft der baltischen Staaten; • das Auflegen militärischer Trainingsprogramme und Schulungen der Grenztruppen sowie • einen intensiven Dialog mit Moskau aus.53 52 53
Vgl. Asmus/Nurick, S. 126 und 132. Zit. nach van Ham, S. 38.
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Im Bewusstsein der veränderten weltpolitischen Situation wollte die schwedische Regierung mit diesen Vorschlägen die Gesprächsbereitschaft unter allen Ostseestaaten in Fragen der Sicherheitspolitik wecken. Für die nordischen Länder – ob NATO-Mitglied oder nicht – hieß die Strategie nicht länger, den Prämissen des Block-Denkens Folge zu leisten, sondern selbst initiativ und aktiv die Region zu gestalten. Die Abkehr von konfrontativen Haltungen als Folge des Ost-West-Gegensatzes brachte schließlich das Motiv der kooperativen Sicherheit (cooperative security) hervor. Das Ergebnis eines solchen Paradigmenwechsels wäre „a situation where cooperation is the dominant relationship between international actors, and where the potential for military threats is reduced to a very small probability“.54 Weitere Schlüsselkriterien dieses Konzepts sind vertrauensbildende Maßnahmen, Beratung und Informationsaustausch, Konfliktprävention, Transparenz sowie die Anerkennung nicht-staatlicher Gefahrenpotenziale.55 In der sicherheitspolitischen Praxis fanden diese theoretischen Grundlagen Widerhall. Da die Bedrohungsperzeptionen der baltischen Staaten als deckungsgleich aufzufassen sind, waren sich die Regierungen in puncto Sicherheitskooperation einig. Nur gemeinsame Bemühungen beim Aufbau geeigneter Verteidigungsmechanismen könnten ihnen Schutz vor Russland und eine rasche Einbindung in die Sicherheitsinstanzen Europas bieten. Im September 1994 einigten sich die drei baltischen Regierungschefs darauf, ein Baltisches Bataillon (BALTBAT) zu schaffen.56 Diese trilaterale Übereinkunft wurde durch ein Memorandum of Understanding ergänzt, welches neben den Verteidigungsministern der baltischen Länder auch von den Amtskollegen Dänemarks, Finnlands, Norwegens, Schwedens und Großbritanniens im selben Monat unterzeichnet wurde.57 Eines der Anliegen von BALTBAT war und ist die aktive Teilnahme an Friedensmissionen, womit die baltischen Staaten ihre Geberqualitäten hinsichtlich eines NATO-Beitritts unterstreichen wollten.58 Skeptisch schätzt der Politikwissenschaftler Gerd Föhrenbach das bisherige Abschneiden von BALTBAT ein. Seiner Auffassung nach haben die baltischen Kontingente ihre Einsatzbereitschaft nicht ausreichend unter Be54
Heurlin, S. 68. Vgl. Carrafiello/Vertongen, S. 216. 56 Im Januar 1996 wurde das BALTBAT-Hauptquartier in Adaži, Lettland, eröffnet. Vgl. Estonian Ministry of Defence (2002), S. 8. 57 Vgl. Föhrenbach, S. 108. Weitere Unterstützerstaaten sind Belgien, Deutschland, Frankreich, Island, die Niederlande, Polen, die Schweiz und die USA. Vgl. Estonian Ministry of Defence (2002), S. 4. 58 Unter dänischem Kommando kam BALTBAT beispielsweise 1995 und 1996 in Bosnien-Herzegowina im Rahmen der NATO-Operationen IFOR und SFOR zum Einsatz. 55
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weis stellen können. Mangelhaft seien zum Beispiel die Ausrüstung mit moderner Technologie, die personelle Stärke der drei Kompanien sowie die Sprachkenntnisse im Englischen als der Kommandosprache.59 Mitverantwortlich dafür ist neben den geringen Eigenressourcen der baltischen Armeen auch der ungenügende Beistand seitens der westeuropäischen, speziell der nordischen Staaten. Oftmals blieb die gewünschte Militärhilfe aus oder wurden durch minderwertige Ausstattungen ersetzt.60 Somit konzentrierten sich die Verteidigungsministerien der baltischen Länder zuvörderst auf den Aufbau ihrer nationalen militärischen Kapazitäten, wodurch die intrabaltische Sicherheitskooperation ins Hintertreffen geriet. Um den Umfang dieser Zusammenarbeit zu vervollständigen, werden die verbleibenden Komponenten in aller Kürze nachgetragen. Die Koordinierung bilateraler und multilateraler Unterstützung der Verteidigungsstrukturen der baltischen Staaten übernimmt seit 1997 BALTSEA – Baltic Security Assistance Forum. 1995 wurde die Idee eines Baltischen Marineverbandes BALTRON (Baltic Naval Squadron) entwickelt, der im August 1998 seine Arbeit aufnehmen konnte. Zu dessen Aufgaben zählen etwa die Minensuche in der Ostsee und die Sicherung der baltischen Seegrenzen.61 Ein nächstes Projekt ist mit der Überwachung des baltischen Luftraumes beauftragt. Seit dem 1. Januar 2001 sind die drei nationalen Überwachungszentren als BALTNET (Baltic Air Surveillance Network) zusammengeschaltet und können rund um die Uhr operieren.62 Da in den baltischen Staaten ein immenser Nachholbedarf an verteidigungsrelevanten und militärischen Schulungsund Trainingsprogrammen bestand, wurde 1998 eigens dafür das Baltic Defence College (BALTDEFCOL) gegründet. Im Vordergrund stehen dabei die Vereinheitlichung der Ausbildung estnischer, lettischer und litauischer Offizierskorps sowie die Vermittlung von NATO-Standards.63 Für die estnische Führung ist die intrabaltische Zusammenarbeit in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen von höchster Wichtigkeit.64 Das Beispiel Sicherheitspolitik illustriert, welch konkrete Formen die Kooperation in der Ostseeregion annehmen kann, hier insbesondere auf intrabaltischer sowie baltisch-nordischer Ebene. Gleichgelagerte nationale Sicherheitsinteressen markierten eine tragfähige Basis, auf der die Regierungen der baltischen Staaten zueinander fanden. Dank Unterstützung der nordischen Staaten (aber auch der BRD und der USA) in konzeptioneller, finanzieller und ma59 60 61 62 63 64
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Föhrenbach, S. 108 f. ebd., S. 107. Estonian Ministry of Defence (2002), S. 7 und 12–14. ebd., S. 15–18. ebd., S. 19–22. Luik (2002), S. 3.
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terieller Hinsicht konnten Tallinn, Riga und Vilnius in den vergangenen Jahren mehrere Projekte auf dem Gebiet der kooperativen Sicherheit ins Leben rufen. Deren Wirkung – regionale Sicherheitskooperation im Sinne vertrauensbildender Maßnahmen – beschränkt sich aber nicht allein auf das Baltikum, sondern wird auf die gesamte Ostseeregion übergreifen. Speziell die Russische Föderation hat somit ein Modell vor Augen, wie sich nationale Armeen erfolgreich einer Transformation hin zu demokratisierten Bestandteilen der Gesellschaft unterziehen können, die noch dazu grenzübergreifend in Aktion treten. Bislang sind jedoch keine Anzeichen sichtbar, dass das Thema Sicherheitspolitik auf die Tagesordnung der Regierungsorganisationen im Ostseeraum gerückt wäre. Daher mangelt es weiterhin an einer ganzheitlichen und praktisch unterlegten Diskussion. Vorläufig nehmen NATO und EU eine solche Funktion war und artikulieren sicherheitspolitische Überlegungen für die Region. Allerdings sind deren Aufgabenspektren derart umfangreich, dass in diesem Zusammenhang die Ostseeregion auf der Prioritätenliste nicht ganz oben auftaucht. Glücklicherweise haben die Ostseeanrainer nach Zerfall des kommunistischen Blocks keine gewalttätigen (ethnischen) Auseinandersetzungen erleben müssen, wie sie auf dem Balkan in den 1990er Jahre wiederholt ausbrachen. Infolge systemischer Stabilität besitzen harte sicherheitspolitische Faktoren innerhalb der multilateralen Regierungszusammenarbeit im Ostseeraum eine untergeordnete Bedeutung. Doch im Bereich der weichen Sicherheitsfaktoren offenbart sich ein anderes Bild. Hier ist es vor allem der Rat der Ostseestaaten (Council of the Baltic Sea States – CBSS), der eine führende Rolle zur politischen Gestaltung des kooperativen Miteinanders seiner Mitgliedstaaten einnimmt.
III. Multinationale Institutionen und Initiativen regionaler Zusammenarbeit 1. Der Rat der Ostseestaaten Als Estland, Lettland und Litauen im Sommer 1991 ihre staatliche Souveränität wiederherstellten, ergab sich die Chance, wenn nicht gar die Notwendigkeit, die Ostseeregion politisch neu zu ordnen. Dem liegen zwei Handlungsprämissen zu Grunde: Auf der einen Seite mussten die Transformationsländer (inklusive Polen) in ihren Reformbemühungen unterstützt werden. Auf der anderen Seite durfte Moskau keine Signale des Übergangenwerdens erhalten. Gleichzeitig bedurfte es eines möglichst offenen Dialogs zwischen den Anrainern der Ostsee, der nicht sofort einen fest gefügten Rahmen erhalten sollte. Im Oktober 1991 glaubten der dänische Außen-
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minister Uffe Ellemann-Jensen und sein deutscher Amtskollege Hans-Dietrich Genscher das passende Format dafür gefunden zu haben. Die Konzeption eines regionalen Gremiums zur intergouvernementalen Zusammenarbeit der Ostseestaaten vollzog sich binnen weniger Monate. Am 5.–6. März 1992 erfolgte die Gründung des CBSS in Kopenhagen.65 Der Einladung der dänisch-deutschen Initiative folgten Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Norwegen, Polen, Russland und Schweden. Außerdem schloss sich die Europäische Kommission dem Vorhaben an. 1995 trat Island als zwölftes Mitglied dem Rat bei.66 Auf dem Kopenhagener Treffen anerkannten die Gründungsmitglieder die demokratischen Errungenschaften in ihrer Region infolge des politischen Umbruchs 1989–1991. In diesem Zusammenhang zeigten sie sich gewiss, dass ihre Kooperation „will strengthen the cohesion among these countries, leading to greater political and economic stability as well as a regional identity.“67 Seinem Selbstverständnis nach begreift sich der Rat der Ostseestaaten (auch Ostseerat genannt) als Forum der Anleitung und Koordinierung in Sachen regionaler Kooperation unter seinen Mitgliedern, ohne dabei ein formalisiertes Rahmenwerk darzustellen.68 Gänzlich ohne Formalien kommt selbst der CBSS nicht aus. Maßgebliche Entscheidungsinstanz ist das Treffen der Außenminister (Council). Seit 2003 finden diese im Zwei-Jahres-Rhythmus statt, alternierend mit den Gipfeln der Regierungschefs (Baltic Sea States Summits).69 Die Abschlussberichte dieser Zusammenkünfte sollen Impulse setzen und als Wegweiser für die gemeinsame Arbeit der CBSS-Mitglieder dienen. Unter anderem nahmen dadurch eine Task Force zur Bekämpfung Organisierter Kriminalität und eine Task Force zur Kontrolle übertragbarer Krankheiten (etwa Tuberkulose und AIDS/HIV) ihre Arbeit auf.70 Des Weiteren kommen die jeweiligen Ressortminister in eigenständiger Absprache und dem Bedarf angemessen zusammen. Den Vorsitz des Rates üben die Außenminister rotie65
Die partizipierenden Regierungen verzichteten dabei auf die Ausformulierung eines völkerrechtlichen Vertrages, womit der eingeforderte offene Charakter des Gremiums Realität wurde. Zudem hätten die Ratifikationsprozesse in den nationalen Parlamenten nur für Verzögerungen gesorgt. Vgl. Hubel/Gänzle, S. 3. 66 Darüber hinaus haben mehrere Länder Besucherstatus. Dazu zählen Frankreich, Italien, die Niederlande, die Slowakei, die Ukraine, Großbritannien und die USA. Vgl. CBSS Secretariat, S. 3 und 20. 67 CBSS (1992b). 68 Vgl. CBSS (1992a). 69 Seit 1996 treffen sich die Regierungschefs der Mitgliedsländer und der Präsident der Europäischen Kommission. Bislang hielten sie insgesamt fünf Gipfeltreffen ab: 1996 in Visby (Schweden), 1998 in Riga, 2000 in Kolding (Dänemark), 2002 in St. Petersburg und 2004 in Tallinn. Vgl. CBSS Secretariat, S. 3 und 18. 70 Vgl. ebd., S. 18 f.
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rend für ein Jahr aus. Assistierend wirkt dabei der Ausschuss Hoher Beamter (Committee of Senior Officials). Dieser unterhält drei Arbeitsgruppen und dient außerhalb der Sitzungen der Außenminister als wichtigstes Diskussions- und Entscheidungsorgan.71 Um die Kontinuität des Rates zu wahren und diesen technisch wie organisatorisch zu unterstützen, einigten sich die CBSS-Mitglieder 1998 auf die Eröffnung eines ständigen Sekretariates mit Sitz in der schwedischen Hauptstadt.72 Den inhaltlichen Rahmen geben sechs Aufgabenfelder vor, denen sich die Regierungen des Ostseerates widmen wollen: • Unterstützung neuer demokratischer Institutionen; • wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit; • humanitäre und gesundheitspolitische Angelegenheiten; • Energiepolitik und Umweltschutz; • Kooperation in den Bereichen Kultur, Bildung, Tourismus und Information sowie • Transport und Kommunikation.73 Anhand dieser Auflistung wird deutlich, dass die Betonung auf ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Gesichtspunkten liegt. Die Ostseeregion wird als dynamischer Wachstumsraum charakterisiert, dessen Entwicklungsund Zukunftspotenziale gemeinschaftlich zu stärken sind, damit sie allen Parteien zugute kommen. In einer interdependenten Welt wie dieser gewinnen lokale Probleme schnell eine regionale Dimension. Alle angeführten Sachgebiete, mit denen sich der Ostseerat befasst, unterliegen diesem Gedanken und fordern nachgerade grenzüberschreitende Lösungen ein. Instrumentell lässt sich der Ostseerat genauer definieren. Zum einen ergibt sich unter Berücksichtigung der Mitgliedsstruktur die Funktion eines Bindegliedes. Die EU-Osterweiterung steht beispielhaft für diese Aufgabe, da sich im CBSS Mitglieder, ehemalige Beitrittsaspiranten und Partner der 71 Die Arbeitsgruppen konzentrieren sich auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit; die Unterstützung demokratischer Institutionen sowie auf den Nuklear- und Strahlenschutz. Vgl. ebd., S. 5 f. Im Anhang findet sich ein Organigramm des CBSS, siehe Abbildung 5. 72 In der Geschäftssatzung von 1992 war dieses Organ ausdrücklich nicht vorgesehen, um den lockeren Charakter des CBSS zu unterstreichen. Darin heißt es: „This new Council should not be seen as a new formalized institutional framework with a permanent secretariat. Rather, the envisaged cooperation among the countries in question should be of a traditional intergovernmental nature, where the host country of each session assumes responsibility for providing secretariat services.“ CBSS (1992a) (Herv. d. Verf.). 73 Vgl. CBSS (1992b).
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Europäischen Union sowie diese selbst versammeln und gemeinsam Politik für die BSR – eine europäische Subregion – betreiben.74 Somit erhielten Tallinn, Riga und Vilnius noch vor der Heranführungsstrategie Brüssels die Gelegenheit, sich westeuropäischen Prinzipien anzunähern sowie ihre Integrations- und Kooperationsfähigkeiten zu schulen. Zum anderen fungiert der Ostseerat für seine Mitglieder, vorrangig für die kleinen Nationen, als internationale Bühne. Hinsichtlich intraregionaler Zusammenarbeit können sie die Leitlinien der sub- und transnationalen Ebene festlegen und dabei Vermittlungs- und Aufsichtspflichten wahrnehmen.75 Estland fand sich seit Bestehen des CBSS zweimal (1993–1994 und 2003–2004) in der Position des Vorsitzes wieder. Der ehemalige Außenminister Ilves bewertete den Ostseerat als geeignetes Instrument, welches eine „complementary role to European integration in enhancing Baltic regional co-operation and security“76 spielen könnte. Demzufolge begreift die estnische Führung den CBSS als ein Sprachrohr nationaler Interessen. In Sachen Ostseekooperation kann sogar zugespitzt formuliert werden, dass der Rat Aufgaben übernehmen und Projekte formulieren soll, die Tallinn selbst nicht angehen will oder kann. Angesichts der begrenzten Kapazitäten des Landes erscheint es durchaus sinnvoll, die Last auf viele Schultern zu verteilen, solange innerhalb der multilateralen Zusammenarbeit der Wille zur politischen Gestaltung erkennbar bleibt. Nationale Interessen können nur dann internationalisiert werden, wenn gleichzeitig die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung im regionalen Kooperationsgeschehen besteht. Das Auftreten Estlands im CBSS ist seit seiner Arbeitsaufnahme durch Kontinuität gekennzeichnet und reiht sich problemlos in die Politik des Rates selbst ein. Während des letzten Ratsvorsitzes setzte die estnische Regierung Akzente im Bereich Wirtschaftskooperation – ganz im Sinne der nationalen Linie von Innovation und Liberalisierung – sowie auf dem Feld der Zivilen Sicherheit und des Umweltschutzes.77 Des Weiteren sah sich die damalige Vorsitzende Kristiina Ojuland dazu veranlasst, Denkanstöße für eine Neubewertung des Ostseerates zu geben, da nunmehr acht der elf Mitglieder zum Kreis der EU gehörten. Damit der CBSS weiterhin einen signifikanten Beitrag zur Stabilisierung der Region durch grenzübergreifende Kooperation leisten könne, wäre es „necessary to identify accurately the areas and issues, which need to be addressed, without the risk of overlapping with the activities of other similar structures.“78 Gemeinsam mit 74 75 76 77 78
Vgl. Hubel/Gänzle, S. 4. Vgl. ebd., S. 5. Ilves (1997e). Vgl. EMFA (2004k). Ojuland (2003a).
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Schweden arbeitete Estland im Februar 2004 grundlegende Ideen zur Modifikation des Ostseerates aus. Als Ziel postulierten die Premierminister beider Länder, Göran Persson und Juhan Parts, die Spitzenposition des Ostseeraumes unter Europas Regionen.79 Da sich die CBSS-Mitgliedschaft auf die Ostseeanrainer begrenzt, ist einer Überfrachtung mit Teilnehmern und folglich einer Aufsplittung in Grüppchen vorgebeugt. Dank der weniger festgezurrten Struktur des Ostseerates wird es den partizipierenden Staaten leichter fallen, einen Konsens zu finden und ihre Zusammenarbeit den Anforderungen der Zeit anzupassen. Ihr Handeln, das heißt die Kooperation im Rat, ist eindeutig auf Pragmatismus ausgelegt, was zum Beispiel die genannten Task Forces belegen. Zudem bestehen für nicht-staatliche Akteure und weitere regionale Zusammenschlüsse80 Möglichkeiten, sich der Arbeit des CBSS anzuschließen und den Aktionsradius dadurch zu erweitern. Somit spiegeln sich im Ostseerat der top-down-Ansatz und gleichzeitig die bottom-up-Methode regionaler Kooperation wider. Unumstritten zu befürworten ist weiterhin die Involvierung Russlands in die Aktivitäten des CBSS. Der multilaterale Charakter kann sich nur zu Gunsten des estnisch-russischen Verhältnisses auswirken; zumal die Projekte des Ostseerates nicht auf die hohe Politik zielen. Im lokalen Kontext grenzübergreifender Zusammenarbeit können beide Seiten am besten beweisen, dass ihnen an einem vertrauensvollen Miteinander gelegen ist. Diese positiven Beobachtungen können aber nicht über bestehende Mängel hinwegtäuschen. Angesprochen wurde bereits die Gefahr der Überschneidungen von Verantwortlichkeiten von in der BSR präsenten Institutionen. Doppelte oder mehrfache Mitgliedschaften führen an die Grenze der Unüberschaubarkeit. Um einem schädlichen Profilverlust zuvorzukommen, muss – ganz im Sinne der estnischen Regierung – die innere Reformierung forciert werden. Das gilt insbesondere mit Blick auf die Europäische Union, die durch weitere Programme in der Region aktiv ist (worauf Kapitel E. zu sprechen kommt). Hubel und Gänzle kritisieren außerdem das Fehlen ausreichender Finanzmittel für den CBSS. Der Erfolg seiner kooperativen Vorhaben hängt in entscheidendem Maße vom Willen seiner Mitglieder ab, notwendige Ressourcen zur Verfügung zu stellen.81 Angesichts knapp be79
Vgl. Parts/Persson. Als spezielle Teilnehmer und strategische Partner weist der CBSS eine Reihe von Konferenzen und Netzwerken aus. So finden sich etwa die OECD, die Union of the Baltic Cities (UBC), die Baltic Sea Chambers of Commerce Association, die Helsinki Commission (HELCOM), das Baltic Sea Trade Union Network und das Baltic Sea NGO Forum unter den Mitwirkenden wieder. Vgl. CBSS Secretariat, S. 21–27. 81 Vgl. Hubel/Gänzle, S. 9. 80
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messener Budgets öffentlicher Entscheidungsträger (vor allem der baltischen Staaten) ist diese Mahnung ernst zu nehmen, damit der Ostseerat nicht noch ein Diskussionsforum wird, sondern sich primär durch sinnvolle Politikgestaltung in der Region auszeichnet. Verstärkt wird dieser Kritikpunkt durch die fehlenden Verbindlichkeiten der CBSS-Beschlüsse. Letztlich liegt es an den nationalen Regierungen, ob sie dem bloßen Wortlaut auch Taten folgen lassen. Um das Bild der regionalen Kooperation im Ostseeraum zu diversifizieren, werden im Folgenden zusätzliche Initiativen vorgestellt. 2. Die Netzwerke VASAB 2010 und Baltic 21 Chancen und Herausforderungen eines bestimmten Ortes im Ostseeraum werden nicht allein nach punktuellen Gesichtspunkten bemessen. Interdependente Verflechtungen rufen eine intraregionale Dynamik hervor, weshalb die gesamte Aktionseinheit von lokalen Ereignissen betroffen sein kann – positiv wie negativ. Legitim ist diese Schlussfolgerung vor allem mit Verweis auf raumplanerische Aktivitäten in der Ostseeregion. Sie haben die Aufgabe, die besonderen entwicklungspolitischen Bedürfnisse eines Raumes zu erkennen und diesen mit spezifischen Maßnahmen gestalterisch zu begegnen. Hierzu fühlt sich die von elf Ländern getragene Initiative Vision and Strategies around the Baltic Sea 2010 (VASAB 2010) berufen. Dabei handelt es sich um ein Format interregionaler Kooperation, das Flexibilität, Pragmatismus sowie die offene Beteiligung lokaler, regionaler und staatlicher Akteure im räumlichen Gestaltungsprozess betont.82 Angestoßen wurde die Idee von den für Raumentwicklung zuständigen Ministern Dänemarks, Deutschlands83, Estlands, Finnlands, Lettlands, Litauens, Norwegens, Polens, Schwedens, Russlands und Weißrusslands. Knapp ein Jahr nach der wiedererlangten Unabhängigkeit der baltischen Staaten, am 21. August 1992, vereinbarten die Minister im schwedischen Karlskrona, ein Dokument zur ostseespezifischen Raumplanung zu entwerfen.84 Mithin nutzten sie die neuen politischen Gegebenheiten, die Ostseeregion als raumplanerische Einheit zu begreifen und durch konzertiertes Vorgehen die europäische Einigung voranzubringen. 1994 präsentierten die elf Ressortchefs ihren Bericht in der estnischen Hauptstadt. Darin äußerten die mitwirkenden Regierungsvertreter den Wunsch, dass die Ostseeregion, genauer die Baltic 82 Vgl. Scott (2002), S. 145 f.; siehe zur Organisationsstruktur Abbildung 6 im Anhang. 83 Neben dem Bund, der sich eher im Hintergrund hält, sind hier die Länder Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein involviert. Vgl. VASAB (1994), S. 14. 84 Vgl. ebd., S. 14.
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Sea Region 2010, sich zu einem Raum ausgeprägter Beziehungen in Sachen Wirtschaft, Handel, Transport, Kultur und Bildung mit Modellcharakter für den gesamteuropäischen Kontext entwickeln möge.85 Im Wesentlichen handelt es sich bei VASAB86 um ein Forum zum Zwecke der Förderung und Entwicklung kooperativer Netzwerke, das sich um eine nachhaltige Raumplanung in der Ostseeregion bemüht. Der Stellenwert der Raumplanung in diesem Kontext lässt sich mit folgender Aussage bemessen: „It [spatial planning, N.M.] aims at the efficient use of available space, and the economic balance of the subregions, but also at the maintenance and careful management of natural and cultural resources. (. . .) It facilitates the decision making of future private and public investors by furnishing them with information about the most desirable forms of land utilisation in the given area.“87
Hinzu kommt der Wunsch nach Kompetenztransfer insbesondere zwischen den hoch entwickelten Ländern und solchen, die sich im Reformprozess befinden.88 Als Nutzen ihrer Zusammenarbeit erhoffen sich die VASAB-Mitwirkenden eine Wert- und Qualitätssteigerung ihrer Region in politischer und sozioökonomischer Hinsicht. Zugleich sollten räumliche Disparitäten – offenkundig sind ein Nord-Süd sowie ein Ost-West-Gefälle – abgemildert und Chancengleichheit zwischen den einzelnen Gebieten optimiert werden.89 Zur ideellen Grundlage ihrer Kooperation deklariert VASAB 2010 vier Werte, die das Herz der Vision bilden: Entwicklung (das meint in erster Linie ökonomische Prosperität), ökologische Nachhaltigkeit, Freiheit und Solidarität.90 In einem weiter gehenden Schritt formuliert VASAB 2010 insgesamt vierzehn Ziele, welche sich auf vier Dimensionen verteilen. Der Übersichtlichkeit halber wird auf die detaillierte Wiedergabe der einzelnen Ziele verzichtet und lediglich eine Kurzbeschreibung der Zielrichtungen vorgenommen.91 Die vier Dimensionen unterliegen keiner expliziten Rangfolge, stehen jedoch in einem engen Wechselverhältnis. Auf Grund ihrer spezifischen (politischen und räumlichen) Funktionen ergeben sich unterschiedliche Be85
Vgl. ebd., S. 3. Als VASAB wird dem besseren Verständnis halber das transnationale Arrangement zu Raumplanungsfragen in der Ostseeregion bezeichnet sowie dessen institutionelle Prozesse (polity and politics). VASAB 2010 beinhaltet bereits politische Absichten und Programmvorschläge (policy). 87 Vgl. VASAB (1997), S. 11 f. 88 Vgl. VASAB (1994), S. 4 f. 89 Vgl. ebd., S. 5. 90 Vgl. ebd., S. 8. 91 Zur Erläuterung der vierzehn Ziele vgl. ebd., S. 8–12; einen Überblick gibt Tabelle 14 im Anhang. 86
III. Multinationale Institutionen
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deutungen und quasi eine natürliche Reihenfolge. Zuerst benennt VASAB 2010 die städtischen Systeme der BSR als Handlungsfokus. Die auch als „The Pearls“ bezeichnete Einheit umfasst die urbanen Zentren der VASAB-Staaten. Diese werden visionär als europäische Städte oder Städte der Ostsee gedacht, je nach Bedeutungsgrad und -überschuss. Nach Möglichkeit sollen sich diese Agglomerationen vernetzen und funktional ergänzen, um Wachstumsimpulse für die gesamte Region aussenden zu können.92 Ein zweites Handlungsfeld beschreiben die Städteverbindungen oder „The Strings“. Mit Hilfe ihres Auf- und Ausbaus soll ein BSR-weites Mobilitätsnetzwerk geschaffen werden, was entsprechende Programme etwa im Bereich der Verkehrs- und Infrastrukturplanung nach sich ziehen würde.93 Eine dritte Handlungsebene wird als „The Patches“ bezeichnet, worunter Gebiete mit besonderen Problemlagen, aber auch Potenzialen subsumiert sind.94 Gemäß ihrer geografischen Differenzierung gilt es, die grenzübergreifende Zusammenarbeit zu unterstützen, den Tourismus zu fördern und bedrohte Naturräume zu schützen.95 Als vierte Dimension wird „The System“ ausgewiesen, also der ganzheitliche Raumplanungs- und Implementierungsprozess. Basierend auf den Prinzipien von Subsidiarität, Transparenz und Partizipation sollen raumplanerische Projekte konzipiert und koordiniert werden, wobei unter anderem nationale Planungspraktiken harmonisiert werden müssten.96 Zwei Jahre nach der Ministerkonferenz in Tallinn fand 1996 in Stockholm ein Folgetreffen statt, wo die zuvor formulierten Visionen programmatisch präzisiert wurden.97 Weil mittlerweile vier VASAB-Staaten zu den EU-Mitgliedern zählten und vier weitere ihre Beitrittsanträge eingereicht hatten, war ein gesteigertes Interesse an VASAB seitens der Europäischen Union verständlich. Nunmehr musste die Koordinierung bestehender Finanzierungsinstrumente in den Mittelpunkt rücken, damit die von VASAB 2010 angestrebten Synergieeffekte im Zuge ihrer Netzwerkstrategie tatsächlich greifbar werden konnten.98 Da die EU-Interessen in der Ostseeregion gesondert behandelt werden (siehe Kapitel E.), bleibt diese Problematik vorerst ausgeklammert. 92
Vgl. ebd., S. 9 f. und 20–32. Vgl. ebd., S. 10 f. und 32–40. 94 Dazu zählen etwa Küstengebiete, Inseln, Grenzlagen, landwirtschaftliche Nutzgebiete und Naturschutzareale. Vgl. ebd., S. 11 und 40–50. 95 Vgl. ebd., S. 11 f. 96 Vgl. ebd., S. 13. 97 Vgl. VASAB (1997). 98 Zu nennen sind hier die Instrumente PHARE, TACIS und INTERREG (hier INTERREG II C). Vgl. ebd., S. 11 f.; VASAB (2001a), S. 88 f. 93
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D. Estlands Agieren in der Ostseeregion
Eine den strukturellen Wandlungen in der Region angemessene Revision der VASAB-Prioritäten fand 2001 statt, woraus „VASAB 2010 Plus“ hervorging.99 In dem überdachten Raumentwicklungskonzept wurden sechs Schwerpunktthemen transnationaler Kooperation festgelegt, für die wiederum Problemstellungen und Maßnahmen benannt wurden.100 Damit wollte sich VASAB einen erkennbaren Projektcharakter verleihen. Beispielhaft dafür sind die Infrastrukturvorhaben (Energieversorgung und Transportwege), mittels derer die mitwirkenden Länder ihre Arbeit forcieren wollten. Genau diese Bereiche sind überaus bedeutend für die zukünftige Entwicklung der BSR. Wachstumschancen lassen sich nur dann angemessen potenzieren, wenn infrastrukturelle Bedingungen, seien sie administrativer, verkehrlicher oder versorgungstechnischer Natur, erfüllt sind. Den gedachten Netzwerken hatten schlichtweg konkrete Umsetzungen zu folgen.101 Nachzutragen bleibt die Verflechtung von VASAB mit weiteren transnationalen Initiativen in der Ostseeregion. So werden unter anderem Verbindungen zum CBSS aufrechterhalten und das Netzwerk Baltic 21 unterstützt. Letzteres entspringt der von den Vereinten Nationen 1992 angeregten Agenda 21. 1996 entschieden sich die Außenminister der CBSS-Staaten, jenem global angelegten Aktionsprogramm zur Förderung nachhaltiger Entwicklung einen regionalen Ausdruck zu verleihen und das Mandat dafür zu übernehmen. Die Umweltminister selbiger Länder sind die eigentlich Zuständigen für Baltic 21.102 Innerhalb dieses Forums sollen sie (und weitere Ressortchefs) die Frage erörtern, wie die regionale Zusammenarbeit dem Ostseeraum zu einer nachhaltigen Entwicklung103 verhelfen kann. Dazu haben die Verantwortlichen acht Sektoren104 auserkoren, für die individuelle, aber auch intersektorale Programme aufgelegt werden sollen. Beispiele dieser Art zielen auf die gesteigerte Erzeugung regenerativer 99
Vgl. VASAB (2001b). Vgl. ebd., S. 18. 101 Da eine Wiedergabe der zahlreichen VASAB-Projekte zu viel Raum in Anspruch nehmen würde, wird hier auf die bereits zitierten VASAB-Dokumente (VASAB (2001a/b)) verwiesen. Im Übrigen greift Kapitel E. einige Beispiele auf. 102 Vgl. Baltic 21 (1998), S. 3 f.; siehe zur Organisationsstruktur Abbildung 7 im Anhang. 103 „Das Hauptziel der Ostseezusammenarbeit ist die ständige Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen ihrer Völker im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung, der nachhaltigen Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen und des Umweltschutzes. Zur nachhaltigen Entwicklung gehören drei voneinander wechselseitig abhängige Dimensionen – die wirtschaftliche, die soziale und die ökologische Dimension.“ Ebd., S. 7. 104 Zu diesen zählen: Bildung, Energie, Fischerei, Industrie, Landwirtschaft, Tourismus, Wälder und Transport. Hinzu kommt separat die Komponente Raumentwicklung. Vgl. Baltic 21 (15.02.2005). 100
III. Multinationale Institutionen
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Energien, die Städte- und Gemeindezusammenarbeit sowie auf die Verbraucherinformation.105 Umgesetzt wird die Initiative mit größtmöglicher Einbeziehung bereits aktiver Organisationen oder Körperschaften auf lokaler Ebene (zum Beispiel der Union of the Baltic Cities – UBC). Die Zusammenarbeit mit VASAB bezieht unterschiedliche Sektoren ein. VASAB selbst sieht die Kooperation als ein grundsätzliches Anliegen an, der leider keine ausreichenden Finanzmittel zur Verfügung stehen.106 Ein Beispiel für die Umsetzung von Baltic 21 ist die Lokale Agenda 21 im estnischen Narva und im lettischen Daugavpils unter Anleitung des Peipsi Center for Transboundary Cooperation (Peipsi CTC).107 Beide Städte weisen ähnliche Problemlagen auf: Sie sind zur russischen (Narva) respektive zur litauischen und weißrussischen Grenze exponiert; ihre Bevölkerung ist mehrheitlich russischsprachig (95 Prozent in Narva und 87 Prozent in Daugavpils); und während der Sowjetzeit wurden sie zu Standorten der Schwerindustrie ausgebaut, die im Zuge der Transformation einen dramatischen Niedergang erfahren musste. Das Projekt von Peipsi CTC zielt auf den Aufbau eines informellen Netzwerks von NGOs (Non-Governmental Organizations), die einerseits zwischen estnischer und lettischer Gemeinde kooperieren sollen und andererseits in Richtung ihrer jeweiligen Grenzen. Des Weiteren wurden Workshops zum Thema Nachhaltigkeit und Umwelterziehung von Jugendlichen initiiert, die zudem das Ziel hatten, interethnische Kontakte zu fördern (Baltic Youth Workshop).108 Der schwedische Politikwissenschaftler Lars Rydén sieht angesichts der weltweiten Einmaligkeit des Baltic 21-Konzepts „the potential to become one of the most forceful tools in making the Baltic Sea Region a region of co-operation.“109 Die Bedeutung der (inter-)ministeriellen Zusammenarbeit in Fragen der Raumplanung und nachhaltigen Entwicklung ist von großer Bedeutung, weil sie einen Planungsrahmen vorgeben, der auch von nichtstaatlichen Akteuren genutzt werden kann. Den öffentlichen Autoritäten obliegt die rechtliche Verantwortung im Bereich der Raumplanung. Ohne ein Mindestmaß an Einigung auf zwischenstaatlicher Ebene, wie die Ostseeregion über Länder hinweg gestaltet werden kann, bleiben die Rufe nach verstärkter grenzübergreifender Kooperation in der Zivilgesellschaft ungehört. Die in diesem Zusammenhang vernachlässigte Haltung der estnischen Regierung gründet sich auf einen Mangel an Informationen (die in eng105 106 107 108 109
Vgl. Baltic 21 (1998), S. 21–23. Vgl. VASAB (2001a), S. 92. Vgl. Center for Transboundary Cooperation (CTC) (1999), S. 3. Vgl. ebd., S. 3. Rydén, S. 24.
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D. Estlands Agieren in der Ostseeregion
lischer Sprache erhältlich sind). Estnische Ministerien nehmen gewiss aktiv an den beschriebenen Prozessen teil, da sie ein genuines Interesse an der Stärkung der Ostseeregion haben und von Partnerländern nützliche Qualifikationen erlernen können. Es muss aber auch bedacht werden, dass die Zivilgesellschaft in diesem Land, die potenzielle Teilnehmer an VASAB oder Baltic 21 hervorbringen könnte, bei weitem noch nicht das Niveau etwa der nordischen Länder erreicht hat, und die öffentlichen Einrichtungen angesichts des EU-Beitritts enorme Lasten zu schultern hatten. Daher bedarf es Geduld und weiterer Beobachtung, wie konkret die Zielsetzungen der genannten Netzwerke in Estland Fuß fassen können. Ein aussichtsreiches Modell stellt das bereits erwähnte Peipsi Center for Transboundary Cooperation dar. Dessen Aktivitäten sollen im Folgenden näher vorgestellt werden, wobei sich das Hauptaugenmerk auf die estnisch-russische Zusammenarbeit richtet. 3. Interkommunale Kooperation am Beispiel des Peipsi Center for Transboundary Cooperation Das Ansinnen auf Regierungsebene, transnationale und grenzüberschreitende Aktivitäten zu fördern, wird solange im Bereich wohlwollender Worte verbleiben, bis diese auch auf lokaler Ebene greifen. Grenzregionen sind meist peripher gelegen, das heißt, sie sind von den Entwicklungszentren ihrer Länder weit entfernt, verkehrstechnisch unzureichend angebunden und infrastrukturell vernachlässigt. Hervorgerufen durch ihre geografische Lage entwickeln solche Räume spezifische Problemsituationen,110 die durch das Bestehen einer (schwer passierbaren) Grenze zusätzlich belastet werden. Solche Regionen innerhalb der Europäischen Union passen dank der Binnenfreiheiten (freie Beweglichkeit von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital) immer weniger in dieses Bild. Hier gehören grenzüberschreitende Kontakte zunehmend zum Alltag. An der EU-Außengrenze ist dies freilich anders. Dort werden Grenzen nicht nur als administrative Trennlinien zwischen zwei politischen Einheiten, den Staaten, wahrgenommen, sondern als evidente Hindernisse. Ein derartiger Fall liegt zwischen der Republik Estland und der Russischen Föderation vor. Wie bereits geschildert, ist das Verhältnis der beiden Regierungen als angespannt zu bezeichnen. Ausdruck dessen ist das weiterhin ausstehende Grenzabkommen zwischen Moskau und Tallinn. Damit das 110 Dazu zählt ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsstätten (insbesondere für höhere Qualifikationen), Freizeitmöglichkeiten, Arbeitsplätzen und Gesundheitseinrichtungen. Dies führt zur Abwanderung in die Groß- oder Hauptstädte vornehmlich der jungen Bevölkerung, womit den Regionen ein weiterer wichtiger Entwicklungsfaktor abhanden kommt.
III. Multinationale Institutionen
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gegenseitige Vertrauen zwischen Esten und Russen nicht gänzlich erodiert, war der Aufbau grenzübergreifender Kontakte unterschiedlicher Ausprägung von höchster Wichtigkeit. Seit 1993 fühlt sich dazu das Peipsi CTC berufen.111 Den Ausschlag zur Gründung gab die Besorgnis erregende ökologische Degradierung des zwischen Estland und Russland geteilten Peipsi-Sees (russisch: Chudskoe).112 Die ökonomische Grundlage für Fischerei und Landwirtschaft als Haupteinnahmequellen auf beiden Seiten war bedroht. Bei Nichteingreifen hätte dies ein Ansteigen der Armut in der ohnehin strukturell benachteiligten Region geführt.113 Ausgehend vom Nachdenken über ein gemeinsames Wasser-Management wurden nach und nach vier weitere Themenfelder erschlossen: die Einbeziehung der Öffentlichkeit, die Gemeindeentwicklung, die grenzüberschreitende Kooperation sowie die Umwelterziehung.114 Ziel aller Aktivitäten ist, den Menschen vor Ort den Zusammenhang zwischen dem Zustand des Sees und ihrer Lebensqualität zu erklären, sie zur Eigeninitiative im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu bewegen und natürlich interkulturelle Verständigung zu schaffen. Den Großteil der Koordinierung übernimmt das Büro in Tartu, während weitere Anlaufstellen in Narva, St. Petersburg und Pskov unterhalten werden.115 Bei seiner Arbeit kann sich Peipsi CTC auf die vielfältige Unterstützung nationaler wie internationaler Partner stützen, die sowohl öffentliche als auch private Träger sind.116 Dabei ist das Center in ein Netzwerk gegenseitiger Zusammenarbeit eingebunden und seine Expertise ist längst nicht mehr auf den namensgebenden See begrenzt.117 111 Die Organisation entstand aus dem Lake Peipsi Project (1993–1998), hieß 1999 Center for Transboundary Cooperation und seit 2000 Peipsi Center for Transboundary Cooperation. CTC und Peipsi CTC sind demnach identisch. 112 Der Peipsi-See ist mit seiner Fläche von 3.550 Quadratkilometern der viertgrößte See Europas, wobei Estland einen Anspruch auf 44 Prozent des Gewässers hat. Zwei Drittel der 277 Kilometer langen estnisch-russischen Grenzen verlaufen durch den See und den sich daraus speisenden Fluss Narva. Auf estnischer Seite grenzen fünf Verwaltungsgebiete an den See: Ida-Virumaa, Jõgevamaa, Tartumaa, Põlvamaa und Võrumaa; auf russischer Seite sind es die Oblast Leningrad und Pskov. Vgl. CTC (1999), S. 24; Peipsi CTC (17.02.2005a). 113 Gespräch zwischen Kati Kangur, Mitarbeiterin von Peipsi CTC, und der Verfasserin am 9. Dezember 2004 in Tartu. Ein Gesprächsprotokoll wurde angefertigt. 114 Vgl. Peipsi CTC (2003). Darunter zählen Vorhaben wie die Entwicklung einer Abwasserinfrastruktur im Peipsi-Becken, die Überwachung der Wasserqualität durch eine estnisch-russische Wasserkommission, Austauschprojekte zwischen estnischen, finnischen, russischen und schwedischen Schulen oder auch die Erstellung eines Geschäfts- und Wirtschaftsprofils für die betreffende Region. Vgl. Peipsi CTC (2000), S. 3 ff. 115 Gespräch zwischen Kati Kangur und der Verfasserin; Internetpräsentation der Organisation www.ctc.ee (17.02.2005). 116 Eine Übersicht dazu findet sich in den jährlichen Activities Reports.
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D. Estlands Agieren in der Ostseeregion
Vielfältig gestaltet sich die von Peipsi CTC angeregte estnisch-russische Grenzkooperation, wobei zwei Diskussions- und Kommunikationsforen eine zentrale Funktion einnehmen. Zum einen wird seit 1999 einmal im Jahr das Peipsi Forum veranstaltet, welches auf die Intensivierung der estnisch-russischen Beziehungen im Umfeld des gemeinsamen Sees und die Lösung damit verbundener Umweltprobleme zielt. Darüber hinaus fungiert das Forum als „meeting place for the representatives of ministries, county governments, local municipalities in the Peipsi area, NGOs and enterprises from both sides of the border-lake.“118 Zum anderen operiert der Peipsi Council als wichtiger Initiator grenzüberschreitender Zusammenarbeit. Gemeinsam mit Vertretern der lokalen Regierungen, Wirtschaft und NGOs sollen politische Leitlinien für die Entwicklung der Region erarbeitet und mögliche Trends eruiert werden. Ebenso soll dieses Gremium größere regionale Umwelt- und Infrastrukturprojekte vorbereiten beziehungsweise koordinieren.119 Mit diesen beiden Organen geht eine beabsichtigte Institutionalisierung der estnisch-russischen Zusammenarbeit einher. Regelmäßige Treffen der Projektpartner, ein Informations- und Kompetenzaustausch auf gleicher Augenhöhe sowie die Übernahme von Verantwortung in bestimmten Problembereichen tragen am ehesten zur Schaffung gegenseitigen Vertrauens bei. Somit kann das gemeinsame Beraten und anschließende Hervorbringen von Lösungsvorschlägen in Bezug auf ein konkretes, beide Seite tangierendes Problemfeld die Basis für den sukzessiven Ausbau der Kooperation sein. Erfolge in einem Projekt entfalten Vorbildcharakter und infolgedessen Spillover-Effekte in anderen Bereichen. Dem geht oftmals ein langwieriger Überzeugungsprozess voraus, der gewiss nicht immer ungehindert abläuft. Dennoch hat sich das Peipsi CTC als erfolgreiche Interessenvertretung etablieren können, der in der gesamten Ostseeregion Anerkennung entgegenkommt.120 Dem schließt sich die Regierung in Tallinn an, obgleich mit partiell eigennützigen Hintergedanken. Wenn es um Investitionen in den Grenzregionen geht, ist die estnische Führung bislang noch nicht in der Lage, die erforderlichen Mittel aufzubringen. Die größeren Städte Tallinn, Tartu und Pärnu werden mit Vorrang behandelt, weil dort eingesetzte Förderinstrumente am schnellsten Wirkung entfalten. Gleichwohl lautet das erklärte 117 Im Herbst 2003 wurde zum Beispiel ein Projekt zur Errichtung kooperativer Strukturen zur gemeinsamen Unterhaltung grenzüberschreitender Gewässer zwischen Kirgistan und Kasachstan durchgeführt. Vgl. Peipsi CTC (2003), S. 17. 118 Vgl. Peipsi CTC (17.02.2005c). 119 Vgl. Peipsi CTC (17.02.2005b); Gespräch zwischen Kati Kangur und der Verfasserin. 120 Vgl. Merrill, S. 228 f.
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Ziel, den Lebensstandard in allen Landesteilen zu erhöhen. Aus diesem Grund erhält Peipsi CTC, das die Bedürfnisse vor Ort dank seiner wissenschaftlichen Forschungsarbeit realistisch einschätzen kann, von verschiedenen Ministerien Zuwendungen, die von Jahr zu Jahr variieren. Dazu zählen die Ressorts für Bildung, Landwirtschaft, Umwelt und Inneres (welches unter anderem die PHARE-Mittel verwaltet). Des Weiteren bekundet das Außenministerium Interesse am Wirken von Peipsi CTC.121 Mit Blick auf den EU-Beitritt Estlands spielte die Sicherung der Grenzen gemäß den Schengen-Richtlinien eine signifikante Rolle. Diese lässt sich vor allem dann gewährleisten, wenn die Menschen ein ausreichendes Auskommen zum Leben haben; und nicht etwa veranlasst sind, kriminelle Handlungen zu begehen. Das Vorgehen der estnischen Regierung verläuft gegenüber Russland in den Bahnen der selbst ausgegebenen Devise des positiven Engagements, basierend auf Pragmatismus in all jenen Bereichen, wo dies nützlich und sinnvoll erscheint. Allerdings ist dies nicht gleichbedeutend mit einem reibungslosen Verlauf der estnisch-russischen Beziehungen in den Grenzgebieten. Davon betroffen sind letztlich auch die Anstrengungen von Peipsi CTC. Zwar ist dessen Konzept als überwiegend Gewinn bringend zu bewerten, gerade weil dies auf einer engen multinationalen Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Stellen und privaten Initiatoren beruht. Jedoch stoßen die Mitwirkenden wiederholt auf Hindernisse, die symptomatisch für das Verhältnis der beiden Nationen zueinander sind. Unterschiedliche Kommunikationsund Verhandlungsstile, divergierende Auffassungen hinsichtlich der Planung und Ausführung von Projekten sowie verschiedenartige Verwaltungstraditionen bilden nur eine kleine Auswahl der Schwierigkeiten, mit denen Peipsi CTC umgehen muss.122
121 Vgl. Peipsi CTC (2000), S. 26 f.; Peipsi CTC (2003), S. 34; Peipsi CTC (2001), S. 27; Gespräch zwischen Kati Kangur und der Verfasserin. 122 Gespräch zwischen Kati Kangur und der Verfasserin.
E. Interdependenzen zwischen europäischer Integration und regionaler Verflechtung in der Ostseeregion Die Einigung des europäischen Kontinents erlebte am 1. Mai 2004 eine historische Zäsur: zehn Kandidatenländer traten der Europäischen Union bei. Infolgedessen zählt die EU nunmehr 25 Mitglieder, acht von ihnen sind Anrainer der Ostsee. Durch dieses wahrlich einmalige Ereignis hat die Union zweierlei bewiesen. Erstens wurde damit die anhaltende Anziehungskraft dieser politischen und wirtschaftlichen Gemeinschaft offenbar. Auch mehr als fünfzig Jahre nach den entscheidenden Gründungsschritten1 besteht das Erfolgsmodell fort, obgleich sich die äußeren Rahmenbedingungen und das Aufgabenspektrum modifiziert haben. Zweitens ist die Union in der Lage, Europa durch gezielte Kooperation zu integrieren, ohne dass für deren Mitglieder die Gefahr bestünde, ihre nationalen Eigenheiten im supranationalen Kontext einzubüßen. Vielmehr ist der EU an einer Stärkung aller administrativen Ebenen gelegen, was auf Wechselbeziehungen zwischen europäischer Integration und regionaler Verflechtung schließen lässt. Dabei stehen die EU auf der einen und die partizipierenden Regionen – hier der Ostseeraum – auf der anderen Seite in einem interdependenten Verhältnis zueinander, welches die nachstehenden Abschnitte näher analysieren werden.
I. Erwartungshaltungen der Europäischen Union 1. Der Ostseeraum als EU-Binnenregion und daran geknüpfte Erwartungen Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit in den baltischen Staaten stand außer Frage, dass sie schnellstmöglich den Anschluss an Europa suchten. Aus diesem Grund sollte die Aufnahme in die Europäische Union für 1 Am 9. Mai 1950 wurde der so genannte Schuman-Plan vorgestellt, der am 18. April 1951 in der Unterzeichnung des Vertrages zur Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) mündete. Daraufhin folgte am 25. März 1957 die Unterzeichnung der Römischen Verträge, worunter die Europäische Wirtschafts- und die Europäische Atomgemeinschaft (EWG und EURATOM) subsumiert wurden.
I. Erwartungshaltungen der Europäischen Union
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die außenpolitische Agenda in Tallinn, Riga und Vilnius determinierend sein. Umgekehrt stand Brüssel vor der Aufgabe, die Transformationsländer Mittel- und Osteuropas Schritt für Schritt an seine jahrzehntelang gewachsenen Strukturen heranzuführen und sich für deren Mitgliedschaft zu öffnen. Neben der unvermeidlichen Erweiterung hatte sich die Union der eigenen Vertiefung zu widmen, wollte sie bei einem vergrößerten Mitgliederkreis handlungsfähig bleiben. In Bezug auf das Baltikum stand bereits im Anfangsstadium der Transformationszeit fest, dass diese europäische Subregion über kurz oder lang vollständig in die EU integriert werden würde. Nur durch diesen Schritt war eine Ausbreitung von Stabilität und Sicherheit in ganz Europa langfristig zu gewährleisten. Bevor dies erreicht werden konnte, ergaben sich für die EU besondere Herausforderungen hinsichtlich der Annäherung an die Kandidatenländer der Ostseeregion Estland, Lettland, Litauen und Polen. So würden die genannten Staaten nach ihrem Beitritt die neue Außengrenze der Union bilden und folglich in direkter Nachbarschaft zu Russland, Weißrussland und der Ukraine liegen – politisch wie wirtschaftlich fragile Länder. Besonders deutlich wird die Problematik der direkten Nachbarschaft an der russischen, hoch militarisierten Exklave Kaliningrad, die von Litauen und Polen umgeben ist.2 Demnach hatte die EU in ihre Erweiterungsstrategie nicht nur die eigentlichen Aspiranten einzubeziehen, sondern auch deren geopolitisches Umfeld. Zu solchen Sicherheitsüberlegungen kamen Fragen der ethnischen Minderheiten insbesondere in Estland und Lettland hinzu. Dort ist der Anteil an russischsprachiger Bevölkerung am höchsten, wobei deren oftmals ungeklärte Staatsangehörigkeit respektive deren russische Staatsbürgerschaft Bedenken in Brüssel aufkommen ließ.3 Zudem verfügten beide Länder zum Zeitpunkt ihrer Beitrittsgesuche nicht über vertragliche Grenzregelungen mit Russland, worauf bereits hingewiesen wurde. Gleichzeitig besaßen die Regierungen der baltischen Republiken über nützliche Kenntnisse im Umgang mit dem russischen Nachbarn. Dieses Expertenwissen kann für die Union bei der angestrebten Intensivierung der Beziehungen zu Russland von Vorteil sein. Auf die Weise erhielten auch Esten, Letten und Litauer eine bedeutsame Brückenfunktion zwischen Ost und West. Dem gegenüber eröffneten sich für die EG/EU günstige Entwicklungschancen in Verbindung mit einer umfassenden Integration der Ostseeregion. Den Grundstein dafür legten Helsinki und Stockholm, nachdem sie im Zuge einer Lockerung ihrer Neutralitätspolitik die Nähe zur EG suchten. 2 Weiterführend zu dieser Thematik siehe die Arbeiten von Fairlie/Sergounin; Kusnezov. 3 Vgl. Tiilikainen, S. 22.
104 E. Europäische Integration und regionale Verflechtung in der Ostseeregion
Schlösse sich dem eine Erweiterung um Estland, Lettland, Litauen und Polen an, so die damalige Überlegung in Brüssel, würde die Ostsee nahezu ein Binnenmeer der Union werden. Für eine engere wirtschaftliche Vernetzung sowie politische Abstimmung ist dieser Gedanke von immenser Wichtigkeit, damit sich Wohlstand und Entwicklung gleichmäßig europaweit ausbreiten können. Von Beginn an lagen im baltischen Raum Potenziale verankert, die bei entsprechenden Investitionen unterschiedlicher Ebenen eine europäische Zukunftsregion hervorbringen könnten. Am Ende dieser Idee steht eine wettbewerbs- und leistungsfähige Region, die mit den übrigen Entwicklungszentren auf dem Kontinent konkurrieren kann.4 Bevor ein solch visionäres Vorhaben realisiert werden konnte, sah sich die EU veranlasst, Bedingungen ihres Engagements in der Region aufzustellen. Die Kosten für die zu bewältigenden Anstrengungen finanzieller und technischer Art wollte sie keinesfalls allein zugewiesen bekommen. Das Stichwort hieß daher Kooperation. 2. Grenzübergreifende Zusammenarbeit im Kontext der Beitrittsverhandlungen András Inotai weist in seiner Studie darauf hin, dass die Idee der subregionalen Zusammenarbeit erstmals im Kontext der Kandidatur der MOEStaaten aufgekommen sei.5 Die Erweiterungsrunden zuvor hatten diesen Aspekt vernachlässigt; wohl auch deshalb, weil deren Umfang nie das Ausmaß der jüngsten Beitritte erreicht hatte. Mehrere Gründe gaben dann den Ausschlag für Brüssel, die Kooperation unter den Bewerberstaaten gleichermaßen zu fordern wie zu fördern. Hinsichtlich ökonomischer Entwicklung, des Aufbaus demokratischer Institutionen oder des Erlernens einer gemeinsamen Problembehandlung durch Konsensfindung würde die auf eine Region begrenzte Zusammenarbeit als Testfeld für die EU-Mitgliedschaft dienen. Darüber hinaus wurden geo- und sicherheitspolitische Implikationen hervorgehoben. Mit Hilfe eines gezielten Zusammengehens in ausgewählten Politikfeldern sollten regionale Sicherheitszonen entstehen, wodurch etwaige zwischenstaatliche Probleme im Vorfeld eines Beitritts gelöst werden sollten und nicht erst innerhalb der Gemeinschaft. Kritiker der EU-Verantwortlichen glauben außerdem in einer nicht vorhandenen stringenten Erweiterungsstrategie einen Grund zur Forcierung subregionaler Kooperation ausmachen zu können, um das Beitrittsvorhaben hinauszuzögern.6 Angesichts der gewaltigen Herausforderungen der Osterweiterung für alle Beteiligten 4 5 6
Vgl. Walter, S. 50. Vgl. Inotai, S. 14. Vgl. ebd., S. 15.
I. Erwartungshaltungen der Europäischen Union
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dürfte eine derartige Begründung aber ohne weiteres zu übergehen sein, da am Ende die Vorteile subregionaler Kooperation überwogen haben. Mit Blick auf die BSR war von Brüssel eine Intensivierung der Zusammenarbeit der Ostseeanrainer im Allgemeinen und der baltischen Staaten im Besonderen ausgesprochen erwünscht. Dies, so argumentierte die Europäische Union, würde die Beitrittskandidaten schneller in die Lage versetzen, mit den Mitgliedsländern graduell und gemäß ihren Fähigkeiten aufzuschließen. Die künftigen EU-Mitglieder hätten zuerst ihre Kooperationsbereitschaft unter Beweis zu stellen, ehe sie den weitaus größeren Kraftakt eines Beitritts bewältigen könnten.7 Den bereits in die EU aufgenommenen Staaten sollte dabei die Aufgabe zuteil werden, eine Mittlerfunktion wahrzunehmen sowie Formen der Kooperation in den Bereichen aktiv zu fördern, wo Integration einstweilen ausgeschlossen bliebe.8 Vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht sollten die noch schwachen baltischen Volksökonomien vor dem starken Wettbewerb des Gemeinsamen Marktes geschützt werden, den eine allzu rasche Einbindung mit sich gebracht hätte. Aus diesem Grund hatten sich Tallinn, Riga und Vilnius auf die Errichtung einer baltischen Freihandelszone zu konzentrieren,9 wie sie dann 1994 geschaffen und 1997 ausgebaut wurde. Sosehr Brüssel die Bewerberländer zur Zusammenarbeit auch anregen mochte, verhielt sich die Kommission bei den Beitrittsverhandlungen diesbezüglich nicht immer eindeutig und erzeugte teilweise ein kooperationsunfreundliches Klima. Betroffen von dieser Ambivalenz waren gerade Estland, Lettland und Litauen. Anfänglich wurden sie als homogenes Gebilde – eben die baltischen Staaten – behandelt. Regionale Unterschiede, Differenzen im politischen und gesellschaftlichen System sowie kulturelle Besonderheiten wurden dadurch vernachlässigt, was in den jeweiligen Staaten wiederum mit Unmut registriert wurde. Esten, Letten und Litauer haben zwar zum selben Zeitpunkt ihre Unabhängigkeit wiedererlangt, doch wollten sie in der Folgezeit als Nationen mit singulärer Identität betrachtet werden. Verständlicherweise entstanden Hemmungen, die zurückerlangte Souveränität einer baltischen Einheit unterzuordnen. Ein weiteres Hindernis stellte der Ablauf der Verhandlungen dar, in denen sich die baltischen Republiken plötzlich einer zunehmenden Wettbewerbssituation ausgesetzt sahen. Begründet wird dies durch die Aufteilung der Kandidaten in zwei verschiedene Verhandlungsgruppen (die Luxemburg- und die Helsinki-Gruppe). Dabei gehörte Estland der fortgeschritteneren an, Lettland und Litauen fanden sich in letzterer wieder und fühlten 7 8 9
Zit. nach Arnswald (1998), S. 50; vgl. Löfgren/Herd, S. 25 und 73. Vgl. Walter, S. 49. Vgl. Arnswald (2000), S. 32; Arnswald (1998), S. 50.
106 E. Europäische Integration und regionale Verflechtung in der Ostseeregion
sich benachteiligt. Als dann schließlich mit allen Ländern die Beitrittsgespräche eröffnet waren, konzentrierte jede Regierung ihre Anstrengungen auf das individuelle Abschneiden, um die Verhandlungskapitel so zügig und so gut wie möglich abarbeiten zu können.10 Diese Vorgehensweise passte ins Konzept Tallinns, wonach jedes Land entsprechend seiner Fortschritte bewertet werden musste. Folglich kam für die Esten die Bildung eines baltischen Blocks weder durch die Balten selbst noch durch die EU infrage.11 Den Spielraum für das Ausloten von Kooperationsmöglichkeiten hielten die einbezogenen Verhandlungsparteien somit von vornherein klein, obwohl sie sich der Vorzüge regionaler Kooperation durchaus bewusst waren. Eine intensivere Kommunikation zwischen Brüssel und den baltischen Hauptstädten (unter Einbeziehung der Skandinavier) hätte die Vorteile einer verstärkten intrabaltischen Zusammenarbeit benennen und daher Anregungen schaffen können. Dennoch finden sich in offiziellen bilateralen Vereinbarungen Ansätze, welche die von Brüssel verfolgte Idee regionaler Zusammenarbeit im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses aufgreifen. Im Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Republik Estland beispielsweise heißt es explizit: „Besondere Aufmerksamkeit ist Maßnahmen zu widmen, die die Zusammenarbeit zwischen den drei baltischen Staaten und mit den anderen Ländern Mittel- und Osteuropas sowie mit den anderen Ostseeanrainerstaaten im Hinblick auf eine integrierte Entwicklung der Region stärken können.“12 Mit Verweis auf die Regionalpolitik halten beide Vertragsseiten ergänzend fest, dass eine „Prüfung koordinierter Konzepte für die Entwicklung der interregionalen Zusammenarbeit mit den Ostseegebieten in der Gemeinschaft“13 durchgeführt werden kann. Dadurch nimmt Brüssel nicht nur sein assoziiertes Mitglied, sondern auch sich selbst in die Pflicht, regionalpolitisch aktiv zu werden. Mit der eingeforderten Kooperation zwischen Estland und seinen Nachbarstaaten – ob EU-Mitglied oder nicht – wird die EU nicht zuletzt zwei Handlungsmaximen des EG-Vertrages gerecht. Erstens wird darin an die Eigenverantwortlichkeit staatlicher und substaatlicher Ebenen bei der entwicklungspolitischen Gestaltung ihrer Länder und Regionen appelliert. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip wird die Gemeinschaft nur dann handeln, wenn „die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen Um10
Vgl. Vilpišauskas, S. 170. Vgl. Ilves (1997c); Ilves (1997b); Ilves (2000a). 12 Die Europäischen Gemeinschaften und die Republik Estland, S. 18, Art. 71 (4). Am 1. Februar 1998 trat das Abkommen in Kraft. 13 Ebd., Art. 90 (2), S. 24. 11
I. Erwartungshaltungen der Europäischen Union
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fangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“14 Zweitens äußert sich im zitierten Passus des Europa-Abkommens der Wunsch nach sozioökonomischen Zusammenhalt innerhalb des gesamten Unionsgebietes.15 Dass mit der Umsetzung dieser Maxime bereits vor der eigentlichen Aufnahme eines EU-Anwärters begonnen werden musste, erscheint nur konsequent. Daher finden sich Elemente der Kohäsionspolitik in der Vorbeitrittsstrategie (pre-accession strategy) der Union wieder. Die Teilnahme am EU-Strukturförderprogramm PHARE beispielsweise ist für künftige Mitglieder obligatorisch.16 Welche Möglichkeiten sich damit für die Ostseeregion eröffneten, wird im Folgenden untersucht. 3. Regionalpolitische Förderinstrumente der EU PHARE-Mittel standen den baltischen Ländern seit 1992 zur Verfügung, während Polen und Ungarn seit 1989 Gelder aus diesem EU-Topf erhielten.17 Primär verbunden mit diesem Programm sind die Förderung demokratischer und marktwirtschaftlicher Institutionen in den Transformationsländern sowie Hilfe bei der Umsetzung des acquis communautaire (dem gemeinsamen Besitzstand) der EU.18 Damit beabsichtigt die Europäische Kommission – verantwortlich ist hierfür die Generaldirektion (GD) für Auswärtige Beziehungen – ihr Ziel nach ökonomischer und sozialer Kohäsion in Europa so weit wie möglich voranzubringen.19 Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die Sparte Cross-border Co-operation (CBC), die 1994 14
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Art. 5 EGV, S. 58. „Die Gemeinschaft setzt sich insbesondere zum Ziel, die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete oder Inseln, einschließlich der ländlichen Gebiete, zu verringern.“ Ebd., Art. 158, S. 142. 16 Vgl. Arnswald (1998), S. 60. Mittlerweile ist für die 2004 beigetretenen MOEStaaten die letzte Programmphase angelaufen, in der bis 2006 Projekte durch PHARE finanziert werden. Rumänien und Bulgarien werden bis zu ihrer EU-Mitgliedschaft weiterhin Finanzmittel erhalten. Vgl. European Commission – Enlargement. 17 Bis 1992 gehörten Estland, Lettland und Litauen zum Kreis der TACIS-Empfänger (Technical Assistance for the Commonwealth of Independent States). Obwohl sie ehemalige Sowjetrepubliken waren, wollten die drei Länder aber nicht mit den GUS-Staaten in Verbindung gebracht werden. Dieser Logik folgte dann auch die Europäische Kommission und nahm sie in das PHARE-Programm auf. Vgl. Vilpišauskas, S. 179. 18 Vgl. Jauhiainen (2002), S. 61. 19 Jedes Empfängerland unterhält im Rahmen von PHARE nationale Programme, die mit der Kommission bilateral abgestimmt werden und detailliert über Ablauf, Zeitplan, Umfang und Kosten der Investitionsmaßnahmen Auskunft geben. Vgl. European Commission – Enlargement. 15
108 E. Europäische Integration und regionale Verflechtung in der Ostseeregion
eingeführt wurde. Die Aufgabe von PHARE-CBC besteht in der gezielten Unterstützung von Grenzregionen in den Kandidatenländern. Nach Möglichkeit sollten diese untereinander Netzwerke entwickeln und mit Regionen von EU-Mitgliedern zusammenarbeiten. Zwischen 2000 und 2003 stellte die Kommission dafür jedes Jahr 163 Millionen Euro zur Verfügung.20 Der Politologe Douglas Merrill begründet das Interesse der Kommission an CBC unter anderem mit Sicherheitsfragen. Deshalb bezeichnet er die grenzübergreifende Kooperation auch als „the ground level of the edifice of European security“21, das helfen könne, entlang der künftigen EU-Ostgrenze auf beiden Seiten für Prosperität und Stabilität zu sorgen. Staaten, die auf absehbare Zeit keine EU-Mitgliedschaft erwerben können oder wollen, könnten mittels konkreter Projektarbeit Werte und Prinzipien der Europäischen Union erlernen. Langfristig würde die Grenze zwischen EU und Nicht-EU keine eindeutige Trennlinie mehr darstellen.22 Für die Ostseeregion wurde ein spezieller PHARE-Typ konzipiert: PHARE-CBC BSR, an dem auch Estland teilnimmt. Im Jahr 2003 beliefen sich die für Tallinn bereitgestellten Gelder auf drei Millionen Euro. Hauptanliegen des Programms ist die bessere Integration der partizipierenden Kandidatenländer in die Region sowie die Verstärkung der justiziellen Zusammenarbeit (etwa auf dem Gebiet der Grenzsicherung und der Kriminalitätsbekämpfung).23 Ergänzend wirkte in dieser Hinsicht das INTERREG-Instrument der GD Regionalpolitik mit Geldern aus dem Europäischen Fonds für Regionalentwicklung (EFRE).24 Inzwischen ist mit INTERREG III die dritte Programmphase (2000–2006) erreicht, welche sich in die Ausrichtungen A (grenzübergreifende Zusammenarbeit), B (transnationale Zusammenarbeit) und C (interregionale Zusammenarbeit) gliedert. Estland und Finnland erhalten durch INTERREG III A vom EFRE eine Teilfinanzierung gemeinschaftlicher Projekte von 14,5 Millionen Euro, wobei die Förderung für die estnische Seite durch PHARE-CBC gewährleistet 20
Vgl. ebd. Merrill, S. 218. 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. The Representation of the European Commission in Estonia; Löfgren/ Herd, S. 22. 24 1990 nahm die EG die INTERREG-Initiative an, die darauf zielte, eine Gemeinschaft ohne interne Grenzen zu schaffen. Von 1994 bis 1999 folgte INTERREG II mit den Ausrichtungen A (grenzübergreifende Zusammenarbeit), B (Energienetzwerke) und C (Kooperation im Bereich der Raumplanung). INTERREG II C finanzierte zum Beispiel die nachhaltige Raumentwicklung in der Ostseeregion unter Mitwirkung von Dänemark, Deutschland, Finnland, Norwegen, Schweden, Polen, Estland, Lettland, Litauen, Russland und Weißrussland, womit gleichzeitig die Einführung von VASAB 2010 unterstützt wurde. Vgl. European Commission – Regional Policy (2004a); European Commission – Regional Policy (2004b). 21
I. Erwartungshaltungen der Europäischen Union
109
wird. Um diese Mittel tatsächlich einsetzen zu können, bedürfen die Vorhaben im gleichen Umfang einer Kofinanzierung von anderen Stellen in Finnland und Estland (Behörden oder anderweitige Investoren). Zu den Prioritäten der finnischen und estnischen Partner zählen in diesem Zusammenhang die Stärkung von Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit, der Schutz der Ostsee inklusive des Finnischen Golfs und die Förderung des Transportwesens.25 Ein Beispiel dieser geförderten grenzübergreifenden Zusammenarbeit ist die bereits erwähnte EUREGIO Helsinki-Tallinn (siehe D. II. 2.). Die Möglichkeiten, im Rahmen von INTERREG die Ostseeregion zu gestalten, sind damit keineswegs erschöpft. Mit 97,11 Millionen Euro kofinanziert die EU das Programm Baltic Sea Region INTERREG III B. Das Gesamtvolumen des Vorhabens beläuft sich bis 2006 auf 186,61 Millionen Euro.26 Im Laufe dieser Fördermaßnahme soll der sozioökonomische und territoriale Zusammenhalt zwischen den elf mitwirkenden Ländern27 ausgebaut werden. Dazu hat das Programm-Management sieben Hauptziele formuliert und adäquate Projekte auf den Weg gebracht. Vornehmlich geht es den regionalen Akteuren um eine grenzüberschreitende Vermittlung entwicklungspolitischer Leitlinien der EU. Als Stichworte seien nachhaltige Entwicklung, integrative Raumplanung für Problemgebiete wie Küsten und Inseln sowie der transnationale Aufbau von Institutionen und Handlungsfähigkeiten (capacity building) genannt.28 Eingebettet ist BSR INTERREG III B in einer nach Ganzheitlichkeit strebenden Strategie der EU, im nördlichen Unionsgebiet und seinen angrenzenden Regionen eine Zone von Stabilität und Sicherheit zu schaffen – die Nördliche Dimension. 4. Das Konzept der Nördlichen Dimension Im Kontext der finnischen, norwegischen (!) und schwedischen Beitrittsgesuche Anfang der 1990er Jahre kündigte sich eine Verlagerung des geografischen Mittelpunktes der EU an. Die Aussicht, neben Dänemark drei weitere nordische Staaten in die Gemeinschaft einzubeziehen, sollte sich seitens Brüssels in einer gestiegenen Aufmerksamkeit gegenüber dem Ost25
Vgl. European Commission – Regional Policy (03.03.2005a). Vgl. European Commission – Regional Policy (03.03.2005b). 27 An BSR INTERREG III B wirken mit: Dänemark, Deutschland (Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Lüneburg, Mecklenburg-Vorpommern und SchleswigHolstein), Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Norwegen, Polen, Schweden, Russland (St. Petersburg und die dazugehörige Oblast Leningrad, die Republik Karelien sowie die Bezirke Kaliningrad, Murmansk, Nowgorod und Pskov) sowie Weißrussland (die Bezirke Minsk, Grodno, Brest und Vitebsk); siehe zur Übersicht Abbildung 3 im Anhang. 28 Vgl. Baltic Sea Region INTERREG III B. 26
110 E. Europäische Integration und regionale Verflechtung in der Ostseeregion
seeraum niederschlagen. Dass am Ende nur Finnland und Schweden (sowie Österreich) der Union 1995 beitraten, änderte an dieser Tatsache nichts. Als Folge bezog die Europäische Kommission im Oktober 1994 in einer Mitteilung an den Europäischen Rat Stellung, wie sie künftig ihre Politik im Norden Europas gestalten wollte.29 Damit legte die EU-Kommission die konzeptionelle Basis für weiterführende Gemeinschaftsinitiativen, die auf die Ostseeregion ausgerichtet sein würden.30 In diesem ersten wichtigen Dokument zeigt sich die Kommission überzeugt, dass mit entsprechenden Anstrengungen Chancen zur politischen und wirtschaftlichen Wiederbelebung der Region bestünden. Dies würde den Grundstein für eine stabile und sichere Entwicklung des gesamten Ostseeraums legen. Die bereits erwähnten regional- und strukturpolitischen Instrumente sowie ein konstruktiver Dialog aller Parteien bildeten bei diesen Überlegungen die Eckpfeiler. Neben der politischen Kooperation verwies die Kommission ebenso auf die Notwendigkeit von Investitionen im Handels- und Infrastruktursegment, um „a long past of vigorous economic cooperation“31 mit neuem Leben zu erfüllen. Des Weiteren galt es, bereits bestehende Kommunikationsforen der Anrainer wie den Ostseerat einzubinden. Auf keinen Fall sah sich die Union demnach als Alleinunterhalter. Mit einer derartigen Haltung hätte sie gewiss für gedämpftes Engagement der Hauptstädte gesorgt. Die Verantwortung sollte mit Hilfe eines Mehrebenenprozesses auf viele Akteure verteilt werden. Fortgesetzt wurde dieser Ansatz mit der Baltic Sea Region Initiative, die die Kommission den CBSS-Staaten im Mai 1996 präsentierte.32 Auch hier legten die Urheber den Schwerpunkt auf den Ausbau demokratischer Strukturen und wirtschaftlicher Aktivitäten. Für den Zeitraum von 1995 bis 1999 veranschlagte die Europäische Kommission die aufzubringende Investitionssumme mit 4,655 Milliarden ECU (European Currency Unit). Den von ihr beigesteuerten Anteil bezifferte sie auf 950 Millionen ECU.33 Handlungsbedarf sah Brüssel in erster Linie bei der Reform öffentlicher Verwaltungen, der Bekämpfung der IOK, beim Aufbau einer Zivilgesellschaft mit Blick auf die Einhaltung von Menschen- und Minderheitenrechten sowie beim Umweltschutz. Potenziale der Region gemäß ihrer natürlichen Ressourcen, Energiereserven und Wirtschaftskraft galt es entsprechend zu fördern; und zwar grenzübergreifend im Sinne von „State to State“, „Region to Region“ und „Person to Person“.34 29 30 31 32 33
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Commission of the European Communities (1994). Davis, S. 219. Commission of the European Communities (1994). Commission of the European Communities (1996). ebd.
I. Erwartungshaltungen der Europäischen Union
111
Im Wesentlichen finden sich diese Intentionen in der 1997 vom finnischen Regierungschef angestoßenen Politik einer Nördlichen Dimension (ND) wieder. Mitunter hat es den Anschein, dass die dazu verfügbare Literatur den Anteil Finnlands am Zustandekommen der Initiative überbewertet, da sie die vorab angeregten Ideen der Union ungebührend berücksichtigt. Gerade weil Brüssel frühzeitig die Auswirkungen der Erweiterungsrunden auf die Ostseeregion erkannt und diesbezüglich Handlungsfelder entworfen hat, unterliegt es einer Stringenz, dass die bereits bestehenden Politiken präzisiert werden mussten. Diese Aufgabe hat Helsinki übernommen. Paavo Lipponen, der zum dem Zeitpunkt amtierende Ministerpräsident, trug seine Vorstellungen unter der Überschrift „The European Union Needs a Policy for the Northern Dimension“35 im finnischen Rovaniemi vor. In seinen Augen implizierten die Beitritte Finnlands und Schwedens sowie die intendierte Aufnahme der baltischen Länder und Polens geradezu auf natürliche Weise solch eine Dimension. Jedoch dürfe die Union sich nicht auf diesen Aktionsradius beschränken. Vielmehr müsse sie alles daran setzen, Russland aktiv mit einzubeziehen. Grundlage dafür wäre das Partnerschaftsabkommen (Partnership and Co-operation Agreement – PCA) zwischen Russland und der EU, welches 1994 abgeschlossen wurde und 1997 in Kraft trat.36 Räumlich gesehen ergab sich für Lipponen folgendes Bild der ND: „Geographically, we include in it the region from Iceland in the West across Northwestern Russia, or from the Polar Sea in the North to the Southern coast of the Baltic Sea. Thus not only countries around the Baltic Sea, but also all other Nordic countries, Great Britain, the United States and Canada are more or less directly involved in the Northern region, particularly in circumpolar North.“37
Freilich erstreckt sich die dann von der EU implementierte ND nicht zur Gänze auf dieses Territorium. Jedoch wollte der finnische Premier auf die interregionalen Verknüpfungen aufmerksam machen, die der Nördlichen Dimension inhärent sind. Gleichzeitig verdeutlichte er den Handlungsspielraum, der einer erweiterten Union als globaler Akteur prinzipiell zur Verfügung stünde. Dadurch hätte sie die Möglichkeit, über das eigentliche EUGebiet hinaus zur Förderung ihrer Werte und Normen beizutragen. Frieden, Prosperität und Stabilität in den angrenzenden Regionen der EU bedeuteten letztlich eine Steigerung der eigenen Sicherheit. Traditionelle Sicherheitsfragen blieben allerdings ausgeklammert.38 Ohnehin hätte die Union zum damaligen Zeitpunkt in Sachen hard security kaum über geeignete Kom34 35 36 37 38
Vgl. ebd. Lipponen. Vgl. ebd., S. 2. Ebd., S. 2. Vgl. ebd., S. 3.
112 E. Europäische Integration und regionale Verflechtung in der Ostseeregion
petenzen verfügt. Ihr Erfolgsprinzip ist die Vermittlung von soft security issues, insbesondere in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und Umwelt. Beispielhaft dafür steht die Euro-Mediterranean Partnership, auch Barcelona-Prozess genannt.39 Zur Finanzierung des Konzepts glaubte Lipponen, dass keine zusätzlichen Instrumente erstellt werden müssten. Die vorhandenen Programme wie INTERREG, PHARE und TACIS müssten aber besser koordiniert werden, um Reibungsverluste zu vermeiden.40 Die Weiterentwicklung dieser gedanklichen Skizzen delegierte der Europäische Rat von Luxemburg (12./13. Dezember 1997) an die Kommission weiter.41 In einem Kommunikationspapier griff sie die Vorstellungen Lipponens auf – naturgemäß unter Berücksichtigung von Gemeinschaftsinteressen und ihrer bereits im Raum stehenden Positionen (BSR Initiative).42 Darin betont die Kommission die Signifikanz der nördlichen Region für die EU, weil diese sich durch umfangreiche Energiereserven und natürliche Ressourcen auszeichne, wodurch sich günstige ökonomische Entwicklungsperspektiven eröffneten. Außerdem sei die direkte Nachbarschaft zur Russischen Föderation unübersehbar. Daraus resultierten Chancen, positive Interdependenzen zwischen Russland und dem Ostseeraum anzuregen.43 In diesem Zusammenhang darf nicht außer Acht gelassen werden, dass eine nach ständigem Wachstum strebende EU in hohem Maße von externen Energielieferungen abhängig ist und sich dieser Tatbestand in Zukunft potenzieren wird. Russland mit seinen reichen Gas- und Ölvorkommen wird auf Dauer ein wichtiger Lieferant für die EU sein. Folglich musste die ND, wie schon von Paavo Lipponen angedacht, auf eine starke Partizipation Russlands hinauslaufen. Zusammengefasst formulierte die Europäische Kommission ihren Ansatz wie folgt: „The Northern Dimension is a political concept designed to derive maximum added value from Community and Member States programmes through better coordination and complementarity, thereby achieving a more coherent approach to address specific problems and needs of the European North.“44
Konkret soll dieser Mehrwert durch wirtschaftliche Entwicklung, die Bearbeitung grenzübergreifender Sachfragen, die Verringerung räumlicher Disparitäten und die Reduzierung von Umweltbedrohungen erzielt werden. 39 Bei dieser Partnerschaft handelt es sich um den gezielten Aufbau von Außenbeziehungen der EU zu Staaten südlich und östlich des Mittelmeeres sowie zum Nahen Osten. 1995 wurde dieser Prozess initiiert. Mittlerweile zählt die EU zehn Partner in der Region. Vgl. European Commission – External Relations. 40 Vgl. Lipponen, S. 6. 41 Vgl. Europäischer Rat von Luxemburg. 42 Vgl. European Commission (1998). 43 Vgl. ebd. 44 European Commission (1999).
I. Erwartungshaltungen der Europäischen Union
113
Fest eingebunden in die Umsetzung der Nördlichen Dimension waren und sind, wie zu erwarten, der Ostseerat, aber ebenso der Barents Euro-Arctic Council (BEAC).45 Auf deren Mitsprache verweist der erste ND-Aktionsplan, welcher politische Leitlinien für den Handlungszeitraum bis zum Jahr 2003 vorgab. Drei Jahre nach Rovaniemi wurde dieser vom Rat der Europäischen Union verabschiedet.46 Die darin berücksichtigten Schlüsselsektoren47 wurden zuerst einer Lageanalyse unterzogen. Daraufhin folgte die Formulierung knapper Zielvorstellungen und Aktionsprogramme. Begleitet wurde dieser Aktionsplan von einem Inventurbericht sowie jährlichen Fortschrittsberichten, die genauer Auskunft über laufende Programme und Ergebnisse erteilen.48 Diese Prozedur wiederholte sich mit dem zweiten Aktionsplan für den Zeitraum 2004 bis 2006.49 Auf Grund der Vielfalt der Projekte können lediglich auszugsweise einige der Vorhaben vorgestellt werden, um die praktischen Aspekte der ND exemplarisch zu veranschaulichen. Im Bereich des Infrastrukturausbaus, der insbesondere für effiziente Energielieferwege essenziell ist, förderten EUMittel die Arbeit an der Via Baltica, einer transeuropäischen Trasse zur Verbindung der Städte Helsinki, Tallinn, Riga, Kaunas und Warschau.50 Vor dem Hintergrund der Ausnutzung räumlicher Nähe ist dieses Verkehrsprojekt besonders hervorzuheben. Grenzübergreifende Kooperationsbereitschaft trifft nur dann auf den richtigen Nährboden, wenn Distanzen möglichst unkompliziert zu überwinden sind. Ebenfalls gefördert wird die Modernisierung der Häfen im Baltikum, die Hauptumschlagplätze russischen Öls sind und als Motor des Warenaustauschs in der Ostseeregion gelten. In Sachen nuklearer Sicherheit richtet sich die Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Reaktoren sowohl zu Land (sechs davon des Typs Tschernobyl) als auch zu See in Russland und Litauen.51 Weitere Maßnahmen umfassen Studien zur Errichtung eines Baltischen Rings, der alle Ostseeanrainer an ein Energie45 Auf eine norwegische Initiative hin errichteten die fünf nordischen Staaten, Russland und die Europäische Kommission diesen Rat, der dem CBSS nachempfunden war und sich primär den Fragen der Euro-Arktischen Barents-Region stellen will. Vgl. Catellani (2000), S. 19. 46 Council of the European Union. 47 Handel, Wirtschaft und Infrastruktur (Energie, Transport, Telekommunikation); Umwelt und Natürliche Ressourcen (Nukleare Sicherheit); Gesundheit, Forschung und Humanressourcen; Justiz und Inneres sowie Regionale und Grenzübergreifende Zusammenarbeit. 48 Vgl. European Commission (1999); Commission of the European Communities (2002); Commission of the European Communities (2003). 49 Vgl. European Commission (2003). 50 Vgl. European Commission (1999), S. 9; Theuringer, S. 18. 51 Vgl. Council of the European Union, S. 20–23; European Commission (1999), S. 15 f.
114 E. Europäische Integration und regionale Verflechtung in der Ostseeregion
netzwerk für Gas und Elektrizität anbinden soll.52 Für die Bekämpfung ansteckender Krankheiten wie AIDS/HIV, Tuberkulose und Hepatitis sowie zur Schulung des medizinischen Personals stellte PHARE für Estland, Lettland, Litauen und Polen 28,4 Millionen Euro bereit.53 Abschließend steht die Frage im Raum, inwieweit es überhaupt zweckmäßig erschien, die Nördliche Dimension zu lancieren, wenn sie weder neue Finanz- und Förderinstrumente noch eine institutionelle Verankerung beinhaltete. Was bleibt letzten Endes als Output dieser Initiative? Ein einhelliges Urteil darüber ist in Analystenkreisen nicht zu finden, zumal die praktische Umsetzung der ND noch relativ jung ist und zuverlässige Evaluierungsstudien erst durchgeführt beziehungsweise ausgewertet werden müssen. Außerdem ist das Netz an Programmen und Akteuren der ND derart dicht geworden, dass die daraus erwachsene Unübersichtlichkeit eine Urteilsfindung beeinträchtigt. Gerade in diesem Punkt wollte die EU allerdings für Abhilfe sorgen, indem die Parallelität von Maßnahmen zu Gunsten einer besseren Koordinierung weichen sollte. In der Ostseeregion, dem Hauptzielgebiet der Nördlichen Dimension, sind Überschneidungen von Kapazitäten und Kompetenzgerangel infolge einer hohen Institutionendichte auffällig. So ist der Ostseerat zwar bei der Umsetzung der ND involviert, aber natürlich unterhält er auch eigene Projekte. Hier ist in der Fortentwicklung der ND die Präzisierung der Aufgaben für EU-externe Institutionen geboten. Unter einer mangelnden Abstimmung unterschiedlicher Programme leidet verständlicherweise die Effizienz des Gesamtvorhabens. Dafür mitverantwortlich ist „EU’s compartmentalised pillar structure, in which the needed horizontal co-operation has often failed to materialise.“54 In einigen Bereichen kann die EU supranational agieren (Gemeinsamer Markt), in anderen jedoch ist sie auf intergouvernementale Zusammenarbeit angewiesen (Justiz und Inneres, Außenpolitik). Um als erfolgreiche Politik bestehen zu können, muss für die Nördliche Dimension „not only supranational pull but also noticeable intergovernmental push“55 spürbar sein. Immerhin hat es die Europäische Union mit Hilfe ihres Konzepts geschafft, ihr Profil in Nordeuropa zu stärken, wo sie veritable strategische Interessen verfolgt.56 Auf Grund des innovativen Charakters der ND, die in 52
Vgl. European Commission (2001), S. 31–35. Vgl. European Commission (1999), S. 25 f.; European Commission (2001), S. 42–44. 54 Aalto/Dalby/Harle, S. 12. 55 Haukkala (2001), S. 10. 56 Vgl. Laitinen, S. 21. 53
I. Erwartungshaltungen der Europäischen Union
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keine traditionelle Politikkategorie passen will,57 ist es schwer, ihren realen Wirkungsgrad zu messen. Anerkennenswert ist in jedweder Hinsicht, dass die ND-Strategie einen multisektoralen Ansatz verfolgt, der verschiedene Aktionseinheiten auf staatlicher, substaatlicher und zivilgesellschaftlicher Ebene integrieren will. Die ND trägt damit einer stetig wachsenden Dynamik in ihrem Zielgebiet Rechnung, die vielfältige interregionale und interorganisatorische Verknüpfungen generiert. Eine kritische Überprüfung verdient in dem Zusammenhang die operative Vorgehensweise der Nördlichen Dimension. Hier plädiert Nicola Catellani für einen geografisch orientierten Ansatz, der räumliche Disparitäten bei der Ausarbeitung kommender Aktionspläne berücksichtigen müsse. Begründet durch strukturelle Unterschiede, können die für jeden Sektor formulierten Zielvorstellungen im Gesamtterritorium nicht gleichmäßig realisiert werden. Konsequenterweise müssten die Stärken und Schwächen kleinerer Subregionen identifiziert werden, um für diese passgenaue Entwicklungsvorschläge zu unterbreiten.58 Ein weiterer hervorzuhebender Aspekt der ND zielt auf die bewusste Überschreitung territorialer Grenzen sowohl innerhalb der Union als auch darüber hinaus. Grenzübergreifende Phänomene wie IOK und Umweltverschmutzung außerhalb der EU-Grenzen müssen an ihren Ursprungsorten bekämpft werden, bevor sie sich ausdehnen können. Weil die EU aus Sicherheitsüberlegungen die Einschleppung solcher Gefahren vermeiden will, versucht sie, ihr Verständnis von Stabilität, Demokratie und nachhaltiger Entwicklung zu exportieren. Daher kann die ND als alternativer Sicherheitsansatz interpretiert werden.59 Mittels Eigenverantwortung, transnationaler und multilateraler Kooperation sowie partnerschaftlicher Beziehungen sollen angrenzende Regionen sukzessive mit EU-Standards vertraut gemacht werden. Besonders bedeutsam ist dieses Ansinnen gegenüber Russland. Von Moskaus Partizipation an der Nördlichen Dimension wiederum ist der Erfolg dieser EU-Regionalpolitik nicht unwesentlich abhängig.60 Diesbezüglich sind zuvörderst Estland, Lettland und Finnland in die Pflicht zu nehmen, da sie die längsten Grenzen zur Russischen Föderation besitzen. Für die baltischen Länder gilt allerdings, dass sie ihre Kooperationshemmungen zu überwinden haben, wobei sie durchaus von den Skandinaviern lernen können. Genauso ist von russischer Seite die Bereitschaft einzufordern, die angrenzenden EU-Mitglieder als gleichwertige Partner zu akzeptieren. Weiterhin benötigen die Regionen und Lokalregierungen in Russland dringend einen Kompetenzzuwachs, da sie ohne Zustimmung der Zentral57 58 59 60
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Catellani (2001), S. 71. ebd., S. 72. Catellani (2000), S. 8. Stålvant (2001), S. 21.
116 E. Europäische Integration und regionale Verflechtung in der Ostseeregion
regierung im grenzüberschreitenden Bereich nicht ungehindert agieren können. Für die unter staatlicher Gängelung leidende russische Zivilgesellschaft als Adressat von Kooperationsprojekten gilt dies ebenso. Welche Implikationen letztlich die estnische Regierung mit kooperativen Anstrengungen in der Ostseeregion verbindet, wird nachstehend erläutert.
II. Antriebskräfte der estnischen Regierung zur regionalen Kooperation 1. Politische und sicherheitsrelevante Überlegungen Aus Sicht der baltischen Staaten verbanden sich mit der Nördlichen Dimension vielversprechende Entwicklungschancen. Ursächlich dafür sind diverse EU-Programme, die mehr und mehr eine kooperationsfördernde Komponente erhalten haben. Stellvertretend sei auf die Beispiele BSR INTERREG III B und PHARE-CBC verwiesen. Frühzeitig wurde die Aufmerksamkeit der Union auf die gesamte Region und speziell auf die Situation der Beitrittsländer gelenkt. Im Zuge ihres Beitrittsprozesses konnten Tallinn, Riga und Vilnius somit ihren Interessen in Brüssel Gehör verschaffen. Infolge der voranschreitenden Institutionalisierung der Ostseekooperation durch Foren wie den Rat der Ostseestaaten konnten Esten, Letten und Litauer ihre Beziehungen sowohl untereinander als auch zur EU festigen.61 Dadurch eröffnete sich für jene drei Ostseerepubliken ein verändertes Rollenverständnis, was im Zuge der EU-Osterweiterung zusätzliche Nuancen erhielt: Bei einer erfolgreichen Anwendung der ND werden diese Staaten die neuen Vorposten der EU in Sachen Demokratie und Wachstum sein. Somit sind sie ein zentraler Baustein in der EU-Außenpolitik gegenüber Russland und anderen GUS-Mitgliedern.62 Mit Hilfe grenzüberschreitender Arbeit können sie gemeinsame Werte einem größeren Adressatenkreis zukommen lassen und damit ihr weiteres geopolitisches Umfeld stabilisieren. Anfänglich schienen jedoch Skepsis und Bedenken bei der Diskussion um die ND zu überwiegen. Die estnische Regierung betrachtete die finnischen Vorstöße zur Koordinierung der territorialen Entwicklung des Ostseeraums unter dem Dach der ND zurückhaltend.63 Zwei Begründungen lassen sich dafür heranziehen: Zum einen ist das estnisch-finnische Verhältnis nicht nur durch Partnerschaft gekennzeichnet, sondern auch durch Konkurrenz insbesondere in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Ausdruck dessen 61 62 63
Vgl. Forsberg, S. 94; Catellani (2000), S. 15. Zit. nach Ojanen, S. 231. Vgl. Aalto/Dalby/Harle, S. 12.
II. Antriebskräfte zur regionalen Kooperation
117
sind beispielsweise abweichende Steuersysteme und Lohnniveaus, die sich im Kampf um ausländische Investitionen positiv oder negativ für das jeweilige Land auswirken können. Zum anderen beinhaltet die Nördliche Dimension eine aktive Haltung Russlands. Angesichts der als schwierig zu charakterisierenden Beziehung zwischen Moskau und Tallinn war die ND-Politik kritikanfällig. Hier musste die Regierung Estlands beweisen, dass sie bilaterale Verstimmungen nicht zum Anlass für eine konfrontative Einstellung gegenüber multilateral angelegten Kooperationsbestrebungen nahm. In dieser Hinsicht kann die Projektorientierung der ND nur förderlich sein. Auf kleiner regionaler Ebene lassen sich Vorurteile und Missverständnisse am ehesten angehen, als es im Kontext der hohen Politik möglich scheint. Langfristig bieten die Nördliche Dimension und die weiterführende Nachbarschaftspolitik der EU eine günstige Basis für das estnisch-russische Verhältnis, wovon beide Seiten profitieren können. Prinzipiell betrachtet die Regierung Estlands die Ostseekooperation sowie die innerhalb der Region beobachtbare Integration als positiv. Im Vordergrund steht für Tallinn eine stabile politische wie wirtschaftliche Entwicklung der Ostseeregion. Nach Auffassung des langjährigen Außenministers Toomas Hendrik Ilves hat allein die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft unter den dortigen Kandidatenländern für umfassende Reformen gesorgt, die dem gesamten Raum zugute kamen. Zusätzlich zur Reformierung der Transformationsstaaten förderte der Beitrittsprozess die regionale Kooperation, wobei die Anziehungskraft finanzieller Anreize nicht unerwähnt bleibt.64 Beide Ergebnisse wiederum sind dem Leitmotiv estnischer Außenpolitik – Sicherheit – zuträglich, weshalb sicherheitspolitische Überlegungen als Antriebskraft für die estnische Regierung hinsichtlich regionaler Zusammenarbeit zu begreifen sind. Die Grundlage für Sicherheit bildet nicht nur Estlands innenpolitische Konstitution. Die Verankerung des Landes in ein sicheres geopolitisches Umfeld, sprich die BSR, ist genauso ausschlaggebend.65 Kooperationsmöglichkeiten, wie sie die Annäherung an EU und NATO dargeboten haben, leisteten diesbezüglich einen unerlässlichen Beitrag.66 Den Schwerpunkt wollte Tallinn nicht allein auf die intrabaltische Zusammenarbeit legen. Gleichwohl bleibt letzteres für die estnische Regierung ein wichtiges Standbein ihrer Regionalpolitik im Ostseeraum. Handlungsfelder sind dabei in erster Linie die verteidigungspolitische, die infrastrukturelle und die kommunikationstechnologische Zusammenarbeit sowie der Umweltschutz.67 Geradezu natürlich hatte sich das Kooperationsspektrum 64 65 66
Vgl. Ilves (1998c); Ilves (1999a); EMFA (2004e), S. 18. Vgl. EMFA (2001e), S. 5. Vgl. Ilves (1999c).
118 E. Europäische Integration und regionale Verflechtung in der Ostseeregion
durch die Beitrittsabsichten hinsichtlich EU und NATO erweitert. Deshalb wurde die gesamte Ostseeregion zum Aktionsfeld (vor allem CBSS und NB8) kooperativer Politik für Estland. Innerhalb dieses erweiterten Spielraums ist der Schutz estnischer Interessen bestimmend.68 Dies bestätigt die These von Ramûnas Vilpišauskas, wonach „governments act as utility maximisers, and are willing to cooperate when (regional) cooperation is likely to promote the chances of achieving their objectives.“69 Im Grunde ist eine solche Haltung ohne weiteres nachvollziehbar. Estland als kleines, ressourcenarmes Land besitzt von vornherein eine geringe Verhandlungsmasse. Am leichtesten lassen sich Ziele mit der Unterstützung anderer realisieren, die ähnlich gelagerte Interessen in bestimmten Sachgebieten unterhalten. Folglich bräuchte die estnische Regierung sich nicht auf regionale Kooperationspartner beschränken, sondern könnte sie gemäß ihren Prioritäten selektieren. Nach dieser Lesart bliebe Tallinn eigentlich territorial ungebunden. Trotzdem ist der Handlungsrahmen eindeutig vorgegeben, zumindest bis auf weiteres. Das Gros der politischen und wirtschaftlichen Partner und Netzwerke befindet sich in der Ostseeregion. Daher sollte Estlands Führung an einer weiteren institutionellen Festigung der BSR mitarbeiten. Auf diese Weise wird die estnische Regierung selbst zu einer verlässlichen Instanz für andere Staaten in der Region. Hier gilt es das Profil noch stärker zu schärfen, als es bislang der Fall gewesen ist. Erste Akzente haben die Esten während ihrer zweiten CBSS-Präsidentschaft (2003 bis 2004) gesetzt. Ihr Augenmerk richteten sie in dieser Funktion insbesondere auf den Ausbau der Informationstechnologien in der Region, die Kooperation im Bereich der zivilen Sicherheit sowie die Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen.70 2. Ökonomische Implikationen Der Aspekt der Sicherheit besitzt neben seiner politischen auch eine wirtschaftliche Dimension, die sich in der regionalen Kooperation widerspiegelt. Resultierend aus der Einbindung in EU und NATO hat Estland evidente Sicherheitsgarantien erhalten. Folglich benötigt die estnische Regierung weniger Kraft, um eine vergleichbare Gewähr außerhalb der Bündnisse zu erreichen. Nunmehr kann sie sich sozialpolitischen Fragen im Land widmen, die während der Transformation nicht zufrieden stellend angegangen werden konnten. Ziel ist es, den Lebensstandard erheblich zu steigern, um 67 68 69 70
Vgl. EMFA (2004e), S. 20. Vgl. ebd., S. 19. Vilpišauskas, S. 170. Vgl. EMFA (2004k).
II. Antriebskräfte zur regionalen Kooperation
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mit den Entwicklungen in der Region Schritt halten zu können.71 Kooperation mit den Industriestaaten wird nachgerade zur Verpflichtung. Umgekehrt kann Estland dank der EU- und NATO-Mitgliedschaft zunehmend aus der Nehmerhaltung heraustreten. Durch den erworbenen Status eines westlich orientierten und integrierten Landes konnte das Land seine Risikoeinstufung (risk rating) entscheidend verbessern.72 Verbunden mit der liberalen Wirtschaftspolitik, hat Estland somit für ein freundliches Investitionsklima sorgen und regionale Wirtschaftsverflechtungen vertiefen können. Dem Ostseeraum attestierten estnische Außenminister wiederholt ein enormes Wachstumspotenzial, da sich im Verlauf der EU-Integration eine friedliche, stabile und ökonomisch prosperierende Region herausbilden konnte.73 Optimistisch gibt die bis Februar 2005 amtierende Außenministerin Ojuland ihre Erwartungshaltung wieder: „Already today we expect the region to not only increase its stability and security but also to make a truly qualitative leap to a new level of economic activity and improving welfare.“74 Zum Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit erhalten in erster Linie die Regionalforen eine Vorreiterrolle, da die Angleichung und Steigerung der Lebensstandards in der Ostseeregion nicht nur Sache jeder einzelnen Regierung ist, sondern aller beteiligter Akteure. Dabei wird die estnische Wirtschaftspolitik, deren liberaler Charakter bei der Errichtung der Marktwirtschaft für den nötigen Erfolg gesorgt hatte, als Schlüssel zur Entwicklung der gesamten Region aufgefasst und nach Kräften beworben.75 Von estnischer Seite wird aber im gleichen Maße die Nördliche Dimension der EU als nützliches Instrument betrachtet. Die in diesem Kontext initiierten und koordinierten Programme tragen wesentlich zur Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit bei. Vornehmlich der Infrastrukturausbau sollte nach Auffassung Tallinns im Rahmen der ND forciert werden.76 Nur dadurch könne optimales ökonomisches Wachstum erzielt werden. Zu den Bereichen, in denen eine Konzentration von Infrastrukturprojekten vorgesehen ist, zählen die Verbesserung der Transportbedingungen, die Entwicklung der Energienetzwerke sowie die Errichtung von Informations- und Kommunikationstechnologien.77 Der finnische Regionalwissenschaftler Jussi S. Jauhiainen findet diesen Maßnahmenkatalog in seiner Analyse estnischer Regionalpolitik wieder, wobei er damit regionalpolitische Aktivitä71 72 73 74 75 76 77
Vgl. Tiido (2003), S. 11. Vgl. ebd. Vgl. Ilves (1998c); Ojuland (2002b). Ojuland (2002b). Vgl. Raik, S. 163. Vgl. Ilves (2000b). Vgl. ebd.
120 E. Europäische Integration und regionale Verflechtung in der Ostseeregion
ten innerhalb Estlands meint.78 Dessen ungeachtet ist eine grenzübergreifende Ausrichtung eindeutig vorhanden. Weitere Themenfelder sind dahingehend der Umweltschutz, die Förderung des Tourismus sowie die Konzeption eines regionalen Marketings. Möglichkeiten zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit hätten jedoch die an Lettland und Russland grenzenden estnischen Regionen zum Zeitpunkt von Jauhiainens Untersuchung (1999) nicht vollends ausgeschöpft. Hingegen seien die westlichen und nordwestlichen Gebiete erfolgreicher bei der Suche nach Kooperationspartnern vorgegangen.79 Gründe dafür sind in der mangelnden perzipierten Attraktivität lettischer und russischer Grenzregionen zu finden. Obwohl die Ostsee Estland von Schweden und Finnland trennt, scheinen dortige Gemeinden mehr bieten zu können. Hinzu kommt die Tatsache, dass der estnische Nordwesten mit der Hauptstadt Tallinn weiter entwickelt ist als der agrarisch geprägte Südosten des Landes.80 Die ohnehin strukturell benachteiligten Gebiete sind oftmals nicht allein in der Lage, den Blick über die Grenze zu wagen, weil ihnen die notwendigen Voraussetzungen fehlen. Seitens der estnischen Regierung besteht demzufolge Handlungsbedarf in Form von Informationskampagnen sowie finanzieller und infrastruktureller Unterstützung. Empfänger solcher Handlungsvorschläge müssten nicht nur öffentliche Einrichtungen, sondern auch zivilgesellschaftliche Akteure sein. Somit ließen sich Vorteile grenzüberschreitender Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Ebenen erarbeiten. Zudem sollte ein vielschichtiger Austausch unter den estnischen Regionen angeregt werden. Wertvolle Erfahrungen – auch von finnischer und schwedischer Seite – müssen direkt weitergegeben werden. Es ist nachvollziehbar, dass innerhalb Estlands ein Wettbewerb um Fördermittel und ausländische Investitionen besteht. Langfristig schadet dieses Verhalten dem ganzen Land. Bereits von Abwanderung gezeichnete Gebiete würden noch weiter in den Abwärtstrend gezogen. An der Stelle ist die Regierung gefragt, für ein Mindestmaß an Nivellierung zu sorgen. Die oft zitierte Gießkannenpolitik kann dabei gewiss keine Lösung versprechen. Eine realistische Lagebeschreibung ist gefragt, die Perspektiven aufzeigen, Stärken und Schwächen benennen muss. Dies wäre der Ausgangspunkt für eine regionalspezifische Förderpolitik. Erste Schritte in diese Richtung wurden bereits unternommen. Beratungen im Bereich der Raumplanung und -entwicklung haben dazu geführt, dass die Zentralregierung besondere Zielregionen ausgewiesen hat, die in ihren Innovationsvorhaben zu stärken sind. Im Speziel78 79 80
Vgl. Jauhiainen (2000), S. 89. Vgl. ebd., S. 90. Vgl. ebd.; zur Übersicht dienen die Tabellen 11 und 12 im Anhang.
II. Antriebskräfte zur regionalen Kooperation
121
len richtet sich diese Maßnahme an periphere und ländliche Gebiete im Südosten Estlands.81 Gleichzeitig ist Tallinn aufgefordert, keine Kooperationshindernisse zu errichten, was primär das estnisch-russische Verhältnis tangiert. Vor Ort spüren die Menschen die Konsequenzen einer Abwehrhaltung; sie sind von Dissonanzen zwischen den Hauptstädten am ehesten betroffen, ohne dass sie Einfluss auf die dortigen Vorgänge nehmen könnten. Aber gerade auf lokaler Ebene lassen sich Vorurteile, Missverständnisse und Stereotype am wirkungsvollsten abbauen, wie im Anschluss aufgezeigt wird. 3. Barrieren grenzübergreifender Zusammenarbeit Natürlich hat die Theorie ein Leichtes, den Abbau von Kooperationshemmnissen zu fordern. In der Realität bleibt dieser Appell oft ohne Echo, weil in diesem Zusammenhang das Ursachengeflecht auf den ersten Blick undurchdringlich erscheint. Die estnische Politologin Piret Ehin hat derartige Barrieren genauer analysiert und ihre Beobachtungen in einem Bericht für das Estonian Foreign Policy Institute zusammengefasst.82 Wichtige Ergebnisse seien abschließend näher beleuchtet. Mit einer Schlüsselerkenntnis wartet Ehin gleich zu Beginn ihrer Dokumentation auf: „Over the past decade, border-creating practices have clearly prevailed over border-crossing practices and the closing of the border has turned the border regions into socio-economic problem areas characterized by high unemployment, low incomes, and significant outmigration.“83
In dieser Situation wird eine verstärkte länderübergreifende Zusammenarbeit als vielversprechend angesehen, um den beschriebenen Negativtrend infolge starrer Grenzregime aufzuhalten. Gleichwohl ist das Niveau grenzüberwindender Kontakte – von Ausnahmen wie dem Peipsi CTC einmal abgesehen – als unterentwickelt anzusehen. Ursächlich dafür sind drei Faktorengruppen politischer, psychologischer und technisch-administrativer Art. Neben den bereits im dritten Kapitel aufgeführten Gründen für das distanzierte Verhältnis zwischen Estland und Russland84 lassen sich weitere politische Einflüsse beobachten, die sich ungünstig auf die interregionale Zusammenarbeit auswirken. Ehin nennt dahingehend den Interessenskon81
Vgl. VASAB (2001a), S. 62. Vgl. Ehin. 83 Ebd., S. 1. 84 Zusammengefasst lauten diese nochmals: der ausstehende Grenzvertrag, der Status der russischsprachigen Minderheit in Estland, die unterschiedlichen Sicherheitsvorstellungen und die bis Mai 2004 seitens Moskaus aufrechterhaltenen Behinderungen im Wirtschaftsverkehr. 82
122 E. Europäische Integration und regionale Verflechtung in der Ostseeregion
flikt zwischen Zentrum und Peripherie. Während letztere in Person von Lokalpolitikern und Bewohnern der betroffenen Regionen eine flexible Handhabung der Grenzen wünschten, strebten die nationalen Regierungen nach einer umfassenden Grenzsicherung, um Bedrohungspotenziale zu minimieren und im Falle Estlands EU-Auflagen zu erfüllen.85 Allerdings bleibt es nicht nur bei divergierenden Perzeptionen der Grenze. Das 1992 eingeführte Visa-Regime86 stellt ein wesentliches Kooperationshindernis für estnische und russische Gemeinden sowie Privatpersonen dar. Wenn zum Beispiel für das Zustandekommen eines binationalen Geschäftsvorhabens eine Vielzahl persönlicher Kontakte und damit Kosten verursachende Visa nötig sind, wäre ein Ablassen vom Ausbau der Geschäftsbeziehungen verständlich. Warum Esten und Russen beiderseits der Grenze bezüglich einer Zusammenarbeit eine abwartende Haltung einnehmen, liegt zudem in der gegenseitigen Wahrnehmung begründet. Besatzungsgeschichte, Sowjetisierung, religiöse und sprachliche Unterschiede haben ihre Spuren im Alltagsleben hinterlassen und zu spezifischen Bildern über die Esten und die Russen geführt. Diese werden eher perpetuiert als kritisch überdacht, wobei die Medien entscheidenden Einfluss ausüben. Ehin und weitere Autoren87 weisen auf abweichende Selbst- und Fremdbeschreibungen hin, denen die Einteilung in „Wir“ und „Sie“ zugrunde liegt. Überraschenderweise trifft dies selbst für die Städte Narva (mehrheitlich von Russen bewohnt) und Ivangorod zu, die einst eine Einheit bildeten und nun zu zwei verschiedenen Staaten gehören.88 Ein letztes Ursachenkonglomerat findet sich in den technisch-administrativen Kooperationsbedingungen. Mangel an finanziellen Ressourcen und technologischem Know-how, hohe Arbeitsbelastung, Unkenntnis der anderen Verwaltungsabläufe, sprachliche und kulturelle Besonderheiten lauten die zusätzlichen Faktoren, die beim Entstehen grenzüberschreitender Zusammenarbeit überaus hinderlich sein können. Des Weiteren ist laut Ehin das Aufstellen einer Kosten-Nutzen-Rechnung auf estnischer Seite verstärkt zu beobachten, was Behörden und NGOs einschließt. Dabei taucht die Frage auf: „Why bother, why take the risk, if there are alternative, perhaps more profitable and more predictable ways to seek solutions to local prob85
Vgl. ebd., S. 3. Zwar bestand bis zum Jahr 2000 die Möglichkeit für bis zu 20.000 Bewohner auf estnischer Seite, Spezial-Visa zu erhalten (vor allem Bewohner mit Verwandten auf der gegenüberliegenden Seite und Angehörige der ethnischen Minderheit der Setu), mittels derer die Grenze nahezu mühelos überquert werden konnte. Doch auf Drängen der Europäischen Kommission wurde diese Praxis abgeändert. Seither ist die Anzahl der Mehrfacheinreise-Visa auf jährlich 4.000 begrenzt. Vgl. ebd., S. 5. 87 Vgl. Berg/Oras; Berg, S. 78–98. 88 Vgl. Ehin, S. 8 f. 86
II. Antriebskräfte zur regionalen Kooperation
123
lems?“89 Verglichen mit westlichen Einrichtungen haben russische Partner schlichtweg weniger zu bieten, weshalb eine Kooperation mit höherem Aufwand verbunden wäre. Doch lohnt sich nicht jede Investition ab einem gewissen Zeitpunkt? Seit Beginn der Transformation haben sich die Esten viel Wissen auf diesem Gebiet aneignen können. Gerade mit Blick auf ihre Wirtschaft haben sie innerhalb der Gruppe der EU-Neuankömmlinge eine Vorreiterrolle eingenommen. Natürlich lassen sich weit verbreitete Stereotype nicht ohne weiteres aus dem Weg räumen. Dazu bedarf es intensiver Aufklärung auf allen Ebenen, selbst wenn sich dies mühsam gestalten sollte. Durch den Abbau von Vorurteilen und Fehlinformationen wird die erste Stufe einer grenzüberschreitenden Kooperation gelegt. Das Peipsi CTC gibt ein hervorragendes Beispiel für eine Politik der kleinen Schritte, mit der durch Ausdauer nach und nach neue Partner auf beiden Seiten gewonnen werden konnten. Profitieren könnten Estlands Entscheidungsträger zudem von Beispielen aus der deutsch-französischen oder deutsch-polnischen Zusammenarbeit.
89
Ebd., S. 10.
F. Schlussbetrachtung und Ausblick I. Reflexion wichtiger Erkenntnisse Im 19. Jahrhundert wurde Europa von einer Welle der Nationenbildung erfasst. Die Schaffung nationaler Epen und Mythen hatte Hochkonjunktur und bildete die Grundlage für ein kollektives Bewusstsein, das dem Einzelnen und der Gesellschaft Orientierung und Identität verleihen sollte. Teil dieses komplexen Prozesses war die Deklaration von Nationalstaaten. Doch in vielen Fällen wurden jene Bestrebungen von den Autoritäten nicht geduldet, da sie etablierte Ordnungen infrage stellten. Das nationale Erwachen, wie es metaphorisch heißt, bedurfte mehrerer Faktoren, um schließlich in stabile politische Formen überzugehen. Leidvoll erfahren mussten die Esten diese Erkenntnis. Auch vor ihnen, die seit dem 12. Jahrhundert fremdbestimmt waren, machten die nationalen Bewegungen keinen Halt. Allerdings dauerte es noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, bis die estnische Nation ihr Recht auf Selbstbestimmung endgültig einlösen konnte. Der erste Versuch einer estnischen Republik von 1918 scheiterte an den widrigen weltpolitischen Bedingungen, von denen das nordosteuropäische Land 1939/1940 erfasst wurde. Im Zuge des Zweiten Weltkrieges wurde Estland abwechselnd zum Aufmarschgebiet sowjetischer und deutscher Truppen. Am Ende stand gar die vollständige, aber völkerrechtswidrige Annexion des Landes durch die Sowjetunion auf Basis des Molotow-Ribbentrop-Paktes. Bis in die Gegenwart sind in Estland die damaligen Geschehnisse wahrnehmbar. Sowjetisierung und Russifizierung haben im Land Spuren hinterlassen und gesellschaftliche Spannungen zwischen estnischer und russischsprachiger Bevölkerung geschürt. Geschichte und Vergangenheit werden verklärt, umgedeutet und instrumentalisiert; von einer sachlichen Bewältigung sind alle Parteien noch weit entfernt. Angesichts des 60. Jahrestages des Kriegsendes wurden Ressentiments abermals in Erinnerung gerufen und führten auf hoher politischer Ebene zu bilateralen Verstimmungen zwischen Moskau und Tallinn. Der Sieg über den Nationalsozialismus für die einen bedeutete für die anderen die Fortführung eines unrechtmäßigen totalitären Regimes, das erst im Sommer 1991 überwunden werden konnte. Estland wurde in jenem Jahr aufs Neue von einer Welle erfasst, die der Demokratisierung Mittel- und Osteuropas, deren Völker sich aus den Zwängen des sozialistischen Ostblocks befreiten.
I. Reflexion wichtiger Erkenntnisse
125
Damit stand das wieder unabhängige Estland vor der Aufgabe, eine dreifache Transformation zu bewältigen: Erstens musste die einstige Sowjetrepublik von der Einparteiherrschaft der Kommunisten in einen demokratischen Pluralismus überführt werden. Zweitens war die Abkehr von der zentralen Planwirtschaft hin zur Marktwirtschaft zwingend. Und drittens ergab sich die Notwendigkeit, die omnipräsente Entscheidungskontrolle Moskaus durch die Formulierung eigener Interessen zu ersetzen, die sich gleichwohl im Einklang mit demokratischen Prinzipien und dem nachbarschaftlichen Umfeld zu bewegen hatten. Dass die estnische Führung diese Agenda relativ schnell auf den Weg brachte, verdankt sie dem in der Gesellschaft weit verbreiteten Wunsch nach Neubeginn, geleitet vom Motto einer Rückkehr nach Europa – selbst wenn bei diesem Vorhaben hohe soziale Kosten unvermeidbar waren. Diesen Konsens trugen bislang alle Regierungen mit und übersetzten ihn in politische Programme. In wirtschaftspolitischer Hinsicht wurde die estnische Volksökonomie einer Radikalkur unterzogen. Ausgehend von der Devise, wonach nur eine völlige wirtschaftliche Öffnung des Landes den wirtschaftlichen Aufschwung herbeiführen würde, kam es in der frühen Transformationsphase zur Liberalisierung der Preise, zur Einführung der Estnischen Krone und zur Privatisierung staatlicher Betriebe. Zusätzliche Eckpfeiler der Wirtschaftsreformen sind in der strengen Haushaltsdisziplin und im freizügigen Außenhandelsregime zu finden. Dank ausländischer Direktinvestitionen insbesondere aus den nordischen Ländern Finnland und Schweden stabilisierte sich die estnische Wirtschaft Mitte der 1990er Jahre und präsentiert sich seitdem mit hohen Wachstumsraten. Estland galt infolgedessen bald als „Tiger im Baltikum“.1 Bezüglich des Außenhandels vollzog sich eine Kehrtwende weg vom Warenaustausch mit den einstigen Sowjetrepubliken, vornehmlich Russland, hin zu den westeuropäischen Märkten, wo die EU-Staaten zu Estlands Haupthandelspartnern avancierten. Diese Umorientierung ist zugleich Ausdruck der von Tallinn angestrebten Westintegration, die wirtschaftliche Prosperität und gesellschaftlichen Wohlstand symbolisieren sowie sicherheitspolitische Vorteile verschaffen sollte. Von höchster Priorität waren diesbezüglich die Mitgliedschaften in der Europäischen Union und im NATO-Bündnis, wobei die estnische Außenpolitik diese Ziele mit beharrlicher Kontinuität verfolgte. Am 1. Mai 2004 beziehungsweise am 29. März 2004 erfolgte die Aufnahme in beide Organisationen. Inwiefern Estland als Kleinstaat in EU und NATO eine aktive Rolle spielen wird oder ob die Mitgliedschaften eher Anlass zur Passivität geben, wird erst die Zukunft zeigen. Richtig ist in jedem Fall, dass sich die estnische Führung in erster Linie auf den Beitritts1
Maier, S. 17.
126
F. Schlussbetrachtung und Ausblick
akt an sich konzentrierte, ohne konkrete Handlungsmaxime für die Zeit danach zu formulieren. Tallinn ist gleichwohl gewillt, eigene Interessen im supranationalen respektive intergouvernementalen Institutionengefüge nicht aus den Augen zu verlieren. Da die uneingeschränkte Souveränität erst 1991 wiedererlangt werden konnte, wird sie von den Esten als wertvolles Gut angesehen, dessen schrittweise Einschränkung wohl überlegt sein will und Teil eines Lernprozesses ist. Gleichzeitig muss die estnische Regierung anerkennen, dass Konzepte wie staatliche Unabhängigkeit und Eigenständigkeit nicht mehr mit den gegenwärtigen Konditionen einer globalisierten Welt korrespondieren. Vielmehr hat sich ein vielschichtiges und interdependentes Netzwerk in den internationalen Beziehungen herausgebildet, in dem neben den staatlichen auch transnationale und nicht-staatliche Akteure handeln. Kennzeichen dessen ist die stetig steigende Zahl internationaler Organisationen (inklusive NGOs), die gemeinsam für ihre Mitglieder letztendlich ein System kollektiver Absicherung anbieten wollen. Dieser Gedanke spiegelt sich in den außenpolitischen Säulen Estlands wider, sollten doch EU- und NATO-Beitritt einer gesteigerten Sicherheit des Landes dienlich sein. Das Sicherheitsempfinden der Esten ist dabei durch die Nähe zum russischen Nachbarn wesentlich beeinflusst. Als kleine Nation sehen sie sich einer Regionalmacht gegenüber, zu der historisch bedingt ein angespanntes Verhältnis besteht. Unterschiedliche Faktoren führten zu einer Bedrohungswahrnehmung, die nur mit Hilfe einer festen Einbindung Estlands in europäische und transatlantische Sicherheitsstrukturen entkräftet werden konnte und gleichzeitig internationalisiert werden sollte. Eine Ursache für dieses Sicherheitsbedürfnis liegt in den divergierenden Geschichtsauffassungen von Esten und Russen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des sowjetischen Besatzungsregimes. Offenbar wurde dieser Gegensatz in der Anerkennung des Friedens von Tartu aus dem Jahre 1920, der die Grenze zwischen der ersten Republik Estland und Russland festgelegt hatte. Nach der wiedererlangten Unabhängigkeit wurde die Einführung eines Grenzregimes notwendig, wobei Tallinn sich in den Verhandlungen an den Grundsatz der historisch-politischen Kontinuität hielt, was auf keine Akzeptanz in Moskau stieß. Selbst nachdem die estnische Regierung alle territorialen Ansprüche fallen ließ, kam die Ratifikation des Grenzvertrages durch die russische Duma bislang nicht zustande. Ein weiterer Grund für das unterkühlte Verhältnis beider Länder ist Moskaus Rhetorik vom „Nahen Ausland“, die sich zwar primär auf die GUSStaaten bezieht, jedoch unter Umständen ebenso für die baltischen Länder gelten könnte. Der in vielen Fällen ungeklärte rechtliche Status der russischsprachigen Minderheit entspricht keineswegs den Interessen Russlands, dem an einer schnellen Übertragung der estnischen oder russischen Staats-
I. Reflexion wichtiger Erkenntnisse
127
bürgerschaft gelegen ist. Der estnische Staat und seine multiethnische Gesellschaft haben in diesem Zusammenhang ihre Integrationsanstrengungen zu intensivieren. Zu hoffen bleibt, dass beide Länder schrittweise ein normalisiertes nachbarschaftliches Verhältnis zueinander aufbauen, in dem die oftmals konfrontative oder desinteressierte Haltung durch Austausch und Zusammenarbeit abgelöst wird. Mit seiner Politik des positiven Engagements ist Tallinn auf einem guten Weg dorthin. Dem gegenüber gestalteten sich die Beziehungen zu den baltischen Staaten Lettland und Litauen von Anbeginn konstruktiver. Alle drei Ostseerepubliken teilten das Schicksal der Okkupation durch die UdSSR und sahen sich im Kampf um die Wiederherstellung ihrer Unabhängigkeit vereint. Obwohl sie sich nach der Verwirklichung dieses Ziels vorwiegend auf die Umsetzung ihrer jeweiligen nationalen Interessen konzentrierten, ließen Esten, Letten und Litauer Raum für eine trilaterale Politik, angefangen mit der Schaffung einer baltischen Freihandelszone bis hin zum Aufbau eines baltischen Kontingents für Friedenseinsätze (BALTBAT). Auf dem Gebiet der Sicherheitskooperation ist die intrabaltische Zusammenarbeit dann auch am weitesten vorangeschritten, weil die Bedrohungsperzeptionen der Balten im Wesentlichen kongruent verlaufen. Insgesamt jedoch waren die von außen an die baltischen Länder herangetragenen Erwartungen größer, als dass von innen heraus tragfähige Strukturen der Kooperation entstanden wären. Zwar kam es im Laufe der Zeit zur Bildung verschiedener Foren der trilateralen Regierungszusammenarbeit, etwa in Form der Baltischen Versammlung oder des Baltischen Ministerrats; doch sind diese als institutionalisierte Diskussionsrunden zu verstehen, da ihnen abgesehen von Konsultativfunktionen keine Implementierungsmechanismen zur Verfügung stehen. Somit basiert die intrabaltische Kooperation auf sporadischem Pragmatismus, dem es an einer visionären und zukunftsfähigen Basis fehlt, ohne die jedoch das Baltikum als Teilmenge der Ostseeregion keine tiefer gehende Integration erfahren wird. Mitverantwortlich für diese skeptische Einschätzung sind neben der Strategie der estnischen Führung, die Westintegration entsprechend nationaler Interessen und Fähigkeiten zu bewältigen, ebenso mangelnde Erfahrungen, Expertise und Ressourcen in den baltischen Kleinstaaten sowie die durch den EU-Beitrittsprozess verursachte Wettbewerbssituation zwischen den Kandidatenländern. Estland, Lettland und Litauen gehörten ursprünglich getrennten Gruppen an, mit denen Beitrittsgespräche geführt werden sollten. Estland konnte dank seiner radikalen Reformen einen Entwicklungsvorsprung vorweisen und wollte daher nicht auf die anderen baltischen Staaten warten, weil es dadurch die zügige Realisierung der außenpolitischen Zielvorstellungen gefährdet sah. Darunter litt die Zusammenarbeit zwischen den
128
F. Schlussbetrachtung und Ausblick
Balten. Indem die estnische Regierung nach leistungsfähigeren Partnern Ausschau hielt, erfuhr die intrabaltische Kooperation einen Dämpfer. Im Gegensatz zu Lettland und Litauen bildeten Finnland und Schweden die erste Wahl für Estland. Beide Länder übernahmen eine Art Anwaltschaft in Bezug auf das estnische EU-Beitrittsgesuch, während sie gleichzeitig abwartend auf den Wunsch Tallinns nach einer NATO-Mitgliedschaft reagierten. Dessen ungeachtet entwickelten sich im zurückliegenden Jahrzehnt vielfältige Formen der Zusammenarbeit zwischen Estland und seinen nordischen Nachbarn, die zudem von kulturellen und geschichtlichen Bindungen der Länder profitierten. Die Esten nutzten die räumliche Nähe zu Finnen und Schweden unter anderem deshalb für eine Intensivierung der Beziehungen aus, weil sie sich mehr dem nordischen und weniger dem baltischen Kulturraum zugehörig fühlten. Hinzu kommt das positive Image, das sich mit dem Label „nordisch“ verbindet. Mit seiner liberalen Wirtschaftspolitik ermöglichte Tallinn ausländischen Investoren die Mitgestaltung der ökonomischen Erneuerung. Diese Gelegenheit ergriffen finnische und schwedische Unternehmen im besonderen Maße, weshalb sie zur größten Investorengruppe in Estland zählen. Neben der wirtschaftlichen Zusammenarbeit existieren weitere Kooperationsprojekte auf interkommunaler Ebene. Estnische und schwedische Gemeinden kennen eine lange Tradition in Sachen Partnerschaften, die selbst während der Sowjetzeit zustande kommen konnten. Weit gediehen ist ebenso die estnisch-finnische Kooperation. Beispielsweise haben die beiden Hauptstädte 1999 die EUREGIO Helsinki-Tallinn gegründet, die ihre grenzübergreifende Arbeit auf die Steigerung des Bekanntheitsgrades dieser Region sowie auf den Austausch in den Bereichen Bildung, Wirtschaft und Umwelt richtet. Mit der Unterstützung Estlands, aber auch Lettlands und Litauens, auf dem Weg zur Aufnahme in die EU bedienten Helsinki und Stockholm gleichzeitig eigene Interessen. Zum einen bot sich ihnen die Chance zur wirtschaftlichen Expansion im Ostseeraum. Zum anderen konnten sie ihre politische Rolle festigen und profilieren sowie zu regionaler Stabilität und Sicherheit beitragen. Als die zwei nordischen Länder 1995 der EU beitraten, haben sie diesen Vorstellungen auf die Brüsseler Bühne verholfen. In der Folge sah sich die Union dazu veranlasst, sich intensiver mit der Ostseeregion auseinander zu setzen. Einerseits war die Union bereits durch ihre Mitglieder Dänemark und Deutschland in der Region präsent. Hinzu kam die aktive Teilnahme der Europäischen Kommission am 1992 gegründeten Rat der Ostseestaaten. Andererseits fehlte es der EU an einer Gesamtstrategie, wie sie der zu erwartenden Entwicklung der BSR zum EU-Binnenraum begegnen würde.
II. Perspektiven der Ostseekooperation
129
Daher griff die Europäische Kommission 1997 die Initiative des damaligen finnischen Premiers Paavo Lipponen zu einer Nördlichen Dimension auf. Zwei Jahre später folgte ein erster Aktionsplan, mit dessen Hilfe die bereits bestehenden Förderinstrumente in der Ostseeregion wie INTERREG oder PHARE in ein kohärentes Entwicklungskonzept eingebunden werden sollten, das zudem die Einbeziehung Russlands, speziell der zur Ostsee exponierten Gebiete, vorsah. Im Vordergrund steht in diesem Kontext der Ausbau wirtschaftlicher Kapazitäten der Region in Einklang mit den naturräumlichen Gegebenheiten. Die Sektoren Energie, Technik und Verkehr werden mit besonderer Aufmerksamkeit gefördert. Eine weitere Absicht der ND stellt die Unterstützung grenzüberschreitender Zusammenarbeit zwischen den mitwirkenden staatlichen und substaatlichen Stellen dar. Dabei kann auf bereits operierende Kooperationsnetzwerke wie VASAB, Baltic 21 und CBSS zurückgegriffen werden. Ein Bedarf an neuen Institutionen besteht auf Grund der hohen Akteursdichte nicht, da dies zur Ineffizienz und Unüberschaubarkeit der Initiativen führen würde. Mittlerweile befindet sich der zweite Aktionsplan für den Zeitraum 2003 bis 2006 in der Ausführung. Inwieweit die ND und damit verknüpfte Kooperationsvorhaben zur Stärkung der Ostseeregion beitragen werden, ist eine Frage kommender Untersuchungen. Generell erwies sich die EU als Katalysator interregionaler Zusammenarbeit im Ostseeraum. Sie gab durch die Ausarbeitung einer Beitrittsstrategie und der dazugehörigen Instrumente einen Rahmen vor, in dem sowohl die Kandidatenländer als auch die Mitgliedstaaten kooperativ handeln konnten. Damit wollte die EU zum einen die durch den Aufnahmeprozess entstandene Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen. Zum anderen hat sie ein grundlegendes Interesse an der Stärkung der Eigeninitiative im Sinne des Subsidiaritätsprinzips. Die von der Ostseeregion ausgehenden Kooperationsvorhaben unterliegen demnach einem wechselseitigen Mechanismus, sodass die EU gleichzeitig als interner und externer Akteur Impulse zur Zusammenarbeit setzen kann, deren inhaltliche und programmatische Ausgestaltung Angelegenheit staatlicher, regionaler und lokaler Akteure ist.
II. Perspektiven der Ostseekooperation Gremien wie der Ostseerat, Netzwerke wie VASAB 2010 und Baltic 21 oder eine Strategie wie die Nördliche Dimension sowie die von ihnen ausgehenden Projekte weisen eindeutig auf die wachsende Institutionalisierung der Ostseekooperation hin. Gleichzeitig befindet sich diese im Prozess der Transnationalisierung, wonach mehr und mehr nicht-staatliche Akteure das Handeln nationaler Regierungen im Bereich der grenzübergreifenden
130
F. Schlussbetrachtung und Ausblick
Zusammenarbeit komplementieren. Interaktionen dieser Art leisten einen wichtigen Beitrag zur Verankerung kooperativen und grenzenlosen Denkens in der Zivilgesellschaft. Nur im Bewusstsein der Transzendenz staatlich-administrativer Grenzen können Neugier für die andere Seite geweckt und Ideen gemeinsam entwickelt werden. Dies wiederum ist die erste Stufe auf dem Weg zur Herausbildung einer regionalen Identität im Ostseeraum. In der Folge würde die Sensibilität für den Aktionsraum BSR steigen, dessen Probleme und Chancen gemeinsam gelöst beziehungsweise vorangetrieben werden könnten. Geteilte Wertvorstellungen und Entwicklungsvorhaben bedürfen einer größtmöglichen Basis, damit die inhärenten Potenziale tatsächlich ihre Wirkung entfalten und zur Wertsteigerung der Region führen. Noch sind die Unterschiede in den Lebensverhältnissen beachtlich, wobei die Standards von Norden nach Süden und von Westen nach Osten abnehmen. In dieser Hinsicht war der EU-Beitritt der Ostseeanrainer Estland, Lettland, Litauen und Polen ein signifikanter Schritt zur Behebung dieses Gefälles. Die russischen Ostseegebiete haben ohne Zweifel den größten Entwicklungsrückstand zu bewältigen, was durch instabile politische und wirtschaftliche Verhältnisse zusätzlich beeinträchtigt wird. Aus diesem Grund ist die Einbeziehung Russlands in Kooperationsarrangements wie den CBSS, VASAB und die ND von immenser Bedeutung. Moskau sollte im eigenen Interesse alles daran setzen, für einen reibungslosen Ablauf der Zusammenarbeit zu sorgen, denn Regionen wie Kaliningrad, Nowgorod oder Pskov können von der Ostseekooperation am meisten gewinnen. Allerdings sollten die übrigen Anrainer und die Europäische Union nicht zu Bittstellern im Kreml werden. Bei Schaffung konkreter Angebote und Anreize werden die Vorteile eines gegenseitigen Miteinanders schnell für allen Beteiligten offenbar, was im Übrigen auch für die Esten gilt, die auf ein engeres Zusammengehen mit russischen Nachbargemeinden oftmals zurückhaltend reagierten. Gewiss ist die EU zunehmend von Energielieferungen aus Russland abhängig, womit der Kreml ein gewisses Druckmittel besitzt. Davon sind die baltischen Staaten nicht ausgenommen. Gänzlich unabhängig stehen die Russen jedoch ebenfalls nicht da, denn ein Ausbleiben europäischer Investitionen hätte gravierende Folgen für ihr Land. Mit Blick auf die Interessenabgleichung kann Tallinn (oder die baltische Troika) durchaus die Funktion eines Mittlers zwischen Moskau und Brüssel ausüben. Die Esten verfügen über ein ausgeprägtes Wissen im Umgang mit russischen Behörden, Unternehmen und Politikern. Vor dieser Expertenrolle sollten sie sich nicht scheuen und vielmehr die Initiative für den Ausbau der Beziehungen sowohl auf zwischenstaatlicher als auch auf EU-Ebene ergreifen. Ein vorzeigbares Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Arbeit des Peipsi Center
II. Perspektiven der Ostseekooperation
131
for Transboundary Cooperation, welches sich unter anderem der nachhaltigen Entwicklung des von Estland und Russland geteilten Peipsi-Sees verschrieben hat. Die initiierten Projekte auf beiden Seiten der Grenze verhelfen zum Aufbau kooperativer Strukturen im Sinne des bottom-up-Ansatzes, wodurch grenzübergreifendes Denken einen zwischenmenschlichen Anker verliehen bekommt und am Ende langfristiger wirkt als von oben verordnete Maßnahmen. Für die Bewohner in der Region, insbesondere in den Grenzgebieten, werden somit greifbare Kooperationsmuster geschaffen, die als Anschubkraft interregionaler Zusammenarbeit aufzufassen sind. Ein nächster begünstigender Faktor ist die räumliche Nähe potenzieller Kooperationspartner, die aber nur dann vollends ausgeschöpft werden kann, wenn die infrastrukturellen Voraussetzungen (Verkehr, Transport, Kommunikation) erfüllt sind. Diesbezüglich sind anhaltende Investitionen in der BSR geboten. An diesem Punkt setzt die Förderung regionaler Entwicklungszentren an, wie sie von VASAB bereits ausgewiesen wurden. Diese müssten sich auf ihre spezifischen Vorteile konzentrieren und die kleinräumliche Zusammenarbeit unterstützen. Durch die Bündelung von Kräften einerseits und die Aufgabenverteilung andererseits lassen sich sukzessive Wachstumsimpulse und Spillover-Effekte generieren, die der Integration und Kohäsion in der Ostseeregion förderlich sind. Die bereits angesprochene Akteursdichte in der BSR darf jedoch nicht zu Unübersichtlichkeit und Überforderung führen. Hier liegt ein nicht unbedeutendes Defizit der Ostseekooperation. Immer mehr Interessen müssen miteinander abgestimmt werden, was bei gegensätzlichen Auffassungen in bestimmten Sachfeldern einen mühsamen Verhandlungsprozess nach sich ziehen kann. An dieser Stelle muss der Ostseerat seine selbst auferlegte Koordinierungsfunktion stärker betonen, als dies bisher geschehen ist. Mit Sicherheit besteht zwischen den Ostseeanrainern auch eine Wettbewerbssituation um Wirtschaftsstandorte und Investitionen, die der Gesamtentwicklung zugute kommen kann, da Wettbewerb Dynamik, Innovation und Leistungssteigerung begünstigt. Darunter darf allerdings die Kooperation der neun Anrainer und der verschiedenen Regionalforen als Grundlage für Stabilität und Sicherheit in der BSR nicht leiden. Insbesondere Kleinstaaten wie Estland sollten dieser Aufforderung Folge leisten und ihre politischen Kräfte im regionalen Kontext konzertieren. Warum sollte es nicht eine Art estnisch-finnisch-schwedischen Motor mit Blick auf die weiterführende Integration der Ostseeregion geben? Regionale Verflechtung impliziert einen langwierigen Entscheidungsprozess oft ohne konkrete Finalzustände, wie das Paradebeispiel Europäische Union belegt. Daher ist es umso wichtiger, dass auf kleinräumiger Ebene die vorhandenen Gestaltungsmöglichkeiten
132
F. Schlussbetrachtung und Ausblick
konsequent zum Handeln genutzt werden. Mit Nachdruck kann dem abschließenden Zitat des schwedischen Premiers Göran Persson als Folie einer Entwicklungsperspektive für den Ostseeraum zugestimmt werden: „Over the centuries, the Baltic has been the Sea of Communication for the inhabitants in the region close to it. (. . .) But the contacts between the neighbours that existed over thousands of years have been partly frozen for half a century. (. . .) We are emerging from that period of division. We are entering a period of true and renewed co-operation. And why is that? The answer is simple: We share a common heritage, and we share a common future. That is the true significance of the Baltic Sea Co-operation.“2
2
Persson, S. 1 f.
Anhang Chronologie wichtiger Ereignisse der jüngeren estnischen Geschichte 1918 24. Februar
Proklamation der Unabhängigkeit Estlands
1920 02. Februar
Frieden von Tartu zwischen der Republik Estland und der Russischen Sowjetrepublik
1921 22. September
Aufnahme Estlands in den Völkerbund
1934 12. September
„Erklärung zur Einheit und Zusammenarbeit“ zwischen den Republiken Estland, Lettland und Litauen
1939 23. August
Molotow-Ribbentrop-Pakt (auch Hitler-Stalin-Pakt)
August 1940
Einmarsch der Roten Armee, Annexion
August 1941 bis Besetzung Estlands durch die Deutsche Wehrmacht, Estland wird September 1944 zu einem „Generalbezirk“ im „Reichskommissariat Ostland“ (Estland, Lettland, Litauen und Weißrussland); etwa 5.500 Esten werden in Konzentrationslagern ermordet September 1944 Erneuter Einmarsch sowjetischer Truppen, endgültige Sowjetisierung 1944 bis 1953
Stalinistische Repressalien, Partisanenkrieg der so genannten Waldbrüder
1986 bis 1988
Beginn der Freiheitsbewegung durch Umweltproteste und die sich formierende Volksfront; erste Wirtschaftsreformen
1988 16. November
„Deklaration über die Souveränität“ des Obersten Sowjets der ESSR
134
Anhang
1989 23. August
Menschenkette von Tallinn über Riga nach Vilnius (Baltische Kette) zur Erinnerung an die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts
1990 30. März
Unabhängigkeitserklärung der ESSR
1991 12. Januar
Grundlagenvertrag zwischen der ESSR und der RSFSR
19. August
Putschversuch in Moskau
20. August
Erneute Erklärung der wiederhergestellten Unabhängigkeit durch den Obersten Sowjet der ESSR
24. August
Anerkennung der estnischen Unabhängigkeit durch Boris Jelzin im Namen der RSFSR
30. August
Antrag Estlands auf Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen
06. September
Anerkennung der estnischen Unabhängigkeit durch Michail Gorbatschow im Namen der UdSSR
10. September
Aufnahme Estlands in die KSZE
17. September
Vollmitgliedschaft Estlands in den Vereinten Nationen gemeinsam mit Lettland und Litauen
08. November
Gründung der Baltischen Versammlung in Tallinn
1992 20. Juni
Austritt Estlands aus der Rubel-Zone und Einführung der Estnischen Krone
28. Juni
Referendum zum Verfassungsentwurf der konstitutionellen Versammlung, welche eine parlamentarische Staatsform vorsah; angenommen mit 91 Prozent der abgegebenen Stimmen
20. September
erste freien Wahlen zur Staatsversammlung (Riigikogu)
1993 15. Februar
Eröffnung einer OSZE-Mission in Estland zur Überprüfung der Minderheitensituation
14. Mai
Vollmitgliedschaft Estlands im Europarat
1994 04. Februar
Beginn der Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Estland (in Kraft am 01. Januar 1995)
01. April
Inkrafttreten des Freihandelsabkommens zwischen Estland, Lettland und Litauen
Chronologie
135
13. Juni
Einrichtung des Baltischen Ministerrats
31. August
Abzug der letzten russischen Truppen aus Estland
13. November
Resolution der Baltischen Versammlung zur militärischen Zusammenarbeit Estlands, Lettlands und Litauens
1995 12. Juni
Unterzeichnung des Europa-Abkommens durch den estnischen Ministerpräsidenten
28. November
Antrag der estnischen Regierung auf Mitgliedschaft in der EU
1998 01. Februar
Inkrafttreten des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Republik Estland
31. März
Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen
1999 13. November
Aufnahme Estlands in die Welthandelsorganisation
2003 16. April
Unterzeichnung der Beitrittsverträge zwischen der EU und zehn Kandidatenländern, darunter Estland
14. September
Referendum zum EU-Beitritt Estlands (64 Prozent der Stimmberechtigten nahmen daran teil, wovon 66,8 Prozent für und 33,2 Prozent gegen die EU-Mitgliedschaft ihres Landes votierten)
2004 29. März
Aufnahme Estlands in die NATO
01. Mai
Aufnahme Estlands in die Europäische Union
136
Anhang
Tabellen Tabelle 1 Opfer deutscher und sowjetischer Besatzung in Estland (1939–1955)
Bevölkerung • Emigration • Sowjetische Deportationen und Exekutionen • Flucht in die Sowjetunion • Deutsche Deportationen und Exekutionen • ins Deutsche Reich verschickte Zwangsarbeiter • auf deutscher Seite gefallen • Sowjetische Deportationen und Exekutionen • Flucht in den Westen • Rückkehr von Zwangsarbeitern* • Rückkehr aus Sowjetunion und Sowjetarmee • Gebietsverluste • andere Verluste
Zeitraum
Betroffene Bevölkerung (Ab- und Zunahme)
Oktober 1939 November 1939– Mai 1941 1940–41
1.130.000 –20.000 –15.000
1941 1941–44
–30.000 –10.000
1941–44
–15.000
1944–45
–15.000 –30.000
1942–45 1945
–60.000 5.000
1944–45
20.000
1940–45
–70.000 –5.000
Bevölkerung • Sowjetische Deportationen • Opfer des Partisanenkrieges • Rückkehr aus Sowjetunion oder der Sowjetarmee • Einwanderung von Russen, Weißrussen und Ukrainern
Ende 1945 1946–53 1944–53 nach 1945
850.000 –80.000 –15.000 100.000
nach 1945–55
230.000
Bevölkerung
Anfang 1955
1.155.000
* Viele nach Deutschland verschickte und überlebende Zwangsarbeiter kehrten nicht zurück, sondern wanderten in ein Drittland aus. Quelle: Garleff, Michael: Die baltischen Länder. Estland, Lettland, Litauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2001, S. 171.
Tabelle 2: Regierungen der Republik Estland seit 1992 Premierminister
Partei
Beginn – Ende
Regierungsparteien
Mart Laar
Isamaa
21.10.1992– 26.09.1994 Rücktritt des PM
Isamaa (Vaterland) Mõõdukad (Gemäßigte) Eesti Rahvusliku Sõltumatuse (Estnische Nationale Unabhängigkeitspartei) Insgesamt: 51 Sitze von 101
Andres Tarand
Mõõdukad
27.10.1992– 05.03.1995 Neuwahlen
Mõõdukad (Gemäßigte) Isamaa (Vaterland) Eesti Rahvusliku Sõltumatuse Insgesamt: 32 Sitze
Tiit Vähi
Koonderakond
22.10.1995– 17.03.1997 Zerfall der Koalition
Koonderakond (Unionspartei) Maarahvpartei (Partei der Landbevölkerung) Pensionääride Ühing (Partei der Pensionäre) Maaliit (Landunion) Reformierakond (Reformpartei) Insgesamt: 60 Sitze
Mart Siimann
Koonderakond
17.03.1997– 07.03.1999 Neuwahlen
Koonderakond (Unionspartei) Maaliit (Landunion) andere Parteien, wechselnd Insgesamt: 48 Sitze
Mart Laar
Isamaa
07.03.1999– 08.01.2002 Zerfall der Koalition
Isamaa (Vaterlandspartei) Mõõdukad (Gemäßigte) Reformierakond (Reformpartei) Insgesamt: 53 Sitze
Siim Kallas
Reformierakond
18.01.2002– 02.03.2003 Neuwahlen
Reformierakond (Reformpartei) Keskerakond (Zentrumspartei) Insgesamt: 46 Sitze
Juhan Parts
Res Publica
02.03.2003– 24.03.2005 Rücktritt des PM
Res Publica Reformierakond (Reformpartei) Rahvaliit (Volksunion) Insgesamt: 60 Sitze
seit 13.04.2005
Reformierakond (Reformpartei) Keskerakond (Zentrumspartei) Rahvaliit (Volksunion) Insgesamt: 51 Sitze
Andrus Ansip
Die ersten Parlamentswahlen fanden am 20. September 1992 statt. Bis dahin regierte Edgar Savisaar (Volksfront-Koalition Vaba Eesti; April 1990 bis Januar 1992); anschließend wurde Tiit Vähi zum Premierminister ernannt, der eine Übergangsregierung bis September 1992 bildete. Quelle: Lagerspetz, Mikko/Maier, Konrad: Das politische System Estlands, in: Ismayr, Wolfgang (Hrsg.): Die politischen Systeme Osteuropas, 2., akt. und überarb. Aufl., Opladen 2004, S. 83; The Government of the Republic of Estonia: The Government of the Republic of Estonia, http://www.valitsus.ee/?id=1449 (24.11.2005).
138
Anhang Tabelle 3 Außenminister der Republik Estland seit 1991 Amtszeit
Minister/in
seit April 2005
Urmas Paet
Februar 2005–April 2005
Rein Lang
Januar 2002–Februar 2005
Kristiina Ojuland
März 1999–Januar 2002
Toomas Hendrik Ilves
Oktober 1998–März 1999
Raul Mälk
November 1996–Oktober 1998
Toomas Hendrik Ilves
November 1995–November 1996
Siim Kallas
April 1995–November 1995
Riivo Sinijärv
Januar 1994–April 1995
Jüri Luik
Oktober 1992–Januar 1994
Trivimi Velliste
April 1992–Oktober 1992
Jaan Manitski
April 1990–März 1992
Lennart Meri
Quelle: EMFA: Roll of Foreign Ministers, http://www.vm.ee/ eng/kat_135/2970.html (28.11.2005).
Tabellen
139
Tabelle 4 Datenblatt zur estnischen Wirtschaft, 1993–2003 1993
1994
1995
1996
22.820,3
31.349,4
43.060,6
55.895,4
–
–1,6
4,5
4,4
65,5
64,6
61,7
61,2
6,6
7,6
9,7
9,9
1.066
1.734
2.375
2.985
Einnahmen in Millionen EEK
–
–
–
20.332,3
Ausgaben in Millionen EEK
–
–
–
21.154,8
Bilanz (+/–) in Millionen EEK
–
–
–
–822,5
Auslandsschulden in Millionen EEK
–
–
–
–
Exporte in Millionen EEK
–
15.622,9
19.008,9
21.246,9
Importe in Millionen EEK
–
20.100,4
27.425,0
34.666,5
Außenhandelsbilanz in Millionen EEK
–
–4.477,5
–8.416,1 –13.419,6
Bruttoinlandsprodukt (BIP) BIP zum momentanen Geldwert in Millionen EEK Wachstum in % Arbeitsmarkt und Lohn Beschäftigungsrate in% Arbeitslosenrate Durchschnittslöhne und -gehälter in EEK Regierungshaushalt
Außenhandel
(Fortsetzung nächste Seite)
140
Anhang Tabelle 4 (Fortsetzung) Datenblatt zur estnischen Wirtschaft, 1993–2003 1997
1998
1999
2000
68.576,1
78.027,6
81.775,9
92.937,7
10,5
4,4
0,3
7,9
58,5
57,7
55,3
54,7
9,6
9,8
12,2
13,6
3.573
4.125
4.440
4.907
Einnahmen in Millionen EEK
28.901,6
28.138,0
27.829,9
32.786,4
Ausgaben in Millionen EEK
Bruttoinlandsprodukt (BIP BIP zum momentanen Geldwert in Millionen EEK Wachstum in % Arbeitsmarkt und Lohn Beschäftigungsrate in% Arbeitslosenrate Durchschnittslöhne/-gehälter in EEK Regierungshaushalt 27.498,6
28.288,2
31.326,9
33.692,1
Bilanz (+/–) in Millionen EEK
1.403,0
–150,2
–3.497,0
–905,7
Auslandsschulden in Millionen EEK
36.730,5
39.214,4
44.806,0
50.577,8
31.607,4
37.545,0
36.774,3
55.836,8
48.868,9
55.215,4
50.494,7
72.217,1
Außenhandel Exporte in Millionen EEK Importe in Millionen EEK Außenhandelsbilanz in Millionen EEK
–17.261,5 –17.670,4 –13.720,4 –16.380,3
Tabellen
2001
141
2002
2003
2004
Bruttoinlandsprodukt (BIP) BIP zum momentanen Geldwert in Millionen EEK Wachstum in %
104.459,0 116.915,3 127.333,8 141.493,4 6,5
7,2
6,7
7,8
Beschäftigungsrate in %
55,2
55,9
56,7
56,8
Arbeitslosenrate
12,6
10,3
10,0
9,7
5.510
6.144
6.723
7.287
Einnahmen in Millionen EEK
36.665,7 42.786,10
48.412,6
55.123,2
Ausgaben in Millionen EEK
36.332,3 41.634,00
45.346,4
52.799,7
3.066,2
2.323,5
Arbeitsmarkt und Lohn
Durchschnittslöhne/-gehälter in EEK Regierungshaushalt
Bilanz (+/–) in Millionen EEK Auslandsschulden in Millionen EEK
333,4
1.152,10
58.006,8 70.257,40
87.741,5 115.082,8
57.856,5
56.990,6
62.627,2
75.076,3
79.471,7
89.426,7 105.427,2
Außenhandel Exporte in Millionen EEK Importe in Millionen EEK Außenhandelsbilanz in Millionen EEK
74.277,3
–17.219,8 –22.481,0 –26.799,5 –31.149,9
Quelle: Bank of Estonia: Annual Indicators of Estonian Economy, http://www. bankofestonia.info/dynamic/itp2/itp_report_2a.jsp?reference=503&className=EPS TAT2&lang=en (14.12.2005a).
142
Anhang Tabelle 5 Index der veränderten Verbraucherpreise in Estland im Vergleich zum Vorjahr (Inflationsrate), 1992–2004 (in Prozent)
Jahr
jährliche Inflationsrate
Preissteigerung von Waren
davon Lebensmittel
davon gefertigte Güter
Preissteigerung von Dienstleistungen
1992
1.076,0
1.004,0
921,0
1.152,0
1.785,0
1993
89,8
79,0
70,1
91,8
135,7
1994
47,7
31,0
32,0
29,3
82,0
1995
29,0
18,0
16,3
20,8
45,3
1996
23,1
19,6
21,2
17,0
27,2
1997
11,2
8,5
5,4
13,7
14,2
1998
8,2
6,2
6,0
6,5
12,7
1999
3,3
0,3
–2,2
3,5
9,7
2000
4,0
3,3
2,6
4,2
5,4
2001
5,8
4,9
7,1
2,4
7,6
2002
3,6
1,9
2,7
1,1
6,8
2003
1,3
–0,2
–0,6
0,3
4,3
2004
3,0
2,9
3,7
2,2
3,3
Quelle: Statistical Office of Estonia: Consumer Price Index – Change over Previous Year, http://pub.stat.ee/px-web.2001/I_Databas/Economy/24Prices/24Prices. asp (12.03.2005).
23,3 21,6 27,9 2,3 3,3 8,9 17,2
2.760,5 2.550,9 3.303,2 267,3 391,0 1.054,9 2.033,3
%
1993
100,0
17,8 30,5 20,7 8,6 3,7 9,5 22,6
1.894,9 3.248,4 2.202,4 913,4 393,5 1.007,4 2.407,8
11.830,3
100,0
10.635,5
%
5.131,3 4.378,8 6.433,9 313,1 553,5 1.911,1 3.595,1
21.484,8
1994
3.217,5 5.126,2 3.022,5 1.390,1 921,0 1.836,6 3.904,6
16.927,3
1994
23,9 20,4 29,9 1,5 2,6 8,9 16,7
100,0
%
19,0 30,3 17,9 8,2 5,4 10,8 23,1
100,0
%
66,0 18,8 32,6 2,0 1,6 8,5 16,1
100,0
%
54,0 25,1 21,5 7,5 4,7 10,9 17,7
100,0
%
25.137,3 6.593,8 11.322,8 753,2 605,8 3.170,5 5.286,3
38.885,5
1996
12.766,4 6.275,0 4.586,0 2.064,9 1.433,6 2.891,7 4.131,5
25.024,6
1996
* inklusive Russland
19.220,7 5.476,6 9.488,1 577,2 470,2 2.466,7 4.688,5
29.117,5
1995
11.387,5 5.291,6 4.528,4 1.572,7 986,2 2.290,8 3.727,7
21.071,6
1995
64,6 17,0 29,1 1,2 1,0 5,1 8,6
100,0
%
51,0 25,1 18,3 8,3 5,7 11,6 16,5
100,0
%
Quelle: Statistical Office of Estonia: Väliskaubandus. Foreign Trade 2003, Tallinn 2004, S. 14, 20 und 62.
Wechselverhältnis zwischen EEK : EUR = 15,646 : 1
Gesamtimport davon EU GUS* Finnland Lettland Litauen Schweden Russland
Gesamtexport davon EU GUS* Finnland Lettland Litauen Schweden Russland
1993
36.519,8 10.758,0 14.420,4 1.080,8 933,5 5.607,9 8.888,5
61.654,9
1997
19.778,5 10.751,7 6.386,9 3.511,9 2.477,8 5.498,1 7.663,8
40.729,7
1997
40.491,1 9.550,8 15.222,6 1.362,4 1.102,0 6.091,9 7.479,0
67.363,8
1998
25.035,6 9.462,8 8.539,2 4.295,5 2.125,7 7.597,4 6.089,2
45.551,4
1998
60,1 14,2 22,6 2,0 1,6 9,0 11,1
100,0
%
55,0 20,8 18,7 9,4 4,7 16,7 13,4
100,0
%
(Fortsetzung nächste Seite)
59,2 17,4 23,4 1,6 1,4 8,3 13,2
100,0
%
48,6 26,4 15,7 8,6 6,1 13,5 18,8
100,0
%
Tabelle 6 Estlands Im- und Exportbeziehungen, 1993–2003 (in Millionen EEK und Anteile am Gesamtumfang in Prozent)
Tabellen 143
65,3 10,8 25,9 2,4 1,8 10,7 8,0
32.922,7 5.451,3 13.075,6 1.192,8 902,8 5.410,4 4.042,5
%
1999
100,0
72,5 5,9 23,6 8,4 3,4 22,9 3,4
25.387,3 2.052,2 8.250,1 2.932,6 1.200,8 8.033,6 1.185,2
50.438,9
100,0
35.025,0
%
2000
45.195,2 7.898,4 19.808,5 1.856,7 1.184,5 7.113,5 6.123,9
72.214,2
2000
41.234,3 2.129,1 17.434,8 3.790,2 1.511,1 11.050,6 1.278,3
53.900,1
42.424,4 8.242,0 13.549,8 1.681,4 1.950,5 6.918,7 6.097,9
75.079,9
2001
40.182,4 2.923,0 19.588,1 3.983,2 1.733,8 8.117,3 1.578,1
57.857,8
2001
* inklusive Russland
62,6 10,9 27,4 2,6 1,6 9,9 8,5
100,0
%
76,5 4,0 32,3 7,0 2,8 20,5 2,4
100,0
%
56,5 11,0 18,0 2,2 2,6 9,2 8,1
100,0
%
69,5 5,1 33,9 6,9 3,0 14,0 2,7
100,0
%
Quelle: Statistical Office of Estonia: Väliskaubandus. Foreign Trade 2003, Tallinn 2004, S. 16 und 20.
Wechselverhältnis zwischen EEK : EUR = 15,646 : 1
Gesamimport davon EU GUS* Finnland Lettland Litauen Schweden Russland
Gesamtexport davon EU GUS* Finnland Lettland Litauen Schweden Russland
1999
46.011,5 8.271,7 13.608,7 1.883,0 2.644,1 7.577,4 5.870,7
79.471,7
2002
38.740,8 3.058,7 14.111,2 4.216,5 1.987,8 8.737,5 1.901,7
56.990,6
2002
57,9 10,4 17,1 2,4 3,3 9,5 7,4
100,0
%
68,0 5,4 24,8 7,4 3,5 15,3 3,3
100,0
%
48.054,4 13.158,6 14.263,3 2.136,0 3.088,5 7.865,0 7.688,5
89.709,9
2003
42.739,8 3.770,4 16.203,5 4.393,7 2.340,6 9.520,3 2.439,9
62.531,4
2003
Tabelle 6 (Fortsetzung) Estlands Im- und Exportbeziehungen, 1993–2003 (in Millionen EEK und Anteile am Gesamtumfang in Prozent)
53,6 14,7 15,9 2,4 3,4 8,8 8,6
100,0
%
68,3 6,0 25,9 7,0 3,7 15,2 3,9
100,0
%
144 Anhang
Tabellen
145
Tabelle 7 Handelsbilanzen Estlands, 1993–2003 (in Millionen EEK)
Gesamtbilanz EU GUS*
1993
1994
1995
1996
1997
1998
–1.194,8
–4.557,5
–8.045,9
–13.860,9
–20.925,2
–21.812,4
–865,6
–1.913,8
–7.833,2
–12.370,9
–16.741,3
–15.455,5
697,5
747,4
–185,0
–318,8
–6,3
–88,0
Finnland
–1.100,8
–3.411,4
–4.959,7
–6.736,8
–8.033,5
–6.683,4
Lettland
646,1
1.077,0
995,5
1.311,7
2.431,1
2.933,1
Litauen Schweden Russland
Gesamtbilanz
2,5
367,5
516,0
827,8
1.544,3
1.023,7
–47,5
–74,5
–175,9
–278,8
–109,8
1.505,5
2.033,3
3.595,1
4.688,5
5.286,3
8.888,5
7.479,0
1999
2000
2001
2002
2003
–15.413,9
–18.314,1
–17.222,1
–22.481,1
–27.178,5
EU
–7.535,4
–3.960,9
–2.242,0
–7.270,7
–5.314,6
GUS*
–3.399,1
–5.769,3
–5.319,0
–5.213,0
–9.388,2
Finnland
–4.825,5
–2.373,7
6.038,3
502,5
1.940,2
Lettland
1.739,8
1.933,5
2.301,8
2.333,5
2.257,7
Litauen
298,0
326,6
–216,7
–656,3
–747,9
Schweden
2.623,2
3.937,1
1.198,6
1.160,1
1.655,3
Russland
–2.857,3
–4.845,6
–4.519,8
–3.969,0
–5.248,6
* inklusive Russland Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der Tabelle 6: Estlands Im- und Exportbeziehungen, 1993–2003.
146
Anhang
Tabelle 8 Direktinvestitionen von und nach Estland, 1999–2004 (in Tausend Euro) Jahr
2000
2001
2002
2003
2004
166.166,2
168.480,7
140.991,0
365.495,5
237.252,1
DI nach Estland Finnland Frankreich Deutschland Großbritannien
7.433,5
12.832,0
–11.723,0
2.444,5
5.325,9
12.457,7
2.736,4
22.170,0
27.353,7
33.791,3
7.455,1
18.203,5
9.113,0
51.515,2
8.4154,2
Island
–302,7
268,0
–226,0
4.725,1
980,7
Irland
–8.942,8
–1.294,6
499,0
–1.328,4
35.414,3
Italien
4.311,3
2.805,8
4.174,0
5.388,3
–12.208,2
Japan Lettland Liechtenstein Litauen
767,1
580,1
–104,0
205,7
933,3
–388,3
7.884,2
–6.500,0
12.997,4
37.982,0
13.968,6
–808,7
3.944,0
4.552,6
–10.284,4
–892,8
11.313,1
2.690,0
–1.065,2
5.745,1
Luxemburg
804,8
–73,3
–1.119,0
2.552,1
9.757,2
Niederlande
–26.441,5
17.378,0
121.073,3
–31.072,0
–87.092,5
Norwegen
3.304,7
–7.525,4
34.215,0
5.944,3
70.936
Russland
–5.481,0
3.855,3
14.842,0
1.547,0
45006,9
Singapur
957,8
4.834,8
4.787,0
4.115,5
–476,8
169.037,6
146.112,2
109.195,0
285.242,8
220.998,5
Schweiz
6.110,8
–4.001,4
–4.618,0
5.749,7
–1.254,5
USA
9.231,6
101.789,5
–34.982,0
18.207,6
4.077,0
131,4
1.066,5
471,0
–1.000,2
–578,5
403.508,6
590.132,0
256.747,0
707.550,7
741.110,6
21.151,3
12.527,7
50.041,0
114.726,0
96.855,5
424.659,9
602.659,7
306.788,0
822.276,7
837.966,1
Schweden
Ukraine Zwischensumme andere Länder Gesamt
Tabellen
Jahr
147
2000
2001
2002
2003
2004
80,1
–11,2
–85,0
265,0
–1.670,2
DI von Estland Belarus Dänemark
–
–
674,0
–111,7
–2.073,1
8.356,4
–515,9
4.634,0
113,2
–38.060,4
Deutschland
–
–
–94,0
284,2
–1.565,0
Großbritannien
–
–455,8
–209,0
–824,3
741,8
Italien
–
–4.806,6
–
4.425,9
2.058
Lettland
–34.474,4
–50.246,5
–21.090,0
–24.753,0
–109.265,5
Litauen
–4.042,1
–150.316,2
–61.896,0
–81.799,0
–36.970,4
–373,9
25,7
–
–231,1
–443,5
–
–
–
922,6
143,9
Polen
–1.057,7
–4.661,6
–655,0
1.649,0
838,2
Russland
–6.225,2
42,7
–1.175,0
–10.649,5
–17.916,6
Finnland
Niederlande Norwegen
Spanien Schweden USA Ukraine
–71,5
–1.393,5
–
–
–37,4
–200,7
–240,9
–565,0
–1.132,8
–2.000,6
–
–
–
–1.484,5
1.362,4
490,3
–2.524,8
–7.108,0
–10.836,9
–6.803,8
–2.575,1
–
–39.983,0
–12.009,0
–5465,4
Zwischensumme
–40.457,8
–215.104,6
–127.552,0
133.240,0
–217.127,6
andere Zielländer
26.208,3
10.394,3
12.312,0
–2.956,0
–554,8
Gesamt
–66.666,1
–225.498,9
–139.864,0
–130.284,0
–216.572,8
FDI-Netto
357.993,8
377.160,8
166.924,0
666.739,0
621.393,4
Zypern
Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung basierend auf Daten der Bank of Estonia: Direct Investments by Countries, http://www.bankofestonia.info/pub/en/dokumendid/statistika/ tabelid/(14.12.2005b).
148
Anhang Tabelle 9 Bevölkerung Estlands nach Staatsangehörigkeit und Nationalität (Zensus vom 31. März 2000) Staatsangehörigkeit
Anzahl der Personen
Prozent
Estnisch
1.095.743
79,98
Russisch
86.067
6,28
Ukrainisch
2.867
0,21
Weißrussisch
1.438
0,10
Lettisch
1.412
0,10
Litauisch
1.105
0,08
Finnisch
926
0,07
andere Länder Status nicht festgelegt Status unbekannt Gesamt Ethnische Zugehörigkeit
1.193
0,09
170.349
12,43
8.952
0,65
1.370.052
100,00
Anzahl der Personen
Prozent
Estnisch
930.219
67,90
Russisch
351.178
25,63
andere Nationalitäten unbekannte Nationalität Gesamt
80.736
5,89
7.919
0,58
1.370.052
100,00
Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung basierend auf Daten vom Statistical Office of Estonia: Population Census 2000, Tallinn 2000, http://pub.stat.ee/px-web. 2001/dialog/statfileri.asp (19.01. 2005).
Tabellen
149
Tabelle 10: Demografische Daten Estlands Jahr
Gesamtbevölkerung
Lebendgeburten absolut
Verstorbene absolut
Bevölkerungsab-/ -zunahme absolut
1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004
1.567.749 1.554.878 1.511.303 1.476.952 1.448.075 1.425.192 1.405.996 1.393.074 1.379.237 1.372.071 1.366.959 1.361.242 1.356.045 1.351.069
19.413 18.038 15.253 14.176 13.509 13.242 12.577 12.167 12.425 13.067 12.632 13.001 13.036 13.392
19.715 20.126 21.286 22.212 20.828 19.020 18.572 19.445 18.447 18.403 18.516 18.355 18.152 17.685
–302 –2.088 –6.033 –8.036 –7.319 –5.778 –5.995 –7.278 –6.022 –5.336 –5.884 –5.354 –5.116 –3.693
Geburten pro 1.000 EW
Sterbefälle pro 1.000 EW
Bevölkerungswachstum*
12,43 11,77 10,21 9,69 9,40 9,35 8,99 8,78 9,03 9,54 9,26 9,57 9,63 10,37
12,63 13,13 14,25 15,19 14,5 13,44 13,27 14,03 13,41 13,44 13,57 13,51 13,41 13,11
–0,2 –1,36 –4,04 –5,5 –5,1 –4,09 –4,28 –5,25 –4,38 –3,9 –4,31 –3,94 –3,78 –2,74
1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004
* Differenz zwischen Geburten- und Sterberate Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Daten vom Statistical Office of Estonia: Births, Deaths and Natural Increase, http://pub.stat.ee/px-web.2001/I_Databas/ Population/Population.asp (14.12.2005).
150
Anhang Tabelle 11 Durchschnittliches Monatseinkommen in Estland pro Haushaltsmitglied im Verhältnis zum Landesdurchschnitt, 2000–2003
Jahr Durchschnittseinkommen pro Monat und Haushaltsmitglied
2000
2001
2002
2003
2.183 EEK = 100
2.289 EEK = 100
2.500 EEK = 100
2.789 EEK = 100
Abschneiden der Bezirke im Verhältnis zum Landesdurchschnitt Harjumaa
> 100
> 100
> 100
> 100
Hiiumaa
75–100
75–100
75–100
75–100
Ida-Virumaa
< 75
75–100
< 75
< 75
Jõgevamaa
< 75
< 75
< 75
< 75
75–100
75–100
75–100
75–100
Järvamaa Läänemaa
75–100
75–100
75–100
75–100
Lääne-Virumaa
75–100
75–100
75–100
75–100
Põlvamaa
< 75
< 75
< 75
75–100
Pärnumaa
75–100
75–100
75–100
75–100
Raplamaa
75–100
75–100
75–100
75–100
Saaremaa
75–100
75–100
75–100
75–100
Tartumaa
75–100
> 100
75–100
75–100
Valgamaa
< 75
< 75
75–100
75–100
Viljandimaa
75–100
75–100
75–100
75–100
Võrumaa
75–100
75–100
75–100
75–100
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf den Daten vom Statistical Office of Estonia: Average monthly income per household member in Counties in Relation to the Average of Estonia, 2000–2003, http://www.stat.ee/149247 (11.03.2005).
Tabellen
151
Tabelle 12 Arbeitslosenrate in Estland nach Bezirken im Verhältnis zum Landesdurchschnitt, 2000–2003 Jahr
2000
2001
2002
2003
13,6% = 100
12,5% = 100
10,3% = 100
10,0% = 100
Harjumaa
< 100
< 100
< 100
< 100
Hiiumaa
< 100
< 100
100–135
< 100
Ida-Virumaa
> 135
> 135
> 135
> 135
100–135
> 135
> 135
> 135
durchschnittliche Arbeitslosenrate in Estland Abschneiden der Bezirke im Verhältnis zum Landesdurchschnitt
Jõgevamaa Järvamaa
100–135
< 100
< 100
< 100
Läänemaa
100–135
100–135
> 135
100–135
Lääne-Virumaa
100–135
< 100
< 100
< 100
> 135
> 135
> 135
> 135
Põlvamaa Pärnumaa
< 100
< 100
< 100
< 100
Raplamaa
100–135
< 100
< 100
< 100
Saaremaa
< 100
< 100
< 100
< 100
Tartumaa
< 100
< 100
< 100
< 100
Valgamaa
< 100
100–135
< 100
< 100
Viljandimaa
< 100
100–135
100–135
< 100
100–135
< 100
< 100
100–135
Võrumaa
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf den Daten vom Statistical Office of Estonia: Unemployment Rate in Counties in Relation to the Average of Estonia, 2000–2003, http://www.stat.ee/149257 (11.03.2005).
152
Anhang Tabelle 13 Trilaterale Abkommen zwischen den Republiken Estland, Lettland und Litauen
Datum
Art des Abkommens
01. April 1994
Freihandelsabkommen (Baltic Free Trade Agreement – BAFTA)
03. April 1994
Abkommen über Amtshilfe und legale Beziehungen
23. November 1994
Abkommen zur Kooperation im Bereich der Grenzsicherung
24. Dezember 1994
Abkommen zur baltischen parlamentarischen Zusammenarbeit und zur Regierungszusammenarbeit
30. Juni 1995
Abkommen über die Wiederaufnahme von Personen ohne legalen Aufenthalt
01. Juli 1995
Abkommen zum gegenseitigen Visa-freien Reiseverkehr
21. Juli 1995
Abkommen zur Kooperation im Bereich des Umweltschutzes
17. November 1995
Abkommen zur gegenseitigen Unterstützung in Zollangelegenheiten
01. Januar 1997
Freihandelsabkommen über den Handel mit landwirtschaftlichen Produkten
14. März 1997
Abkommen zur Bildung und Errichtung einer gemeinsamen Friedenstruppe
01. Juli 1998
Abkommen zur Abschaffung nicht-tarifärer Handelsbarrieren
07. März 1999
Abkommen bezüglich des Baltischen Bataillons (BALTBAT)
01. Juni 1999
Abkommen bezüglich des baltischen allgemeinen Transitverkehrs
26. Juni 1999
Abkommen zur Schaffung eines Baltischen Marineverbandes (BALTRON)
27. Juni 1999
Abkommen zur Schaffung eines Baltischen Luftraumüberwachungsnetzes (BALTNET)
23. September 1999 Abkommen zur Unterstützung und Zusammenarbeit in Konsularangelegenheiten 19. Januar 2000
Abkommen zum Schiffswarenverkehr
17. Februar 2000
Protokoll über den Status des Baltischen Verteidigungscolleges (BALTDEFCOL) und dessen Personal
18. Februar 2000
Abkommen bezüglich des BALTDEFCOL
18. August 2000
Protokoll über den Status des BALTBAT-Hauptquartiers und dessen Personal
01. April 2001
Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung akademischer Grade und Qualifikationen im Bildungsbereich
06. Juli 2001
Abkommen zur Schaffung eines Gemeinsamen Bildungsraumes der Höheren Bildung innerhalb der Baltischen Staaten (Common Educational Space in Higher Education within the Baltic States)
Quelle: Eigene Darstellung und Übersetzung basierend auf Estonian Embassy in Riga: Trilateral Agreements between Estonia, Latvia and Lithuania, http://www.estemb.lv/ lang_4/rub_1336/rub2_1430 (22.01.2005).
Tabellen
153
Tabelle 14 Die vier Dimensionen und vierzehn Ziele des Raumplanungskonzepts Vision and Strategies around the Baltic Sea 2010 (VASAB 2010) I.
„The Pearls“ – ein urbanes Netzwerk von internationaler Bedeutung 1. Ein wettbewerbsfähiges Städtesystem gewinnt zusätzlichen Nutzen durch Kooperation im Ostseeraum und mit dem übrigen Europa. 2. Ein Städtesystem trägt zur räumlichen Kohäsion bei. 3. Verbindungen zwischen urbanen Gebieten und ihrem ländlichen Umfeld unterstützen ein regionales ökonomisches und ökologisches Gleichgewicht. 4. Städte bieten ein attraktives urbanes Umfeld für Einwohner und Investoren.
II. „The Strings“ – effektive und nachhaltige Verbindungen zwischen den Städten (Mobilitätsnetzwerk) 5. Das Mobilitätsnetzwerk der Ostseeregion fördert ein umweltfreundliches Transportwesen. 6. Das Mobilitätsnetzwerk enthält Bedingungen für eine wirkungsvolle Integration innerhalb der Ostseeregion und mit der Welt. 7. Die Energieerzeugung stützt sich zunehmend auf erneuerbare und umweltfreundliche Energiequellen. III. „The Patches“ – Gebiete zur Unterstützung dynamischer Entwicklungen und der Lebensqualität 8. Grenzübergreifende Zusammenarbeit trägt signifikant zur räumlich-wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion bei. 9. Inseln haben die Funktion wichtiger touristischer Anziehungspunkte in der Ostseeregion. 10. Die Küstenzonen werden im Gleichgewicht zwischen Entwicklung und Schutz geplant. 11. Ein Netzwerk von Naturgebieten wird ausgewiesen und geschützt. IV. „The System“ – eine verständliche Raumplanung in der Anwendung 12. Raumplanung trägt zur Harmonisierung und räumlichen Kohäsion über Grenzen hinweg bei. 13. Raumplanung basiert auf den Prinzipien von Subsidiarität, Partizipation und Transparenz. 14. Raumplanung trägt zur Koordinierung der Sektoren und regionaler Planungsabläufe bei. Quelle: Eigene Darstellung und Übersetzung basierend auf VASAB: Vision and Strategies around the Baltic Sea 2010. Towards a Framework for Spatial Development in the Baltic Sea Region. Third Conference of Ministers for Spatial Planning and Development, Policy Report, Tallinn 7.–8. Dezember 1994, S. 8–12.
154
Anhang
Abbildungen
Quelle: Mit freundlicher Genehmigung der University of Texas Libraries, The University of Texas, Austin, http://www.lib.utexas.edu/maps/europe/estonia_pol99.jpg (28.11.2005). Abbildung 1: Estland und seine Bezirke
Abbildungen
155
Quelle: Mit freundlicher Genehmigung der University of Texas Libraries, The University of Texas, Austin, http://www.lib.utexas.edu/maps/commonwealth/balticstates. jpg (26.02.2005). Abbildung 2: Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen
156
Anhang
Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Baltic Sea Region INTERREG III B: BSR INTERREG III B Co-operation Area, http://www.bsrinterreg.net/programme. html (13.11.2005). Abbildung 3: Kooperationsgebiet von INTERREG III B
Abbildungen
Kanzlei des Ministers
Abteilung für Politische Planung
157
Minister
Interne Revisionsabteilung
Generalsekretär
Sicherheitsabteilung für den diplomatischen Dienst
Protokoll
Untersekretäre
Politische Angelegenheiten
Politische Abteilung
Sicherheitspolitik und Internationale Organisationen
Wirtschaft und Entwicklung
Außenwirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit
Europäische Union
Rechts- und Konsularangelegenheiten
Abteilung EU
Rechtsabteilung
Administrative Angelegenheiten
Finanzen
IT-Abteilung Konsularabteilung Verwaltung
Europa und Nordamerika Personal
Osteuropa, Asien, Afrika, Lateinamerika, Ozeanien
Sekretariate
Presse- und Informationsabteilung
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf EMFA: Structure of the Foreign Ministry, http://www.vm.ee/eng/kat_135/(13.11.2005). Abbildung 4: Struktur des Außenministeriums der Republik Estland
158
Anhang
Ostseegipfel Regierungschefs und EU-Kommissionspräsident
Task Force Kontrolle übertragbarer Krankheiten
Ostseerat Treffen der Außenminister
Fachminister (Verkehr, Umwelt, Energie, Wirtschaft, Kultur etc.)
Task Force Organisierte Kriminalität
Gruppe Hoher Gesundheitsbeamter
Operativer Ausschuss
Aufsichtsrat der EuroFaculty
Committee of Senior Officials / Ausschuss Hoher Beamter
Business Advisory Council • Arbeitsgruppe zur Unterstützung Demokratischer • Institutionen • Arbeitsgruppe zur Wirtschaftskooperation • Arbeitsgruppe zur Nuklearund Strahlensicherheit
• Ars Baltica Organisationsausschuss • Ad-hoc-Arbeitsgruppe für Transportangelegenheiten • Baltic Sea Customs Conference • Baltic Sea Monitoring Group on Heritage Cooperation • Group of Senior Energy Officials • Senior Officials Group for Baltic 21 • Senior Officials Group on Information Society • Arbeitsgruppe für Kinder in Gefahr • Arbeitsgruppe für Jugendangelegenheiten in der Ostseeregion
• Lead Country für den Zivilschutz • Lead Country für die EuroFaculty Kaliningrad
Sekretariat, Stockholm
Einheiten: Baltic 21 BASREC Kinder
Mitgliedsländer: • Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Polen, Schweden (alle EU) • Island, Norwegen • Russland Beobachterstatus: • Frankreich, Italien, Niederlande, Slowakei, Großbritannien • Ukraine • USA
Beobachter- und Partnerorganisationen (Auswahl): • Baltic Chambers of Commerce Association • Parliamentary Conference on Co-operation in the Baltic Sea Area • Baltic Sea States Sub-regional Co-operation • Baltic 21 • Union of the Baltic Cities • Helsinki Commission • Baltic Sea Youth Office • VASAB 2010 • Baltic Ports Organisation
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf CBSS Secretariat: Council of the Baltic Sea States. Innovative Cooperation for a Dynamic Region, Stockholm 2003, S. 14 f. Abbildung 5: Organisationsstruktur des Rates der Ostseestaaten
Abbildungen
159
Ministerkonferenz (Ressorts für Raumplanung und Entwicklung)
Weißrussland
Estland
Sekretariat in Danzig
Deutschland
Lettland
Russland
Komitee zur Raumentwicklung in der Ostseeregion Dänemark
Finnland
Litauen
Polen
Schweden
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf VASAB: Organisation, http://www. vasab.org.pl/organisation.php (21.03.2005). Abbildung 6: Organisationsstruktur von VASAB 2010
160
Anhang Ministertreffen der CBSS-Mitglieder (Außen,- Umwelt-, Bildungs-, Energie-, Verkehrsminister, Minister für Raumentwicklung)
CBSSSekretariat
Baltic 21Sekretariat
Baltic 21: Länder (Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Island, Lettland, Litauen, Norwegen, Polen, Schweden, Russland, Weißrussland); Europäische Kommission; intergouvernementale Organisationen; internationale Finanzinstitutionen; internationale Geschäftsnetzwerke; internationale akademische Netzwerke; internationale substaatliche und städtische Netzwerke und internationale Umwelt-NGOs
Baltic 21 Gruppe Hoher Beamter/ Senior Officials Group (SOG) Baltic 21 SOG-Büro Fischerei Energie
Querschnittsgebiet 1
Bildung Landwirtschaft
Querschnittsgebiete: 1. Steigerung der Erzeugung und Nutzung von Bioenergie und anderer erneuerbarer Energien 2. Nutzung regionaler Foren und Netzwerke für die nachhaltige Entwicklung 3. Einrichtung von Demonstrationsgebieten und Pilotprojekten zum praktischen Nachweis der nachhaltigen Entwicklung 4. Städtezusammenarbeit und Fragen der nachhaltigen Entwicklung in Städten und Gemeinden 5. Beschaffung von Technologien für die nachhaltige Entwicklung 6. Informationen zur nachhaltigen Entwicklung 7. Steigerung des Verbraucherbewusstseins in Bezug auf die nachhaltige Entwicklung
Querschnittsgebiet 3
Wälder Industrie
Querschnittsgebiet 5
Tourismus Querschnittsgebiet 4 Transport / Verkehr Querschnittsgebiet 7 Raumplanung
Ad hoc-Arbeitsgruppen
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Baltic 21: Baltic 21 Organisation, http://www.baltic21.org/?organisation,1 (13.11.2005). Abbildung 7: Organisationsstruktur von Baltic 21
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Nachweis der verwendeten Karten Abbildung 1: Estland und seine Bezirke Abbildung 2: Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen Mit freundlicher Genehmigung durch: University of Texas Libraries, The University of Texas, Austin, http://www.lib.utexas.edu/maps/ Abbildung 3: Kooperationsgebiet von INTERREG III B Mit freundlicher Genehmigung durch: BSR INTERREG III B Joint Secretariat Investitionsbank Schleswig-Holstein Grubenstrasse 20, 18055 Rostock Tel: +49 381 45484 5277 Fax: +49 381 45484 5282 E-mail: [email protected] http://www.bsrinterreg.net
Sachwortregister acquis communautaire 107 Agenda 21 96 AIDS/HIV 89, 114 Albanien 48 Allianz Siehe NATO 55 Annexion 23, 124 Assoziierungsabkommen 52, 106 Außenhandel 30, 33, 35–36, 65, 125 Außenhandelsbeziehungen 34 Außenhandelsbilanz 62 Außenhandelsdefizit 36, 46 Außenhandelspolitik 35 Außenminister, estnischer 43, 46, 48, 53–54, 56, 58, 62, 79, 91, 117, 119 Außenministerium, estnisches 21–22, 40, 42, 47–50, 68, 101 Außenpolitik, estnische 16, 18–21, 38–40, 42–43, 45, 47, 50, 54, 58, 117, 125 außenpolitische Säulen 42–43, 50, 58, 126 Außenwirtschaftspolitik 46 Baltic 21 96–98, 129 Baltic Air Surveillance Network (BALTNET) 87 Baltic Defence College (BALTDEFCOL) 87 Baltic Free Trade Agreement (BAFTA) 37 Baltic Sea Region (BSR) Siehe Ostseeregion 19 Baltic Sea Region 2010 94 Baltic Sea Region Initiative 110, 112 Baltic Sea States Summit 89 Baltic Security Assistance Forum (BALTSEA) 87
Baltic Youth Workshop 97 Baltikum 16, 24–25, 34, 66, 75, 77, 79, 85, 88, 103, 113, 127 baltische Freihandelszone Siehe Baltic Free Trade Agreement (BAFTA) 105 baltische Identität 79 Baltische Versammlung 77–78, 127 Baltischer Marineverband (BALTRON) 87 Baltischer Ministerrat 78, 127 Baltischer Rat 78 Baltischer Ring 113 Baltisches Bataillon (BALTBAT) 86, 127 baltisches Freihandelsabkommen Siehe Baltic Free Trade Agreement (BAFTA) 37 Barcelona-Prozess 112 Barents Euro-Arctic Council 113 Bedrohungsperzeption 55–56, 59, 86, 127 Beitrittskriterien, EU 52 Beitrittsverhandlungen – EU 51, 53, 105 – NATO 57 Besatzungsregime 27, 126 Besatzungszeit 34, 59 bilaterale Beziehungen – Estland-Finnland 66, 80, 116, 128 – Estland-Lettland 64 – Estland-Litauen 65 – Estland-Russland 20, 58–59, 63, 92, 100, 117, 121 – Estland-Schweden 68, 82 Binnenfreiheiten 98 Bolschewiki 24
Sachwortregister Brüssel 17, 55–56, 103–106, 111, 116, 130 Bruttoinlandsprodukt (BIP) 34, 36, 57 Bundesrepublik Deutschland 60, 87, 128 Bündnissystem 49 Council of the Baltic Sea States (CBSS) 88–89, 91–92, 96, 118, 129, 130 Dänemark 65–66, 71–72, 83–84, 109, 128 Demokratisierung 70, 124 Deregulierung 77 Deutscher Orden 24 Deutsches Reich 15, 24 Doppelzölle 62 Duma (russisches Parlament) 61, 63, 126 Einfuhrbeschränkungen 52 Eiserner Vorhang 17, 34, 72 Energieimporte 49, 112, 130 Energieversorgung 96 Entwicklungspolitik, estnische 48 Erster Weltkrieg 15, 24 Estländische Volksfront 26 Estnische Kommunistische Partei (EKP) 25 Estnische Sozialistische Sowjetrepublik (ESSR) 25–26, 59, 82 EU 164, 171, 179 EU-Beitritt – Estland 18, 52, 55, 63, 68, 98, 101, 126, 130 – Finnland und Schweden 38, 128 EU-Beitrittsprozess 106, 116–117, 127 EU-Mitgliedschaft (Estland) 51, 54, 61, 119 EU-Osterweiterung 38, 52, 68, 80, 84, 90, 102, 104, 116 EUREGIO 81–82
185
– Helsinki-Tallinn 80–81, 109, 128 Europa-Abkommen Siehe Assoziierungsabkommen 52 europäische Außenpolitik 54, 116 Europäische Gemeinschaft (EG) 45, 51–52 europäische Integration 17, 45, 53, 76, 102, 119 Europäische Kommission 52, 75, 89, 105, 107–108, 110, 112, 128–129 Europäische Nachbarschaftspolitik 117 Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik 54 Europäische Union (EU) 15, 17, 20, 35, 50, 53, 58, 79, 85, 88, 91–92, 95, 102–106, 108–109, 112, 114–115, 118, 129–131 Europäischer Fonds für Regionalentwicklung (EFRE) 108 Europäischer Rat – Kopenhagen 1993 52 – Kopenhagen 2002 53 – Luxemburg 1997 53, 75, 112 Europäisches Parlament 54 Exil-Esten 40 Finnland 16, 19, 34–35, 38, 58, 65–67, 71–72, 76, 79, 83–85, 89, 108, 110, 115, 120, 125, 128 Flottenbasis Paldiski 60 Foreign Direct Investments (FDI) 35, 67, 125 Freihandelsabkommen zwischen Estland und der Europäischen Union 52 Frieden von Tartu 24, 60–61, 126 Geheimes Zusatzprotokoll 24 Gemeindeentwicklung 99 Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) 54 Gemeinsamer Markt 77, 114
186
Sachwortregister
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) 34–35, 126 Generaldirektion (GD) – Auswärtige Beziehungen 107 – Regionalpolitik 108 Georgien 48 Gesetz über die Auswärtigen Beziehungen 40 Gesetz zu Auslandsinvestitionen 35 Glasnost 23, 26 Goldbestände 32 good governance 48 Grenzregionen 73, 98, 100, 108, 120 Grenzstreit – zwischen Estland und Lettland 64 – zwischen Estland und Russland 27, 56 grenzüberschreitende Kooperation 20, 74, 81, 91–92, 95, 97, 99–100, 108– 109, 116, 120, 122–123, 128–130 Grenzvertrag – zwischen Estland und Lettland 64 – zwischen Estland und Russland 61, 126 Großbritannien 32, 86 Großer Nordischer Krieg 24 Hanse 34, 36 Helsinki 66, 85, 103, 111 Heritage Foundation 46 Inflation 32 Informationstechnologie 48, 118 Institutionalisierung der Außenpolitik 19, 45 Intergouvernementale Kommission (IGK) 63 interkulturelle Verständigung 99 International Monetary Fund (IMF) 31–32 Internationale Organisierte Kriminalität (IOK) 49, 110, 115 Internationaler Terrorismus 49
Interoperabilität 57 INTERREG 108–109, 112, 129 – BSR INTERREG III B 109, 116 – INTERREG III 81, 108 – INTERREG III A 108 intrabaltischer Wirtschaftsraum 38 Isamaaliit (Vaterlandsunion) 29 Junktim-Strategie 60–61 Kaliningrad 71, 103, 130 Kalter Krieg 15, 36, 56, 70 KGB 39 kleine und mittlere Unternehmen (KMU) 33 Kohäsion 107, 131 Kohäsionspolitik 107 Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 44 Kooperation – baltisch-nordisch 87 – Begriff 19, 73 – Hindernisse 18, 98, 101, 121–122 – intrabaltisch 65, 75–79, 82, 106, 117, 127–128 – intrabaltische Sicherheitskooperation 85, 87 Kreml 26, 39, 55, 61, 63, 130 Lettland 15–16, 19, 23, 36–38, 44, 57–58, 63, 65, 75–77, 83, 88–89, 103–105, 114–115, 120, 127, 130 Liberalisierung 32, 34, 46, 70, 91, 125 Litauen 15–16, 19, 23, 36–38, 44, 57–58, 63, 65, 75–77, 83, 88–89, 103–105, 113, 127, 130 Lokale Agenda 21 97 Marktwirtschaft 27, 30–31, 33, 47, 119, 125 Massenvernichtungswaffen 49 Mecklenburg-Vorpommern 71, 93 Membership Action Plan 57
Sachwortregister
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Militärhilfe 87 Mittel- und Osteuropa (MOE) 20, 23, 51, 103, 106, 124 Molotow-Ribbentrop-Pakt (auch, Hitler-Stalin-Pakt) 23, 124 Moskau 16, 24, 26, 29, 31, 39, 43, 55, 59–60, 63, 88, 98, 124, 126, 130 Moskauer Putschversuch 26
Ostseekooperation 19–20, 70, 91, 116–117, 129–131 Ostseerat Siehe Rat der Ostseestaaten 77 Ostseeregion 16–17, 19, 36, 38, 46, 49, 66, 70–71, 74, 76, 79, 82, 84–85, 87, 90, 93, 96–97, 100, 103, 107, 109– 111, 113, 116–118, 127, 129, 131
Nachhaltigkeit 48, 94, 96–97, 99, 109, 115 Nationales Sicherheitskonzept 49, 63 Nationalsozialismus 23, 124 NATO 17, 20, 50, 54–56, 72, 79, 88, 117–118 – Gipfel von Prag 2002 57 NATO-Beitritt (Estland) 56, 126 NATO-Mitgliedschaft (Estland) 55, 58, 61, 119 Naturalisation 60 Neutralitätspolitik 103 Nordic-Baltic-Eight (NB8) 84–85, 118 Nordischer Ministerrat 83 Nordischer Rat 77, 83 Nördliche Dimension (ND) 109, 111–117, 119, 129–130 – erster Aktionsplan 113, 129 – zweiter Aktionsplan 113, 129 Norwegen 65, 83, 89 nukleare Sicherheit 113
Partnerschaftsabkommen zwischen Russland und der EU 111 Peipsi Center for Transboundary Cooperation (Peipsi CTC) 97–101, 121, 123 Peipsi Council 100 Peipsi Forum 100 Peipsi-See 99, 131 Perestroika 23, 26 PHARE 52, 107, 112, 114, 129 – Typ CBC 81, 108, 116 – Typ CBC BSR 108 Planwirtschaft 25, 30, 125 Polen 20, 71–72, 89, 103–104, 107, 114, 130 Politik der historischen Kontinuität 60 Politik des positiven Engagements 62, 101, 127 Preisfreigabe 32 Privatisierung 32–33, 125
Oberster Befehlshaber (Estland) 41 Oberster Sowjet – ESSR 26 – UdSSR 23, 25 Okkupation 16, 24–25, 39, 68, 127 Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 44 Organization for Economic Co-operation and Development (OECD) 47 Ost-West-Konflikt 15, 56, 72 Ostsee 16, 34, 36, 68, 70–71, 80, 87–88, 102, 104, 109, 120, 129
Rat der Ostseestaaten 88–89, 116, 128 Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) 34 räumliche Disparitäten 94, 112, 115 Raumplanung 97 – nachhaltig 94 – Ostseeregion 93, 109 Referendum – estnische Verfassung 28 – EU-Beitritt 53 Regierung, estnische 22, 27, 29–32, 34, 44, 46–47, 51, 54, 56–57, 59, 61–62, 68, 76, 91–92, 97, 101, 116–118, 120, 126, 128
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Sachwortregister
Region, Begriff 19, 71 Regionalpolitik 106 – Begriff 19, 72 – Estland 17, 72, 117, 119 – EU 115 Riga 15, 38–39, 75–76, 78, 85, 88, 91, 103, 105, 116 Rote Armee 24 Russifizierung 26, 124 Russische Föderation Siehe Russland 59 russische Minderheit 30, 45, 55, 103, 124, 126 Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) 26 russischsprachige Bevölkerung Siehe russische Minderheit 60 Russland 16, 19, 22, 27, 48, 50, 55–56, 59–61, 63, 71–72, 85–86, 89, 101, 103, 111–113, 115–116, 120–121, 125–126, 130 Schengen-Richtlinien 101 Schleswig-Holstein 71, 93 Schock-Therapie 30, 76 Schweden 16, 19, 32, 34–35, 38, 58, 65, 68, 71–72, 76, 79, 82–85, 89, 92, 110, 120, 125, 128 Setu (finno-ugrische Volksgruppe) 60, 122 Sicherheit – kollektiv 55–56 – kooperativ 86, 88 Sicherheitsfaktoren 50 – harte (hard security) 55, 88, 111 – weiche (soft security) 88, 112 Sicherheitspolitik – baltisch-nordisch 85 – Estland 17, 42, 48 – Ostseeregion 86, 88 – Schweden 68 Souveränität – Begriff 39
– Gefährdung 59 – Gewährleistung 44 – Wiederherstellung 15, 26, 43, 45, 77, 88, 126 Sowjetarmee 39 Sowjetisierung 25, 122, 124 Sowjetunion 15, 23–26, 32, 34, 39, 59, 61–62, 66, 68, 124 Spillover-Effekte 100, 131 St. Petersburg 61, 99 Staatsbürgerschaft 28, 30, 55, 60, 103, 127 Staatspräsident, estnischer 28, 41 Staatsversammlung, estnische (Riigikogu) 28, 41–42, 58 Stalinismus 64, 66 Stockholm 64, 68, 85, 95, 103 Subsidiaritätsprinzip 54, 95, 106, 129 TACIS 112 Tallinn 15–16, 19, 31, 34–35, 38, 40, 44, 51, 53, 55, 57, 59–60, 62–63, 65–68, 75–78, 80, 82, 85, 88, 91, 98, 100, 103, 105, 116–117, 120–121, 124–126, 128, 130, 162, 164 Task Force (CBSS) – zur Bekämpfung Organisierter Kriminalität 89 – zur Kontrolle übertragbarer Krankheiten 89 territoriale Integrität 43, 49, 51, 85 Tourismus 81, 90, 95, 120 Transaktionskosten 73 transatlantische Partnerschaft 54, 56 Transformation 17, 29, 66, 73, 88, 97, 118, 123, 125 Transformationsländer 88, 103, 107, 117 Transformationsprozess 18, 20, 48, 51, 79 Truppenabzug, russischer 60–61, 68 Truppenpräsenz, russische 27, 59
Sachwortregister Ukraine 25, 48, 71, 89, 103 Umweltschutz 90–91, 110, 117, 120 Umweltverschmutzung 84, 115 UN-Mitgliedschaft (Estland) 44 Unabhängigkeit, Proklamation 15, 24 Unabhängigkeit, wiedererlangte 16, 28, 30, 36, 39, 47–48, 51, 65, 93, 102, 126 Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) 23–24, 27, 34, 59–60, 127 Union of the Baltic Cities (UBC) 92, 97 Unteilbarkeit von Sicherheit 56 Vereinigte Staaten von Amerika 60–61, 87 Vereinte Nationen 44, 96 Verfassung, estnische 28, 40, 42 Verkehrs- und Infrastrukturplanung 95 Via Baltica 113 Vilnius 15, 38, 75–76, 78, 85, 88, 91, 103, 105, 116 Vision and Strategies around the Baltic Sea (VASAB 2010) 94–95 Vision and Strategies around the Baltic Sea (VASAB 2010) 129 Vision and Strategies around the Baltic Sea (VASAB 2010) 93–95 Vorbeitrittsstrategie, EU 107, 129
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Währungsreform 32 Warschauer Pakt 55, 72 Wasser-Management 99 Weißrussland 71, 103 Weltbank 32, 46 Westeuropäische Union 54 Westintegration (Estland) 19–20, 27, 50, 61, 67, 76, 125, 127 Wirtschaftsbeziehungen – Estland-Finnland 67 – Estland-Lettland 64 – Estland-Litauen 65 – Estland-Russland 62 – Estland-Schweden 68 Wirtschaftskooperation 76, 91 Wise Men Assembly 67 World Trade Organization (WTO) 46 WTO-Beitritt (Estland) 47 Zentralbank, estnische 32, 67 Zivilgesellschaft 27, 97–98, 110, 116, 130 Zusammenarbeit – intergouvernemental 73, 83, 89, 114 – interministeriell 42, 67, 97 – interregional 17, 74, 76, 93, 121, 129, 131 – justiziell 108 Zwangskollektivierungen 25 Zweiter Weltkrieg 15, 23–24, 59, 124 Zwischenkriegszeit 61, 77, 83